Bauten, Orte, Regionen 9783205159452, 3702804188, 3486577557, 9783205782094

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MEMORIA AUSTRIAE II: BAUTEN, ORTE, REGIONEN

Memoria Austriae II Bauten, Orte, Regionen

Herausgegeben von Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl

2005 VERLAG FÜR GESCHICHTE UND POLITIK

Drucklegung gefördert durch: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Wien Österreichische Forschungsgemeinschaft Amt der Salzburger Landesregierung Kulturamt der Stadt Wien Amt der NÖ Landesregierung OÖ Landesregierung, Kulturdirektion Amt der Steiermärkischen Landesregierung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005. Verlag für Geschichte und Politik Ges.m.b.H., Wien Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Weg und der Speicherung in EDV-Anlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Satz: Peter Eder, 4810 Gmunden Druck: Grasl Druck & Neue Medien, 2540 Bad Vöslau Umschlaggestaltung: Christina Brandauer, 1080 Wien ISBN 3-7028-0418-8 Verlag für Geschichte und Politik Wien ISBN 3-486-57755-7 Oldenbourg Wissenschaftsverlag München

INHALT

Emil Brix, Ernst Bruckmüller, Hannes Stekl Einleitung

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Michael Mitterauer Bedeutsame Orte Zur Genese räumlicher Bezugspunkte österreichischer Identität . .

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Ernst Bruckmüller Stephansdom und Stephansturm

40

Ernst Hanisch Die Wiener Ringstraße Zwei Pole, zwei Muster der österreichischen Kultur

75

Siglinde Bolbecher, Cécile Cordon Das Riesenrad - ein Wiener Wahrzeichen

105

Gerhard M. Dienes „Schlossberge gibt es viele, Schloßberg nur einen" (Peter Rosegger) Über das Grazer Wahrzeichen 141 Lukas Morscher, Roland Sila „Das guldin dach gar wol bekhanndt, sein ruemb erschallen in weytte lanndt". Beobachtungen zum Goldenen Dachl

177

Wolfgang Kos „Landschaft". Zwischen Verstaatlichung und Privatisierung . . . .

200

Christian Stadelmann Die Donau

236

Robert Hoffmann „Salzburg - das ist mehr als der bloße Name einer Stadt" Salzburg-Mythen in historischer Perspektive

265

6

Inhalt

Christian Stadelmann Mariazell

304

Thomas Hellmuth Das Salzkammergut

336

Hubert Mock „Bozen und Meran war immer Österreichs Gedankengut" Anmerkungen zur Geschichte des Südtirol-Bildes in Österreich . . 370 Karin Liebhart und Andreas Pribersky Brücke oder Bollwerk? Grenzland Österreich-Ungarn

411

Wolfgang Bahr Die Tschechen

442

Autorinnen und Autoren

475

Emil Brix, Ernst Bruckmüller,

Hannes

Stekl

Einleitung Nicht selten hat man der österreichischen Geschichtsschreibung den Vorwurf gemacht, sie wirke gezielt oder unbewusst als eine höchst affirmative „Gedächtnisgeschichte" und trage damit zu einer wissenschaftlich legitimierten Begründung oder Stärkung von Gruppen-, Klassen- oder auch Nationalbewusstsein bei. Diese Kritik setzte häufig an der Konzeption von Jubiläen an, besonders wenn diese zu demonstrativen Kundgebungen eines selbstbewussten Patriotismus wurden. Hier hat sich in den letzten Jahren ein entscheidender Wandel vollzogen. Schon die Österreichische Länderausstellung „996-1996 ostarrîchi - Österreich" verstand sich, unter der wissenschaftlichen Leitung von Ernst Bruckmüller und Peter Urbanitsch, weder als Konstruktion von staatsrechtlichen Kontinuitäten und noch als eine undifferenzierte Identifikationsaufforderung, sondern bildete eine kritisch-liebevolle Auseinandersetzung mit „Österreich", die auch die „dunklen" Seiten seiner Geschichte beleuchtete. 1 Die einsetzende demokratische Transformation in den mittel- und osteuropäischen Staaten sowie die fortschreitende europäische Integration beschleunigten die Auseinandersetzung mit Identitäten und Nationalbewusstsein, mit Selbst- und Fremdbildern, mit nationalen Mythen und deren Konstruktion. Das ministerielle Forschungsprogramm „Grenzenloses Österreich", das 1995/1996 zu den Gedenkjahren „Zweite Republik" und „Millennium" entwickelt wurde, vermittelte dazu zahlreiche Impulse. Emil Brix und Hannes Stekl konzipierten damals ein breit angelegtes Projekt über Geschichte, Funktion und Wandel von historischen Gedenktagen in Mitteleuropa. In einem weiten Überblick wurden Brüche und Kontinuitäten in der Geschichte dieses teils homogenen, teils heterogenen Kulturraumes sowie nationale Neupositionierungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart untersucht. 2 Auch Ernst Bruckmüllers Österreich-Beitrag zur deutschen Großausstellung „Mythen der Nationen" befasste sich eingehend mit dem Spannungsfeld zwischen der Orientierung an einer österreichisch-habsburgischen - und damit dynastisch geprägten - Identität sowie der Herausbildung eines (sprach-)nationalen Bewusstseins in dem Vielvölkerstaat. 3 Mit diesen Studien war nicht nur eine detaillierte Beschäftigung mit den vielfältigen Ursachen und Formen des „Feierns von Geschichte", sondern mit theoretischen Fragen zur Herausbildung eines „kollektiven" und „kulturellen Gedächtnisses" von Gesellschaften verbunden. Die Auseinandersetzung mit

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E m i l Brix, Ernst B r u c k m ü l l e r , H a n n e s Stekl

den Denkmodellen von Maurice Halbwachs, Pierre Nora, Jan und Aleida Assmann sowie mit anderen Publikationen über nationale „Erinnerungsorte" beschleunigte die Pläne zur Untersuchung von Bausteinen der nationalen Identität Österreichs. Um mit der Festlegung der Untersuchungsobjekte durch die Forschenden eine wissenschaftlich kanonisierte Mythenproduktion auszuschalten, wurde im Sommer 1998 eine repräsentative, quantitative und offene Meinungsumfrage (Sample: 1.000 Personen) zur Erhebung von Österreichs sinnstiftenden Erinnerungsfiguren durchgeführt. Durch diesen methodischen Ansatz sollte sich das Vorhaben von den bereits vorliegenden Untersuchungen über Frankreich und Italien sowie von dem parallel konzipierten Projekt über „Deutsche Erinnerungsorte" unterscheiden. 4 Zwei Workshops intensivierten den Gedankenaustausch über gemeinsame Problemansätze, Abgrenzungsfragen, aber auch sinnvolle Überschneidungen, welche die komplexen Verflechtungen deutlicher erkennbar machen. Entstanden sind daraus drei Bände: Band I über Menschen, Mythen und Zeiten, Band II über Bauten, Orte und Regionen, Band III über Unternehmer, Firmen und Produkte. Die Fragestellungen für die Untersuchung der wichtigsten Inhalte kollektiver Erinnerungen der österreichischen Bevölkerung wurden in „Memoria Austriae I" ausführlich dargelegt. 5 Es soll daher hier nur die Auswahl der im vorliegenden Band analysierten identitätsbildenden „Erinnerungsorte" näher erläutert werden. Die bereits erwähnte Meinungsumfrage, welche auf die Vorgabe von Namen, Daten, Orten, Begriffen und Ereignissen verzichtete, jedoch Mehrfachnennungen erlaubte, umfasste folgende Fragen: 1. Wenn Sie jemand bittet, Österreich zu beschreiben - was ist für Sie typisch für Österreich? 2. Wenn sie an österreichische Bauwerke, Plätze, Denkmäler, Landschaften und Flüsse denken: Gibt es da welche, von denen Sie persönlich sagen würden, dass sie typisch für Österreich sind? 3. Gibt es für Sie in der Vergangenheit Ereignisse, von denen Sie sagen würden, dass Sie darauf als Österreicher/in stolz sind ? 4. Auf welche lebenden/verstorbenen Personen können Sie als Österreicher/in stolz sein? 5. Und gibt es österreichische Dinge, Ereignisse bzw. Personen, mit denen Sie auf keinen Fall etwas zu tun haben wollen? 6. Die österreichischen Grenzen haben sich in der Vergangenheit oft verändert, einige früher österreichische Gebiete (Städte) liegen heute außerhalb Österreichs. Gibt es solche Gebiete / Städte außerhalb Österreichs, die Sie persönlich mit Österreich verbinden? 7. Gibt es Firmen bzw. Unternehmungen bzw. Unternehmer, die für Sie typisch österreichisch sind? 8. Wenn Sie die Worte „christliches Österreich" hören, was verbinden Sie damit? Welche Ereignisse, Orte, Personen, Feste verbinden Sie mit einem christlichen Österreich?

Einleitung

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9. Welche Aufgaben hat Ihrer Meinung nach Österreich in einem Vereinten Europa? Eine ganze Reihe dieser Fragen ließ also die Nennung von realen, topographisch fassbaren Orten sowie von geographischen Räumen zu. - Die Antworten auf die Frage (1), was für Österreich „typisch" sei, betrafen zu 57 % die „Natur" (womit dominant die alpine Landschaft - Berge und Seen - , mit Abstand auch die saubere Umwelt gemeint waren), 31 % die „Mentalität" (in positiver Hinsicht - vor allem Freundlichkeit und Gemütlichkeit wurden darunter verstanden), jeweils 15% „Essen und Trinken" bzw. „Kultur" (mit einer breiten Palette von Musik über Brauchtum bis zum Theater) und 14% „Tourismus und Sport". Man könnte daraus in aller Vorsicht ableiten, dass das für die Österreicher/innen selbst „Typische" keine distinkten Ereignisse, keine genauen Erinnerungsfiguren sind, sondern die täglich erlebte Umwelt, die zugleich symbolisch überhöht erscheint. Auch Ernst Hanisch hat jüngst darauf hingewiesen, dass das emotionale und entpolitisierte Bezugsfeld „Heimat" den kleinsten gemeinsamen Nenner des österreichischen Nationsbildungsprozesses seit 1945 darstellte. 6 Die mehrfach hervorgehobene „landschaftliche Schönheit", bereits in der Ersten und in den Anfangsjahren der Zweiten Republik ein wichtiger Faktor zur Stärkung eines neuen Österreichbewusstseins, war auch in einer Umfrage vom Dezember 1999 Spitzenreiter in der Wertschätzungs-Skala. 7 Dasselbe galt für eine Umfrage zum Image der Österreichischen Bundesforste im Jahr 2004, wo unter 15 Begriffen Wälder, Berge und Seen am häufigsten ( 9 8 - 9 3 %) mit „österreichischer Heimat" in Verbindung gebracht wurden. 8 Der Topos des „guten Landes", der idealisierten Natur- und Kulturlandschaft, ist jedoch nicht allzu überraschend (niemand lebt gerne in einem schlechten Land) und weit verbreitet. 9 - Andererseits lassen sich (aus Frage 2) doch auch konkrete „Eckpfeiler" der österreichischen Identität ausmachen. Dies gilt einmal für bestimmte Orte, bei deren Nennung (in insgesamt 46% der Antworten) sich folgende Reihung ergab: Wien 26%, Salzburg 20%, Innsbruck 7%, Graz 3%, Linz 1 %, andere 15%. Obwohl Wien innerhalb Österreichs geographisch eine periphere Lage einnimmt und als „Wasserkopf - wie auch andere Hauptstädte - keineswegs durchwegs positiv eingeschätzt wird,10 beweist seine emotionale Zentralfunktion offenbar doch große Dauerhaftigkeit. Auch bei den symbolhaften Bauwerken hatte die Bundeshauptstadt Wien mit 59% aller Nennungen einen deutlichen Vorsprung. Den insgesamt höchsten (und einen nach vielen Umfragen stabilen) Symbolwert besaß eindeutig der Stephansdom; er war mit 37% der Angaben das am häufigsten genannte Bauwerk. Es folgten Schönbrunn (16%), die Bauten der Ringstraße (inklusive Hofburg und Heldenplatz, 13%) und das Riesenrad bzw. der Prater (10%). Freilich ist auch die bedeutende Rolle der anderen Bundesländer und der Länderidentität für die kollektive Bewusstseinsbildung nicht zu verkennen. 38 % der Nennungen betrafen Bauwerke außerhalb Wiens. Das Goldene Dachl in Inns-

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brück und der Uhrturm auf dem Grazer Schloßberg erhielten regional so viel Zuspruch, dass die Reduktion der identitätsstiftenden Orte auf Wien keineswegs zulässig wäre. Dies unterstreicht die aus älteren Umfragen gewonnenen Ergebnisse, wonach das Selbstbewusstsein und das Identitätsverständnis der Österreicher/innen im Spannungsfeld von integrativ-gesamtstaatlichen wie länder- oder regionalspezifischen Elementen liegt. Analog zur Frage 1 zählten „Flüsse und Seen" (51% der Antworten) zum zentralen Bereich österreichischer Erinnerungsorte, wobei eindeutig die Donau eine unangefochtene Spitzenstellung einnahm. - Die im Hinblick auf das Fortwirken historisch weiter zurückliegender, grenzüberschreitender Bezüge formulierte Frage (6) erkundigte sich nach jenen Gebieten oder Städten außerhalb des Bundesgebietes, welche die Befragten persönlich mit Österreich verbinden. Hier lag Italien mit 52% der Antworten an der Spitze (43% nannten explizit Südtirol, 10% Triest, 6% Bozen und 5% Meran), dann folgte mit 24% Ungarn (8% Budapest), 16% Tschechien (7% Prag) - bei letzteren sind also besonders Hauptstädte im Bewusstsein geblieben. - Ein altes Österreich-Stereotyp, dessen Gültigkeit erhoben werden sollte, war das „christliche" bzw. „katholische" Österreich (Frage 8), das während des Ständestaates in einer vaterländisch-autoritären Variante neu belebt wurde. Der Anteil ausbleibender Angaben liegt mit 19% im oberen Bereich; zählt man die Antwort „nichts" (9%) dazu, so erreichen die Negativmeldungen den Höchstwert der Befragung und spiegeln damit jenen tiefgehenden Säkularisierungsprozess wider, der insbesondere die europäische Gesellschaft so stark erfasst hat. Unter jenen Ereignissen, Orten oder Personen, die mit einem christlichen Österreich in Verbindung gebracht wurden, überwogen Repräsentanten der Amtskirche (36%), allen voran der Papst(besuch) und Kardinal König. Es folgten „heilige Orte" wie Kirchen, Klöster und Wallfahrtsorte (30%), mit Mariazell an der Spitze, dann christliche Feste - Weihnachten, Ostern, kirchliche Feiertage, Prozessionen, der Empfang von Sakramenten etc. - mit insgesamt 20% (was einmal mehr für die stark lebensweltliche Verankerung von Identitäten im Sinne von Maurice Halbwachs" spricht). Auch die Auswahl der Inhalte des gemeinsamen „kulturellen" Gedächtnisses von räumlich fixierbaren „Objekten", „Orten" und „Räumen der Erinnerung" erfolgte nach der Häufigkeit der Nennungen in der kurz skizzierten Meinungsumfrage, wobei die Grenze aus praktischen Gründen bei etwa 5 % festgelegt wurde. Es scheint die Annahme durchaus plausibel, dass diese realen, materiell gegenständlichen, aber stets auch symbolisch aufgeladenen Erinnerungsorte zu einem alleinigen österreichischen Identitätsbewusstein beitragen, das 2003 hierzulande mit 51 % gegenüber Mehrfach-Identitäten (Österreich und Europa) weit deutlicher ausgeprägt war als im EU-15-Durchschnitt (40%). 12 Es bedürfte detaillierter empirischer Erhebungen, um den Stellenwert der unterschiedlichen Identität stiftenden Personengruppen oder Institutionen genauer

Einleitung

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zu bestimmen. Zweifellos leisten öffentliche Kultureinrichtungen und die verschiedensten Medien kontinuierlich einen wichtigen Beitrag, dass auch die im vorliegenden Band untersuchten „Erinnerungsorte" bei den Österreicher/innen präsent bleiben. Dazu nur einige willkürlich ausgewählte aktuelle Beispiele. „Der Steffel ist die bekannteste Sehenswürdigkeit", titelt (sprachlich nicht ganz korrekt, da die liebevolle Bezeichnung allgemein „Steffi" lautet) die Tageszeitung „Kurier" die bereits zitierten Ergebnisse einer Umfrage der Integral-Marktforschung. 13 Die österreichweite Bekanntheit des Sakralbauwerks mag auch dadurch unterstrichen werden, dass unter dem Schlagwort „Stephansdom" im World-Wide-Web mehr als 146.000 Nennungen zu verzeichnen sind von der Kids-Site bis zur ausführlich dokumentierte Aktion „Rettet den Stephansdom", die Geldmittel für die kontinuierlich notwendigen Restaurierungsarbeiten am „Kleinod unserer Stadt" zur Verfügung stellt. Benefizkonzerte, Gedenkgottesdienste, die Präsenz des Domes in der Fremdenverkehrswerbung, zahllose Fotos in Bildbänden, Filme in Gebärdensprache - alle diese Faktoren halten das Bauwerk in der Erinnerung der österreichischen Bevölkerung lebendig. Auch die Wiener Ringstraße - und besonders einzelne ihrer Gebäude sind immer wieder medial präsent - mag es sich nun um die lang umstrittene Nutzung des ehemaligen Palais Epstein für Zwecke des Parlaments oder für ein Museum handeln, um die kostenaufwändige Sanierung der Parlamentsrampe samt Brunnenanlage und Statue der Pallas Athene, um den Rathausplatz als Ziel der alljährlichen Österreich-Radrundfahrt bzw. des Wien-Marathons, um die Regenbogen-Parade oder um Oldtimer-Treffen mit ihrem Finale am Heldenplatz, um die Eröffnung neuer Luxushotels und selbstverständlich um jegliche Werbung für den Wien-Tourismus. Ähnlich verhält es sich mit dem Riesenrad, das seit kurzem von der Werbung (wieder)entdeckt wurde. Seine Silhouette findet sich in einem Logo der in Wien regierenden politischen Partei, die Handelskette „Spar" bewarb im Februar 2005 die preisreduzierte Biersorte „Ottakringer Helles" als „Ein Produkt aus Wien" vor der Kulisse des Riesenrades, und diese zierte auch ein Billet im Rahmen einer Spendenaktion für Wiens erstes SOS-Kinderdorf. Doch auch über den regionalen Bezugsrahmen hinaus ist das Riesenrad ein gesuchtes Sujet, wie jüngst ein Werbespot des privaten Fernsehsenders „Premiere" für die Spiele der österreichischen Fußball-Bundesliga zeigte. Auch die Bauwerke in den anderen Bundesländern erhalten immer wieder neue Popularitätsschübe. Graz erfüllte seine Rolle als Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2003 mit „Stil und Schwung", wie „The Times" feststellte, wozu wohl auch der „Schatten" des Grazer Uhrturms und das Riesenfeuerwerk vom Grazer Schloßberg zählten, das japanische Experten arrangiert hatten. 14 Eine „Sightseeing-Tour" im „graz-net" präsentiert den Schloßberg gewissermaßen als „Herzstück der Stadt", 15 seine Kasematten besitzen für Schauspiele und Ballett ungebrochene Attraktivität, in den Baulichkeiten finden stets Ball-

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Veranstaltungen statt und die Messstation liefert Daten über die (nicht selten bedenkliche) Luftgüte der Stadt. Innsbrucks „Goldenes Dachl" ist ebenfalls fester Bestandteil des Stadttourismus geblieben. In keinem der bekannteren (virtuellen) Lexika wird man es missen, im offiziellen „Österreichischen Schulportal" wurde es im Februar 2005 als „ausgewähltes Thema" vorgestellt 16 und der städtische Rotary Club schmückte sich mit ihm in seiner offiziellen Bezeichnung als Attribut. „Landschaft" ist in den kollektiven Bildern über Österreich bei allen Altersgruppen allgegenwärtig. Sie ist etwa Bestandteil eines Medienpakets „Österreich in der Innen- und Außensicht", mit dem das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Schüler/innen zum Nachdenken über Klischees und Stereotypen veranlassen will. Der identitätsstiftenden Bedeutung von „Landschaft" trug auch das Niederösterreichische Landesmuseum 2004/05 mit der Ausstellung „Phänomen Landschaft - Malerei, Fotografie, Medien-Installationen" Rechnung. Sie umfasste vier große Bereiche: „Landschaft als Farbe - Farbe als Landschaft" (Malerei im Übergang vom Gegenständlichen zum Abstrakt-Informellen), „Landschaft als Konzept - Landschaft als Idee" (Formen der Landschaftswahrnehmung), „Landschaft als apparative Konstruktion - Landschaft als Medienwahrnehmung" (Wahrnehmung und Vermittlung durch verschiedene Medien) und „Landschaft als Vision - Sehnsucht nach der vollkommenen Landschaft" (die Konstruktion von Ideallandschaften in der Malerei). 17 Mag der Facettenreichtum an Formen und Interpretationen der künstlerischen Landschaftsdarstellung seit den 1950er-Jahren nur einem engeren Kreis von Interessentinnen und Interessenten zugänglich sein, so zeigt der lapidare Satz „Natur und Landschaft sind Österreichs wichtigstes Kapital" in dem Projekt „European Fishbowl", welch große internationale Breitenwirkung dieser stereotype Topos besitzt. 18 Dass die Donau als eine Art „europäischer Erinnerungsort" lebendig bleibt, dafür sorgt unter anderem die seit 1972 bestehende Internationale Touristische Werbegemeinschaft „Die Donau" mit ihrem Logo der blauen Donauwelle, ihren länderüberschreitenden Online-Guides und ihren kulturellen Veranstaltungen, die im Jahr 2005 unter dem Motto „Donau-Landschaften" stehen. 19 Ein „Tag der Schifffahrt" zum jährlichen Saisonauftakt verbindet sich mit den Interessen des neu entdeckten Flusskreuzfahrt-Tourismus, und für sportliche Zielgruppen wurde „Radeln und Schlemmen entlang der Donau" international beworben. 20 In Österreich ist der Fluss zu einem beliebten Unternehmensnamen geworden: Donau-Versicherung, Donau-Chemie, Donau-Design, Donau-Universität Krems, auch ein Wiener Schwimmverein, ein Wiener Rugby Club und ein Linzer Golfclub tragen diesen Namen. Solche Begriffe schaffen Nähe, Vertrautheit, erhöhen Akzeptanz (falls diese einmal Johann Strauß' Donauwalzer nicht mehr gewährleisten sollte ...). Selbst in der politischen Sprache ist der Begriff des „Donauraumes", der zumindest seit dem 19. Jahrhundert (wie Donau-

Einleitung

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monarchie) eine landschaftsorientierte politische Metapher darstellt, seit dem Ende der europäischen Ost-West-Teilung eine wieder häufig verwendete Beschreibung für die symbolische Verbindung der an der Donau gelegenen Staaten. Auch Salzburg hat im In- und Ausland einen hohen Symbolcharakter. Dafür sorgen nicht nur das Festhalten an dem über Jahrzehnte geschaffenen Fundus von Auto- und Heterostereotypen, sondern auch die immer wiederkehrenden Unstimmigkeiten auf dem Kultursektor: „Der Rückzug einer Salzburgmüden'" (der Verzicht der Direktorin des Museums der Moderne auf eine frühzeitige Verlängerung ihres Vertrages) im Jänner 2005, vor allem aber die zahlreichen Intrigen und Konflikte um die Salzburger Festspiele (wie etwa der Rücktritt Philippe Jordans vom Dirigat der Festspielproduktion „Cosi fan tutte" aufgrund von Spannungen mit den Regisseuren im Februar 2005).21 Zum ausgeprägt kulturellen Ansehen der Stadt werden jedoch neue, landesübergreifende imagebildende Faktoren kommen: Ihre Rolle als Mittelpunkt der im Jahr 2000 gegründeten EuRegio Salzburg - Berchtesgadener Land - Traunstein ebenso wie ihre Wahl zu einem Austragungsort der Fußballeuropameisterschaft 2008. Auch Mariazell weiß sich im World-Wide-Web entsprechend zu positionieren. Diese Informationsdichte schafft die Voraussetzungen für die Vertiefung von Bildern im „Speichergedächtnis" (Aleida Assmann) der Menschen, aus dem sie bei entsprechenden Anstößen abrufbar sind. Für praktizierende Christen wird Mariazell weiterhin der Wallfahrtsort Österreichs bleiben. 2004 war Mariazell der Zielort des „Mitteleuropäischen Katholikentages". Für 2005 haben bereits zahlreiche Pfarren und Organisationen (von der Tschechischen Gemeinde in Wien über die Banater Schwaben und kroatische Gruppen bis zum Steirischen Bauernbund und dem Fatima Apostolat aus Freiburg im Breisgau) ihre Messfeiern vor dem Gnadenaltar reserviert. 22 Und auch konfessionell ungebundene Menschen werden in den Medien mit den Aktivitäten des Vereins der Freunde Mariazells (Präsident General Karl Majcen) und des Kuratoriums „Mariazell braucht ihre Hilfe" (Präsident Generalanwalt Christian Konrad), konfrontiert, wo zahlreiche Prominente um Geldspenden für die Erhaltung der Basilika werben. Die 850-Jahr-Feiern 2007 werden Mariazell sicher wieder ins Zentrum des öffentlichen Interesses rücken. Auch das Salzkammergut wird - als Tourismusregion - zweifellos auch in Zukunft zu den „lieux de mémoire" Österreichs zählen. Dafür sorgt nicht nur eine konsequente Werbestrategie unter dem Motto „Das Salzkammergut erfüllt die Sehnsucht nach Lebenskraft und Lebensfreude", sondern auch eine InternetZeitung unter der klingenden Domain „juhe.at". Die Salzkammergut Mountainbike-Trophy mit ihren zahlreichen Bewerben und der Salzkammergut Berglauf-Cup werden auch im Jahr 2005 zahlreiche Sportler und sportbegeisterte Besucher anlocken, Operettenfreaks werden Bad Ischl weiterhin als bewährte Adresse schätzen, Modebewusste auf den Ausseer-Hut nicht verzichten und das Lesepublikum wird in Alfred Komareks Essays sowie in seinem neuesten und

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bereits verfilmten Roman „Die Villen der Frau Hiisch" (2004) eine fein gestimmte Begegnung mit dieser Region erfahren. In Südtirol ist es ebenfalls ein Mix von Komponenten, die über die noch immer grundlegend bedeutsame politische Dimension hinaus die Wahrnehmung des Landes prägen. An erster Stelle steht zweifellos - einmal mehr - der Fremdenverkehr (mit Skisport, Wandern, Baden, Klettern, Kultur und dem unvermeidlichen Törggelen), doch es hat abseits der zum Klischee erstarrten Bauernund Alpen-Idylle auch eine schillernde Moderne in Form des „Bioland Verbands Südtirol" und des BIC (Business Innovation Centre) Südtirol den Südtirol-Bildern neuen Konturen verliehen. Dem interessierten Medienkonsumenten bietet das 1995 geschaffene „Südtirol Journal Radio Network" im Hörfunk täglich neue Informationen; es bildet so neben der Tageszeitung „Dolomiten" einen wichtigen Faktor für die Bildung einer Südtiroler Identität, die nach wie vor sehr stark über selektive Interpretationen der Vergangenheit geprägt wird. 23 Nach den Ergebnissen der Lifestyle-Studie 2004 des Sozialforschungsinstituts Fessel-GfK sind die Eigenschaftsprofile der österreichischen Bevölkerung in der Selbstwahrnehmung unter allen Nachbarländern denen Ungarns am ähnlichsten: Man empfindet sich und die Ungarn/innen in erster Linie und in gleichem Ausmaß als sympathisch, tolerant, friedliebend, stark und großzügig. 24 Nach einer anderen Studie nimmt es unter Sympathiewerten für die österreichischen Nachbarn nach der Schweiz seit 1994 unverändert den zweiten Platz ein; Tourismus, Küche sowie (mit deutlichem Abstand) freundliche Leute, niedriges Preisniveau zwecks Einkäufen und wirtschaftliche Erfolge sind (noch vor der gemeinsamen Geschichte) die häufigsten Assoziationen zu Ungarn. 25 Diese positive Bewertung, die gerne unter dem Schlagwort der „Wahlverwandtschaft" zusammengefasst wird, hat zweifellos auch historische Gründe: Die (keineswegs ungetrübte) Partnerschaft in der Habsburgermonarchie, das Bild der Husaren als heldenmütige, adelige und fesche Männer, der Csárdás, Puszta-Romantik, Gulasch-Kommunismus, der Volksaufstand 1956, die Grenzöffnung vieles davon sind Stereotypen, die nichts mit den lange verbreiteten Bildern von Chaos und Rückständigkeit osteuropäischer Länder hinter dem Eisernen Vorhang gemein haben, die Annäherungen in einem veränderten Europa im Wege stehen. 26 Davon abweichend erwies sich in neueren Umfragen die Einschätzung der Tschechischen Republik. Seit einem Jahrzehnt rangiert sie am Ende der Beliebtheitsskala der österreichischen Nachbarländer. Zwar bescheinigen die Österreicher/innen dem Land einen Reichtum an Kultur, an historischen Sehenswürdigkeiten und landschaftlichen Schönheiten. Doch überwiegen in den Spontanassoziationen negative Zuschreibungen (Konflikte mit Österreich, negative Assoziationen zur Politik, wirtschaftliche Probleme) eindeutig die positiven (Städte und Regionen, historische Gemeinsamkeiten, niedrige Preise, Widerstand gegen den Kommunismus, Kultur); wirtschaftliche Erfolge wie Misserfolge werden ungefähr mit der gleichen Häufigkeit genannt. 27 Diese Einstel-

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lung hat, wie Wolfgang Bahr in seinem Beitrag zeigen konnte, unterschiedliche Wurzeln - wie das Weiterleben alter Bedrohungsszenarien oder eine undifferenzierte Sicht von Nationalismen - , auf die man gegenwärtig auch noch in Schulbüchern stößt. Die Bilder über Bauten, Orte und Regionen in Österreich und über angrenzende Staaten sowie ihre Bewertung als „typisch österreichisch" oder ihre Affinität zu Österreich werden von unterschiedlichen Faktoren bestimmt: Von räumlicher Nähe, sozialer Einbindung, individueller lebensgeschichtlicher Bedeutsamkeit, schulischer oder sonstiger Bildung, medialer Wahrnehmung, tradierten Stereotypen (als verfestigten, nur langsam wandelbaren Überzeugungen, die emotional aufgeladen sind und oft unkritisch übernommen werden) - um nur einige zu nennen. Die Daten der dem Projekt zugrunde liegenden Erhebung zeigten ein stabiles Inventar der bekanntesten Erinnerungsfiguren; die hier gesammelten Studien versuchten die Gründe und Mechanismen ihrer Genese und ihres Fortbestehens darzustellen. Doch in den Umfragen wurde auch eine unverkennbare Aufsplitterung der österreichischen Erinnerungslandschaft fassbar: Bei der Frage nach für Österreich typischen Orten nannten 15% die verschiedensten Gemeinden (von Mörbisch über Deutschlandsberg und Maria Wörth bis Heiligenblut). Bei der Frage nach symbolträchtigen Bauwerken verwiesen 26% der Befragten auf regional bedeutsame Objekte (vom Dom zu Gurk über Schloss Herberstein und das Bummerlhaus in Steyr bis zur Europabrücke). Unter dem „christlichen Österreich" vergaßen 18% umstrittene Personen wie Kardinal Groer und Bischof Krenn ebenso wenig wie überregional bekannte Priester, und als „christliche Orte" betrachteten 11 % der Antworten neben „schöne Kirchen" ganz allgemein auch Wallfahrtsorte wie Maria Dreieichen oder das Stift Göttweig. Und bei der Verbindung mit Gebieten außerhalb Österreichs entfielen 6% auf Slowenien, 4% auf Kroatien (speziell Istrien und Abbazia), 3% auf die Slowakei und 2% auf Deutschland. Diese Disparität signalisiert die Bedeutung von individuellen Sichtweisen: von persönlicher Vertrautheit, von scheinbar Unverändertem, von ungebrochen Bedeutsamem und Schätzenswertem, das das Leben in irgendeiner Form direkt beeinflusst. Sie verweist aber auch auf die „Nähe des Fremden", die durch mediale Vermittlung und eine steigende Reisemobilität geschaffen wird. Erst die Wahrnehmung des Anderen macht das Eigene deutlich erkennbar. Für die Herausbildung von individuellen Symbolsystemen wie von kollektiven Identitäten spielen je gegenwartsrelevante Phänomene und Ereignisse eine wichtige Rolle. Daher lassen sich über längere Zeiträume hinweg sowohl Kontinuitäten in den Erinnerungsfiguren selbst (nicht aber notwendiger Weise auch in deren Zuschreibung und Interpretationen) als auch Wandlungen durch eine Neuformulierung verbindlicher Symbole und „Orte", feststellen - etwa in Form der Betonung disparater Bilder, die „Quellen" mit kunsthistorisch anerkannten Bildern

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und Objekten verknüpfen. Die offiziellen Feiern zu den Jubiläen von Republikgründung und Staatsvertrag sowie die Jubiläumsausstellung „Das neue Österreich" 2005 bilden eindrucksvolle Beispiele für die Verknüpfung beider Phänomene. Das Belvedere gewann dadurch als österreichischer Erinnerungsort zweifellos ebenso an Bedeutung wie die berühmte „Balkonszene" des Jahres 1955 (derer sich bereits die aktuelle Werbung für einen Elektro- bzw. ElektronikDiskonter und einen Möbelgroßhandel bemächtigt hat); andererseits eröffnete die konzeptionelle Ausstellungsgestaltung mit „Exponatspur" (Dokumente und Artefakte), „Fahnenspur" (Informationsträger mit audiovisuellen und interaktiven Medien) und „Kunstspur" (ausgewählte Gemälde und Skulpturen) neben der Kanonisierung der neuesten Geschichte und der „Meisterwerke" österreichischer Künstler/innen des 20. Jahrhunderts eine Synthese von Geschichte und wichtigen Bereichen der „Hochkultur", die sich als neues und multiperspektivisches sinnstiftendes Gesamtbild anbietet. 28 Die Niederösterreichische Landesausstellung 2005 auf dem Heldenberg in Kleinwetzdorf dagegen erfasst in ihrer „Zeitreise Helden" den Aufstieg, die Instrumentalisierung und auch das Vergehen von Heroen beiderlei Geschlechts von der Antike bis zur Gegenwart, von Achilles und Penthesilea über Napoleon, Julius Payer und Carl von Weyprecht bis hin zu Juan Manuel Fangio, Jimmy Hendrix, Janis Joplin und stillen „Helden des Alltags". 29 Diese regionale und inhaltliche Ausweitung der Perspektive ist ein Indiz dafür, dass die Umcodierung und Neukonstruktion von Bildern fortdauert. Dieser Prozess wird sich nicht zuletzt durch das Ringen um „multiple Identitäten" in einer sich globalisierenden Gesellschaft auch in Zukunft fortsetzen (wenngleich selbst nur eine überwiegend oder ausschließlich europäisch definierte Identität vorläufig noch ein Minderheitenprogramm darstellt). 30 Welche Konsequenzen sich daraus für die „loci memoriae" Österreichs ergeben, wird die Zukunft zeigen. Der Dank der Herausgeber gilt dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur für die Finanzierung des Forschungsprojekts und für einen Beitrag zu den Druckkosten, der Österreichischen Forschungsgemeinschaft für einen Druckkostenzuschuss sowie vor allem für die Übernahme der Kosten einer Umfrage durch das Fessel-GfK Institut für Marktforschung GmbH. (Wien), welche das „kulturelle Gedächtnis" der österreichischen Bevölkerung erhob und damit empirisch abgesicherte Grundlagen für die weiteren Forschungsarbeiten schuf. Auch die Länder Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark und Wien haben finanzielle Beiträge zum Erscheinen dieses Bandes geleistet. Die Zusammenarbeit mit allen Autorinnen und Autoren, die bereit waren, mit dem Blick auf das kulturelle Gedächtnis den Spuren des Österreichischen nachzugehen, gestaltete sich höchst anregend. Ihnen gilt unser besonderer Dank. Wien, im Juli 2005 Emil Brix, Ernst Bruckmüller, Hannes Stekl

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996-1996 ostarrîchi - Österreich. Menschen, Mythen, Meilensteine, hg. von Ernst Bruckmüller und Peter Urbanitsch, Österreichische Länderausstellung, Horn 1996, bes. Ernst Bruckmüller, Das Konzept der Ausstellung, 1-6. Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, hg. von Emil Brix und Hannes Stekl, Wien-Köln-Weimar 1997. Ernst Bruckmüller, Österreich. „An Ehren und an Siegen reich", in: Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, hg. von Monika Flacke. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, München-Berlin 2 2001, 269-294. Pierre Nora, Les Lieux de mémoire, 7 Bde., Paris 1986-1992; I luoghi della memoria. Simboli e Miti dell'Italia unita, hg. von Mario Isnenghi, 3 Bde., Rom-Bari 1996-1997; Deutsche Erinnerungsorte, hg. von Etienne François und Hagen Schulze, 3 Bde. München 2001-2002. Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, Das kulturelle Gedächtnis Österreichs. Eine Einführung, in: Memoria Austriae I. Menschen - Mythen - Zeiten, hg. von dens., 9 - 2 5 . Ernst Hanisch, Reaustrifizierung der Zweiten Republik und das Problem eines österreichischen Nationalismus, in: Gestörte Identitäten? Eine Zwischenbilanz der Zweiten Republik. Ein Symposion zum 65. Geburtstag von Moritz Csáky, hg. von Lutz Musner, Gotthard Wunberg und Eva Cescutti, Innsbruck-Wien-München-Bozen 2002, 27-34. Market. Institut für Markt-, Meinungs- und Mediaforschung Linz, Umfrage BM 128 „Worauf Österreichischer stolz sind", Dezember 1999. Image der Österreichischen Bundesforste (ÖBF) 2004, Umfrage der Integral-Marktforschung. Für die Überlassung der Umfrageergebnisse sei den ÖBF herzlich gedankt. Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien-Köln-Graz 21996, 92 ff. Ernst Bruckmüller, Wien und die österreichische Identität, in: Von den Hauptstädten und den Hintersassen, hg. von Erhard Busek, Wien 1987, 19-36; Werner Michael Schwarz, Wien „Hauptstadt von was?" Zur Einschätzung Wiens im 20. Jahrhundert, in: Heroen, Mythen, Identitäten. Die Slowakei und Österreich im Vergleich, hg. von Hannes Stekl und Elena Mannová, Wien 2003, 169-190. Nach Halbwachs orientierten sich die Erinnerungen der Individuen an bestimmten Bezugsrahmen, d.h. den je spezifisch geformten Wahrnehmungsweisen gesellschaftlicher Gruppen (cadres sociaux), und konnten nur über Kommunikation innerhalb dieser „Rahmen" aktiviert werden. Diese Milieus - Halbwachs sollte später Familien, Religionsgemeinschaften und soziale Klassen detaillierter betrachten - verfügten über ein je spezifisches kollektives Gedächtnis (mémoire collective) - eine „kontinuierliche Denkströmung", die „von der Vergangenheit nur das behält, was von ihr noch lebendig und fähig ist, im Bewußtsein der Gruppe, die es unterhält, fortzuleben". Vgl. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, das Zitat 68. Im Rahmen von Eurobarometer-Umfragen wird in regelmäßigen Abständen folgende Frage gestellt: „In der nahen Zukunft, sehen Sie sich da nur als Österreicherin, als Österreicherin und Europäerin, nur als Europäerin?" Im Langzeitvergleich fühlten sich nur 4 0 - 5 5 % der Befragten gleichzeitig mit Österreich und Europa verbunden. Vgl. Nadja Lamei, Europäische Integration und europäische Identität - Theoretische Konzepte - empirische Ergebnisse für Österreich, in: SWS Rundschau 43 (2003), 523-546. Kurier, 4.1.2005, 10. Graz- Kulturhauptstadt Europas. Eine fotographische Dokumentation von Peter Philipp, Graz 2003, bes. die Vorworte. http://www.graz.net/sightseeing/schlossberg.htm (Zugriff 22.2.2005). http://www.schule.at/index.php?url=themen&topJd=417 (Zugriff 22.2.2005). Ein ausführlicher Bericht im Kurier, 12.12.2004, 30. European Fishbowl 2004 ist ein Projekt der Landeszentrale für politische Bildung des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Über Österreich http://www.european-fishbowl.de/ laender/at.htm (Zugriff 17.2.2005). http://www.danube-river.org/de (Zugriff 23.2.2005). So 2004 im Frankfurt Magazin, http.//www.magazin-frankfurt.de

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Emil Brix, Ernst Bruckmüller, Hannes Stekl

Exemplartisch die Berichte im Kurier vom 12.1.2005, 26 bzw. 22.2.2005, 10. http://www.basilika-mariazell.at (Zugriff 23.2.2005). Als Ergebnis eines Workshops am 1.4.2004 dazu kritisch und anregend Martha Verdorfer, Inwiefern prägt die Südtiroler Geschichte die Südtiroler Identität, http://www.asus.sh/ verdorfer.245.0.html (Zugriff 24.2.2005) Lifestyle Speziai 2004 - Österreichische Identität (Schriftliche Befragung, n=4.000 Befragte, repräsentativ für Österreichs Gesamtbevölkerung über 15 Jahre). Eine Kurzfassung unter http://www.gfk.at/de/download/present/03_products/social/Highlightlifestyle_2004_d.dpf (Zugriff 24.2.2005) Dazu und zum Folgenden Peter A. Ulram und Svila Tributsch, Kleine Nation mit Eigenschaften. Über das Verhältnis der Österreicher zu sich selbst und ihren Nachbarn, Wien 2004, bes. 45 und 15. Herausforderung Osteuropa. Die Offenlegung stereotyper Bilder, hg. von Thede Kahl, Elisabeth Vysloncil und Alois Woldan, Wien-München 2004. Ulram und Tributsch, Kleine Nation, 16 ff., 45. Das neue Österreich. Die Ausstellung zum Staatsvertragsjubiläum 1955/2005, Oberes Belvedere, 16. Mai bis 1. November 2005, hg. von Günter Dürigl und Gerbert Frodi, Wien 2005. http://www.noe-landesausstellung.at pressetexte/PRtext_PK_l8_l_05.doc (Zugriff25.5.2005). Vgl. auch den Katalog Zeitreise Schmidatal im Wienviertel: Lauter Helden - geheimnisvolle Kreisgräben, hg. vom Landschaftspark Schmidatal, Ravelsbach 2005. Ulram und Tributsch, Kleine Nation, 144.

Michael

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Bedeutsame Orte Zur Genese räumlicher Bezugspunkte österreichischer Identität

Die offene Meinungsumfrage zu Österreichs „Lieux de mémoire" hat räumliche Bezugspunkte österreichischer Identität in unterschiedlicher Weise zum Thema gemacht. Die Frage 1 : „Wenn Sie jemand bittet, Österreich zu beschreiben - was ist für Sie typisch für Österreich?" hielt es offen, ob und in welchem Ausmaß räumliche Bezugspunkte für das Selbstbild der Österreicher wichtig sind. Die Antworten lassen dementsprechend eine Gewichtung räumlicher Aspekte im Spektrum identitätsstiftender Charakteristika zu. Die Frage 2: „Wenn Sie an österreichische Bauwerke, Plätze, Denkmäler, Landschaften und Flüsse denken: Gibt es da welche, von denen Sie persönlich sagen würden, daß sie typisch für Österreich sind?" hingegen erlaubt nur räumlich bezogene Antworten. Durch die Aufzählung bestimmter Typen von Orten bzw. Räumen setzt sie Akzente. Mit den an dritter Stelle genannten „Denkmälern" bringt sie Orte des Gedenkens ausdrücklich ins Spiel. Die beiden folgenden Fragen zu Ereignissen und Personen, auf die man als Österreicher stolz sein kann, haben nur in vermittelter Form für Raumbezüge österreichischer Identität Bedeutung - nämlich über die Wirkungsstätten dieser Personen bzw. die Orte, an denen denkwürdige Ereignisse stattgefunden haben. Mit der Beschränkung auf Ereignisse der Vergangenheit bzw. der ausdrücklichen Nennung von „Personen aus der Vergangenheit" ist in beiden Fragen die historische Komponente von Identität ausdrücklich angesprochen. Die Frage 6: „Gibt es Gebiete oder Städte außerhalb Österreichs, die sie persönlich mit Österreich verbinden?" enthält keinen expliziten Bezug zur Geschichte, lädt jedoch implizit dazu ein, historisch gewachsene Nachbarschaftsbeziehungen zu thematisieren. In räumlicher Hinsicht lenkt sie die Aufmerksamkeit eher auf größere Gebietseinheiten bzw. städtische Zentren. Die Frage 7: „Gibt es Firmen oder Unternehmen, die für sie typisch österreichisch sind?" hat über den Standort der Firmen einen - vermittelten - räumlichen, über Traditionsunternehmen auch einen historischen Bezug. In der Frage 8: „Welche Ereignisse, Orte, Personen verbinden Sie mit einem christlichen

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Österreich?" sind für die Identität der Österreicherinnen und Österreicher bedeutsame Orte wiederum direkt angesprochen, und zwar in einer Weise, die Gewichtungen im Verhältnis zu anderen Bedeutsamkeiten ermöglicht. Mit dem identitätsstiftenden Faktor Religion erscheint auch die Dimension Vergangenheit stark einbezogen. Die Frage 9: „Welche Aufgabe könnte Österreich in einem Vereinigten Europa erfüllen?" hingegen erscheint weder für räumliche Bezugspunkte noch für die historische Dimension österreichischer Identität von Relevanz. Auf diese unterschiedlichen Fragen bezogen haben die in den Antworten genannten Örtlichkeiten unterschiedliche Bedeutsamkeit. Bei einer Auswertung ist dieser Umstand zu berücksichtigen. Eine solche Auswertung soll hier zunächst nicht die einzelnen Nennungen von Örtlichkeiten analysieren, sondern eine allgemeine Systematisierung versuchen, welche Typen für die Identität von Großgruppen bedeutsamer Orte in den Antworten angesprochen wurden. Es geht also um den Versuch einer allgemeinen Einordnung der in der Meinungsumfrage erhobenen Aussagen. Für Identität heute maßgebliche Faktoren lassen sich nicht ohne Wissen um identitätsstiftende Faktoren in der Vergangenheit verstehen. So führt die Analyse notwendig in historische Entwicklungszusammenhänge. Mit Schlüsselbegriffen wie „Lieux de mémoire", „Gedächtnisorte" oder „Erinnerungsorte" liefert eine neue Forschungsrichtung Konzepte zur Erschließung von Zusammenhängen zwischen nationaler Identität und Geschichte. Auf diesem wissenschaftlichen Hintergrund werden an das Erhebungsmaterial Fragen zu stellen sein: In welchem Maß ist Identität durch Orte bestimmt? Welches Gewicht hat die Geschichte für die Bedeutsamkeit dieser Orte? Kommt Identität durch diese Orte über historisches Gedenken zustande? Antworten auf solche Fragen lassen Rückschlüsse auf das Erklärungspotenzial solcher Konzepte zu. In einem der Basistexte der neuen Forschungsrichtung, Aleida Assmanns Studie „Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften", findet sich zum Thema Nation und Geschichte die komprimierte Aussage: „Während über das Geschichtsbewußtsein einer Nation die chronologisch geordneten Geschichtsbücher Aufschluß geben, findet das Gedächtnis einer Nation seinen Niederschlag in der Gedächtnislandschaft seiner Erinnerungsorte. Die eigentümliche Verbindung von Nähe und Ferne macht diese zu auratischen Orten, an denen man einen unmittelbaren Kontakt mit der Vergangenheit sucht. Die Magie, die den Erinnerungsorten zugeschrieben wird, erklärt sich aus ihrem Status als Kontaktzone. Heilige Orte sind solche Kontaktzonen, die eine Verbindung zu den Göttern herstellen, sie gibt es in allen Kulturen. Gedenkorte kann man als ihre Nachfolgeinstitution betrachten; von ihnen erwartet man sich, daß sie einen Kontakt mit den großen Geistern der Vergangenheit befestigen." ' Vieles lässt sich an dieser Aussage problematisieren: Ob es ein „Gedächtnis einer Nation" überhaupt gibt, ob ein solches „Gedächtnis einer Nation" dem „Geschichtsbewusstsein einer Nation" kontrastierend gegenüberstellt werden kann, ob es sich bei „Erinnerungsorten" um „auratische Orte" handelt, ob „Ma-

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gie" dabei im Spiel ist, ob es „in allen Kulturen" „heilige Orte" gibt, ob es die Funktion von Gedenkorten ist, den „Kontakt mit den großen Geistern der Vergangenheit (zu) befestigen" - in einer Hinsicht ist sie jedoch für die hier geplante Analyse richtungsweisend. Sie benennt die historischen Wurzeln jener räumlichen Bezugspunkte staatlich-nationaler Identität, die es zu untersuchen gilt: heilige Orte.2 In einem weiten Verständnis hätte der Begriff „heilige Orte" für alle hier behandelten identitätsstiftenden Örtlichkeiten in Vergangenheit und Gegenwart dienen können. Auch außerhalb der religiösen Sphäre gebrauchen wir den Begriff „heilig" für etwas, das uns besonders wichtig, besonders bedeutsam ist. In diesem weiten Wortverständnis hätten sich sicher auch das Riesenrad und die Donauinsel als „heilige Orte" der Österreicherinnen und Österreicher bezeichnen lassen. Die volle Spannweite des Begriffs auszureizen, wäre aber vielleicht doch zu provokant gewesen. So wurde im Titel der stärker formalisierte Begriff „bedeutsame Orte" gewählt, der alle säkularen Formen „heiliger Orte" problemlos mit einschließt.

Heilige Orte Die Beschäftigung mit heiligen Orten hilft vor allem für frühe Zeiten, sich räumliche Bezugspunkte der Identität von Großgruppen bewusst zu machen. Österreich ist - aus historischer Sicht - ein katholisches Land. So darf man als älteste Schicht identitätsstiftender Raumbezüge heilige Orte der Christenheit vermuten. Unterschiedliche Typen heiliger Orte sind dabei zu bedenken. 3 Als bedeutungsvollste heilige Orte der gesamten Christenheit galten spätestens seit dem 3. Jahrhundert die Stätten des Leidens, des Todes und der Auferstehung Jesu Christi, insgesamt die Stationen seines Lebenswegs im Heiligen Land. Durch sie wurde eine universale Identität konstituiert. Das zeigt der umfassende Einzugsbereich der Jerusalem-Pilger, aber auch die allgemeine Bereitschaft zur Wiedergewinnung dieser Plätze im Zeitalter der Kreuzzüge. Ob es sich bei den heiligen Stätten des Christentums im Heiligen Land um „auratische Orte, an denen man einen unmittelbaren Kontakt mit der Vergangenheit sucht" im Sinne von Aleida Assmanns Formulierung handelt, erscheint für historische Zeiten wie für die Gegenwart fragwürdig. Dem christlichen JerusalemPilger war und ist die Grabeskirche wohl mehr als ein „Erinnerungsort." Es geht hier nicht nur um Vergangenheit, es geht auch um Heilserwartungen für die Gegenwart und Zukunft. Religiöse Memorialkultur muß diesbezüglich wohl in komplexeren Zusammenhängen gesehen werden. Für das aktuelle ÖsterreichBewusstsein spielen räumliche Bezugspunkte einer universalen christlichen Identität offenbar überhaupt keine Rolle. Die heiligen Stätten des Heiligen Landes werden in keiner Antwort auf die Meinungsumfrage genannt. Die Frage nach Orten, die mit einem christlichen Österreich verbunden gesehen werden, hätten eine Gelegenheit dazu gegeben, mehr noch die nach Gebieten und Städ-

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ten außerhalb Österreichs, die der Befragte mit Österreich in Verbindung bringt. Christlicher Universalismus, soweit er überhaupt österreichische Identität beeinflusste, war schon seit langem an Rom bzw. dem Einzugsbereich der römischen Kirche orientiert, nicht an Jerusalem. Bezeichnenderweise wird der Vatikan in unserer Umfrage als ein mit dem „christlichen Österreich" verbunden gedachter Ort erwähnt. Dass die Habsburger bis zum Ende ihrer Herrschaft in Österreich beharrlich am Titel eines Königs von Jerusalem festhielten, mag einem universal-christlichen Bewusstsein an der Spitze des Reichs entsprochen haben, für die Bevölkerung blieb es belanglos.

Gemeindekirchen Neben die heiligen Stätten des Heiligen Landes als heilige Orte der universalen Christenheit treten als ein zweiter Grundtyp heilige Orte auf regionaler bzw. lokaler Ebene - nämlich die in sich hierarchisch gestuften Gemeindekirchen. Sie wirkten in ganz anderer Weise identitätsstiftend. Zum Unterschied von den fernen Pilgerzielen wurden sie regelmäßig besucht. Aus dem Interaktionszusammenhang der jeweiligen Pfarrbevölkerung entstand ein Bewusstseinszusammenhang. 4 Und die gemeinsamen Aktivitäten der Pfarrgemeinde beschränkten sich keineswegs auf kirchlich-religiöse Belange im heutigen Sinne. Wirtschaftliche und rechtliche Agenden schlössen sich an die kirchlichen Mittelpunkte an. Funktionen der Erziehung, des Brauchtums, allgemein des lokalen Kulturlebens entwickelten sich aus religiöser Wurzel. Diese Vielfalt gemeinsamer Tätigkeiten in der Pfarrkirche und in Anschluss an sie hatte ein starkes Zusammengehörigkeitsbewusstsein zur Folge. In ländlichen Gebieten Österreichs erscheint bis ins 20. Jahrhundert hinein die Pfarre als der entscheidende Rahmen lokalen Zusammengehörigkeitsbewusstseins und auch im städtischen Raum geht von ihr eine starke identitätsstiftende Wirkung aus. Dieses Bewusstsein bleibt allerdings im wahrsten Sinne des Wortes „parrochial", nämlich im Verständnis von „auf die Pfarre bezogen", wie auch von „lokal beschränkt". Parrochiale und nationale Identität stehen zueinander im Gegensatz. Bevor gefragt wird, wie Gemeindekirchen als räumliche Bezugspunkte parrochialer Gruppen nationale Bedeutsamkeit erlangen konnten, gilt es auf Pfarrkirchen als Orte von Erinnerungskultur näher einzugehen. Der Charakter der Pfarrkirche als heiliger Ort wird zwar durch Weihe konstituiert, aber durch die regelmäßige Wiederholung heiliger Handlungen im Bewusstsein der Pfarrangehörigen verankert. Die wichtigste dieser heiligen Handlungen ist die an Sonn- und Feiertagen von der gesamten Gemeinde besuchte Messe. Den in der Heiligen Schrift überlieferten Einsetzungsworten „Tut dies zu meinem Gedächtnis" 5 entsprechend stellt die eucharistische Feier ein Gedächtnismahl dar. Darauf bezugnehmend wird vom spezifischen „Memorialcharakter des Christentums" gesprochen. 6 Sicher geht es aber - jedenfalls nach dem katholischen

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Verständnis des Wandlungsgeschehens - um weit mehr als um historisches Gedenken und damit bei der Gemeindekirche um mehr als einen Gedächtnisort. Durch die Transsubstantiation wird Jesus präsent gedacht, in der Messe seine Erlösungstat erneuert gesehen. 7 Die Bedeutsamkeit der Kirche als heiliger Ort erscheint in diesem Verständnis nicht primär durch Erinnerung an Heilsgeschehen konstituiert, sondern durch dessen Wiederholung: Die Pfarrkirche ist heilig, weil in ihr Gott durch die Wandlung gegenwärtig gemacht wird und über die Messe hinaus im Sakramentshäuschen bzw. im Tabernakel gegenwärtig bleibt. Durch diese Realpräsenz tritt die Bedeutung der Vergangenheitsdimension wieder zurück - jedenfalls im religiösen Kontext. Doch auch in diesem Zusammenhang verbleiben noch genug Momente heilsgeschichtlicher Erinnerung. Man denke nur an die künstlerische Ausgestaltung in Malerei und Plastik, durch die Szenen aus der Heiligen Schrift oder aus Heiligenleben memoriert werden. Neben diese allgemeine heilsgeschichtliche Erinnerung tritt in der Pfarrkirche noch die spezielle der jeweiligen Gemeinde, etwa durch Epitaphe oder Stiftungsbilder sinnenhaft zum Ausdruck gebracht. Die Gedächtnis· und Erinnerungsfunktion solcher heiliger Orte liegt also auf sehr unterschiedlichen Ebenen. In der Gegenwart dürften Kirchen nach der hier analysierten Meinungsumfrage als räumliche Bezugspunkte österreichischer Identität nur eine sehr geringe Rolle spielen. Auf die allgemeine Frage, was für Österreich typisch sei, wird keine einzige explizit genannt. Erst bei der speziellen Frage nach „typischen Bauwerken, Plätzen, Denkmälern" etc. werden Kirchen angeführt. Eine einsame Spitzenposition nimmt dabei der Stephansdom ein, der von 37% der Befragten genannt wird. An anderen Domkirchen werden nur der Salzburger Dom - freilich nur mit einer geringen Zahl von Nennungen und bei weitem nicht als wichtigste Baulichkeit der für das Identitätsbewusstsein der Österreicher so wichtigen Stadt Salzburg - sowie der Gurker Dom erwähnt. Alle übrigen Bischofskirchen der mit den Bundesländern korrespondierenden Diözesen fehlen. Die sonstigen Erwähnungen von Kirchen in den Antworten auf diese Frage machen einen minimalen Prozentsatz aus. Zum Teil haben sie generellen Charakter wie „Stiftskirchen" oder „Bergkirchen". Unter den „Stiftskirchen" nimmt Melk einen besonderen Platz ein, auf den bei der Rolle von Klöstern als heilige Orte noch zurückzukommen sein wird. Die „Bergkirchen" verweisen auf Kirchen als Teil der Landschaft. Hier steht also die Landschaft als Identifikationssymbol im Vordergrund, nicht die Kirche als heiliger Ort. Ähnliche Interpretationen sind wohl bei der Nennung von „typischen" Orten zulässig, in denen die Kirche im Ortsbild eine markante Stellung einnimmt - etwa bei Heiligenblut und Maria Wörth. Bei beiden käme aber auch die Bedeutung als Wallfahrtsort als Grund der Erwähnung in Frage. Eindeutig durch die Wallfahrtskirche als räumlicher Bezugspunkt von Identität bedingt ist die häufige Erwähnung von Mariazell. Auch der Typus Wallfahrtsort als heiliger Ort wird hinsichtlich seiner Genese noch zu behandeln sein. In einem einzigen Fall wird

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ein bestimmter Kirchenteil als „typisches Bauwerk" bzw. „typisches Denkmal" genannt, nämlich die Kapuzinergruft. Die Fürstengrablege als heiliger Ort steht in einer weit zurückreichenden Tradition. 8 Aufschlussreiche Vergleichsmöglichkeiten ergeben die Antworten auf die Frage „Welche Ereignisse, Orte, Personen verbinden Sie mit einem christlichem Österreich?" Immerhin 4 0 % der Rückmeldungen bezogen sich hier auf Orte. Heilige Orte spielen also offenbar für eine christlich-österreichische Identität eine wesentliche Rolle. Die Gewichtungen sind hier jedoch anders verteilt als bei den für Österreich im Allgemeinen als typisch empfundenen Orten. Mariazell steht mit 1 4 % eindeutig an der Spitze. Andere Wallfahrtsorte erreichen zusammen 6 % . Der Stephansdom kommt nur auf 5 % Nennungen gegenüber 3 7 % als für Österreich typisches Bauwerk. Das zeigt, dass seine Bedeutsamkeit für die österreichische Identität über seine Bedeutung als christliche Kirche weit hinausgeht. Analoge Differenzen ergeben sich bei den Nennungen von Melk. Als typisch österreichisches Bauwerk erreicht das Stift denselben Prozentsatz wie alle Kirchen, Stifte und Klöster zusammen, die über den Stephansdom hinaus als wichtige christliche Orte in Österreich genannt wurden. Auch hier steht offenbar das künstlerisch gestaltete Bauwerk im Bewusstsein der Österreicherinnen und Österreicher im Vordergrund, nicht der heilige Ort in christlicher Tradition. In der historischen Entwicklung bedeutsamer Orte ist aber sicher zwischen diesen unterschiedlichen Formen der Bedeutsamkeit ein Zusammenhang gegeben. Der Stephansdom ist nach der hier zugrundeliegenden Meinungsumfrage die einzige christliche Gemeindekirche des Landes, die zu einem bedeutenden nationalen Identifikationssymbol der Österreicherinnen und Österreicher geworden ist. Die historische Entwicklung, die dazu geführt hat, kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Ihr ist ein eigener Beitrag dieses Bandes gewidmet. Es sei bloß skizzenhaft der Frage nachgegangen, unter welchen historischen Bedingungen im Allgemeinen eine Kirche eine solche Stellung zu erlangen vermag. Kirchen als staatlich-national bedeutsame Orte sind j a keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Überlegungen zu dieser Frage machen zeitlich weit zurückgreifende Vergleiche notwendig. In Entstehung und Entwicklung lassen sich viele Parallelen zwischen dem Stephansdom in Wien und dem Veitsdom in Prag feststellen. Auch der Prager Veitsdom hat bis in die Gegenwart für die staatliche Identität hohe Symbolkraft. Allerdings kommt diese hohe Bedeutsamkeit für das Großgruppenbewusstsein nicht der Kirche allein zu, sondern dem baulichen Ensemble als Ganzem, in das sie eingeordnet ist. Der Hradschin insgesamt war und ist für das Land Böhmen bzw. das tschechische Volk ein „heiliger Ort". Im Veitsdom werden die Reliquien der heiligen Wenzel verehrt. 9 Mit ihm ist der „heilige Anfang" böhmischer Fürstenherrschaft verbunden. Seit dem Mittelalter gilt er unumstritten als Landespatron. Seit premyslidischer Zeit fungierte der Veitsdom als Krönungskirche, aber auch als Grabeskirche der böhmischen Kö-

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nige - Funktionen, die für räumliche Bezüge von Landes-, Staats- bzw. Nationalbewusstsein konstitutiv sein konnten. Vor allem blieb der Dom bis in die Gegenwart mit dem Sitz des Staatsoberhaupts in enger Verbindung. Den Charakter als Burgkirche hat er - in vielfacher Veränderung des herrschaftlichen Kontexts - durch mehr als ein Jahrtausend bewahrt. Vergleichbare Konstellationen zwischen Burg- und Hauptkirche finden sich in Ostmittel- und Osteuropa auch sonst - in Buda, in Krakau, in Moskau. In West- und Mitteleuropa hat sich das Verhältnis zwischen geistlichen und weltlichen Zentren schon seit karolingischer Zeit, vor allem aber seit dem Investiturstreit, anders entwickelt. Und bei allen Parallelen zwischen Stephansdom und Veitsdom - hier liegt der entscheidende Unterschied. Als Rudolf IV. in Nachahmung seines böhmischen Schwiegervaters Karl IV. St. Stephan zu einer Fürstenkirche ausbauen wollte, waren die Weichen von der topographischen Konstellation her damals schon ganz anders gestellt. Als Eigenkirche des Hochstifts Passau - das Stephans-Patrozinium signalisiert die Eigentumsverhältnisse - bestand von vornherein die räumliche Separierung gegenüber dem Herrschaftssitz. Trotz vielfacher Verbindungen zum Herrscherhaus, die freilich hinsichtlich Funktionen und deren Kontinuität mit den Prager Verhältnissen nicht voll übereinstimmen - zu einer Burgkirche bzw. Hofkirche konnte St. Stephan von der Ausgangskonstellation her niemals werden. Eine mit dem Prager Hradschin vergleichbare Situation scheidet als Wurzel der staatlich-nationalen Bedeutsamkeit aus. Im westlichen Modell der räumlichen Trennung kirchlicher und weltlicher Zentren konnten Kirchen unter verschiedenen Bedingungen der Herrschaftsstruktur für das Zusammengehörigkeitsbewusstsein hohe Bedeutung erlangen. Auf zwei typische Konstellationen sei hier eingegangen. Wo Bischöfe oder Äbte zu Fürstenwürden aufstiegen, konnte die Bischofs- bzw. Abteikirche zum Identifikationssymbol des fürstlichen Territoriums werden. Das Bundesland Salzburg ist aus dem Herrschaftsgebiet des Erzbischofs von Salzburg hervorgegangen. Der Salzburger Dom hat zweifellos für das Salzburger Landesbewusstsein bis in die Gegenwart große Bedeutung. Und auch auf gesamtösterreichischer Ebene spielt er als „typisches Bauwerk", wie die hier zugrundegelegte Meinungsumfrage zeigt, eine gewisse Rolle. Als räumlicher Bezugspunkt von Identität wird er allerdings von der Festung Hohensalzburg als Ausdrucksform der Herrschaft bei weitem überflügelt. Die Peterskirche als Begräbnisstätte des Landespatrons, der für den „heiligen Anfang" steht, spielt hingegen unter den bedeutsamen Orten Salzburgs überhaupt keine Rolle. In Anbetracht solcher Bedeutungszuweisungen verwundert es nicht, dass die vielfach jungen und zum Teil nicht mit der Landeshauptstadt zusammenfallenden Domkirchen der österreichischen Länder in der analysierten Erhebung überhaupt nicht vorkommen oder nur am Rande erwähnt werden. Auch die gesamtstaatliche Bedeutung der Stephanskirche ist wohl historisch nicht primär aus ihrer Stellung als Bischofskirche abzuleiten.

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Schon seit dem Hochmittelalter können Kirchen als Identifikationssymbole von Stadtgemeinden bzw. von deren Herrschaftsgebieten auftreten. Ein entscheidender Faktor dafür ist die der städtischen Autonomie häufig vorangehende Bischofsherrschaft über die Stadt. Im ottonisch-salischen Reichskirchensystem waren die wichtigsten Zentren in der Hand geistlicher Reichsfürsten. Der Patron der Bischofskirche wurde dann als der eigentliche Herr der Stadt angesehen. W i e uns Stadtsiegel, Stadtfahnen und ähnliche Ausdrucksformen der Gruppenidentität zeigen, wurde vielfach dieser Bezug zur Bischofskirche beibehalten, auch als sich die Stadtgemeinde von der Bischofsherrschaft emanzipierte. In Mailand - einer der ältesten autonomen Kommunen Europas orientierte man sich weiterhin an S. Ambrogio, dem traditionsbegründenden Bischof aus der Frühzeit des Bistums als imaginiertem Herrschaftsträger des Gemeinwesens. 10 In Köln - einer anderen frühen Kommune - zeigt das älteste Stadtsiegel noch den heiligen Petrus, den Patron der Kathedrale. Im 13. Jahrhundert, als sich die Stadt vom Bischof freikämpft und die Ratsverfassung ausbildet, unterstellt sich die Bürgerschaft den Heiligen Drei Königen, deren Reliquien 1164 in den Dom überführt worden waren." Auch in anderen freien Reichsstädten spielten Stadtpatrone und deren Kirchen für das Gruppenbewusstsein der Bürger eine entscheidende Rolle. Ohne die Vorstufe einer Bischofskirche gilt das etwa für St. Sebald in Nürnberg oder St. Felix und Regula in Zürich. Nun war Wien nur kurzfristig im 13. Jahrhundert freie Reichsstadt. Und einen Stadtpatron erhielt Wien gar erst 1914 in der Person des 1888 heilig gesprochenen Klemens Maria Hofbauer.' 2 Ein besonders enger Zusammenhang des Gemeindebewusstseins der Wiener Bürgerschaft mit der Stephanskirche scheint jedoch seit alters her bestanden zu haben. Das gilt speziell für den markantesten Teil des Bauwerks, nämlich den Stephansturm.13 Der monumentale Ausbau der Kirche in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ging zunächst auf landesfürstliche Initiative zurück. Dementsprechend ist auch das Konzept von fürstlichen Interessen geprägt. Um 1400 tritt diesbezüglich eine Wende ein. Die Wiener Bürgerschaft übernimmt die Führung des Baus. Dabei kommt es zu einer wesentlichen Planungsänderung. Der Ausbau des Nordturms scheint damals aufgegeben worden zu sein. Der Südturm hingegen wurde weit über die ursprünglich geplante Höhe hinausgeführt. Als er 1433 fertig gestellt werden konnte, war er der damals höchste Kirchturm der Christenheit. Die treibende Kraft in der Ausgestaltung dieses symbolträchtigen Baus war nicht mehr der Landesfürst, sondern die Stadtgemeinde. Dass sich die Wiener Bürger nicht in einem Rathaus oder in einem anderen Symbolbau ein Zeichen kommunaler Selbständigkeit setzten, sondern im Turm ihrer Pfarrkirche - nicht mehr war St. Stephan damals - , das hat wohl mit der besonderen herrschaftlichen Konstellation zu tun. Die habsburgische Landesherrschaft setzte den Autonomiebestrebungen der Landeshauptstadt und vor allem der demonstrativen Zurschaustellung städtischen Selbstbewusstseins relativ enge Grenzen.

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Der Stephansdom - und im speziellen sein visuell markantester Bauteil, der Hochturm im Süden der Kirche - ist aus seiner historischen Entwicklung primär ein Identifikationssymbol der Wiener. Das zeigen nach Bundesländern aufgeschlüsselte Erhebungen noch aus der jüngsten Vergangenheit.' 4 Durch die zentralen Funktionen Wiens bedingt war er jedoch sicher schon seit Jahrhunderten ein maßgeblicher räumlicher Bezugspunkt auch für den jeweiligen Einzugsbereich der Stadt. Eine besondere Bedeutung erlangte der Dom in der Zweiten Republik. 15 Sein Wiederaufbau nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wurde zum Symbol des Wiederaufbaus des Staates Österreich gemacht. Jedes Bundesland spendete einen Teil der erneuerten Kirche: die Steiermark das Tor, Niederösterreich den Steinboden, Vorarlberg die Bänke, Tirol die Fenster, Kärnten den Kronleuchter, das Burgenland die Kommunionbank, Salzburg den Tabernakel, Oberösterreich die besonders symbolträchtige Glocke, die sogenannte „Pummerin", und schließlich Wien das Dach. Tausende Jugendliche verkauften für diesen Neubau des Daches symbolische Dachziegel. Die Überführung der Pummerin von der Glockengießerei St. Florian in Oberösterreich nach Wien gestaltete sich zu einem Triumphzug. Die Weiheinschrift der Glocke ist bezeichnend: „Geweiht der Königin von Österreich, damit durch ihre mächtige Fürbitte Friede sei in Freiheit." Ein uraltes Symbol wurde hier aufgegriffen: die Freiheitsglocke als Zeichen der Einheit der Gemeinschaft. Und diese Gemeinschaft war nun eindeutig die Republik Österreich. Wenn zur Jahreswende die Pummerin läutet, so wird dieser gesamtösterreichische Symbolgehalt nicht nur den am Stephansplatz Feiernden bewusst, sondern allen, die nun im Fernsehen diese gesamtösterreichisch bedeutsame Symbolhandlung verfolgen können. Für die Mitlebenden des Wiederaufbaus Österreichs und des Stephansdoms ist der Stephansdom zweifellos ein „Gedächtnisort Österreichs" - wohl der bedeutungsvollste unter ihnen. Ob das für jüngere Geburtsjahrgänge noch ebenso gilt, sei dahingestellt. Es ist ein Unterschied, ob identitätsstiftende Handlungen und Ereignisse unmittelbar bzw. durch die Medien miterlebt oder durch den Zeitgeschichteunterricht vermittelt werden. Mit Erinnern, Gedächtnis und Gedenken hat zunächst nur das zeitlich Nahe zu tun, das mit persönlich Erlebtem zusammenhängt. Um Gedenken in einem weiteren Sinn handelt es sich, wenn man sich auf die Vielfalt historischer Denkmäler einlässt, die der Dom bietet. Die zahlreichen Epitaphe und Grabstätten etwa wurden zum Zwecke des Gedenkens geschaffen, ebenso das - weitgehend zerstörte - Denkmal zur Erinnerung an den Türkensieg von 1683.16 Wer der lateinischen Sprache und alter Schriften mächtig ist, kann sich auf die Einladung dieser Denkmäler zum historischen Gedenken einlassen. In der Regel aber braucht der Beschauer einen schriftlichen oder mündlichen Domführer, um diese Denkmäler zu verstehen erst recht gilt dies für die Fülle anderer Zeugnisse der Vergangenheit, die nicht zum Zweck des Gedenkens geschaffen wurden, trotzdem aber Ansatzpunkte für Informationen über historisches Geschehen bieten. Der Stephansdom ist - wie

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der große Österreich-Historiker Alphons Lhotsky treffend bemerkte - das eigentliche Landesmuseum. Wie Geschichte Österreichs an Hand der historischen Überreste in diesem Bauwerk erzählt wird, dazu gibt es unterschiedlichste Möglichkeiten. Die Vorstellung einer spezifischen im „Gedächtnisort" oder „Erinnerungsort" quasi gespeicherten Geschichte, die neben dem „Geschichtsbewußtsein der Geschichtsbücher" steht, läßt sich sicher nicht halten. Das Gedenken an österreichische Geschichte im Stephansdom als dem „eigentlichen Landesmuseum" Österreichs ist schließlich ganz grundsätzlich zu unterscheiden von Gedenken an christliche Heilsgeschichte im Rahmen von liturgischen Handlungen. Nicht zufällig sind Domführungen während der Feier der Heiligen Messe verboten. Die beiden Formen des Erinnerns bzw. Gedenkens von historischem Geschehen erscheinen als inkompatibel. Und auch in der wissenschaftlichen Analyse sind sie auseinander zu halten. Der Begriff „Gedächtnisort" beinhaltet diesbezüglich Gefahren. Das Geschehen der Messe reproduziert durch seine Wiederholung immer von neuem Gedenken des christlichen Heilsgeschehens. Eine analoge Handlung, die durch Erinnern nationaler Geschichte nationales Bewusstsein schafft, lässt sich bezüglich der Domkirche nicht ausmachen. Es stellt sich die Frage, ob die hohe Bedeutung dieser Kirche für die österreichische Identität primär durch Akte des historischen Gedenkens konstituiert wird.

Wallfahrtsorte und Klöster In einer Typologie christlicher heiliger Orte lässt sich die Domkirche als eine hochrangige Form der Gemeindekirche einordnen. Von diesem wichtigsten und am weitesten verbreiteten Typus sind zwei andere Grundtypen heiliger Orte zu unterscheiden, die ebenso historisch weit zurückreichen und bis in die Gegenwart nachwirken - der Wallfahrtsort und das Kloster. Heute sind Wallfahrtsorte und Klöster im Normalfall mit Gemeindekirchen verbunden und sie waren das auch in der Regel schon durch Jahrhunderte. Ihr Ursprung ist aber ein ganz anderer, und das ist für ihren Charakter als identitätsstiftende heilige Orte bzw. als Orte des Gedenkens an Vergangenheit von Bedeutung. Der christliche Wallfahrtsort wurzelt im Heiligengrab. 17 Die Verehrung der Märtyrer an ihren Grabstätten dürfte sogar den Pilgerfahrten zu den heiligen Stätten des Lebens Jesu zeitlich vorangegangen sein. Über den Gräbern der Märtyrer wurden Heiligtümer errichtet, die sogenannten „memoriae". Vor allem zum Anniversarium des Todestages wurde ihrer hier gedacht. Die Aufzeichnung der Heiligenvita steht mit solchen liturgischen Gedenkhandlungen in Zusammenhang. Die Gräber christlicher Heiliger besuchte man jedoch keineswegs nur aus diesen Anlässen. Die heilbringende Kraft solcher Orte wurde nicht primär durch Gedenkhandlungen bewirkt gedacht, sondern durch unmittelbaren Kontakt mit den sterblichen Überresten des Heiligen. Es ging um das Sehen und Berühren der Reliqui-

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en, um das Mitnehmen von Gegenständen, die mit ihnen in unmittelbarer Berührung gestanden waren. Nicht die Geschichte der Heiligen, derer man gedachte, galt als heilsvermittelnd, sondern die Realpräsenz der Heiligen in ihren Reliquien. 18 Ähnlich verhielt es sich mit Wallfahrtsorten, in denen Bilder von Heiligen das Ziel der Pilger waren. Auch in der Verehrung des Gnadenbilds wurde der Heilige gegenwärtig gedacht. Christliche Wallfahrtsorte beziehen ihre Heiligkeit in erster Linie aus der Vorstellung eines Wirkens in der Gegenwart, nicht aus der Geschichte. Ihre Bedeutsamkeit hat nur wenig mit historischem Gedenken zu tun. Während es bei der Heiligkeit von Wallfahrtsorten um die Wirkkraft verstorbener Heiliger geht, geht die Bedeutsamkeit von Klosterorten von „lebenden Heiligen" aus. Grund der Mönchen und Nonnen zugeschriebenen Heiligkeit ist ihr asketischer Lebenswandel. 19 Ihr Gebet galt deshalb als besonders wirksam. Diese ursprüngliche Basis der Heiligkeit von Klöstern wurde allerdings im Lauf der Entwicklung des Klosterwesens mehrfach überlagert. Klöster entwickelten sich zu Orten, an denen Priester Gemeindegottesdienste hielten. Klöster wurden zu Zentren der Reliquienverehrung. Heiligkeit durch Zusammenleben asketisch lebender Menschen blieb nicht die einzige Komponente der Bedeutsamkeit von Klosterorten als heilige Orte. In der hier analysierten Meinungsumfrage stehen die Wallfahrtsorte unter den mit einem „christlichen Österreich" assoziierten Orten deutlich im Vordergrund. Mariazell nimmt dabei die Spitzenposition vor einer Gruppe weiterer Marienwallfahrtsorte ein, in denen ebenso durchwegs Gnadenbilder verehrt werden. Um das Gedenken von Geschichte geht es hier also nur insofern, als Wunderberichte aus der Vergangenheit die Erwartung weiterer Wunder in Gegenwart und Zukunft auslösten. Die für Reliquienheilige so wichtigen Heiligenviten spielen keine Rolle. Überraschend erscheint, dass das seinem Ursprung nach überregionale Phänomen der Wallfahrt in den Umfrageergebnissen so stark das Bild des „christlichen Österreich" dominiert. Das entspricht Tendenzen in der Entwicklung des katholischen Wallfahrtswesens, das schon lange vor dem Zeitalter des Nationalismus Elemente staatsbezogener Frömmigkeit zeigt. Die sogenannte „Pietas Austriaca" der Habsburger in der Barockzeit fand in hohem Maße in Wallfahrten ihren Ausdruck, insbesondere solchen nach Mariazell. 20 1647 weihte Kaiser Ferdinand III. sich, seine ganze Familie und sein ganzes Land der Gottesmutter. Seit damals gilt Maria als die himmlische Schutzpatronin Österreichs. Im Kult des Mariazeller Gnadenbilds kam die Schirmherrschaft Mariens über die Völker des Habsburgerreichs in einem dreifachen Ehrentitel zum Ausdruck: „Magna Hungarorum Domina" für Ungarn, „Mater Gentium Slavorum" für die slawischsprachigen Länder der Monarchie und „Magna Mater Austriae" für die Erblande. Die Verehrung der „Magna Mater Austriae" hat ungebrochene Kontinuität und erreichte in der Zeit um den österreichischen Staats vertrag von 1955 einen besonderen Höhepunkt. Als ein nationales Heiligtum hatte Mariazell eine die österreichischen Bundesländer und

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Diözesen umfassende Bedeutsamkeit. Vom Rückgang der Bedeutung von Wallfahrt für die religiöse Identität in den letzten Jahrzehnten ist aber sicher auch die für die nationale Identität betroffen. Charakteristisch erscheint, dass in den Umfrageergebnissen Wallfahrtsorte - so wichtig sie für das christliche Österreich erscheinen - kaum mehr als für Österreich schlechthin typisch angesehen werden. Anders als der für den Gesamtstaat bedeutsame Wallfahrtsort Mariazell liegt die Bedeutung der in der Erhebung genannten Klosterorte primär auf Landesebene. Keiner von ihnen erreicht Werte, die auch nur annähernd an die von Mariazell herankommen. Von den drei niederösterreichischen Klöstern, die Nennungen als christliche Orte erhielten - Melk, Göttweig und Klosterneuburg - , haben zwei aus ihrer Geschichte besondere Beziehungen zum Land. Sowohl Melk als auch Klosterneuburg war zeitweise Grabkloster der österreichischen Markgrafen. Vor allem wurden an beiden Orten die Reliquien eines Landespatrons verehrt - in Melk die des ältesten, nämlich des heiligen Koloman, in Klosterneuburg die des ihn ablösenden heiligen Markgrafen Leopold. Beides scheint für die Ortsbezüge österreichischer Identität heute keine Rolle mehr zu spielen. Bezeichnenderweise erreichte Melk unter den „für Österreich typischen Bauwerken" weit höhere Werte als in seiner Bedeutung für ein „christliches Österreich". Die beliebte Formel von Österreich als „Klösterreich" hat offenbar eher einen kunstgeschichtlich-ästhetischen als einen christlich-religiösen Hintergrund.

Fürstenresidenzen und Landhäuser Zum Unterschied von „sacrum palatium" der römischen Antike 21 war der mittelalterliche Fürstenhof nicht wegen der Präsenz des Fürsten per se heilig. Die Heiligkeit der Person, die im Christentum einen konstitutiven Faktor heiliger Orte darstellt, galt bei Fürsten nicht grundsätzlich als gegeben. Reliquien von Heiligen waren notwendig, um der Residenz einen besonderen Charakter der Heiligkeit zu geben. Die Reliquienschätze der Aachener Pfalzkapelle, der Sainte-Chapelle in Paris oder der Burg Karlstein bei Prag sind Beispiele dafür. 22 Das änderte sich in der frühen Neuzeit. Ähnlich wie in der Antike und wohl auch in bewusstem Rückgriff auf sie wird der Palastbau im absolutistischen Zeitalter zum Ausdruck kaiserlicher bzw. königlicher Majestät. 23 Soweit die Anknüpfungspunkte der absolutistischen Palastarchitektur christlichen Ursprungs sind, gehen sie auf das Vorbild päpstlicher Palastbauten zurück auf die Papstburg von Avignon und den Vatikan. An sie schließen die Residenzanlagen der italienischen Fürsten, vor allem aber dann der spanischen und französischen Könige sowie der Habsburger in Österreich an. Die Sakralität der barocken Palastbauten wurzelt in einer neuen Herrschaftskonzeption. Und sie findet in einer Vielfalt neuer baulicher Ausdrucksformen von Herrschaft ihren Niederschlag. Zum Hof gehören neben der Hofkapelle nun auch die Hofoper,

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das Hoftheater, die Hofbibliothek, die Hofreitschule, der Hofgarten, vor allem aber die aus der fürstlichen Hausverwaltung herausgewachsenen Zentralbehörden wie die Hofkanzlei und die Hofkammer. Alle diese Teilbauten der fürstlichen Hofhaltung werden nun künstlerisch in repräsentativer Weise ausgestaltet. Viele von ihnen sind auch Orte repräsentativer Handlungen, durch die fürstliche Macht der Öffentlichkeit demonstriert wird. Um Gedenkhandlungen, die auf die Vergangenheit Bezug nehmen, geht es aber dabei im Wesentlichen nicht. Am ehesten findet man Ansätze dazu noch in Aufführungen von Hoftheater und Hofoper. Historische Inhalte haben hier freilich keine Kontinuität. Denkmäler als bewusst gesetzte Zeichen des Gedenkens sind jedenfalls schon seit dem 17. Jahrhundert integrierender Teil fürstlicher Schlossanlagen. Mit ihnen sind allerdings keine kontinuierlich praktizierten Gedenkhandlungen verbunden wie mit ihren kirchlichen Vorstufen, den Epitaphien und Grabmälern. 24 Das Hofzeremoniell als die Liturgie der höfischen Gesellschaft, aber auch die übrigen fürstlichen Akte der Repräsentation sind nicht vergangenheits-, sondern gegenwartsbezogen. Anders als die Liturgie der Kirche findet die Liturgie der höfischen Gesellschaft mit der Abschaffung der Monarchie ihr Ende. Die „heiligen Orte" der Fürstenmacht überdauern, wenn überhaupt, so in veränderter Funktion. Zumindest ihre bauliche Ausgestaltung gibt ihnen jedoch weiterhin eine Bedeutsamkeit, die sie zu wichtigen Bezugspunkten staatlich-nationaler Identität macht. Unter den Bauwerken, mit denen sich die Österreicherinnen und Österreicher nach der hier analysierten Umfrage in besonderer Weise identifizieren, nimmt nach dem Stephansdom, auf den 37% der Nennungen entfallen, das Kaiserschloss Schönbrunn mit 16 % den zweiten Platz ein. Die Erwähnungen der Gloriette, die einen Teil des Schlossensembles darstellt, sind in diesem Wert inkludiert. Bei einem ähnlichen Verständnis historisch zusammengehöriger Bauten geht der dritte Rang an die Hofburg. Sie wird zwar explizit nur von 4% genannt, die 5% auf den Heldenplatz entfallenen Nennungen sind jedoch auf alle Fälle hinzuzurechnen, handelt es sich doch bei ihm um den zentralen Platz des Kaiserforums, das die letzte Ausbaustufe der Hofburg darstellt. Dieses Kaiserforum ist wohl auch bei jenen 13% Nennungen von Ringstraße bzw. Ringstraßenbauten mitgemeint, unter denen das Burgtheater explizit Erwähnung findet. Die beiden großen Residenzanlagen der Habsburger nehmen also unter den räumlichen Bezugspunkten österreichischer Identität Spitzenplätze ein. Sie verdanken ihre hohe Bedeutsamkeit sicher nicht nur dem imperialen Glanz vergangener Zeiten. Die Hofburg blieb immerhin auch nach dem Ende der Monarchie der Sitz des Staatsoberhaupts. Auffallend erscheint aber doch, dass kein die Republik repräsentierendes Gebäude in der Erhebungsliste aufscheint. Mag sein, dass das Parlament und das Bundeskanzleramt unter den Ringstraßenbauten mitgedacht wurden. Explizite Nennungen, wie sie unter diesen etwa für das Burgtheater und für die Staatsoper abgegeben wurden, finden sich für den Sitz der Legislative bzw. der Exekutive in der analysierten Liste nicht.

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Zu den wesentlichen baulichen Identifikationssymbolen der Österreicherinnen und Österreicher gehören nicht nur ehemalige Herrschersitze in der Bundeshauptstadt Wien, sondern auch solche in den Hauptstädten der Bundesländer. Eine hohe Zahl von Nennungen fiel mit 8 % in der analysierten Umfrage auf das „Goldene Dachl" in Innsbruck. Hier ließ 1420 Herzog Friedrich IV. die „neue Burg" errichten. 25 Das „Goldene Dachl" kam unter Kaiser Maximilian I. hinzu. Die Wappen des Landes und des Reiches, die das Gebäude schmücken, verweisen auf die Funktion Maximilians als Kaiser und Landesherr. Symbolträchtig ist hier also die Erinnerung an die Blütezeit der Stadt als Herrschaftssitz angesprochen. Nicht die Hofkirche mit Maximilans Grabmal, und schon gar nicht die unter Maria Theresia errichtete Hofburg können mit diesem Landessymbol in der Meinung der Österreicherinnen und Österreicher in irgendeiner Weise konkurrieren. Während in Innsbruck ein Teil der Stadtburg des Landesfürsten zum maßgeblichen Identitätssymbol wurde, war es in Salzburg die über der Stadt gelegene Höhenburg. 26 Mit 4 % Nennungen erreicht die Festung Hohensalzburg unter den „typischen Bauwerken" einen relativ hohen Wert. Sie liegt damit unter dem identitätsstiftenden Bauten der Landeshauptstadt Salzburg bei weitem an der Spitze - wie schon erwähnt, weit vor dem erzbischöflichen Dom. Andere Herrschaftssitze der Fürsterzbischöfe wie die Residenz in der Altstadt oder die Schlösser Mirabell und Hellbrunn finden keine Erwähnung. Wie in Salzburg hat auch in Graz der Burgberg als räumlicher Bezugspunkt von Gruppenidentität entscheidende Bedeutung. Der Uhrturm, das Wahrzeichen der Stadt, wird von 6 % als „typisches Bauwerk" genannt. Daneben entfallen auch Nennungen auf den Schlossberg als Ganzen. Der Uhrturm wurde 1555/56 durch Umbau eines mittelalterlichen Befestigungsturms errichtet. 27 Er erinnert so sowohl an die mittelalterliche Burg als auch an die gewaltigen Festungsanlagen der frühen Neuzeit, die - mit seiner Ausnahme - nach dem Frieden von Schönbrunn von 1809 geschleift wurden. Zum Unterschied von der Festung Hohensalzburg war die Burg auf dem Grazer Schlossberg nicht Fürstenresidenz, aber doch ein wichtiges Symbol landesfürstlicher Herrschaft. Türmen kommt in Befestigungsanlagen eine besondere Bedeutung zu. Unter Türmen wiederum haben Glocken- und Uhrtürme besondere Symbolkraft. 2 8 Die Glocke ruft aus besonderen Anlass und koordiniert gemeinsame Aktivitäten. Die Uhr greift noch stärker in die Interaktion des städtischen Gemeinwesens ein. Der Grazer Uhrturm als Wahrzeichen hat so über die herrschaftliche Komponente hinaus noch andere Momente der Zeichenhaftigkeit. Unter den charakteristischen Bauten der Stadt Graz wird in der Erhebung neben dem berühmten Uhrturm nicht die landesfürstliche Burg oder der Dom genannt, sehr wohl aber das Landhaus. Das ist eine für die alten Landeshauptstädte der österreichischen Bundesländer nicht untypische Situation. So nennt die Erhebung in Klagenfurt speziell den Landhaushof. Die Landhäuser sind gewissermaßen der Gegenpol zur landesfürstlichen Burg. Im Landhaus versam-

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melten sich die Landstände - die Landherren, die Ritter, die Prälaten, die Vertreter der Stadtgemeinden. „Die Stände vertreten nicht das Land, sie sind es", hat der große Sozialhistoriker Otto Brunner in pointierter Weise formuliert. 29 Der Satz macht klar, warum Landhäuser als Identifikationssymbole in der Geschichte des Landesbewusstseins eine so große Rolle spielen. Beim Grazer Landhaus ist diese identitätsstiftende Bedeutsamkeit besonders stark, weil mit ihm vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart politische Funktionen verbunden waren. Wie die analysierte Erhebung zeigt, kommt den alten Hauptstädten der heutigen Bundesländer insgesamt neben der Residenzstadt Wien für die österreichische Identität beachtliche Bedeutung zu. Das deutet auf die Stärke des föderalen Prinzips. Neben dem auf die Bundeshauptstadt fokussierten Staatsbzw. Nationalbewusstsein lebt ein an den Landeshauptstädten orientiertes Landesbewusstsein weiter. Allein aus deren zentralen Funktionen für die jeweiligen Länder in Vergangenheit und Gegenwart lässt sich diese besondere Bedeutsamkeit aber nicht erklären. Das gilt vor allem für Salzburg, das mit 20% Nennungen nur wenig hinter Wien mit 26 % liegt. Die Zusammenhänge werden aus anderen Umfrageergebnissen klarer. Auf die Frage 1: Was für Österreich typisch ist? kamen zahlreiche Antworten über die Bedeutung von Kultur, Musik, Theater und Sehenswürdigkeiten. Die Salzburger Festspiele wurden in diesem Kontext ausdrücklich genannt. Die Antwort „Felsenreitschule" bei den für Österreich typischen Bauwerken in Salzburg weist in dieselbe Richtung. Festspiele sind gleichsam heilige Handlungen der Moderne, die durch ihre regelmäßige Abhaltung dem betreffenden Ort eine gewisse nationale Bedeutsamkeit verleihen können. Sicher aber ist es nicht dieser Faktor allein, der die Sonderstellung Salzburgs unter den Landeshauptstädten ausmacht. Die Bedeutsamkeit Salzburgs für die österreichische Identität bedarf einer multifaktoriellen Erklärung.

Von bedeutsamen Bauten zu bedeutsamen Landschaften Ein wesentliches Ergebnis der untersuchten Meinungsumfrage ist es, dass neben Städten, Klöstern, Wallfahrtsorten, Kirchen und anderen historischen Bauwerken bestimmte Landschaften wichtige räumliche Bezugspunkte österreichischer Identität darstellen. Dieser Sachverhalt zeichnet sich schon in mehreren Umfragen der letzten zwei Jahrzehnte ab.30 In der hier analysierten ergeben sich dafür in den Antworten zu verschiedenen Fragen Anknüpfungspunkte. Die besonders offen formulierte Frage 1 : „Was ist für Sie typisch für Österreich?" ergab 36% „Landschaft, Land, Natur allgemein", 22% „Berge, Alpen", 11% „Seen", 2% „Flüsse", 4% „Wälder, Wiesen", hingegen nur 8% „Städte und deren Sehenswürdigkeiten". In den Antworten auf die Frage 2 verschob sich durch die spezifische Formulierung bedingt - die Relation. Weil an erster Stelle

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nach typischen „Bauwerken, Plätzen und Denkmälern" gefragt wurde und dann erst nach „Landschaften und Flüssen" treten die ersteren hier in den Vordergrund. Umso mehr fallen die hohen Prozentsätze für „Flüsse" auf, unter denen mit 39% die Donau deutlich dominiert, und für „Landschaften", bei denen die Wachau mit 9% vor dem Salzkammergut mit 8% liegt. „Seen und Berge", nach denen überhaupt nicht gefragt worden war, erreichten immerhin 16 und 26% mit dem Neusiedler See bzw. dem Großglockner mit der jeweils höchsten Zahl an Nennungen. In ihren räumlichen Bezugspunkten scheint die österreichische Identität in der Gegenwart sehr stark auch durch Beziehungen zum Naturraum bestimmt. Dieses Phänomen lässt sich mit den bisher angewandten Interpretationsstrategien aus der historischen Genese bestimmter Grundtypen bedeutsamer Orte kaum erklären. Ernst Bruckmüller hat in einer grundlegenden Studie über den Wandel des Österreichbewusstseins zur Bedeutung von Landschaften als nationaler Symbole Österreichs formuliert: 31 „In einer Phase schwerer österreichischer Selbstzweifel, während der Ersten Republik, wurde der Wert von Naturschönheiten und Kulturgütern entdeckt, weniger um daraus Identität zu gewinnen, sondern vielmehr um den Fremdenverkehr als eine der möglichen Einnahmequellen des jungen Kleinstaates anzukurbeln. [...] Mit der Nutzungsmöglichkeit für den Fremdenverkehr erhielt die Natur- und Kulturlandschaft einen hohen Wert. [...] Auf diese Weise wurde die Landschaft zur Nutzung freigegeben. Ihr Symbolgehalt scheint tatsächlich in dem Maße gewachsen zu sein, wie ihr Wert von anderen Menschen als den Einheimischen immer mehr geschätzt wurde. Mit der steigenden Aufmerksamkeit, die der urbanisierte Mensch der ,Landschaft' widmete, stieg ihre Eignung als Identifikationssymbol." Bruckmüllers These, dass die zunehmende Bedeutung von Landschaften für die österreichische Identität historisch mit der Krise nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie zusammenhängt, lässt sich an Hand eines Quellentypus überprüfen, der für die Geschichte nationaler Identifikationssymbole bisher nur wenig genützt wurde - nämlich der Briefmarke. 1929 brachte die österreichische Post eine Freimarken-Ausgabe mit Landschaftsdarstellungen heraus - die erste in einer langen Reihe solcher Ausgaben, die bis in die Gegenwart reicht. 32 Österreich hat eine besondere Tradition an Landschafts-Briefmarken entwickelt. Dass ihr Beginn in die ausgehenden zwanziger Jahre fällt, ist sicher kein Zufall. Ob die Werbewirksamkeit solcher Motive für den Fremdenverkehr der Selbstidentifikation der Österreicher mit den abgebildeten Landschaften vorausging, ist in unserem Zusammenhang ohne Belang. Sicher waren Briefmarken in beide Richtungen wirksam - nach außen wie nach innen. Zunächst handelt es sich bei ihren Bildern um ein von Seite des Staates festgelegtes System von Symbolen, das mit älteren Identifikationssymbolen in Konkurrenz tritt bzw. sie ablöst. Ein solches System kann aber nur Akzeptanz finden, wenn es an bereits vorgegebene Raumbezüge der nationalen Identität anknüpft, die es seinerseits verstärkt und weiterentwickelt. Dass eine solche Akzeptanz

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damals bestand und seither weiterhin besteht, wird aus der Kontinuität von Landschaftsdarstellungen in der Geschichte des österreichischen Briefmarkenwesens deutlich erkennbar. Analysiert man die Motive der ersten österreichischen Briefmarkenserie mit Landschaftsdarstellungen von 1929/30, so ergeben sich vielfache Zusammenhänge mit den in der Umfrage von 1998 genannten Raumbezügen - freilich keineswegs nur solchen, die hier als „Landschaften" eingestuft sind. Mit den 1998 führenden Landschaften Salzkammergut und Wachau korrespondieren die Darstellungen des Traunsees und von Dürnstein. Das Dürnsteinbild vereinigt hier Burgruine, Stadtansicht mit Kirche und Donau im Vordergrund. Von den 1998 mit hohen Identifikationswerten eingestuften Seen findet sich 1929 neben dem Traunsee noch der Wörthersee. Alle anderen „Landschaftsdarstellungen" der Briefmarkenserie aus der Ersten Republik werden 1998 unter der Kategorie „Bauwerke" eingestuft. Einige kommen dort in der Untergruppe „Burgen, Schlösser und Ruinen" ausdrücklich vor, nämlich die Burg Hochosterwitz, die Festung Hohensalzburg und die Feste Hohenems. Das Schloss Güssing wird zwar nicht namentlich erwähnt, wäre aber in diese Kategorie einzureihen. Dasselbe gilt mit dem steirischen Seewiesen bezüglich der Kategorie „Bergkirchen". Bei den übrigen „Landschaftsdarstellungen" handelt es sich um städtische Bauwerke. Bei der „Früheren Hofburg" in Innsbruck ist das Gebirgspanorama der Nordkette im Hintergrund zu sehen. Bei den auf die Bundeshauptstadt Wien bezogenen Markenmotiven - den beiden höchsten Werten - kommt Naturlandschaft überhaupt nicht ins Bild. Sie zeigen die Nationalbibliothek und den Stephansdom. Sieht man die Nationalbibliothek als Teil der Hofburg, so ist auch hier eine Entsprechung zu Orten gegeben, die für die Identität der Österreicher nach der Umfrage von 1998 besondere Bedeutsamkeit haben. Die Briefmarkenserie mit Landschaftsdarstellungen von 1929 stellt keinen abrupten Neuanfang dar. Geht man ihrer Vorgeschichte nach, so lassen sich Landschaftsmotive genetisch in den größeren Zusammenhang der Geschichte österreichischer Identifikationssymbole einordnen. Diese beginnt im Spiegel der Briefmarken - wie in allen Monarchien der Zeit - mit Herrscherkopf und Wappen. 33 Ein interessantes neues Element bringt die Freimarkenausgabe zum 60-jährigen Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs von 1908. Neben dem regierenden Herrscher in verschiedenen Lebensaltern stellt sie dessen Vorgänger zurück bis zu Karl VI. dar, vor allem aber die beiden wichtigsten Herrschersitze, das Schloss Schönbrunn und die Wiener Hofburg. Mit dem Herrscher unmittelbar verbundene Bauwerke werden hier also in das dynastische Symbolsystem aufgenommen. Das Motiv Bauwerk als Herrschaftssymbol setzt sich nach dem Ende der Republik fort. 1919 wird eine Briefmarkenserie herausgebracht, die auf allen Werten das Parlamentsgebäude zeigt. Dieses Motiv wird in der Geschichte der Ersten Republik dann nicht mehr aufgegriffen. Als Vorstufe für die Serie „Landschaftsdarstellungen" von 1929 kommt der Ausgabe „Landeshauptstädte" von 1923 besondere Bedeutung zu. Öster-

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reich ist hier nicht durch das Staatsoberhaupt oder durch das Staatswappen repräsentiert, sondern durch seine neun Bundesländer, für die stellvertretend die Landeshauptstädte stehen. Für Niederösterreich, dessen Landesregierung damals ihren Sitz in Wien hatte, übernimmt es bezeichnenderweise das Stift Melk, das Land zu repräsentieren. Interessant erscheinen die Motive, mit denen die einzelnen Landeshauptstädte ins Bild gebracht werden. Nur ausnahmsweise sind es Regierungsgebäude wie das alte Landhaus in Klagenfurt als Sitz der Kärntner Landesregierung. Für Bregenz wurde ein Blick auf die Oberstadt mit dem Martinsturm als dem wichtigsten Überrest der alten Stadtbefestigung gewählt. Und Stadtmauern bzw. Tor- und Befestigungstürme sind ein historisch sehr weit zurückreichendes Symbol für Städte. Hier erscheint es in ein Landschaftsbild eingeordnet. Für Salzburg steht ein Schlosspark, nämlich der Mirabellgarten, allerdings mit der Festung Hohensalzburg als beherrschendem Bildhintergrund. Eisenstadt, die neue Hauptstadt des jüngsten Bundeslandes, ist durch die sogenannte „Bergkirche" vertreten. Sie hat in mehrfacher Hinsicht den Charakter eines heiligen Ortes - als Wallfahrtskirche Maria Heimsuchung, als Mausoleum und Grabmal des Komponisten Joseph Haydn sowie in Verbindung mit einem eigenartig angelegten Kalvarienberg. 34 Innsbruck repräsentiert in herkömmlicher Weise das „Goldene Dachl". Linz wird mit der Nibelungenbrücke und dem Blick auf die Altstadt ins Bild gebracht. Auch Brücken haben wie Mauern und Türme als Städte Wahrzeichen Tradition. Zudem wird durch diese Perspektive die Lage an der Donau betont. Die Donau ist auch auf dem für das Stift Melk gewählten Bildausschnitt zu sehen. Bei Graz steht die Ansicht des Hauptplatzes im Vordergrund. Der B l i c k ist jedoch frei für den Schlossberg und seinen Uhrturm als eigentlichem Wahrzeichen der Stadt. Ähnliches gilt für die Ansicht, die für die Bundeshauptstadt Wien gewählt wurde. Die Sphinx im Belvederegarten bildet den Vordergrund, im Zentrum des Bildes steht jedoch der Stephansturm. Die Bilder dieser Hauptstadtserie kombinieren vielfach mehrere Motive zu Identifikationssymbolen. Charakteristisch ist die Verbindung von Kultur und Natur. Landschaftsmotive dürften zunächst sehr stark aus dieser Verbindung ihre Bedeutung für raumbezogene Identität gewonnen haben. In den Landschaftsdarstellungen der Serie von 1929 ist ein derartiger Zusammenhang jedenfalls offenkundig. Und Ähnliches gilt für die Landschaftsbriefmarken vom November 1945, die erste Ausgabe für das gesamte Österreich in der Geschichte der Zweiten Republik. 35 Dass Landschaften zu Identifikationssymbolen von Staaten bzw. Nationen werden, ist keineswegs selbstverständlich. Im Spiegel von Briefmarken könnte man dieser Entwicklung nachgehen. Nach dem Ersten Weltkrieg zeigen sich in einigen Staaten Europas Ansätze in diese Richtung. Die Krise überkommener Herrschaftsformen hat offenbar auch zu einer Krise der mit ihnen korrespondierenden Identifikationssymbole geführt. Der symbolische Bezug auf Landschaften war eine Möglichkeit, diesbezüglich Ersatz zu schaffen. In der Republik Österreich sind offenbar Landschaften damals für die staatlich-nationale

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Identität besonders bestimmend geworden. Die Meinungsumfrage von 1998 zeigt anschaulich, in welchem Maße solche landschaftsbezogenen Bindungen für das Österreichbewusstsein der Gegenwart maßgeblich sind. Bedeutsame Orte spielen nach dieser Umfrage für die Identität der Österreicherinnen und Österreicher eine wesentliche Rolle. Aber auch nicht räumlich bezogene Faktoren wie Tourismus, Sport, Freizeit, Kultur, Musik, Theater treten als konstitutive Faktoren des Selbstbildes hier deutlich in Erscheinung. Unter den räumlichen Bezugspunkten der österreichischen Identität stehen historisch sehr junge Seite an Seite mit historisch sehr alten. Symbolhaft gesehene Landschaften gehören sicher zur jüngsten Schicht. Der Großglockner und der Wörthersee wären im 19. Jahrhundert wohl noch nicht als „typisch für Österreich" angesehen worden. Die älteste Schicht bilden die heiligen Orte - die Standorte alter Hauptkirchen, mittelalterliche Klosterorte, Begräbnisstätten von Heiligen. Manche von ihnen haben sich ihre Bedeutsamkeit bis in die Gegenwart erhalten, aber sicher nicht weil an eine besondere Wirkkraft des Heiligen durch seine Reliquien geglaubt wurde. Zwischen den verschiedenen Schichten der Bedeutsamkeit gibt es Verbindungslinien, denen hier skizzenhaft nachgegangen wurde. Die wichtigste erscheint die zwischen Religion und Nation. Für Österreich ist diesbezüglich zumindest zwischen zwei Entwicklungssträngen zu unterscheiden, der Entstehung des Landes- und der Entstehung des Staatsbewusstseins. Die Gemengelage zwischen staats- und landesbezogenen Symbolorten erscheint für die analysierte Meinungsumfrage charakteristisch. In Vergangenheit und Gegenwart erscheint die ortsbezogene Identität von Großgruppen primär durch aktuelles Handeln bestimmt. Handlungszusammenhang bedingt Bewusstseinszusammenhang. Sicher wirkt die frühere Bedeutsamkeit eines Ortes eine Zeitlang nach. Aber historische Bedeutsamkeit ist nicht auf Dauer an einen „Gedächtnisort" gebunden. Von den verschwundenen Hauptorten der Vergangenheit auf dem Gebiet des heutigen Österreich findet sich in der Erhebung weder Lauriacum noch der Magdalensberg erwähnt. Das zweimal genannte „Heidentor" wurde bezeichnenderweise nicht als Teil von Carnuntum wahrgenommen. Und auch die abgekommenen Residenz- und Landeshauptstädte fehlen in der Liste - etwa Wiener Neustadt oder St. Veit an der Glan, obwohl hier bedeutende Baudenkmäler die Erinnerung an frühere Funktionen wach halten könnten. Es sind nicht bedeutsame Orte der Vergangenheit, die für das Bewusstsein der Österreicherinnen und Österreicher identitätsstiftende Funktion haben, sondern bedeutsame Orte der Gegenwart, von denen manchen schon in der Vergangenheit Bedeutsamkeit zukam. Deren Anteil ist nach der analysierten Erhebung keineswegs besonders beeindruckend. Gedenkhandlungen, durch die bedeutsames Geschehen der Vergangenheit an einem bestimmten Ort lebendig erhalten wird, sind für die älteste Schicht der hier behandelten räumlichen Bezugspunkte von Identität charakteristisch, nämlich die christlichen heiligen Orte. Bei späteren Formen fehlen solche Gedenkhandlungen am Ort selbst. Auch die Tätigkeit des Fremdenführers kann

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nicht in diesem Sinn interpretiert werden, wendet er sich doch an Auswärtige und gerade nicht an den Personenkreis, zu dessen Identität diese Orte gehören. Gedenken an Vergangenheit, das eine historische Bedeutsamkeit von Orten konstituiert, ist nicht primär ortsgebunden. So erscheint die eingangs zitierte Unterscheidung zwischen einem „Geschichtsbewusstsein einer Nation", über das „die chronologisch geordneten Geschichtsbücher Aufschluß geben", und einem „Gedächtnis einer Nation", das „seinen Niederschlag in der Gedächtnislandschaft seiner Erinnerungsorte" findet, als höchst problematisch. 36 Die hier versuchte Analyse kann eine solchen Befund nicht erhärten. Es sind nicht bedeutsame Orte, an denen Geschichte erinnert wird und die sich zu einer „Gedächtnislandschaft" zusammenfügen. An den einzelnen Orten finden sich nur Überreste der Vergangenheit. Um sie für das Bewusstsein der Gegenwart historisch bedeutsam werden zu lassen, bedarf es unterschiedlicher Formen der Geschichtsvermittlung. Je nach Vermittlung wandelt sich die Bedeutsamkeit. So ist es das jeweilige Geschichtsbewusstsein der Nation, für das sicher auch die „chronologisch geordneten Geschichtsbücher" eine Rolle spielen, nicht aber ein neben diesem Geschichtsbewusstsein stehendes „Gedächtnis der Nation". Die Verwendung der Begrifflichkeit „Gedächtnis" in Verbindung mit „Nation" erscheint insgesamt problematisch, auch wenn sie nur metaphorisch gemeint sein sollte. Biologistische Fehldeutungen, wie wir sie etwa aus dem Gebrauch des Wortes „Volkskörper" kennen, liegen nahe. Von „Gedächtnis" zu sprechen, wo es sich um Geschichtsüberlieferung handelt, verschleiert wichtige Zusammenhänge. Vor allem die Frage, wie Tradition zustande kommt, auch wie sie manipuliert werden kann, wird durch das Bild von Gedächtnis- und Erinnerungsvorgängen verdrängt. In den Kontext dieser begrifflich unscharfen bis irreführenden Rede vom „Gedächtnis der Nation" gehört auch der Begriff „Gedächtnisort". Für das Geschichtsbewusstsein einer Nation bedeutsame Orte werden mit dieser Etikettierung in unbefriedigender Weise charakterisiert. Um dieses auch an Orten orientierte Geschichtsbewusstsein der Österreicherinnen und Österreicher müsste es in einer Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Geschichte und Identität gehen. Die hier analysierte Erhebung hat dafür keine sehr breite Grundlage bereitgestellt. Als eines ihrer wichtigsten Ergebnisse erscheint: Das Österreichbewusstsein der Gegenwart ist nur in relativ geringem Maß von der Vergangenheit bestimmt. 1

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Aleida Assmann, Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften, in: Erlebnis - Gedächtnis Sinn: authentische und konstruierte Erinnerung, hg. von Hanno Loewy und Bernhard Moltmann, Frankfurt a.M. 1996, 25. Zu diesen grundsätzlich: Luoghi sacri e spazi della santità, hg. von Sofia Boesch-Gajano und Lucelta Scaraffia, Torino 1990, 9 ff.; Heilige Stätten, hg. von Udo Tworuschka, Darmstadt 1994. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, vor allem 123 ff.; ders., Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997,203 ff.; Peter Dinzelbacher, Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum 2, Paderborn 2000, 243 ff.

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Michael Mitterauer, Pfarre und ländliche Gemeinde in den österreichischen Ländern, in: ders., Grundtypen alteuropäischer Sozialformen. Haus und Gemeinde in vorindustriellen Gesellschaften, Stuttgart 1979,123 ff.; Ernst Bruckmüller, Österreichbewußtsein im Wandel, Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren, Wien 1994, 71 f. Lukas 22, 19. Karl Suso Frank, Grundzüge der Geschichte der Alten Kirche, Darmstadt 1984, 158. Zur Durchsetzung der Transsubstantiationslehre im Mittelalter: Angenendt, Religiosität, 366. Kult und Kultur des Todes spätmittelalterlicher Herrscher, hg. von Lothar Kolmer, Paderborn 1997, vor allem 19 ff.; Hans Körner, Grabmonumente des Mittelalters, Darmstadt 1997. Frantiäek Kavka, Politics and culture under Charles IV., in: Bohemia in History, hg. von Mikulás Teich, Cambridge 1998, 74 f. Angenendt, Heilige, 127. E b d

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Peter Diem, Die Symbole Österreichs. Zeit und Geschichte in Zeichen, Wien 1995, 377. Marlene Zykan, Der Stephansdom, Wien 1981, 84 ff. Bruckmüller, Österreichbewußtsein, 96. Diem, Symbole, 383 ff. Zykan, Stephansdom, 122 ff., 155 ff., 218 f. Angenendt, Heilige, 123 flf. Ebd., 149 ff.; Peter Dinzelbacher, Die „Realpräsenz" der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen, in: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, hg. von Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer, Ostfildern 1990, 115 ff. Angenendt, Heilige, 55 ff. Diem, Symbole, 348 ff. Jochen Martin, Spätantike und Völkerwanderung, München 1987, 99. Angenendt, Heilige, 159 ff.; Kavka, Politics, 74. Hubert Ch. Ehalt, Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert, Wien 1980, 83 ff. Körner, Grabmonumente, 171 ff. Handbuch der historischen Stätten. Österreich 2, Stuttgart 1966, 456 f. Geschichte Salzburgs, Stadt und Land, hg. von Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger, Bd. 2 Neuzeit und Zeitgeschichte, 4. Teil, Salzburg 1991, 2018 ff. Handbuch der historischen Stätten. Österreich 2, 62 f. Schon 1215 wurden in Florenz Glocken „zu Ehren Gottes und der Freiheit" geweiht. Otto Brunner, Land und Herrschaft, Wien 1959. Vgl. dazu Ernst Bruckmüller, Nation Österreich, Wien-Köln-Graz 21996, 170 ff. Bruckmüller, Österreichbewußtsein, 93. Ebd., 94. Michel. Europa-Katalog 1979. West, 1122 ff. Ebd., 1108 ff. Handbuch der historischen Stätten. Österreich 1, 724. Michel. Europa-Katalog 1979, 1130 f. Assmann, Erinnerungsorte, 25.

Ernst

Bruckmüller

Stephansdom und Stephansturm „Manchmal taucht etwas auf, etwas Lichtes, ich weiß nicht, das sind die glänzenden Momente, bei Sonnenuntergang, in der Dämmerung, ein milder Schatten über Dächern, eine gleißende Kirchturmspitze, das auf einen sehr fernen Punkt zulaufende Ende einer alten schönen Straße, ich blicke zur Spitze der Stefanskirche hinauf und hinunter, ich werde schwindlig, ich möchte am Leben bleiben." (Friederike Mayröcker)

Man kann schon von einem leichten Schwindel erfasst werden, wenn der Blick den Stephansturm hinaufklettert und womöglich gerade eine weiße Wolke zwischen der Turmspitze und dem Blau des Himmels vorbeizieht - da scheint der Turm zu wanken und auf den Betrachter zuzustürzen. Aber er hat bisher immer noch gehalten, sogar in den Katastrophentagen von 1945. Was wäre auch Wien ohne Dom und ohne Turm! Unzählige Beschreibungen der Stadt rühmen den schlanken, neben dem wie ein riesenhafter Kamelhöcker lagernden Buckel des Daches hoch aufragenden Turm, um den sich die Häuser der Stadt scharen und zu ducken scheinen. Unter den zahllosen literarischen Beschreibungen wird jene von Adalbert Stifter bis in die Gegenwart immer wieder zitiert, welche die Zeichenhaftigkeit des Turmes für Wien in mehreren Anläufen, nicht ohne Wiederholungen, in Worten zu fassen suchte: „Wenn man Wien von einer Anhöhe aus betrachtet, deren mehrere in ganz geeigneter Entfernung liegen, so zeigt sich die Stephanskirche gewissermaßen als Schwerpunkt, um welchen sich die Scheibe der Stadt lagert, und an der Kirche ist wieder der Turm der Zeiger ihrer Majestät [...] Wenn man in großen Entfernungen ist, in denen man weder die Stadt noch die Kirche erblicken kann, so ragt doch er wie ein blauer Schatten oder wie eine matte Linie oder wie eine dämmerige Pappel empor. [...] Wenn ich von Anhöhen Wien betrachtete, so hielt ich den Stephansturm für den Stift, an dem man die Scheibe der Stadt emporheben könnte. Das Bild ist lächerlich, aber es fiel mir sehr oft ein. [...] Man könnte ihn auch den Stift eines Sonnenzeigers nennen, zu dem alle Straßen der Umgegend wie die Halbmesser eines Kreises zu ihrem Mittelpunkte zusammenlaufen. [...]'"

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Auch Schriftsteller unserer Tage lassen sich immer wieder von Stifter anregen, wie etwa Bodo Hell in einem Beitrag für die „Presse" im Jänner 2004. Er erinnert an Adalbert Stifter und seinen Blick vom Stephansturm, aber auch an das erste Fotopanorama Wiens, vom Stephansturm um 1850 mit einer PetzvalKamera wahrscheinlich von Paul Pretsch (damals Leiter der photographischen Abteilung der Staatsdruckerei) fotografiert. Der Aufstieg zum Turm konfrontiert den Schriftsteller mit zahlreichen Erinnerungsorten: „[...] aber da wären wir jetzt schon an der instandgesetzten StephanusStatue, einer der mehreren am Dom (exakte Anzahl ermitteln!) vorbei und nach einem überraschenden offenen Quergang [...] halt, noch einmal zurück und aufs sogenannte StarhembergBankerl gesetzt, um den damaligen strategischen Ausblick nachzuvollziehen, naja von der Wasserseite her kam die Bedrohung und vom Osten sowieso, aber auch die Laufgräben im Nordwesten waren nicht zu verachten, [...]." 2 Der Blick vom Turm ist der Überblick über die Stadt, er definiert sie geradezu wo die Dächer und die Türme aufhören, endet die Stadt (heutzutage also eigentlich gar nicht mehr, denn ihre Peripherie erstreckt sich immer weiter hinaus, über die Felder und Gemüsegärten, die früher die Wiener ernährten). Keine der zahlreichen Beschreibungen Wiens versäumte es, auf Dom und Turm hinzuweisen. Nun waren hohe und eindrucksvolle Türme in der Gotik nichts Ungewöhnliches. Es ist aber der Turm des „Steffis" einer der höchsten (im 15. Jahrhundert überragt nur von dem einen, fertig gestellten Turm des Straßburger Münsters, erst im 19. Jahrhundert trat der Stephansturm mit der Fertigstellung der Türme von Ulm, Köln, Rouen in die zweite Reihe). Seine extrem steile Pyramidengestalt, die feine Gliederung seiner Baumassen reihen den Hohen Turm von St. Stephan jedenfalls unter die bemerkenswertesten Beispiele europäischer Turmbaukunst: „Der Turm, bis tief ins 19. Jahrhundert der höchste Europas, seither nicht nur von Köln und Ulm überragt, rückt im heutigen Weichbild Wiens bisweilen doch noch gebieterisch ins Blickfeld. Hoch auf der Reichsbrücke, durch die Praterstraße kann man noch direkt darauf zufahren. Ein Zeichen, ein Ziel, ein , Sonnenzeiger, zu dem alle Straßen der Umgegend wie die Halbmesser eines Kreises zu ihrem Mittelpunkte zusammenlaufen' (Stifter). [...]" Wieder Stifter, immer wieder begegnet der Bezug zu seiner klassischen Schilderung, obgleich auch die nicht das Original ist, sondern auf Anderes zurückgreift, auf eine josephinische Beschreibungstradition. „Der Dom ragt jäh und plötzlich auf, man biegt um ein Hauseck und erschrickt wie ein Zwerglein vor Gulliver." - das schreiben immerhin abgebrühte Journalisten, und das ist durchaus bemerkenswert. Und sie haben sich gut umgehört: „Look! There's a selfportrait of the guy who made this", konnte man neben der Kanzel und ihrem „Fenstergucker" hören, und das wäre immerhin eine hübsche Anekdote. Si non é vero ... 3 Es würde ja die außerordentliche architektonische Qualität schon hinreichen, den Dom mit einem hohen Maß an Symbolkraft und Zeichenhaftigkeit zu

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versehen. Doch damit nicht genug, wurde St. Stephan schon in seiner Bauzeit und danach systematisch zusätzlich mit Bedeutung angereichert - durch Reliquien, durch Grablegen, durch verschiedene Zeichen, Grab- und Gedenksteine, Kanzeln, Bilder, Skulpturen, durch die St. Stephan in mehrfachem Sinne ein „heiliger Ort" wurde. Der Dom ist das „Herz der Stadt", 4 so wie die Stadt das Zentrum Österreichs war und ist, aber auch Haupt- und Residenzstadt der Habsburger, eines der wichtigsten Zentren des ebenso alten wie heiligen Römischen Reiches (und noch des Deutschen Bundes), und das unbestrittene Zentrum der habsburgischen Monarchie, von 1612 bis 1918. Diese zentrale Symbolfunktion überlebte die Monarchie und die Habsburger, ja sie erhielt eine neue Kraft durch die weitgehende Zerstörung des Domes und seinen Wiederaufbau zwischen 1945 und 1952. Das rechts vom Riesentor angebrachte Zeichen O 5 steht für die österreichische Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus. Die Beteiligung aller Bundesländer am Wiederaufbau ebenso wie die breite Anteilnahme der Bevölkerung an der Reise der „Pummerin" von St. Florian nach Wien und an der Wiedereröffnung des Domes sind Belege für die hohe Bedeutung des Domes für das neue Österreich der Zweiten Republik. Aber auch in unserer weitgehend säkularisierten Gegenwart werden für die Republik bedeutsame Ereignisse fast immer mit Gottesdiensten im Dom gefeiert, den großen Toten der Republik gebührt sozusagen ein Requiem in St. Stephan. Als jüngste Schicht an „memoria", die dem Dom angewachsen ist, kann wohl die spannende RihaDokumentation über den Dom als ökologischen Ort gelten. Der „Steffi" gilt als das zentrale bauliche Symbol Österreichs. Wie die in der Einleitung zu diesem Band ausführlich zitierte Umfrage von 1998 zeigt, die am Beginn des Forschungsvorhabens „Memoria Austriae" stand, ist unter Österreichs Städten Wien der dominierende symbolische Zentralort; freilich bald gefolgt von Salzburg. Auf die Frage, welche topographischen Punkte in Österreich „typisch" für Österreich seien, war die Antwortgruppe „Bauwerke in Wien" am häufigsten, und unter diesen „Bauwerken in Wien" ragt der Stephansdom wiederum deutlich hervor. Er erhielt mit 37 % Nennungen (ohne Vorgaben!) die bei weitem höchste Nennungsrate, Schönbrunn und die Gloriette folgten mit deutlichem Abstand (16%). Dann folgte die Ringstraße, zu der auch Heldenplatz und Hofburg gehören. Der Raum der Ringstraße wäre also - als Ensemble - nach St. Stephan der zweitstärkste Wiener Erinnerungsort der österreichischen Bevölkerung. Genauso deutlich ist auch das Ergebnis einer anderen Umfrage, die freilich mit vorgegebenen Begriffen arbeitete: „Ich lese Ihnen einige Begriffe vor, die mit Österreich zu tun haben. Sagen Sie mir bitte jeweils, wie sehr dies für Sie Österreich verkörpert" (Note von 1-5).

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Durchschnittsnote (niederste Durchschnittsnote = bester Wert !) Lippizaner Wiener Schnitzel Sängerknaben Salzburger Festspiele Niki Lauda Alpen Habsburger Neutralität saubere Seen Stephansdom (n = 2.000, Herbst 1998, ifes)

1,56 1,52 1,36 1,51 1,95 1,55 2,17 1,90 1,79 1,32

Und wie sehr verkörpert der Stephansdom für Sie Österreich ? Note Note Note Note Note

1 (verkörpert Österreich sehr) 2 3 4 5

77 % 17% 5% 1% 1%

Höchste Werte: Frauen über 45 Hilfsarbeiter Pensionisten NÖ/Bgld SPÖ-Wähler FPÖ-Wähler

83-87 % 82% 82% 84% 81 % 82%

Niedrigste Werte: Männer 15 - 4 4 Jahre Freischaff./Selbständige Öffentlicher Dienst Landwirte Schüler/Studenten Salzburg/Tirol/Vorarlberg Grün-Wähler (n = 2000, Herbst 1998, ifes)

71 68 70 68 70 68 62

% % % % % % %

Den höchsten Symbolwert maßen also ältere Leute, Ostösterreicher und Wähler der konservativeren Parteien (SPÖ, FPÖ) dem Dom und dem Turm zu. Kirchenferne oder -nähe scheint dabei keine besondere Rolle zu spielen. Aber selbst die niedrigsten Werte zeigen eine sehr hohe überregionale Bedeutung von St. Stephan. Auch in Westösterreich erzielt er spielend eine Zweidrittelmehrheit. Selbst die soziologisch „modernen" Grünen schätzen noch zu 62 % den hohen Symbolgehalt dieses in jeder Hinsicht überragenden Baues.

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Ganz ähnliche Ergebnisse zeigen auch andere Umfragen, die sich nach den wichtigsten Symbolen Österreichs erkundigten. Nach einer im Frühjahr 1993 durchgeführten Untersuchung 5 waren Landschaft, Klima und Natur auch für die einzelnen Bundesländer die wichtigsten Symbole. Auch damals war der Stephansdom bundesweit das bedeutendste einzeln identifizierte Landessymbol (10%). 6 Nach einer SWS-Studie, die im Frühjahr 1994 durchgeführt wurde, waren der Stephansdom, der Sport und das Essen große Identitätsstifter. 7 Auch eine von den Bundesforsten 2004 in Auftrag gegebene Studie über österreichische Symbole erbrachte - neben Wald und Bergen - als einzelnes Symbol weit vorne wieder den Stephansdom. 8 Wir könnten die Reihe dieser sozialwissenschaftlichen Studien fortsetzen, ohne auf erheblich andere Ergebnisse zu stoßen. Es ist daher nicht besonders gewagt zu behaupten, dass der Stephansdom das bedeutendste einzelne als Symbol wirkende Bauwerk Österreichs ist. Immer noch wirken, auch in einer säkularisierten Gesellschaft, alte Sakralgebäude identitätsstiftend. Oder erlebte Österreich einen nur unvollkommenen „Transfer des Sakralen"? Ist es die Tradition der katholischen Habsburger, die Österreich bis heute prägt? Die geringe Verankerung des Habsburgermythos im Bewusstein der österreichischen Bevölkerung würde dagegen sprechen. 9 Wie auch immer: Wien ist der zentrale Ort Österreichs, und der Dom ist eben - wir wiederholen uns - das „Herz der Stadt". Dieses Herz der Stadt wurde übrigens auch der Ausgangspunkt für die erste genaue Vermessung Österreichs: Der Punkt genau unter der Spitze des hohen Turmes von St. Stephan war einer der sieben Ausgangspunkte der Vermessungsarbeiten des Franziszeischen Katasters, die 1817 eingeleitet und in den folgenden Jahrzehnten durchgeführt wurden. 10

Die Genese eines „heiligen Ortes" Wie kam es dazu? Erster sakraler Mittelpunkt der Mark Österreich des 11. Jahrhunderts war zweifellos Melk, wo am Grab des 1012 in Stockerau ermordeten und 1014 bei der Burg des Markgrafen bestatteten hl. Koloman, den man später als Landespatron verehrte, und an der Begräbnisstätte für mindestens zwei Babenberger Markgrafen höchstwahrscheinlich ein Kanonikerstift entstand, dem 1089 das Benediktinerkloster folgte." Der als eigentlicher Stifter von Melk angesehene Leopold III. rief jedoch auch das Chorherrenstift Klosterneuburg ins Leben, das später Melk als Stätte der Verehrung des Landespatrons ablösen sollte. 1485 wurde Leopold III. heiliggesprochen, im 17. Jahrhundert offiziell zum Landespatron bestimmt. 12 Beide Klöster, Melk ebenso wie Klosterneuburg, spielten und spielen bis heute als religiöse und kulturelle Zentren und für das niederösterreichische Landesbewusstsein eine höchst bedeutende Rolle, die überregional jedoch nur schwach ausgebildet erscheint. Denn sie wurden in ihrer symbolischen Zentralität weitgehend durch Wien abgelöst.

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Heinrich II. Jasomirgott gründete in Wien das Schottenstift (1155), wohl auch als neue Grablege der Herrscherfamilie. Nun entstand auch die neue Burg, „am Hof". Spätestens 1137 wurde mit dem Bau der Stephanskirche begonnen, noch außerhalb der ältesten Stadtmauern, 1147 wurde sie geweiht. 13 Die Interpretation der neuesten archäologischen Funde könnte auf ältere sakrale Vorgängerbauten hinweisen, jedenfalls wurden hier schon vor dem 12. Jahrhundert Menschen bestattet. Wir haben es also mit einem sehr alten „locus sanctus" zu tun, dessen Kontinuität vielleicht sogar bis in die Spätantike zurückreicht. Für seinen Bau wurden Steine aus den damals noch aufrecht stehenden Ruinen der römischen Lagermauer verwendet. Schon der Bau des 12. Jahrhunderts hatte monumentale Ausmaße. Er hatte bereits zwei Westtürme, die Vorgängerbauten der „Heidentürme". 14 Vielleicht hat der Passauer Bischof Reginmar schon 1137 die Gründung eines Suffraganbistums in Wien geplant - was eine Rangerhöhung für Passau als eigenes Erzbistum bedeutet hätte. Während die ältesten Kirchen innerhalb des ersten hochmittelalterlichen Mauerringes (St. Ruprecht, St. Peter) in ihren Namen Salzburger Bezüge ausdrücken, weist auch der Name St. Stephan auf Passau hin - auf jene Bischofsstadt, deren Bistum bis an die Ostgrenze Österreichs (im alten Sinne, also Niederösterreichs) reichte. Sicher hatte der Passauer Bischof Eigenkirchenrechte an St. Stephan und jedenfalls bis ins 14. Jahrhundert das Patronat über die große Wiener Pfarrkirche inne. Mit Herzog Leopold VI. (1198-1230) begannen die Bemühungen um die Errichtung eines Landesbistums in Wien. Der Herzog berief sich auf die Größe der Stadt: Wien sei nach Köln die zweitgrößte Stadt im Reich nördlich der Alpen. Außerdem verhindere die weite Ausdehnung des Bistums Passau eine intensivere Pastoral, es gebe Schwierigkeiten bei Weihen von Kirchen und Altären und bei der Spendung bestimmter Sakramente wie Priesterweihe und Firmung. Auch Häresien seien schon zu beobachten. Das motivierte Papst Innozenz III. im Jahre 1207 zu einem ausführlichen Schreiben an den Bischof Manegold von Passau, dessen Vorgänger Bischof Wolfger auch schon an einen zweiten Bischof für seine riesige Diözese gedacht hatte. Der Papst teilte darin dem Bischof die Wünsche und Motive des Herzogs mit und versicherte, er habe den Erzbischof von Salzburg angewiesen, den Fürsten in seinem Vorhaben zu unterstützten. Nun, die schon sehr weit gediehenen Pläne scheiterten daran, dass sich in der Folge immer einer der beiden Bischöfe querlegte - der Salzburger wollte einen Bischof in Wien nur als Suffragan von Salzburg dulden, der Passauer nur als Suffragan von Passau (womit Passau endlich zum Erzbistum geworden wäre, was der Salzburger wieder partout nicht wollte!). Neben den kirchenrechtlichen ging es auch um materielle Fragen - der Bischof von Passau befürchtete Schmälerungen seiner Einkünfte. Auch Versuche, das Bistum mit dem Schottenkloster zu vereinigen, scheiterten. Ein entscheidender Punkt dürfte die Verfügung über die Stephanskirche gewesen sein - der Herzog beanspruchte das Patronat über die Kirche, das aber eindeutig beim Bischof lag.15

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Der letzte Babenberger, Friedrich II. (1230-1246), setzte diese Bemühungen fort. 1245 erteilte Papst Innozenz IV. dem Herzog immerhin schon die Erlaubnis, die Gebeine des heiligen Koloman in den neuen Bischofssitz zu übertragen. 16 Die Gebeine des traditionellen Landesheiligen sollten also die Heiligkeit der neuen Domkirche legitimieren helfen! Mehr als ein Jahrhundert später ließ Herzog Rudolf IV., der „Stifter", den Kolomans-Stein in den Neubau der Kirche aufnehmen - er befindet sich gleich neben dem Bischofstor. Über den Stein ist angeblich das Blut des ersten Landesheiligen geflossen; die große Verehrung des Steines ist daran zu erkennen, dass er völlig abgegriffen ist.17 Koloman galt, wie schon betont, bereits im Hochmittelalter als der Landesheilige Österreichs. Rudolf IV. ließ daher auch das Kolomansgrab in Melk (1362) erneuern.18 Es sollten dann auch gewisse Messverpflichtungen in der neuen Kollegiatskirche Allerheiligen zu St. Stephan vom Melker Abt wahrgenommen werden. Der Bau von St. Stephan nahm bereits im 13. Jahrhundert immer deutlicher Züge einer Kathedrale an. Um 1230/40 ersetzte Oein romanischer Neubau die ältere Kirche. Als der kaiserliche Namensvetter des Babenbergers, der Staufer Friedrich II., der damals den Herzog kurzzeitig abgesetzt hatte, Wien 1237 zur Reichsstadt erklärte, soll dieser Kaiser selbst den Bau des Westwerkes von St. Stephan mit den beiden monumentalen „Heidentürmen", der ungewöhnlich großen Westempore und dem „beispiellos reich gestalteten" Riesentor veranlasst haben. 19 Nach der Aussöhnung von Kaiser und Herzog 1239 wurde der Bau weitergeführt. Die große Westempore galt als Oratorium des Landesfürsten, hier stand der Thron und hier wurden sakrale Regierungsakte gesetzt. 20 1245 sah sich der Herzog fast am Ziel seiner Wünsche, die sich nicht nur auf das Bistum Wien bezogen, sondern auch auf ein eigenes Königtum für Österreich und Steiermark. 21 Sein Tod im Jahre 1246 zerschlug jedoch bis auf weiteres die Hoffnung auf ein eigenes Bistum in Wien. Doch dürfte auch König Ottokar II. Premysl als Herzog von Österreich (1251-1276) die Bistumspläne weiter betrieben haben. 1264 spricht der Passauer Bischof von der Möglichkeit, dass St. Stephan Kollegiatskirche (Kirche eines Kapitels, also einer Gemeinschaft von priesterlichen Kanonikern) werde, 1268 lehnte Papst Clemens IV. den Plan Ottokars ab, Olmütz zum Erzbistum zu erheben und dem neuen Erzbischof alle bestehenden und neu zu errichtenden Bistümer in Böhmen, Mähren, Österreich und Steier zu unterstellen. Unter diesen hätte sich wohl auch ein Bistum in Wien befunden. In die Regierungszeit Ottokars fällt auch die große Salzburger Provinzialsynode in Wien 1267, faktisch ein Nationalkonzil aller ottokarischen Länder. 1267 wurde schließlich die „Cur" geschaffen, in der alle Seelsorgepriester von St. Stephan zusammengefasst wurden und die in gewisser Hinsicht als Vorläufer des späteren Kapitels gelten kann. 22 Seit Herzog Friedrich II. das Patronat über die Kirche usurpiert hatte, präsentierten die Landesfürsten - trotz aller Proteste des Passauer Bischofs - erfolgreich ihre Kandidaten für den Pfarrer von Wien. Es waren hochgestellte Herren dabei, Verwandte der Herzöge und spätere Bischöfe.

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Die Kirche fiel 1258 einem verheerenden Stadtbrand zum Opfer. Erst 1263 wurde die wiederaufgebaute Kirche geweiht. 23 Die oberen Geschosse der beiden „Heidentürme" stammen wohl aus dieser Zeit. Deren Einbeziehung in den Neubau des 14. Jahrhunderts lässt erkennen, dass man im Spätmittelalter St. Stephan in einen Zusammenhang mit den großen viertürmigen Kaiserdomen (Speyer, Worms) stellen wollte - eine durchaus überlegte und gewollte Symbolik, die insbesondere mit den etwas späteren Phantasien Rudolfs IV. (und später Friedrichs III.) über die besondere Stellung des Hauses Österreich zusammenhängen dürfte. Immerhin lag ja das Grabmal des ehrwürdigen Ahns, Rudolf I., im Dom zu Speyer.24 Diese uns Heutigen gar nicht mehr bewusste Analogie zeigt wiederum, dass man es bei diesem Bau schon früh auf eine hohe symbolische Bedeutung angelegt hatte. Nach einem neuerlichen Brand 1276 wurde 1304 der Bau des dreischiffigen („albertinischen") Chores begonnen. Auch dieser Neubau dürfte mit neuen Bistumsplänen König Albrechts I. zusammenhängen. 25 Er wurde 1340 abgeschlossen und geweiht. Damals trugen sowohl der Herzog wie auch der Bischof von Passau und der Pfarrer von Wien (St. Stephan) den Namen Albrecht (Albert). 26 1359 legte Rudolf IV. den Grundstein für den weiteren Ausbau, der das Langhaus völlig neu gestalten und die Kirche mit zwei weiteren Türmen versehen sollte (Westempore und „Heidentürme" sollten, wie gesagt, erhalten bleiben). Dabei ging der Herzog davon aus, er sei der rechtmäßige Inhaber des Patronats, was er auch bei der Stiftung des Kollegiatskapitels Allerheiligen (zweiter Stiftsbrief von 1365) betonte. Der junge Herzog mit den weitreichenden Plänen war über seine Frau Katharina von Böhmen mit den grandiosen Vorhaben seines Schwiegervaters Karls IV. vertraut. Schon 1358 plante er die Gründung eines exemten (nur dem Papst direkt unterstehenden) Kollegiatkapitels mit 24 Kanonikern, zunächst mit Sitz an der von ihm neu gegründeten Allerheiligenkapelle in der Hofburg. Dafür erhielt er auch die päpstliche Erlaubnis. Doch wurde diese Stiftung nicht verwirklicht. Im Wesentlichen ging es um eine Umgehung der Rechte des Bischofs von Passau. Dafür bekundete er ein Jahr später, bei der Grundsteinlegung für den Erweiterungsbau der Stephanskirche, seine Absicht, an dieser Kirche ein Kapitel zu Ehren Allerheiligen (der 1. November war der Geburtstag des Herzogs, aber auch auf dem Hradschin hatte eine Kapelle dieses Patrozinium, ebenso wie die Ste. Chapelle in Paris) zu stiften; im selben Jahr spricht der Pfarrer von St. Stephan von einer Verlegung des für die Hofburg gestifteten Kapitels nach St. Stephan. 1364 wurde diese Stiftung vom Papst genehmigt. Dem Propst des Kapitels wurde die Pfarre St. Stephan inkorporiert. Das Kapitel selbst sollte exemt sein, also in kirchlicher Hinsicht nur dem Papst unterstehen. 27 1365, nur vier Tage nach Gründung der Universität, wurde das Kapitel tatsächlich ins Leben gerufen. Rudolf übergab seiner neuen Kollegiatskirche auch zahlreiche Reliquien - die „Heiltümer", deren alljährliche „Weisung" große religiöse und gesellschaftliche Ereignisse waren. St. Stephan wurde zur capella regia, zur Herrscher- und Pfalzkirche. 28

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Statue Rudolfs IV. im Singertor

Die große bauliche Erweiterung, die 1359 begann, stand also in engstem Zusammenhang mit der Kapitelstiftung, die zweifellos als künftiges Domkapitel gedacht war. Doch schon als Kollegiatkirche wurde St. Stephan seit 1365 als „Dom" bezeichnet. Die neue „Allerheiligenkirche" sollte Bischofssitz und geistliches Zentrum Österreichs, als Pfalzkirche aber auch das „zentrale Heiligtum des Hauses Österreich und historische Weihestätte der großen Vergangenheit des Landes werden". 29 Rudolf IV. starb jedoch schon 1365. Bis dahin sollen die Grundfesten gelegt und der Bau der aufgehenden Mauern (bis zu einer Höhe von etwa zwei Metern) begonnen worden sein. In diese Zeit fällt auch die Errichtung der beiden unteren Westkapellen, der Tirna- und der Eligiuskapelle. Die erstere war dem Habsburgerheiligen Morandus geweiht. Besondere Sorgfalt widmete Rudolf den beiden aus den Seitenschiffen nach Norden und Süden führen Toren, dem Bischofs- bzw. dem Singertor. Sie erhielten einen besonders eindrucksvollen Skulpturenschmuck, samt Statuen von Herzogin und Herzog. Die Westempore bestimmte Rudolf zum Kapitelsaal des neuen Domstiftes. Schon seit dem frühen 14. Jahrhundert erscheint die Wiener Bürgerschaft hauptverantwortlich für den Fortgang des Dombaues. Seit 1338 werden Kirchmeister als Verwalter der Kirchenfabrik genannt, die aus vermögenden Rats-

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herrenfamilien stammten. 30 Sie hatten die oberste Sorge für die Kirche, den Bau, das Kirchenpersonal, sie besorgten die Bezahlung der Besoldungen und Löhne, verwalteten die zur Stephanskirche gehörigen Güter und sorgten für die Verwahrung des Kirchenschatzes. Im 15. Jahrhundert war das Wiener Bürgertum neben dem Dombaumeister die treibende Kraft für den Dombau. 31 Diesen Kirchmeistern unterstanden die Kirchschreiber, die die Rechnungen ausstellten. Die gewaltigen Mittel für den Bau kamen nur zum geringeren Teil von den habsburgischen Landesfürsten. Sie dürften im 14. Jahrhundert höher gewesen sein als im 15. Ab 1396 mehren sich auffallend die bürgerlichen Stiftungen für den Bau, die bis um 1430, also etwa bis zur Vollendung des Südturmes, besonders reichlich flössen.32 Doch hatten neben den landesfürstlichen Beiträgen auch schon im 14. Jahrhundert bürgerliche Stiftungen und Legate den Dombau finanziert. Um 1407 wurden die Pläne gegenüber den ursprünglichen geändert und der Südturm bedeutend erhöht - so sehr, dass ein Turmpaar aus Süd- und gleich hohem Nordturm vermutlich etwas seltsam ausgesehen hätte. Jene Planveränderung ist wohl dem genialen Dombaumeister Hans von Prachatitz zuzuschreiben. 33 Dahinter steht offenkundig das Interesse der Wiener Bürgerschaft, und dieses war „mehr auf eine Monumentalisierung eines Turmsolitärs städtisch wahrzeichenhaften Charakters als auf eine landesfürstlich geprägte Realisierung eines Doppelturmprojektes" ausgerichtet. 34 Durch die für den Laien unerkennbare Planänderung - Einführung eines zusätzlichen Turmgeschosses (des Glockenstubengeschosses) - erhielt der Turm seine unwahrscheinliche Höhe und Schlankheit. Eine ungeheure Fülle genauest durchdachter Baudetails ließ schließlich jenes unverwechselbare Bild entstehen, das uns allen vor Augen steht, wenn vom Stephansturm die Rede ist. Er steht, so sagen die Kunsthistoriker, „unangefochten an der Spitze aller gotischen Turmbauten Europas." 35 Der Hohe Turm war aber nicht nur Zeichen, Symbol einer selbstbewussten und opferbereiten Bürgerschaft. Er diente seit seiner Vollendung auch als Beobachtungsposten, auf dem zwei städtische Türmer wohnten, die von der Stadt besoldet wurden. Diese Türmer hatten auch stündlich die Glocke (die Primglocke) zu schlagen. Daher leistete die Stadt auch Erhaltungskosten für den Turm. Die Stadt kam ferner für die Uhr auf, die 1417 erstmals erwähnt wird.36 1433 war dieser Südturm, der „Hohe Turm", endlich fertig. Seine Vollendung ließ aus der geplanten Viertürmigkeit des Domes letztlich eine DreieinhalbTürmigkeit werden. Denn der Bau des Nordturmes (auch Adlerturm genannt) gedieh nur mehr bis knapp über die Firsthöhe des Daches - was die Wiener Volkssage mit einer Teufelsverschreibung des bekannten, 1446 seitens der Kirchenfabrik unter Vertrag genommenen Meisters Hans Puchsbaum in Zusammenhang brachte. 37 1440 wurde das Dach errichtet, 1446 das Langhaus eingewölbt. 1450 begann der Bau des Nordturmes, der im 16. Jahrhundert (15561558) seinen - freilich bis heute provisorisch wirkenden - Abschluss erhielt. 38 Seit Friedrich III. ist St. Stephan endlich Kathedralkirche. 39 Bei einem Romaufenthalt im Jahre 1468 legte der Kaiser dem Papst (Paul II.) zwei Bitten

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vor: Erstens wünschte er die Wiederaufnahme des Kanonisationsprozesses für Markgraf Leopold III. - er wurde tatsächlich 1485 heilig gesprochen. Und zweitens wollte er die Errichtung zweier Bistümer, in Wien und Wiener Neustadt (die Errichtung eines solchen in Laibach [Ljubljana] hatte er schon 1461 durchgesetzt). Mit Datum vom 18. Jänner 1469 wurde das exemte Bistum Wien durch den Papst errichtet. Nun wurde die Kapitelkirche zur Kathedrale, zum Dom, das Kollegiatstift zum Domkapitel. Die Rechte des Stiftspropstes gingen auf den Bischof über. Allerdings war das Bistum klein, es umfaßte primär das Stadtgebiet (den „Burgfried") mit den drei alten Stadtpfarren St. Stephan, St. Michael und zu den Schotten, reichte im Norden nur bis zum Krottenbach (XIX. Bezirk), im Osten nur im Gebiet des heutigen II. Bezirks über den Donaukanal, im Süden bis Oberlaa, Maria Lanzendorf, Inzersdorf, Vösendorf, Atzgersdorf und Laxenburg, im Westen bis Währing, Hernais, Ottakring, Penzing und Ober-St.Veit; nur im Südwesten griff es weiter aus, hier wurden die Pfarren Mödling und Perchtoldsdorf noch mit einbezogen. Die Einkünfte des Bistums waren mager, so dass der Wiener Bischofsstuhl gar nicht sehr begehrt war. Der erste wirklich in Wien residierende Bischof war der Krainer Georg Slatkonja, ein bedeutender Musiker (Bischof von 1513-1522). Er erhielt eines der schönsten Grabdenkmäler der Renaissance im Dom. Erst 1722 wurde Wien zum Erzbistum erhoben, mit Wiener Neustadt als Suffraganbistum. Wenig später (1728) wurde das Diözesangebiet auf einen großen Teil des Viertels unter dem Wienerwald ausgedehnt. 40 Durch die josephinische Diözesanregulierung der 1780erJahre erhielt das Erzbistum Wien seine heutige Ausdehnung über die beiden „unteren" Landesviertel Niederösterreichs.

St. Stephan als Erinnerungsort und das Stadtbild von Wien Alle späteren Veränderungen ließen die Türme von St. Stephan über alle anderen Häuser, Kirchen, Kuppeln und Türme immer hinausragen (sieht man von vereinzelten späten Exzessen wie dem Ringturm oder der gegenwärtigen Hochhäuser-Sucht 41 ab). Oder, wie der Kunsthistoriker Josef Neuwirth es 1893 formulierte: „Wie die Thürme des Regensburger oder des Kölner Domes, die Thurmpyramiden zu Freiburg i.B. oder Ulm die Umrisse des jeweiligen Stadtbildes beherrschen und zu den charakteristischen Eigenthümlichkeiten desselben gehören, so blickt auch der Thurm des Wiener St. Stephansdomes, eines der volksthümlichsten Baudenkmale unseres ganzen Kaiserstaates, wie ein idealem Ziele zustrebender Gebieter auf das Häusermeer der Kaiserstadt an der Donau, das ihm gleichsam in stummer Huldigung zu Füßen liegt. Seiner gedenkt selbst der schlichte, nur vom Hörensagen damit bekannte Handwerker oder Landmann mit bewundernder, im Banne des Gewaltigen stehender Scheu und zugleich mit dem überquellenden Gefühle vaterländischen Stolzes. Gewiss

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unterstützt diese Wirkung besonders auch die Thatsache, dass an kein zweites Bauwerk Wiens, das ja an bewundernswerten Schöpfungen der Architektur reich ist, so viele Erinnerungen an bedeutende weltgeschichtliche Ereignisse sich knüpfen und z.B. weit über die Grenzen unseres Vaterlandes die Erinnerung aller Gebildeten an diesem Wahrzeichen der Christenheit wie an einem Felsen im Meere die zweimal von Osten verheerend anstürmende Flut der Türkenbedrängnis zerschellen läßt." 42 Neuwirths Vokabular beschreibt viel eher einen nationalen Erinnerungsort als ein Gotteshaus: Der Dom ist ein „Gebieter", dem das Häusermeer der Kaiserstadt zu Füßen liegt. Auch wer den Dom nicht selbst kennt, also nur vom „Hörensagen", wie der Handwerker oder der „schlichte Landmann", spricht von ihm mit bewundernder Scheu und zugleich mit dem „überquellenden Gefühle vaterländischen Stolzes." Mit dem Dom verknüpfen sich „Erinnerungen an bedeutende weltgeschichtliche Ereignisse", vor allem - weit über die Grenzen des „Vaterlandes" hinaus - die Erinnerung „aller Gebildeten" an dieses „Wahrzeichen der Christenheit", an dem wie an einem Felsen im Meer die Flut der Türkenbedrängnis zerschellt ist. St. Stephan wird damit zum Ort einer Erinnerung, die nicht nur Wien und Österreich mit Stolz erfüllen kann, sondern darüber hinaus zu einem Ort, an dem die Erinnerung der „Christenheit" selbst hängt, ein symbolischer Ort der Errettung vor der herandrängenden osmanischen Gefahr. Im Wesentlichen sind es also diese zwei Symbolgehalte, die mit St. Stephan verbunden werden - einmal das optisch alles überragende bauliche Signal, der einzigartige Turm, zum anderen hängt an St. Stephan die Erinnerung an die beiden erfolgreich bestandenen Belagerungen von 1529 und 1683. Man darf ferner nicht übersehen, dass die extreme Gefährdung des ganzen Wiener Stadtbildes durch den Dombrand im April 1945 eine überaus starke Identifikation der Wiener und der gesamten österreichischen Bevölkerung mobilisierte damals erhielt der Dom seine gesamtösterreichische Symbolfunktion.

Der Dom als populärer Sakralort Doch blieb es nicht bei den religiösen und herrscherlichen bzw. herrschaftlichen Zeichen sakraler und dynastischer Zentralität. Als überaus populären Sakralort rankten sich um den Stephansdom bald auch Sagen und Legenden. Schon die Erbauung des ungeheuren Turmes schien so manchen nur durch das Eingreifen über- oder unterirdischer Mächte möglich gewesen, daher die verschiedenen Teufelserzählungen im Zusammenhang mit den Meistern des Dombaues (etwa mit Hans Puchsbaum), die Geschichte von der Kegelstatt in der Türmerstube und andere mehr. St. Stephan hatte stets auch seine populären Heiligenfiguren, seine populären Orte religiöser Verehrung - innen im Dom und außen am Dom. Dazu gehört die Kapistran-Kanzel, auf der der begeisternde Prediger zum Kampf ge-

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gen die Osmanen aufgerufen haben soll - übrigens am selben Ort, an dem dann im 17. Jahrhundert Marco d'Aviano analoge Predigten hielt. Das wundertätige Marienbild Maria Pötsch wurde um 1700 aus dem ungarischen Poes in den Stephansdom gebracht, weil hier der angemessenere Platz schien für ein solches Gnadenbild, dem übrigens das Verdienst für den Sieg des Prinzen Eugen bei über die Türken Zenta 1697 zugeschrieben wurde. Für die alltäglichen Probleme der kleinen Leute wiederum hatten der „Zahnwehherrgott" und die „Dienstbotenmadonna" (eine im übrigen besonders schöne Madonnenstatue) zu sor-

Der „Zahnwehherrgott"

Die „Dienstbotenmadonna"

Um beide Skulpturen ranken sich Geschichten, deren Alter ebenso wenig bekannt ist wie ein allfälliger unmittelbarer Anlass für ihre Entstehung. Der „Zahnwehherrgott", eine Ecce-homo-Darstellung, deren Original sich jetzt im linken Querhaus des Domes befindet, stand ursprünglich auf dem das Gotteshaus umgebenden Friedhof, nach dessen Aufhebung wurde es an der Außenseite des Ost-Chores situiert. 43 Der Name soll dem Bildstock von einer betrunkenen Gesellschaft gegeben worden sein, die über den Friedhof ritt. Sie begegneten der Skulptur, die mit einem Kranz dunkler Rosen gekrönt war, der mit einem unter dem Kinn gebundenen Seidenband unter dem Kinn zu einem Knoten befestigt erschien. Der Führer der Zechkumpanen höhnte die Statue, indem er rief: „Seht doch Freunde, dieser Herrgott hat Zahnweh!" Kaum waren die Kerle zu Hause angekommen und in ihre Betten gekrochen, befiel sie ein im-

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mer stärker fühlbarer Zahnschmerz, der schließlich höllisch wurde und so lange anhielt, bis die Sünder vor dem „Zahnwehherrgott" Buße taten.44 Mit der „Dienstbotenmuttergottes" verhielt es sich etwas anders.45 Die Statue befand sich im Besitz einer ebenso frommen wie lästigen Gräfin, die ihre junge Zofe schon normalerweise heftig sekkierte, an einem bestimmten Tag aber, als sie einen wertvollen Ring nicht gleich finden konnte, sogar des Diebstahls bezichtigte. Das unschuldige Mädchen bat vor dem Hausaltar der Gräfin, auf dem eine Marienstatue stand, um Hilfe. Doch meinte die Gräfin höhnisch, das sei keine Muttergottes für Dienstboten, sondern nur für Adelige. Das Mädchen erneuerte seine Bitte. Der Kommandant der herbeigerufenen Wache bat schließlich die Gräfin, zu überlegen, ob sie am gestrigen Tag nicht Handschuhe angehabt hätte - und tatsächlich fand sich der Ring im Handschuh. Die Gräfin schenkte daraufhin die Marienstatue der jungen Magd und gab ihr noch hundert Gulden als Heiratsgut. Die junge Frau gab an ihrem Hochzeitstag die Muttergottesstatue der Kirche zu St. Stephan. Und dort spendete sie noch vielen Dienstboten Trost in ihren Leiden. So hielt der Dom für alle etwas bereit für die hohen Herrschaften ebenso wie für das einfache Volk, für die Dynastie und für die Dienstboten. 46 Nicht nur Heiligengestalten sind im und um den Dom zu sehen. Beim Bischofstor warnt noch immer eine Tafel vor der Verehrung der heidnischen „Tattermandln", die hier hinter einem Gitter aufbewahrt wurden - nach einer Sage handelt es sich um drei kleine Teufel, Luziferl, Spirifankerl und Springinkerl, denen es gelungen war, in den Dom einzudringen und hier Unfug zu treiben. 47 Wie ja der Teufel um St. Stephan auch besonders umtriebig war, ging ihm doch der gewaltige Sakralbau gehörig gegen den Strich. So versuchte er nicht nur die Seele des großen Dombaumeisters Hans Puchsbaum zu ergattern, sondern schickte, als der große Turm fast fertig war, einige Wetterteufel, um jenen durch Blitz, Donner und Sturm zu vernichten. Das gelang zwar nicht, aber das Wetter um St. Stephan wird bis heute von diesen Teufeln mitbestimmt - das weiß jeder, der beim Weg am Dom vorbei aus irgendeinem unvermuteten Winkel von einem heftigen Windstoß angefallen wird.48 Dass es mit dem Wetter um St. Stephan tatsächlich eine einige Bewandtnis habe, erkannte schon ein einfühlsamer und genauer Beobachter wie Adalbert Stifter und widmete diesem Phänomen mehrere eigene Abschnitte in seinem hübschen Text über das Wiener Wetter. Nicht nur die heftigen, überraschenden und von allen Seiten kommenden Windstöße hat Stifter thematisiert, auch der dauerhafteste Schneehaufen Wiens, an der Nordostecke des Domes, fand seine Aufmerksamkeit. 49 Für Generationen von Angehörigen der (Erz-)Diözese Wien bedeutete es zudem eine wichtige Erfahrung, in St. Stephan gefirmt zu werden. Heute ist das Sakrament der Firmung stark dezentralisiert. In früheren Zeiten firmten die Bischöfe (fast) nur in ihren Kathedralen. Das bedeutete zu Pfingsten immer einen ungeheuren Andrang von Firmlingen und Firmpaten (nur selten mehr hört man die schönen alten Worte „Göd" oder „Godl"). Die Firmung in St. Stephan war

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die unerlässliche Voraussetzung für die das Religiöse nicht selten überwölbenden oder gar verdrängenden weltlichen Akzidentien - das weiße Kleid, die kunstvolle Locken-Frisur, bei den Buben oft der erste dunkle Anzug, die Fahrt mit dem geschmückten Zeugl auf den Kahlenberg oder in den Prater, die (goldene) Uhr als Patengeschenk, das Schnitzel, die Torte, das Ringelspiel, die (dann) fast unvermeidliche Übelkeit ... das war im oft recht bescheidenen Leben der meisten Menschen eine der wenigen „großen" Erfahrungen, und sie war mit dem Dom verbunden. 50

Schichten der Erinnerung Versucht man, das ungemein komplexe Erbe allein an intendierter, beabsichtigter Erinnerung, das in und um den Dom versammelt ist, ein wenig zu systematisieren, so werden sich mindestens folgende Schichten finden lassen. Die religiöse

Memoria

Jede katholische Kirche ist nicht nur Versammlungsort der Gemeinde, die hier zur Messfeier oder zu anderen Gelegenheiten zusammenkommt, sie ist auch Haus Gottes, Gotteshaus, da in der konsekrierten Hostie Gott real präsent ist. Diese Präsenz (in einem Sakramentshäuschen oder einem Tabernakel örtlich fixiert) wird durch das „Ewige Licht" versinnbildlicht. Zu dieser zentralen Gegenwart Gottes führen zahlreiche religiöse Hilfsmittel hin - die Symbolik des Baues, Chor und Langhaus, eine ausgereifte und überall greifbare Zahlensymbolik, zahlreiche Heiligenfiguren und Bildnisse, Kruzifixe und Taufbecken, Kanzeln und Altäre. Das Hochaltarbild im Hauptschiff des Chores zeigt das Martyrium des heiligen Stephanus. Der Nordchor ist der Jungfrau Maria gewidmet („Frauenchor"), daher stehen hier an den Säulen auch mehrere Marienstatuen. Der ebenfalls Maria und einigen anderen heiligen Damen gewidmete „Wiener Neustädter Altar" gehört freilich nicht zur ursprünglichen Ausstattung der Kirche." Der Südchor gedenkt der zwölf Apostel, daher „Apostelchor" (auch „Friedrichschor", nach dem Grab für Kaiser Friedrich III.). Überall an den zahlreichen Säulen des Domes stehen über den Besuchern Heiligenfiguren - ihre große Zahl erinnert an das Patrozinium Allerheiligen, das Herzog Rudolf IV. seinem an der Stephanskirche gegründeten Kapitel mit 24 Kanonikern gab. Unter den Heiligen kommen nicht wenige mehrfach vor: Christophorus, Maria, Margarete, Johannes der Täufer usw. Die Wiener haben ihre speziellen Heiligen, etwa den ansonsten wenig bekannten Judas Thaddäus, auch er ist in diesem Bataillon von Heiligen mindestens zweimal platziert. Schon Rudolf IV. hatte aber auch die Ausstattung mit „Heiltümern" (Reliquienschreinen) ebenso stürmisch wie systematisch vorangetrieben. Die jährliche „Heiltumsweisung" (in Wien am ersten Sonntag nach Ostern, dem „Weißen

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Stephansdom und Stephansturm

Sonntag") führte regelmäßig zu einem wahren Ansturm der Gläubigen (oder Abergläubischen), die wenigstens einen Blick auf die hochverehrten Reliquien werfen wollten, um auf diese Weise am Heil der Heiligen in irgendeiner Weise Anteil erhalten zu können. Eine eigene große Kapelle im ersten Stock des Westwerkes enthält diese Reliquiare. Das älteste Inventar der Reliquienschatzkammer stammt schon von 1393.52 Im späten 15. Jahrhundert wurde für die Heiltumsweisung ein eigenes Bauwerk in der Nähe des Domes errichtet (Heiltumsstuhl). 1699 wurde es abgetragen. Es ist hier nicht der Ort, diese religiöse Memoria umfassend und genau zu analysieren (wir haben das inzwischen zumeist den Kunsthistorikern zu überlassen), allein die 107 Pfeilerfiguren zu benennen und zu beschreiben, wäre eine spannende Aufgabe. 53 Orte spezieller religiöser Memoria sind natürlich auch die zahlreichen Altäre, von denen es neben dem Hochaltar siebzehn gibt.54 Dazu kommen noch die sechs Kapellen - im Erdgeschoß des Nordturmes die Barbara-, in dem des Südturmes die Katharinen- oder Taufkapelle (mit dem wunderschönen Taufbecken), ferner im Westwerk außen an die Heidentürme angebaut im Südwesten die Eligiuskapelle (ebenerdig) sowie die Bartholomäuskapelle (im ersten Stock), im Nordwesten die Kreuzkapelle (unten) und die Reliquienkapelle (oben). Die vier letzteren Kapellen haben nicht nur dem Westwerk eine besondere sakrale Bedeutung verliehen, sie leiten auch, über die spezielle Absicht, die mit ihrer Erbauung verbunden war, hinüber zu einem schon etwas mehr weltlichen Thema, zur Stifter- und Herrschermemoria.

Grablege,

Stiftermemoria

und Gedächtnis

der Stadt und des

Landes

Es sei „kaum mehr zweifelhaft, daß er den Dom wirklich zu einem Sammelpunkt landesgeschichtlicher und dynastischer Denkmäler auszugestalten suchte", schrieb Alphons Lhotsky über Rudolf IV.55 Als erstes Beispiel für diese Bestrebungen nennt Lhotsky den bereits mehrfach erwähnten Kolomans-Stein, hinter dem in einer Blei-Kassette ein Pergamentstreifen mit der Aufschrift „Lapis, super quem posuit fuit sanctus Cholomannus mártir et est aspersus eius sanguine qui adhuc videtur" gefunden wurde. Der Stein könnte 1361 hierher gebracht worden sein; Lhotsky vermutet einen gewissen Einfluss einer Venedig-Reise des Herzogs auf diese Aktion, war doch San Marco ein „Staatsheiligtum" fast im antiken Sinne. Im Mittelpunkt der Bemühungen, das Andenken an die Stifter im Gedächtnis zu halten, standen zunächst Herzog Rudolf IV. und seine Gemahlin Katharina von Luxemburg, Tochter Kaiser Karls IV. Im Portalgewände des Singertores treten beide in äußerst qualitätsvollen Skulpturen auf, der Herzog durch ein zweitürmiges Kirchenmodell als Stifter gekennzeichnet. Beide sind von eigenen Wappenträgern begleitet, die sichtlich unter der Last der großen Wappen und Helme mit Helmzier (bei Rudolf ein Pfauenstoß) leiden. Die Stifterfiguren

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Ernst Bruckmüller

wiederholen sich außen am Dom, an der Südwest- ebenso wie an der Nordwestkante, aber auch im Gewände des Bischofstores. Zur Stiftermemoria gehört auch das Epitaph des Herzogspaares, das sich jetzt im nördlichen Seitenschiff, rechts vom Wiener Neustädter Altar befindet. Es hat die einst in den aufsteigenden Nischen befindlichen Trauerfiguren (Professoren der von ihm gegründeten Universität!) im Laufe der Zeit eingebüßt, wahrscheinlich auch sonst einiges von seinem ursprünglichen Schmuck; immerhin sind die beiden Liegefiguren des Herzogspaares erhalten geblieben. Bestattet wurden sie unterhalb des Kenotaphs, in der Herzogsgruft. Hier, beim Grabmal, hing ursprünglich wohl auch das das bekannte Porträt Herzogs Rudolfs IV., das älteste Herrscherporträt im heutigen Österreich (und weit darüber hinaus). Es befindet sich jetzt im Dom- und Diözesanmuseum, war aber bis ins 17. Jahrhundert als Eigentum des Domkapitels im Presbyterium des Domes aufbewahrt, unweit des Rudolfs-Grabmals, kam dann in die Schatzkammer, später ins Metropolitanarchiv und 1933 ins Domund Diözesanmuseum. Es dürfte zwischen 1360 und 1365 entstanden sein.56

Grabmal Kaiser Friedrichs III

Ebenfalls eine stiftende Funktion kam Kaiser Friedrich III. zu, durch dessen Initiative St. Stephan zur Kathedrale wurde. Unter ihm wurde auch mit dem Bau des Nordturmes begonnen. An den Kaiser erinnert das überaus bedeutende Grabmal des Nielas Gerhaert von Leyden. Begonnen wurde es 1469, der Meister starb wohl 1487. Fertig wurde es erst 1513, damals wurde der Leichnam des Kaisers auch hier beigesetzt. Die großen Dimensionen ebenso wie die besonders reiche Ausschmückung des Grabes selbst, aber auch der es umgebenden Balustrade lassen die Intention sehr deutlich erkennen. An die Beisetzung des Kaisers sowie die seines Bruders Albrecht VI. erinnern die ebenfalls im Wien Museum aufbewahrten Funeralwaffen der verschiedenen habsburgischen Länder, die 1873 von Kardinal Othmar Rauscher der Stadt Wien übergeben wurden. Sie hingen vorher Jahrhunderte lang im Inneren des Domes. 57

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Stephansdom und Stephansturm

Nicht nur diese beiden Herrscher, sondern auch ältere Vertreter des „Hauses Österreich" sollten im Dom erinnert werden. So sind auf einigen im Wien Museum erhaltenen Glasmalereien Abbildungen früher Habsburger überliefert. 58 Die jedenfalls vor 1395 entstandenen Glasmalereien schmückten ursprünglich die Bartholomäus- oder Herzogenkapelle. Neben religiösen Motiven (Anbetung der Heiligen Drei Könige, Steinigung des Stephanus) waren hier König Rudolf von Habsburg und sein Sohn König Albrecht I. dargestellt, der letztere mit insgesamt sechs Söhnen, schließlich Herzog Albrecht II. mit seinen vier Söhnen, von denen Rudolf IV. der älteste war. Ferner erinnern ursprünglich am Südturm befindliche, jetzt ebenfalls im Wien Museum aufbewahrte überlebensgroße Monumentalskulpturen an die Stifter, Rudolf IV. und Katharina von Böhmen, an den Vater Rudolfs IV., Herzog Albrecht II., der den „albertinischen" Chor fertigstellen ließ, und an Rudolfs Schwiegervater, Kaiser Karl IV.59 Stiftermemoria und religiöse Memoria sind freilich nicht immer zu trennen: Das Patrozinium Allerheiligen erinnert an den Geburtstag Rudolfs IV., und die Katharinenkapelle an den Namen seiner Gemahlin. Als Begräbnisstätte Rudolfs IV., Friedrichs III. und einiger anderer Mitglieder der Herrscherdynastie erhielt St. Stephan nach dem Vorbild von St. Denis noch mehr den Charakter eines zentralen heiligen Ortes. Allerdings wurde St. Stephan kein österreichisches St. Denis: Die Herrschaftsteilungen der Habsburger sowie die Ausweitung ihrer Herrschaft führte zu neuen Begräbnisstätten - Stams in Tirol, Graz und Seckau, Prag. Und als sich Wien ab 1612 als Residenzstadt stabilisierte, entstand eine neue Grablege von großer Dauerhaftigkeit: die Kapuzinergruft, in der die Habsburger und Habsburg-Lothringer seit Kaiser Matthias (t 1619) ihre letzte Ruhestätte fanden. Noch ein symbolisch wichtiges Grab kam später dazu: Das des Prinzen Eugen (in der Tirna-Kapelle); es befindet sich in unmittelbarer Nähe des Grabsteines von Johannes Cuspinian, eines jener nicht allzu häufigen bedeutenden Wiener Humanisten. Der Prinz starb in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1736 und wurde in St. Stephan bestattet. Das Grabmonument wurde 1754 von den Erben in Auftrag gegeben und errichtet. 60 Eigenartiger Weise fand man bei der Öffnung des Grabes im späten 20. Jahrhundert auch eine Urne, deren Aufschrift verkündet, hier sei das Herz des Prinzen beigesetzt. 61

Gedenkort für Prominente

und weniger

Prominente

Neben der Herzogsgruft (das Grabmal im Frauenschiff ist eine Tumba), in der neben Rudolf auch einige andere Mitglieder der Herrscherfamilie ihre letzte Ruhestätte fanden, dem Friedrichsgrab und dem Grabmal für Prinz Eugen diente der Stephansdom aber auch für zahlreiche Andere, Prominente und weniger Prominente, als Grabstätte. Nicht nur die Dynastie benützte St. Stephan als Begräbnisstätte. Offenbar war es geradezu eine Prestigesache, bei St. Stephan

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begraben zu sein. Man kennt inzwischen die gewaltige Anzahl von 930 bis 950 (meist Grab-) Inschriften zwischen dem 13. Jahrhundert und 1683. Die hier vorkommenden Namen lesen sich wie ein „Who is who" der Wiener Stadtgeschichte. 62 Schon aus dem 14. Jahrhundert datiert das im Wien Museum erhaltene Epitaphium eines unbekannten Wiener Arztes. Es stammt von einem veronesischen, Pisanello nahestehenden Künstler und ist zweifellos eine kunsthistorische Besonderheit. Dafür begann sich jetzt das städtische Bürgertum immer stärker mit dem Kirchenbau zu identifizieren. Als erstes bemerkenswertes Zeugnis dieser Identifikation nannte Lhotsky eine in eine Marmorplatte des Fußbodens im Apostelchor eingelassene Messingplatte mit einer Gedenkinschrift für den 1408 enthaupteten Bürgermeister Konrad Vorlauf und zwei mit ihm hingerichtete Ratsherren. Der Gedenkstein dürfte 1430 gesetzt worden sein. Schon vorher hatte die Familie Vorlaufs eine Statue der Schutzmantelmadonna gestiftet, die, mit dem Vorlauf'sehen Wappen versehen, bis heute den Dom ziert. Im 15. Jahrhundert wurde der Apostelchor auch zur Grabstätte mehrerer Professoren der von Rudolf IV. 1365 gestifteten und durch Albrecht III. 1483 tatsächlich ins Leben getretenen Universität. Lhotsky verwies auf eine im Jahre 1460 in der Theologischen Fakultät stattgefundene Diskussion, in der es um die Gemälde bei den alten Professorengräbern ging, die zu restaurieren waren. Das ist ein bemerkenswerter Hinweis auf die Tatsache, dass etwa eine Generation nach der Entstehung des Porträts Rudolfs IV. nicht nur bereits Porträts von Gelehrten angefertigt wurden, sondern dass sie auch in der Stephanskirche wohl über den dazugehörigen Gräbern aufgehängt wurden. Als die endgültige Beisetzung des Leichnams Friedrichs III. im neuen Grab bevorstand, wurden die Gräber der Professoren aufgelassen und ihre Gebeine exhumiert. In die Reihe der „Landesdenkmäler" reiht Lhotsky auch das sogenannte Neidhartsgrab ein. Es dürfte ursprünglich nicht bei St. Stephan aufgestellt gewesen sein, wurde aber um 1370 dorthin übertragen. Neidhart, genannt Neidhart Fuchs, war ein Spaßmacher am Hofe des „fröhlichen" Herzogs Otto, der gemeinsam mit dem Pfaffen vom Kahlenberg für die oft nicht sehr zimperliche Unterhaltung auf jenem Hofe zuständig war.63 Während Neidhart stets mit den Bauern auf Kriegsfuß stand, machte der Pfaffe vom Kahlenberg über jedermann seine Scherze.64 Jüngste Untersuchungen stellten fest, dass die alte Streitfrage, ob hier wirklich Neidhard von Reuenthal oder Neidhard Fuchs begraben sei, gar nicht entscheidbar sei, denn das Grab enthalte zwei Skelette. 65 Am bzw. im Stephansdom verewigt sind aber auch bekannte Zelebritäten der Wiener Gesellschaft aus mehreren Jahrhunderten. So der Humanist Conrad Celtis, oder Johannes Spießhaimer (Cuspinian), dessen behütetes Porträt gleich mit vier Büchern verziert ist, wohl um den Gelehrten (der u.a. auch Rektor der Wiener Universität war) ja zu verdeutlichen. 66 Auch aus der Barockzeit sind zahlreiche Epitaphien sowohl im Innern wie noch mehr außen am Dom angebracht. Im Dom wurden zahlreiche Bischöfe, Domherren und Theologen be-

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stattet. Das interessanteste Renaissance-Epitaph erhielt Bischof Georg Slatkonja, im nördlichen Seitenschiff, angeblich von Loya Hering. Das zerfurchte, sorgenvolle Gesicht des alten Bischofs ist zweifellos eine besondere Leistung. Aber auch Bischof Johann Fabri (1530-1541) erhielt eine ausdrucksvolle Grabplatte. Daneben existieren noch mehrere Epitaphien für andere Bischöfe, Domherren und (Theologie-) Professoren. 67

Der „Fenstergucker" am Fuß der Domkanzel

Zwei Gesichter prägen sich wohl jedem Besucher des Domes ein: Zunächst einmal der sogenannte „Fenstergucker" am Fuße der berühmten Kanzel, der meist fälschlich mit dem am Orgelfuß porträtierten „M.A.P." als Meister Anton Pilgram identifiziert wird. Pilgram arbeitete spätestens seit 1512 am Stephansdom und verstarb 1517. Ob er tatsächlich auf beiden Porträtskulpturen dargestellt ist? 68 Die Kanzel wird heute deutlich früher datiert und eher mit dem Künstler des Friedrichsgrabes, Nielas Gerhaert van Leyden, in Verbindung gebracht. Außen am Dom befindet sich, im Bereich des Südturmes, das wie ein Epitaph gestaltete Denkmal für den Dombaumeister Friedrich v. Schmidt (1825 — 1891). Neben diesen und vielen anderen „Promis" lagen und liegen unter dem Dom und auf dem alten Stephansfriedhof tausende andere Wienerinnen und

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Wiener begraben. Ihre Skelette ruhen vielfach in den so genannten „Katakomben", denen (wieder!) Adalbert Stifter eine ebenso detaillierte wie schaurige Beschreibung gewidmet hat.69 Die vor einigen Jahren durchgeführten archäologischen Grabungen ergaben eine enorme Belagsdichte für die Begräbnisstätte unter dem Dom: Alle 20 Zentimeter wurden zwischen 35 und 45 Skelette (!) gefunden. 70 Die düsteren Katakomben wurden nach dem Zweiten Weltkrieg umgestaltet, heute befindet sich unter dem Friedrichschor die Bischofsgruft, unter dem Querhaus entstand ein Lapidarium als Unterkirche, auch die Herzogsgruft wurde restauriert.71

Die

Türkenmemoria

Es ist nicht zu verwundern, dass die ursprünglich auf der Turmspitze des Hohen Turmes angebrachten Zeichen - eine Mondsichel und eine achtstrahlige Sonne, sie symbolisierten die höchsten Gewalten der Christenheit, Papsttum und Kaisertum - mit der Türkengefahr verbunden wurden. Die Wiener glaubten, man müsse diese Symbole entfernen, da sie ansonsten immer wieder die Osmanen anlocken würden. Auch in türkischen Erzählungen tauchte der Halbmond auf dem Stephansturm auf, der auf Geheiß des Sultans Süleyman dort angebracht worden sein soll. Während der Belagerung von 1683 gelobte Kaiser Leopold I., den „Mondschein" durch das Kreuz zu ersetzen. Das 1687 tatsächlich montierte Kreuz blieb an der Turmspitze bis zur Restaurierung von 1840. 1842 wurde ein neues Kreuz (aus dem Doppeladler herauswachsend) montiert, das bei der bald wieder erforderlichen Neugestaltung des Turmes 1860 entfernt wurde. Es befindet sich heute im Wien Museum und wurde durch ein gleichartiges Stück ersetzt. 72 Bald nach der glücklich überstandenen Belagerung wurde im Dom eine der großen erbeuteten Fahnen des türkischen Heeres aufgehängt. 73 Dass der Stephansturm fast auf all den zahlreichen Stichen einen zentralen Platz einnimmt, die das Geschehen von 1683 thematisierten, versteht sich von selbst.74 Im Wiener Dom- und Diözesanmuseum wird jenes Modell für ein Türkenbefreiungsdenkmal aufbewahrt, das Edmund von Hellmer 1883 im Rahmen eines vom damaligen Unterrichtsministerium ausgeschriebenen Wettbewerbes anfertigte und das auch einstimmig für die Realisierung bestimmt wurde. Es erscheint eigentümlich, dass dieses Denkmal zwar barocken Altären nachempfunden war, jedoch ausschließlich nicht-sakrale Gegenstände enthielt - Figuren von wichtigen Persönlichkeiten der Belagerung von 1683 (Kaiser Leopold I., Graf Rüdiger von Starhemberg, Bischof Kollonitsch, Bürgermeister Liebenberg) oder Sieges-Allegorien (eine „Victoria"). Die alle kirchlichen Belange vollkommen vernachlässigende Planung erregte lebhaften Widerstand in kirchlichen Kreisen, weshalb die Ausführung gegenüber dem Modell auch verändert wurde: Nicht mehr Kaiser Leopold bekrönte die ganze Szenerie, sondern eine Maria Immaculata, flankiert von den knienden Figuren von Kaiser und Papst.75

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Stephansdom und Stephansturm

So wurde es umgesetzt und gelangte im Innern des Stephansturmes, an dessen Westwand im Erdgeschoss, zur Aufstellung. Durch den Brand vom April 1945 stark beschädigt, sind heute nur noch einzelne Skulpturen am ursprünglichen Anbringungsort erhalten.76 An die Türkenkriege erinnert jedoch nicht nur dieser Torso eines historistischen Denkmals. Außen am Dom, genauer am Chor des nördlichen Seitenschiffes, befindet sich die sogenannte Capistran-Kanzel. Sie erinnert an den Franziksaner-Mönch Giovanni da Capistrano, der hier 1451 gegen die Türken gepredigt haben soll. Der Mönch hat die Rückeroberung von Belgrad 1456 mit seinen temperamentvollen Predigten begleitet. Die barocke Apotheose Capistrans wurde Jahrhunderte später (1738) errichtet. Die Kanzel dürfte wohl eine Heiltums-Kanzel gewesen sein, dem Herzeigen der Reliquien gewidmet. In der Tradition dieses Franziskaners stand um das „Türkenjahr" 1683 sein Ordensbruder Marco d'Aviano (begraben in der Wiener Kapuzinerkirche). Eine besondere Erinnerung an 1683 bewahrt das „Starhemberg-Bankerl" über dem ersten Geschoss des Südturmes. Von hier aus beachtete der Kommandeur der Verteidigungstruppen, Rüdiger Graf Starhemberg, die Bewegungen des türkischen Heeres. Vom Stephansdom stiegen in den Tagen unmittelbar vor dem Entsatz Raketen auf, um den heranrückenden Entsatzkräften die prekäre Lage zu verdeutlichen.77 Insgesamt galt der Dom als das Symbol der zweimal siegreich überstandenen Belagerungen, von 1529 und 1683.

Die Ansicht des Domes als berühmteste

Wien-Vedoute

Die heute von mindestens jedem japanischen Besucher gemachte Filmaufnahme in Wien ist der berühmte Blick vom Beginn (oder Ende) des Grabens bzw. dem Stock-im-Eisen-Platz auf den Stephansturm. Wenn schon nicht der Erfinder, so war Rudolf von Alt doch einer der eifrigsten Maler dieser inzwischen in der Tat zur Wien-Ikone schlechthin erstarrten Ansicht. Aber sie ist keineswegs „uralt". Sie wäre vor den Veränderungen, die die Innenstadt im 18. und 19. Jahrhundert erlebte, so nicht möglich gewesen. Mit der Schleifung des Heiltumsstuhles 1699 und der Auflassung des Stephansfreithofes, des alten Friedhofes um den Dom im Jahre 1732, begann eine lange Reihe baulicher Veränderungen, die den Dom zunehmend freistellten. In den 1780er-Jahren wurde die Magdalenenkapelle mit der Virgilkapelle abgetragen, 1792 verschwanden die der Westfront des Domes gegenüberliegenden Häuser der Sänger, Kirchendiener usw., so dass Kaiser Franz II. (als österreichischer Kaiser Franz I.) nach seiner Rückkehr von der Kaiserkrönung in Frankfurt erstmals die freie Aussicht auf die Westfassade des Domes genießen konnte.78 Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das ganze Areal westlich des Domes radikal neu gestaltet wurde und die alten Häuser der Brandstätte geschleift wurden, hatte

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man vorübergehend sogar einen ganz ungewöhnlichen Blick auf die Westfassade des Domes. 79 Erst durch die Verbindung des Grabens mit dem Stock-im-Eisen-Platz sowie des letzteren mit dem Stephansplatz durch die Schleifung einiger weiterer Häuser 186680 ist der berühmte Blick endgültig eröffnet worden. 1895 wurde das weit in den Stock-im-Eisen-Platz hineinragende Lazansky-Haus abgerissen. Das an seiner Stelle erbaute Haus mußte sich mit einem kleineren Grundriss begnügen, denn man wollte nun den Anblick des Stephansturmes vom Graben aus für alle Zeiten frei halten. „Sein Wien mit dem Stephansturm" habe Alt am liebsten gemalt, berichtet Josef Engelhart in seinen Lebenserinnerungen. 81 Alt selbst bezeichnete sich als „Alt-Wiener", der sich gegen die „Verschandelung" der Stadt aussprach.82 Sein schon 1834 entstandenes Ölbild „Der Stephansplatz", gemalt vom Stock-im-Eisen-Platz aus (damals noch mit dem Lazansky-Haus und daher relativ schmalem Durchblick auf den Dom), war wohl das Urbild der zahlreichen bis heute üblichen Stephansdom und -turm-Abbildungen. 83 In den massenhaft verbreiteten Radierungen Luigi Kasimirs fand diese Ansicht vieltausendfache Verbreitung. 84

Der Dom im Gedächtnis aufbau

der Zweiten Republik:

Widerstand

und Wieder-

Das rechts vom Riesentor eingravierte „05" (als Zeichen für „Oe", Österreich) symbolisiert den österreichischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Es soll am 10. April 1945 dort aufgetaucht sein, zunächst nur provisorisch eingeritzt, heute professionell eingetieft. 85 Dieses Zeichen erinnert aber nicht nur an die gegen das Kriegsende sich formierenden Widerstandskräfte, sondern auch daran, dass der Dom von St. Stephan Schauplatz einer der größten Demonstrationen gegen den Nationalsozialismus war, die es im „Großdeutschen Reich" Hitlers je gegeben hat. Am Abend des 7. Oktober 1938 (Herz-Jesu-Freitag im Oktober) trafen sich hier etwa 7.000 katholische Jugendliche zu einer JugendFeierstunde. Kardinal Theodor Innitzer fand - hingerissen von der großen Zahl derer, die gekommen waren, und von der widerständig-feierlichen Stimmung bewegende Worte: „Eure Verbände und Bünde hat man euch zerschlagen, eure Fahnen hat man euch weggenommen [...] Und doch habt ihr viel gewonnen: das Wissen um die feste Gemeinschaft junger Christen." Und, den Führerkult des Nationalsozialismus zugleich paraphrasierend und negierend: „Christus ist unser Führer und König." Die jungen Leute waren begeistert. Endlich hatte der Kardinal, der vor der Volksabstimmung vom 10. April 1938 noch empfohlen hatte, mit „ja" zu stimmen, ein eindeutiges Signal gesetzt. „Wie ein gewaltiger Sturm hallen die Lieder und Gebete durch den weiten Raum." Nach der Feier drängten sich die jungen Leute auf dem Stephansplatz, vor dem Erzbischöflichen Palais. Und wieder wandelten die Rufe die Parolen der Nazis ab: „Wir

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danken unserm Bischof!" oder: „Wir wollen unseren Bischof sehen!", oder „Bischof Heil!" Schließlich zeigte sich Innitzer am Fenster, erst gegen 10 Uhr abends zerstreute sich die Menge. 86 Am nächsten Tag folgte der Gegenschlag: HJ-Gruppen überfielen das Erzbischöfliche Palais und das Curhaus, misshandelten Geistliche und zerstörten die Einrichtung. Der Kardinal wurde rechtzeitig versteckt. Mehrere der „Innitzer-Gardisten" wanderten auf Jahre in Konzentrationslager. 87 So ist mit dem Stephansdom auch die Erinnerung an katholisch-österreichische Widerständigkeit und Nicht-Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus verbunden. Aber wohl noch wichtiger für den österreichischen Konsens der Zweiten Republik wurden Zerstörung und Wiederaufbau des Domes. Der Brand des Domes war für alle Zeitgenossen, die ihn erlebten, die Katastrophe schlechthin. Schon am 8. April schlug eine russische Bombe ins rechte Seitenschiff des Langhauses ein, doch nur mit geringer zerstörender Wirkung. Es hatte kleinere Brände im Bereich des Nordturmes und des hohen Turmes gegeben, sie konnten von einer Handvoll Männer (und einer Frau) mit Wassereimern noch gelöscht werden. Schon an diesem Tag war der unausgebaute Nordturm, noch dazu versehen mit einem Baugerüst, die Schwachstelle. Vom Funkenflug von brennenden Häusern auf dem Platz wurde dieses Baugerüst immer wieder in Brand gesetzt, aber noch konnten alle Brände gelöscht werden. Die Feuerwehr war zwar von den abziehenden Deutschen mitgenommen worden - aber den Turmwächtern von St. Stephan, die zum Personal der Wiener Feuerwehr gehörten, gelang es, zum Dom zurückzukehren. 88 Am 11. April - die Innenstadt stand bereits unter sowjetischer Kontrolle - begann heftiges Feuer durch deutsche Batterien von jenseits der Donau. Sie trafen mehrfach das Dach, auch den Turm, doch nicht entscheidend. 89 Viel gefährlicher jedoch wurden jene Brände, die von Plünderern gelegt wurden, die jetzt die Innere Stadt durchzogen. Von den brennenden Häusern des Stephansplatzes ging ein wahrer Funkenregen auf den Dom nieder. Noch immer konnten kleinere Feuer gelöscht werden, doch als am 12. April das Feuer auf dem Nordturm nun wieder verstärkt ausbrach, waren die Mittel der Gegenwehr erschöpft. Die Flammen ergriffen den Dachstuhl des Nordturmes, er stürzte brennend ins Dominnere. Brennende Balken des Nordturmdachstuhles fielen auf das Dach des Domes und setzten ihn in Brand. Um 11 Uhr vormittags stand bereits der ganze Mittelteil des Dachstuhles in Brand, der griff rasch auf den Glockenstuhl des Süd-Turmes über. Die Pummerin stürzte ab und zerschellte. Die Orgel brannte, und mit ihr brannte die große Westempore aus, auch die Heidentürme. Der ganze Dachstuhl sank brennend in sich zusammen, doch die wunderbare Baukunst der Meister der Gotik hatte die Gewölbe so konstruiert, dass sie auch das aushielten. Am Freitag, dem 13. April um 4 Uhr 15 in der Früh stürzte aber eine der beiden - jetzt freistehenden - die Gewölbe hoch überragenden Ziegelmauern zwischen dem Mittelschiff und dem südlichen Seitenschiff des Chores um und durchschlug die Gewölbe des Mittel- und des südlichen Seitenschiffes. „Die Katastrophe war vollständig." 90 Immerhin blieb der

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Marienchor erhalten, und das ganze Quer- und Langhaus. Die Türme waren teilweise ausgebrannt, aber sie standen. Zentrale Kunstwerke waren in Sicherheit gebracht oder ummauert worden (wie die Kanzel oder das Friedrichsgrab). Einiges war unwiederbringlich vernichtet, so das gotische Chorgestühl im Mittelschiff des albertinischen Chores. Rund ein Drittel des Kirchengebäudes war ausgebrannt, doch die Wände und Pfeiler standen ebenso wie die Türme. Zwar waren die vier größten Glocken zerstört, doch fünf waren erhalten geblieben, sie erklangen zu Weihnachten 1945 zum ersten Male nach dem Krieg wieder.

Der zerstörte Dom 1945

Sogleich ging man an die Arbeit: Am 18. April wurden die abgestürzten Luster im Langhaus geborgen, am 23. April (dem Tag der Domweihe!) begannen die Aufräumungsarbeiten. Zunächst hatte man die erhaltenen Teile zu sichern. Das Langhaus wurde gegen den Chor provisorisch abgemauert, und in diesem rückwärtigen Teil (Querhaus - Langhaus) konnte ab dem 19. Dezember 1948 wieder Gottesdienst gefeiert werden. Dann begann die Renovierung der eingestürzten Teile des albertinischen Chores. Hier wurde am 5. Oktober 1951 der Schlussstein gesetzt. Der Dom war wieder der alte. Doch nicht ganz: Gegenüber dem „alten" Steffi war er heller, wohl auch optisch weiter, weil besonders im Chorbereich gewisse Einbauten nicht mehr wiederhergestellt wurden. Heller war er, weil an die Stelle der alten dunklen Glasfenster (die nur in Resten erhalten sind, etwa

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im rechten vorderen Fenster des Chor-Mittelschiffes) zwar mehrfarbige, aber helle Glasfenster eingebaut wurden. Man hatte aus der Not eine Tugend gemacht und überall pastellgetönte Gläser zusammengekauft, vor allem von einer Firma, deren Lagerplatz von Bomben getroffen war. Diese Gläser wurden in kleine viereckige Scheiben geformt und eingeschnitten (so konnte man auch Bruchglas verwenden). Das von der altrenommierten Firma Geyling und dem Dombaumeister Holey entworfene Provisorium erwies sich als ebenso günstig wie haltbar." Gerade durch seine Zerstörung und Wiederherstellung erhielt der Dom eine besondere, zusätzliche Bedeutung. Aus dieser Zeit stammt das ebenso resignative wie optimistische Wiener Lied „Wann der Steffi wieder einmal wird so wie er war" (von Hans Lang und Erich Meder). Er wurde jetzt zum Symbol für die Zweite Republik, die aus Schutt und Zerstörung erstand - nicht nur einer Zerstörung von Baulichkeiten, sondern auch einer Zerstörung von Leben und einer tiefgreifenden Verstörung der Menschen. Das erwähnte Zeichen O 5 rechts vom Riesentor als Zeichen der späten, kleinen, und dennoch opfermutigen Österreichischen Widerstandsbewegung gehört zum Mythos der Zweiten Republik genauso wie der Wiederaufbau des Domes selbst, an dem sich nun auch jedes einzelne Bundesland in spezifischer Weise beteiligte: Die dich in dieses Gotteshaus ruft, DIE GLOCKE, spendete das Land Oberösterreich, Das dir den Dom erschließt, DAS TOR, das Land Steiermark, Der deinen Schritt trägt, DEN STEINBODEN, das Land Niederösterreich, In der du betend kniest, DIE BANK, das Land Vorarlberg, Durch die das Himmelslicht quillt, DIE FENSTER, das Land Tirol, Die in festlicher Helle erstrahlen, DIE KRONLEUCHTER, das Land Kärnten, An der du den Leib des Herrn empfängst, DIE KOMMUNIONBANK, das Burgenland, Vor dem deine Seele sich in Andacht neigt, DEN TABERNAKEL, das Land Salzburg, Das die heiligste Stätte des Landes behütet, DAS DACH, spendete im Verein mit vielen hilfreichen Händen die Stadt Wien.92 Die massive Wiederaufbauhilfe aus allen Ländern zeigt, dass man St. Stephan jetzt, nach 1945, wirklich als gemeinsames österreichisches Symbol sah. Der Historiker Adam Wandruszka hat damals eine Prophezeiung gewagt, von der man heute sagen kann, dass sie irgendwie zur Realität wurde: „Wenn nach der Vollendung des Stephansdomes eine Tafel mit diesem Text (der obige, E.B.) an die Spendenaktion der Bundesländer für den Wiederaufbau des Domes erinnert, wird eine neue Klammer geschaffen sein, welche die Länder Österreichs mit dem Heiligtum an der Donau verbindet. [...] Das gläubige Volk aus den Bundesländern, das in Zukunft den gewaltigen Dom in der Riesenstadt betritt,

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wird stärker als bisher von dem Bewusstsein erfüllt werden, daß dies s e i n Dom, s e i n Gotteshaus ist." 9 3 Wenn man die eingangs zitierten Umfrageergebnisse zu diesem Text hält, dann wird man Wandruszkas Worten einen gewissen Realitätsgehalt nicht absprechen können. Wandruszka verbindet aber den Wiederaufbau des Domes ganz direkt mit dem Mythos vom Wiederaufbau Österreichs: „Unsere Bewährung in der Wiederherstellung des Domes mag so vielleicht auch als Bewährung der Lebenskraft Österreichs gedeutet werden." 94 Die Finanzierung des Wiederaufbaus war nur durch großzügige Spenden möglich, die aus allen Bevölkerungsschichten kamen. In der „Dachziegel-Aktion" - man benötigte 250.000 Dachziegel - konnte man zum Preis von öS 5,einen Dachziegel kaufen. 9 5 Neben der Bundesregierung, den Bundesländern und der Stadt Wien beteiligten sich auch Kammern und andere Verbände an der Finanzierung des Wiederaufbaus: Eine zweite Tafel im Dom verweist u.a. auf die Bundeskammer und die Landeskammern der gewerblichen Wirtschaft, die Landes-Landwirtschaftskammern, die landwirtschaftlichen Genossenschaften, die Vereinigung österreichischer Industrieller, auf die Organisatoren von Festen, Veranstaltungen, Versammlungen, Ausstellungen und Konzerten für den Wiederaufbau, und auf die Ungezählten, die für das Dach oder durch den „Stephansgroschen" den Wiederaufbau mitfinanziert hatten. Schließlich erwähnt diese Tafel auch die tatkräftige Hilfe von außen, von Belgien bis zum Heiligen Stuhl.

Der Einzug der „Pummerin" 1952

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1950 kündigte der oberösterreichische Landeshauptmann Dr. Heinrich Gleißner an, er und der Bischof von Linz verpflichteten sich, für den Guss einer neuen Pummerin Sorge zu tragen. Sie wurden dann auch in St. Florian gegossen. In die Glockenspeise wurden auch die Reste der alten Pummerin eingeschmolzen. Im April 1952 wurde sie in einem wahren Triumphzug nach Wien gebracht. Aus vielen Orten fuhr man mit verschiedensten Vehikeln (der Autor dieser Zeilen auf dem Lastwagen des Großvaters, auf dem einige Bänke standen, voller Neugieriger, von St. Leonhard am Forst aus) zur Bundesstraße Nr. 1, um die Vorbeifahrt der Pummerin zu erleben. Am 26. April erreichte sie die Hauptstadt; nach einer Fahrt durch die von tausenden Menschen gesäumte Mariahilferstraße zum Stephansplatz fand dort die Glockenweihe statt, gleich anschließend die offizielle Domeröffnung. Damals war neben den kirchlichen Würdenträgern das ganze offizielle Österreich dabei: der Bundespräsident, die Bundesregierung, alle Landesregierungen. Der Steffi war nun doch wieder „so wie er war". Wie die Fahrt der neugegossenen Pummerin von St. Florian nach Wien ein erster Triumphzug der Zweiten Republik war, so wurde die Einweihung des Domes ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte eines neuen österreichischen Selbstbewusstseins.

St. Stephan - Dom, Nationaldenkmal, Werbeträger und Anstoß Der Stephansturm ist einfach omnipräsent. Mannerschnitten und Steffl-Bräu, Banken und Versicherungen, Rauchfangkehrer oder Edelsteinverkäufer - sie alle werben mit dem Turm im Hintergrund. Das stößt durchaus auch auf Ablehnung, wie die 2004 angebrachten Werbungen auf jenen Planen, die das Gerüst am Hohen Turm umgeben. Die Werbesprüche lassen Christliches anklingen: „Kein Haus ist für die Ewigkeit gebaut", erinnert eine Bank, die Wohnkredite bewirbt, und, nach Süden gewendet, verkündet eine Versicherung: „Nur Einer versteht Ihre Sorgen besser als wir." Dolores M. Bauer, engagierte katholische Publizistin, empört: „Müssen wir heute schon den Dom für die Werbung prostituieren lassen?" Darauf ein alter Bekannter von ihr: „So sind eben die Zeiten. Heute lassen diese Herrschaften keinen Pfennig mehr aus, wenn sie nicht etwas dafür bekommen. Das ist eben Sponsoring, wie beim Sport oder sonst wo ..." Und Frau Bauer erinnert die edlen Spender an die Bibel: „Wenn Du Almosen gibst, lass' es nicht vor dir her posaunen, wie es die Heuchler tun, um von den Leuten gelobt zu werden." 96 Der moderne Mensch entdeckt den Stephansdom als Biotop: Die berühmten Bilder des Starphotographen Georg Riha thematisieren den Sakralbau als Heimat für Fledermäuse, Turmfalken, Ailantusspinner und anderes Getier und Gewächs, insgesamt 27 verschiedene Pflanzenarten, die zwischen Katakomben und Dachbereich ihre Heimat gefunden haben. 9 7

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Wer freilich auf die Idee kam, diese zentrale Österreich-Symbol ausgerechnet auf die kleinwertige - und daher auch kleine - 10-Cent-Münze zu platzieren, muss sich die Frage gefallen lassen, wie man denn auf so etwas kommen konnte: Eine der höchsten Baulichkeiten Österreichs auf eine der kleinsten Münzen zu quetschen? Es konnte nur eine Seltsamkeit herauskommen: Der Turm, oben und unten beschnitten, als hinge er in der Luft, aus dem Nichts kommend, ins Nirgendwo vergehend, ohne Anfang und ohne Ende, ohne Basis und ohne Spitze: Difficile est satiram non scribere! Künstler haben in der Postmoderne des späten 20. Jahrhundert als Tor zur öffentlichen Anerkennung gefälligst irgendeine Beschimpfung nachzuweisen. Dem Kärntner Autor Egyd Gstättner verdanken wir die unumgängliche Stephansdom-Beschimpfung, eingebettet in die Beschreibung der fürchterlichen Großstadt Wien: „Und schließlich der froststarre, architektonisch verkrüppelte Stephansdom und seine aufdringliche oberösterreichische Glocke. Sein Gemäuer ist unverputzt und finster und feucht zur Freude der Pilze und Insektenwelt, das Kirchenschiff vor lauter sinnloser Höhe für Eierstockundnierenbeckenentzündungen geradezu prädestiniert, nirgendwo ist Besinnung riskanter. Eine etwaige Erholung der Seele geht automatisch auf Kosten der Eierstöcke, (usw.) ,.." 98 Noch im literarischen Ablehnungsgestus wirkt der Mythos von St. Stephan: Der arme kleine Bub aus Kärnten muss die entsetzliche große kalte Kirche besuchen, samt ihrer als „oberösterreichisch" abgelehnten Glocke (was Kärntner nicht alles ablehnen können!). In den Leiden des jungen Kärntners wird die Apperzeption des Nationalsymbols sozusagen auf den Kopf gestellt, und die Auswirkung der „Besinnung" primär als eine auf mögliche Unterleibserkrankungen gesehen. Auch andere Bilder entwickeln sich - modern oder postmodern? - aus dem aufragenden Turm: Etwa das einer Rakete (Der Stephansturm steigt als Rakete beim Start in den Himmel; der Unterteil könnte aber auch eine Zigarre sein?!). 99 Jahre später ein ganz ähnliches Motiv (angelehnt an das ältere Vorbild?) auf einem Profil-Titelblatt: „Wien hebt ab" mit dem Stephansturm als Rakete, d.h. der obere Teil des Domes ist dargestellt wie die Antriebs-Stufe einer Weltraumrakete, daneben als Fotomontage das Startgerüst einer solchen Rakete (ungefähr dort, wo sonst der Hohe Turm steht), rundherum Dampf und leuchtende Auspuffgase unter dem Dom als Rakete. 100 Im frühen 21. Jahrhundert sind die alten sakralen Qualitäten von St. Stephan vielen Menschen nicht mehr bewusst. Inwiefern sie in der Einschätzung zahlreicher Bewohner Österreichs, die den Dom von St. Stephan nach wie vor für den zentralen Bedeutungs-Bau des Landes halten, noch nachklingen, dürfte für die empirische Sozialforschung nur schwer eruierbar sein. Immerhin muss man mit Behauptungen von der wachsenden Säkularisierung vorsichtig sein. Im nachjosephinischen Wien gingen vermutlich noch viel weniger Leute zum Gottesdienst als heutzutage. 101 Die Autobiographie Franz Grillparzers könnte

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diesen Befund bestätigen.102 Er sagte von sich selber, dass er eigentlich als kleiner Heide aufwuchs. Die sakralen Funktionen des Domes prägten die Freizeit der vorindustriellen Zeit: Man sollte nicht „blau" machen, aber zu einer Messe oder Andacht, oder am Sonntagnachmittag zum Segen zu gehen, das war doch Christenpflicht und Menschenrecht. Da trafen sich Männlein und Weiblein, und kritische Besucher aus dem Norden haben diese Funktion des Domes als Rendezvous-Ort auch gebührend kritisiert. Aber gerade dadurch war der Dom intensiv in den Alltag der Wienerinnen und Wiener eingebunden. Hier hat erst die Aufklärung gründlich Remedur geschaffen und die Moralität der Moderne eingeführt - während der alte Barockkatholizismus zwar streng in den Vorschriften war, doch im vollen Bewusstsein der Sündigkeit der armen Menschheit: selbst der Gerechte fällt ja bekanntlich sieben Mal am Tage. Aber Dom und Turm stehen nach wie vor im Herzen der Stadt. Und sie werden auch dann, wenn unter den Besuchern sich nur mehr ein paar versprengte katholische Christen befinden, im Herzen der Stadt stehen. Das heißt: Die Qualität als Zeichen dürfte auch in einer völlig säkularisierten Gesellschaft so überragend sein und bleiben, dass uns St. Stephan als zentraler „Gedächtnisort", im topographischen ebenso wie im übertragenen Sinne, noch lange erhalten bleiben wird. Das Großartige, Überwältigende des Anblicks trägt ebenso dazu bei wie die vielen Schichten von Erinnerung und Gedenken, die teils systematisch hier angelagert wurden, teils aber auch einfach hinzuwuchsen, als Ort der Volksfrömmigkeit und als Ort kollektiver Identifikation.

Dr. Wolfgang Bahr bin ich in besonderer Weise zu Dank verpflichtet, weil er mir seine große Sammlung zum Stephansdom in der uneigennützigsten Weise zur Verfügung stellte. Ohne diese Sammlung hätte dieser Beitrag nicht geschrieben werden können. Zahlreiche Hinweise verdanke ich ferner Werner Telesko und Hannes Stekl. Herzlichen Dank dafür! 1

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Adalbert Stifter, Aus dem Alten Wien. Vom Sankt Stephansturme. In: A. Stifters ausgewählte Werke in sieben Bänden, hg. v. Rudolf Fürst, Bd. 7, Leipzig o.J., 20 ff. Bodo Hell, 343 Stufen, in: Die Presse, 17.1.2004, Spectrum, III f. Claudia Danhauser und Hans Haider, „Der steinerne Hochwald von Wien". Zum 850-JahrJubiläum des Doms: Ein Versuch, in: Die Presse, 19./20.4.1997, Spectrum, I f. Susanne Claudine Pils, Das Herz der Stadt. Die Stephanskirche und das Domviertel, Wien 1995. „Symbole für Österreich", April/Mai 1993, Integral. Markt- und Meinungsforschungsges.m.b.H., η = 1010. Die Presse, 1 3 . 7 . 1 9 9 5 , 7 . Die Presse, 17.5.1994, 9. Bernhard Schragl von den Österreichischen Bundesforsten habe ich für die Überlassung dieser Daten sehr herzlich zu danken. Im ersten Band von „Memoria Austriae" hat Laurence Cole in seinem Beitrag über den Habsburgermythos zwar auf die relativ schwache Ausprägung dieses Mythos im öffentlichen Gedächtnis hingewiesen; dennoch erweckt sein Beitrag einen ganz gegenteiligen Eindruck. Auf die Ursachen für die schwache Verankerung der Habsburger im Gedächtnis der Österrei-

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cher ist er leider kaum eingegangen. Vgl. Laurence Cole, Der Habsburger-Mythos, in: Memoria Austriae I. Menschen - Mythen - Zeiten, hg. von Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, Wien 2004, 473-504. 10 Pia Maria Plechl, Koordinatenursprung im Stephansdom. Erster Vermessungspunkt der Kronländer, in: Presse, 17./18.2.1990, 18. Eine Tafel vor der Katharinenkapelle beim südlichen Seitentor bezeichnet jenen Punkt, der sich ursprünglich genau unter der Spitze des Hochturmes befand. Er ist Ausgangspunkt der Katastralvermessung von 1817-1837, einer von sieben Punkten, von denen sich vier im heutigen Österreich befinden. Das „System St. Stephan" wurde bis in die Erste Republik hinein angewandt. " Dazu vgl. Karl Lechner, Die Babenberger. Markgrafen und Herzoge von Österreich 976-1246, Wien 31985, 63 f. Zu Koloman Meta Bruck-Niederkorn, Der heilige Koloman. Der erste Patron Niederösterreichs, Wien 1992. 12 Dazu Floridus Röhrig, Leopold III., der Heilige. Markgraf von Österreich, Wien-München 1985. 13 Die nach wie vor gründlichste Untersuchung der Geschichte der Stephanskirche und der letztlich erfolgreichen Bemühungen um Kapitel- und Bistumsgründung bietet Viktor Flieder, Stephansdom und Wiener Bistumsgründung. Eine diözesan- und rechtsgeschichtliche Untersuchung, Wien 1968. Die Urkunde von 1137, von der er auf die Stiftung der Stephanspfarre geschlossen hat sowie die Nachrichten über die Weihe 31 ff. und 36 f. Vgl. ferner Ferdinand Opll, Nachrichten aus dem mittelalterlichen Wien. Zeitgenossen berichten, Wien-Köln-Weimar 1995, 18. 14 Mario Schwarz, Kat. Nr. 59: Wien, Pfarrkirche (seit 1469 Dom- und Metropolitankirche) St. Stephan, in: Früh- und Hochmittelalter (Geschichte der bildenden Kunst in Österreich I), hg. von Hermann Fillitz, Wien-München-New York 1998, 283-286, das Zitat 283. 15 Flieder, Stephansdom, 45 ff. 16 Ebd., 50 f. Eine Zusammenfassung der Flieder'schen Forschungen bei Franz Loidl, Geschichte des Erzbistums Wien, Wien-München 1983, 13 f. 17 Zum Kolomansstein vgl. Alphons Lhotsky, Wiens spätmittelalterliches Landesmuseum: Der Dom zu St. Stephan, in: Alphons Lhotsky, Aufsätze und Vorträge, Bd. IV, hg. von Hans Wagner und Heinrich Koller, Wien 1974, 55-73, hier 57 f. 18 1000 Jahre Benediktiner in Melk, Katalog 1989, 161 f. 19 Mario Schwarz, Die Architektur in den Herzogtümern Österreich und Steiermark unter den beiden letzten Babenbergerherzögen, in: Früh- und Hochmittelalter, hg. von Hermann Fillitz, 274-336, hier 280 f. 20 Flieder, Stephanskirche, 56. 21 Georg Wagner, Pläne und Versuche der Erhebung Österreichs zum Königreich (mit fünf Dokumenten), in: Österreich. Von der Staatsidee zum Nationalbewußtsein, hg. von dems., Wien 1982, 394-432. 22 Flieder, Stephanskirche, 51 ff. 23 Opll, Nachrichten, 34. 24 Arthur Saliger, Der Stephansdom zu Wien, Graz 1992, 3 und 6. 25 Flieder, Stephansdom, 53 f. 26 Ebd., 66. 27 Ebd., 137-200. Kurz zusammengefasst bei Loidl, Geschichte, 16 f. Die genannten Vorgänge auch im Katalog Die Zeit der frühen Habsburger. Dome und Klöster 1279-1379, Wiener Neustadt 1979, Schriftleitung Floridus Röhrig und Gottfried Stangler, Wien 1979,369-372, insbes. Kat. Nr. 128 (Bittschrift Rudolfs IV. an Papst Innozenz VI. von 1358 wegen Errichtung einer Kapelle in der Hofburg und deren Ausstattung mit einem Kollegiatkapitel mit 24 Kanonikern), Nr. 132 (zweiter - großer - Stiftbrief Rudolfs IV für das Kollegiatstift zu Allerheiligen an der Pfarrkirche zu St. Stephan, 1365), Nr. 133 (Herzog Rudolf IV. bestiftet 1363 das Gotteshaus zu St. Stephan, das er als seine Grablege erwählt hat). 28 Flieder, Stephansdom, 174 ff, unter Verweis auf mehrere Aufsätze von Nikolaus Grass. 29 Ebd., 177. 30 Ebd., 83 ff.

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Ebd., 86. Ebd., 94 f. Opll, Nachrichten, 130 f: Mit der Anbringung des „chnopff" (Knaufs) auf der Turmspitze wird der Südturm am 10. Oktober 1433 fertiggestellt. Günter Brucher, Kat. Nr. 56, Pfarrkirche St. Stephan (seit 1459 Dom- und Metropolitankirche) in: Gotik (Geschichte der bildenden Kunst in Österreich II), hg. von dems., Wien-München-London-New York 2000, 281-284, hier 282. Ebd., 284. Flieder, Stephansdom, 107. Z.B. Hans Puchsbaum, in: Emil Hofmann, Legenden und Sagen vom Stephansdom, 2. Teil, Wien o. J., 66-96. Hans Puchsbaum soll den Bau des Nordturmes mit Hilfe des Teufels aufgeführt haben. Als er aus diesem Geschäft aussteigen wollte, habe ihn der Teufel getötet und der Nordturm blieb unvollendet. Der Hinweis auf den Vertrag mit Puchsbaum, der übrigens vom Rat der Stadt und vom Kirchenmeister aufgenommen wurde, bei Flieder, Stephansdom, 98. Zur Baugeschichte Saliger, Stephansdom, passim. Ferner Marlene Zykan, Der Stephansdom, Berlin-Hamburg 1981; Richard Perger und Walther Brauneis, Die mittelalterlichen Kirchen und Klöster Wiens, Wien-Hamburg 1977; Reinhard H. Gruber, Die Domkirche St. Stephan zu Wien, Innsbruck 1998; noch immer unentbehrlich Hans Tietze, Geschichte und Beschreibung des St. Stephansdomes in Wien, Wien 1931. Ausführlich bei Flieder, Stephansdom, 214 ff. Loidl, Geschichte, passim. Der Turm im neuen Konzert der Hochhäuser, thematisiert von Walter Zschokke in der Presse, 19.1.2002, Spectrum, IX. - Zwar werden Sichtachsen unter anderem auf dem Stephansdom freigehalten, doch ansonsten verändert sich die Stadttopographie gewaltig. Josef Neuwirth, Das späte Mittelalter, in: Kunstgeschichtliche Charakterbilder aus ÖsterreichUngarn, hg. von Albert Ilg, Wien-Prag-Leipzig 1893, 93-164, hier 97. Zur kunsthistorischen Bedeutung vgl. Lothar Schuhes, Kat. Nr. 130, Sog. Zahnwehhergott, in: Gotik, hg. von Günter Brucher, 375. Jetzt befindet sich das Original im Querschiff links, im Bereich des Nordturm-Erdgeschosses, außen am Dom ist eine Kopie angebracht. Stark gekürzt nach Hofmann, Legenden und Sagen vom Stephansdom, 99-109. Die Halbfigur dürfte um 1420/1430 entstanden sein. Zur kunsthistorischen Einordnung dieses „Hauptwerks der österreichischen Plastik" in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts vgl. Horst Schweigert, Kat. Nr. 72, Dienstbotenmadonna, in: Gotik, hg. v. Günter Brucher, 326 ff. Hofmann, Legenden und Sagen vom Stephansdom, 39-65. Nach einer anderen Deutung kam der Name von der ursprünglichen Situierung der Statue als Andachtsbild am ehemaligen Marienaltar im Frauenchor. Dort wurden die Frühmessen gelesen, die vor allem von Dienstboten besucht waren. Magische Orte. Wiener Sagen und Mythen. Ausstellungskatalog, hg. v. Reingard Witzmann, Wien 2004, 80 f. Ebd., 78. Adalbert Stifter, Wiener Wetter, in: Aus dem alten Wien 1841. Adalbert Stifters ausgewählte Werke in sieben Bänden, hg. v. Rudolf Fürst, Leipzig o.J., 117-135. Joseph Wechsberg, „Der Dom war mein Lehrer". Eine kleine Geschichte des Wiener Stephansdomes, Wien 1982, 8. Die Presse vom 18.12.1999, Spectrum, XII: Der Altar wurde 1447 für das Neukloster in Wiener Neustadt geschaffen und steht seit 1885 im Frauenchor des Stephansdomes. Gestiftet wurde er von Friedrich III. Nach den Untersuchungen von 1999 war der Altar doch ein einheitliches Kunstwerk, nicht zusammengestoppelt, wie man früher annahm. Die Tafeln des Altars seien eine visualisierte Allerheiligenlitanei. Die Gesamtzahl der Heiligen beträgt 72, darunter Morandus und Leodegar - sie galten als habsburgische Hausheilige. Dazu heilige Herrscher usw. Die Allerheiligenlitanei wurde von Friedrich III. sehr geschätzt. Abgedruckt in: Johann Weissensteiner, Quellen zur Geschichte der Reliquienschatzkammer

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des Wiener Stephansdomes, in: Arthur Saliger, Dom und Diözesanmuseum Wien, Wien 1987, XIV-XXI, hier XVI ff. („Hec sunt Reliquie Sancti Stephani Vienne date et collecte per serenissimum principem dominum Rudolfum, ducem Austrie, Stirie, Karinthie ac Carniole, comitem Tirolensem etc.") Nachzulesen bei Gruber, Die Domkirche St. Stephan, 72 f. Ebd., 92. Alphons Lhotsky, Wiens spätmittelalterliches Landesmuseum: Der Dom zu St. Stephan, 57. Die Belege für das Folgende hier. Eine ausführliche Würdigung von bei Saliger, Dom- und Diözesanmuseum, Kat. Nr. 2, 3 - 9 . Robert Waissenberger, Schausammlung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1984, 40 ff, Kat. Nr. 1/77. Vgl. ferner Hans Peter Zelfel, Ableben und Begräbnis Friedrichs III., Wien 1974. Ebd., 31 ff., Kat. Nr. 1/49. Ebd., 27 ff., Kat. Nr. 1/43. Gottfried Mraz, Prinz Eugen. Ein Leben in Bildern und Dokumenten, München 1985, 2 3 0 234. Karl Michael Kisler, Prinz Eugens Herz ist in Wien geblieben, in: Kalender für Blindenfreunde des Österreichischen Blindenverbandes 1990. Bei Renovierungsarbeiten in der Kreuzkapelle wurde der Gruftdeckel zur Gruft Eugens abgehoben. Dabei fand man nicht nur drei Särge, sondern auch eine Urne mit dem Herzen des edlen Ritters (es sollte eigentlich in Turin sein!). Renate Kohn, Der Wiener Stephansdom als „österreichisches Pantheon". Ein sensationeller Handschriftenfund im Oberösterreichischen Landesmuseum, in: Wiener Geschichtsblätter 56 (2001), 347-355. Das Original im Wien-Museum, am Dom selbst nur mehr eine Kopie, vgl. Waissenberger, Schausammlung, 33, Kat. Nr. 1/54. Zu Neidhart vgl. Erhard Jost, Zwei Wiener Schwankhelden aus dem Spätmittelalter, in: Wiener Geschichtsblätter 41 (1986), 101-114. Zum Neidhartsgrab vgl. Hedy Grolig, Zwei Sänger und ein Grab zu St. Stephan, in: Die Presse, 16.4.2002,24: Untersuchungen des Anthropologen Karl Großschmidt (Institut für Histologie der Universität Wien) ergaben, dass im Grab die Überreste von zwei Männerskeletten enthalten waren. Das eine stammt aus der Zeit zwischen 1340 und 1400 und ist einem Mann von etwa 35 bis 40 Jahren zuzuordnen, das andere einem Mann von 45 bis 55 Jahren, aus der Zeit zwischen 1100 und 1260. Das letztere könnte Neidhart von Reuental zugeordnet werden, das erstere Neidhart Fuchs, dem Spaßmacher am Hofe Ottos des Fröhlichen (1301-1339). Die gemeinsame Bestattung könnte auf Rudolf IV. zurückzuführen sein. Im Jänner 2002 wurden die Gebeine wieder bestattet, im April 2002 wurde das restaurierte Neidhartsgrab wieder enthüllt. Neidhart Fuchs war übrigens Hausbesitzer in Wien, Petersplatz 11. Ilse E. Friesen, Die Humanisten-Epitaphien im Dom zu St. Stephan, in: Wiener Geschichtsblätter 44 (1989), 53-77. Friesen, Humanisten-Epitaphien. In einer eindringlichen Analyse verneinte Arthur Saliger diese Identität. Er datiert die Kanzel zeitlich eher um 1470/80 und in den Umkreis des Niklas Gerhaert van Leyden, der ja in Wien am Friedrichsgrab gewirkt hat. So kann der „Fenstergucker" keinesfalls Anton Pilgram sein. Vgl. Arthur Saliger, Zur Frage der künstlerischen Autorschaft der Kanzel im Stephansdom in Wien, in: Wiener Geschichtsblätter 47 (1992), 181-197. Adalbert Stifter, Aus dem alten Wien. Ein Gang durch die Katakomben, in: Adalbert Stifters ausgewählte Werke in sieben Bänden, hg. v. Rudolf Fürst, 7. Bd., Leipzig o. J., 4 - 2 0 . Isabella Marboe, Geheimnisvoller Steffi, in: Furche, 12.4.2001, 17. Viktor Flieder und Franz Loidl, Stephansdom. Zerstörung und Wiederaufbau. Chronik und Dokumentation, Wien 1978, 2. aktualisierte Aufl. unter dem Titel 1945 - Chronologie einer Zerstörung - Der Dom zu St. Stephan, Wien 2000, 7 5 - 7 8 . Robert Waissenberger, Schausammlung. Lhotsky, Wiens spätmittelalterliches Landesmuseum: Der Dom zu St. Stephan, 72. Waissenberger, Schausammlung, Kat. Nr. 2/61 ff.

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Saliger, Dom- und Diözesanmuseum, 288 ff., Kat. Nr. 276. Flieder und Loidl, 1945 - Chronologie einer Zerstörung, 45. Gruber, Die Domkirche St. Stephan, 23. Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war, hg. von Wolfgang Kos und Christian Rapp, Wien 2004. Ebd., 382, Kat. Nr. 5.1.23 (Aquarell von Emil Hütter, 1875). Diesen Blick gab es erst wieder 1945, als die Häuser auf dem Stephansplatz, gegenüber den Heidentürmen, ausgebrannt waren. Renata Kassal-Mikula, Alt-Wien unter dem Demolierungskrampen, in: ebd., 4 6 - 6 1 , hier 47: Abbildung der Abbrucharbeiten zwischen Graben und Stock-im-Eisen-Platz. Der Blick auf den Stephansturm ist immer noch durch das Lazansky-Haus verstellt. Zu dessen Abtragung 53. Josef Engelhart, Ein Wiener Maler erzählt. Mein Leben und meine Modelle, Wien 1943,101. Elke Doppler, Die Jäger der verlorenen Schätze. Wiener Vedutenmalerei von 1870 bis 1910, in: Alt-Wien, hg. von Wolfgang Kos und Christian Rapp, 123-133, hier 133. Waissenberger, Schausammlung, 211, Kat. Nr. 3/41. Catherine Tessmar, Kistenweise Romantik. Kasimir und die Popularisierung des Wien-Bildes, in: Alt-Wien, hg. von Wolfgang Kos und Christian Rapp, 250-257. Der Stefansturm, vom Graben aus gesehen (252) und als Fotografie (253); zum Bezug Kasimir - Rudolf v. Alt 254. Flieder und Loidl, 1945 - Chronologie einer Zerstörung, 142, Abb. 8. Nach einer Aufzeichnung von einem Teilnehmer des Festes, abgedruckt in: ebd., 120 f. Hermann Lein, Als Innitzergardist in den Konzentrationslagern Dachau und Mauthausen, Wien 1997. Lein war gar nicht am Stephansplatz gewesen. Er fuhr erst am nächsten Tag mit dem Rad dorthin, um zu sehen, was los war. Dort sah er die Zerstörungen am Erzbischöflichen Palais und rief aus plötzlichem Ärger: „Heil Innitzer!" Das genügte, rasch wurde er verhaftet und nach längerer Polizeihaft nach Dachau und schließlich nach Mauthausen verbracht. Zwei Turmwächter, Raimund Suchy und Leopold Meister, kehrten gegen den Befehl von Stockerau aus mit einigen anderen Feuerwehrleuten nach Wien zurück und bezogen wieder Posten auf dem „Steffi". In der Folge leisteten sie entscheidende Hilfe bei der Bekämpfung der zahlreichen Brandquellen, bis auch sie schließlich kapitulieren mussten. Der eindringliche Bericht Meisters abgedruckt in: Flieder und Loidl, 1945 - Chronologie einer Zerstörung, 101-113. Der deutsche Artillerie-Hauptmann Gerhard Klinkicht hatte den Befehl erhalten, von Floridsdorf aus den Turm zusammenzuschießen, doch ließ er gezielt daneben schießen. Er ist zweifellos ein Retter des Stephansturmes (Flieder und Loidl, 1945 - Chronologie einer Zerstörung, 34). Jörg Mauthe, Als der Dom in Flammen stand... Die Wahrheit über den Brand von St. Stephan von Dr. Jörg Mauthe, in: Der Dom zu St. Stephan. Festschrift zur Wiedereröffnung des albertinischen Chors A.D.1952, Wien o.J., 15 f. Flieder und Loidl, 1945 - Chronologie einer Zerstörung, 51 f. Peter Urbanitsch, Heilige Orte und Herrschaft, in: 996 - 1996. ostarnchi - Österreich. Katalog der österreichischen Länderausstellung, hg. von Ernst Bruckmüller und Peter Urbanitsch, Horn 1996, 245 ff, Kat. Nr. 10.1.27. Vgl. Adam Wandruszka, St. Stephan, das Nationalheiligtum Österreichs. In: Der Dom zu St. Stephan in Wien, 19 ff. Ebd., 21. Urbanitsch, Heilige Orte, Kat. Nr. 10.1.25 und 10.1.26, 262 f. Dolores M. Bauer, Wie es die Heuchler tun, in: Die Presse, 3.4.2004, Spectrum, II. St. Stephan: Ein Biotop inmitten der Großstadt, in: Presse, 19.4.1997, Wien-Journal, 13: Ein Verweis auf „St. Stephan - Der lebende Dom", eine Universum-Dokumentation des ORF von Georg Riha. Egyd Gstättner, Schreckliches Kind, Wien 1998. Wolfgang Freitag, Der Sieg über die Schwere, in: Die Presse, 17.11.2001, Spectrum, VII, ein Artikel über den Dokumentationsband Zünd-Up. Dokumentation eines Architekturexperiments an der Wende der sechziger Jahre, hg. von Martina Kandeler-Fritsch, Wien 2001, mit dem Foto: „St. Stephens Countdown II", 1969, eine „Zünd-Up"-Collage.

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„Wien hebt ab", Profil-Titelblatt vom 10.2.1992. Kathpress, 29.6.2001: Vor 200 Jahren gab es weniger Sonntagsmessbesucher. „In der Zeit von Spätjosephinismus und napoleonischen Kriegen waren Wiens Kirchen leerer als heute." Franz Grillparzer, Selbstbiographie, hg. von Arno Dusini, Salzburg-Wien 1994, 17: „Meine kirchliche Richtung war übrigens nicht im mindesten religiös. Mein Vater war in der josephinischen Periode aufgewachsen und mochte nicht viel auf Andachtsübungen halten. Die Mutter gieng alle Sonntage in die Messe, mit dem Bedienten, der ihr das Gebethbuch nachtrug; wir Kinder kamen nie in die Kirche."

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Die Wiener Ringstraße Zwei Pole, zwei Muster der österreichischen Kultur

Gegenreformatorisches Barock und etatistische Aufklärung schufen zwei Pole, die einen Spannungsbogen in der österreichischen Kultur aufbauten.' Der eine Pol ist eine ästhetische, religiöse, plastische Kultur, getragen von Sinnlichkeit und Anmut, der Linie der Schönheit und Gnade folgend, theologisch philosophisch auf der Analogia entis aufbauend; Kristallisationspunkte für diese Kultur des schönen Scheins waren das Theater, die Musik, die Oper, die barocke Architektur; ihr Zentrum war die große Messe, Drama und Theater zugleich, und wie im Theater der Messe hat auch im Theater der Welt jeder seinen von Gott zugewiesenen Platz, der Fürst wie der Bettler. Michael P. Steinberg hat in seinem Buch „Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele" die neobarocke Ideologie der Festspiele als Versuch interpretiert, die Darstellung von Gottes Welttheater in allen Kunstsparten nachzubilden. 2 Österreich repräsentierte dabei die göttliche Ordnung und bezog daraus seine kulturelle Mission, von der damals immer wieder die Rede war. Drei Prinzipien trugen diese Mission: Theatralik, Repräsentation, Totalität. Der andere Pol der österreichischen Kultur war die Aufklärung, eine rationale Kultur der Gesetze und Worte, moralisch, wissenschaftlich, klar, elitär. Kristallisationspunkte für diese Kultur der Askese waren Wissenschaft, Universität, Gesetz, aber auch die (häufig missbrauchte) Streitkultur des Parlaments. In der Aufklärung wurde dann die Vision der Bürgergesellschaft geboren, die Utopie der selbstständigen, freien und rechtlich gleichen Bürger, durch Besitz und Bildung ausgezeichnet, am freien Markt konkurrierend, leistungsorientiert und politisch handlungsfähig, das vernünftige Gemeinwohl durch rechtlich gezähmte und gewaltfreie Konflikte und durch eine rationale Diskussion ermittelnd. In Österreich freilich war diese Aufklärung an den Josephinismus gebunden, an die Revolution von oben, an starke Traditionen des Etatismus und Zentralismus. Doch die Vision der Bürgergesellschaft befeuerte den Liberalismus und die Aufklärung gab ihre Botschaft weiter, über den Liberalismus an die Sozialdemokratie. Die säkularisierte Aufklärung in der Sozialdemokratie hatte dann freilich verdeckt, dass bereits im 18. Jahrhundert der Typus der katholi-

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sehen Aufklärung existierte, der allerdings in der Epoche des Ultramontanismus auch in der katholischen Kirche selbst verdrängt wurde. Diese katholische Aufklärung wurde von vier Prinzipien gelenkt: Die Religion muss nicht magisch sein, sie kann „vernünftig" entworfen werden; Toleranz gegenüber anderen Religionen; eine enge Bindung von Kirche und Staat; das Programm der Volksaufklärung. 3 Ich verstehe hier „Barock" und „Aufklärung" als zwei Pole, zwei Modelle, zwei Idealtypen der österreichischen Kultur, wobei nicht immer eine bewusste, direkte Traditionsbildung wirksam sein muss. Der wegweisende Aufsatz von Carl E. Schorske über die zwei österreichischen Kulturen interpretiert die liberale Kultur der Ringstraße als „changing interplay" zwischen den beiden. 4 In der Architektur der Ringstraße vereinigten die Liberalen die ästhetisch theatralische mit der rationalen Kultur, verbargen gleichzeitig jedoch ihre vitalen ökonomischen Interessen hinter den historistischen Verkleidungen. In dieser Form wurde die Ringstraße zum Erinnerungsort für den österreichischen Liberalismus. „Dank ihrer stilistischen Gleichartigkeit und ihrem Umfang ist die Wiener Ringstraße für die Österreicher zu einem Begriff geworden, der ihnen die Merkmale einer Epoche in die Erinnerung zu rufen vermag wie das Victorianische für die Engländer, die Gründerzeit für die Deutschen oder das ,Second Empire' für die Franzosen." 5

Ein Gesamtkunstwerk als Ausdruck der großen Kompromisse Die nachliberale Generation hatte die Ringstraße als verlogen, ornamental, als Potemkinsches Dorf denunziert. Otto Wagner, der seine Karriere als Bodenspekulant und Architekt des Ringstraßenstils begonnen hatte, urteilte später: Den historistischen Künstlern habe es gefallen, „mit Lupe und Lanzetten Todte zu seciren, statt den Lebenden an den Puls zu greifen und ihre Schmerzen zu lindern"; diese Künstler haben vergessen, „daß die Menschen, welche die Gebäude frequentieren, alle gleich modern sind, und es weder Sitte ist, mit nackten Beinen im antiken Triumphwagen am Parlament vorzufahren, noch mit geschlizten Wamse sich der Kirche oder einem Rathaus zu nähern". 6 Der Funktionalismus eines Adolf Loos verstärkte diese Kritik in ethischer Hinsicht noch: der Ringstraßenstil als ästhetische Behübschung eines korrupten Regimes. 7 Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts setzte eine positive Bewertung des Historismus ein. Man sah eine Einheit, die aus der Vielfalt entsprang; man akzeptierte die Vision des liberalen Historismus, die, wie Gottfried Semper sagte, von einem historisch aufgeklärten Bewusstsein inspiriert war und mit jedem Gebäude das Erinnerungsbild einer bestimmten geglückten Baulösung verband. Die Gotik beispielsweise war für diese Generation ein Erinnerungsort, den sie mit den mittelalterlichen Kathedralen verknüpfte; man entdeckte hinter dem Vergangenheitsbezug auch die Zukunftsperspektive; das im antiken Stil gebau-

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te Parlament evozierte auch die Utopie der freien Bürgergesellschaft der Zukunft; man bemerkte einen Gestaltungswillen, der bis zur einzelnen Türklinke reichte und sehr wohl die Möglichkeiten der industriellen Fertigkeiten des Kunsthandwerkes nützte; man bewertete mehr das Gesamtkunstwerk, die Totalität der ganzen Ringstraße, als einzelne herausgelöste Gebäude; man sichtete das Monumentale als Erinnerung, als „kommemoratives Verewigen" (Gottfried Semper), 8 anders gesagt: Die Liberalen nützten die historischen Erinnerungsorte für gegenwärtige Bauaufgaben. Gesellschaftsgeschichtlich verkörperte die Ringstraße einen großen Kompromiss, der den Kern der liberalen Ära ausmachte: den Kompromiss von Barock und Aufklärung, von Monarchie und Demokratie im liberalen Konstitutionalismus, von Adel und Bürgertum, von Geld und Geist, von Christen und assimilierten Juden. Ausgeschlossen von diesem Kompromiss waren das Kleinbürgertum, das später den Gürtel dominierte, die Massen der Bauern und das Proletariat, die Frauen und die nichtdeutschen Nationen der westlichen Reichshälfte. Die Ringstraße war Ausdruck der deutsch-österreichischen Priorität in Wien und im Kaisertum. Zwar gab es Ansätze, die ganze Monarchie zu repräsentieren. Die Votivkirche, nach der Rettung Kaiser Franz Josephs vor einem Attentat erbaut, sollte zu einem Reichsheiligtum ausgebaut werden, als Pantheon österreichischer Heroen. Das scheiterte. Nur die Wappen und Landespatrone aller Kronländer erinnern noch daran. Aus der „Ruhmeshalle der Geschichte Österreichs", aus dem „Denkmal des Patriotismus und der Anhänglichkeit der Völker Österreichs ans Kaiserhaus" wurde in der Folge des Nationalitätenhaders nichts; 9 das 12. Kirchenfenster mit der Todesstiege des KZ Mauthausen spricht eher die österreichische Schande an, den Ort, wo viele aus den Völkern der ehemaligen Monarchie getötet und in der NS-Ära der tiefsten Demütigung ausgesetzt wurden.' 0 Als am 4. Dezember 1883 das Parlament eröffnet wurde, ohne jede Feier, musste der Erzliberale Eduard Sueß feststellen, dass dem Haus voller antiker Symbole ein Reichsadler fehlte." Das kunsthistorische Hofmuseum wiederum sollte zwar die große Barockepoche Österreichs erneuern, wie der Kunsthistoriker Albert Ilg hoffte, und die Sammlungen symbolisierten den multinationalen Charakter der Casa d' Austria, griffen nach Oberdeutschland, Italien, Spanien und den beiden Niederlanden aus, hatten aber kaum ungarische und slawische Kunstwerke; lediglich das Maria-Theresia-Denkmal zwischen den beiden Museen, nach dem Programm des liberalen Historikers Alfred von Arneth entworfen, zeigte die Kaiserin inmitten ihrer Ratgeber, darunter den Ungarn Nadasdy und den Kroaten Grassalkovich. 12 Die zentralistischen Deutschliberalen verfehlten auf der Ringstraße eine österreichische Gesamtdarstellung.

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Neobarock und liberale Aufklärung Die barocke Theatralik fand ihren Ort in der Hofoper, dem Hofburgtheater und dem Ringtheater (Komische Oper) am Schottenring, das 1881 abbrannte und 386 Menschen das Leben kostete; eine Katastrophe, die dem liberalen Fortschrittsoptimismus nach der ökonomischen Krise nochmals die Spitze nahm, den liberalen Bürgermeister Julius Newald auf die Anklagebank brachte und ihren Widerhall in der Paniktheorie Elias Canettis fand. 13 Auch die Fertigstellung der Hofoper ( 1869) war von der Tragik des Selbstmordes Eduard van der Nülls umschattet, neben August Sicard von Sicardsburg der zweite leitende Architekt. Die heftige öffentliche und private Kritik an der Hofoper bezog sich auf die unklare Formensprache des romantischen Stilkonzertes, das Gotik und Renaissance mischte. Der Volksmund spottete eher milde: Der Siccardsburg und van der Nüll, die haben beide keinen Styl, ob Gotik oder Renaissance, das ist ihnen alles ans.14 Kaiser und Hof (Hoffestlogensalon und Kaiserstiege), Aristokratie und Bildungsbürgertum verbanden sich im Genuss der ästhetischen Kultur und in den verschiedenen Nuancen der Repräsentation. Mit der Direktion Gustav Mahlers (1897-1907) wurden symbolisch auch die Juden eingeschlossen, freilich um den Preis der Konversion. 1908 begann die Fremdenverkehrswerbung das kulturelle Kapital „Musik" zu nützen und Wien als „Musikstadt par Excellence" zu vermarkten, ein Konzept, das als Fremd- und Selbstbild bis zur Gegenwart äußerst erfolgreich wirkte und die österreichische Identität stützte.15 Der Opernball, der Höhepunkt des Wiener Faschings für die Oberschicht, wurde 1935 zum ersten Mal gefeiert, zu einem Zeitpunkt, da der Autoritäre Ständestaat versuchte, die österreichische Besonderheit gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland zu betonen. Tatsächlich jedoch nützten alle politischen Regime die Oper als Ort ihrer Repräsentation und Selbstdarstellung: die Monarchie, die sozialdemokratisch geführte Regierung der „österreichischen Revolution", der „Ständestaat", die NS-Herrschaft und dann wiederum die Zweite Republik. Die jeweilige kulturelle Neucodierung konnte aber die Spuren der älteren Erinnerungsschichten nie ganz löschen. Als am 5. November 1955 die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Staatsoper wieder eröffnet wurde, im Rausch der österreichischen Freiheit und Wiedergeburt mit Beethovens „Fidelio", dirigierte Karl Böhm, der Direktor der Oper von 1943-1945, spielten die Philharmoniker als Staatsopernensemble, das bis 1945 stark nationalsozialistisch durchsetzt war, bemalte der ehemalige Nationalsozialist Rudolf Eisenmenger den eisernen Vorhang.16

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Mehr als die Musik, die tendenziell einen übernationalen Charakter trug, war die deutsche Sprache mit der deutschen „Kulturnation" verknüpft. Das Burgtheater sah sich als „bedeutendste Sprechbühne des deutschen Sprachraumes" (so noch im Historischen Lexikon Wien von 1992). Eröffnet wurde der neobarocke Bau von Gottfried Semper und Carl von Hasenauer 1888 mit Grillparzer und Schiller. Die Kolossalbüsten oberhalb der Fenster programmierten einen dreifachen Kunstkreis: die deutsch-österreichische Literatur, die deutsche Klassik, die (westliche) Weltliteratur. 17 Das Burgtheater mit seinem Starkult erwies sich bis in die 1950er-Jahre als entscheidender Initiationsort für die Einführung der Jugend in die ästhetische Bildung; ein heiliger Ort der Kunstreligion für das Bildungsbürgertum, welches den Wert der ästhetischen Bildung von der Aristokratie übernommen hatte. Diese bildungsbürgerliche Kunstreligion schrieb in einem Palais in der Ringstraßenzone die allegorische Figur der Poesie auf einem steinernen Papierblatt mit den Versen fest: „Fliehet aus dem dumpfen Leben / In das Ideale Reich". 18 Die Ernennung der Direktoren von „Oper" und „Burg" war in Wien immer eine große Staatsaktion. 1988 wurde von der Burgtheater-Direktion selbst eine Staatsaktion inszeniert. Drei Erinnerungsschichten konnten dabei angesprochen werden: Hundert Jahre Burgtheater am Ring (1888), der Heldenplatz und der „Anschluss" (1938), der „schwarze Österreichmythos", der seit der WaldheimAffäre (1986/87) den intellektuellen Diskurs zu beherrschen begonnen hatte. Zwei Meister der öffentlichen Erregung, der „Piefke" Claus Peymann als Direktor und Regisseur und der Dichter Thomas Bernhard, inszenierten ein Staatsspektakel, das ganz Österreich zur Bühne machte, jenes Österreich, das als „geist- und kulturlose Kloake, die in ganz Europa ihren penetranten Gestank verbreitet", den Zuschauern und Mitspielern vorgeführt wurde. 19 Thomas Bernhard denunzierte das republikanische Österreich, hielt aber an einer durch sein ganzes Werk verfolgbaren heimlichen Zuneigung für das aristokratische Österreich fest. Damit stand er doch wieder in der Tradition der Ringstraßenära. Denn das feudale, adelige, barocke Repräsentationsbedürfnis wurde auf das Bürgertum übertragen. Auf der Ringstraße kann man in den öffentlichen Bauten noch den Nachhall der Barockresidenz erkennen, als sich die liberale Elite aus dem feudalen Stadtkern auskristallisierte. 20 Das Ringstraßenpalais und das Nobelmiethaus bezogen sich direkt auf den barocken Adelspalast; 21 erkennbar an der strengen Trennung der Herrschaftsräume von den Dienstbotenräumen, der Herrschaftsstiege von der Dienstbotenstiege, an der zentralen Anordnung des Festsaales oder des Salons, an der Freude am Ornament. Die aufgeklärte Vision der Bürgergesellschaft sollte sich im geplanten Bürgerforum im Gegensatz zum geplanten Kaiserforum durchsetzen. Beide architektonischen Konzepte scheiterten. Aber es blieb das öffentliche Raumbild des liberalen, freiheitlichen Bürgertums nach 1866. Nebeneinander gereiht prägten Universität, Rathaus, Parlament, Justizpalast die Ringstraße: als Ausdruck des bürgerlich-liberalen Selbstbewusstseins, als Zitadellen des rationalen Geis-

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tes und des bürgerlichen Gesetzes. Ihre Vertreter waren die Rechtsanwälte und Gelehrten, welche in der neuen liberalen Elite den Ton angaben und politisch ein vernünftiges Mittelmaß anstrebten.

Luftbild der Wiener Ringstraße, Abschnitt Parlament - Votivkirche

Die liberale Aufklärung musste sich gegen das Militär erst durchsetzen, das die Revolution von 1848 besiegt hatte und mit Bürokratie und Kirche die Stützen des Neoabsolutismus bildete, jenes „Säbel- und Kuttenregimes", 22 wie es aus liberaler Sicht von der „Neuen Freien Presse" genannt wurde. Erst spät war das Militär bereit, den Exerzier- und Paradeplatz aufzugeben, wo dann Universität, Rathaus und Parlament errichtet wurden. Die im Stil der Renaissance gebaute Universität von Heinrich Ferstel (1884), dem anpassungsfähigen revolutionären Studenten von 1848, feierte mit dem Erinnerungsort Renaissance den Sieg des Individualismus und der Wissenschaft über den religiösen Aberglauben, stellte den gegenwärtigen Fortschritt der Wissenschaft als „Leuchte des Jahrhunderts" ins Zentrum. Dieser Tempel der Wissenschaft wurde gleichzeitig in einen deutschnationalen Kontext gestellt, nämlich als „geistige Wiedervereinigung Deutschösterreichs mit Deutschland nach jahrhunderterlanger Trennung". 23 Und die neue revolutionäre Gesinnung der antisemitisch völkischen Studenten wird das Programm der Aufklärung sofort konterkarieren. Die Geschichte der Universität wird seit den 1880er-Jahren vom Kampf zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung bestimmt. Doch noch diffiziler begann sich die Dialektik der Aufklärung selbst zu entfalten. Der Streit um die Klimt-Gemälde in der Universität, wobei Nietzsche gegen Kant aufstand, die Kultur der Gefüh-

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le und Instinkte gegen die Kultur der nüchternen Rationalität, war nur das ästhetische Vorspiel.24 Zunehmend begann die Wissenschaft selbst, die destruktiven Tendenzen des Fortschritts der instrumentellen Vernunft zu entwickeln: in der Eugenik und Rassenhygiene, in der Bevölkerungswissenschaft und Raumforschung. 25 Diese Dialektik der Aufklärung, die sich nach rechts und links ausbreitete, hat der österreichisch-amerikanische Schriftsteller Felix Pollak, nach Holocaust und Gulag, in skeptische Verse gesetzt: 26 Er glaubt noch immer alle Menschen seien Brüder unter der Haut aber er weiß auch daß sie einander stets bei lebendigem Leib die Haut abziehen werden auf daß sie Brüder seien. Die liberale Ära war noch uneingeschränkt optimistisch, auf den Fortschritt ausgerichtet. Der Baumeister des Rathauses Friedrich Schmidt wollte in dem neogotischen Gebäude (1883), das die Freiheit des Stadtbürgertums zitierte, den „Geist der Neuzeit" ausdrücken. 27 Vorangegangen war ein langer Streit um die Situierung, bei dem Bürgermeister Cajetan Felder, „der alte kritische und gelehrte Josephiner" (Reinhold Lorenz), sich durchsetzte. Das Rathaus fand seinen Platz im liberal-bürgerlichen Ensemble zwischen Universität und Parlament. Die allegorischen Figuren, die auf der Rückseite die Verkörperung der Vindobona umgeben, rufen bürgerliche Tugenden auf: Gerechtigkeit, Stärke, Kunst, Wissenschaft auf der rechten, Weisheit, Treue, Erziehung und Wohltätigkeit auf der linken Seite.28 Die Eröffnung des Rathauses 1883 feierte ein liberales Bürgertum, das seine Herrschaft auf der Staatsebene bereits verloren hatte, auf der Gemeindeebene aber von den vereinigten Antisemiten bedroht war. Die gleichzeitig erinnerte Türkenbefreiungsfeier (die Erinnerung an 1683) verlief zweispurig. Dynastie und Kirche errichteten im Stephansdom ein Türkenbefreiungsdenkmal in Form eines Barockaltars - Kaiser und Papst verehren die siegverleihende Gottesmutter; das liberale Wiener Bürgertum erbaute gegenüber der neuen Universität das Denkmal des Bürgermeisters der Türkenzeit Johann Andreas von Liebenberg - die heidnische Göttin Victoria verleiht ihm den Sieg.29 Eineinhalb Jahrzehnte später wird in Wien die liberale von der christlichsozialen Herrschaft abgelöst. Die Krise des Liberalismus löste Gegenkräfte bei den „bodenständigen" Modernisierungsverlierern aus, die durch den charis-

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matischen Populisten Dr. Karl Lueger, der als Demokrat aus dem linken liberalen Spektrum kam, zu einer Koalition geschmiedet wurden: das antiliberale Bündnis von politischem Katholizismus, Mittel- und Kleinbürgertum und Antisemitismus. Für die Ringstraßengesellschaft war dies die Besetzung des Rathauses durch den Feind. Von hier aus lenkte Lueger die munizipale Revolution, die Verbindung von technischem Fortschritt mit einem ästhetischen Konservatismus, die Allianz von Archaik und Modernität (John W. Boyer), jenes große Programm der Kommunalisierung, das gleichzeitig auch ein Durchdringen aller Zellen der Stadt mit christlichsozialen Parteigängern war.30

Allegorien der Stärke (links) und der Gerechtigkeit (rechts). Statuen auf dem Wiener Rathaus

Etwas mehr als zwei Jahrzehnte später, in der österreichischen Revolution 1918/19, wurde das Rathaus zur Burg des „roten Wien". Die Vision des Sozialismus, getragen von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, löste die Vision der liberalen Bürgergesellschaft und die Vision der christlichen Volksgemeinschaft ab, die nun als Vision der Privilegierten verworfen wurden. Das Rathaus wurde zum Bollwerk der stärksten Sozialdemokratie in Europa. Die Christlichsozialen hatten die Botschaft der Aufklärung negiert, die Sozialdemokraten griffen sie verwandelt wieder auf: als Auftrag zur Schaffung des „neuen Menschen", der freilich erst im Reiche des Sozialismus seine volle Befreiung erleben wird. Ein Spätaufklärer wie Karl R. Popper allerdings kritisierte nach

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1945 den Austromarxismus seiner Jugend wegen dessen totalitären Tendenzen, wegen dessen ambivalenter Einstellung zur Demokratie und Gewalt. 31 Denn eines hatten die Sozialdemokraten von den Christlichsozialen gelernt: die parteimäßige Durchdringung aller Lebensbereiche. Von 1919 bis zur Gegenwart mit Unterbrechung der Jahre 1934 bis 1945 - regierte die Sozialdemokratie in Wien, manchmal versteinert, manchmal reformbereiter. Erhöht steht das Parlament als Herz der Demokratie gegenüber dem Ballhausplatz und der Hofburg. Zwar schafften die Liberalen nur eine konstitutionelle, keine parlamentarische Monarchie. Im Dreiecksgiebel über dem Portikus stellte Edmund Hellmer eine Szene dar, wie Kaiser Franz Joseph in römischer Toga freiwillig die Verfassung an die Völker der 17 österreichischen Kronländer verleiht. 32 Theophil Hansen erinnerte mit dem Reichsratsgebäude (Abgeordneten- und Herrenhaus) im hellenistischen Stil an die Antike als Quelle der abendländischen Demokratie. Die Liberalen konnten an keine eigenständige österreichische Tradition anknüpfen, so wählten sie die vieldeutige Antike mit zahllosen Zitaten als Statuen. Das zentrale Symbol Pallas Athene, die Göttin der Weisheit vor dem Haus, schloss auch die Botschaft der Aufklärung mit ein: Wissen macht frei. 33 Wie vieldeutig diese Botschaft jedoch sein konnte, belegte Reinhold Lorenz mit seiner politischen Geschichte der Wiener Ringstraße 1943: Angesichts des Parlaments - in diesen Jahren Gauhaus der NSDAP - zitierte er einen Ausspruch Adolf Hitlers: dieses „hellenische Wunderwerk auf deutschem Boden". 34 Theophil Hansen selbst blieb bei seiner Rhetorik im Rahmen einer liberalen Ideologie. Er baute ein Haus, „wo die Satzungen beraten und beschlossen werden, welche das Wohl des Landes bezwecken". 35 Das Parlament war als Marktplatz der politischen Öffentlichkeit konzipiert, wo Ideen und Interessen ausgetauscht und einander angeglichen werden, wo durch eine rationale Diskussion ein vernünftiger Kompromiss gefunden werden sollte, um dem Gemeinwohl am besten zu dienen. Tatsächlich wurde das Parlament zum Schlachtfeld der Ethnonationalismen, wo große Inszenierungen die eigene nationale Klientel begeistern sollten, wo durch Nichtbeschickung, Obstruktion, Schreiduelle und Rauferei eine Politik der Gefühle die Politik des rationalen Aushandelns von Konflikten ersetzte. Die Regierung nützte immer öfter das Notverordnungsrecht (Paragraph 14), um ohne Parlament zu regieren.36 Von oben und unten diskreditiert, galt das Parlament häufig als „Quatschbude", mit der Entstehung der Massenparteien als Spielfeld bloßer Parteiinteressen, das ein volkstümlicher Ausspruch so charakterisierte: „Wenn die Fetzen (die Fahnen) draußen hängen, fliegen die Fetzen im Inneren." 37 Dennoch: Das Getöse im Parlament darf nicht verdecken, dass im Reichsrat wesentliche Weichenstellungen gelungen sind, dass Tausende von Gesetzen verabschiedet, dass zeitweise Debatten auf einem hohen intellektuellen Niveau geführt wurden. 38 Das gilt für den Reichsrat der Monarchie wie für den Nationalrat der Ersten und Zweiten Republik. Das Parlament gewann an Gewicht, wenn kleine Koalitionen und demokratische Einparteienregierungen herrschten, es verlor dieses

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Gewicht in der Regierungsdiktatur des Autoritären Ständestaates und in den großen Koalitionen der Zweiten Republik, in denen durch Proporz und Sozialpartnerschaft die Entscheidungen weitgehend außerhalb des Parlaments getroffen wurden. Zu den liberalen Grundprinzipien gehörte die Trennung von Exekutive, Legislative und Justiz. Durch den Schmerlingplatz vom Parlament getrennt - in Erinnerung an Anton von Schmerling, einen sehr typischen Beamten, liberalen Politiker und Höchstrichter, der wie selten einer den großen Kompromiss von Monarchie und einer vorsichtigen, gemäßigten liberalen Demokratie in seiner Karriere zu verwirklichen suchte - ist der Justizpalast situiert. 1881 von Alexander Wielemans im Stil der deutschen Renaissance erbaut, war er in der Monarchie für den Obersten Gerichtshof und andere Justizeinrichtungen gedacht. 39 Doch zum Erinnerungsort wurde der Justizpalast erst am 15. Juli 1927 durch die „Frucht des Feuers" (Elias Canetti). Das Fehlurteil eines Geschworenengerichtes in einem politischen Prozess, ein mehr als scharfer Artikel in der sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung", der Vorwurf der Klassenjustiz, das alles in einer latenten Bürgerkriegssituation, heizte die Empörung der sozialdemokratischen Anhänger an. Die Demonstration auf der Ringstraße geriet außer Kontrolle, der Zorn richtete sich gegen den Justizpalast als Symbol dieser „Klassenjustiz". Er wurde von der wütenden Masse angezündet. Die Polizei erhielt von der Regierung den Schießbefehl. 90 Tote.40 Der Erinnerungsort Justizpalast lebt zum Teil auch von der Zerstörung der Erinnerung. Denn es verbrannte auch ein Teil des Wiener Grundbuches. Noch heute bekommt man Aktenstücke im Wiener Stadt- und Landesarchiv in die Hand, die bei der Berührung zu Asche zerfallen. Doch die tiefste Erinnerungsschicht berührt den Zusammenhang von Masse und Feuer. Für die Staatsbürokratie, für die Bürger und Bauern war der Brand des Justizpalastes in seiner emotionalen Tiefenwirkung ein Beweis der Anarchie und der gefürchteten Diktatur des Proletariats. Er löste die Assoziationskette aus: Rotes Wien = Brandlegung = Bolschewismus (unabhängig davon, dass Bürgermeister Karl Seitz an der Spitze der Feuerwehr zur Brandlöschung ausgerückt war).41 Für die Sozialdemokratie zerfiel das Programm der disziplinierten Masse, die der Regierungsmacht entgegengestellt werden konnte; es war die Stunde einer großen Niederlage der geträumten Arbeitermacht. Gleichzeitig war dieser 15. Juli 1927 in seinem irrationalen Gewaltausbruch auch eine Niederlage der Vernunft der Aufklärung, wie später, von rechts her, die Ermordung des Spätaufklärers Prof. Moritz Schlick am 22. Juni 1936 auf der Philosophenstiege der Universität. 42 Am 26. Juli 1927 fand im Parlament, dem Ort der demokratisch regulierten Konflikte, die große Konfrontation statt: zwischen Bundeskanzler Ignaz Seipel, dem Vertreter der Kirche und der gegenreformatorisehen Staatsräson, und Otto Bauer, dem Arbeiterführer und marxistischen Intellektuellen jüdischer Herkunft. Diese Konfrontation evozierte auch die griechische Tragödie des

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Zusammenstoßes von Kreon und Antigone, die beide auf ihre Toten verwiesen und nur die Erinnerung des eigenen Leides gelten lassen wollten. Seipel verteidigte die Staatsräson der verwundeten Republik, ihm ging es allein um die Verteidigung der legitimen Macht und der gottgewollten Ordnung der Gesellschaft. Gegenüber der asketischen Staatsräson berief sich Otto Bauer auf eine ethisch fundierte Politik, gegenüber der Metapher der verwundeten Republik wies er auf die wirklichen Toten und forderte vom Staat ein Zeichen der Versöhnung mit dem Volk. Von dem Moraltheologen Seipel verlangte er das Zurücktreten des Politischen hinter das Moralische, beschuldigte ihn der Gefühllosigkeit angesichts des menschlichen Leides. Als Erbe der Aufklärung setzte Otto Bauer aber auch einen Akt der Selbstreflexion. Er sprach das Versagen seiner Partei bei der Zähmung der Massen an, das Versagen der sozialdemokratischen Erziehungsaufgabe. Bauer zuckte erschreckt zurück vor der Ahnung, dass in den Tiefen des Volkes die Dämonen hausen. 43 Sie werden dann im „deutschen Frühling" des Jahres 1938 gegen die Juden losbrechen. Die Dichter, Elias Canetti, Heimito von Doderer, Karl Kraus, waren hier hellsichtiger. In ihren Werken nahm der Brand des Justizpalastes eine sehr zentrale Position ein.

Monarchie und Demokratie der Liberalen Die Geschichte der Ringstraße begann im Neoabsolutismus. Zwei Kasernen und eine Kirche symbolisierten die Herrschaftsträger dieser Phase der Monarchie und den Sieg über die Revolution von 1848/49: die Franz-Joseph-Kaserne im Bereich der Dominikanerbastei (1854-1857) und die Kronprinz-Rudolph-Kaserne, heute Rossauer Kaserne (1865-1869). Die militärische Macht in den Kasernen und die geistige Macht in der Votivkirche (1856-1879) sollte den „Tiger der Revolution" - wie Erzbischof Joseph von Rauscher bei der Grundsteinlegung sagte - in Zaum halten. 44 Gleichzeitig Garnisonkirche, ragten die Türme der Votivkirche, versicherte man bei der Einweihung, wie die Finger einer Schwurhand zum Himmel. Dieser Schwur lautete: Treue der Völker der Monarchie für das angestammte Herrscherhaus. 45 Doch die „Völker" der Monarchie wurden lediglich durch sechzig Bischöfe, hohe Militärs und ungarische und polnische Magnaten vertreten. Diese symbolische Ordnung bei der Einweihung der Votivkirche 1879 war bereits ein historisches Relikt. Und die Votivkirche blieb die einzige Kirche im Ringstraßenbereich. Denn inzwischen hatte sich politisch der antiklerikale Liberalismus durchgesetzt, war ein vehementer Kulturkampf zwischen Staat und Kirche ausgefochten worden, befreite sich das Bürgertum aus dem religiösen Korsett, hatte der große Kompromiss zwischen Monarchie und Demokratie der Liberalen stattgefunden. Diese Demokratie der Liberalen war zwar mit der aufgeklärten Vision der Bürgergesellschaft verknüpft, sie basierte rechtlich auf der Gleichberechtigung aller Staatsbürger, verkündete die Grund- und Freiheits-

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rechte, schloss politisch allerdings nur jene Bürger ein, die durch Besitz, Bildung und Leistung unabhängig genug waren, das Gemeinwohl vernünftig zu gestalten.

Gottfried Semper, Entwurf für das Kaiserforum, um 1870

Mit der „Entpanzerung" (Heinrich Friedjung) der Inneren Stadt durch die Schleifung der Basteien und die Verbauumg des Glacis, mit dem Kompromiss der konstitutionellen Monarchie, sahen die Liberalen eine Möglichkeit, ihre Vision der liberalen Bürgergesellschaft auf der Ringstraße zu erbauen. Zunächst jedoch musste architektonisch die konstitutionelle Monarchie gegenüber der kulturellen und politischen Geographie des Herrscherhauses durchgesetzt werden, die mit der Hofburg und dem Heldenplatz so sichtbar Position bezogen hatte. Die Auseinandersetzungen um das Kaiserforum signalisierten, neben ästhetischen und raumkünstlerischen Dimensionen, auch den Kampf um die politische Besetzung des Raumes. Denn das geplante Kaiserforum hätte die Hofburg mit den Hofmuseen und den Hofställen (Messepalast) verbunden, die Ringstraße durchschnitten und so ein klares Zeichen der imperialen Macht über die Ringstraße gesetzt und Schwert und Krone ein Primat zugewiesen. 46 Heraus kam ein Kompromiss. Die Museen (entworfen von Gottfried Semper und Carl Hasenauer 1872-1881) wurden getrennt von der Hofburg erbaut. Die kaiserlichen Sammlungen öffneten sich dem Bildungsbürgertum und zeigten die Verbindung von Herrscher und Volk an. Wie das Schwert der Heeresführer den Heldenplatz beherrschte, dominierte das Zepter der Kaiserin Maria Theresia den Platz zwischen den Museen; die Mutter gegenüber dem Krieger; die Frau gegenüber dem Mann. Dabei hatte der Exponent der 48er-Revolution, der Historiker und Biograf der Kaiserin, Alfred von Arneth, der das Konzept für das Denkmal entworfen hatte, ursprünglich gar kein Zepter vorgesehen. Doch Kai-

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ser Franz Joseph setzte sich durch. Die das Zepter tragende linke Hand der Denkmal-Kaiserin stützt sich auf die Pragmatische Sanktion, das Grundgesetz der Habsburgermonarchie, während ihre erhobene rechte Hand das Volk grüßt. Umgeben ist die Kaiserin von den „Stützen des Thrones" - das konnte „konstitutionell" interpretiert werden - , unter ihnen die Aufklärer Joseph von Sonnenfels und Gerard van Swieten. 47 Der liberalen Herrschaft gelang es, Kirche und Militär zurückzudrängen. In den letzten zwei Jahrzehnten der Monarchie jedoch gewannen beide fast wieder ihre alte Position zurück; nun aber demokratisch legitimiert durch das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht (1906/07). Es kam zwar zu keinem Kirchenbau auf der Ringstraße mehr, aber am Stubenring wurde von Ludwig Baumann, dem Lieblingsarchitekten des Thronfolgers Franz Ferdinand, das neue Reichskriegsministerium im Neobarock gebaut (1909-1913). 48 Das militärische Signal verstärkte sich noch durch die Übersiedlung des Radetzky-Denkmales auf den Stubenring (damals Radetzkyring benannt). Gleichsam als Motto steht auf dem Denkmal das Grillparzerwort: „In Deinem Lager ist Österreich". 49

Adel und Bürgertum Die Liberalen kämpften gegen alle feudalen Privilegien. Doch ein Teil des Adels hatte sich den Liberalen angeschlossen. Die liberale Elite enthielt einen beträchtlichen Adelsanteil, und zwar aus dem Altadel wie dem Neuadel (1867: 43 Prozent). 50 Politisch konnte so ein Teil des Adels mit den Liberalen gehen, ebenso ökonomisch. Denn das Postulat des freien Marktes lockte auch Adelige auf den Marktplatz, als Unternehmer wie als Aktionäre. Der Ausbau der Ringstraßenzone erfolgte nach dem kapitalistischen Prinzip. Die Grundstücke wurden privat verkauft und der Gewinn strömte in den Stadterweiterungsfonds, der vom Innenministerium verwaltet wurde. Die Privatbauten waren für dreißig Jahre steuerbefreit. Mit den erzielten Überschüssen im Fonds konnte der Staat die öffentliche Gebäude an der Ringstraße finanzieren. Der Ausbau der Ringstraße war ein großes Geschäft für die Bauunternehmer und seit den 1870erJahren für die Bauaktiengesellschaften unter starker Beteiligung der Banken und teilweise der Architekten. Der liberal-kapitalistischen Logik entsprach auch die Konkurrenz der Architekten um den Bau der öffentlichen Gebäude. 51 Der große Kompromiss von Adel und Bürgertum zeigte sich bei den Hausbesitzern an der Ringstraße. An der Spitze standen Angehörige der Regierenden Häuser, die in der Nähe des Schwarzenbergplatzes ihre Paläste bauen ließen: Herzog Philipp von Württemberg (Kärntnerring 16, das spätere Hotel Imperial), Erzherzog Wilhelm (Parkring 8), Erzherzog Ludwig Viktor (Schwarzenbergplatz 1), der Bruder des Kaisers, der dann wegen seiner homosexuellen Neigungen nach Salzburg verbannt wurde. 52 Hochadelige, die an Wien gebunden waren, aber in der Stadt kein Palais hatten oder das demoliert

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und verkauft war, siedelten sich ebenfalls in der Ringstraßenzone an: Fürst Colloredo, Graf Hoyos, dann feudale Industrieherren wie Graf Larisch, Graf Henckel von Donnersmarck, Graf Kinsky. Die symbolische Besetzung der Ringstraße durch den Hochadel wird gleichfalls durch das exklusive Adelige Casino am Schubertring sichtbar. 53 Das Großbürgertum der Zweiten Gesellschaft, geadelt oder nicht, umfasste das Wirtschaftsbürgertum, Bankiers, Großhändler, Industrielle, in einer Mittelstellung zahlreiche freie Berufe, dann das Bildungsbürgertum, hohe Beamte, Gelehrte, für Wien typisch: die Künstler, und in einer gewissen Sonderstellung: hohe Offiziere. Trotz des politischen und ökonomischen Kompromisses zwischen Adel und Bürgertum verlief sozial eine klare Trennlinie zwischen beiden Schichten. Zwar herrschte auch im Hochadel eine ewige Konkurrenz um ständig sich ändernde Prestigepositionen, doch die Trennlinie zur Zweiten Gesellschaft zog der Hochadel im intimen Verkehr ziemlich eindeutig. Dieser Altadelige, stolz auf das „angeborene gewisse Etwas", begegnete dem Finanzbaron, der „auf die lächerlichste Weise den Luxus" übertrieb, 54 mit kühler Verachtung. Selbstbewusste Wirtschaftsbürger respektierten von sich aus diese Schwelle.

Ringstraßencale, um 1900

Die symbolische Macht der Industrie drückte sich im „Haus der Industrie" aus, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1907-1909) am Schwarzenbergplatz er-

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richtet wurde, direkt in der Domäne des Adels. In der „Besatzungszeit" nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich in dem großen Gebäude der Alliierte Rat, wurden 1955 die letzten Gespräche für den Staatsvertrag geführt. 55 Am Parkring Nr. 16 besaß der einflussreiche Textilindustrielle, Reichsratsabgeordnete und Gründer des „Centraiverbandes der Industriellen Österreichs" Baron Leitenberger ein Haus.56 Gegenüber der Oper ließ einer der großen Gewinner der Ringstraßenära, der Ziegelindustrielle Heinrich Dräsche, den mächtigen Heinrichhof erbauen. Der „Eisenbaron" Mayr-Melnhof residierte in der Operngasse, der politische Textilunternehmer Alfred Skene baute sein Stadthaus am Kolowratring, der Bierbrauer Anton Dreher und der Industrielle Alexander von Schoeller bevorzugten den Opernring. Karl Giskra, der Revolutionär von 1848, dann liberaler Innenminister von 1867 bis 1870, mit besten Beziehungen zur Hochfinanz, er, der eine Symbolfigur für die Korruptionsanfälligkeit des liberalen Regimes darstellte, erwarb eine Parzelle in der Schellinggasse; als Giskra aus dem Ministerium ausschied, erhielt er vier Verwaltungsratsposten. 57 Kurz, leitende Unternehmer der Industrialisierung drängten in die Ringstraßenzone. Wie ein damaliger Beobachter schrieb: „Was auf Eleganz Anspruch erhebt, graviert nach dem Ring [...] Es gehört zum ,cachet' auf dem Ring zu wohnen." 58 Die stumme Tradition des Landes in der Stadt, gleichsam Dörfer auf der Prachtstraße, lässt sich an der Viertelbildung erkennen: der Adel in der Nähe des Schwarzenbergplatzes, Künstler in der Nähe der Oper, die liberale Elite des Großbürgertums im Rathausviertel, die Banken in der Kontaktzone von Ring und Altstadt, die Geldleute und Rechtsanwälte, stark jüdisch durchsetzt, um die Börse, dann das anschließende Textilviertel hin zum Donaukanal. Hausbesitzer an der Ringstraße 1885 (in Prozent) Regierende Häuser und Hochadel Bankiers und Großhändler Industrielle Kaufleute und Gewerbetreibende Privatangestellte und Staatsbeamte Architekten Sonstige Freie Berufe Private Bankgesellschaften Andere Juristische Personen

6,6 13,6 14,5 9,7 3,8 5,3 3,1 27,0 2,3 14,1

Quelle: Franz Baltzarek, Alfred Hoffmann und Hannes Stekl, Wirtschaft und Gesellschaft der Wiener Stadterweiterung, Wiesbaden 1975, 260.

Die stärkste Gruppe waren mit 27 Prozent die Rentiers, die von ihrem Geldvermögen prächtig leben konnten - ein Zeichen für den bereits vollentwickelten Kapitalismus im Zentrum der Monarchie.

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Geld und Geist; Christen und assimilierte Juden Zwischen 1850 und 1880 erlebten die Juden in Österreich einen beispiellosen Aufstieg. Als Akteure der Modernisierung besetzten sie innerhalb der Zweiten Gesellschaft eine herausragende Position, auf der Seite des Geldes und der Seite des Geistes. Durch enge Familienbande verknüpft - die Auspitz, Lieben, Gomperz, Wertheimstein, Todesco - reichten sie über das Kapital in den Bereich der Politik, der Kunst und Wissenschaft, in ihren Salons verkehrten die Dichter Ferdinand von Saar und Hugo von Hofmannsthal: das gab der Wiener Ringstraßengesellschaft jenes unwiederholbare Flair.59 Julius von Gomperz beispielsweise repräsentierte den Unternehmer und Grundherren, den Juden und Liberalen, den Gastgeber und Mäzen, den österreichischen Patrioten und den Anhänger der deutschen Kultur.60 Diese einmalige Symbiose von Christen und assimilierten Juden im Zeichen des Liberalismus geriet in den 1880er-Jahren mit der Krise des Liberalismus unter einen starken Druck. Auf der einen Seite formierte sich der christliche Antisemitismus, der wesentlich vom sozialen Neid gespeist wurde: „Mancher von den Vätern dieser zahlreichen Barone und Ritter ist vor wenigen Jahrzehnten als armer galizischer Jude in Wien eingewandert, ist mit einem Bündel auf dem Rücken von Haus zu Haus gegangen"; 6 ' auf der anderen Seite entstand die Kritik des beginnenden Zionismus, der die glühende Identifikation der assimilierten Juden mit dem Deutschtum verachtete. Theodor Herzl mokierte sich über die jüdischen Parvenüs: „Diese Leute, von denen man fortwährend hört, bald durch den Skandal ihrer Maitressen, bald durch den Triumph ihrer Rennpferde, bald durch die Börsenmanöver, mit denen sie den Mittelstand der Börse zu Proletariern machen, bald durch die Korruption, die sie um sich her wie einen Pesthauch verbreiten; diese Leute [...] schaden dem jüdischen Volk [-..]"62 Als der ökonomische Liberalismus seinen Höhepunkt erreicht, als der wirtschaftliche Optimismus und die Spekulationswut alle Gesellschaftsschichten erfasst hatte, im Jahre 1872, zog die Börse in ein provisorisches Gebäude am Schottenring. Als das neue Gebäude, von Theophil Hansen im Renaissancestil entworfen, 1877 eröffnet wurde, stürzte der ökonomische Liberalismus durch den Börsenkrach von 1873 in eine tiefe Krise. 63 Diese Krise erreichte bald den politischen Liberalismus und traf die Juden als Pioniere des liberalen Kapitalismus besonders hart. Das politische System formte sich im Zeichen der Massenmobilisierungen um. Der große Kompromiss zerfiel. Im Rathaus siegte das Kleinbürgertum über das Großbürgertum, die klerikale Richtung über den Fortschritt. Jetzt erst wurde die Ringstraße zum Erinnerungsort, auf den die „Neue Freie Presse" in den 1920er-Jahren mit Wehmut zurückblickte: auf ein Wien, „wo die Ringsraße entstand, wo die Universität zum Glänze stieg, wo das Parlament die Geister befreite und das Bürgertum in hellen Köpfen, in prächtigen Persönlichkeiten [...] Triumphe feierte". 64

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Am Beispiel des Epsteinpalais (Dr. Karl-Renner-Ring 1), 1870-1873 ebenfalls von Theophil Hansen für den jüdischen Bankier Gustav Ritter von Epstein erbaut, lassen sich dann die verschiedenen Erinnerungsschichten abheben: 1883 kam das Palais in den Besitz der Imperial Continental Gas Association, die privatwirtschaftlich eine wichtige Infrastruktur bereitstellte; 1902 erwarb der Staat das Gebäude und siedelte dort den Verwaltungsgerichtshof an; das Rote Wien platzierte dann den Wiener Stadtschulrat in das Palais, eine Agentur zur Herausbildung des „neuen sozialistischen Menschen"; von 1838-1945 folgte das Reichsbauamt als Steuerungsinstrument für die technologische NS-Modernisierung; 1945 nahm die Sowjetische Kommandatur ihren Platz ein - ein Ort des Schreckens für die dort hin Kommandierten; schließlich kehrte 1955 der entideologisierte Staatsschulrat zur Administration des Wiener Schulwesens zurück; derzeit wird es für Parlamentszwecke renoviert. 65 Die Liberalen hatten ihre Vision der Gesellschaft auf der Ringstraße erbaut. Für die neue christlichsoziale Stadtverwaltung blieb nur mehr wenig Raum. Die Postsparkasse von Otto Wagner im Stubenviertel (1904-1906, 1910-1912) war als Bank des kleinen Mannes gegen das jüdische Großkapital konzipiert. Mit dem Kindersparen sollte die Jugend volkswirtschaftlich geschult werden. Der Postscheckverkehr ermöglichte bargeldlose Überweisungen auch in den Dörfern. Die ästhetische Politik der Christlichsozialen brach mit dem Historismus der Liberalen und öffnete sich der gemäßigten Moderne, die Schönheit mit Nützlichkeit (Otto Wagner) zu verbinden suchte; dafür steht die Postsparkasse als herausragendes Beispiel. 66 Die Auflösung der Habsburgermonarchie und die österreichische Revolution von 1918 bis 1920 ließen die bisherige Gesellschaftsordnung zusammenbrechen. Die Entfeudalisierung traf den Hochadel und die Zweite Gesellschaft. Das Bürgertum verarmte, der Hausbesitz wurde durch den Mieterschutz entwertet. Die Wohnungskosten, die vor dem Ersten Weltkrieg rund ein Viertel des Einkommens aufzehrten, fielen unter ein halbes Prozent. 67 Schon prophezeiten die Pessimisten, dass die nächste Generation auf den Trümmern der Ringstraße ihre elenden Hütten bauen werde. 68 So schlimm kam es dann zwar nicht, die bürgerliche Gesellschaft konnte sich in den 1920er-Jahren wieder stabilisieren, aber der Sozialaufbau der Wohnparteien an der Ringstraße zwischen 1914 und 1942 zeigte markante Veränderungen: Die Oberschicht sank von 33 auf 7 %, die Mittelschichten verloren 11 %. Die Gewinner waren die Beamten, die ihren Anteil von 23 auf 36% erhöhten und die Unterschichten mit einem Plus von 9%. 69 Österreich verkleinbürgerte. Und diese Tendenz setzte sich in der Zweiten Republik fort, verstärkt durch die Vertreibung und Ermordung der Juden. Das längst brüchig gewordene Bündnis von Geist und Geld zerfiel nun endgültig. Intellektuell begann in Wien und Österreich der Prozess der Verprovinzialisierung. Diese Verkleinbürgerlichung lässt sich sozialstatistisch auch an der Veränderung der Wohnungsstruktur in der Ringstraßenszone von 1914 bis 1961 ablesen: Die Großwohnungen sanken von 60 auf 36%, die Kleinwohnungen, entstanden durch

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Wohnungsteilungen, stiegen von 5 auf 20%. 7 0 Das barocke Repräsentationsbedürfnis wurde nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschwächt, während die reale Wirtschafts- und Verwaltungsfunktion der Ringstraße stark zugenommen hat.

Der Wiener Ringturm

Ein Beispiel dafür ist der Ringturm am Schottenring, Sitz der Wiener Städtischen Versicherungsanstalt. 1953-1955 nach Plänen von Erich Boltenstern erbaut - auf dem Boden des bombenzerstörten Bürgerspitalfondshauses - symbolisierte dieses zweite Hochhaus in Wien das neue österreichische Selbstbewusstsein nach der Wiederaufbauphase und nach dem Staatsvertrag. Wien versuchte sich als Weltstadt zu zeigen, dem Westen zugewandt und von der kulturellen Amerikanisierung begeistert. Der Bauherr, Generaldirektor Norbert Liebermann, spiegelte gleichzeitig die verdrängte österreichische Geschichte von 1934 bis 1945 in den Fünfzigerjahren. Er stammte aus Galizien, begann in Wien seine Karriere als Zeitungsausträger, wechselte als Fremdsprachenkorrespondent zu einer Versicherungsanstalt, war Gründungsmitglied der Gewerkschaft der Versicherungsangestellten und leitete die „Wiener Städtische" von 1922 bis 1934; ein letzter Nachhall des großen Kompromisses von Juden und Nichtjuden, nun innerhalb der Sozialdemokratie. Als Sozialdemokrat wurde er 1934 zwangspensioniert, als Jude kam er 1938 ins KZ Dachau, konnte sich aber mit Hilfe des Rechtsanwaltes Adolf Schärf in die USA retten. 1947 holte ihn Bürgermeister Theodor Körner für die Leitung der „Wiener Städtischen" zurück. Von

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Amerika brachte Liebermann die Vorliebe für Hochhäuser mit. Das Gedicht zur Eröffnung des Ringturmes verwendete den zeittypischen Diskurs der Fünfzigerjahre: das Hochhaus, Monument einer neuen Zeit des technischen Optimismus, doch verbunden mit der Landschaft um Wien, wo „Strom und Hügel, Wald und Wiesen" ineinander fließen, ein „Heimatbild für Ewigkeiten", modern und traditionell zugleich! 71

Denkmäler Das 19. Jahrhundert beherrschte eine Leidenschaft für Denkmäler. Während die Barockzeit Zeichen der Gottesverehrung in die Stadt und das Land setzte, feierte das bürgerliche Zeitalter die großen Individuen. In Wien entstanden zwischen 1850 und 1918 zirka 110 Denkmäler; bald sprachen Kritiker von der Denkmal-Seuche (Ferdinand Kürnberger). 72 Von den 60 Denkmälern an der Ringstraße entstanden 40 vor dem Ersten Weltkrieg, die Massenansammlungen vor dem Rathaus, dem Parlament, dem Künstlerhaus gar nicht gerechnet. 73 In dieser Denkmalwirrnis lassen sich bestimmte soziale Verdichtungen erkennen: die Künstler im Stadtpark, die Techniker im Resselpark vor der Technischen Hochschule, die Gelehrten im Arkadenhof der Universität; lassen sich bestimmte Erinnerungsschichten abheben: Erstens, die monarchistischen Denkmäler der Heeresführer, zweitens die großbürgerlich-liberalen Denkmäler der Künstler, Techniker, Gelehrten als Selbstfeier der bürgerlichen Gesellschaft, drittens die kleinbürgerlichen populistischen Denkmäler im Zeichen der Massenpolitik; viertens die relativ bescheidenen Denkmäler der Republik in Erinnerung an bekannte Politiker. Unter einem nationalpolitischen Gesichtspunkt lassen sich ebenfalls vier Typen unterscheiden: österreichisch-patriotische Denkmäler, Symbole für eine deutsch-österreichische Nationsbildung, kommunale Selbstpräsentation der Metropole Wien, Erinnerungen an die österreichische Nation der Zweiten Republik. Den Reigen der Denkmäler eröffnete Kaiser Franz Joseph, der die Uniform auch geistig kaum je ablegte, in der neoabsolutistischen Periode mit den Heerführern (Erzherzog Karl, Prinz Eugen, Fürst Schwarzenberg, später vom Militär initiiert: Erzherzog Albrecht), in der Nähe, aber dennoch getrennt von der Ringstraße. Die Armee sollte als Retterin und Klammer des Reiches repräsentiert werden. Scharf davon abgehoben feierte das Bürgertum seinen Genius in der Kunst. Selbstbewusst setzte das Bürgertum die Aristokratie des Geistes in Kontrast zur Aristokratie des Blutes. Bei der Schillerfeier von 1859 feierte sich das Bildungsbürgertum, in erster Linie die Studenten, als heilige Gemeinschaft, in der emotionale Nationswerdung und demokratischer Gestaltungswille sich trafen. Die Pathosformel der Rhetorik war dreifach geknüpft: Einheit des Volkes, Einheit der deutschen Kulturnation, Einheit des österreichischen Bürgertums. Bei der Errichtung des Wiener Schillerdenkmals 1876 war durch den

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Nationalitätenstreit zwar die Fiktion des einheitlichen österreichischen Bürgertums bereits zerbrochen, doch das Gleichgewicht von Freiheit und Nation, von Juden und Nichtjuden hielt noch stand. Die Kunstreligion mit Schiller als Apostel der Freiheit, das Denkmal als wundertätiger Altar, überlagerte noch den inneren Konflikt. Bei den Schillerfeiern 1905 hatte dann ein aggressiver, integraler Nationalismus das Freiheitspathos zerstört. Die Heil-Rufe verwiesen bereits auf die Heil-Rufe des Heldenplatzes 1938.74 Waren 1859 die Schillerzitate noch frisch, aus dem Leben zur Nation gesprochen, waren sie am Ende des Jahrhunderts bereits verbraucht und abgegriffen, erstarrt zur Klassizität, wie die Denkmäler selbst auch.75 Schiller rief nach Goethe. Der kam allerdings erst spät auf die Ringstraße, enthüllt 1900. Zwar forderte der Wiener Goethe-Verein bereits 1878 dem „größten Meister" der deutschen Dichtkunst ein Denkmal in der „Hauptstadt der Ostmark deutscher Kultur" zu errichten, doch für die linken Liberalen war Goethe der „Fürstenknecht", für die Radikalnationalen der „Weltbürger", als der er bei der Fertigstellung des Denkmals von Ferdinand von Saar auch gefeiert wurde.76 Der Machtanspruch des Bürgertums wird dadurch sichtbar gemacht, dass der „Dichterfürst" in einen steinernen Stuhl gesetzt wurde, der an den Kaiserthron von Aachen erinnern sollte.77 Gegenüber der Übermacht der deutschen Klassik forderte die vaterländische Partei, Hochadel und jüdische Hochfinanz gemeinsam, ein Grillparzerdenkmal. Das nun wurde nicht direkt an der Ringstraße, sondern im Volksgarten, näher dem Heldenplatz und dem Thron, aufgestellt. Die Kombination von Grillparzer und Börse löste die Kritik der Demokraten aus. Ferdinand Kürnberger ätzte: Wenn man von jenem Bündnis von Geist und Geld das Kapital subtrahiere, bleibe weder Geist noch Bildung übrig, sondern nur die „Selbstbedenkmalungsarroganz". 78 Das erste Denkmal allerdings setzten die Liberalen, genauer: der Wiener Männergesangsverein, nicht den Dichtern, sondern den Musikern: dem „Liederfürst" Franz Schubert im Stadtpark (Grundsteinlegung 1868, enthüllt 1872). Bei ihm konnten ohne Probleme das lokal wienerische Element und der Mythos Musik angesprochen werden, das vaterländisch Österreichische und das Deutsche.79 Bei dem „Titan Beethoven", am heutigen Schubertring, trat das lokalpatriotische Element etwas zurück, doch die Erinnerung an die bürgerliche Revolution lebte in der Sitzfigur des gefesselten Prometheus fort, und Beethovens Biografie verkörperte ad personam die deutsch-österreichische Schicksalsgemeinschaft. Das Aufrührerische wurde gleichzeitig gezähmt, als Nicolaus Dumba, der Wiener Großbürger und Chef des Denkmalkomitees, bei der Enthüllung 1880 daran erinnerte, dass „zwei böhmische Kavaliere" dem Meister bedeutende Jahresrenten ausgesetzt hatten. Aber ebenso blieb das bürgerliche Selbstbewusstsein in der Festschrift bewahrt, die klar hervorstrich, dass Beethoven die ganze soziale Stellung des Musikers verändert, indem er dem „höchsten Geburtsadel gegenüber volle Gleichberechtigung in Anspruch" genommen habe. 80

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Mit den Christlichsozialen an der Macht in Wien kam die lokale, populistische Dimension zum Vorschein. Ein Erinnerungsort für diese dritte Phase der Denkmalerrichtung ist das Deutschmeisterdenkmal (gestiftet 1896, enthüllt 1906) zu Ehren des Wiener Hausregiments Hoch- und Deutschmeister Nr. 4 (gegr. 1696). Nicht mehr der Kaiser oder die großbürgerlichen Honoratioren gaben den Anstoß, der Wiener Magistrat setzte die Initiative; im Zentrum standen keine Generäle, sondern einfache Soldaten und das Wienertum, fesch und laut, immer flott und munter. Es sollte ein Volksdenkmal werden, auf Verständlichkeit ausgerichtet, ohne eine komplexe Formensprache durch Symbole und Allegorien. Bürgermeister Karl Lueger pries bei der Enthüllung nicht nur die (selbstverständlichen) militärischen Tugenden, sondern auch die Bürgertugenden. Beide jedoch stimmen überein in der Liebe und Treue für Kaiser und Vaterland.81 Mit dieser Parole marschierten die Soldaten 1914 in den Großen Krieg. Die Bemühungen, Lueger selbst ein Denkmal zu setzen, begannen sofort nach seinem Tod ( t 1910). Der Heros des Kleinbürgertums - „Unser Karl", der Volksbürgermeister und antisemitische Volkstribun - musste wegen des Ersten Weltkrieges dann bis 1926 warten, bis sein Denkmal an der Ringstraße enthüllt wurde; paradoxerweise vom sozialdemokratischen Bürgermeister Karl Seitz, den Lueger zeitlebens heftig bekämpft hatte. Der Krieg war nicht spurlos an der Konzeption des Denkmales vorbeigegangen. Die trauernde Frau mit Kindern verwiesen auf die Leiden des Krieges. 82 Die Republik, von vielen Krisen geschüttelt, hatte zunächst keine Kraft und auch keine Lust, Denkmäler zu errichten. Obendrein konnte sich das bescheidene Republikdenkmal neben dem Parlament, 1928 von dem Sozialdemokraten am Staatsfeiertag (12. November) enthüllt, neben der Übermacht des Alten kaum durchsetzen. Das Denkmal offenbarte bereits das Dilemma der Republik. Nicht dem gemeinsamen Gedächtnis wurde hier ein Zeichen gesetzt, nur der verstorbenen sozialdemokratischen Führer wurde gedacht: Jakob Reumann, Victor Adler, Ferdinand Hanusch - Ausdruck der Sicht der Sozialdemokraten: Nur sie und sie allein haben die Republik gegründet. Die Formensprache des Denkmals war einfach, aber geschickt. Die vierkantigen Pfeiler zitierten den Portikus des Parlamentgebäudes. Das Denkmal selbst geriet dann in den Strudel der österreichischen Innenpolitik. Der Autoritäre Ständestaat (1934-1938) richtete sich explizit gegen die Österreichische Revolution von 1918 bis 1920. Daher ließ er das Denkmal zunächst mit der Kruckenkreuzfahne und einem Bildnis von Engelbrecht Dollfuß verhüllen, dann abtragen. An seine Stelle sollte ein nie verwirklichtes Denkmal der Arbeit treten. Die Zweite Republik, die sich auf die Verfassung von 1920/29 gründete, ließ das Republikdenkmal 1948 wieder aufbauen. 83 Die politisch und ökonomisch weit erfolgreichere Zweite Republik knüpfte an die republikanische Bescheidenheit in der Denkmalkultur an. Großkoalitionär ausgerichtet, spendete die Zweite Republik 1965 dem wendigen Karl Renner am Rathausplatz gegenüber dem Parlament ein Denkmal und dem

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„Staatsvertragskanzler" Julius Raab eines auf der Außenseite der Volksgartenumfriedung. Die herangezogenen Künstler entsprachen ebenfalls dem Proporz: der „linke" Alfred Hrdlicka für Renner, die „rechten" Clemens Holzmeister und Toni Schneider-Manzell für Raab. Zwei Jahre vorher konnte im Rathauspark eine Bronzestandfigur des Wiener Bürgermeisters und Bundespräsidenten Theodor Körner enthüllt werden; er steht ohne erhobenen Sockel auf Augenhöhe mit dem Betrachter. 1985 folgte, ebenfalls im Rathauspark, der Porträtkopf von Bundespräsident Adolf Schärf. 8 4 Die Denkmalkultur des 19. Jahrhunderts hatte sich erschöpft. Die Helden wurden entmythologisiert, die Symbole und Zeichen entleert, das Pathos klang hohl. Es zeigte sich, dass Denkmäler ebenso Zeichen der Erinnerung wie des Vergessens sind. Sie erregen Aufsehen bei der Errichtung oder wenn sie aus politischen Gründen entfernt werden. Im Alltag dienen sie als Rastplätze für die Stadttauben.

Die Straße Die Ringstraße wurde als Prachtboulevard angelegt. Die Gebäude waren auf die Straße bezogen, nicht aufeinander. Die Straße wiederum betonte das halbkreisförmige Fließen, sie war tendenziell demokratisch, auf kein Zentrum hin ausgerichtet; sie war offen für alle politischen Richtungen. 85 Sie sollte der Beweglichkeit des Militärs gegen den Aufruhr dienen, wie der Revolte gegen die Staatsautorität. Zwischen den Zentren der Macht verlaufend, Hofburg und Ballhausplatz auf der einen, Parlament und Rathaus auf der anderen Seite, war die Ringstraße ein enormer politischer Raum. Sie diente aber ebenso der adeligbürgerlichen Selbstrepräsentation durch die Geh- und Reitallee, durch die eleganten Cafés und Hotels. Der Ringstraßenkorso am Kärntnerring von 11 bis 14 Uhr war ein riesiger Salon, in dem die sozialen Differenzen zelebriert wurden (Wer grüßt wen? Wer wird von wem bemerkt?), in dem das „Geschrei der Garderobe" ertönte. 86 Die Sirkecke als Erinnerungsort (genannt nach dem Lederwarengeschäft Ecke Kärntnerstraße/Kärtnerring) wurde durch Karl Kraus' „Die letzte Tage der Menschheit" zu einem „kosmischen Punkt" erhoben, von dem die Katastrophen des 20. Jahrhunderts ausgingen. Diese Katastrophen spiegelten sich auch in der Namengebung der Straßen und Plätze der Stadt. Straßen waren immer ein leichtes, weil ohne großen Aufwand veränderbares Opfer der politischen Herrschaft. Jedes politische System setzte so seine Duftmarken. Der Bruch von der Monarchie zur Republik beispielsweise kostete 66 Straßen und Plätzen von Wien ihren alten Namen. 87 Eine unerwünschte Erinnerung wird gelöscht und durch eine nun neue, gewollte Erinnerung ersetzt. Besonders betroffen sind davon politisch sensible, ideologisch hoch aufgeladene Zonen der Stadt wie die Ringstraße vor dem Parlament. Dieser Teil der Ringstraße hieß in der Monarchie Franzensring nach Kaiser Franz I.; 1919 wurde er zum Ring des 12. Novembers, zur Feier des neuen

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Staatsfeiertages im Gedenken an die Republikgründung; 1934 löschte der Christlich-deutsche Bundesstaat die Erinnerung an die Republik und gedachte des langjährigen christlichsozialen Parteiführers und Bundeskanzlers Ignaz Seipel; der wurde 1940 durch den NS-Reichskommissar Gauleiter Josef Bürckel ersetzt; dem „Rückbruch" 1945 folgend, tauchte wieder Ignaz Seipel als Namengeber auf; diese Benennung nach einem ihrer ärgsten Gegner störte die Sozialisten, daher nannte man 1949 diesen Straßenteil neutral Parlamentsring; schließlich setzte sich doch die Heldenehrung durch und ab 1956 hieß der Ring hier Dr. Karl-Renner-Ring, dem Gedächtnis des zweifachen Staatskanzlers gewidmet. 88 Die Ringstraße als hoch symbolischer Ort der Macht und der Gegenmacht diente dann für Paraden, Prozessionen, Umzüge, Staatsbegräbnisse, ebenso aber für Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Repräsentanten der jeweiligen Macht. Knapp nach der offiziellen Eröffnung der Ringstraße 1865 zog am 26. Juli 1868 ein großdeutscher Schützenzug unter der Fahne schwarz-rot-gold vom Burgtor in den Prater. Der Protest des „demokratischen Deutschlands" wie Reinhold Lorenz 1943 schrieb - richtete sich gegen die kleindeutsche Entscheidung von 1866: großdeutsch, aber noch nicht nationalistisch. 89 Dieser Aufmarsch trug den Segen der Liberalen. Die Großdemonstration der beginnenden Arbeiterbewegung am 13. Dezember 1869 vor dem provisorischen Parlamentsgebäude („Schmerlingtheater") am Schottenring, wo 20.000 Arbeiter aufmarschierten, zielte in das Herz der liberalen Politik. Koalitionsfreiheit, das Recht lokal übergreifende Gewerkschaften zu gründen, Allgemeines Wahlrecht, so die Forderungen der protestierenden Arbeiter bei der Eröffnung der V. Session des Reichrates, bedrohten die sozial eingeschränkte Honoratiorenpolitik der Liberalen. Sie reagierten mit dem klassischen Repertoire der repressiven Toleranz. Eine Arbeiterdelegation wurde vom Ministerpräsidenten zu einer Diskussion empfangen, um die Massen zu beruhigen, einige Monate später folgte der Hochverratsprozess gegen die Arbeiterführer, mit zum Teil hohen Gefängnisstrafen. 90 Barocke Theatralik und Repräsentation, nun als kollektive Selbstdarstellung des Bürgertums, drückte der Festzug am 24. April 1879 aus, den Hans Makart anlässlich der Silberhochzeit des Kaiserpaares veranstaltet hatte. Der Schönheitsvirtuose Hans Makart, der „große Dekorateur der Epoche" (Hermann Broch), der als Geschmacksregent der Ringstraßengesellschaft ihr den anderen Namen „Makartzeit" gab, mit ihrem Luxus, ihrer Überladung, ihrer üppig verkleideten Sexualität - er inszenierte einen Festzug, in dem der Mittelstand, historisch verkleidet, dem Kaiserpaar sind Reverenz erwies. Der „Malerfürst" selbst ritt, als Rubens verkleidet, im Zug. Das ästhetische Bezugsfeld war zwar die deutsche Renaissance, doch der aufwändig gestaltete Wagen „Eisenbahnen" erinnerte an das Zeitalter der Technik.91 In den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie wechselten dann Huldigungsfestzüge für die Herrschenden (Kaiser, Karl Lueger) ab mit den

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Demonstrationen der Massen, die ihr nationales oder soziales Anliegen auf die Ringstraße trugen. Die Badeni-Unruhen brachten Cisleithanien 1897 an den Rand des Bürgerkrieges. Die Sprachenverordnungen verpflichteten die Verwaltung in Böhmen und Mähren zur Zweisprachigkeit. Das löste den Furor teutonicus aus, die nationalistische Raserei, und ruinierte das Parlament. 92 Einen Ausweg aus der Staatskrise schien das Allgemeine Wahlrecht zu bieten, das von der Sozialdemokratie vehement gefordert wurde. Am 5. November 1905 marschierten 3 0 0 . 0 0 0 Personen auf der Ringstraße, um für das Allgemeine und Gleiche Männerwahlrecht zu demonstrieren. 9 3 Als dieses Problem gelöst war, trat das soziale Problem an die Oberfläche. Preissteigerungen beim Rindfleisch führten am 2. Oktober 1910 zu einer Massendemonstration gegen die Regierung und gegen die Großagrarier vor dem Parlament. Am 17. September 1911 folgte die nächste Großdemonstration. Der linke Populist, der Ottakringer „Volkstribun" Franz Schuhmeier, drohte der Regierung mit dem Klirren der Fensterscheiben und dem Dröhnen der Straße. Wien wurde vor der Demonstration militärisch besetzt. Auf die verbale Drohung der Sozialdemokratie antworteten die herrschenden Mächte mit einer symbolischen Kriegserklärung. Die disziplinierten Aufmärsche zerfielen. Der Mob griff ein. Es kam zu Straßenschlachten. Die Fenster des Rathauses wurden zerschlagen. Ein bis zur Ekstase entflammter Massenzorn feierte die kurze Stunde der Anarchie. Zum ersten Mal seit 1848 schoss in Wien wieder das Militär auf das Volk. Es gab vier tote Demonstranten und 126 Schwerverletzte, fast 5 0 0 Demonstranten wurden verhaftet. 94 Doch der Stolz der Sozialdemokratie waren die militärisch geordneten Reihen, die dumpfen Marschtritte der Arbeiterbataillone, die seit 1890 über die Ringstraße in den Prater zogen, am Kampf- und Festtag des Proletariats, am 1. Mai. Seit 1909 materialisierte sich die Schönheit des Kollektivs in den roten Fahnen: „Leuchtendes Rot über dem wallenden Körper der Masse, flatternde Fahnen und Banner, Standarten, auch rot in Grundton, und darauf die kräftigen Inschriften, tragbare Plakate, drei, vier Meter oft lang und darauf auch weithin sichtbar in großen Lettern die Forderungen des arbeitenden Volkes. Kurze, feste Sätze." 9 5 Dieses Rot leuchtete in die Ängste des Bürgertums als roter Moloch, der die Ordnung der Gesellschaft zerstören will. Mit der sozialdemokratischen Herrschaft über Wien in der Ersten Republik änderte sich die Marschrichtung, vom Prater hin zum Zentrum des Roten Wien, zum Rathaus. 1933 verboten, blieb der 1. Mai ein Sehnsuchtsort für die Linke: „So flieg du flammende, du Rote Fahne". Der Schauspieler Karl Paryla dichtete im Schweizer Exil jene Verse, welche den Besitzanspruch der Linken auf den Ring ausdrückten, getragen von der Hoffnung einer neuerlichen Besitznahme im Neuen Österreich: „Der Ring - unser Ring ist wieder frei! Im Februar, im März und auch im Mai!" 9 6 In der Zweiten Republik gab es zwar tatsächlich den „Rückbruch" zur Symbolwelt der Arbeiterbewegung, die Massen marschierten Jahr für Jahr, aber

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seit den Sechzigerjahren verloren diese Symbole ihre Kraft. Die Warensignale der Konsumgesellschaft lockten mehr als die inhaltsleer werdenden Zeichen des proletarischen Kampfes. Der 1. Mai änderte sich vom Kampftag zum Erinnerungstag, wurde ein Teil des kulturellen Gedächtnisses der SPÖ. Gegen den sozialen und nationalen Aufruhr mobilisierten kurz vor dem Ersten Weltkrieg Staat und Kirche noch einmal den Reichspatriotismus und den religiösen Glauben als konservative Stabilisationsfaktoren. Der Huldigungsfestzug zum sechzigsten Regierungsjubiläum des Kaisers 1908 feierte den Kaisermythos, erinnerte an die dynastische Geschichte des Hauses Österreich, von Rudolf I. bis Franz I., versammelte die Völker der Monarchie, die in ihren Trachten über die Ringstraße wanderten. Die Tschechen freilich blieben fern. 97 1912, beim XXIII. Internationalen Eucharistischen Kongress, leuchtete, trotz des Dauerregens, zum letzten Mal die alte, barocke, gegenreformatorische Einheit von Dynastie, Hocharistokratie und Kirche auf. Die Botschaft der Großprozession, die von der Ringstraße auf den Heldenplatz, das Zentrum der Feier, zog, war eindeutig: Gegen das Programm der Trennung von Kirche und Staat, gegen die Reduzierung der Religion zur Privatsache, wie Deutschnationale und Sozialdemokraten gemeinsam forderten, wird hier der Katholizismus zum entscheidenden Nervenzentrum des Staates erklärt, zur Sache des österreichischen Patriotismus schlechthin. 98 Dieser österreichische übernationale Patriotismus versetzte die Stadt am Beginn des Ersten Weltkrieges in einen Taumel. Die Massenhysterie sammelte sich am Stubenring vor dem Kriegsministerium. Der spätere Pazifist Stefan Zweig, selbst zunächst von diesem Taumel mitgerissen, beschrieb die Sommertage des Jahres 1914: „Eine Stadt von zwei Millionen, ein Land von fast fünfzig Millionen empfanden in dieser Stunde, daß sie Weltgeschichte, daß sie einen nie wiederkehrenden Augenblick miterlebten und daß jeder aufgerufen war, sein winziges Ich in diese glühende Masse zu schleudern, um sich dort von aller Eigensucht zu läutern." 99 Der Jubel war begleitet von Hass, von der hektischen Suche nach Verrätern und Spionen. Inzwischen wissen wir, dass die Begeisterung keineswegs flächendeckend wirkte, sondern auf bestimmte urbane Stellen, wie den Stubenring, konzentriert blieb. Der Rausch schlug auch rasch in einen Katzenjammer um. Wohl zum letzten Mal zeigte sich der Reichspatriotismus beim Leichenzug Kaiser Franz Josephs, im Herbst 1916, der von der Hofburg über die Ringstraße führte; an jenem kalten, nebeligen Tag, der eine „Demonstration der Schwärze" (Bruno Kreisky) und für viele auch der Sterbetag der Monarchie war. Zweimal bei den Republikgründungen übernahm die Ringstraße vor dem Parlament eine Statistenrolle, wo der Chor des Volkes das Geschehen begleitete. Am 12. November 1918 riss die Rote Garde, verführt vom Traum der kommunistischen Räterepublik, die weißen Streifen aus der neuen republikanischen rot-weiß-roten Fahne, die dann als zerschlissene rote Fahne aufgezogen wurde. Es gab Schießereien und Tote. Die republikanische Freiheit war von Anfang an

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bedroht. Am 29. April 1945, Tage vorher war die Ringstraße noch Kampfzone gewesen, ging die neue Provisorische Regierung unter Dr. Karl Renner vom Rathaus ins halbzerstörte Parlament, um das wiedererstandene Österreich zu proklamieren. Die Menschen jubelten und tanzten. Jubel wie Zorn der Massen waren in bestimmten historischen Augenblicken leicht zu erregen, „etwas Explosives", eine „übermäßige Rauchentwicklung", die schnell verpufft, wie Fernand Braudel einmal schrieb, es bleibe kaum Zeit, die Flamme wahrzunehmen.100 Der Rauch verdeckt nur die dahinterliegenden langfristigen strukturellen Bedingungen der Geschichte.

Republikfeier 1932 auf dem Wiener Rathausplatz

Die Ringstraße als politischer Raum wurde in der Ersten Republik vorwiegend von der Sozialdemokratie besetzt. Der Autoritäre Ständestaat machte dem ein Ende. Die Choreografie wurde neu bestimmt. An die Stelle der Maiaufmärsche der Sozialdemokraten trat am 1. Mai 1934 der Aufmarsch der Stände als Repräsentanten des neuen politischen Systems.101 Das war zwar bloß ein ästhetisches Spiel, eine propagandistische Geste, um die tatsächliche Regierungsdiktatur zu verdecken. Realer war die Fahrt der Särge der Februaropfer auf der Regierungsseite des Bürgerkrieges über den Ring;102 der sozialdemokratischen Opfer durfte offiziell nicht gedacht werden. Realer war auch der Aufzug der Nationalsozialisten am 20. Februar 1938, mit Hakenkreuzfahnen und Armbinden, beantwortet von einem Aufmarsch der Vaterländischen Front am 24. Februar. Real war vor allem der Fackelzug der Nationalsozialisten über den Ring im März 1938 mit dem Gebrüll „Ein Volk - ein Reich - ein Führer". Der gescheiterte Kunststudent Adolf Hitler kehrte im Triumphzug nach Wien zurück. Das Männer-

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heim in der Meldemannstraße vertauschte er mit dem Hotel Imperial an der Ringstraße. Reinhold Lorenz schrieb 1943 in seiner Geschichte der Wiener Ringstraße über Hitlers Rückkehr nach Wien: „Der größte Tag der Geschichte der Ringstraße wurde der größte in Wiens tausendjähriger Geschichte f...]"' 03 Und er fügte hinzu: Mit dem Krieg gegen die Sowjetunion und die USA habe die ganze Weltgeschichte einen neuen Sinn bekommen. Reinhold Lorenz hatte Recht, freilich anders als er meinte oder wissen konnte. Die Weltgeschichte gewann eine neue Dimension, die mit dem Namen „Auschwitz" verknüpft ist. Wien und Österreich blieben auch nach 1945 im Blickfeld der Welt, als Schnittfläche zwischen Ost und West. Nach dem Staatsvertrag und der Neutralität, der Entwicklung der Konsumgesellschaft westlichen Typs kehrte eine gewisse Normalität zurück. Die Ringstraße diente den Paraden des Bundesheeres, den großen Staatsbegräbnissen, den Aufmärschen und Demonstrationen. Die Love-Paraden führen die Theatralität auf die Straße, die sonst in der Oper und Burg auf der Bühne vorgeführt wird.

Ein Moment des Glücks Die Ringstraße ist ein komplexer Erinnerungsort. Doch sie gehört zu den kalten Orten der Erinnerung. Sie ist längst als Teil des kulturellen Gedächtnisses in die Hände der Touristen und Historiker gefallen. Als solcher freilich spiegelt die Ringstraße große Bereiche der österreichischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Angesichts der Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der große Kompromiss, der hier gebaut wurde, das Aufleuchten der liberalen Bürgergesellschaft, die Versöhnung von Barock und Aufklärung, von Geld und Geist, von Monarchie und Demokratie der Liberalen, von Christen und Juden zu einem Moment des Glücks. Dabei dürfen wir weder die vergessen, die sozial und politisch ausgeschlossen waren, noch die Zerstörungen, die später folgten. Doch der Vorschein einer humaneren Gesellschaft ist es wert, bewahrt zu werden.

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Auf Robert A. Kann beruhend (Kanzel und Katheder, Wien 1962) hat vor allem Carl E. Schorske diese Interpretationslinie entworfen. Vgl. Carl E. Schorske, Grace and the Word: Austria's Two Cultures and Their Modern Fate, in: ders., Thinking with History. Explorations in the Passage to Modernism, Princeton 1998, 125-141. Michael P. Steinberg, Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele 1890-1938, Salzburg 2000. David Sorkin, Reform Catholicism and Religious Enlightenment, in: Austrian History Yearbook 30(1999), 187-220. Schorske, Grace and the Word, 126. Carl E. Schorske, Die Ringstraße, ihre Kritiker und die Idee der modernen Stadt, in: ders., Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt/Main 1982, 23.

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Das Riesenrad - ein Wiener Wahrzeichen

Erinnerung und Geschichte Das Riesenrad gilt als ein Wahrzeichen Wiens. Althochdeutsch „Wortzeichen", mittelhochdeutsch „warzeichen", bedeutet „Wahrzeichen" aus etymologischer Sicht eher „Zeichen zur Aufmerksamkeit", zurückgehend auf das althochdeutsche „wara" (Aufmerksamkeit). 1 Wahrzeichen klingt altehrwürdig und scheint auf einen weit zurückliegenden Ursprung zu verweisen. Doch das Bedürfnis, Städte und ganze Staaten durch Symbole bzw. Fixpunkte kenntlich zu machen, steht in engem Zusammenhang mit einer neuen Mobilität, die mit dem Modernisierungsprozess, der kapitalistischen Durchdringung der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einherging. Gemeint ist nicht jene Mobilität, die durch die industriell-gewerbliche Erwerbsarbeit hervorgerufen wurde und die die Menschen aus der ländlich-feudalen Ordnung herauslöste, sondern die zunehmende touristische wie auch geschäftliche Reisetätigkeit. Zum reiselustigen Publikum gehörten in erster Linie der Adel und gutbürgerliche Familien, für die das Reisen, die Fahrt ins Unbekannte, das Abenteuerliche zum Teil einer mondänen Lebensweise wurden. Parallel zu der ersten breiteren Konjunktur der Bade- und Kurorte entwickelte sich ein Städtetourismus und damit auch die Konkurrenz der Metropolen mit ihrem je besonderen baulichen Ambiente, ihrem elitären Kultur- und Kunstangebot, aber auch mit ihren ein spezifisches Lebensgefühl verheißenden Vergnügungsstätten. Zwischen 1888 und 1903 stieg die Zahl der ausländischen Gäste in Wien von 62.000 auf 106.000 und analog dazu kam es zu einer Gründungswelle Kaffeehäusern, Restaurants und Hotels von hohen Standard (wie das „Bristol") bis zu vielen für den Massentourismus ausgelegten Beherbergungsbetrieben. 2 Für ein Wahrzeichen, welchen Beweggründen es immer seine Existenz verdankt, scheint die unwillkürliche, unerzwungene Aufmerksamkeit, die es auf sich zieht, charakteristisch, eine Aufmerksamkeit, die einen Prozess der kollektiven Identifikation mit dem Objekt ermöglicht. Als geschichtliches Resultat dieses Identifikationsprozesses entsteht ein symbolischer, in sich ruhender Fix-

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punkt, der sich mit der Gegenwart durch Gewohnheit, Rituale und Erinnerungen in Übereinstimmung befindet. Die Geschichte als kollektive Erinnerung wird verfasst mit Rücksichten, mit Einschränkung des Erfahrungsmaterials und der Aussortierung von Unliebsamem. Entscheidend sind das Was und das W i e der Erinnerung. Allerdings: Die Erinnerung verfährt konkret und nicht symbolisch. Wenn Plato das Wissen Erinnerung nennt, beschreibt er damit für uns das plötzliche Vertrautwerden des Fremden, das uns zum Eigenen, zum „Wissen" wird. Gerne wollen wir wissen, was wir immer schon gewusst zu haben glauben. Damit sich eine kulturell geformte, gesellschaftlich konventionelle Symbolik verlebendigen kann, bedarf es konkreter „Erinnerungsfiguren", die als Gegenstände ins Gedächtnis Eingang finden. 3 Diese können dem kulturellen, dem kommunikativen oder individuellen Gedächtnis angehören, haben aber ein allgemeines Bewusstsein von den Erinnerungsfiguren zur Voraussetzung, die das Wissen um die Zusammenhänge, die verschiedenen Geschichten herstellen. Das Wiener Riesenrad war 1897 als besondere Attraktion der Vergnügungsstadt „Venedig in W i e n " als „Schauobjekt" 4 und als architektonisch-technische Novität zu Ehren Kaiser Franz Josephs und seines fünfzigjährigen Regierungsjubiläums (1898) errichtet worden. Es ist als einziges der um die Wende zum 20. Jahrhundert entstandenen Riesenräder Europas (London, Blackpool, Wien und Paris) erhalten geblieben. Das erste Riesenrad der Welt war 1893 zur Weltausstellung in Chicago erbaut worden. 5 Auch in der unmittelbaren Gegenwart werden - freilich in Leichtbauweise - immer wieder neue Riesenräder, wie das Blumenrad im Wiener Prater oder das London Eye an der Themse, aufgestellt. Ob diese zu einem Signet von Wien und London werden und ob sie in der weltweiten Konkurrenz der Hunderte Meter hohen Wolkenkratzer bestehen können, ist fraglich. Heute verdankt das Riesenrad seine Funktion als Wahrzeichen auch dem Umstand, dass es, ein ungeheures Räderwerk, mehr als 100 Jahre unverändert an demselben Ort steht, sieht man von den nur mehr 15 Waggons ab, die es heute statt der ursprünglich 30 trägt. Indessen hat sich die Gesellschaft in ihrem sozialen und politischen Gefüge immer wieder verändert und damit auch der gesellschaftliche Standort des Wahrzeichens. Zunächst handelte es sich um einen Vergnügungsbetrieb, der eine gewisse sperrige Gediegenheit ausstrahlte und den Besuchern des Vergnügungs- und Erholungsgebietes Prater ein nobles Entrée darbot. Die Vermarktung und Bewerbung des Riesenrades wurde von gewerblichen Betreibern bestimmt, jedenfalls in Zeiten demokratischer Verhältnisse. In den Zwischenkriegs- und Kriegsjahren diente es zugleich als ein politisches Wahrzeichen für „gesunden" L o kalpatriotismus und bodenständigen Antisemitismus. Und nach dem Krieg versuchte die Zweite Republik durch den raschen Wiederaufbau des Rades ein Zeichen für den Überlebenswillen des österreichischen Volkes zu setzen. Die Instrumentalisierung des Wahrzeichens für politische Ziele wurde in den drei

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genannten Epochen in erster Linie von den jeweiligen Regierungen vorgegeben. Das Riesenrad kann als eine Manifestation von mehr als 100 Jahren Geschichte gesehen werden, die es als ikonographisches Ersatzstück stellvertretend transportiert. An seinen Anblick als ein Wahrzeichen von Wien sind Erinnerungswerte gebunden, die je nach individuellem oder kollektivem Zugang abgerufen und erzählt werden können. Die Erinnerung an die Geschichte des Rades wird von den Medien, von der Literatur und Kunst besonders aus Anlass von Jubiläen gepflegt. In den meisten Fällen bleiben in der Bevölkerung nur anekdotische Bruchstücke der Vergangenheit erinnerlich. Vielmehr steht das Riesenrad analog wie der Stephansdom für das Überleben in schwierigsten Zeiten und für Kontinuität im Wiederaufbau nach der NS-Periode, den Kriegszerstörungen und den Jahren der alliierten Kontrolle des Landes. Persönliche Erinnerungen werden dabei als Erfahrungsmaterial kollektiver Identität bestätigt. Nicht die tiefgreifenden Zäsuren der politischen und gesellschaftlichen Geschichte Österreichs und der Stadt Wien vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Nachkriegsordnung der Zweiten Republik haben sich darin eingeschrieben, sondern deren spezifische Überwindung. Pierre Nora spricht vom einem Spiegelbild und von gegenseitiger Ergänzung, um die zwiespältige Dialektik von Gedächtnis und Geschichte zu bestimmen. Eine Verstümmelung des Gedächtnisses tritt als Folge eines schwach ausgeprägten Geschichtspotenzials auf. 6 Die Geschichte des Eisenrades liefert dazu einen Kontext, der weder mit der überlieferten Symbolik noch mit dem Flair als Wahrzeichen konform geht.

Das Riesenrad im gegenwärtigen Bewusstsein der Wienerinnen und Wiener Wenn man die Attraktivität des Riesenrades an den Besucherzahlen misst, steht es für das Jahr 1999 in Wien an dritter Stelle nach dem Schloss Schönbrunn und dem Schönbrunner Tierpark, also noch vor der Hofburg mit ihren Schatzkammern und dem Kunsthistorischen Museum. In allen Tourismusangeboten ist ein Besuch dieser Sehenswürdigkeiten enthalten. Reiseveranstalter bringen die Wien-Besucher in Bussen in den Prater, wo unabhängig von der Jahreszeit als besondere Attraktion für alle Altersgruppen eine Fahrt mit dem Aussichtsrad angeboten wird. Mit dem Riesenrad fuhren 1999 immerhin 762.000 Personen aus dem In- und Ausland. 7 Die Österreicher fahren angeblich zweimal im Leben mit dem Riesenrad: einmal als Kinder mit ihren Eltern und einmal als Eltern mit ihren Kindern. Fragt man die Wiener Bevölkerung nach ihrem Verhältnis zum Riesenrad, sind die Antworten meist etwas vage. Kindheitserinnerungen an den ersten Besuch im Prater kommen zutage. Natürlich vermeinen die meisten zu wissen,

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dass es ein Wahrzeichen Wiens und als solches weltbekannt sei. Oft klingt so etwas wie Stolz in den Antworten durch und zur Entstehungsgeschichte werden verschiedene Legenden erzählt: Das Riesenrad wäre zur Weltausstellung in Wien errichtet worden analog wie der Eiffelturm zur Weltausstellung in Paris und sei als in seiner Zeit mutiger wie auch gigantischer Eisenkonstruktionsbau stehen geblieben. Die Bauherren seien die Stadt Wien oder das Kaiserhaus gewesen und es sei lange Zeit das höchste und größte Rad der Welt gewesen. Dass der Erbauer ein englischer Schiffbauingenieur war, hat die Bevölkerung nie wirklich zur Kenntnis genommen. Ältere Menschen erinnern sich an das Ende des Krieges und die Zerstörung des Praters und des Riesenrades und an die Freude, die sie empfanden, als sich 1947 das Riesenrad wieder zu drehen begann. Von der „Arisierung" des Riesenrades wollen die wenigsten gewusst haben. Die meisten Wienerinnen sind erstaunt, wenn sie erfahren, dass sich das Riesenrad seit jeher in Privatbesitz befindet und daher ein Betrieb ist, der seine Besitzer nähren und sich selbst erhalten soll. Namentlich die von den Nationalsozialisten vertriebenen Österreicher hängen in ihren Erinnerungen am Riesenrad ihrer Kindheit und Jugend. An diesem sozusagen unschuldigen Objekt treffen sich die Erinnerungen vieler emigrierter Österreicher. Das Riesenrad ist wie ein Stück Landschaft, die ja auch dann noch da und vielleicht auch lieblich sein würde, wenn das Land selbst ganz unbewohnt wäre. Das Riesenrad ist hier subjektloses Objekt, steht nicht im alles verzehrenden Zusammenhang von Schuld und Notwendigkeit, und so büßt es für sein Dasein auch nicht mit seinem Untergang. Ein abendlicher Schein der Zeitlosigkeit liegt auf ihm.

Wien im Fin de Siècle Im Rückgriff auf die politische und gesellschaftliche Verfasstheit Wiens, „die Stadt der Kindheit" im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, schrieb Berthold Viertel Anfang der Vierzigerjahre im US-amerikanischen Exil: „Der Wiener Knabe, der durch die Lagerhetze in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erfuhr, daß er Jude war, es von Geburt an war, ohne es gewußt zu haben: was fing er mit diesem Wissen, ihm brutal durch Schimpf und Schande öffentlich beigebrachten Wissen an, was fing dieses Wissen mit ihm an? [...] Wie wurde einer, ein noch kleiner Mensch, mit dem Gefühl fertig, zu einer verachteten Minorität zu gehören? Suchte er Rückhalt in der Geschichte, oder lehnte er sich nach vorwärts an, also an erst zu leistende Geschichte, die allen Minoritäten ihr Menschenrecht erobern würde?" 8 Im Unterschied zu Stefan Zweigs „Welt von Gestern", in der die Erscheinungen, die auf den Untergang der Donaumonarchie hindeuten, zwar beklagt werden, aber der autobiographische Protagonist in dem befangen bleibt, was Viertel „österreichische Illusionen" nennt, thematisiert er vor allem den Verlust der politischen und sozialen Dimension.

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Unverbunden scheinen die Herkunft und Tätigkeit der Individuen mit dem Allgemeinen, das durch den bürokratischen Staat wie durch eine Klammer zusammengehalten und repräsentiert wurde. Viertel sieht im Rückzug der Generation der „Söhne" auf Individualismus und Ästhetizismus einen Ausdruck der politischen Ausweglosigkeit am Ende der liberalen Ära: „Es war damals schon sehr spät in Österreich, hoch an der Zeit. Die Sonnenuhr zeigte auf Abend", bilanzierte er.9 Die gesellschaftliche, soziale und ethnische Inhomogenität des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates prägte die alltagskulturellen Praktiken und Umgangsformen. Die Kehrseite von materiellen Reichtum, kultureller Blüte und großartigen wissenschaftlichen Leistungen fand sich in der deutsch-nationalen sowie in der kleinbürgerlich-christlichen Bewegung, die, durch die Achse des Antisemitismus verbunden, die Fragmentierung der Gesellschaft vorantrieben. Wenn Le Rider die Wiener Hochkultur der Jahrhundertwende auch als Ausdruck einer beschädigten Identität bezeichnet, gilt dies auch für die sich herausbildende populare Massenkultur.10 In den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die k.u.k. Residenzstadt zu einer europäischen Metropole. Erst durch die Staatsgrundgesetze von 1867 war eine wachsende Mobilität innerhalb des Staatsgebietes möglich geworden: Wien entwickelte sich neben Prag und Budapest zu einem Anziehungspunkt der Zuwanderung aus den Ländern der Monarchie. Nach Jahrhunderten der Rolle eines christlich-deutschen Bollwerks gegen das Osmanische Reich wurde die Stadt zum ersten Mal in ihrer Geschichte Zielpunkt der realen Vielfalt der Länder und Völker, der Kulturen und Religionen des Gesamtstaates. Die Energiestoffe der Zuwanderung waren Armut, drückende politische Lokalstrukturen und die Hoffnung auf einen gesellschaftlich offenen, Chancen gewährenden Lebensort. Nach dem heutigem Gebietsstand war Wien von einer Bevölkerung von 550.000 innerhalb von 20 Jahren auf 2 Millionen Einwohner (1910) gewachsen. Diese Phase der Urbanen Entwicklung Wiens mit der Stadterweiterung von 1890 stand allerdings in einem angespannten politischen Kontrast zu der sozialen und ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung. Doch die Stadtentwicklung zeigte auch ein anderes Bild von einer dynamischen strukturellen Erneuerung von globalem Charakter (Verkehrsstruktur, Kanalisation, Beleuchtung, Telefon usf.) und lokalen Ausprägungen mit eigenen Regeln (Kaffeehäuser, Kinos, Kaufhäuser, Vergnügungsstätten). Die Rationalität der Moderne fand in den lokalen Orten einen Widerpart, an denen neben den Triumphen der Kapitalisierung menschlicher Tauschverhältnisse und Verkehrsformen sich kollektive Kommunikationsmöglichkeiten herausbilden, die verbunden mit dem Urbanen Ensemble auch Identität stiften. Die für das allgemeine Publikum zugänglichen Vergnügungsstätten wie Prater, Tivoli oder Neulerchenfeld änderten und vermehrten ihr Unterhaltungsangebot. Zugleich boten eingeführte Vergnügungszentren wie der Prater eine ideale Projektionsfläche,

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an denen ein anderes Sein zumindest vermutet wurde: Vulgär-grotesker Humor, orgiastisch-ungehemmtes Treiben, ungezügelte Lust in den unmittelbaren Reproduktionsbedürfnissen. Wenn der Prater mit seinem sonntäglichen Corso der Aristokratie und Neureichen in der Hauptallee und dem Wurstelprater die Welt der Oberen und Unteren widerspiegelte, so war im „Dazwischen" ein offener Raum für Schauen aus größerer oder näherer Distanz, für neidvollen Vergleich und ironische Belustigung. So sehr die Nationalitätenkonflikte die Innenpolitik beherrschten, die Handlungsfähigkeit des Staates paralysierten und das supranationale Gebilde dem politischen Zeitgeist, nämlich der Bildung von Nationalstaaten, entgegenstand, so bereichernd und vielfältig war das Aufeinandertreffen des bunten Völkergemisches. 11 Das soll hier nicht die Illusion nähren, dass in den Anfängen der Massenkultur in Wien der Hegemonieanspruch der Deutschen gegenüber den anderen Nationen des Vielvölkerstaates und der latente bis paranoide Antislawismus und Antisemitismus nicht vorhanden gewesen wäre, aber der von unterschiedlichsten Menschen mit Erwartungen und Neugierde aufgesuchte exotische und freiere Vergnügungsort ermöglichte es, im Unterschied zu den sonstigen gewohnten Strukturen, Fremdes zu antizipieren. 12

Der Kaisergarten wird zum Englischen Garten Kaiser Josef II. überließ 1766 den Prater, ein vormals nur dem Adel zugängliches Jagdgebiet, dem gemeinen Volk zur Benützung. Rasch entwickelte sich dieses Areal zu einem beliebten Erholungsgebiet und zu einem äußerst belebten Ort des Volksvergnügens. In seiner näheren Umgebung befanden sich verschiedene Grundstücke (auch jenes, auf dem später das Riesenrad errichtet wurde) weiterhin im Besitz des Kaiserhauses. 1891 verkaufte Kaiser Franz Josef den Kaisergarten, auf dem sich auch das so genannte Galitzinschlössl befand, an eine englische Firma mit der Auflage, den Gartencharakter des Grundstücks zu wahren und darauf ein elegantes Sommertheater zu errichten. 13 Die Firma nannte das Areal nun „Englischen Garten" und versuchte vergeblich, einen Vergnügungspark mit dressierten Wölfen und Drahtseilakrobatik einzurichten. Die Firma ging in Konkurs. Ein anderes englisches Unternehmen erstand das Grundstück, konnte es aber aus rechtlichen Gründen nicht nutzen. Man verpachtete es daher 1894 an den Theaterunternehmer Gabor Steiner, der aus einer jüdischen Musiker- und Schauspielerfamilie aus dem Banat stammte. 14 Durch das Staatsgrundgesetz von 1867 hatte die jüdische Bevölkerung zwar endlich die Niederlassungsfreiheit innerhalb der Monarchie erhalten, wodurch die jüdische Zuwanderung nach Wien anstieg. Dass zur selben Zeit der Antisemitismus als politische Losung aufgegriffen wurde, weist nicht nur auf die christliche Tradition der Ausgrenzung und Verfolgung des Judentums, sondern auch auf eine allgemeine, gewohnte, daher auch leicht durchzusetzende Demagogie

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des Majoritätsprinzips gegenüber Minoritäten. Den politischen Betreibern ging es auch nicht um eine demokratische, soziale Entwicklung, sondern um die politische Macht. Im Kampf um Öffentlichkeit, um Zeitungsmonopole hetzten die Deutschnationalen unter Georg (von) Schönerer gegen die „Judenpresse", während Bürgermeister Karl Lueger die Beschränkung der jüdischen Zuwanderung forderte. Viele Juden versuchten der drohenden Ausgrenzung durch Konversion zu entgehen, auch wenn der Wahlspruch eines Lanz von Liebenfels „Aus seiner Rasse kann man nicht austreten" immer lauter wurde. Gabor Steiner jedenfalls trat 1894 zum evangelischen Glauben über, was ihn allerdings 1938 nicht vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten bewahrte. 13 1892 übernahm Steiner im Rahmen der „Internationalen Ausstellung für Musik und Theaterwesen" im Prater die künstlerische Leitung des „Hans-WurstTheaters". 16 Die Ausstellung wurde von dem Architekten Oskar Marmorek 17 gestaltet. Gabor Steiner fand in ihm einen kongenialen Partner für die Planung und Errichtung der Vergnügungsstadt „Venedig in Wien". Marmorek plante ein Gesamtkunstwerk, was genau den Intentionen Gabor Steiners entsprach, der es verstand, mit Künstlern der Theater- und Musikwelt, aber auch der bildenden Künste zusammenzuarbeiten. Adolf Loos, der Kritiker des Ornaments, brachte dem Maitre de plaisir große Sympathie entgegen: „Gabor Steiner! Ich habe eine Vorliebe für diesen Mann. Wie dankbar können ihm alle Wiener sein! Ohne ihn müßte man schamrot werden, wenn uns ein Fremder im Sommer fragen würde: ,Wo soll ich den Abend verbringen?' Er allein rettet in den Sommermonaten den Ruf Wiens als Theaterstadt, als Stadt der Musik, des Tanzes und der Lebensfreude." 18 Trotz großer Widerstände aus der Stadtverwaltung - das Bauamt verweigerte auf Betreiben Luegers die Baugenehmigung - konnte Steiner sein Projekt realisieren. Doch vorher riet ihm der damalige Bürgermeister Dr. Grübl, er möge statt etwas Neuem lieber „Alt-Wien" nachbauen: „Das mögen die Wiener immer gern." Dieser Vorschlag war durchaus „wohlwollend" gemeint. Die Sehnsucht nach der früheren, guten und ruhigen Zeit, dem goldenen Zeitalter des Barock oder dem silbernen des vormärzlichen Wien, trat wie ein Wunsch nach Rückkehr in eine unbelastete Kindheit auf, in der noch um seiner selbst willen ohne Zwecksetzung und rationale Anforderungen und ohne Konsumdruck Vergnügen und Lustbarkeit möglich schienen. 19 Mit der realen Vergangenheit in feudal-absolutistischer Ordnung, mit der von Adel und Kirche kontrollierten Öffentlichkeit und der Festschreibung des sozialen Lebensvollzugs von Geburt an, nahm man es nicht so genau. Vielmehr zielte die Imagination auf herrschaftsfreie Nischen, in denen sie „Typen" und „echte Originale" zu verlebendigen suchte - in ihrer politischen Kontur harmlos, ohne Interesse oder gar Begeisterungsfähigkeit für gesellschaftspolitische Fragen. Die Jahrhundertwende-Moderne nahm ein „urwienerisch" und „Alt-Wien" auf, das unter der Decke der Verhältnisse und der Geschichte zu schlummern schien. Diese „zeitlos populare kulturelle Identität" „umfaßte Institutionen, Stile, Praktiken, die viel-

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leicht auf Traditionen aufbauen mögen, aber dennoch moderne Erfindungen sind und den Metropolen ihr genuines Image geben." 20 Was längst von der Moderne hinweggefegt war, findet sich in lokalen Kulturausprägungen, in Possen, Revuen, Lustspielen, Operetten wieder und mutiert, von einem breiten Publikum aufgenommen, zu einem Stadtsignet. Die Integrationskraft der Typen und Verhältnisse von vorgestern im geschickt verpackten Versatzstück ehemaliger Kulturformen war gering, verstärkt wurde vielmehr der Assimilationsdruck gegenüber den Zugewanderten. Eine mögliche Identifikation setzte Anpassungen in der Sprache und in der Religion voraus. Die populistische Massenpolitik eines Dr. Lueger jedenfalls nützte und forcierte dieses mythische Wiener Fundament, „Alt Wien" genannt. Aber Gabor Steiner erwies sich als ein äußerst hartnäckiger und geschickter Verhandler. 1895 eröffnete er auf dem Areal der Kaiserwiese, das vom späteren Standort des Riesenrades bis zum Bahnviadukt reichte und damals „Englischer Garten" hieß, die Vergnügungsstadt „Venedig in Wien". Originalgetreue Palazzi Venedigs erstanden zwischen Kanälen, die von nachgebauten venezianischen Gondeln befahren wurden. Zahlreiche Theater und Konzertsäle boten ein reichhaltiges Programm mit den beliebtesten Künstlern Wiens. Dieser Teil des Praters unterschied sich vom Volksprater durch seine kulturell hochwertigen Darbietungen wie Kunstausstellungen, Uraufführungen und Konzerte unter berühmten Dirigenten sowie durch vornehme Restaurants. Man bezeichnete ihn daher allgemein als „Nobelprater".

Das „englische" Riesenrad in „Venedig in Wien" Gabor Steiner war ein kreativer, moderner Unternehmertypus. Er kannte das Tempo, in dem sich Vergnügungsattraktionen verbrauchten und als langweilig empfunden wurden. Sein Publikum waren nicht die breiten Massen, sondern die mondäne, gutsituierte bürgerliche und adelige Welt. Er unternahm immer wieder ausgedehnte Reisen auf der Suche nach neuen Attraktionen für Wien. So sah er zum ersten Mal in London in Earl's Court ein Riesenrad. Seine Begeisterung kannte keine Grenzen und er beschrieb diesen Moment tief beeindruckt: „[...] platt vor Bewunderung, Neid im Herzen, betrachtete ich dieses Riesenspielzeug, aber den Gedanken, das wäre etwas für ,Venedig in Wien', trachtete ich im Keim zu ersticken. Wer wird solch kostspielige Sache finanzieren, wer wird so eine gewaltige Summe an ein ,Schauobjekt' wenden?" 21 England galt damals in vieler Hinsicht als Vorbild: Englisches Benehmen und Erziehung galten als vornehm, englische Stilformen als Muster für Repräsentations- und Zweckbauten, englische Produkte als modern (was die Wirtschaftsbeziehungen intensivierte). Nach den Erinnerungen Gabor Steiners kam eines Tages der österreichische Vertreter der englischen Schiffskesselfabrik Messrs. Maudsley Sons & Field, Ing. Feilendorf, zu ihm und übermittelte ihm

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das Anliegen von Walter B. Basset 22 , dem Konstrukteur und Erbauer der englischen Riesenräder, auch in Wien auf seine Kosten zum 50-jährigen Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josefs ein solches Rad errichten zu wollen. Aufgrund der komplizierten Pachtbedingungen war es ursprünglich nur als eine kurzlebige Attraktion gedacht. Man einigte sich schnell. Große Schwierigkeiten gab es zunächst mit der Baubehörde in Wien, obwohl das Riesenrad nicht der erste Eisenkonstruktionsbau in Wien war. Zuvor waren bereits die Rotunde zur Weltausstellung 1873 und das Palmenhaus im Schlossgarten Schönbrunn 1882 errichtet worden. Es bedurfte der großen Überredungskunst Gabor Steiners, die Behörde von der Sicherheit und Attraktivität dieser Eisenkonstruktion zu überzeugen. Stahl war der moderne Industriebaustoff und England die Heimat der bahnbrechenden Erfindungen, die Eisen erst für kühne Konzeptionen als Baustoff von schwerelos wirkenden Bauwerken verwendbar machten, die für Weltoffenheit und Transparenz sprachen. 23 Trotzdem blieb das Misstrauen der Baubehörde so groß, dass sie einen österreichischen Betriebsingenieur bestellte, der das Rad ständig zu überwachen hatte.24

Ein Rad wächst in den Himmel Die Wiener Bevölkerung trat dem neuen Bauwerk mit einer gewissen Skepsis gegenüber. Acht Monate dauerte die Errichtung des Rades und täglich fanden sich Zuschauer ein, die mit mehr oder weniger fachkundigen Kommentaren den Bau begleiteten, unterstützt von mehr oder weniger witzigen Glossen und Karikaturen in den Zeitungen. Immerhin bezeugten viele Wiener schon von Baubeginn an größtes Interesse an dem gigantischen Rad. Dass nicht nur der Bauherr, sondern auch die Ingenieure und Monteure aus England kamen (der große Trupp von Handwerkern und Bauarbeitern stammte aus der Monarchie) stachelte die Neugier zusätzlich an. Außerdem bezog man das Material aus England und der Transport erfolgte oft auf die abenteuerlichste Weise durch die Straßen Wiens. Die Karikaturisten und Volkskünstler machten aus diesem riesigen Rad sehr bald eine „Haspel". Diese Bezeichnung verkleinerte das Riesenrad und war eine Absage an jegliche Gigantomanie. Zudem war eine Haspel etwas Vertrautes, da es ein derartige klein dimensionierte Attraktion neben Ringelspielen, Schaukeln und Kegelbahnen bereits im Volksprater gab. Auch die Rotunde, ein Wunderwerk aus Eisen und Glas, das noch höher als das Riesenrad war, hatte wegen ihrer Form im Volksmund die Bezeichnung „Guglhupf" erhalten - ein Relikt des „Hanswurst-Humors", dessen Komik sich aus der Lust an banalen und albernen Dingen nährt, aber von den Konflikten der Mächtigen und von wichtigen Staatsaktionen ausgeschlossen bleibt, sich auf die Rolle des Kommentators beschränkt, einmal frech, ein anderes mal devot geduckt. Die Kehrseite des Lächerlichen offenbart sich, wenn so ein gigantisches Bauwerk herabgeholt wird auf ein allgemein bekanntes funktionales Arbeitsgerät, das aber längst von der

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industriellen Massenproduktion verdrängt worden ist, die für den großen Profit steht. Carl Lorens, ein beliebter Komiker der Jahrhundertwende, gab die ambivalente Einstellung der Wiener Bevölkerung in dem Sketch „Das Riesen-Rad im Prater" wieder, indem er auf die Frage, was denn das „Ungethüm" aus Eisen bedeuten solle, einen Wiener antworten ließ: „Das ist das neue Riesen-Rad Gigantic Well, auf Deutsch genannt Haspel. Die heutigen Haspeln genügen nicht mehr für die Menschheit, sie sind alle zu klein, man muß dem Zeitgeist huldigen, muß mit dem Fortschritt gehen." 25

Karikatur im „Kikeriki", 25. April 1897, mit folgendem Text: „Selbstgefühl. Noske: ,Was sagt Ihr dazu! Das soll der größte Haspel in Wien sein, daß ich net Lach!'"

Die Wiener Bevölkerung reagierte demnach eher mit Neugierde, gepaart mit Misstrauen und Spott gegenüber Gigantomanie und Fortschritt. Manche mögen sich vielleicht für den neuen Baustil begeistert haben. Aber auch der Standort war reizvoll, entstand dieses Bauwerk doch im Nobelprater, der von einem Zaun umgeben war und Eintritt kostete; ganz abgesehen von den Eintrittspreisen in die noblen Theater, Konzertsäle und Restaurants. Das einfachere Volk konnte sich diesen Luxus sicher nicht oft leisten und musste sich mit einem Blick durch das Gitter begnügen. Aus dieser Sicht erhielt das Riesenrad erst einmal den Anstrich einer Attraktion für die bessere Gesellschaft.

Die Befestigung der letzten Schraube und die Eröffnung Gabor Steiner unterstrich dieses Image von Anfang an: Er gestaltete die Befestigung der letzten Schraube zu einem gesellschaftlichen Ereignis, indem er die Gattin des englischen Botschafters einlud und diese Veranstaltung sehr werbewirksam mit dem 60-jährigen Regierungsjubiläum von Königin Viktoria von

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England in Verbindung brachte. Damit hatte er Presse sowie Publikum und besonders die englische Kolonie in Wien gewonnen. Zudem sollte der Reinerlös der Veranstaltung dem „Victoria-Gouvernanten-Heim" sowie dem „Unterstützungsfonds für hilfsbedürftige Engländer" zugute kommen. Die Zeitungen berichteten ausführlich, mit begeisterten Worten, über den Festakt: „Das Programm des Englischen Gartens kann wohl durch nichts überboten werden. Nun kommt noch mit dem Riesenrade ein neuer Reiz hinzu und es wird dem Wiener Publicum ein Vergnügen geboten, das es bisher nicht gekannt hat.26

„Die letzte Schraube." Einnietung der letzten Schraube durch Lady Rumbold, die Gattin des englischen Botschafters, 24. Juni 1897

Am 3. Juli 1897 war der Tag der Eröffnung. „Alles war entzückt und es gab nicht zu bewältigende Stürme auf die Kassen", erinnerte sich Gabor Steiner 27 und die Medien lobten dieses technische Wunderwerk euphorisch. 28 Das Meisterwerk der Ingenieurkunst hatte einen Durchmesser von 60,96 m, sein höchster Punkt betrug 64,75 m, das Gesamtgewicht 430,05 t. Es verfügte über 30 Waggons und bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von 2,7 km/h.29 10.000 Besucher fuhren am Eröffnungstag mit dem Riesenrad, obwohl der Fahrpreis

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8 Gulden betrug (das entsprach dem Preis von 5 kg Schweinefleisch); später kostete eine Fahrt nur mehr 50 Kreuzer. Man war also ziemlich mutig, aber es lockte die Aussicht auf die Stadt, den Wienerwald, die Donau und die Wiener Luft, in der Strauß-Walzer vibrierten. Das Sensationelle am Riesenrad war jedoch, dass zum ersten Mal ein Rundblick ohne eigene Anstrengung möglich wurde. Viele Teilnehmer zelebrierten das Ereignis: Mitfahrende Engländer zerschellten ihre Sektflaschen an den Außenwänden der Waggons „und begingen so eine Art feierlicher Schiffstaufe; und als die Champagnerflaschen zersplitterten und das moussirende Naß die Eisenbalken benetzte, erbrauste ein donnerndes Hipp! Hipp! Hurra! Director Gabor Steiner hielt dann eine kurze, kernige Rede, welche in ein Hoch auf den Kaiser ausklang." 30 Für die nächsten Jahre war „Venedig in Wien" mit diesem ausgefallenen „Aussichtsrad", dieser Meisterleistung der Ingenieurkunst, ein viel besuchter Vergnügungsort. Binnen kurzem wurde das Riesenrad auch zu einem beliebten Objekt für Maler und Fotografen. So entstanden um die Jahrhundertwende Ansichtskarten nach Aquarell- und auch Ölbildvorlagen - das Riesenrad im Hintergrund, unübersehbar inmitten blühender Bäume im Frühling, zwischen dichtem Grün im Sommer und buntem Laub im Herbst. Das mächtige sich drehende Rad ist bis heute ein emblematisches Motiv der Stadt geblieben, das auf unzähligen Ansichtskarten tagtäglich in die Welt verschickt wird. In den ersten Jahren konnte man in großen Lettern über dem Riesenrad „Basset-Rad" lesen. Die Baukosten hatten rund 750.000 Kronen betragen. Da die Emission von Aktien nicht den erwarteten Erfolg hatte, kaufte Basset die Wertpapiere zurück und war nun Alleineigentümer. Obwohl die Jahre 1897 und 1898 mit jeweils rund 240.000 Besuchern sehr erfolgreich waren und bereits das Eröffnungsjahr einen Gewinn von 80.000 Gulden verzeichnen konnte, blieb der erhoffte finanzielle Erfolg jedoch langfristig aus. Aufgrund einer gewissen „Anglomanie" und einer starken wirtschaftlichen Präsenz englischer Unternehmen 31 störte es bis zum Ersten Weltkrieg in Wien niemand, dass sich das Riesenrad in ausländischem Besitz befand. Erst dann begann der Lokalpatriotismus unter anderem auch das Riesenrad mit Beschlag zu belegen.

Das Riesenrad in Karikatur und Volkslied Karikaturisten verbanden mit dem Riesenrad immer wieder aktuelle Themen, was wohl für die große Popularität des Bauwerks spricht. Schon 1897 brachte eine Karikatur in der satirischen Zeitung „Floh" das Riesenrad mit Ministerpräsident Graf Kasimir Badenis wild umstrittenen Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren in Verbindung. Diese verlangten eine zweisprachige Amtsführung aller Zivilbehörden sowie die Erlernung beider Landessprachen durch alle Beamten innerhalb von drei Jahren. Die Verordnungen, die ohne Fühlung-

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nähme mit den deutschen Parlamentariern erlassen worden waren, trafen besonders die deutsche Beamtenschaft. 32 In der Karikatur wurde das Riesenrad zum Botschafter der Hauptstadt. Die Botschaft selbst richtete sich in erster Linie an die Deutschen der Monarchie, die innerhalb des supranationalen Staates eine Minderheit waren - dem wachsenden nationalen Selbstgefühl der Nationalitäten gegenüber hilflos und nach unten gedrückt. Man machte aus dem Riesenrad ein Schicksalsrad.

„Das österreichische Riesenrad." Karikatur in der satirischen Zeitschrift „Floh", Juli 1897, mit folgendem Kommentar: „Badeni: ,Nur Geduld, lieber Michl, das Riesenrad dreht sich, und bald kommst Du wieder in die Höhe!'"

Auch die humoristischen Zeitschrift „Kikeriki" von 1897 spielte in einer Karikatur auf die Version des Schicksalsrades an.33 Dieses Blatt war überhaupt das deutschnationale Sprachrohr eines „Österreich-zuerst"-Gedankens, welcher die Aversionen gegen die anderen Nationalitäten und gegen Minderheiten schürte, und es benützte das Riesenrad ebenfalls als Transportmittel für das brisante Thema des Nationalitätenkonfliktes, allerdings gepaart mit der Hetze gegen Juden und Klerus, der das Rad zu bewegen weiß. Die Zeichnung zeigt den Deutschen in jener Gondel, die sich gerade am untersten Punkt des Riesenrades befindet; der Begleittext: „Das Riesenrad (im Wiener Venedig) ist mein Trost. Lehrt es uns doch, daß Diejenigen, die ganz unten sind, bald hinauf kommen

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müssen!", nährt die Hoffnung auf einen baldigen Aufstieg und damit auf wiederzugewinnende Dominanz. Die zeitgenössische politische Karikatur war durchaus ein bevorzugtes Medium des Antisemitismus und bediente die Interessen der populistischen Massenparteien: Eine gekrümmte Nase, der Gestalt eventuell einen Geldbeutel beigegeben, schon war die sinnliche Gewissheit für das Auge des Antisemiten hergestellt, wonach Juden das Kapital sind und das Kapital jüdisch. Das Thema um den „echten Wiener" zeugt davon, wie sehr die Wiener Gesellschaft durch den Antisemitismus zerrissen war und sich ein Antimodernismus als Gegenströmung zu der politischen Schwäche ausprägte. Das Außen- und das Selbstbild waren im Begriff auseinanderzufallen. Wien, die Haupt- und Residenzstadt - ein ökonomischer wie auch kultureller Anziehungspunkt der k.u.k. Monarchie und das Wien, das sich von Fremden belagert, ja sich seiner selbst entfremdet sieht. In den Liedtexten der Künstler aus der Entstehungszeit des Rades finden wir immer wieder einen philosophisch-politischen Zugang zum Riesenrad, der ihm weit über die Bedeutung eines Aussichtsrades hinaus Aufmerksamkeit verleiht. So sagt Carl Lorens in seinem „Das Riesenrad im Prater. Vortrag für einen Herrn" 1897: „Wie ich herunterg'schaut hab, bin ich zu der Einsicht kommen, daß das Riesenrad der einzige Fleck ist, wo sich alle Menschen gleich sind: einmal ist ,Der' dann wieder ,Der' in der Höhe." 34 Auch Carl Lorens mag die Herrschaft der Deutschen über die anderen Nationalitäten innerhalb der Monarchie, wie es uns die Karikatur im „Kikeriki" vorführt, vor Augen gehabt haben. In einem Sketch äußerte er sich gegenüber den Sprachenverordnungen von Ministerpräsident Badeni sehr negativ. 35 Als Wiener Volkskünstler war er sicher ein Sprachrohr einer breiten Schicht der Wiener Bevölkerung, die in erster Linie „deutsch-österreichisch", wenn nicht gar „deutschnational" dachte.

Das Riesenrad zwischen Sensationen und Desinteresse Sobald das Interesse des besseren Publikums an „Venedig in Wien" abzunehmen drohte, musste Gabor Steiner nach neuen Attraktionen suchen. 36 1901 verwandelte er das Areal in eine „Internationale Stadt" mit japanischen, ägyptischen und spanischen Straßenbildern, 1902 in eine „Blumenstadt" mit einem reichhaltigen Unterhaltungsprogramm, das prominente Komponisten und Dirigenten wie Franz Lehar, Alexander Zemlinsky, Karl Kapeller, Richard Strauss und die legendären Schauspielerinnen Fritzi Massary und Mitzi Zwerenz bestritten. 1903 entstand die „Elektrische Stadt" mit zahlreichen Theatern und Freilichtbühnen. Die Aufführungen fanden das ganze Jahr hindurch statt, denn während der Direktion Steiners (1900-1908) an „Danzers Orpheum" wurde das berühmte Operettentheater als die Winterspielstätte von „Venedig in Wien" genützt.

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Doch auch das Riesenrad blieb im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses - freilich mitunter ungeplant. Als am 5. Mai 1898 in der Rotunde die KaiserJubiläumsausstellung eröffnet wurde, klammerte sich eine arbeitslose Artistin in schwindelnder Höhe mit ihren Zähnen an ein Seil, das an einer Gondel befestigt war; ihr ebenfalls arbeitsloser Verlobter suchte durch das Schwenken einer Fahne das Interesse der Praterbesucher zu wecken - eine Ordnungsstrafe und ein Engagement waren die Folgen. 37 Die Frequenz des Riesenrades war jedoch eindeutig mit der Attraktivität von „Venedig in Wien" verbunden. Gabor Steiner beendete die Saison 1908 mit einem finanziellen Debakel. Auch sein Nachfolger Alfred Hugo Winter, Kompagnon im väterlichen Handelsunternehmen und Leutnant der Reserve, erlitt trotz zahlreicher neuer Attraktionen Schiffbruch. Steiner ging nach einem gescheiterten Neubeginn in der Sommersaison 1912 endgültig in den Konkurs; er verließ Wien fluchtartig, um einer Schuldhaft zu entgehen.

Das Riesenrad in „Venedig in Wien", um 1900

Das Riesenrad blieb von diesem Abstieg nicht unberührt. Zudem stahl ihm eine monumentale Hochschaubahn, die von der Hauptallee bis zur Ausstellungsstraße reichte, die Show. Wenn das Riesenrad gar zu verlassen wirkte und die Geschäfte schlecht gingen, erklangen in Zeitungen wehmütig-poetische Töne über das verlassene Wiener Wahrzeichen, „an dem sich die vielen Wanderer, die Sonntag spätabends von den Wienerwaldhöhen heimwärts strebten, die in Finsternis getauchte Stadt vor sich [...]" orientieren konnten.

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Im Sommer 1913 widmete ihm die „Reichspost" einen Artikel, der fast wie ein Nachruf klang: „Tagelang steht das Rad still. Einsam ragt es in den winterlichen Sturmhimmel, in die feuchten Praternebel hinein. Bis an sonnigen Sommertagen wieder ein paar Gäste erscheinen und in die Waggons steigen. [...] Viele Stunden des Tages steht es still und der gähnende Mann hinter dem Schalter hört nicht ohne Neid und Bitterkeit das ununterbrochene Jauchzen von der knapp nebenan liegenden ,Scenic Railway'. Der Strahlenkranz des Riesenrades steht am Himmel hingezeichnet und das da unten wäre nicht Wien, wenn sich das funkelnde Rad nicht aus dem Lichtergewirr heraushübe. [...] Doch es liegt zumeist verlassen da, vereinsamt, übersehen ob all seiner Unübersehbarkeit [,..]" 3 8 Hier mahnte man in gewisser Weise die Wienerinnen und Wiener, „ihr" Riesenrad doch nicht im Stich zu lassen und durch eine Fahrt mit dem Rad auch für seine Erhaltung zu sorgen: „Das ungeheure Räderwerk ruht wie ein altersmüdes Riesentier." Anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums des Wiener Kongresses 1914 ließ Alfred Winter im Kaisergarten „Alt-Wien" mit der Nachbildung alter Gebäude, Modeschauen, Konzerten, Theateraufführungen und Ausstellungen wiedererstehen. Auch für das Riesenrad erhoffte man sich einen neuen Aufschwung. Im April hatte es wieder eine Sensation zu bieten: Die Kunstreiterin und Zirkusdirektorin Solange d'Atalide unternahm für Dreharbeiten zu einem Film hoch zu Ross eine Fahrt auf einem Waggon. Trotz offensichtlicher Tricks bei den Aufnahmen stand das Riesenrad wieder im Mittelpunkt der medialen Berichterstattung. 39

Das Riesenrad im Ersten Weltkrieg - Objekt zur Demonstration von Patriotismus Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde das Riesenrad unter militärische Aufsicht gestellt und als Aussichtswarte nach Nordosten benutzt. Aus Furcht vor einer russischen Invasion blieb der Betrieb mehr als ein Jahr lang eingestellt und wurde 1915 kurzzeitig wiederaufgenommen, wobei sich das Rad vor allem bei urlaubenden Frontsoldaten großer Beliebtheit erfreute. Doch nun trat wieder Alfred Hugo Winter auf den Plan. Der jüdische Geschäftsmann war zum Katholizismus konvertiert, hatte sich als Freiwilliger zum Militär gemeldet und 1915 nach einer Verwundung als Rittmeister die Militärlaufbahn beendet. 40 Winter erwies sich gleichermaßen als geschickter Unternehmer wie als patriotischer Österreicher. Bereits 1911 hatte er trotz seiner Pleite in einer undurchsichtigen Transaktion die Hälfte des ehemaligen Kaisergartens von seinen englischen Besitzern zurückgekauft. 41 Angesichts der veränderten Besitzverhältnisse erachtete er den alten Pachtvertrag mit der Familie Basset für das Grundstück, auf dem das Riesenrad stand, für ungültig. Winter verband eine Klage auf Demolierung des Riesenrades mit dem Antrag, die Eigentümer sollten ihm

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das Riesenrad als Kompensation für die Abbruchkosten überlassen. Langwierige Rechtsstreitigkeiten, in die auch der Aufsichtsingenieur des Riesenrades, Friedrich Beck, involviert wurde, waren die Folge. Als im Ersten Weltkrieg die Parole „Gold gab ich für Eisen" ertönte bzw. auch einige Zeit später das Eisen knapp wurde, beabsichtigte er, das eiserne Monstrum zu verschrotten und dem Kaiser zu Füßen zu legen. Winter ließ es zur Hereinbringung der geforderten Demolierungskosten pfänden und erstand es bei der Zwangsversteigerung 1917 für einen Pappenstiel von 22.000 Kronen. 42 Angesichts des Preisverfalls für Alteisen verkaufte er 1919 das Riesenrad an den tschechischen Eisenwarenhändler Eduard Steiner mit der Bedingung, es binnen drei Monaten abzutragen. Im April 1920 berichteten Wiener Zeitungen bereits vom „Ende des Riesenrades". Aber auch für den neuen Besitzer erwies sich die Demontage als unrentabel. Er entschloss sich daher, mit Winter neue rechtliche Vereinbarungen einzugehen und das Riesenrad weiterhin als Vergnügungsbetrieb zu erhalten, 43 obwohl der Betrieb nur zögernd anlief. Zu Füßen des Rades wurde eine Ausspeisung für Flüchtlinge eingerichtet, die am Nordbahnhof tagtäglich eintrafen. Der einst noble Kaisergarten war zu einem glanzlosen, traurigen Terrain herabgekommen. Die meisten Einheimischen hatten weder Geld noch Lust zu einer schönen Aussichtsfahrt mit Blick über die Dächer der nun als „Wasserkopf" bezeichneten Metropole. Der Prater und das Riesenrad befindet sich in der Leopoldstadt, dem 2. Wiener Bezirk, zwar peripher gelegen, aber durch die Praterstraße in gerader Luftlinie mit dem Zentrum verbunden. Arthur Schnitzler erinnert sich an die Straße als ein vornehmes Viertel mit ihren Palais, Theatern und Kaffeehäusern. Der Massenquartier-Bauboom um die Jahrhundertwende, mit den trostlosen Hinterhöfen, den zehn Parteien in einem Stock, mit maximal ZimmerKüche-Kabinett-Bassenawohnungen, gehörte der neueren Entwicklung des Bezirks an. In die Leopoldstadt kamen im Laufe der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts jüdische Einwanderer aus Mähren, Böhmen und Ungarn. Die Zuwanderung aus Galizien und der Bukowina setzte im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ein. Joseph Roth beschreibt in seinem Buch „Juden auf Wanderschaft" die Situation um die Jahrhundertwende in Wien: „Die Ostjuden, die nach Wien kommen, siedeln sich in der Leopoldstadt an, dem 2. der 20. Bezirke. Sie sind dort in der Nähe des Praters und des Nordbahnhofs. Im Prater können die Hausierer leben - von Ansichtskarten für die Fremden und vom Mitleid, das den Frohsinn überall zu begleiten pflegt." Nach den Angaben der israelitischen Kultusgemeinde waren bereits zwischen 1896 und 1914 41 % der Armengelder an die in der Leopoldstadt wohnenden Juden ausbezahlt worden. 44 In den Nachkriegsjahren erreichte die Flüchtlingswelle verarmter, überwiegend orthodoxer Juden aus Galizien und der Bukowina die Leopoldstadt. Um 1919 lebten 60.000 Juden im 2. Bezirk,

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fast die Hälfte der Leopoldstädter Bevölkerung, der größte jüdische Wohnbezirk. Das heißt nicht, dass ganz offene Pogromaufrufe nicht auch zum Tagesbild gehörten. Tätig war der „Deutschösterreichische Schutzverein Antisemitenbund" und ermunterte in seinen Kundgebungen zum offenen Schlagabtausch mit der jüdischen Bevölkerung.

Wirtschaftliche Krise und politische Instabilität - die 1920er-Jahre Alfred H. Winter hatte den Englischen Garten wieder in „Kaisergarten" umbenannt. Doch die meisten Theater blieben geschlossen, das Flair exklusiver und gehobener Unterhaltung war verblasst. Der wirtschaftliche Zusammenbruch nach dem Krieg sowie Luxus- und Vergnügungssteuern erschwerten einen Neubeginn. Indem Winter Betriebe wie Hippodrom, Autodrom, Wasserfahrt, Schießstand etc. einrichtete, glich sich die einstige Vergnügungsstadt „Venedig in Wien" immer mehr dem Volksprater an, was natürlich den Unmut der dortigen Budenbesitzer hervorrief. Ein zäher Kleinkrieg um neue Restaurants, das erste „Automatenbuffet", neue Pratereingänge (u.a. beim Riesenrad) war die Folge. 45 Das Jahr 1922 stellte das Riesenrad wieder mit einer Sensation in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ein New Yorker Reporter, der in Wien Filmaufnahmen über das Elend der Nachkriegszeit machte, war vom Riesenrad so fasziniert, dass er zwei Artisten auf dem Dach eines Waggons ihre Kunststücke vorführen ließ und sie auf seinen Film bannte. Diese Attraktion konnte das amerikanische Publikum in 11.000 Kinos bewundern. 46 Doch das blieb nicht die einzige Sensation. In den 1920er-Jahren kämpften auch die Artisten ums Überleben und boten daher immer waghalsigere Kunststücke dar. Zwei Frauen veranstalteten für eine Filmszene auf dem unsicher schwankenden Dach eines Waggons einen Boxkampf, der berühmte Hochseilakrobat Blondin, der durch die Überquerung der Niagarafälle auf einem Seil berühmt geworden war, trat auf - und sogar ein Löwe musste die Rundfahrt auf dem Dach eines Waggons überstehen (angeblich tat er es mit stoischer Ruhe). 47 Großveranstaltungen hauchten dem Prater wieder neues Leben ein. Im Sommer 1928 fand hier ein Sängerfest zum 100. Todestag von Franz Schubert statt. Es wurde dafür eine eigene Halle errichtet, die 40.000 Besucher fassen konnte. Einen Monat lang traten Tausende Chöre auf. Die Geschäftswelt erhoffte sich steigende Umsätze. Die Rechnung ging auf, alle waren zufrieden: „Das Riesenrad, die Hochschaubahn und alle Karussels waren ständig belagert." 48 Rund um das Riesenrad hatte sich wieder eine knisternde, aber auch mit Herzgefühlen aufgeladene Atmosphäre aufgebaut. In ihr klangen alte und neue Schlager wie „Im Prater blühn wieder die Bäume" (Musik: Robert Stolz, Text: Kurt Robitschek) oder das von dem Orginal Hermann Leopoldi gesungene „Schön ist so ein Ringelspiel" (Text: Peter Herz).49

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Dass die Besucherzahlen und die Umsätze im Volksprater sowie im Kaisergarten spürbar zurückgingen, verschuldete der Börsenkrach von 1929. In der Folge hielten sich die meisten Betriebe nur mit Müh und Not über Wasser. Der lange schwelende Konkurrenzkampf zwischen den beiden Institutionen eskalierte. Doch viele von Winters Ambitionen zu einer Modernisierung seines Vergnügungsparks und zur Schaffung neuer Attraktionen (u.a. eine Hunderennbahn, von der man sich große Propagandawirkung im Ausland versprach) scheiterten. Ein Ende der wirtschaftlichen Misere war nicht in Sicht. Frederik Brainin ließ die Tristesse des Praters in seinem Gedicht „Das Riesenrad" (1929) aufblitzen. 50 Die Sonntagssonne malt den Prater: die Grottenbahn, das Filmtheater, langsam steigt das Riesenrad. Die Vogelschau sperrt Kindskopf die Goschen: Stier bis auf paar letzte Groschen landen sie unten bei der Arkad. Die letzte Münz schluckt der Automat: Die Sportkapp rücklings nach der Tat schwankt raus der Spieler - alles hin! Wo grün beschnitten die Hauptallee betrauert des lieben Augustins Weh, jung Damen und Herrn zu Pferde ziehn. Die lagd von Kindermädchenwagen kuriert den Weltschmerz auf leeren Magen: Glücksspiel verlorn gewinnt die Frau! Ein roter Ballon (in der Sonne entkommen!) kein Babys Plärrn kann stoppen ... verschwommen schon hoch im mondfahln Frühlingsblau.

Die Dreißigerjahre - die Jahre der Straßenkämpfe und des Austrofaschismus Die „Tausendmarksperre", die Hitler-Deutschland gegen Österreich verhängte, war eine Maßnahme, die den Fremdenverkehr von deutscher Seite fast zum Erliegen brachte. Die hohe Arbeitslosigkeit wie überhaupt die angespannte politische Situation wirkten sich auf die Vergnügungsstätten aus; der Besuch von Prater und Kaisergarten ging beträchtlich zurück. Nach den Februarkämpfen

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und der Illegalisierung der Arbeiterbewegung eskalierte im Juli 1934 die politische Situation in einem Putschversuch der Nationalsozialisten und der Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß. Durch die Verhängung des Standrechts mussten die Vergnügungsbetriebe im Sommer tagelang schließen, danach wurde auch noch der Abendbetrieb durch die polizeilichen Maßnahmen lahmgelegt. Alfred Winter betonte in einem an das Handelsministerium gerichteten Gesuch um Pachtermäßigung, die Bevölkerung sei durch die innenpolitischen Verhältnisse „nicht sehr vergnügungslustig" gewesen: „Das Geschäft erschien seit dem 25. Juli überhaupt wie abgeschnitten." 51 Darüber hinaus hatte der Ruf des Praters zusehend gelitten. Diebe, lichtscheues Gesindel, Hehler, Prostituierte trieben dort ihre Geschäfte. „Mord im Riesenrad" hieß auch ein Roman von Walter Süß, der im „Kleinen Blatt" ab November 1934 in Fortsetzungen erschien. Der Plot handelt von einem mysteriösen Mord: In einem Waggon des Riesenrades wird ein Mann von einem Pfeil durchbohrt am Ende der Fahrt aufgefunden.

Der Kampf um Denkmalschutz für das Riesenrad Die Krise des Praters blieb von der Öffentlichkeit nicht unbemerkt. Man kolportierte Abbruchpläne für das Riesenrad. In den Zeitungen tauchte wiederholt das Gerücht auf, der Besitzer wolle das Riesenrad abtragen lassen und in Prag wieder errichten. Dies mobilisierte die Interessenvertretung der Schausteller und Budenbesitzer, den Praterverband (der im Frühjahr 1934 der Vaterländischen Front beigetreten war). In seinem Ansuchen an das Bundesministerium für Handel und Verkehr, das Riesenrad unter Denkmalschutz zu stellen, verschränkte sich Lokalpatriotismus („kein Wiener könne sich den Prater ohne Riesenrad vorstellen und für Fremde ist es ein Bedürfnis geworden, das Riesenrad aufzusuchen, um von dort aus den Weitblick über Wien und Umgebung zu genießen") mit wirtschaftlichen Interessen („durch dieses Wahrzeichen sei das Ansehen des Praters gehoben und das wirtschaftliche Interesse der Praterinsassen gefördert"). 52 Aber auch antisemitische und xenophobe Untertöne waren nicht zu überhören: Das Riesenrad gehörte einem Ausländer, noch dazu war Eduard Steiner Jude, und der sollte es den Wienern nicht wegnehmen. Hier stellte sich bereits ein Kollektiv, aufgestachelt von den Praterbudenbesitzern und den Medien, gegen einen Fremden, einen Ausländer, einen Einzelnen, um ein Beinahe-Heiligtum zu verteidigen. Die Abbruchpläne waren ein Gerücht, denn der Aufsichtsingenieur des Riesenrades, Oberbaurat Ing. Friedrich Beck, und der Verwalter Adolf Steiner, ein Bruder Eduard Steiners, hatten ebenfalls bereits ein Ansuchen um Denkmalschutz gestellt. Das Schreiben verband unterschiedliche Argumentationsebenen: Konservatorische („Das Riesenrad ist ein bedeutendes Denkmal der

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Technik"), ästhetische („in künstlerischer Hinsicht verschönert das Riesenrad das Antlitz der Stadt Wien"), lokalpatriotische und identifikatorische („in kultureller Hinsicht ist das Riesenrad so wie der Stephansdom [...] zu einem Wahrzeichen der Stadt Wien geworden") und ökonomische („in wirtschaftlicher Hinsicht fördert das Unternehmen den Fremdenverkehr"). Doch das Bundesdenkmalamt lehnte die Ansuchen mit der Begründung ab, „daß es sich beim Riesenrad keinesfalls um eine grundlegende technische Neuerung von dauerndem Wert, wie dies etwa beim Eiffelturm der Fall ist, handelt und die Charakteristika eines technischen oder wirtschaftlichen Denkmales fehlen. Sonach kann das englische Riesenrad im Wiener Prater trotz seiner technischen und wirtschaftlichen Bedeutung weder vom geschichtlichen noch vom vaterländischen Standpunkt aus als ein Kulturdenkmal im Sinne des Denkmalschutz-Gesetzes gelten."

Lokalpatriotisches Pathos und politische Instrumentalisierung Gegen diesen Bescheid versuchte „Das aktuelle Monatsblatt" im Dezember 1935 seine Leserinnen mit „bodenständigen" Klischees zu mobilisieren. 53 Der emotionale Artikel ignorierte allerdings die schlechte wirtschaftliche Situation des Betriebes und verzichtete auf Appelle für eine materielle Unterstützung der Betreiber; die kollektive Verbindlichkeit speiste sich allein aus der Magie des Objekts und aus der Verbindung dieser (vergleichsweise jungen) Ikone mit einer Wiener Identität. In der Emotionalität des Aufrufs spiegelt sich die Ohnmacht der österreichischen Politik: „In den Herzen aller Wiener ist es längst beschlossene Sache, daß dieses Riesenrad nie, nie aus dem Stadtbild der Wienerstadt verschwinden darf. Und doch - bluten nicht die Herzen aller Lokalpatrioten, wenn sie diese Zeilen und ihre verbürgte Wahrheit lesen? - ist dieses Wahrzeichen der Wienerstadt nicht für die Ewigkeit Wiens unveränderliches Eigentum. Ja - mehr noch - es ist nicht geschützt, nicht beschirmt - es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange es noch der Wienerstadt gehören wird. Hat es sich bereits herumgesprochen, daß gerade das Riesenrad, an dem die Herzen aller ehrlichen Lokalpatrioten hängen, daß justament dieses markante, prächtige Wahrzeichen unserer Wienerstadt nicht unter Denkmalschutz steht? [...] Es darf nicht sein, daß man dieses Bauwerk unbeobachtet verkommen und eines Tages abmontieren läßt. Wiener! Wienerinnen! Schützt das Riesenrad! Verhindert seine Demontage, seinen Abbruch! Es ist mehr wert, als nur das Eisen, das in ihm steckt!" Die Magie des Riesenrades, eingebunden in die Faszination des Praters, sollte bereits Wiener Kinder im Volksschulalter erfassen. Im 1937 erschienenen

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Lesebuch „Was kleine Leut' in Wien erfreut" war es nicht nur „Der Riese im Prater" (im Kontrast zum „Zwerg" Liliputbahn), der Faszination ausstrahlen sollte; das Riesenrad zierte in stilisierter Form auch den Umschlag des Lehrbuchs. 54 Literatinnen und politische Gruppierungen nutzten ebenfalls den hohen Symbolwert des Riesenrades. 1932 erschien der Roman „Das Riesenrad" von Hermynia Zur Mühlen. 55 Ein Praterbummel mit abschließender Fahrt im Riesenrad ist eine Schlüsselstelle, in der die schöne Tante Tuzzi der 15-jährigen, lebensgefährlich erkrankten Protagonistin eine einfache Weisheit anvertraut: „[...] das Leben ist ein bißchen wie das Riesenrad. Einmal ist man oben und kann der ganzen Welt auf den Kopf spucken, dann dreht sich das Rad und man ist wieder unten, und alle treten auf einem herum." Persönliche Befürchtungen drohenden Unheils schlagen in der freischwebenden Kabine um. Es bietet sich ein ungeahnter Weitblick, vor dem das Alltägliche verblasst und schwankend macht zwischen Schönheit und Trauer, zwischen Frieden und Furcht. In den Kellertheatern Wiens, die einer etwas gelockerten Zensur unterlagen, suchten junge Autorinnen wie Jura Soyfer, Hans Weigel, Herrmann Mostar, Peter Hammerschlag, Rudi Weys u.a. mit Mitteln des Humors und der Satire Widerstand mit literarischen Mitteln zu formieren. 1936, während der Olympischen Spiele in Berlin, hatte das Stück „Pratermärchen" von Rudi Weys in der „Literatur am Naschmarkt" Premiere. Es war dies eine Wiener Dreigroschenoper, in der sich um die vertrackte Liebe des „Taschenziagerfranzl" und der „halbseidenen Ballonbetti" eine Kriminalgeschichte rankt und worin der „Harmonikajosef" das Stück wie selbstverständlich vor der Kulisse des Riesenrades einleitet. Das „Pratermärchen", sprachlich geradezu ein Ausbruch an Wienerischen Dialekten (vom Amts- bis zum Pülcherdeutsch), politisch eine Attacke auf die Unfreiheit der Zeit, wurde in Wien 112mal aufgeführt, ging dann auf Tournee in Österreich und in die CSR und gelangte im Gepäck von Emigranten sogar bis New York.56 Affirmative Züge hingegen trug die Instrumentalisierung des Riesenrades durch die Politik. 1936 plante die Vaterländische Front, den Festzug am 1. Mai vom Rathaus zum Praterstern zu lenken; eine provokante, aber auch demütigende Geste gegenüber der verbotenen Sozialdemokratie. Der Prater war seit 1890 (dem ersten, noch illegalen „Tag der Arbeit") das Zielgebiet der MaiAufmärsche der Arbeiterorganisationen. „Im Prater selbst werden sich die Mitglieder der Bundesregierung unter der Führung von Bundespräsident Miklas einfinden, ferner die Gesamtleitung der Vaterländischen Front Österreichs und 50.000 Kinder aus Wien und den Bundesländern, die als Gäste der Praterhüttenbesitzer gratis bewirtet werden. Das Riesenrad wird von der Vaterländischen Front mit einem in entsprechenden Dimensionen gehaltenen Kruckenkreuz, mit zahllosen Fahnen und Blumen geschmückt werden." 57 Allerdings betonte man in dieser Mitteilung, dass dieser ganze Aufzug trotz seiner demonstrativen Tendenz keinen politischen Charakter haben werde.

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Das Riesenrad - ein Prestigeobjekt der Nationalsozialisten Der nationalsozialistische Zugriff auf das bekannte Vergnügungsobjekt erfolgte verhältnismäßig rasch: Waren doch Eduard Steiner, der Besitzer des Riesenrades, sowie Alfred Winter, der Grundstückseigentümer, Juden. Eine Woche nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht war Winter bereits in „Schutzhaft". 58 An Eduard Steiner konnten die Nationalsozialisten noch nicht herankommen, da er in Prag lebte und tschechischer Staatsbürger war. Allerdings erhielt der Betrieb bereits im April 1938 einen kommissarischen Leiter, der das Rad von Steiner erwerben wollte. 59 Doch die nationalsozialistische Vermögensverkehrsstelle, der die Umverteilung der „arisierten" Vermögen an treue Parteigenossen oblag, lehnte das Ansuchen ab. In der Folge reichten sowohl mehrere Praterunternehmer als auch praterfremde NSDAP-Mitglieder „Ansuchen um Genehmigung der Erwerbung des Riesenrades" ein. Mit dem Wiener Wahrzeichen konnte man sich einen Namen machen, und außerdem verzeichneten die Vergnügungsbetriebe einen ungeahnten Aufschwung. Der Umsatz des Riesenrades steigerte im Jahr 1938 um 100 Prozent. Das Wiener Wahrzeichen hatte auch äußerlich unter der schlechten Wirtschaftslage gelitten und benötigte dringend einen neuen Anstrich sowie sonstige Renovierungsarbeiten. Die Nazis ließen in den Zeitungen verlauten, wie sehr der „Jude" Steiner das beliebte Vergnügungsobjekt der Wiener hatte verkommen lassen. „Aber jetzt werden die Nationalsozialisten dafür sorgen, das Wiener Wahrzeichen wieder in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Sie retten es im letzten Augenblick vor dem Verfall [...]." 60 Als eine weitere Konsequenz dieser Ankündigung, die freilich auch der verstärkten Akzeptanz der neuen Machthaber unter der Bevölkerung diente, wurde das Riesenrad 1940 unter Denkmalschutz gestellt.61 Inzwischen versuchten die rivalisierenden Interessenten für den Kauf des Riesenrades einander durch politische Interventionen auszustechen. Als der Aufsichtsingenieur Friedrich Beck sich weigerte zurückzutreten und offen bekannte, dass er sich „dem Juden Steiner zur Treue verpflichtet" fühle - für damalige Zeiten ein äußerst mutiges Verhalten - wurde er vom kommissarischen Leiter entfernt, wie dieser sich zeitgemäß ausdrückte. Am 7. Juni 1939 ging das Unternehmen schließlich an die „Riesenrad OHG", gebildet von den vier Ariseuren Alfons Wilfert, Johann Michna, Josef Örtel und Anton Öhlwein, 62 um den Kaufpreis von 80.000 Reichsmark über. Die NSDAP belohnte also verdiente Parteigenossen mit dem Wiener Wahrzeichen. Aber keiner von ihnen hatte das Kapital zum Kauf und Betrieb des Riesenrades. Die Partei versprach einen reichsverbürgten Kredit. Zwei Monate später brach der Zweite Weltkrieg aus und die Reichsfinanz brauchte das Geld für die Rüstung. Durch finanztechnische Tricks gelang es der nationalsozialistischen Bürokratie jedoch, die später auf 52.500 Reichsmark reduzierte Kaufsumme auf angebliche Abgaben- und Steuerschulden aufzurechnen. Eduard

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Steiner ging leer aus. 63 1944 wurden er und seine Frau im KZ Birkenau ermordet. Ungeachtet des Krieges hatten die Vergnügungsbetriebe Hochkonjunktur. „Wie immer hat sich der Wiener auch heuer den veränderten Verhältnissen schnell angepaßt. Die gute Laune wurde durch Verdunkelung nicht beeinträchtigt. Bei verdunkelten Fenstern, halb heruntergelassenen Rollbalken und abgeblendeter Außenbeleuchtung konnten die Praterbetriebe bis spät in die Nacht bei bester Besucheranzahl geöffnet bleiben. Wir wollen mit den Praterleuten hoffen, daß die ,Saison' noch recht lange dauern möge", berichtete das „Neue Wiener Tagblatt" im September 1940.64 Die Hoffnung auf eine Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die die Nationalsozialisten zumindest in Teilen der österreichischen Bevölkerung zu erwecken vermochten, sollte man im historischen Rückblick nicht unter den Tisch fallen lassen. Auch das Riesenrad, das längst mit dem Hakenkreuz geschmückt war, profitierte von diesem Sturm auf den Prater, in dem sich die Kompensation des Kriegsalltags mit teils irrationalem Zukunftsoptimismus verband. 1939 hatte es 320.000 Besucher zu verzeichnen, 1941 erreichte der Umsatz mit 235.242 Reichsmark mehr als das Dreifache der Durchschnittswerte aus den Dreißigerjahren. Dass das Riesenrad „den Juden" weggenommen worden war und sich jetzt im Besitz von „Volksgenossen" befand, so dass sich die „deutsche" Bevölkerung endlich vorbehaltlos mit dem Wahrzeichen Wiens identifizieren konnte, mag zusätzlich ein Triumphgefühl ausgelöst haben. Die NSDAP hatte nicht versäumt, auch im Prater Veranstaltungen mit Aufmärschen zu inszenieren. In unmittelbarer Nähe, im Gebäude des Nordbahnhofes, war schon 1938 die berüchtigte antisemitische Ausstellung „Der ewige Jude" gezeigt worden. Mit Kriegsausbruch verstärkte sich das Bestreben der Nationalsozialisten, den Volksgenossen in ihrer immer spärlicheren Freizeit Zerstreuung und Aufheiterung zu bieten. Und dennoch behielt das Riesenrad, zumindest in der Sicht einzelner Journalisten, den Nimbus des Erhabenen. Fröhliche Ausgelassenheit wich während der Fahrt stiller Einkehr: „Nur auf dem Riesenrad werden sie [die Soldaten] fast weihevoll still, denn das Riesenrad ist keine Ulkschleudermaschine", sondern „eine sich langsam drehende Aussichtswarte, von der aus man einen Tiefblick auf die Wienerstadt genießen kann". 65

Zerstörung und Neubeginn - das Riesenrad als ein Symbol des Wiederaufbaus Als im April 1944 ein Brand auf der benachbarten Hochschaubahn nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden konnte, schien das Ende des Riesenrades nahe. Doch durch den aufopferungsvollen Einsatz von Feuerwehr, Soldaten und Angestellten gelang es, eine Vernichtung des Objekts zu verhindern; nur sechs Waggons fielen dem Feuer zum Opfer. Das „Neue Wiener Tagblatt" resümierte

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in einem zu Herzen gehenden Artikel die Liebe der Wienerinnen und Wiener zu „ihrem" Riesenrad: „Als vor kurzem die alarmierende Nachricht von einem Brand des Riesenrades Wien durcheilte, empfanden wir alle vielleicht zum erstenmal so richtig, wie sehr uns dieser alte Koloß aus Stahl und Eisen im Laufe der Jahrzehnte als fröhliches Wahrzeichen ans Herz gewachsen ist." 66

1945 - das Stahlskelett des Riesenrades

Als in der zweiten Aprilwoche 1945 die Schlacht um Wien tobte, wurden der Prater und der Kaisergarten zum Kampfgebiet. Der alte Wurstelprater mit seinen vielen Holzbauten wurde bis auf 18 Objekte zerstört. „Vom Riesenrad steht nur mehr das Stahlskelett, und der Wind bewegt die brennenden Gondeln, bis sie herunterfallen und in tausend Stücke zerbersten", berichtete das „Neue Österreich" rückblickend seinem Lesepublikum. 6 7 Doch bereits im September beschäftigte man sich mit Plänen für den Wiederaufbau der Vergnügungsstätten, was angesichts der wirtschaftlichen Situation und der teilweise neu zu regelnden Besitzverhältnisse ein schwieriges Unterfangen war. Beim Riesenrad suchte man möglichst rasch nach einer Klärung. Als erster Schritt wurden dem einzigen überlebenden nationalsozialistischen Ariseur sowie den Rechtsnachfolgerinnen der Mitbesitzer alle Besitzansprüche entzogen und ein öffentlicher Verwalter eingesetzt. 68 Dann widmete man sich der Frage von Abbruch oder Wiederaufbau. Ein unter Denkmalschutz stehendes Wahrzeichen abzutragen, fiel sichtlich auch den Politikern schwer. Da überdies die

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Abtragungskosten zwei Drittel der Aufwendungen für einen Wiederaufbau betrugen, entschloss man sich, das Riesenrad so schnell wie möglich in altem Glanz erstrahlen zu lassen. Dabei waren viele Hindernisse zu überwinden: Es mangelte an Technikern und Arbeitskräften, Baumaterial und Fuhrwerken. Doch schon 1946 äußerten die Medien ersten zaghaften Optimismus: „Mitten aus dem Chaos ragt nun das Riesenrad empor, seine Rippen und Knochen. Zu seinen Füßen sind Arbeiter am Werk, sie wollen das alte Wahrzeichen wieder zum Leben erwecken, und schon am 1. Mai soll es wieder in Betrieb gehen. Ein Waggon ist fertig und hängt bereits an den Eisenstäben des Rades. [...] Ein Anfang ist gemacht, es bewegt sich doch." 6 9 Auch Wiener Künstler der Nachkriegszeit erließen einen musikalischen Aufruf für den Wiederaufbau des Praters. Die Chansonette Hertha Sombori brachte dieses Anliegen in einem populären Lied zum Ausdruck: „Wurstelprater, Ringelspiel / Grottenbahn so voll Gefühl! / Auf der Bergund Tal-Bahn / fangt das große Glück an. / Riesenrad, Panoptikum / alles draht sich umadum / Leutl'n helfts' doch / seid's net fad, / dass sich wieder draht / das Riesenrad!" 7 0 Als am 25. Mai 1947 das Riesenrad endlich wieder zu einer Höhenfahrt einlud - gerade rechtzeitig, um sein fünfzigjähriges Jubiläum zu feiern - lesen wir in der Festtagsschrift von Rudolf Kalmar: „Wenn anstatt der Feuerbrände im feingliedrigen Netz dieses Rades wieder bunte Lichter dort leuchten, ist das Wien der Zerstörung seinem alten Bild aus dem glücklichen Gestern um ein gutes Stück nähergerückt [...] Die schwerverwundete Stadt sieht mit dem kreisenden Rad ein Zeichen am Himmel. Bewegung ist Aufstieg und Genesung. Es muß, ruft sie uns zu, bald besser werden, wenn sich das Riesenrad schon wieder dreht." 71 Damit wurde das Riesenrad zum Symbol des Wiederaufbaues, des Überlebenswillens eines zerstörten Landes - auch wenn nur mehr 15 statt 30 Gondeln am Rad hingen und es etwas „zahnluckert" wirkte, wie der Wiener Volksmund es ausdrückte. Und wieder sollte es als „ein charakteristischer Zug im Antlitz von Wien" 7 2 der Bevölkerung in drückenden Notzeiten bescheidenes Vergnügen, Hoffnung und Überlebenswillen schenken. Auch der bekannte Kabarettist Peter Wehle besang in seinem Lied "Unser Riesenrad" 1950 den Wiederaufbau des Wiener Wahrzeichens: „Und jetzt gibt's wieder Prater und Riesenrad, langsam dreht sichs und schaut auf die Stadt. Sehn'S, das sind halt so Sachen, die Wien gerne hat: An'n Riesen Radi und sein Riesenrad." 7 3 Wehle ließ sogar den lieben Gott die Welt nach der langsamen Gangart des Riesenrades erschaffen - das Weltmodell war also in Wien zu Hause, und dies gerade in einer Zeit, in der Österreich wirtschaftlich darniederlag, die vier Be-

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satzungsmächte Österreich in Zonen aufgeteilt hatten und das internationale Ansehen des Landes gering war: Schön rund muß sie sein und langsam sich drehn, es muß einmal rauf und dann runter auch gehen, und grad so genau baut er dann unsere Welt, das Modell ist bei uns aufgestellt. 1950 erlebte Wien die Premiere des Films „Der dritte Mann" mit Orson Welles und Joseph Cotton als Hauptdarstellern. Das Riesenrad diente einer der berühmtesten Szenen als Kulisse. Während Orson Welles als Harry Lime bei einer Fahrt mit dem Riesenrad seinem Jugendfreund gegenüber in süffisanter Weise seinen verbrecherischen Handel mit Penicillin-Verschnitt zugibt, sieht der Zuschauer durch die Fenster der Gondel auf das zerbombte Wien. Ein genialer Einfall des Regisseurs Carol Reed, der das Wiener Wahrzeichen als Transportmittel für Korruption und Zerstörung einer gedemütigten und zerstörten Stadt einsetzt. Die Wiener waren über diesen Film, der als der großartigste, der j e in Wien gedreht wurde, in die Filmgeschichte eingegangen ist, nicht besonders glücklich. Kein Wunder, das Bild, das hier von Wien und den Wienern gezeigt wird, spielte zu sehr in der Realität. Skrupellose Schiebereien und Schwarzmarkt der Nachkriegszeit waren das Thema.

Maria Schell und O.W. Fischer in einer Szene des Films „Das Riesenrad", 1961

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1961 entstand der Film „Das Riesenrad" mit O. W. Fischer und Maria Schell, das Drehbuch verfasste der bekannte Autor Ladislaus (Lászlo) Fodor 74 (u.a. Drehbuchautor der „Dr. Mabuse"-Filme, sowie von „Old Shatterhand" und „Kampf um Rom"). Dieser Streifen ging mit den historischen Figuren weniger hart um, sondern rührte vielmehr die Herzen der Zuschauer. Hier war das Riesenrad ein Symbol des Aufstiegs und Niedergangs einer Familie in den Zeiten der politischen Wirrnisse Österreichs.

Rückstellungsverfahren und Neuregelung der Besitzverhältnisse Trotz der Euphorie des Wiederaufbaus blieb das Riesenrad von Turbulenzen nicht verschont. 1948 meldeten sich die Erbinnen von Eduard Steiner und es begann ein Rückstellungsverfahren, das sich fünf Jahre hinziehen sollte. Die Republik Österreich wollte von den Erbinnen die Wiederaufbaukosten in Höhe von 1,132.337,26 Schilling rückerstattet. Diese lehnten nicht zuletzt mit dem Hinweis ab, Eduard Steiner habe für den erzwungenen Verkauf des Riesenrades keinerlei Bezahlung erhalten. 1953 wurde den Erbinnen endlich das Riesenrad zuerkannt; damit war es wieder in tschechischem Besitz. Der geforderte Ertragsausfall für die Zeit der Arisierung wurde von der Republik Österreich allerdings abgelehnt. 75 Zur Rückerstattung der von einem staatlichen Verwalter veruntreuten Summe mussten die Erbinnen den Rechtsweg beschreiten; erst 1955 wurde die Causa abgeschlossen. 76 Überhöhte Pachtforderungen der Grundstücksbesitzerin, der Deutschen Kaisergarten-Gesellschaft, 77 gefährdeten in der Folge die Weiterführung des Betriebes; die neuerlich im Raum stehenden Abbruchpläne verhinderten der Denkmalschutz und der wandlungsfähige Anwalt Dr. Franz Drabek (einst Referent in der Vermögensverkehrsstelle, 1948 im Rückstellungsverfahren Anwalt der Familie Örtel und nun Rechtsvertreter der neuen Riesenrad-Gesellschaft) - seine im „Tausendjährigen Reich" erworbenen Fachkenntnisse konnte er offenbar gut weiterverwerten. In den 1950er-Jahren ging es laut Medienberichten mit dem Riesenrad stetig bergauf. „1954 sind bereits 10.000 Ausländer und 50.000 Kinder mit dem Riesenrad gefahren. Allerdings benötigt es schon wieder einen neuen Anstrich. Außerdem ist rund um das Riesenrad noch eine sogenannte Gstettn." Viele Wiener werden wohl in den ersten Nachkriegsjahren kaum das Geld für häufige Besuche im Prater gehabt haben. Auch die russischen Soldaten, -die gerne eine Höhenfahrt unternahmen, zahlten nicht. Die Amerikaner zahlten zwar, wollten aber schneller fahren. 78 Nach dem Krieg kämpften nicht nur von den Nationalsozialisten Geschädigte um ihr Recht, auch die ehemaligen Parteigenossen der NSDAP wollten vom Wiederaufbau nicht ausgeschlossen sein. 40% der Praterhüttenbesitzer waren Nationalsozialisten. Die Regierung war natürlich in der ersten Zeit bemüht, die Parteigenossen der NSDAP auszuschalten. Und so zogen einige Prater-

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hüttenbesitzer vor Gericht, die sich in ihren Eigentumsrechten, betreffend Pacht und zerbombte Mauerreste ihres Unternehmens, betrogen sahen.79 1957 war der Kaisergarten immer noch ein Stein des Anstoßes für die sicherheitsbedürftige Wiener Bevölkerung. Die eindringliche Schilderung der damaligen Zustände findet sich in der „Weltpresse" vom 2. Oktober 1957: „Ruinen, Bunker und Laternen. Wie aus einem Kriminalfilm ist die Atmosphäre dort unten auf dem Gelände des ehemaligen Kaisergartens im Prater. Wo einstmals herrliche Grünflächen sich befanden, liegt heute eine Mistgstetten. Im Schatten des Riesenrades blüht das Laster." 80 1959 konnte die Leopoldstadt endlich aufatmen, das Kaisergartengelände war gesäubert und vom lichtscheuen Volk befreit. Wie man den Zeitungen entnehmen konnte, war der Kaisergartendschungel weg, doch das Problem hatte sich verlagert.

Das Riesenrad - „a woschechta Weana"? Da die Besitzerinnen des Riesenrades in der Tschechoslowakei lebten und nicht ausreisen durften, um sich um ihren Besitz kümmern zu können, wollten sie sehr bald den Betrieb verkaufen. Zweimal boten sie das Riesenrad der Stadt Wien zum Kauf an, doch diese lehnte dankend ab.81 1964 entschloss sich Dr. Karl Lamac, der als Anwalt der Erbinnen die Geschäftsführung übernommen hatte, zum Ankauf der Anteile seiner Mandantinnen. Seit diesem Zeitpunkt befindet sich das Wiener Wahrzeichen in österreichischer Hand. Es wurde in der Familie Petritsch-Lamac weitervererbt und ist bis auf den heutigen Tag in deren Besitz. Mit der Beruhigung der politischen Situation in Österreich sind auch die Turbulenzen rund um das Riesenrad zur Ruhe gekommen. Doch nicht nur aus der Sicht des Dichters Hermann Hakel, ein aus dem Exil nach Wien zurückgekehrter Jude, hatte der „neue" Prater viel von seinem früheren Flair verloren: „Nur das alte Riesenrad in einer völlig veränderten Umgebung blieb verschont. Bis vor wenigen Jahren gab es wenigstens noch die früheren Straßen zwischen den schäbigen Buden. Jetzt gibt es nur noch technisches Riesengestänge mit rasenden, lärmenden Raupenbahnen, daß mir vom Zuschauen schwindlig und zum Erbrechen wird. Die frühere Armut - vor dem Krieg - ist jetzt eine ordinäre Verkommenheit, so daß ich vor den Gesichtern der Jugendlichen erschrecke." 82 Diese Ausnahmestellung des Riesenrades hat sich trotz aller Veränderungen im Prater bis heute erhalten; auch von den gegenwärtig diskutierten Konzepten um eine Neugestaltung des Vergnügungsbezirkes bleibt es weitgehend unberührt. Schriftsteller, Tourismuswerbung und vor allem die derzeitigen Besitzer des Riesenrades haben dazu beigetragen, dass es im öffentlichen Bewusstsein überaus stark präsent ist. Auch in der diesem Projekt zu Grunde liegenden Meinungsumfrage nannten auf die Frage, welche Bauwerke typisch für Östereich

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seien, 4% der Befragten das Riesenrad und den Prater (in Wien waren es sogar 10%) und 5% betrachteten das Riesenrad als ausgesprochene Sehenswürdigkeit. Manfred Chobot, ein zeitgenössischer Schriftsteller, lässt in einem Gedicht „S Risenradl" 83 nicht nur als „charakteristisches Merkmal" dieser Stadt erscheinen, sondern er zeichnet auch Parallelen zwischen dem Objekt und der zum Klischee gewordenen Wiener Geruhsamkeit und Gemütlichkeit. 84 Der Dialekt und die Typologisierung verleihen der technischen Konstruktion gleichsam menschliche und scheinbar überzeitliche, stadttypische Qualitäten, die allerdings für die „echten" Bewohner nicht nur schmeichelhaft sind. s risnradl drunt im broda is a waschechta weana: waas da deife wia laung sa si scho draat oiwei im kraas - gauns laungsaum imma schee bomali nua net hudln weu do schaut nix gscheits ausse obwoi sa si draat wiara aundas radi kummts net weida bleibts oiweu aufan flek bikn rent nua im kraas wia bledsinich s risnradl drunt im broda is a woschechta weana. Die Betreiber waren bemüht, ihr Riesenrad immer wieder ins Blickfeld zu rücken, um Besucher anzulocken. Dies geschah vor allem aus dem Anlass von Jubiläen. So trugen am 75. Geburtstag des Rades 2.000 Tauben eine mit einem Jubiläumsstempel versehene Botschaft in die Welt; zum 85. Geburtstag wurde ein Waggon gelb gestrichen, mit einem Posthorn verziert und zum Postamt ernannt. Der damalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk telefonierte vom Riesenrad aus mit seiner Gattin, dem Musical-Star Dagmar Koller, die gerade ein Gastspiel in Japan absolvierte. (Für publicitybewusste Politiker war das Riesenrad stets eine willkommene Plattform gewesen, Volksnähe, Gemütlichkeit, Kinderliebe und Großzügigkeit zu demonstrieren. Bereits Bürgermeister Karl Lueger kam mit seinen Firmlingen in den Prater und spendierte ihnen eine Fahrt mit dem Riesenrad. Er blieb allerdings stets auf der Erde, da er, wie er sich ausdrückte, das Gefühl habe, „daß diese Höhenfahrt seiner Gesundheit nicht bekomme". 85 ) Zum 90. Geburtstag des Rades lud die Besitzerin 90 90-jährige Wienerinnen und Wiener zu einer Höhenfahrt ein. Anschließend wurden sie im Schweizerhaus (einem großen Gasthaus mit Schankgarten im Wurstelprater) bewirtet.86 Vermutlich beruht diese freundliche Geste der Besitzerin auf dem Wunsch, die Ehrwürdigkeit des hohen Alters des Rades mit dem hohen Alter der gleichaltrigen Wienerinnen und Wiener dem Bewusstsein der Bevölkerung nahe zu

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bringen, eine kollektive Identität eines Teils der Bevölkerung mit dem Wahrzeichen Wiens, zumindest was das Alter betrifft. Während 1897, im Baujahr des Riesenrades, eine Fahrt in den freischwebenden Waggons auch als Mutprobe und spannendes Abenteuer erlebt wurde eine Spannung, die sich analog zur Urbanen Technisierung (Eisenbahn, Auto, Post, Steigerung des Arbeitstempos) allerdings schnell abbaute und durch neue Attraktionen wie die erste Hochschaubahn abgelöst wurde - , gibt es heute im Prater für spannungsgeladenes Vergnügen die Achterbahnen, den „Imperator", den „Tornado" und etliches mehr. Daher suchte der junge Inhaber des Riesenrades, Peter Petritsch, einen Sponsor, den er in der Firma Swatch fand, um gemeinsam eine zeitgemäße Show-Attraktion auf die Beine zu stellen. Im Jahr 2000 wurde nun zum dritten Mal eine Snowboard-Party als Silvester-Event zu Füßen des Riesenrades veranstaltet. Die mediale Resonanz war groß u.a. konnte man lesen: „Auch dieses Jahr war das Wiener Riesenrad wieder unverwechselbare Kulisse für eine sensationelle Snowboard-Party im Prater. Zu fetzigen Rhythmen und starkem Punsch erwarteten die mehr als 10.000 Party-Gäste in ausgelassener Stimmung das neue Jahr. Die ,S watch Soul City' wurde zum internationalen Treffpunkt der europäischen Snowboarder-Gemeinde." 87 Menschenmassen kommen und schauen zur Jahreswende den halsbrecherischen Kunststücken der Snowboardfahrer zu. Manch einer wird bei dieser Gelegenheit, wenn er kalte Füße bekommt, eine Fahrt mit dem Riesenrad unternehmen, um die nächtlich feiernde Stadt von oben überblicken zu können. Vor allem wird jedoch den meisten jungen Leuten der Ort in Erinnerung bleiben und für die Popularität des Wiener Wahrzeichens ist wieder einmal gesorgt. Der Stadtsenat von Wien verlieh der „Wiener Riesenrad"-Gesellschaft bereits 1968 das Wappenprivileg (das Recht, das Wiener Wappen im Briefkopf und auf ihren Fahnen zu führen), was sicher in der Tourismuswerbung Eindruck macht, aber auch einen Anstrich von öffentlicher Legitimität verleiht. So wirbt denn Wien für das Riesenrad und das Riesenrad für Wien: Als beliebtes Ansichtskartenmotiv, als Objekt von Fotografen und Malern, als Vorlage der Sonderbriefmarke „200 Jahre Wiener Prater" und als Umschlagbild auf zahlreichen neuerschienen Büchern, darunter in so verschiedenartigen Publikationen wie Hedwig Hegers literarische Entdeckungsreise durch Wien oder Stefan Trollers Lebenserinnerungen „Das fidele Grab an der Donau. Mein Wien 1918— 1938" (beide 2004). 88 In jüngster Zeit hat die Werbung, ein sensibler Indikator für aktuelle Fremdund Selbstbilder sowie ein wichtiger Faktor bei der Konstruktion von Erinnerungsorten, im In- und Ausland verstärkt auf das Riesenrad zurückgegriffen. Auf einer Werbeeinschaltung der Billig-Fluglinie „Air-Berlin" für City-ShuttleFlüge ist in deutschen Fremdenverkehrsprospekten neben Sagrada Familia, Tower Bridge und Kolosseum das Wiener Riesenrad zu sehen. Im November 2004 zeigte eine Postwurfsendung der Handelskette Billa unter dem Motto „Das ist mein Zuhause. Echt Wien. Mein Billa" angeblich typische Wiener „Schman-

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kerln" mit dem Gütesiegel „Echt Wien" vor der Kulisse des Riesenrades (in der die Billa-Tragtaschen teilweise die Waggons ersetzten). Die „Deutsch-Akademie" in Wien wieder warb mit dem Foto einer modisch gekleideten, optimistisch lächelnden jungen Dame vor einem Ausschnitt des Riesenrades für Sprachkurse. Und in der Sendung „Bundesland heute" in O R F 2 kündigten im November 2004 (in der Art einer Kinderzeichnung) Eltern und Kind vor der Kulisse des Riesenrades die regelmäßigen Tipps zum Thema „Familie in Wien" an. DAS

BESTE

KOMMT

AUS

MEINER

HEIMAT.

Das ist mein Zuhause Echt Wien. Mein BILLA

All«! aus meiner· Heimat. „Ecist Wien". ZU HAUS« «CHMEIKT » EINUCLI AM LUXEN DENN JA »LIMINE« QUALITÄT. FRUCHT UNTI GEUJINUCX. DAMIT SIC AUF JEN ERSTEN BLICK ERKENNEN, A-CKHT PN-DUKTE AU» IHRER REGION KEMNIEN. GIB« ES JERA LI»» GÜTESÍOGCL J K H I WWN". BTT B I L L A FINDEN SIC ILIE BETTEN ST IVNANKRTIN AU·. IHRER

Das Riesenrad als Werbeträger. Postwurfsendung der Handelskette „Billa", November 2 0 0 4

Wenn der Stephansdom als „das" Wahrzeichen Wiens gilt, so steht das Riesenrad für das Profane, der fröhlichen und vergnüglichen Seite des Lebens Zugeneigte. Es ist bemerkenswert, wie offenbar multifunktional es einsetzbar ist: Für Konsuminteressen, für Bildungsziele, für Wiener Identität. Und darüber hinaus scheint es sich trotz seiner Gemächlichkeit offenbar auch zu einem Markenzeichen der gegenwärtigen „Fun-Gesellschaft" zu entwickeln.

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' Laut „Wahrig" Deutsches Wörterbuch, Gütersloh/München o. J. Siegfried Matti, Wien wie es nie war, in: Metropole Wien. Texturen der Moderne, hg. von Roman Horak u.a., Wien 2001, 16. 3 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, 37. 4 Vgl. den Artikel von Gabor Steiner in: Neues Wiener Journal vom 12.1.1930. 5 Es war dies „The Ferris Great Wheel". Es hatte einen Durchmesser von 88 Metern und 36 Waggons für j e 40 Personen; die Fahrzeit betrug 35 Minuten. Die Idee stammte vom amerikanischen Marineoffizier Graydon, Erbauer und Konstrukteur des Rades war der Pittsburger Ingenieur Gale Ferris. 6 Pierre Nora, Zwischen Gedächtnis und Geschichte, Berlin 1990, 12. 7 Nach Angaben der Firma „Wiener Riesenrad Dr. Lamac & Co KG", Prater 90, 1020 Wien. 8 Berthold Viertel, Kindheit eines Cherub. Autobiographische Fragmente, Studienausgabe Bd. 2, hg. von Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser, Wien 1990, 359 f. 9 Ebd., 36. 10 Vgl. Jacques Le Rider, Das Ende der Illusion, Wien 1990, 409 ff. 11 Michael Ley, Abschied von Kakanien. Antisemitismus und Nationalsozialismus im Wiener Fin de siècle, Wien 2001, 177. 12 Vgl. Berthold Viertel, Menschenrassen, in: ders., Kindheit eines Cherub, 4 6 - 5 1 . 13 Kaufvertrag von 1891 zwischen der k.u.k. Generaldirektion des Allerhöchsten Privat- und Familienfonds im Namen Seiner kaiserlich und königlichen Apostolischen Majestät Kaiser Franz Josef I. und Ihrer kaiserlichen Hoheiten der Durchlauchtigsten Erzherzöge Karl Ludwig und Ludwig Viktor als Verkäufer einerseits und The Vienna Concessions Syndicate Limited in London als Käufer. (Österreichisches Staatsarchiv). Das Galitzinschlössl war 1766 vom russischen Botschafter Demeter Galitzin 1766 erbaut, 1790 vom Hof zurückgekauft und dem Kaisergarten eingegliedert worden. Vgl. Christine Klusacek und Kurt Stimmer, Leopoldstadt - Eine Insel mitten in der Stadt, Wien 1978. 2

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Friedrich Stampfer, Direktor des Theaters an der Wien, hatte Gabor Steiners Vater Maximilian 1862 aus Temesvár (Timisoara, heute Rumänien) nach Wien geholt; er wurde 1869 sein Nachfolger. Steiners Sohn Franz wurde später Direktor des Carl-Theaters. Gabor Steiner (geb. 1858) unterstützte seinen Vater als Administrator, wirkte ab 1883 an Theatern in Hannover und Dresden, betrieb 1887-1890 eine Theater- und Konzertagentur und engagierte sich ab 1892 im Unterhaltungsbereich des Praters. Vgl. Neues Wiener Journal vom 12.1.1930 sowie Cécile Cordon, „Das Riesenrad hat alle entzückt". Die wechselvolle Geschichte des Wiener Wahrzeichens, Wien 1997. Gabor Steiner konnte 1938 zu seinem Sohn Max, einem bekannten Filmkomponisten, nach Hollywood flüchten. Vgl. Walter Pass, Gerhard Scheit und Wilhelm Svoboda, Orpheus im Exil. Die Vertreibung der österreichischen Musik von 1938 bis 1945, Wien 1995, 362 f. Das „Hans-Wurst-Theater" zeigt die Entwicklung der Wiener Lokalposse mit ihren Figuren Kasperl, Thaddädl und Staberl seit Stranitzky und Prehauser. Vgl. Gerhard Scheit, Hanswurst und der Staat, Wien 1995, 36. Über Marmorek (1836-1909) zuletzt ausführlich Markus Kristan, Oskar Marmorek. Architekt und Zionist, Wien u.a. 1996. Adolf Loos, in: Das Andere, Wien 1903, zit. in: Cordon, „Das Riesenrad hat alle entzückt", 62. Nach Fertigstellung des Manuskripts erschien Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war. Ausstellung im Wien Museum Künstlerhaus, Wien November 2004 - März 2005, hg. von Wolfgang Kos und Christian Rapp, Wien 2004. Matti, Wien wie es nie war, 16. Neues Wiener Journal vom 12.1.1930 Walter B. Basset (1863-1907), Reiteroffizier und Marineleutnant, wirkte ab 1886 als Marineingenieur bei der Firma Messrs. Maudslay, Sons and Field. Er war auch der Erbauer und Finanzier der Riesenräder in London, Blackpool und Paris. Jürgen Joedicke, Geschichte der modernen Architektur, Stuttgart 1958.

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Oberbaurat Ing. Friedrich Beck, der auch die Gedenkschrift von 1937 veröffentlichte, erfüllte diese Aufgabe mehr als 40 Jahre. Vgl. Friedrich Beck, Das Wiener Riesenrad, Wien 1937, hier 18 f. Carl Lorens, Das Riesen-Rad im Prater, Vortrag für einen Herrn (Archiv des Wiener Volksliedwerkes). Illustriertes Wiener Extrablatt vom 25.6.1897. Neues Wiener Journal vom 12.1.1930. Neues Wiener Tagblatt vom 4.7.1897. Beck, Das Wiener Riesenrad, 17 f. Neues Wiener Tagblatt, 4.7.1897. Gunther Martin, Als Viktorianer in Wien, Wien 1984. Es kam zu Demonstrationen in Wien und anderen Städten sowie zu Tumulten im Reichsrat. Nach Handgreiflichkeiten ließ Badeni aufgrund der durchgepeitschten „lex Falkeinhain" einige Abgeordnete durch die Polizei aus den Sitzungssaal entfernen. Als daraufhin die Krawalle weiter eskalierten, entließ der Kaiser am 28. November die Regierung Badeni. Vgl. ausführlich Berthold Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897, 2 Bde., Wien 1 9 6 0 1965. Karikatur aus dem „Kikeriki" vom 17.10.1897. Carl Lorens, Das Riesen-Rad im Prater. Vortrag für einen Herrn. Archiv des Wiener Volksliedwerkes. Ebd., Textauszug: „Aber das muß ich sag'n, das Panorama von Großwien ist großartig! Wie groß und schön heute die Weanastadt ist, da muaß ma' schon a Stadt suchen auf der Welt! Nur der Stefansthurm ist mir net richtig vorkommen, mir is' so g'west, als ob er sich a bisserl seitwärts biegen und ,'n Nipf hängen lassen thät' ! Vielleicht ist ihm dö neue Sprachenverordnung nicht recht? ... No, da wär's wirklich ka Wunder, wann ma' den Hamur verlieren thät'." Ausführlich Cordon, „Das Riesenrad hat alle entzückt", 60 ff. Illustriertes Wiener Extrablatt vom 3.7.1898 - Das Bravourstück einer Artistin. Reichspost vom 20.7.1913. Illustriertes Wiener Extrablatt vom 26.4.1914 Militärakte von Alfred Hugo Winter (Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv). Vertrag vom28.10.1911, Grundbuch BG Innere S t a d t . - 1 9 1 8 bzw. 1926 erwarben ein Seidenfabrikant resp. Winter die restlichen zwei Viertel des Besitzes. Damit befand sich der Kaisergarten ausschließlich in österreichischen Händen. Entnommen einem Schreiben an das Bundesdenkmalamt von Ing. Friedrich Beck (Archiv des Bundesdenkmalamtes). Gedenkprotokoll des Kaufvertrages zwischen Alfred Winter und Eduard Steiner (Österr. Staatsarchiv). Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien - einst und jetzt: zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten. Aufsätze, Quellen, Kommentare, Wien 1990, 382 ff. Ausführlich Cordon, „Das Riesenrad hat alle entzückt", 92 ff. Illustriertes Wiener Extrablatt vom 23.7.1922. Cordon, „Das Riesenrad hat alle entzückt", 89. Neue Freie Presse vom 2. und 15.7.1928. Kurt Robitschek emigrierte 1936 über Paris, London nach New York; Peter Herz 1938 über die Schweiz Frankreich nach London; Robert Stolz 1938 nach Paris, 1940 in die USA. Vgl. Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser, Lexikon der österreichischen Exilliteratur, Wien 2000. Frederick Brainin, Das siebte Wien. Gedichte, Wien 1990, 14. Brief von Alfred Winter an das Bundesministerium für Handel und Verkehr (Österr. Staatsarchiv). Vgl. zu diesem Abschnitt, wenn nicht anders zitiert, den Schriftwechsel im Archiv des Bundesdenkmalamtes. sowie Cordon, „Das Riesenrad hat alle entzückt", 102 ff. Das aktuelle Monatsblatt, Dezember 1935.

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Was kleine Leut' in Wien erfreut. Erstes Lesebuch für Volksschulen, 2. Teil, Sommerbuch, hg. von einer Lehrerarbeitsgemeinschaft, Wien-Leipzig 2 1937. „Das Riesenrad" erschien im Stuttgarter Engelhorn Verlag, der 1933 Hermynia Zur Mühlen aufforderte, ihre Mitarbeit an der Exilzeitschrift „Neue Deutsche Blätter" (Prag) einzustellen, was sie entschieden ablehnte. Vgl. Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser, Lexikon der österreichischen Exilliteratur. 1939 wurde es in New York durch die Refugee Artist Group aufgeführt, zu der sich die österreichischen Exilanten um Herbert Berghof zusammengetan hatten. Parallel erfolgten Aufführungen im Exiltheater „Laterndl" in London - und auch im „Wiener Werkel" (dem vormaligen „Moulin Rouge"), das der Schauspieler und NSDAP-Mitglied Adolf Müller-Reitzner leitete. Vgl. Rudolf Weys, Literatur am Naschmarkt. Kulturgeschichte der Wiener Kleinkunst in Kostproben, Wien 1947. Vgl. auch: Kabarett und Satire im Widerstand 1933-1945. Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst (Wien) 40 (1985), Nr. 1 - 2 . Neue Freie Presse vom 6.4.1936. Vermögensverzeichnis von Alfred Hugo Winter (Arisierungsakte im Österreichischen Staatsarchiv). Durch die Überschreibung seines Besitzes an seine Gattin (von der er sich während der Haft scheiden ließ), gelang es Winter, seinen Besitz vor der Beschlagnahmung zu retten. (Vgl. auch Anm. 77). Er flüchtete in der Folge nach Zagreb und von dort nach Italien, wo er während des Zweiten Weltkriegs starb. Ausführlich Cordon, „Das Riesenrad hat alle entzückt", 114 ff. Arisierungsakte Riesenrad im Österreichischen Staatsarchiv. Das Kleine Blatt vom 23.9.1938. Riesenrad-Akte Bundesdenkmalamt. Drei der Ariseure erlebten das Jahr 1945 nicht mehr: Anton Öhlwein fiel im Juli 1942 mit 31 Jahren an der Ostfront; Josef Örtel starb 1944 im Luftwaffenlazarett in Wien; Johann Michna nahm sich 1944 das Leben, da er die nationalsozialistischen Ziele durch die Männer um Hitler verraten sah. Nur einer, Alfons Wilfert, war 1945 noch am Leben. Vgl. Entnazifizierungsakte, Landesgericht Wien. Vertrag vom 7.7.1939 sowie Pfändungsakte (Arisierungsakte im Österreichischen Staatsarchiv). Details bei Cordon, „Das Riesenrad hat alle entzückt", 120 f. Neues Wiener Tagblatt vom 20.9.1940. Neues Wiener Tagblatt vom 5.4.1942. Neues Wiener Tagblatt vom 4.10.1944. Neues Österreich, 13.5.1945. Entnazifizierungsakte, Landesgericht Wien. - Alfons Wilfert wurde nach dem Krieg zu 18 Monaten schweren Kerkers und Verfall des Vermögens zu Gunsten der Republik Österreich gemäß § 11 Verbotsgesetz verurteilt. Bereits acht Monate später war er wieder frei. Auch die Witwen der drei Verstorbenen mussten sich vor dem Volksgericht verantworten. Sie verloren letztendlich alle ihre Besitzansprüche an das Riesenrad. Arbeiter-Zeitung, 25.4.1946. Zit. nach Otto Stradai, Das ist das Riesenrad, Wien 1981, bei Cordon, „Das Riesenrad hat alle entzückt", 142. Ebd., 148 f. Broschüre „Wiederaufbau", 1947, Circus- und Clownmuseum Wien. „Unser Riesenrad", Worte und Musik: Peter Wehle, Rubato-Musik-Verlag (Archiv des Wiener Volksliedwerkes). Ladislaus (Lászlo) Fodor war vor 1938 in Wien am Theater tätig, 1938 flüchtete er über Frankreich in die USA. Vgl. Siglinde. Bolbecher und Konstantin Kaiser, Lexikon der österreichischen. Exilliteratur. Rückstellungsakte vom Landesgericht für ZRS Wien, 25.6. und 29.9.1953. Interessant bezüglich des Datums der Zuerkennung der Rückstellung des Riesenrades ist das Eingeständnis von Adolf Schärf, des damaligen Vizekanzlers, gegenüber dem US-Botschafter Thompson, dass „beide Parteien (ÖVP und SPÖ) vor dem Hintergrund der Nationalratswahlen (vom Februar 1953) beschlossen hätten, die Rückstellungs- bzw. Wiedergutmachungsgesetze nicht zu be-

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schließen, mit Rücksicht auf die 400.000 ehemaligen Nationalsozialisten". Vgl. Oliver Rathkolb, Washington ruft Wien. US-Großmachtpolitik und Österreich 1953-1963, Wien. Wiener Zeitung vom 22.6.1955 und 29.6.1955. Der Verwalter wurde wegen der Veruntreuung von 30.000 Schilling mit sieben Monaten schweren Kerker, verschärft durch drei harte Lager, bestraft. Als Alfred Hugo Winter im März 1938 in Schutzhaft kam, ließ er sich von seiner zweiten Frau, einer „arischen" deutschen Staatsbürgerin, scheiden und überschrieb ihr den Kaisergarten. Frau Lisa Linnekamp-Winter ging nach Deutschland zurück, starb allerdings bereits 1941. Ihre Mutter übernahm den Besitz, starb aber auch schon 1943. Inzwischen war die Gesellschaft in eine deutsche Firma umgewandelt worden. Nach Ende des Kriegs kämpfte die Tochter Winters aus erster Ehe um Rückstellung des Besitzes. 1958 erhielt sie den Kaisergarten zurück. Sie verkaufte ihn aber gleich an die Stadt Wien weiter, die das Grundstück in die Kaiserwiese und die Umfahrungsstraßen Praterstern teilte. Die Presse vom 27.10.1954. Vgl. Gerichtsakte 1947, Wiener Landesgericht. Weltpresse vom 2.10.1957 Nach Angaben der Enkelin und Erbin von Eduard Steiner. Vgl. Cordon, „Das Riesenrad hat alle entzückt", 158 ff. Hermann Hakel, Wirkliches. Geträumtes. Zeitgedichte (1931-1986). Wien 1986, 21. Zit. bei Cordon, „Das Riesenrad hat alle entzückt", 179. Vgl. dazu den Beitrag von Peter Melichar in: Memoria Austriae I. Menschen - Mythen Zeiten, hg. von Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, Wien 2004, 2 7 1 - 3 0 0 . Neues Wiener Journal vom 12.1.1930. Helmut Jahn und Peter Petritsch, Das Wiener Riesenrad, Wien 1989. Kurier vom 2.1.2001. Wilhelm Denk und Karlheinz Roschitz, Riesenrad und Praterau. Ein Wiener Spaziergang, Wien 1988; Wien. Eine literarische Entdeckungsreise, hg. von Hedwig Heger, Darmstadt 2004; Stefan Troller, Das fidele Grab an der Donau. Mein Wien 1918-1938, Düsseldorf 2004.

Gerhard M. Dienes

„Schlossberge gibt es viele, Schloßberg nur einen" (Peter Rosegger) Über das Grazer Wahrzeichen 1948 gab Ernst Marboe im Auftrag des Bundespressedienstes „Das Österreichbuch" heraus. Es sollte dazu dienen, Österreich, über das im „Wissen der Welt" eine „Lücke" klaffe, „in seinem Wesen" zu finden. Folgende Wortpalette charakterisiert darin die Steiermark: „Roden, Graben, Schürfen, Schneiden. Erz und Wald. Verwitterte Fliehburg. Zeughaus. Rüstkammer. Offene Türkengrenze, Eisen im Berg. Hammerherren. Knappen. Stolze Gewerke. Landhaus. Uhrturm. Brunnenlaube - bürgerliches Behagen. Mühle im Fruchtland. Wagenrad. Störche. Vogelschreck im Rebengarten. Bibliothekssaal der Äbte. Münster. Propstei. Liedbesungener Berg. Schuhplattler. Jodler. Leutseliger Herr. Pilgerschar. Gnadenort. Von den Vätern her. Waldheimat.'" Die Worte „Zeughaus", „Rüstkammer", „Uhrturm" und wohl auch „Liedbesungener Berg" beziehen sich auf Graz, die beiden letzteren auf das Wahrzeichen der Stadt: den Schloßberg. Liedbesungen ist der Berg zweifellos, auch wenn Graz insgesamt keine Stadt ist, die man - wie Wien - in unzähligen Liedern erhöht. Doch wenn sich schon ein Lied mit Graz beschäftigt, so darf der Schloßberg nicht fehlen. Auch nicht bei Robert Stolz. Der aus Graz gebürtige „Meister der Wiener Musik" widmete seiner Heimatstadt kaum, aber wenn, dann Schloßberg-bezogene Melodien wie: „Grüß mir Graz an der Mur (Mua) / Und den Schloßberg dazu (dazua)." Fast jedes Volksschulkind in der Steiermark kennt den Schloßberg durch die Sage vom Satan, der den Menschen gegen Überlassung seiner Seele beweisen wollte, dass es viel höhere Berge gäbe als den Schöckel, und einen riesigen Felsen aus Afrika brachte. Doch das war am Ostersonntag, an dem der Teufel keine Macht über die Menschen besitzt, weswegen er wütend die schwere Last fallen ließ. Der Felsen barst in zwei Stücke und wurde zum Kalvarien- bzw. zum Schloßberg. 2 Der Schloßberg, seit 1884 im Besitz der Stadt, ist weder der Hausberg von Graz - das ist der Schöckel - noch ist er ein richtiger Berg, sondern vielmehr

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ein Hügel. Er trägt weder ein Heiligtum als sakrale Pilgerstätte noch ein Märchenschloss à la Neuschwanstein und trotzdem ist dieses „Wahrzeichenhügelchen" (Bernhard Hüttenegger) der unumstritten besondere Ort von Graz. 3 Legion ist die Reihe derer, die ihn rühmten und rühmen. Der Dresdener Hofschauspieler Gustav Starcke (1848-1921), der das Privileg hatte, sich auf dem Schloßberg ein Refugium schaffen zu können, sah ihn „majestätisch, grün und schwer", nach Karl Panhuber ist er die „Quelle und das Herz der Stadt" und Konrad Steiner, Industrieller und Hobbyhistoriker, nennt ihn „der Grazerstadt Krone und Haupt", wobei anzumerken ist, dass unter dem Terminus „Stadtkrone" eher das Ensemble Stadtburg/Dom/Mausoleum verstanden wird. 4 Der Schriftsteller Bernhard Hüttenegger schließlich formuliert überspitzt: „Gäbe es diesen sogenannten Berg nicht zufällig naturgewachsen inmitten der Stadt, so liegt die Vermutung nicht fern, das stadtgründende Völkchen hätte zur Zeit der Errichtung der ersten Wohnstätten einen geräumigen Platz im Zentrum ausgespart, jeder der hausbauenden Ansiedler hätte, gleichsam als Gründungsspende, mehrere hundert Bausteine zur Verfügung gestellt, mit Bienenfleiß aufeinandergeschichtet, wäre die bezeichnende Erhebung schließlich doch noch entstanden." 5 Der langjährige Vorsitzende des Tourismusverbandes, Bernhard K. Reif-Breitwieser, meint, der Berg wurde „einerseits im Laufe der Jahrhunderte Teil unserer Grazer Identität und andererseits Wahrzeichen unserer Stadt"; und Hans Schullin von der Innenstadtinitiative/Tourismusverband sieht ihn als „hervorstechendes Merkmal von Graz und gleichzeitig mit seinem Uhrturm" als „meistbeworbenes Signum dieser Stadt". Das Wahrzeichen Schloßberg hat also mit dem Uhrturm ein „Wahrzeichenwahrzeichen" und noch dazu laut Johannes Koren, Autor belletristisch-geschichtlicher Bücher, ein „besonders markantes". 6 Berg und Turm wurden demnach schon früh touristisch vermarktet und bereits 1925 neben den politischen Zentren der Landeshauptstadt, dem Landund dem Rathaus, mittels Scheinwerfern „in das rechte Licht gesetzt". 7 Der Schloßberg ist zweifellos das häufigste Grazer Ansichtskartenmotiv. Man findet ihn und insbesondere den Uhrturm auf Krügen, Schalen, Tellern, Vasen, Mokkatassen, Aschenbechern, Salz- und Pfefferstreuern, Tischglocken, Weingläsern, Bierkrügen in jeder Form, Schlüsselanhängern, Flaschenöffnern, Löffeln, Feuerzeugen, Wimpeln, Abziehbildern, Geldtaschen, Kugelschreibern, Bleistiften, Anstecknadeln, Armbandanhängern, Lesezeichen, T-Shirts, Messern, Hand- und Kopftüchern, Tragtaschen, Fingerhüten, Nachttöpfen und in Schneekugeln, 8 die Konditorei Strehly in der Sporgasse offeriert „Schloßbergkugeln" und die Confiserie Heindl in der Herrengasse den „Grazer Uhrturm-Taler". Selbstredend wird der Uhrturm auch als Quarzuhr im Karton angeboten, im 15-Zentimeter-Kleinformat um rund 50 Euro oder über einen halben Meter hoch um stolze 500 Euro, so vor Jahren gesehen in einem inzwischen aufgelassenen Geschäft auf dem Jakominiplatz. Der Uhrturm findet sich als Logo verschiedener Institutionen, von der Grazer Philatelistischen Gesellschaft bis zum

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Grazer Kunstkalender. „Unter dem Schloßberg" nennen sich immer wieder literarische oder journalistische Äußerungen, die sich mit Graz beschäftigen, und in der Gratis-Wochenzeitung „Der Grazer" findet sich der Uhrturm gleich mehrmals als Signet, ob bei der Rubrik „Murpromenade. Die besten Fotos aus 7 Tagen" oder „ ,der Grazer' Leser decken auf ". 9

Schloßberg-Souvenirs in einem Grazer Andenkengeschäft

Berg und Turm sind aber nicht das ausschließliche Wahrzeichen von Graz, zumindest scheint das bei Nicht-Grazern der Fall zu sein. Als Beispiel sei das Bordbuch der inzwischen in der „Austrian"-Gruppe aufgegangenen österreichischen Fluggesellschaft „tyrolean" angeführt, das unter anderem „City Highligths" bzw. „City Infos" bietet. Im Falle von Innsbruck wurde dabei immer das „Goldene Dachl" abgebildet, während bei Graz der Uhrturm sowie der Blick von der Terrasse des Cafes M l auf den Schloßberg zwar eine dominante, nicht aber eine Monopolstellung einnehmen, werden doch auch die Prunkräume des Schlosses Eggenberg oder der Blick vom Dachreiter des Landhauses auf die Altstadt wiedergegeben. 1 0 Der Grund dafür dürfte das Altstadterhaltungsgesetz von 1974 sein, das den historischen Stadtkern zum Prestigeobjekt machte, was zwischenzeitlich zu einem Bedeutungsverlust des Berges führte. Jetzt scheinen Altstadt und Schloßberg in derselben Wertigkeit vereint, wurden doch beide mit 1. Dezember 1999 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen. Damit hat, so sieht es zumindest der Schloßbergchronist Peter

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Laukhardt, „das urbane Selbstbewußtsein der Stadt einen Höhepunkt" erreicht," wobei ergänzt werden muss, dass die Altstadt in diesem Duo der unschärfer definierbare, differenziertere, alltäglichere Teil (Arbeitsstätte, Einkaufszentrum) ist. Es gilt nun zu hinterfragen, aufzuzeigen und kritisch zu analysieren, welche Geschichte(n) respektive welche Imaginationen den Berg zum identitätsstiftenden Ort für Graz machten und machen oder, wie es Wolfgang Lorenz, Programmintendant für das Kulturhauptstadtjahr 2003, ausdrückte, zum wichtigsten vorgefundenen Objekt der „Stadtmöblierung". 12

Geschichte als Identitätsstifter Seit es Äußerungen über den Schloßberg gibt, wird in diesen einhellig postuliert, der Schloßberg symbolisiere kraft seiner Geschichte den wesentlichen Identifikationspunkt der Stadt Graz. 13 Die Bandbreite der Äußerungen reicht von stadtgeschichtlichen Monografien, wissenschaftlichen Abhandlungen, Zeitungsartikeln, Feuilletons, Tourismusführern, populärwissenschaftlichen Arbeiten bis zu belletristischen Publikationen. Trotz der Fülle an Arbeiten wissen wir weder über die besiedlungsgeschichtliche Vorzeit noch über die erste Festung des Mittelalters kaum Konkretes. Für den Archäologen Diether Kramer ist „nahezu alles, was über die erste Burg am Grazer Schloßberg geschrieben worden ist, im besten Fall eine Hypothese. [...] Ganz offensichtlich haben sich viele Autoren, die sich mit dem Schloßberg befaßt haben, wenn überhaupt nur sehr am Rande mit der Entwicklung des Burgenbaues vertraut gemacht. So kommt es schließlich, daß viele Äußerungen [...] von keinerlei Sachkenntnis getrübt sind." 14 Unbestreitbar ist die Tendenz, die Bedeutung des Ortes zu erhöhen. Daher wandten verschiedene Autoren „sehr viel Phantasie" 15 auf, um auf dem Schloßberg beispielsweise ein römisches Kastell vermuten zu können, eine Annahme, die sich inzwischen, nicht zuletzt auch durch die Ergebnisse archäologischer Untersuchungen, nicht mehr halten lässt. Historikerinnen wie Schloßbergchronistenlnnen werden nicht müde, die Relevanz der Burg auf dem Berg und ihre Bedeutung als Residenz und Herrschaftsmittelpunkt des Landes hervorzuheben. Sie überbieten sich dabei in der Auflistung jener hochgestellten Persönlichkeiten, die hier abstiegen. Da feiert dann zu Weihnachten 1236 Kaiser Friedrich II., „der Dichterkaiser aus Süditalien", in der Burg ein „glanzvolles Fest mit orientalisch anmutendem Gepränge", wie es der Schloßberg „später wohl kaum" sah; quellenmäßig ist das nicht belegt. 16 Der gewünschten Bedeutungserhöhung kommt eine Äußerung Äneas Silvius Piccolominis zugute, der 1442 schrieb, das Schloss sei „sowohl durch die natürliche Lage fest als auch durch Menschenwerk befestigt", so dass Kaiser Friedrich III., der in Graz residierte, „darauf stolz sein kann". 17 Piccolomini

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stand in einem Nahverhältnis zum Regenten. Kaum zitiert hingegen bleibt eine Äußerung von Andrä Schenk, der 1484 festhielt, der Kaiser verbringe seine Zeit in der Burg mit Knausern und Schlafen, während seine barbarischen Höflinge ihren Bauch bei Trinkgelagen füllen. Zur Audienz vorgelassen, erwartete Schenk, Friedrich werde von einem glänzenden Gefolge umgeben sein. Doch dieser kam allein und befahl ihm, Deutsch und nicht Lateinisch zu sprechen, „was den eleganten Humanisten besonders empörte". 18

Die Burg als Namengeber Als identitätsstiftendes Element wird allgemein die für den Ort namengebende Funktion der Festung hervorgehoben. Der Name Graz kommt vom slawischen gradee = kleine Burg und „weist in eine Zeit, in der zumindest zu dem Zeitpunkt, als die Burg slawisch benannt wurde, das slawische Element im Umkreis von Graz in der Mehrheit gewesen sein muß, damit es als namengebend auftreten konnte". 19 Aber gerade die slawische Wortwurzel wurde für das deutschnationale Bürgertum des 19. Jahrhunderts zum Haken. 1875 lieferte daher C.G. Ritter von Leitner in einem Gedicht, verfasst anlässlich der 48. Versammlung der „Deutschen Naturforscher und Aerzte", eine bajuwarische Etymologie des slawischen Namens Graz: Einwanderer aus dem Norden begannen die Stadt zu gründen und von den Einheimischen nach dem Ziel ihres Tuns befragt, meinte einer von ihnen lachend: „G'räth's, so gräth's!" - „Und froh aus manchem Munde das Wörtchen ,Grätz' ertönt." - „Juchei! So soll der Baier hiefür ein Steirer sein!" Diese Version der Namensdeutung hat sich hartnäckig erhalten. 20 In dieser Geschichte wie bei den noch anzuführenden Verknüpfungen von Real- und Gedächtnisgeschichte bleibt letztere dominant, im Übrigen ist Graz keine Gründungsstadt, sondern weist eine stufenförmige Entwicklung auf.

Zum Schutze der Stadt Unisono wird die Schutzfunktion des Burgberges für die Siedlung unterstrichen. Das reicht vom immer wieder zitierten Franz Grillparzer, der feststellte: „Der Schloßberg überragt es (Graz) wie ein Beschützer", bis zu Fritz Popelka, dem Verfasser einer umfassenden Stadtgeschichte von Graz, der meint: „Diese kleine Siedlung hatte, geschützt durch den Schloßberg und durch die Mur, eine außerordentlich gesicherte Lage, was in einem immer stark bedrohten Grenzlande sehr wichtig war."21 Es steht außer Frage, dass die Burg die Siedlung bedingte, ja man ist sogar verleitet, Hans Weigels Österreich-Steiermark-Vergleich abzuwandeln: Den Schloßberg ohne Graz könnte man sich zur Not vorstellen, Graz ohne ihn dagegen kaum!

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Negiert wird offensichtlich das Faktum, dass Burg und Stadt nur äußerlich, nämlich fortifikatorisch, eine Einheit bildeten, denn in ihrer inneren Struktur war zumindest die Stadt des Mittelalters Symbol kommunal-bürgerlicher Freiheit, die Burg dagegen jenes des Feudalismus. Das führte zu Spannungen „zwischen der fürstlichen Herrschaft, dem fürstlichen Wollen und der städtischen Selbstverwaltung, dem bürgerlichen Autonomiestreben". 22 Die Divergenzen werden in Populärabhandlungen vornehmlich auf ein Beispiel reduziert, nämlich auf das Verhältnis Kaiser Friedrichs III. zum reichsten Grazer Bürger des 15. Jahrhunderts, Balthasar Eggenberger. Dieses findet auch in der Sage seinen Niederschlag: Balthasar war der große Geldgeber des Herrschers, fiel aber bei diesem in Ungnade und starb angeblich in der Haft auf dem Schloßberg. Nach einer anderen Version wurde er sogar auf dem Schloßberg, in dessen Festung sich „grauenvolle, lichtlose Verliese", bestückt mit der „Eisernen Jungfrau", befanden, zu Tode gefoltert. Ironie des Schicksals oder sagenhafte Dramaturgie: Balthasar soll das Folterinstrument, dessen erstes Opfer er später wurde, selbst aufstellen lassen haben. Das ist der Stoff aus dem, zumindest bei Schloßbergführungen, Mythen gesponnen werden. Da nimmt es nicht Wunder, dass vor einigen Jahren von so genannten Stadtdenkern die Installation eines „Gruselkabinetts", ähnlich dem „London Dungeon", in der Kasematte unter der Stallbastei angedacht wurde. 23

Die Stallbastei - Festung und Gefängnis

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Die Gefängnisfunktion des Festungsberges berührt die heutigen Besucher. Emotional angesprochen fühlen sie sich bei den Schloßbergführungen, wenn bei der so genannten steinernen Bank - einem Fragment der gotischen Burg erzählt wird, dass hier Bischof Franz Graf Nadasdy 1796 sein Leben ausgehaucht haben soll, als er nach 40-jähriger Haft auf dem Schloßberg entlassen worden war. 24 In der Literatur wird die Funktion der Festung als Kerker verharmlost, sogar Fritz Popelka, der der Burg „vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert eine ähnliche Rolle zubilligt wie im neunzehnten Jahrhundert dem Brünner Spielberg", spricht von einer „bunten Reihe" von Inhaftierten, deren „Reigen" die Kriegsgefangenen beschlossen. 2 5 Keine Äußerung findet sich über die mentale Wirkung des Schloßbergkerkers auf die Bevölkerung von Graz. Die strapazierte „untrennbare Einheit" 2 6 zwischen Stadt und Burg hat er sicherlich nicht gefördert, genauso wenig wie der im 16. Jahrhundert aufkommende Gegensatz zwischen dem katholischen Landesfürsten und der mehrheitlich protestantisch gewordenen Bürgerschaft. Die landesfürstliche Herrschaft schien unterminiert, als der Landeshauptmann in der Thomaskapelle auf dem Schloßberg protestantische Messen lesen ließ. Der Fürst reagierte und forcierte die Aufnahme „welscher Besatzungsmitglieder, weil diese erklärte Katholiken waren". 1585 - so Fritz Popelka - „räumte" er mit dem letzten protestantischen Soldaten auf. Die Protestanten in der Stadt sahen das als gegen sie gerichtet an und vermuteten, „daß der Schloßberg eher gegen die Christen als gegen die Türken befestigt werde". 27 Die Italiener spielten übrigens auch eine dominante Rolle in der Stadtburg am innerösterreichischen Hofe, der - abgeschottet vom Bürgertum - zu einer Stadt in der Stadt wurde. Von diesem führte sogar ein geheimer Gang auf den Schloßberg, um dem Landesfürsten im Falle von Erhebungen eine rasche Flucht zu ermöglichen. 28 Auch nachdem Graz die Residenzfunktion verloren hatte und der Hof nach Wien übersiedelt war, blieb die Festung auf dem Berg ein Symbol fürstlicher Macht und thronte nicht nur topographisch über der immer mehr ihre Autonomie einbüßenden Bürgerschaft. Die Wehrfunktion der Festung hatte Priorität gegenüber den Bedürfnissen der Bürger. Ein Beispiel: Der Schloßberg hätte den Stadtbewohnerinnen eine gute Gelegenheit zur Anlage von tiefen Felsenkellern geboten, doch sprachen sich die Befehlshaber der Burg mehrfach dagegen aus, weil die Gewölbe im Belagerungsfalle dem Feinde die Minierarbeiten erleichtern könnten. Als gegen die Stadt und das städtische Gewerbe gerichtet wurde schließlich jene Maßnahme der Hofkammer angesehen, die es den Schlosssoldaten gestattete, ein Handwerk auszuüben. Nicht zuletzt war die Schloßbergbesatzung ein herrschaftliches Instrument zur Unterdrückung von Erhebungen in der Stadt, wie 1713, als es zu Handwerkerunruhen kam. 29

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Die Stadt wurde vom Berg überwacht, sie war von dort gut einsehbar und ist es nach wie vor. Als der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber am 6. Oktober 2000 im Rahmen des ÖVP-Landtagswahlkampfes in Graz war, wurden auf dem Schloßberg „Security-Leute" postiert, „um das Geschehen auf dem Hauptplatz lückenlos überwachen zu können bzw. mögliche Anschläge vom Berg her auszuschließen". 30 Bedrohung für die Stadt bedeutete auch die Lagerung von ca. 500 Zentnern Pulver in zwei Festungstürmen. 1680 wäre es bei einem Brand im Bereich Sackstraße am Fuße des Berges fast zu einer Katastrophe gekommen. Trotzdem dauerte es 84 Jahre, bis es zur Verlegung der Pulvermagazine kam.31

Schutz im Stollen Tatsächliche Schutzfunktion erlangte der Berg bzw. sein Inneres - abgesehen von frühgeschichtlichen Höhen- und Höhlensiedlungsplätzen und von den Kanonenschüssen, die im Falle von Bränden alarmierten - erst zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, als ein fünf Kilometer langes Stollensystem als Luftschutzkeller geschaffen wurde. 32 Den schon erwähnten Konrad Steiner bewog dies zu folgendem Hymnus: „Wie schon oft in Kriegszeiten, war auch in den gefahrvollen Jahren des Zweiten Weltkrieges unser lieber alter Schloßberg [...] wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Seiner alten Aufgabe, den Bewohnern der Stadt Schutz und Sicherheit zu bieten, kam er auch diesmal nach. Hat er einstens von stolzer Höhe aus den andrängenden Feinden sein donnerndes Halt zugerufen und durch die herabgeführten Festungsmauern wie mit liebenden Armen schützend die Stadt umfangen, so barg er in der neuesten Zeit über vierzigtausend bedrohte Menschen in seinem Inneren, ohne deshalb nach außenhin den Abwehrkräften Haupt und Schultern zu versagen." 33 Steiner weist auf die Festung als Bollwerk gegen immer wieder anstürmende Feinde hin. Diese Bollwerkfunktion war im Laufe der Geschichte kaum eine reelle, sondern vielmehr eine ideelle, verstärkt tradiert durch den Nationalismus, der Graz als deutsches Bollwerk gegen den (slawischen) Südosten sehen wollte. Die durchwegs bürgerlichen und großdeutsch gesinnten Historiker und Schriftsteller machten den Berg zu einem nationalen Monument. Dieses überinterpretierte Feindbild der „Gefahr aus dem Südosten" und deren erfolgreiche Abwehr übernahmen die Nationalsozialisten. Bei seinem Besuch in Graz im April 1938 sah Adolf Hitler die Rüstungen im Landeszeughaus, die ihm für die heutige Bevölkerung viel zu klein schienen. Hitler schloss daraus, dass im Laufe der Jahrhunderte die „Aufnordung fremden Blutes" gerade in diesem Grenzraum im hohen Maße vor sich gegangen sei und trug zur Verstärkung dieser Entwicklung durch die Verlegung von Elite-Einheiten der Waffen-SS nach Graz bei.34

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Eine slawische Bedrohung/Belagerung gab es übrigens nicht und die Zeit, als im 13. Jahrhundert ein Statthalter König Ottokars II. von Böhmen auf dem Schloßberg saß, galt bei den Bürgern als eine für sie gute, weswegen sie dem nachfolgenden Landesfürsten, Rudolf von Habsburg, mit Argwohn begegneten.35 Und die Türkengefahr war auch keine permanente für Graz und kaum eine unmittelbare.

Die Vormauer der Christenheit Trotzdem wird in verschiedenartigsten Publikationen, bei Führungen und anderen Anlässen betont, dass die Einfälle der Türken die Burg auf dem Schloßberg zu einer „Vormauer der Christenheit " machten. Mit Stolz wird festgestellt, dass Graz (Stadt und Burg) zur stolzen Hauptfeste Innerösterreichs wurde, konzipiert von italienischen Architekten. Auch bei ihnen ist man um eine Bedeutungserhöhung bemüht und nur mit Bedauern wird einmal Konstatiertes revidiert, wie bei Peter Laukhardt: „Einritzungen von ,IP' in den Steinen der .Baßgeige' (Glockenturm) beweisen, daß es sich um einen Bau des Steinmetzes und Baumeisters Giacomo della Porta (Iakob Porta) (aus dem Jahr 1588) handelt. Leider ist er wohl nur ein Namensvetter des berühmten römischen Baumeisters, der 1588 (!) begann, die Kuppel der Peterskirche in Rom zu vollenden." 36 Unerwähnt bleiben dagegen häufig die von der Bevölkerung zu tragenden Kosten sowie die Ausschaltung der protestantischen Landstände, die keinen Einfluss auf Festung bzw. Festungsbau haben sollten. Die Stände sahen es nämlich als sinnvoller an, in den Ausbau der unmittelbar bedrohten Festung Kanischa zu investieren, und betrachteten den Schloßberg genauso wie die Bürgerschaft immer mehr als ein gegen sie und damit gegen die Freiheit des Glaubens gerichtetes Bollwerk. 37 Die Türken erschienen zweimal, 1480 und 1532, vor der Stadt, ohne diese zu belagern. 38 Dennoch war über zwei Jahrhunderte hindurch das Bewusstsein einer türkischen Bedrohung bei den Menschen lebendig. Die historische Forschung hinterfragte das nicht. Erst 1986 hob der Historiker Franz Pichler entschieden hervor, dass zu einer solchen Bewusstseinsverankerung nicht nur das Hörensagen oder die Schrecknisse einiger Jahre genügten. „Solche Erfahrungen" liegen für Pichler tiefer „und haben ausgebreitetere Wurzeln". Pichler spricht von einem propagandistisch wachgehaltenen türkischen Feindbild, „um dem ,gemeinen Volk' die wachsende Steuerlast begreiflich zu machen und die Zahlungsbereitschaft im Fluß zu halten". 39 Die Türken werden nach wie vor als „Erbfeind der Christenheit" bezeichnet. Auch die Mär von der Eroberung der Stadt Graz und der Belagerung des Schlossberges im Jahr 1532 wird weiterhin kolportiert, manifestiert durch eine Sage. Diese erzählt, dass der türkische Feldherr Ibrahim Pascha in der einge-

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nommenen Stadt im Palais der Grafen Saurau in der Sporgasse residierte und den Schloßberg belagerte. Von den Schloßbergverteidigern wurde eine Kanonenkugel in die Bratenschüssel des Türken geschossen, worauf dieser erzürnt schrie: „Wenn ich diesen heißen Ofen nicht haben kann, so mag ich auch die kalte Stube nicht !" (Mit anderen Worten: „Wenn ich die Festung auf dem Schloßberg nicht haben kann, so mag ich auch die Stadt nicht.") und mit seinem Heer abzog. Zur Erinnerung an diesen „Meisterschuss vom Schloßberg" wurde eine hölzerne Türkenfigur in der Dachluke des Palais Saurau angebracht. Eine andere Version weiß, der dickleibige Türke wäre bei seiner Flucht im Fensterrahmen stecken geblieben. 40

Türkenfigur in der Dachluke des Palais Saurau

Die Geschichtsforschung sah die Figur lange Zeit als Hausfreiungszeichen an. Günther Jontes konnte 1996 aufzeigen, dass der Schmuck von Häusern alla turca in Graz mehrfach geübt wurde. Jontes erkennt dies als ein Symptom der Faszination, die die exotische osmanisch-islamische Kultur auf die Abendländer trotz der militärischen und politischen Bedrohung ausübte, und weist daraufhin, dass zudem die Figur keineswegs als Dekorationsstück für das Haus gefertigt wurde, sondern primär als Ringelstechenfigur diente. 41 Diese wissenschaftliche Erkenntnis setzt sich erst allmählich gegenüber der sagenhaften Überlieferung durch. Überliefert ist auch, dass die 101 Schläge der „Liesl" im Glockenturm daran erinnern, dass das Metall zum Guss der Glocke von 101 türkischen Kanonen stammt, die 1532 erbeutet wurden, „eine Version, die wenig glaubhaft ist, weil

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die Türken damals sicher nicht einen derart großen Geschützpark mit sich geführt haben können". 42 Auch die oft zitierte Überlieferung von den türkischen Gefangenen, die den nach ihnen benannten „Türkenbrunnen" ergruben, ist widerlegt. Nicht Türken haben beim Abteufen des Brunnens Handlangerdienste geleistet, sondern steirische und deutsche Häftlinge sowie „Martolosen", wegen ihrer Kollaboration mit den Türken gefangen genommene christliche Bosnier. 43 Der „Türkenbrunnen" wird seinen Namen behalten. Änderungen dauern lange, besonders wenn sie nicht in das einmal vorgegebene Geschichtsbild passen.

Schicksalsjahr 1809 Es mutet fast wie ein Paradoxon an, dass der Schloßberg seine einzige fortifikatorische Bewährung zu einem Zeitpunkt erlebte, als sein Festungscharakter 44 bereits aufgehoben war, nämlich die Belagerung und Beschießung durch die Franzosen im Jahre 1809. 1797 war Napoleon Bonaparte auf der Burg und bezeichnete sie als „Bruchbude". 1809 sollte seine „Meinung [...] gründlich widerlegt werden". 45 Belagerung und Beschießung des Berges scheinen aber die Bewohnerinnen nicht allzu sehr betroffen gemacht zu haben, wie zumindest aus den Tagebucheintragungen der Gräfin Caroline des Enffans d'Avernas hervorgeht: „14. Juni 1809. Um Mitternacht begann es [die Beschießung des Schloßberges, G.D.] wieder. Dominique und meine Leute standen auf. Nachdem ich etwas zugesehen hatte, legte ich mich wieder zu Bett. Um 4 Uhr weckten mich einige starke Kanonenschüsse. Man sagt, sie wollten stürmen, aber die Kartätschen hatten sie verdrossen. [...] Die Beschießung ging den ganzen Tag lang. Die Schärfenberg kam zu mir, und Dominique ließ für uns Eis bringen. Nach Tisch ging ich zur Gräfin Saurau und mit der Gräfin Louisse und Dominique auf deren Dachboden. Ab 8 Uhr hörte die Schießerei auf. Um 10 Uhr wieder zwei Kanonenschüsse. Eine Viertelstunde später wieder ein Sturm. Ich war mit Dominique unter Dach, um das majestätische Feuerwerk zu sehen. Punkt 11 Uhr war wieder Ruhe. Man ließ einige Raketen steigen und feuerte einige Kanonenschüsse ab [...]. Um 2 Uhr nachts machten sie noch einen Ansturm, ich schlief aber bereits, der Lärm weckte mich nicht." 46 Mehr Bedrohung gab es für die Bewohnerinnen von den Schloßbergverteidigern. Anton Prokesch schrieb 1829 rückblickend auf das Jahr 1809 seiner Tante unter anderem: „Sie, liebe Tante, stelle ich mir noch genau vor, wie ich Sie vor zwanzig Jahren im Hause über dem Kälbernen Viertel-Thor sah, wie eben eine Kugel vom Schloßberg durch das Zimmer geflogen war, Verwüstungen unter dem Porzellan anrichtete, dann aber an einer Matratze liegen blieb." 47 Für den Militärhistoriker Rainer Egger war die Verteidigung des Schloßberges durch Major Franz Hackher kein sinnloses Bravourstück, denn sie band

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französische Truppen „und bedeutete ständige Unsicherheit für den Gegner", aber - so Christoph Tepperberg - die französischen Angriffe sind „nicht mit aller Entschiedenheit geführt worden". 48 Die vaterländische Geschichtsschreibung sah Hackher als „heldenhaft" an. Sie hatte eine zu heroisierende Person gefunden, an der sich Gemeinsamkeit herstellen ließ und die somit ein Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses wurde. Hackher, der den Mythos von der Uneinnehmbarkeit der Festung bewahrte, wurde nicht nur in einem Straßennamen und in einem Denkmal verewigt, sondern auch in unzähligen schriftlichen/literarischen Äußerungen sowie in einem Theaterstück. Es war in der so genannten Ständezeit, als es im Grazer Stefaniensaal zur Aufführung von „Mutter Austria und ihre Kinder", veranstaltet von der Lehrerbildungsanstalt Graz-Eggenberg, kam. In Sprechund Gesangsvorträgen wurden die Bundesländer mit ihren besonderen Sehenswürdigkeiten vorgestellt. Bei der Steiermark stand der Grazer Schloßberg in seinem „Schicksalsjahr" 1809 im Mittelpunkt und der Vortragende hatte zu sagen: „den Schloßberg geb' ich nicht her, / so wahr ich heiß' Hackheer ..."49 Hackher wurde umso mehr zum Heroen, als seine „siegreiche" Tat keinen Nutzen hatte, wurde doch die Festung nach dem Friedensschluss von den Franzosen geschleift. Für Peter Laukhardt lag die Festung „nach fast siebenhundertjähriger Bewährung in ihrem Todeskampf ", wobei sich die Frage erhebt, welche Zentennien währende Bewährung damit gemeint ist. Laukhardts Äußerung aus dem Jahre 1984 fügt sich in jene in Reim gefasste, die Johann Ritter von Kalchberg 1819 schrieb 50 : „Nur den tollen Fremdlingen aus dem Westen Mußte beugen sich dein altes Haupt, Nur von diesen ungestümen Gästen Wurden deine Schätze dir geraubt." Auch der Schloßbergliebhaber und Schloßbergbewohner Gustav Starcke kann in diesem Kontext zitiert werden 51 : „Selbst der stolze Siegeskaiser Zog davon mit Schimpf und Spott, Über deinen grauen Scheitel Schützend hielt die Hände Gott. Doch als Friede ward geschlossen, Da verlangte er den Preis (Lebend warst du nicht zu haben Daß du stirbst auf sein Geheiß.

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Und man sprengte deine Glieder, Die Jahrhundert' hielten fest, Von den stolzen Schloßbergmauern Blieb nur mehr ein Mauerrest." Es war gerade die Zerstörung der Festung, die die ersten Ansätze einer Identität der Bevölkerung mit der Burg auf dem Berg schuf. So sahen die Grazerlnnen nicht ohne Schadenfreude das Unvermögen der französischen Mineure, deren Sprengungen auch Opfer unter den Besatzern forderten. Schließlich kam es bekanntlich zum „Freikauf' von Uhr- und Glockenturm durch die Bürgerschaft, wovon an anderer Stelle die Rede ist.52 Ein Wiederaufbau der Festung stand damals wie später nie ernstlich zur Diskussion, doch wurden 1997/1998 die wichtigsten alten Tore durch Stahlbögen rekonstruiert und vereinzelt gibt es Befürworter - siehe die Bilder in einem Lokal in der Sackstraße - , die die Burg wiedererstehen sehen möchten.

Die grüne Lunge Nach der Schleifung der Festung war es der Rechtsanwalt Bonaventura Hödl, der erstmals die Idee aufgriff, den Schloßberg in eine Gartenanlage umzuwandeln. 53 Er findet heute kaum mehr Erwähnung, obwohl er sein ganzes Vermögen in die Bepflanzung von Teilbereichen des Berges steckte. Umso mehr gepriesen wird dafür Feldmarschallleutnant Ludwig Freiherr von Weiden, wie Hackher „ein Meister des Kriegshandwerks". Durch ihn - so die Rezeption schlug dem Schloßberg drei Jahrzehnte nach Zerstörung der Burg „die große Stunde". 54 Und wieder war es der Ritter von Kalchberg, der Weiden literarisch würdigte, 55 denn dieser hatte „Ein unerquicklich kahl' Gestein / In lieblich frische Gärten umgeschaffen; / Er ließ des Friedens Frühlingsduft gedeih'n /Auf felsig-hartem Raum der Kriegeswaffen." Die Zeit der Festung schien vergessen und Friedrich Hebbel lobte 1847: „Gottlob, daß die Zeit der Vestungen vorüber ist, daß die Stapelplätze der Kanonen und der Bombenkessel sich zu Gärten verwandeln." 56 Mit dem Parkberg erhielt die Stadt zu einer Zeit ein Erholungsgebiet in ihrer Mitte, als die einsetzende Industrialisierung geänderte Umweltbedingungen schuf. Umso wichtiger wurde es, hier die „reinste Luft genießen" zu können. Das war ein „Highlight", das der zaghaft einsetzende Fremdenverkehr anbot und Berg wie Stadtpark in den Touristenführern als „eine der größten Stadt-Parkanlagen Europas" vermarktete. 57 Die Grazer Schriftsteller, früher den Burgberg preisend, würdigten jetzt den Parkberg. Peter Rosegger glaubte sich auf dem Schloßberg in einen Hochwald versetzt, in ein entlegenes „Gebirge" oder in einen „Wildpark". Rudolf

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Hans Bartsch schätzte den „Berg voll Waldrauschen" wegen seines „tiefsommerkühlen Schattens", auch scheute er nicht den Vergleich mit Weltwundern der Antike, nannte er doch die Grünanlage auf der Bürgerbastei die „hängenden Gärten von Graz". 58 Für Karl Panhuber verkörpert der Parkberg „das zuinnerst Heimatliche dieser Stadt [...] In jedem Lebensalter schenkt er sich uns auf eine besondere Weise. Dem Knaben ist er ein gewaltiger Fels, den er nur allzu gerne über seine gefährlichen Senken erklettern möchte, dem Studenten gewährt er freies Obdach zur geistigen Sammlung, der Jugend gibt er Sonne in reicher Fülle und ausgelassene Geselligkeit, den Verliebten wird er zum abendlichen Hain erster Zärtlichkeiten und für die alt und weise Gewordenen bleibt er eine natürliche Insel voll wehmütiger Träume an die Vergangenheit." 59 Als Liebeslaube hat der Berg an Bedeutung verloren, den „Venusberg" entdeckt aber die Chronik und so widmet ihm Peter Laukhardt in seinem zweiten Schloßbergbuch (erschienen 2000) ein Kapitel. 60 Unerwähnt bleiben die sozialen Schranken, die der Berg hatte, denn er lag inmitten eines bürgerlich dominierten Territoriums. Lediglich die Landesverschönerungsbewegung verfolgte von Anbeginn mit dem Schloßberg auch soziale und erzieherische Motive: Er sei nicht für die herrschende Klasse bestimmt, sondern für das Volk. Die Bevölkerung sollte sich an den Spaziergängen und den schönen Aussichten erfreuen und damit auf die Schönheit der Natur aufmerksam gemacht werden. Heute sind die sozialen Barrieren verschwunden, doch grenzt der Berg an die kaum bewohnte City bzw. an Viertel mit überalterter Bevölkerungsstruktur. Deshalb sind auch die morgendlichen Jogger rar und für die in den periphereren Wohnquartieren Lebenden liegen andere Erholungsgebiete näher, so dass der Schloßberg unter der Woche eher den in der City arbeitenden Menschen zum Pausenort wird. Auch wenn über die Art der Grünanlage oftmals diskutiert wurde, genoss der Park als „grüne Lunge" in einer Stadt mit wenig luftbewegter Beckenund winterlicher Inversionslage immer hohe Wertschätzung. 61 Gerade die letzten Jahre standen im Zeichen gärtnerischer Sanierungen sowie der Urgenz von Aktivbürgern, durch ein behutsames Zurückschneiden des Bewuchses an verschiedenen Stellen den Ausblick zu verbessern. Der Schloßberg ist - so sehen es die Naturschützer - ein äußerst komplexes, zeitlich und räumlich verwobenes einmaliges Werk der Gartenkunst, das sorgsamer, sensibler Pflege bedarf. Sie sind bemüht, botanische Raritäten, aber auch Seltenheiten der Fauna hervorzuheben: z.B. findet man hier drei Käferarten, die in Österreich, ja sogar in Mitteleuropa einzigartig sind. Ihre Bemühungen, dies durch Beschriftungstafeln zu tun, werden immer wieder durch Vandalenakte zunichte gemacht. 62 Die Protagonisten der Fun- und Eventgesellschaft sehen jedoch im geschützten Landschaftsteil Schloßbergpark „scheinbar unüberwindbare" Schwierigkeiten, um ihre „Vitalisierungs-Projekte" zu realisieren.

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Beherrschende Lage und „Luginsland" Das Naturerlebnis ist nur ein Grund, der den Schloßberg zum besonderen Ort macht, es ist auch seine beherrschende Lage. Die Stadt Graz, gelegen „in einer bis zur weitreichenden Horizontlinie reichenden Ebene", würde für Bernhard Hüttenegger „konturlos zerfließen und sich gebäudeweise auf diesem geographischen Tablett auflösen", gäbe es nicht mit dem Schloßberg eine „Erhebung inmitten der Dachlandschaft". 63 Dagegen sieht Peter Daniel Wolfkind den Berg, von Südosten der ausufernden Stadt sich nähernd, nicht als einen Mittelpunkt, sondern als einen „Berg unter vielen anderen Bergen. Die Stadt gruppiert sich nicht, drängt sich nicht um einen Mittelpunkt." 64 Früher, als die Stadt klein und die Häuser niedrig waren, beherrschte der Schloßberg die Silhouette von Graz wie ein himmelragendes gotisches Münster und begrüßte die Menschen laut Joseph von Hammer-Purgstall 1798 mit „seiner Citadelle und seiner grünen Bekleidung [...] zugleich drohend und freundlich". 65 Gustav Schreiner sah 1843 Graz durch den „Felsenberg" gegenüber anderen Städten begünstigt, denn er „gibt ihr nicht nur ein ganz eigenthümliches Ansehen, sondern dient ihr zugleich als eine der vorzüglichsten Zierden". Diese Zierde ließ den Vergleich mit Wahrzeichen anderer Städte suchen, etwa 1855 der Wienerin Rosa von Gerold, die, von Griechenland zurückkehrend, ausrief: „Das liegt ja wie Athen! Es fehlt nur statt des alten Schlosses der weiße Tempel, und Graz hat seine Akropolis." 66 Seit der Gründerzeit minderten die Verstädterung und der Bau immer höherer Häuser die beherrschende Lage des Berges. Den Grazerlnnen, zumindest jenen im Zentrum und in Zentrumsnähe, blieb der Berg jedoch tagtäglich omnipräsent. Das führt aber auch dazu, „daß sich der Schloßberg dem Bewußtsein der Grazer entzieht und nur mehr im Unterbewußtsein existiert". 67 Seit seiner Nutzung als Park war es auch der Blick aus der Vogelperspektive, der die Menschen auf den Berg lockte. Diese Funktion als „Lug ins Land" dokumentiert sich früh in bildlichen Darstellungen. Stand bisher der Blick auf den Berg im Vordergrund, so dominieren seit der Biedermeierzeit die Ansichten - oft Panoramen - vom Berg.68 Liedinhalte beschäftigen sich mit dem Schloßbergblick, etwa in „Student sein in Graz", wo es heißt: „Träumend sah vom Schloßberg nieder, ich so manches liebe Mal. Und es klangen Burschenlieder Fröhlich vom Berg in das Tal." Literarische Ergüsse über den Schloßbergblick erreichen wohl die Hunderterzahl. Friedrich Hebbel meinte 1847, eine solche Aussicht wie die vom Schloßberg „herunter glaube ich in meinem Leben noch nicht gehabt zu haben." 69 Für

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Peter Rosegger eröffnete sich vom Berg das „weite, sonnige Bild" auf das Weichbild der Stadt sowie auf die „weite, vielthürmige Stadt, aus welcher noch dumpf das Brausen des Lebens heraufdringt", aber er schreibt auch vom „Häuserhaufen", der ihm gar nicht gefiel. 7 0 Rudolf Hans Bartsch, dessen 1908 erschienener Roman „Zwölf aus der Steiermark" ein Bestseller wurde, macht darin den Parkberg zum Mittelpunkt, um den das „ganze Land alle Fenster" aufreißt und von wo man „zu viel für eine einzelne Stimmung" sieht. 71 Die Urne mit den sterblichen Überresten des Dichters wurde übrigens auf dem Schloßberg beigesetzt, im „Gemäuer der alten Bastei [...] , wo sein Blick so gern hinausträumte in das südliche Land". 7 2

3luf Sdjlofsbergs ßöf}', im fiemen fjaus, (Sucft (Einer tu bas £anî> fyuaus, íjebt fröfylidj feinen 23edier lüeiu: „3, bu foil ft gefeguet fein!" (SufiaD itarcfc. Refugium von Hofschauspieler Gustav Starke auf dem Schloßberg, 1899

Schloßberg-Äußerungen von Rosegger, Bartsch, dem bereits eingangs erwähnten Hofschauspieler Starcke und anderen werden immer wieder in Graz-Publikationen zitiert, nicht zuletzt auch, weil für die folgenden Generationen von Literaten dies nur marginal ein Thema war und ist, ausgenommen die Dichter der Heimat, wie Heinrich Gröger, der, „am Abend vom Schloßberg über die Lichter der Stadt ins Hügelland" schauend, alle „Abenteuer der Ferne" vergaß

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und „der Heimat für immer die Treue" schwor.73 Heute führt der Ausblick die Grazerlnnen lediglich bei herausragenden Ereignissen, wie der Sonnenfinsternis im Sommer 1999, in Massen auf den Berg. Stadtneulingen bietet der Schloßberg vielfach den Erstblick auf Graz. Für den aus der südlichen Steiermark nach Graz in die Schule kommenden Alfred Kolleritsch war der Blick ein „Sturz in die Weltbewegung, das erste Ausmessen eines Ortes". Vom Schloßberg „herab begann die Stadt zu sprechen." 74 Bei GrazTouristen steht der Schloßbergbesuch mit Stadtblick an prominenter Stelle im Besuchsprogramm. „Wer Graz und seine Umgebung mit einem Blick kennenlernen und seine Schönheit genießen will", schreibt Gustav Scherbaum, von 1960 bis 1973 Grazer Bürgermeister, „der darf den Weg auf den Schloßberg nicht scheuen." 75

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Dachlandschaft der Grazer Altstadt und Schloßberg

Besondere Dimension erfuhr der Blick vom Berg auf die Stadt in der Folge des Altstadterhaltungsgesetzes von 1974. Dieses erkennt die Grazer Altstadt-Dachlandschaft als schützenswert und schön an. Daher müssen alle Häuser, die ganz oder teilweise vom Schloßberg aus wahrgenommen werden, ziegelgedeckt sein, der Schloßbergblick sollte auch durch glasüberdachte Innenhöfe nicht gestört werden.

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Der Blick auf den Berg ist auch bei städtebaulichen Projekten zu berücksichtigen, beispielsweise bei der Neugestaltung des Mariahilferplatzes Anfang der 1990er-Jahre. Da war gefordert, dass der „einmalige freie Blick vom Platz auf die Kulisse des Schloßberges von der Kanonenbastei bis zum Uhrturm" gewährleistet sein muss. Auch habe sich das Lichtsystem des Platzes auf die hell angestrahlte Pfarrkirche Mariahilf und den Blick zur beleuchteten Kulisse des Schloßberges auszurichten. 76 Das verdeutlicht die Wertigkeit des Schloßbergblickes. Um die Prestigeträchtigkeit wusste auch ein Gastronom und taufte sein bereits wieder aufgelöstes und durch ein anderes ersetztes Lokal „Uhrturmblick", obwohl das Wahrzeichen nur vom Gastgarten (Mariahilferplatz) in das Blickfeld rückt. Auch der Wohnbau warb mit Slogans wie „Uhrturmblick in Zentrumslage", selbst wenn diese Aussicht lediglich von einem Teil der Wohnungen in den obersten Etagen gegeben ist.77

Begehbarkeit Die Erreichbarkeit der Parkanlage war von Anfang an entscheidend für deren Akzeptanz durch die Menschen. Wege schienen bald zuwenig zu sein und Peter Rosegger fragte sich 1893: „Was soll auf dem Schloßberg geschehen? Seit grauser Zeit war der Grazer Schloßberg nicht mehr so heiß umstritten, als er es heute ist, trotz der Friedens-Congresse. Da gibt es zwei Heereslager. Das eine will dem Schloßberg um Gotteswillen nicht ein einziges Halmlein krümmen lassen, das andere will an ihm das Unterste zu oberst kehren. Und der goldene Mittelweg? Der soll die Zahnradbahn sein! Nach meiner Meinung ist das kein Mittelweg und am wenigsten - fürchte ich - ein goldener. Am Grazer Schloßberg das Liebste war mir immer, daß man hinaufgehen kann." 78 Dennoch wurde die Bahn gebaut, die Realisation einer weiteren, auf die „die volkreichen Bezirke im Osten der Stadt auch Anspruch [...] hätten", scheiterte am Veto des Stadtverschönerungsvereines ,79 Die Schloßbergbahn, deren ausrangierte Garnituren sogar jenen Stellenwert haben, um im Technischen Museum in Wien und im Grazer Tramwaymuseum ausgestellt zu werden, wurde zum Bestandteil des Graz-Erlebnisses, noch lange bevor die Erlebnis-Gesellschaft solch ein Schlagwort kreierte. Auch sie wurde besungen, wie vom Harmonikaspieler einer Innenstadt-Weinstube: „Mit der Grazer Schloßbergbahn, holladaroh, / Fahren alle Leute gern bergauf und - oooh." Doch die Bahn hatte ihre sozialen Schranken. So schreibt Cilli Kappel in ihrer Erzählung „Als ich zum erstenmal nach Graz kam": „Die Schloßbergbahn, von der zu Hause beim Maisschälen öfter ein Lied gesungen worden war, das mir nie recht gefiel, blieb mir ein Geheimnis. Wahrscheinlich wollte der Vater das Geld für die Fahrt sparen, und die bloße Besichtigung war ihm wohl nicht der Mühe wert." 80

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1914 wurde ein Felsensteig auf den Berg gebaut. Der Krieg bedingte vorerst eine Unterbrechung. 1916 wurde das Werk mit Hilfe von in Graz stationierten Pionieren unter Heranziehung russischer Kriegsgefangener fortgesetzt. Im Februar 1918 schließlich startete der Landesverband für Fremdenverkehr eine Bausteinaktion. 4.000 Bausteine zu je fünf Kronen lagen zur Zeichnung auf. Trotz der krisengeschüttelten Zeit wurden die Mittel aufgebracht, ein Zeichen der hohen Identifikation der Menschen mit dem Berg. Im Sommer 1918 konnte der „Kriegersteig" eröffnet werden; 1928 folgte anlässlich der 800-Jahr-Feier von Graz der „Jubiläumssteig". 81 Von der Motorisierungswelle blieb der Berg verschont. Er ist heute (weitgehend) autofrei, umso attraktiver ist deswegen laut Touristenführer ein „Bummel auf den Schloßberg". 82 Er hat für die, die ihn „per pedes" erreichen wollen, das rechte Maß. Er bietet „Halbschuhtouristen" Gipfelsiegerlebnisse und sinnierenden Geherinnen sanft ansteigende Wege. Eine im Frühjahr 2000 im Garnisonsmuseum in der Kanonenbastei durchgeführte Besucherumfrage ergab, dass 45,3% der Befragten zu Fuß kamen, um sich körperlich zu betätigen, während nur 35,9% die Schloßbergbahn benützten. 83 Morgendlichen Joggern erscheint hingegen der Berg zu weit von ihren Wohnstätten entfernt. Doch für sportive Events wurde er entdeckt, so im Sommer des Jahres 2000 für den Prolog zur „Mountainbike-Styria-Alpentour", als im „Kampf mit dem Berg" die „950 m lange Strecke vom Freiheitsplatz hinauf zum Schloßberg (Steigung zwischen 16 und 24 Prozent) [...] in 2.31,19 Minuten" bewältigt wurde. 84 Seit 1998 hat der Schloßberg durch den Stollendurchgang auch eine horizontale Achse. Sie schuf auch die Voraussetzung für den „Dom im Berg" und den Lift zum Uhrturm. Der Lift stand schon vor seiner Fertigstellung im Frühjahr 2000 im Mittelpunkt der Kritik des städtischen Rechnungshofes. Die Projektvorbereitung sei nicht sorgfältig gewesen, gefehlt hätten unter anderem die Kosten für die Bauleitung, für Versorgung und brandschutzsichere Maßnahmen. Statt der ursprünglich geplanten 41 Millionen Schilling kostete der Lift tatsächlich 56,4 Millionen. 85 Nach der Katastrophe von Kaprun (November 2000) erhielt der Begriff „Sicherheit" eine neue Dimension. Eine Überprüfung des Liftes bedingte eine sicherheitstechnische Nachrüstung, deren Kosten sich bis Ende November 2000 auf 1,5 Millionen Schilling beliefen. 86 Trotzdem fehlte es nicht an Jubelmeldungen, ja der Lift wird sogar als Aufzug bezeichnet, in dem den Passagieren das „Hören und Staunen vergeht". 87

Gastronomie Bereits 1843 nennt Gustav Schreiner gastliche Häuser, „die Spaziergängern Rast und Labung" boten, darunter das Schweizerhaus, baulich eine Mischung von

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romantisch-ländlichem und biedermeierlich-städtischem Stil. An den Glockenturm angebaut war das Gasthaus „Zur Hochalpe", in dem 1871 der älteste österreichische Trachten- und Wohltätigkeitsverein „D'Almbrüder z' Graz" gegründet wurde, 8 8 signifikante Beispiele für das Hereinholen alpiner Lebenswelten in die Mitte eines Urbanen Zentrums.

Schweizerhaus (abgetragen 1954) und Denkmal von FML Ludwig Frh. v. Weiden (1906)

Großstädtisch-metropolitanes Flair dagegen sollte das Schloßbergrestaurant bieten. Schon im Planungsstadium erhitzte es die Gemüter. 1890 verlangte Johann Kleinoscheg, Sektfabrikant und „Pionier" des Fremdenverkehrs, einen „galeriereichen" Monumentalbau mit Aussichtsturm, Kaffee- und Gastwirtschaft sowie einer Terrasse für 600 Personen, „erleuchtet durch die Strahlen von 8 Bogen- und 115 Glühlampen". 8 9 Heinrich Wastian konterte 1892, der Berg dürfe keine „Fremdenlockanstalt" mit Galerien, Türmen, Theatersälen und Restaurants werden. Das schließlich verwirklichte Restaurant befriedigte nicht auf Dauer. 1949/50 sprach sich Hans Reininghaus für ein 70-Zimmer-Hotel auf der Stallbastei mit Liegehallen, Tennisplätzen und Schwimmbad aus. Nach heftigen Reaktionen der Öffentlichkeit verschwanden die Pläne wieder in der Schublade. Das Schloßbergrestaurant wurde mehrmals renoviert und modernisiert (z.B. 1960/61, 1972). 90 Es etablierte sich als Lokalität für Maturakränzchen und Bälle sowie für Seniorenveranstaltungen (z.B. „Teenager-Spätlese"). Es ist, abgesehen von dem Café Restaurant im ehemaligen Starcke-Häuschen und dem 2003 eröffneten Café Aiolà bei der „Bergstation" des Liftes, konkurrenzlos auf dem Berg. Von Kritikern mit den Speisesälen eines dalmatinischen Adria-Hotelkom-

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plexes der Tito-Zeit verglichen, ist das Schloßbergrestaurant in die Jahre gekommen und steht wieder im Mittelpunkt der Diskussionen, denn Gastronomie definiert Städte. Die Touristiker plädierten für ein „erlebbares" Restaurant auf dem Schloßberg als „ordnenden Mittelpunkt" aller „bestehenden und noch zu schaffenden Attraktionen". Den Besucherinnen das Flair der Stadt im Überblick bieten zu können - begleitet von Speis und Trank sowie anderen Attraktionen - , wäre die „beste Investition in die Zukunft der Kulturstadt Graz", wobei die Frage Gourmettempel oder Bierschwemme unbeantwortet blieb.91 Das Kulinarische dominiert und das hat in Graz Tradition. Schon Heinrich Laube notierte 1834 über die Grazer, dass sie noch spät in der Nacht „Hendln" verspeisen, was ihn zur Äußerung bewog: „Die Backhendln sind bekanntlich der Mittelpunkt der österreichischen Nationalität. Es ist ein historischer Fehler, daß die Österreicher nicht ein Backhendl im Wappen haben." 92 Die Zeiten ändern sich nicht, denn selbst Kulturhauptstadtintendant Wolfgang Lorenz forderte für das Jahr 2003: „Wesentlicher, als sich mit der Gründung neuer Ausstellungsflächen oder gar Museen zu beschäftigen, dürfte wohl die Etablierung einer erstklassigen Gastronomie (auf dem Schloßberg) sein, an der es seit Jahr und Tag mangelt." 93 Den Diskussionen und Projektstudien folgten bis dato noch keine Taten. Das Restaurant wurde zum politischen Zankapfel. Am 8. November 2000 lehnten die Grazer Grünen die Pläne der ÖVP ab, als Standort für den geplanten Neubau den jetzigen Gastgarten vorzuschlagen. Es sei „ungeheuerlich", einen der letzten grünen Gastgärten dafür zu opfern. Einen Tag später forderte ein ÖVP-Politiker dann den Stopp mit dem Argument: „Wettbewerb, Planung, Abriss des derzeitigen Komplexes und Neubau" seien bis 2003 unrealistisch, „ganz zu schweigen davon, dass es zumindest für zwei Jahre keinen Gastronomiebetrieb auf dem .Identifikationspunkt aller Grazer' gäbe." Es wird weiter diskutiert, die letzte Meldung lautet: „Casino auf dem Schloßberg!" 94

Denkmäler Peter Rosegger bezeichnete 1893 das Schloßbergplateau als schönsten Punkt des Landes und kritisierte dessen mangelnde Nutzung. Er würde hier „einen runden Tempel aufbauen, in welchem alle verdienstvollen Männer der Steiermark, und auch solche Frauen, in Marmor und Erz verewigt dastehen könnten, den Vorfahren zur Ehr', den Nachkommen zur Lehr'! [...] Der Grazer Schloßberg ist ein seltener Sockel, auf ihm muß etwas stehen, das nirgends sonst zu finden ist! - Eine steirische Walhalla - wer weiß etwas Feineres?" 95 „Walhalla" entstand zwar keine, doch erhielt der Schloßberg Erinnerungszeichen in Form von Denkmalen, beginnend mit jenem für den Parkbegründer, Freiherrn von Weiden, enthüllt in dessen Todesjahr 1853. Viele der Monumente

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sind nicht in das historische Bewusstsein der Menschen gerückt und daher lediglich historische Versatzstücke. Kaum beachtet bleiben das SchwesterstädteDenkmal - wer weiß schon, welche Schwesterstädte Graz hat - sowie die „Artsat"-Scheibe, eine als Kunstexperiment anlässlich des Raumfluges eines Österreichers 1991 entstandene Skulptur von Richard Kriesche. Auch der Blick vom Berg in die 1918/1919 verlorene Untersteiermark von dem 1970 errichteten Untersteirer-Mahnmal 96 aus hat an Brisanz verloren beziehungsweise büßte ihn mit dem Beitritt Sloweniens zur EU (Mai 2004) noch mehr ein. 1932 wurde das monumentale Kriegerdenkmal für das ehemalige Grazer „k.u.k. Infanterieregiment Nr. 27" enthüllt. Die damals sozialdemokratisch dominierte Stadtgemeinde stellte den Platz nahe des Uhrturms nur unter der Bedingung zur Verfügung, wenn das Standbild keine unmittelbaren militärischen oder kriegerischen Äußerlichkeiten aufweise. So schuf Wilhelm Gösser das Kolossalbild einer jugendlichen, überlebensgroßen Aktfigur mit Schwert und Ährenbündel. Obwohl bei der Enthüllungsfeier der Bezug des Denkmals zum Ersten Weltkrieg nicht direkt hergestellt wurde, galt es aber bald als „GrodekDenkmal", benannt nach einer Schlacht im September 1914, in der das Regiment eingesetzt war.97 Jedes Jahr am 8. September wird der „als phantasierter ,Truppenkörper'" zu interpretierende steinerne Männerakt zum Ort der Erinnerung, wenn Militär und Kameradschaftsbund davor Aufstellung nehmen, „um jene zu ehren, die [...] in den verlustreichen Schlachten um Galizien ihr Leben für die Heimat ließen". 98 Mit der Geschichte des Berges in Zusammenhang steht das Denkmal des steinernen Hundes: Kaiser Friedrich III. wollte, nachdem er mit König Matthias von Ungarn in Streit geraten war, diesem seine Tochter Kunigunde nicht mehr zur Frau geben. Er schickte sie 1479 nach Graz in die starke Festung. Die Ungarn planten eine Entführung. Sie scheiterte, da das Gebell eines Hundes den Schlosshauptmann auf die Eindringlinge aufmerksam machte. 99 So wird die Sage heute noch in den Schulen und bei Schloßbergführungen erzählt. Der Schloßberg war zwar während der „Baumkircherfehde und des schweren Abwehrkrieges gegen König Matthias Corvinus von Ungarn (1479/80-1490) [...] das Rückgrat der Landesverteidigung" und eine Zuflucht für die kaiserliche Familie, aber Kunigunde kam erst Ende 1481 wegen der in Wien grassierenden Pest nach Graz. Möglicherweise versuchten damals die Ungarn, mit Hilfe von Verrätern von Leibnitz her handstreichartig Graz einzunehmen, wobei, vielleicht nur zufällig, auch die Habsburgerin in ihre Hände gefallen wäre.100 Der Hund ist in keiner Quelle aktenkundig. Ihn brachte erst Wilhelm von Kalchberg, der „kenntnisreiche, historisch interessierte, phantasievolle Berufsoffizier" und von 1850 bis 1856 Kommandant des Schloßberges, in die Sage, da er mit dem Denkmal des steinernen Hundes nichts anzufangen wusste. Als Beschreiber des Berges wollte er offensichtlich „dem Kapitol der steirischen Hauptstadt ein ,antikisches', den kapitolinischen Gänsen im alten Rom" vergleichbares Ansehen geben. Tatsächlich dürfte der Hund aus Stein von einem unbekannten Künstler

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des 18. Jahrhunderts als Denkmal für den vierbeinigen Liebling eines Grazer Schloßberghauptmannes gefertigt worden sein. 101 Erdachtes und Tatsächliches amalgamiert sich auch hier in der Intention, ein Bedrohungsszenario - Angriff der Ungarn - aufzubauen. An das „Schicksalsjahr" 1809 erinnert das „Franzosenkreuz". Hier soll ein österreichischer Fähnrich von einem französischen Soldaten „meuchlings" erschossen worden sein. Nach einer anderen, in der Schloßbergliteratur nur marginal erwähnten Überlieferung fiel an dieser Stelle ein französischer Offizier oder ist das Kreuz älter und sein Ort jener, an dem sich die Verurteilten vor Antritt der Festungshaft von ihren Angehörigen verabschiedeten. 102

Der „Hackher-Löwe" auf dem Grazer Schloßberg

Hundert Jahre nach der Franzosenbelagerung wurde dem Schloßbergverteidiger, Major Franz Hackher zu Hart, ein Denkmal gesetzt. Der schwedisch-stämmige Bildhauer Otto Jarl erhielt den Auftrag. Das stieß auf heftige Kritik und der Gemeinderat beschloss, bei Ausschreibungen der Stadtgemeinde künftig generell nur noch Bewerberinnen „deutscher Nationalität" zu akzeptieren, während der sozialdemokratische Gemeinderat und spätere Bürgermeister Vinzenz Muchitsch protestierte, dass für humanitäre Zwecke gebundene Gelder in das Denkmal flössen. Da von Hackher keine bildliche Darstellung existiert, einigte sich das Denkmalkomitee auf einen Löwen als Sinnbild militärischer Schlagkraft. 1943 wurde der „Hackher-Löwe" im Rahmen der „Adolf-Hitler-Metallspende" eingeschmolzen. Der Sockel blieb verwaist. 1958 gründete sich ein

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Komitee zur Wiederherstellung. Ein Künstlerwettbewerb wurde ausgeschrieben, zwölf eingereichte Modelle im Landhaushof ausgestellt. 103 „Was dann geschah ist wohlbekannt. Die neue Kunst im Steirerland Gebar der jungen Bälge viel In hochmodernem Schöpferstil. Manch Löwenbaby fürchterlich Dem Pudel oder Affen glich. Man hat sie alle abgeschrieben. Gottlob, daß wir verschont geblieben!" 104 Der Bevölkerung waren die Entwürfe also zu modern, auch wollte man zwischenzeitig ein Befreiungsdenkmal zur Erinnerung an den Abzug der Besatzungsmächte errichten. Dieses entstand letztendlich aber auf der Burgbastei. Die ÖVP forderte schließlich in einer im Frühjahr 1963 herausgegebenen Wahlkampfbroschüre: „Die siegreiche Verteidigung des Schloßberges durch [...] Major Hackher [...] gehört zu den militärischen Glanzleistungen der österreichischen Geschichte. Sie durch Wiedererrichtung (des Denkmales, G.D.) [...] zu würdigen, ist eine vordringliche Ehrenpflicht der Stadtgemeinde. Handelte es sich doch auch um die letzte Bewährung der nie bezwungenen Grazer Festungswerke und der traditionell kampftüchtigen Bürgerschaft, bevor Graz seine Mauern und Bastionen endgültig ablegte, um zur Garten- und Blumenstadt zu werden [,..]"105 Im Dezember 1963 unternahm dann die Stadtverwaltung mit einer stichprobenartigen Volksbefragung - der ersten in Graz - einen neuerlichen Versuch, die Diskussion um den Löwen zu einem Ende zu bringen. 10% der Wahlberechtigten - etwa 17.000 Personen - wurden folgende Fragen gestellt: 1. Soll wieder ein Denkmal aufgestellt werden? 2. Soll das alte Denkmal oder 3.ein moderner Löwe errichtet werden? 4.Soll ein anderes Motiv gewählt werden? 90% sprachen sich für die Wiedererrichtung des Löwen in seiner ursprünglichen Form aus. Der Bildhauer Wilhelm Gösser erhielt den Auftrag für die Nachbildung. Er behielt zwar die alten Formen im Wesentlichen bei, milderte aber Jarls übertriebenen Naturalismus, einen der Hauptkritikpunkte am alten Modell, indem er die naturalistischen Details stärker in das Symbolische und Kraftvolle umdeutete. 106

Erhöhung durch Kultur Die „alpine" Erlebniswelt im Herzen der Stadt, die „Hochalpe" über den Dächern von Graz verlor ihre Anziehungskraft mit dem Zeitpunkt, als es immer

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mehr Menschen durch die Demokratisierung des Reisens möglich wurde, echte Hochwälder und Hochalmen mit Berghütten über der Baumgrenze erleben zu können. So wurde nach einer weiteren Nutzung des Berges gesucht und diese in der Kultur gefunden. Am Anfang standen die Musikkapellen in den Gastgärten der Schloßbergwirtshäuser und bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in einer Schauhütte das von dem Kanonier Anton Sigi, einem Mitglied der Schloßbergbesatzung, gefertigte Schloßbergmodell ausgestellt. Dieses wurde zum zentralen Objekt des nach dem Ersten Weltkrieg eröffneten Schloßbergmuseums, das sich heute als Abteilung des Kulturamtes im Glockenturm befindet. 107 Die Einrichtung verdiene die Bezeichnung „Museum" nicht, es gehöre an einen optimalen Standort transferiert, erweitert und modernisiert, fordern immer wieder Lokalpolitiker und Aktivbürger, während der Generaldirektor des Kunsthistorischen Museums in Wien, für eine Expertise eingeladen, die Meinung vertrat, Schloßberggeschichte werde als Teil der Stadtgeschichte ohnedies im Stadtmuseum präsentiert. 108 1981/82 wurde in der Kanonenbastei das Garnisonsmuseum eröffnet, basierend auf den Beständen der ehemaligen steirischen Truppenmuseen, die das Bundesministerium für Landesverteidigung der Stadt Graz schenkte. Die Schenkung beinhaltete die Auflage zur musealen Präsentation der Objekte. Der Wehrbau der Kanonenbastei schien den damaligen politischen Entscheidungsträgern als prädestiniert, die bauliche Sanierung machte die Handelskammer Steiermark/Sektion Gewerbe der Stadt zur 850-Jahr-Feier zum Geschenk.109 Bald jedoch wurde das Garnisonsmuseum von Schloßberg-Freunden in Frage gestellt, da es nichts mit der Geschichte des Grazer Wahrzeichens zu tun habe. Die Kritik ist inzwischen wieder abgeebbt. Sollte es zur Errichtung eines Museumsbezirkes auf dem Schloßberg kommen, ist das Garnisonsmuseum als eines seiner Bestandteile vorgesehen. Ob dieser Bezirk jemals verwirklicht wird, ist ungewiss (siehe die Äußerung von Wolfgang Lorenz im Zusammenhang mit der Gastronomie). Graz verstand und versteht sich als Kulturstadt, was immer das bedeuten soll, und wollte, als der Festspielgedanke aufkam, auch in dieser Hinsicht nicht hinter anderen Städten zurückstehen. Eine Kulturnische schien in der für Opern- und Schauspielhaus spielfreien Sommerzeit gefunden zu sein. Was für Salzburg Domplatz und Felsenreitschule, sollte für Graz der Schloßberg werden. 1927 begannen in den Kellerruinen der so genannten „Kasematten" die Schloßbergspiele. Zehn Jahre später erfolgte die Eröffnung der Freilichtbühne, die bis 1968 Ort der Grazer Sommerspiele war, ohne aber jemals nur annähernd den Stellenwert der Salzburger Festspiele zu erlangen. 1986 erhielt die Anlage eine neue Infrastruktur und fand auch als Veranstaltungsort für Rockkonzerte Verwendung. Seit 1995 gehört die Einrichtung den Bühnen Graz.110 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass 1995/1997 das „CerriniSchlößl", erbaut vom Kommandanten der Bürgerbastei im Jahre 1809, Karl

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Freiherrn von Cerrini, restauriert und für Künstlerwohnungen („Stadtschreiber") adaptiert wurde. In den letzten Jahren erfuhr das Stollensystem im Inneren des Berges eine kulturelle Nutzung, nachdem zuvor über eine verkehrsökonomische - Projekt einer Tiefgarage 1963 - diskutiert wurde.111 Seit 1968 fährt eine Märchengrottenbahn durch den Berg, ein Sehnsuchtsziel der Kleinen, wie sich Reinhard P. Gruber erinnert: „Und wenn ich älter bin, werde ich endlich auch mit der Grazer Grottenbahn fahren, weil die ist jetzt noch zu kühl für mich und ich könnte mich verkühlen."" 2 Eine Grottenbahn war aber zu wenig für eine Kulturstadt wie Graz. Seit über 20 Jahren sammelt ein privater Verein Eisenbahngerät (Montanund Werkbahnen) im Grazer Schloßbergstollen, „ein Museum will und will aber nicht auf die Schienen kommen". Eine Ausstellung im Schloßbergstollen im Rahmen des „Steirischen Herbst" 1984 hatte Architektur-Visionen zum Inhalt." 3 Viele Menschen gingen damals aber auch in den Stollen als einen „Ort der Erinnerungen", in dem sie die Luftangriff-Tage des Zweiten Weltkrieges erlebt hatten. 1991 schien das Innere des Berges Landeshauptmannstellvertreter Peter Schachner-Blazizek der adäquate Ort für ein Guggenheimmuseum zu sein. Doch es blieb bei einer Diskussionsveranstaltung mit dem Direktor des New Yorker Hauses. Vier Jahre später sprach der Grazer Kulturstadtrat Helmut Strobl von einer „Halle für alle" im Berg." 4 Stadttourismus und Altstadtinitiative bezeichneten den Berg als ein Juwel, „dessen Wert man vergessen" habe und mit seinem Inneren verfüge er über einen bislang ungehobenen Schatz. Begeh- und Bespielbarkeit seien zu wenig, der Berg müsse in Zukunft auch erlebbar sein. 1995 zeigte eine Ausstellung im Stollen, was es auf und im Schloßberg in Zukunft geben soll: Restaurant, Kunsthalle, Ausstellungsstollen, Mineralienschau, Zeughausinstallation, IMAX-Kino etc. In 53 Tagen wurden 13.426 Besucherinnen gezählt, was für das Interesse der Grazerlnnen an „ihrem" Schloßberg spricht und verdeutlicht, dass mit ihm in Zusammenhang stehende Aktivitäten Projekte der Öffentlichkeit sind. Am 3. März 1995 legte der Botschafter Frankreichs in Österreich den symbolischen Grundstein für die Neugestaltung des Grazer Schloßberges, medial als eine Art „Wiedergutmachung der Schleifung der Burg im Jahre 1809 auf persönlichen Befehl Napoleons I." apostrophiert." 5 Klausuren folgten und brachten das Ergebnis: Der Schloßberg könne in seiner Ausgestaltung zum Sinnbild des Grazer Selbstverständnisses werden, das sich nicht zuletzt durch die Graz-typische „Lust am Gegensatz" manifestiert. Als „Kristallisationspunkt" der Stadt solle dem Berg im Jahr 2000 eine Landesausstellung gewidmet sein, das sei ein „Zeitpunkt, zu welchem bereits mehr vorhanden sein muß als der unbestrittene Mythos und die lange, wechselhafte Geschichte"." 6 Euphorisch vermeldete das Airportjournal Graz: „Der Berg ruft! Lange Zeit hat er ja vergeblich gerufen, der Schloßberg im Herzen von Graz. Jetzt soll ihm neues Leben eingehaucht werden. Verdient hätte er es sich wirklich. Und Ehre,

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wem Ehre gebührt. Der Tourismus Verband Graz hat die Initialzündung zum Konzept Schloßberg neu gegeben. Jetzt spurt die Politik." 1 1 7 In der Folge wurden Glocken- und Uhrturm saniert, die Uhrturmkasematte, ein neuer Veranstaltungsort, ausgegraben, die spärlichen Fundamente der Thomaskapelle freigelegt. Das erschien zu wenig, da fehlte der spektakuläre „Kick" für die „McGesellschaft". 1 1 8 1996 sprach sich der neue Landeskulturreferent Peter Schachner-Blazizek gegen das von Josef Krainer, seinem Vorgänger im Kulturressort, seit 1986 (!) geplante Kunsthaus im Pfauengarten aus. Schachner wollte sein eigenes. 16 mögliche Standorte wurden begutachtet. Als „architektonisch und stadtplanerisch spannende Lösung" bot sich die zum Landesmuseum Joanneum gehörende „Neue Galerie" (Sackstraße 16, Palais Herberstein) und deren Erweiterung in den Schloßberg an. 1997 wurde ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben, den das Züricher Architektenteam Weber+Hofer gewann. Nun wurde das Projekt beworben und als Graz 1998 für 2003 den Titel „Kulturhauptstadt Europas" zugesprochen erhielt, als unbedingt notwendig erachtet, denn nur durch das Kunsthaus im Berg bekäme Graz „ein Museumszentrum von internationalem Format". Außerdem wäre „der Schloßberg als Herz und Wahrzeichen von Graz endlich besser genutzt". Nachdem die Freiheitlichen - sich wohl auf einen Teil des traditionsbewussten Stadtbürgertums stützend - eine Volksbefragung durchgesetzt hatten, wurden von SPÖ und ÖVP massive Pro-Kunsthaus-Aktionen gestartet, eine „BIG-spezial" (Bürgerinformation) herausgegeben, in der es hieß: Ein ,„Nein' bedeutet, [...] daß die Stadt Graz im Jahr 2003 als Kulturhauptstadt Europas ohne ein entsprechend großes Ausstellungszentrum für moderne Kunst dasteht [...], daß der Versuch, den Schloßberg als Attraktion und Kulturraum zu beleben, wieder einmal verhindert wurde"." 9 Dennoch stimmten die zu den Urnen gegangenen GrazerInnen am 18. Oktober 1998 mit 8 5 % gegen das Projekt, „was bleibt sind rund 4 0 Millionen Schilling an Unkosten". 1 2 0 Das Kunsthaus entstand schließlich Ende 2003 am Südtirolerplatz. Nach der Absage für das Kunsthaus im Berg begann die Stadtverwaltung 1999 mit dem Bau des Doms im Berg (Architekt Reiner Schmid), „ein in Europa einzigartiges Bauwerk", konzipiert als Multifunktionshalle, „die gleichermaßen Kulturschaffenden, potenten Firmen und natürlich auch dem Tourismus Raum bietet". 1 2 1 Richard Kriesche, einer der Initiatoren des „Doms", bezeichnet diesen - das Künstlerhaus, das Forum Stadtpark u.a. vergessend - als den ersten Grazer Kulturbau der Nachkriegsgeschichte, durch den „die seinerzeitige Kriegsanlage im Herzen der Stadt höchsten kulturellen Zwecken gewidmet" wird. 122 Der Dom wurde einer der drei Standorte der Landesausstellung 2 0 0 0 „comm.gr2000az". Diese kostenintensivste Exposition hatte aber inhaltlich nichts, wie ursprünglich geplant, mit dem Schloßberg zu tun und avancierte nachdem Landesausstellungen jahrelang an ihren Besucherzahlen gemessen und ob ihrer Breitenwirkung hervorgehoben wurden - zum Besucherflop.

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Richard Kriesche, für die Inhalte im „Dom" zuständig, konterte, die Ausstellung sei quasi nur für intelligente Menschen und: „Mit einem Konzept à la Musikantenstadl hätten wir wahrscheinlich alle Besucherrekorde brechen können - aber wir setzen bewusst auf eine komplett andere Kategorie der Qualität." Für ihn ist der „Dom im Berg [...] ein Bekenntnis zur Qualität [...] Er ist eine Hochleistungsarena und ein Schaufenster von Graz und der Steiermark für die Welt, um unser gewaltiges Potenzial auf den Gebieten Kunst, Kultur, Wissenschaft, Forschung, Ökologie und Wirtschaft zur Geltung zu bringen." 123 Dann rückte das Kulturhauptstadtjahr 2003 näher, in dem sich der Schloßberg „wohl makellos präsentieren" sollte. Im „Dom" und im Stollen kam es zur Ausstellung „Berg der Erinnerung", für die die Grazer Bevölkerung gebeten wurde, Erinnerungsstücke zur Verfügung zu stellen. Was in Zukunft auf und im Schloßberg geschehen wird, ist offen. So manche vermissen bis dato ein übergreifendes Schloßberg-Konzept und fürchten, dass er „totbelebt" wird oder gar nichts passiert. 124

Das Wahrzeichen des Wahrzeichens Als die Franzosen daran gingen, die Festung auf dem Schloßberg zu schleifen, „verhüteten die Bürger mit neuen Opfern" die Sprengung von Uhr- und Glockenturm. 125 Folgt man den Ausführungen von Karl Gutkas, gäbe es den Uhrturm nicht mehr, da für ihn nur der Glockenturm mit der Glocke freigekauft wurde, und zwar um „2.978 Gulden und 41 Kreuzer (ca. 40.000 Euro)", während es bei Peter Laukhardt 2.840 Gulden für Uhr- und Glockenturm sind.126 Es war die Zeitanzeige- bzw. Zeitverkündungsfunktion, die beide Bauwerke vor der Demolierung bewahrten und nicht ihre architektonisch-kunstgeschichtliche Bedeutung, denn sonst wäre wohl auch die Rotunde der Thomaskapelle erhalten geblieben. Ihr Abbruch durch die örtlichen Behörden erboste bereits 1816 August Josef Kumar, der kritisierte, „daß die Grätzer nicht auch daran dachten (um mich des gelindesten Ausdrucks zu bedienen), das einzig unersetzliche Denkmal, die St. Thomaskirche, zu retten, welches doch so leicht gewesen wäre, dürfte der Mit- und Nachwelt wohl der untrüglichste Beweis ihrer NichtWürdigung für vaterländische Kunst- und Denkmäler seyn".127 Glocken- und Uhrturm sind zwei prominente, akustisch respektive optisch omnipräsente Bauwerke. Im Glockenturm hängt die „Liesl", eine 1587 gegossene Glocke, leider nicht die größte im Lande, wie oft bedauert wird, um sogleich jedoch zu ergänzen: „Aber sie hat die immerhin beachtenswerte Schwere von 8.273 Pfund." 128 In seinem publizistischen Graz-Rundgang erinnert sich Johannes Koren, „daß die Glocke, die uns heute noch so viel Freude macht [...] aus 101 von den Türken erbeuteten Kanonenkugeln gegossen worden ist" 129 , was nicht als erwiesen erscheint. Die „Liesl" war und ist eine populäre Glocke.

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Als 1784 Kaiser Josef II. ihr „unnützes Geläute" einstellen ließ, reagierten die Bewohnerinnen mit „Betrübnis". Als sie 1790 wieder erklang, entstand eine Freudensode: „Du tönest zum ersten Mal nach langem Schweigen wieder. Und herrlich strömt dein hoher Schall Vom Felsenthurme wieder." 130 Die „Liesl" hat so etwas wie eine Vorläutefunktion für die anderen Grazer Glocken. Ihr tieftöniger Klang erweckt nach Rudolf Hans Bartsch „alle die vielen Glocken unten in der Stadtferne". 131 Auch wenn „Liesl" über den Dächern von Graz wahrhaftigt ist, um den Titel einer „Stadtgeschichte der Grazer Frauen" abzuwandeln, ist der Uhrturm das entschieden prominentere Bauwerk. 132 Zweifellos ist es seine solitäre Lage am Südsporn des Berges, die ihn so präsent macht. Wenn in den USA die Menschen vom Land nach New York-Manhattan kommen und die Atrien der neuen Hochhäuser betreten - Hallen über 30 Stockwerke hoch, hell beleuchtet, mit gläsernen Liften, marmornen Wänden, Palmenhainen, Springbrunnen und Wasserspielen - , dann entringt sich ihnen der Staunenslaut „Dschiih-sas Kharrraisst". 133 Wenn es in Graz einen „Jesus-Christ-Blick" gibt, dann ist es der von der Schmiedgasse über die Häuser des Hauptplatzes zum Uhrturm, ob an Sommerabenden, wenn tief liegende, mildfarbene Sonnenstrahlen ihn in ein sanftes Licht tauchen, oder in Winternächten, wenn er sich erleuchtet über dem weihnachtlichen Lichterbaum vom ultramarinen Himmel abhebt und seine vergoldeten Zeiger glitzern. Auch die Zeiger tragen zu seiner Bekanntheit bei, durch die ungewohnte Anordnung, nach der die großen Zeiger die Stunden, die kleineren die Minuten angeben. Das „rührt daher, daß die Uhr ursprünglich nur große Zeiger besaß, die naturgemäß die Stunden angeben mußten". 134 Die Uhr des Uhrturms hat jahrhundertelange Tradition, nicht so wie seine Kopie in Bruck an der Mur, die die Uhr erst nach den Franzosenkriegen erhielt.135 Seine öffentliche Uhr war der entscheidende Zeitmesser für die Menschen in Graz, sie sagte ihnen, wann sie aufstehen und wann sie schlafen, wann sie essen und wann sie ausruhen sollten. So erhielt sie im kollektiven Bewusstsein eine ungeheuer starke Präsenz. Meist unerwähnt bleibt, dass der Uhrturm ursprünglich nicht zur landesfürstlichen Burg gehörte, sondern der höchste Punkt der Stadtbefestigung war, und dass dieser „Magistratsturm" im Notfall von der Bürgerschaft verteidigt werden musste. 136 Das erscheint als maßgeblicher Faktor für die starke Identifikation, die die Menschen bereits früher mit dem Uhrturm hatten. Als Teil der Stadt bauten die Stadtbewohnerinnen ein Nahverhältnis zu diesem nicht vornehmen, sondern volkstümlichen Bauwerk auf. Um ihn ranken sich nicht hehre Sagen, sondern ganz alltägliche Geschichten, auch allzu menschliche. Viel er-

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zählt ist jene von der Frau des Schloßberggärtners, die im Wonnemonat Mai des Jahres 1955 in ihrem Domizil, dem Uhrturm, einen Liebhaber empfing, der, als der Ehemann überraschend heimkam, beim Fenster über dem südwestlichen Ziffernblatt hinauskletterte, in die Tiefe stürzte und sich mehrere Knochen brach.137 Dreißig Jahre später, im Mai 1985, wäre es für Karl Moik bei seinem aus Graz gesendeten „Musikantenstadl" ein schönes „G'schichterl" gewesen, hätte es im Uhrturm ein Rapunzel gegeben, mit langen blonden Zöpfen als Aufstiegshilfe für den Liebhaber.138 Der Uhrturm als Wahrzeichen des Wahrzeichens Schloßberg steht für die Grazerlnnen außer Frage. Adolf Hitler aber kritisierte, dass „eine so wichtige Stadt mit dem Uhrturme ein so bescheidenes Wahrzeichen besitze." Seine Architekten berücksichtigten daher bei ihren städtebauliche Neuplanungen einen „Südostturm mit Führersaal" oder andere Monumentalbauten. 139 Die Ideen wurden nicht umgesetzt und der Uhrturm blieb so wie er ist das bekannteste Bauwerk der Stadt und für manche, die Graz nur kurz besuchen, die einzige Erinnerung. Ein Beispiel dafür ist der rumänische Schriftsteller Anatol E. Baconsky, der 1965 erstmals in Graz weilte. Als er nach zwei Tagen abreiste, begriff er „mit einem Mal", dass er die Stadt nicht gesehen hatte. „Nun aber war es zu spät. Der Zug beschleunigte, und auf einem verschneiten Felsen schenkte das runde Gesicht einer riesigen Uhr, in den Nebel gereckt wie der Kopf eines germanischen Chronos, meiner Ratlosigkeit ein rätselhaftes Lächeln. Der Uhrturm war das einzige Bild von Graz, das ich in mir trug [...]". 140 Im europäischen Kulturhauptstadtjahr 2003 erhielt der Uhrturm einen dreidimensionalen Schatten durch den Künstler Markus Wilfling, um das Grazer Wahrzeichen noch stärker in das Rampenlicht der Öffentlichkeit zu rücken. 2004 demontiert, fand der Schatten einen neuen Aufstellungsort in einem Shopping-Center südlich von Graz.141

Resümee Jede größere Stadt hat laut Peter Daniel Wolfkind „ein paar ruinöse Mauerreste und ein altes Residenzschloß". Und eine jede dieser Festungen hat ihre Geschichte. Und all diese Geschichten sind einander „sehr ähnlich: Erbauung, Erweiterung, Belagerung, Verteidigung und Zerstörung". 142 Auch die Geschichte der Festung auf dem Grazer Schloßberg passt in dieses Schema. Die historische Rezeption verstand es, identitätsstiftende Faktoren - wie „letzte Zufluchtsstätte" gegen „die vielen Feinde des Landes" - hervorzuheben, disparitätserzeugende hingegen zu verschweigen respektive zu verharmlosen.143 Fachleute sollten sich daher noch mehr mit der „Schloßbergforschung" beschäftigen, um das tradierte, tendenziöse, in das kollektive Bewusstsein eingedrungene Geschichtsbild zu objektivieren und versuchte Bedeutungserhöhungen zu relativieren.

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In der Tat war der Schloßberg mit seiner Burg bis 1809 kein Ort der Identität für die Grazer Bevölkerung. Wäre die Burg bestehen geblieben, hätte sich diese vermutlich kaum in dieser Intensität ausgebildet. Graz hätte, wie Friesach, Murau oder Salzburg, eine Festung in seiner Mitte, nicht mehr und nicht weniger. Diese Burg würde heute vielleicht als „Play Castle" phantastische Spielund Erlebniswelten bieten. Die Grazer Festung aber existiert nicht mehr. Sie wurde zerstört, nicht im Kampfe, sondern aufgrund eines Beschlusses - und das machte sie zum Mythos und den Berg zum Ort der Erinnerung. Erst die Schleifung schuf Identität und, was die weitere Nutzung des Berges anlangt, Multifunktionalität. Diese macht seinen besonderen Stellenwert aus. Ein Vergleich mit Wien sei angebracht: Was für die Bundeshauptstadt der Kahlenberg (im Sinne Josef Weinhebers), die Liliputbahn im Prater, die Pummerin und der Donauturm sind, das ist für Graz der Schloßberg, dazu vielleicht noch ein „bisserl Grinzing" und ein wenig Stadtpark. Der Schloßberg bietet ein ausgezeichnetes Beispiel einer Kulturlandschaft, die alle drei Kategorien von ICOMOS (International Commitee of Monuments and Sites) umfasst: Künstlerisch entworfene historische Gartenkunstwerke, gewachsene wirtschafts- und sozialgeschichtliche Landschaft, assoziative Landschaft, historische Ereignisse, die ihn zum symbolhaften Ort und von breiten Bevölkerungsschichten akzeptierten Platz machen. 144 Graz ist allerdings „ein Chamäleon unter den österreichischen Städten" und will jedem etwas bieten.145 Zudem ist Graz eine Stadt, die dem Vorhandenen wenig Qualität zutraut und allzusehr für zeitgeistige Veränderungen anfällig ist. Und so will man aus dem Schloßberg einen eventträchtigen „Zauberberg" machen. Was nicht alles soll auf dem und im Berg geschehen. Zeitungsschlagzeile folgt Zeitungsschlagzeile, so hieß es auch: „Hit! Schloßberg wird zur Snowboard-Rennbahn." 146 Man will einen Berg für alle. Den gibt es jedoch nicht. Zieht der Berg nicht mehr, macht man ihn vielleicht zu einer Pyramide? Oder bleibt alles beim Alten? Auf jeden Fall bleibt der Schloßberg der besondere Ort für Graz. 1

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Das Österreichbuch. Im Auftrag des Bundespressedienstes hg. von Ernst Marboe, Wien 3 1948, 260. Über Robert Stolz und sein Graz-Lied vgl. Robert und Einzi Stolz, Servus Du. Robert Stolz und sein Jahrhundert, München 1980,542; über die Sage Peter Laukhardt, Der Grazer Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, Graz o.J., 1. Bernhard Hüttenegger, Zwischenwissenschaft, in: 850 Jahre Graz, 1128-1978. Festschrift. Im Auftrag der Stadt Graz hg. von Wilhelm Steinbock, Graz-Wien-Köln 1978, 440. Konrad Steiner, Vom alten Graz, Graz 1951, 11, 93; Karl Panhuber, Antlitz der Steiermark. Ein Buch der Landschaft, Graz-Wien-München 1950, 94. Hüttenegger, Zwischenwissenschaft, 440. Johannes Koren, Graz erzählt, Graz 1990, 52. Laukhardt, Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 117. Erhebung im Andenkenladen beim Eingang zur Kanonenbastei auf dem Schloßberg, April 2000. Siehe „der (neue) Grazer", 28.9.2000, 40, 49.

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Stichprobenartige Durchsicht der Jahrgänge 1993-1999. Peter Laukhardt, Der Grazer Schloßberg. Im Spannungsfeld von Denkmalpflege, Naturschutz und neuen Nutzungen, in: ISG Magazin. Internationales Städteforum Graz, 1/2000, 20. Programmbuch I für „Graz - Kulturhauptstadt Europas 2003". Erstellt im Auftrag der Stadt Graz. Für den Inhalt verantwortlich: Wolfgang Lorenz, Graz 1999, 20. Schloßberg. Der Grazer Berg und seine Zukunft. Eine Ausstellung des Tourismusverbandes der Stadt Graz, (Dokumentationsbroschüre), Graz 1995, 3 f. Diether Kramer, Archäologisch-historische Untersuchungen zur Geschichte des Reinerhofes, in: Der Reinerhof. Das älteste urkundlich erwähnte Bauwerk von Graz. Festschrift, hg. vom Magistrat Graz, Abt. für Wohnbau und Wohnbauförderung, Graz 1995, 54 f; vgl. auch Diether Kramer, Die Stadt Graz aus der Sicht der Archäologie, in: Geschichte der Stadt Graz 1, hg. von Walter Brunner, Graz 2003, 149 f. Walter Modrijan, Graz ehe es Graz wurde, in: 850 Jahre Graz, 59; vgl. auch Diether Kramer, Die Pfalzkapelle St. Thomas in Graz, in: Festschrift Gerhard Pferschy zum 70. Geburtstag, hg. von der Historischen Landeskommission für Steiermark und dem Steiermärkischen Landesarchiv, Graz 2000, 499-505. Laukhardt, Schloßberg. Im Spannungsfeld, 29 f.; vgl. auch Fritz Popelka, Geschichte der Stadt Graz, Bd. 1, mit dem Häuser- und Gassenbuch der inneren Stadt von Arnold von LuschinEbengreuth, Graz 1928 (Neudruck 1959, 1984); der Grazer Mediävist Herwig Ebner meint über den Aufenthalt Kaiser Friedrichs II. in Graz: „Sicher ist, dass Kaiser Friedrich II. nie in Graz - bestenfalls in Neumarkt - war." Gespräch mit dem Autor am 7.12.2000. Johannes Koren, Graz. Funkelnder Talisman, Wien-Hamburg 1977, 23. Popelka, Geschichte der Stadt Graz 1, 71 f. Fritz Posch, Die Besiedlung des Grazer Bodens und die Gründung und älteste Entwicklung von Graz, in: 850 Jahre Graz, 67. Sokratis Dimitriou, Die Grazer Stadtentwicklung 1850-1914, in: Gründerzeit. Stadterweiterung von Graz, Gesamtredaktion Sokratis Dimitriou, Graz-Wien 1979, 20; die Sage von der Namengebung findet sich zuletzt in: Grazer Sagen und Geschichten, hg. von Annemarie Reiter, Graz-Wien-Köln 1996, 12 f. Fritz Popelka, Wie Graz entstand, in: Verklungene Steiermark. Geschichtliche Bilder von Fritz Popelka, Graz-Wien 1948, 14. Herwig Ebner, Burg-Stadt-Residenz, in: 850 Jahre Graz, 186 f. Koren, Graz, 173; über Balthasar Eggenberger vgl. Gerhard M. Dienes, Die Bürger von Graz. Örtliche und soziale Herkunft (Von den Anfängen bis 1500), Graz 1979, 66 ff., 78, LXVIII; Helfried Valentinitsch, Bedeutende steirische Kaufmannsfamilien im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Menschen & Münzen & Märkte, Katalog (Steirische Landesausstellung Judenburg 1989), hg. von Gerald Schöpfer, Fohnsdorf 1989, 260. Vgl. Edith Münzer und Heinz Heikenwälder, Graz. Ein Begleiter durch die Stadt, Graz-WienKöln 1977, 32: Peter Laukhardt, Der Grazer Schloßberg. Weltkulturerbe im Sturm der Zeit, Graz 2000, 28. Fritz Popelka, Ein Gegner des Prinzen Eugen auf dem Grazer Schloßberg, in: Verklungene Steiermark. Geschichtliche Bilder von Fritz Popelka, 45; Popelka, Geschichte der Stadt Graz 1, 342. Die historische Altstadt von Graz. Ansuchen um Aufnahme in die UNESCO World-HeritageList, Graz 1999, o.S. Popelka, Geschichte der Stadt Graz 1, 79 f. Gerhard M. Dienes, Kulturbeziehungen. Graz als Residenz von Innerösterreich. Rückblicke und Ausblicke, Graz 1993, 8 ff. Popelka, Geschichte der Stadt Graz 1, 172 f. „der (neue) Grazer", 5.10.2000, 17. Günther Burkert, Vom Pulverturm zum Munitionslager, in: Graz als Garnison. Beiträge zur Militärgeschichte der steirischen Landeshauptstadt, Graz-Wien 1982, 50, 52, 54. Laukhardt, Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 122; Stefan Karner, Der Luftkrieg gegen Graz 1944 im Drahtfunk, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 16/17 (1986), 245 f.

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Steiner, Vom alten Graz, 11. Joseph Franz Desput, Presse, Rundfunk, Theater und Kino in Graz 1938, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19 (1988), 375 f. Popelka, Geschichte der Stadt Graz 1, 57. Laukhardt, Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 46. Popelka, Geschichte der Stadt Graz 1, 283 ff. Ebd., 84, 290; vgl. auch Fritz Posch, Was geschah im Türkenjahr 1683 in der Steiermark, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark LXXIV (1983), 6 f. Franz Pichler, Die steuerliche Belastung der Landesdefension gegen die Türken, in: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 35/36 (1986), 103. Koren, Graz. Funkelnder Talisman, 141. Günther Jontes, Der Türke im Palais Saurau. Überlieferungs wege einer Grazer Geschichtssage, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 16/17 (1996), bes. 16. Peter Laukhardt, Die Geschichte des Grazer Schloßberges, in: Lebensraum mit Geschichte Der Grazer Schloßberg, hg. von Karl Adlbauer und Thomas Ster, Graz 1998, 48. Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 45; bei Laukhardt, Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 45, ist noch von türkischen Gefangenen die Rede. Rainer Egger, Graz als Festung und Garnison, in: Graz als Garnison, 10. Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 70. Robert F. Hausmann, Die Franzosen in der Steiermark anno 1809. Aus dem Tagebuch der Gräfin Caroline des Enffans d'Avernas, in: Blätter für Heimatkunde 58 (1984), 149. Hans Lohberger, Ein Brief Anton Prokesch an seine Tante in Graz, in: Blätter für Heimatkunde 40 (1966), 60. Egger, Graz als Festung und Garnison, 17; Christoph Tepperberg, Graz im Jahre 1809, in: Die Franzosen und der Schloßberg. Graz 1809. Broschüre zur gleichnamigen Ausstellung im Garnisonsmuseum auf dem Schloßberg, 21. Juni bis 15. Oktober 1989, Graz 1989, 44. Mitteilung der Mutter des Verfassers, von 1934 bis 1938 Schülerin an der genannten Lehrerbildungsanstalt. Laukhardt, Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 89; Walter Zitzenbacher, Wie's früher war in Kärnten und der Steiermark, Rosenheim 1974, 40. Steiner, Vom alten Graz, 93 f. Vgl. Leopold Toifl, Zur Schleifung der Grazer Schloßbergfestung vor 190 Jahren, in: Blätter für Heimatkunde 73 (1999), 123-145. Andreas Zbiral, Geschichte und Perspektiven der Gartenanlagen, in: Lebensraum mit Geschichte, hg. von Karl Adlbauer und Thomas Ster, 63. Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 86. Johann Ritter von Kalchberg, Der Grazer Schloßberg und seine Umgebung, Graz 1856, 77. Steiner, Vom alten Graz, 93 f.; Koren, Graz. Funkelnder Talisman, 219. Graz und Umgebung, hg. vom Fremdenverkehrs-Comité, Graz 1882, 39 f. Vgl. Gerhard Fuchs, Der Stadtschulmeister. Graz und das Motiv der „Stadt" bei Peter Rosegger, in: Stadtkultur-Kulturstadt. Eine Bestandsaufnahme aus Anlaß des „Europäischen Kulturmonats", Graz, Mai 1993, hg. von Gerhard Melzer, Graz 1994,305 f.; Zbiral, Gartenanlagen, 81.

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Panhuber, Antlitz der Steiermark, 99; Zbiral, Gartenanlagen, 86. Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 194. Andreas Zbiral, Gartenanlagen Grazer Schloßberg. Historisch orientiertes Entwicklungskonzept (Im Auftrag des Grazer Stadtgartenamtes und des Bundesdenkmalamtes), Graz 1995,17; über die „Lungenfunktion" vgl. Arnold Zimmermann, Die Vegetation. Waldvisionen und Felsengärten, in: Lebensraum mit Geschichte, hg. von Karl Adlbauer und Thomas Ster, 105. Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 147, 155. Hüttenegger, Zwischenwissenschaft, 440. Peter Daniel Wolfkind (Text), Wim van der Kallen (Fotos), Graz, hg. von Gerhard Trenkler, Graz-Wien-Köln 1978, 29.

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Hans Lohberger, Joseph von Hammer-Purgstall, in: Blätter für Heimatkunde 41 (1967), 16. Gustav Schreiner, Grätz. Ein naturhistorisch-statistisch-topographisches Gemähide dieser Stadt und ihrer Umgebung, Graz 1843,248; Laukhardt, Schlossberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 114. Schloßbergrestaurant, Konzept für einen Neubeginn, in: ISG Magazin. Internationales Städteforum Graz, 1/99, Umschlagseite 2. Karl Albrecht Kubinzky, Graz aus der Vogelperspektive. Die steirische Landeshauptstadt in alten und neuen Luftbildern, Graz 1984, 32, 34. Koren, Graz. Funkelnder Talisman, 219. Fuchs, Der Stadtschulmeister, 305 f. Rudolf Hans Bartsch, Zwölf aus der Steiermark, Roman, Leipzig 1908, 54. Hans von Dettelbach, Steirische Begegnungen. Ein Buch des Gedenkens, Graz 1966, 35. Heinrich Gröger, Panorama. Erzählungen und Skizzen, Graz-Wien 1954, 59. Alfred Kolleritsch, Gegenliebe, in: Graz von innen. Eine Anthologie. Grazer Autoren über ihre Stadt, Graz 1985, 32. Gustav Scherbaum, Erinnerungen eines Grazer Bürgermeisters, Graz-Wien-Köln 1985, 89 f. Herbert Missoni, Platzgestaltung Mariahilferplatz, in: Stadtarchitektur, architekturstadt. Architektur und Stadtentwicklung 1986-1997, hg. vom Magistrat Graz - Amt für Stadtentwicklung und Stadterhaltung. Gesamtkonzept Hansjörg Luser, o. O., o. J., 35. Β au wand Werbung für die Wohnanlage Kronesgasse/Münzgrabenstraße, Oktober 2000. ÜBERGRAZ. Eine Textauswahl von Brigitte und Gerhard Balluch, Graz 1993, 45 f. Robert Baravalle, 150 Jahre Schlossberganlagen und -Baulichkeiten, 2. Teil, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 6 (1973), 172. Cilli Kappel, Als ich zum erstenmal nach Graz kam, in: Steirische Heimat, Wien 1947, 80. Koren, Graz erzählt, 122 f.; Laukhardt, Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 116. Münzer-Heikenwälder, Graz, 18. Besucherbefragung im Garnisonsmuseum, April 2000. Münzer-Heikenwälder, Graz, 18; Kleine Zeitung, Graz, 2.7.2000, 50. Laukhardt, Schloßberg. Im Spannungsfeld, 20; Neue Zeit, Graz, 14.4.2000, 44. Gernot Romar, Neuerliche Probleme: Schloßberglift gesperrt, in: Neue Zeit, Graz, 30.11.2000, 11. Werbeprospekt der „Kunstmeile Sackstraße", Dezember 2000. Schreiner, Grätz, 253; Laukhardt, Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 114. Gerhard Marauschek, Die Stadt Graz und die steirischen Landesfremdenverkehrsvereine. Aus der Frühzeit der steirischen Fremdenverkehrsförderung und -Werbung, in: Blätter für Heimatkunde 62(1988), 40. Laukhardt, Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 124; ders., Schloßberg. Weltkulturerbe, 118. Schloßbergrestaurant 2; Laukhardt, Schloßberg. Im Spannungsfeld, 20. ÜBERGRAZ, 26 f. Kulturhauptstadt, Programmbuch I, 20. Neue Zeit, Graz, 8.11.2000, 30; Schloßbergrestaurant. Alternative, um den Schaden zu begrenzen, in: Die steirische Wochenpost, Graz, 9.11.2000, 13; nova. Das Gratismagazin, Nr. 5, 25.6.2004, 2 f. ÜBERGRAZ, 45 f. Vgl. Dehio Handbuch Graz (bearb. von Horst Schweigert), Wien 1979, 12. Stefan Riesenfellner, Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur am Beispiel der Kriegerdenkmäler in Graz und in der Steiermark von 1867-1934, in: Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur in Graz und in der Steiermark vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, hg. von Stefan Riesenfellner und Heidemarie Uhi, Köln-Wien-Weimar 1994,40 f. Helmut-Theobald Müller, Die Tradition des k.u. k. Infanterie-Regimentes Nr. 27 im Österreichischen Bundesheer, in: 1682-1982. K.(u.)K. Infanterie-Regiment Nr. 27 „König der Belgier", Ausstellungskatalog des Grazer Stadtmuseums, Graz 1982, 36. Koren, Graz. Funkelnder Talisman, 166.

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Roland Schäffer, Hundegebell rettet die Kaisertochter. Zum Ursprung der „Schloßbergsage" vom Steinernen Hund (1481), in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 11/12 (1979/80), 9, 34 f. Ebd. 35; Popelka, Geschichte der Stadt Graz 1, 35. Koren, Graz. Funkelnder Talisman, 165 f.; Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 166. Meinhard Brunner, Der Hackher-Löwe auf dem Schloßberg. Zur Geschichte eines Grazer Denkmals, in: Blätter für Heimatkunde 73 (1999), 12 f., 17; Riesenfellner, Todeszeichen, 14. Der Grazer Faschingsnarr 1962, hg. von der ÖVP-Stadtparteileitung Graz, O.S. Graz. Aufstieg und Zukunft. Hg. Österreichische Volkspartei, Stadtparteileitung Graz. Text: Dr. Hans Hegenbarth und GR Hubert Heuberger, Graz 1963, O.S. Brunner, Der Hackher-Löwe, 18 f. Steiner, Vom alten Graz, 14 f.; Laukhardt, Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 119. Gespräch des Verfassers mit Hofrat W. Seipel im September 1998. Wilhelm Steinbock, Vorwort, in: Graz als Garnison. Beiträge zur Militärgeschichte der steirischen Landeshauptstadt, Graz-Wien 1982, 7. Laukhardt, Schloßberg. Im Spannungsfeld, 20; Manfred Blumauer, Festa teatrale. Musiktheater in Graz, Graz 1998, 27. Laukhardt, Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 124; Edith Münzer, Grazer Extrablatt. Unser Graz vor hundert Jahren, Graz 1989, 45. Reinhard P. Gruber, Graz ist herrlich, in: Graz von innen. Eine Anthologie. Grazer Autoren über ihre Stadt, Graz 1985, 63. Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 136; Bahnmuseum im Schlossberg, in: Kleine Zeitung, Graz 26.6.2004, 22 f. BIG. Bürger-Information-Graz. Mit Sonderbeilage BIG-Spezial: Alles über das Kunsthaus, Graz, 1998, 2. Schloßberg. Der Grazer Berg und seine Zukunft, 3 f.; Schloßbergrestaurant 2; Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 17. Dieter Hardt-Stremayr und Bernhard K. Reif-Breitwieser, Graz. Österreichs heimliche Liebe, in: Tourismus auf dem Prüfstand. Steirische Berichte 1/2, 1997, 21. Rundblick vom Schloßberg, in: Airportjournal Graz, Nr. 2, 1995, 29. Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 10; über die „McGesellschaft" vgl. Manfred Prisching, Politik als Show. Man schimpft und gehorcht, in: Kleine Zeitung, Graz, 31.12.1998, 10. Bürgerinformation Graz, 2, 10 f. Christian Weniger, Der Aufwecker. Kein Bedauern, in: Kleine Zeitung, Graz, 2.4.2000, 11. Karl Fitzthum, löcher im „heiligen berg", in: Klipp XII/1, februar 2000, 21. Richard Kriesche, comm.gr2000az, in: Mitteilungen der Österreichischen Urania für Steiermark, 1999/2000, H. 3, Vorwort. BIG im Gespräch, „Neugieriges Publikum gefunden", in: BIG, Bürger-Information-Graz, Nr. 7, September 2000, 13. Laukhardt, Schloßberg. Im Spannungsfeld, 21; vgl. GRAZ ZWEITAUSENDDREI, Kulturhauptstadt Europas. Das Programm, Graz 2002, 268. Panhuber, Antlitz der Steiermark, 95. Karl Gutkas, Austria Imperialis. Auf den Spuren der Habsburger in Österreich, Wien 1995, 92; Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 80. August Josef Kumar, Historisch-mahlerische Streifzüge in den Umgebungen der Stadt Grätz, Graz 1816,5. Popelka, Geschichte der Stadt Graz 1, 294 f.; den Namen hat die Glocke von einer hier bis 1577 stehenden Elisabethkapelle. Koren, Graz erzählt, 118 f.; Laukhardt spricht von 101 Kanonen! Skitze von Grätz. Getreuer Abdruck der Originalausgabe von 1792. Eingeleitet und mit alphabetischem Register versehen von Anton Schlossar, Graz 1922, 239. Bartsch, Zwölf aus der Steiermark, 96 f. Über den Dächern von Graz ist Liesl wahrhaftig. Eine Stadtgeschichte der Grazer Frauen, hg. von Carmen Unterholzer und Ilse Wieser, Wien 1996.

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Gerhard M. Dienes

Vgl. Carlos Widmann, Die neue Steinzeit, in: Merian New York 11/XKI C 4701E, 32. Laukhardt, Die Geschichte des Grazer Schloßberges, 38 f. Richard Antauer, Bruck an der Mur. Ein Heimatbuch, Bruck an der Mur 1951, 84. Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 28; über die Funktion der öffentlichen Uhren vgl. Richard Sennett, Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt/Main 1991, 227 f. ÜBERGRAZ, 47; Laukhardt, Schloßberg. Vom Kastell zum Alpengarten, 128. Mitteilung gegenüber dem Autor beim Einholen von Informationen zur Kommentierung eines am Anfang der Sendung eingespielten Graz-Filmes. Karl Albrecht Kubinzky, Die Stadtplanung für die Gauhauptstadt Graz, in: Graz in der NSZeit, hg. von Stefan Karner, Graz 1998, 248 f. Anatol E. Baconsky, Graz 1976, in: 850 Jahre Graz, 429. GRAZ ZWEITAUSENDDREI, 74. Wolfkind und van der Kallen, Graz, 12. Laukhardt, Schloßberg. Weltkulturerbe, 220. Vgl. Géza Hajós, Vorwort, in: Lebensraum mit Geschichte, hg. von Karl Adlbauer und Thomas Ster, 3. Wolfkind und van der Kallen, Graz, 28. „der (neue) Grazer" 14.12.2000, Titelseite.

Lukas Morscher und Roland Sila

„Das guldin dach gar wol bekhanndt, sein ruemb erschallen in weytte lanndt"1 Beobachtungen zum Goldenen Dachl

Grundsätzliche Überlegungen Wenn heute das weltberühmte Goldene Dachl in Beziehung zu Begriffen wie Mythos und Erinnerung gebracht wird, so stellen wir fest, dass dieses Symbol nichts mit dem Mythosbegriff im eigentlichen Sinne zu schaffen hat. So wird beispielsweise kaum jemand einen Zusammenhang zwischen dem Goldenen Dachl und einer Sage herstellen können. Weiters sind die historischen Personen, die mit dem Denkmal in Verbindung stehen, relativ gut erforscht und es handelt sich hier nicht um etwas Mystisches - wenn man davon absieht, dass die Schindeln nur vergoldet sind. 2 Dass bei einer modernen Betrachtung Innsbrucks aber nur das Goldene Dachl als Paradebeispiel eines inoffiziellen Logos herangezogen werden kann, ist jedem, der die Stadt von innen oder außen sieht, klar, handelt es sich doch bei diesem Bauwerk um das bekannteste Denkmal Tirols. Dies war nicht immer so, denn die durch Innsbruck Reisenden, die früher bereits aufgrund der geopolitischen Lage zwischen Bayern und Südtirol durch Innsbruck kamen, hatten andere vorrangige „Sehenswürdigkeiten", auch wenn dieser Begriff für die Reisenden des 17. und 18. Jahrhunderts nicht gebräuchlich war. Das reiche Stift Wilten dominierte lange die Stadt Innsbruck und zeigte auch baulich durch seine Distanz Macht und Glorie. So bildete Matthäus Merian bereits 1649 eindrucksvoll das Kloster Wilten ab,3 dominiert von einer anderen Figur, die in Tirol eine starke mythische Wirkung hatte und hat, dem Riesen Haymon, der Wilten der Sage nach gründete. 4 Dies war jedoch nicht die erste Abbildung des Stiftes: So hat Ludwig Konraiter bereits um 1485 die erste topographische Ansicht des Klosters geschaffen. 5 Auch in der Folge wurde das bedeutende Stift oft abgebildet, was wiederum seine Wirkung auf die Stadt Inns-

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Lukas Morscher und Roland Sila

brück relativ gut illustriert. Diese kirchliche Macht wurde auch deutlich in der sehr frühen Verehrung des Mariahilf-Bildes in der Stadtpfarrkirche zu St. Jakob, die bis heute anhält und viele Gläubige und kunsthistorisch Interessierte mehr denn das Goldene Dachl nach Innsbruck lockt. 6 Kein geringerer als Albrecht Dürer hat die damalige Pfarrkirche St. Jakob an der Stelle des heutigen Doms erstmals dargestellt. 7 Wallfahrtsbilder sind bereits ab dem frühen 18. Jahrhundert erhalten. Natürlich bildeten auch die ebenfalls von Dürer erstmals 1495 abgebildete Hofburg 8 und die Hofkirche 9 wesentliche Anziehungspunkte im historischen Innsbruck. Besonders das leere Maximiliangrab und die um das Grab angeordneten Bronzestatuen, genannt die „Schwarzen Mander", faszinierten die Besucher schon sehr früh und gaben Anlaß zu Spekulationen, die stark mythischen Charakter bekamen. Dem gegenüber steht, dass kaum eine bildliche Darstellung des Goldenen Dachls vor 1800 zu finden ist. Mitte des 18. Jahrhunderts findet sich ein Kupferstich, der die erste bekannte Darstellung des Goldenen Dachls zu sein scheint. 10 Im 19. Jahrhundert häufen sich die Darstellungen exponential, was nicht nur auf die Entstehung neuer Drucktechniken zurückzuführen ist.

Goldenes Dachl. Kupferstich von Salomon Kleiner, 1750

Beobachtungen zum Goldenen Dachl

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Eine Wende für die Bedeutung des Goldenen Dachls wie für ganz Tirol bildeten die Napoleonischen Kriege. Durch den teilweise erfolgreichen Widerstand der Tiroler gegen das französische Heer und später gegen die ungeliebten Bayern, die einen Großteil des Tiroler Unterlandes besetzt hielten, wurde das Ausland erstmals auf dieses Bergvolk aufmerksam. Hier setzt nun ein Mythos ein, der zwar nichts mit dem Goldenen Dachl direkt zu tun hat, aber indirekt dazu beigetragen hat, dem Gebäude die heutige Popularität zu bringen. Durch die einmalige Person Andreas Hofers, der seinen erbitterten Widerstand mit dem Tod bezahlte, wurde die Basis für einen Personenkult gelegt, der bis heute anhält."

Blick von der Maria-Theresien-Straße mit der Annasäule zur Nordkette, ganz hinten das Goldene Dachl

Diese Aufmerksamkeit des Auslandes brachte mit sich, dass viele Touristen, in erster Linie Engländer, Tirol bereisten und über Tirol berichteten. In diesen Berichten über Tirol und Andreas Hofer waren anfangs wenige Nachrichten über das Goldene Dachl zu finden. Vielmehr waren das Maximiliangrab in der Hofkirche oder Naturabbildungen wie die Martinswand bei Innsbruck dargestellt. Nichtsdestoweniger zeichnete der Engländer Sir Thomas Dyke bereits 1815, sechs Jahre nach dem Krieg, als Tourist die erste Ansicht von Innsbruck. 12

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Lukas Morscher und Roland Sila

Doch nachdem um 1850 das Interesse des Auslandes an der Person Andreas Hofers und dem Befreiungskampf abgenommen hatte, wurden zusätzlich immer öfter andere Gebäude und Sehenswürdigkeiten abgebildet, wobei das Goldene Dachl nunmehr eine bedeutendere Stellung einnahm. Natürlich reagierten die Tiroler rasch auf die Nachfrage, und so produzierte der Tiroler Maler und Kupferstecher Johann Georg Schädler bereits ab 1820 eine Reihe von Stichen, die unterschiedliche Motive zeigten. Dieser Maler stellt insofern ein gutes Beispiel dar, weil er seine Stiche vorwiegend an Touristen verkauft hat. Das Goldene Dachl existiert in mehreren Ausführungen dieses Malers. 13 Mit der Entstehung der Postkarte und dem immer stärker werdenden Tourismus wird das Goldene Dachl zum Marken- und Wahrzeichen Innsbrucks, das weltweit bekannt ist. Damit erfüllt es eine Grundvoraussetzung für die Entstehung eines Kultes, die allgemeine Bekanntheit. Die Frage, warum gerade das Goldene Dachl diese Sonderstellung einnimmt, lässt sich vor allem mit zwei Ansätzen erklären: Erstens: Die Symbolik des Goldes beinhaltet Glanz und Macht. Die Faszination des unschätzbaren Reichtums, der ausreicht, ein ganzes Dach zu decken, strahlt im Goldenen Dachl wider. Zweitens: Die immer bedeutender werdende bildliche Darstellung als Illustration zu Reiseberichten suchte nach Motiven, die dem Leser mehr als nur ein Haus, eine Kirche oder eine Statue bieten konnte. Mit dem bis heute wunderschönen Hintergrund der Innsbrucker Nordkette konnte in einer Abbildung einerseits das wilde, grausame, gebirgige Tirol andererseits aber auch das fürstliche, feine Tirol dargestellt werden. Dies schien die Menschen des 19. Jahrhunderts zu beeindrucken und die Menschen des 21. Jahrhunderts stehen immer noch bewundernd davor.

Baugeschichte Historische

Darstellung

Nach der Erwerbung Tirols durch die Habsburger durch den Erbvertrag im Jahr 1363 richtete sich, beschleunigt durch das Aufblühen des Bergbaues im Inntal und die Lage am Kreuzungspunkt zwischen der Brennerroute und der Verbindung in die Vorderösterreichischen Gebiete, das Hauptgewicht des Landes zunehmend nach Norden. Durch diese Entwicklung wurden die früheren landesfürstlichen Residenzen Schloss Tirol und Meran 14 in ihrer Bedeutung durch Innsbruck abgelöst. 15 Bereits 1420 erklärte Herzog Friedrich IV. „mit der leeren Tasche", dass er zukünftig vorzüglich in Innsbruck wohnen wolle.' 6 Gleichzeitig, am 20. Februar 1420, wurden das Eckhaus vom Stadtplatz zur Kirchengasse, der heutigen Pfarrgasse, und das danebenliegende Haus von Ulrich Swegerly erworben. 17

Beobachtungen zum Goldenen Dachl

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Im Jahr 1459 wurde das in der Kirchgasse anschließende Gebäude von Hanns Weger gekauft. Damit war ein Großteil des Gebäudekomplexes, 18 an dem sich heute das Goldene Dachl befindet, landesfürstliches Eigentum. Dieser neue fürstliche Wohnsitz wurde im Gegensatz zur Andechser Burg bei der Innbrücke seit 1459 als „Neuhof" bezeichnet. Darin wurde bis spätestens 1428 eine St. Georgs-Kapelle an der Kirchengassenecke im zweiten Stock errichtet. 19 „In dem Stübl unndter derselbn Capellen" ist Herzog Friedrich im Jahr 1439 verstorben.20 Der Sohn des Herzogs, Sigmund der Münzreiche, wurde in seiner Jugend lange Zeit vom späteren Kaiser Friedrich III. in Graz, Wiener Neustadt und Linz festgehalten. Nach seiner Rückkehr nach Tirol wählte er zunächst das erwähnte Gebäude als Residenz. Er erwarb in der Kirchengasse den anschließenden Bau und ließ im Innenhof ein dreistöckiges, eher turmartiges Gebäude, das „Hintere Stöckl", errichten. Seit Mitte der 50er-Jahre des 15. Jahrhunderts begann die Konzentration der Bautätigkeit im Bereich des Rumertores, dem später der Wappenturm vorgesetzt wurde. Im Jahre 1460 bestätigte Sigmund den Bürgern von Innsbruck bei einer Marktbewilligung, dass nun auch der gesamte Hof nach Innsbruck verlagert werden solle. Dies dürfte bereits in Zusammenhang mit der Errichtung der späteren - und heutigen - Hofburg gestanden sein. Auch die Hochzeit mit Katharina von Sachsen im Jahr 1484 hat wahrscheinlich ebenso hier stattgefunden wie zehn Jahre später die zweite Hochzeit Kaiser Maximilians I. mit Maria Bianca Sforza. An der Fassade des Neuhofes befindet sich ein Wappenstein 21 von Nielas Türing aus dem Jahr 1489.22 Ursprünglich war er östlich des Dachls zwischen den Fenstern im ersten Stockwerk montiert. 23 Er wurde nach dem Umbau des Jahres 1822 an das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum zur Verwahrung gegeben, wo er sich noch heute befindet. 24 1973 wurde eine Kopie angefertigt und westlich des Erkers angebracht. Dargestellt sind der Österreichische Bindenschild und die Wappen von Tirol und Sachsen; letzteres als Allianzwappen von Sigmund und seiner zweiten Gemahlin, Katharina von Sachsen. Nach seinem erzwungenen Rückzug räumte Sigmund 1490 die neue Residenz und zog sich in sein „Altenteil", den Neuhof, zurück. Nach dessen Tod im Jahr 1496 wurde das Gebäude zunehmend zu einem Amtsgebäude der Regierungsbehörden. Dieser Prozess war binnen weniger Jahre abgeschlossen. Maximilian genehmigte in seiner Regierungszeit lediglich die Einwölbung des „hinteren Stöckls" zur feuersicheren Aufbewahrung der Archive. 25 Das genannte Gewölbe im ersten Stock dient heute als Trausaal des Standesamtes. 1557 wurde das Gebäude unter Erzherzog Ferdinand I. umgebaut. Das ursprüngliche Aussehen des Gebäudes ist heute nicht mehr festzustellen, da mehrere Erdbeben, wie unter anderem in den Jahren 157226 und 1670, neben der

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Lukas M o r s c h e r und R o l a n d S i l a

Benützung als Amtsgebäude wesentliche Veränderungen zum heutigen Aussehen verursacht haben. Es gibt leider keinerlei Bildmaterial aus der Zeit vor der „Böschung", dem Anbau der leicht schrägen Stützmauern aus Höttinger Breccie. Durch mehrere Zukäufe angrenzender Gebäude erreichte der Gebäudekomplex 1676 die heutige Ausdehnung. Später, ab 1780, wurde das Gebäude unter Kaiser Joseph II. nur mehr als Militärkaserne genutzt und stand schließlich lange Zeit leer. Ab etwa 1815 befand sich das Haus im Eigentum der Stadtgemeinde Innsbruck, die es gegen das Lazarett-Haus in der Weinhartstraße tauschte. Es wurde aber 1822 von einem Konsortium Innsbrucker Bürger erworben, die auch in einem Naheverhältnis zu den Gründern der Innsbrucker Sparkasse standen 27 und das Objekt vor dem endgültigen Verfall retteten. Sie ließen den dritten Stock tiefer legen und zogen ein viertes Geschoss ein, um die Rentabilität zu steigern. Dieser heutige Zustand ist ein völlig anderer als der ursprüngliche. 1831 wurde das Gebäude wiederum von der Stadtgemeinde Innsbruck erworben, in deren Eigentum es sich bis heute befindet. Gegenwärtig beherbergt es neben Büroräumen und städtischen Wohnungen das von der Stadt Innsbruck und dem Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum gemeinsam betriebene Maximilianeum, eine kleine Gedenkstätte zu Ehren Kaiser Maximilians.

Die Funktion des Baus Bereits in der Bezeichnung wird die Schwierigkeit der Funktionsbeschreibung klar. Im unteren Teil handelt es sich um einen Erker, in seinem oberen Teil um einen Balkon. Es gibt auch den Vorschlag, den Bauteil als Söller oder Altane zu bezeichnen. 28 Dafür spricht, dass dieser von Grund gestützt wird und nicht erst wie ein Erker in einer gewissen Höhe an der Fassade vorkragt. Die Funktion des Baues ist bis heute nicht wirklich geklärt. Für eine kaiserliche Loge ist die Tiefe der Plattform nicht ausreichend. Es ist nicht möglich, an der Balustrade komfortabel zu sitzen und dabei das Geschehen am Marktplatz zu beobachten. Außerdem hatte sich zum Zeitpunkt der Errichtung das Zentrum bereits zur Hofburg hin verlagert. In der Regierungszeit Maximilians ist zudem keine Hinrichtung auf dem Stadtplatz nachweisbar. 29 Auch der Ansatz der Verschönerung der Residenz seines Onkels scheint nicht unbedingt befriedigend. 30 Die einzige Straße vom Brenner und in weiterer Folge von Italien führte in der Achse von der heutigen Maria-Theresien-Straße und Herzog-Friedrich-Straße genau auf das Goldene Dachl zu. Unmittelbar davor machte sie einen rechtwinkligen Knick nach Norden, um die Innbrücke passieren zu können. Solche Voraussetzungen machen es naheliegend, dass sehr wohl propagandistische und werbestrategische Überlegungen zur Wahl der Art und Form des Baues geführt

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Beobachtungen zum Goldenen Dachl

haben. Eine praktische Nutzung scheint hingegen eher nebensächlich gewesen zu sein.31

Bewertung

des Baus aus heutiger

Sicht

Unbestritten ist, dass das Goldene Dachl ein bedeutendes Werk der späten Gotik darstellt. Allerdings ist der Bau weniger wegen seiner feuervergoldeten Kupferschindeln als wegen seiner filigranen Architektur, der Steinmetzarbeiten des Nielas Türing und der Fresken von Jörg Kölderer bemerkenswert. Die immer noch umstrittene genaue Datierung und das Fehlen von schriftlichen Abrechnungen lassen die Wissenschaft noch am Errichtungsjahr zweifeln. 32 Kein anderes Bauwerk in Tirol hat heute ein so großen Wiedererkennungswert wie das Goldene Dachl.

Das Goldene Dachl in der beschreibenden Literatur An Beginn dieser kurzen Überlegungen sei ein Zitat von Norbert C. Käser gestellt: „der inn gruent. das rundgemälde ist rund, die tram ist rotweiß, das essen selten gut. der kaffee scharfes Waschwasser, guelden ist ein dach & ueber nacht werden die gartenstuehle an die kette gelegt". 33 In die scheinbar fixen Komponenten, die zu Innsbruck gehören, fügte der Südtiroler Dichter vor 30 Jahren das Goldene Dachl - und an dieser Dauerhaftigkeit hat sich bis heute nichts verändert. Nur ein Textausschnitt soll die für Innsbruck im 20. Jahrhundert vorhandene Bedeutung des Goldenen Dachls illustrieren. Ödön von Horvath schrieb Mitte der 30er-Jahre: „Unter dieser Dunstwolke lag Innsbruck, die Hauptstadt des heiligen Landes Tirol. Kobler wußte nichts weiter von ihr, als daß sie ein berühmtes goldenes Dachl hat, einen preiswerten Tiroler Wein und daß der Reisende, der von Westen ankommt, zur linken Hand einige große Bordelle sehen kann. Das hatte ihm mal der Graf Blanquez erläutert." 34 Blickt man auf die Zeit der Jahrhundertwende zurück, so ist die Bekanntheit des Goldenen Dachls insofern nachweisbar, als sehr viele der damals aufkommenden Fremdenführer dem Goldenen Dachl weit größeren Platz einräumten als dies noch in früheren Berichten der Fall war. So war in einem Reiseführer aus dem Jahre 189635 nur Platz für eine Abbildung; auf nähere Angaben wurde verzichtet. In dieser Zeit lief das Goldene Dachl als eine von vielen Sehenswürdigkeiten. Josef Kreid räumte beispielsweise dem Goldenen Adler, der einen starken Bezug zu Andreas Hofer hatte, mehr Raum ein als der Beschreibung des Goldenen Dachls. 36 In den 1930er-Jahren wurde dann nur mehr die Hofkirche ausführlicher beschrieben als das Goldene Dachl. 37 Daraus lässt

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Lukas Morscher und Roland Sila

sich der Schluss ziehen, dass die touristische Bedeutung und der Kultstatus des Goldenen Dachls in der Gegenwart ein Ergebnis des 20. Jahrhunderts, wenn nicht in seiner Intensität erst der Nachkriegszeit sind. Entscheidend für die weitere Entwicklung des Tourismuslandes Tirol und seiner Hauptstadt Innsbruck war der Bau der Unterinntalbahn bzw. später der Brennerbahn. Nun konnten die Gäste viel bequemer nach Tirol reisen. Bereits in einem 1868, dem Jahr der Fertigstellung, verfassten Bericht über die Brenner-Eisenbahnstrecke findet sich ausgehend von Innsbruck eine Beschreibung der Strecke bis Bozen. Am Anfang des Berichtes steht eine Abbildung - jene des Goldenen Dachls. 38 Hier sei nur nebenbei erwähnt, dass Innsbruck um 1850 in etwa 13.000 Einwohner hatte. 39 Das Bild, das wir heute von Innsbruck in seiner regionalen Bedeutung haben, muss auch dazu in Relation gesetzt werden.40 Den Grundstein zur internationalen Bekanntheit des Goldenen Dachls legten die Reiseschriftsteller des 19. Jahrhunderts. Sie berichteten, angezogen von der mythischen Figur Andreas Hofer oder dem aufkommenden Alpinismus, in Schrift und Bild über Tirol, Innsbruck und auch über das Goldene Dachl. 41 Hierbei stachen besonders die Engländer hervor, allen voran William A. Baillie Grohman, Josiah Gilbert und G. C. Churchill. 42 Sie prägten mit ihren Büchern das Ansehen und auch die klischeehaften Zuweisungen an Tirol im Ausland. Aber nicht nur Engländer, auch Holländer, Franzosen und Deutsche, in erster Linie der bekannte Ludwig Steub, 43 drückten der Reiseliteratur des späten 19. Jahrhunderts ihren Stempel auf. Doch je weiter unsere Zeitreise in die Vergangenheit geht, umso weniger stoßen wir auf Textstellen, die dem Goldenen Dachl und seiner Bewunderung oder kritischen Betrachtung gewidmet sind. Auch wenn schon Goethe in seinen Aufzeichnungen zur Italienischen Reise kurz von Innsbruck berichtet, das Goldene Dachl findet keine Erwähnung. Heinrich Heine spottet zwar bereits um 1828 über Touristen in der Innsbrucker Hofkirche und auch die sonstigen Innsbrucker Sehenswürdigkeiten lässt er nicht unerwähnt, er findet aber für das Goldene Dachl noch keine Worte. Dies mag natürlich auch mit dem desolaten Zustand des Gebäudes zu tun haben, das damals zeitweise sogar kurz vor dem Abriss stand. In einer der ersten populären Stadtgeschichten von Franz Carl Zoller findet sich zum Goldenen Dachl die Bemerkung, „daß er zur Beschämung der Spötter, die ihn den Fridel mit der leeren Tasche nannten, nicht nur das mit dicht vergoldeten Kupferplatten gedeckte Dächlein über der Altane seiner fürstlichen Residenz zu Innsbruck, als ein ewiges Denkmal herstellen, sondern darüberhin einen beträchtlichen Schatz hinterlassen konnte." 44 Doch selbstverständlich gab es auch vor der Zeit der Reisenden in Tirol schriftliche Belege über die Faszination Goldenes Dachl. Anton Roschmann erwähnt das Denkmal in seinen handschriftlichen Aufzeichnungen über die Entstehung und Entwicklung der Reichsstadt Innsbruck, 45 und auch Herrgott

Beobachtungen zura Goldenen Dachl

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nimmt in seinem „Monumenta domus Austriacae" 4 6 auf das Dachl Bezug. 1678 schätzt Adam von Brandis die Kosten für das Goldene Dachl auf 200.000 Dukaten. 47 Dieser Autor geht davon aus, das Friedrich mit der leeren Tasche der Erbauer des Bauwerks war, weshalb er wohl verwundert die hohen Kosten darstellt. Auch die anderen früheren Hinweise auf das Goldene Dachl stammen von Autoren, die Friedrich für dessen Bauherrn halten.

Geschichtsklitterung: „Goldenes Dachl mit dem Erbauer Erzherzog Friedrich, genannt der Friedl mit der leeren Tasche", Postkarte

Abraham a Santa Clara erwähnt das Goldene Dachl wohl als Mahnung in seiner Predigt „Frag und Antwort auf Ja und Nein". 48 Merian spricht über ein „mit großen Kosten überguldetes Dach", und, bezogen auf Friedrich mit der leeren Tasche, dass dieser habe zeigen können, „daß er noch mehr Geld in seiner Tasche habe." Abschließend sei das älteste bekannte Zitat von Georg Rösch von Geroldshausen aus dem Tiroler Landreim aus dem Jahr 1558 als Conclusio wiedergegeben:

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„Das guldin dach gar wol bekhanndt, sein ruemb erschallen in weytte lanndt." 49

Das Goldene Dachl in seiner Bedeutung für Innsbruck Kaiser Maximilian

und

Innsbruck

Keine andere historische Person - inklusive Andreas Hofer - ist in Innsbruck im allgemeinen Bewusstsein so fest verankert wie Kaiser Maximilian I. Neben der kurzfristig zentralen Funktion Innsbrucks als Residenzstadt im Reich tritt uns der Kaiser in zahlreichen Funktionen gegenüber: - A l s Sagengestalt: Kaiser Max soll sich in der Martinswand zwischen Innsbruck und Ziri bei der von ihm sehr geschätzten Jagd 50 im steilen Gelände verklettert haben und nur durch Hilfe eines einheimischen Hirten gerettet worden sein.51 - Als Bauherr: Die erst sehr spät identifizierte Ansicht der alten Hofburg von Albrecht Dürer zeigt den Bauzustand zu Zeiten Maximilians. An die Hofburg angrenzend ließ Maximilian einen imposanten Wappenturm errichten, der leider unter Maria-Theresia geschleift wurde. Zur Aufbewahrung des Kriegszeuges hat der Kaiser an der Sill ein bis heute beinahe unverändertes Zeughaus errichten lassen.52 Auch der Beginn der Vorarbeiten an seinem imposanten Grabmal im Jahr 1502 durch Gilg Sesselschreiber aus München ist vom Kaiser für Innsbruck konzipiert worden. - Als Förderer der Technologie: Die hohe Entwicklung der - um einen heutigen Terminus zu verwenden - metallverarbeitenden Betriebe, vor allem der Gießereien, wurde ebenfalls von Maximilian betrieben. Die Harnische von Konrad Seusenhofer für Kaiser Maximilian und Herzog Karl, den späteren Kaiser Karl V., zählen zu den vollendetsten auf ihrem Gebiet. Die Gießer Jörg Endorfer, Hans Seelos und Peter Löffler widmeten sich dem Geschützguss. Die Gründung der Messinghütte in Mühlau war auch deshalb bemerkenswert, weil Maximilian damit das Monopol der Reichsstadt Nürnberg brach. 53 - Als Reformer: Der Kaiser hat im Bereich der Verwaltung und der Rechtsprechung bedeutende Maßnahmen gesetzt, die richtungweisend für die Rechtsentwicklung Tirols bis ins 19. Jahrhundert waren. 54 Schlussendlich ergibt sich aus der historisch unhaltbaren Mär, die Städter hätten dem Tross des kranken Kaisers die Verköstigung verweigert und ihn damit zur Weiterreise gezwungen, auf der er am 12. Jänner 1519 in Wels starb, eine Art „schlechtes Gewissen" der Innsbrucker in Bezug auf seine Person. 55 Dabei war der große Hofstaat, den der Kaiser mit sich führte, in den Herbergen der Stadt nicht unterzubringen, so dass die Pferde des Kaisers über Nacht auf der Straße stehen mussten. Die Weiterreise nach Wels war bereits zuvor beschlossen und der Kaiser gedachte bereits Ende des Jahres wieder nach Inns-

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Beobachtungen zum Goldenen Dachl

brück zurückzukehren. Wahrscheinlich aber hat dieser Umstand die Abreise beschleunigt.

Das Goldene Dachl in seiner

Einzigartigkeit

Es gibt auch in anderen Städten Prachterker. Ein ähnlicher Erker wie das Goldene Dachl findet sich auch in Wels. Die dortige landesfürstliche Burg wurde in den Jahren 1508 bis 1514 im Auftrag Kaiser Maximilians umgebaut. Von den steinernen Treppenhandläufen und den massiven Lärchenholzdecken ist eine mit (15)14 datiert. 56 Aber in keiner anderen Stadt als Innsbruck findet sich der Kontrast von weltstädtischem Prachtbau und der hochalpinen Kulisse der Nordkette. In der strategisch hervorragenden Wahl der Positionierung an der Einfallstraße der Brennerroute mit der Achse der Maria-Theresien-Straße steht auch die Qualifizierung dieser Ansicht als eine der schönsten Prachtstraßen der Welt, als die diese Achse noch in der „Olympia-Ära" der Stadt Innsbruck galt. Eine andere markante Persönlichkeit, die eng mit der Geschichte der Stadt Innsbruck verbunden ist, ist Andreas Hofer. Dieser scheint aber das Goldene Dachl im wahrsten Sinne des Wortes links liegen lassen haben. Seine berühmte Ansprache, mit der er die Innsbrucker zu den Waffen gegen die Feinde rief, hielt er am 15. August 1809 der Überlieferung nach nicht vom Goldenen Dachl, sondern aus einem Fenster des benachbarten Gasthauses „Goldener Adler". Überhaupt scheint das Goldene Dachl gegen Kriege und Besetzungen sehr resistent zu sein. Weder die Franzosen und Bayern noch zwei Weltkriege konnten ernsten Schaden an der Bausubstanz anrichten. Dabei wurde Innsbruck bereits im Ersten Weltkrieg aus der Luft bombardiert und im Zweiten Weltkrieg verwüsteten 22 Luftangriffe ca. 56% der Stadt, was Innsbruck zu einer der am schwersten getroffenen Städte in Österreich machte. Zum Schutz vor Luftdruck und umherfliegende Splitter wurde vor dem Erker eine Ziegelmauer errichtet. 57 In unmittelbarer Nähe waren mehrere Volltreffer zu verzeichnen, aber der Prachterker blieb unbeschädigt.

Das Goldene Dachl als touristische

Attraktion

Der Erker scheint schon unmittelbar nach seiner Errichtung eine echte „Touristen"-Attraktion gewesen zu sein. Ein bis heute noch nicht näher untersuchtes Relikt dieser Besuchstätigkeit findet sich in zahlreichen zeitgenössischen Einritzungen in den Fresken. Bei einer oberflächlichen Untersuchung konnte die älteste Gravur im Stile „Hansi was here" mit der Jahreszahl 1507 gefunden werden. Nach einer groben Schätzung dürfte es sich um mehrere hundert Inschriften handeln, die aber - wie erwähnt - leider noch nicht untersucht wurden.

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Lukas Morscher und Roland Sila

Das Goldene Dachl im Dienste der Wintersport-Werbung. Plakat von Oswald Haller, um 1940

In der umfangreichen Sammlung an Photos und Postkarten des Stadtarchivs Innsbruck zählt das Goldene Dachl empirisch zu den am meisten strapazierten Ansichten. 58 Beachtlich ist dabei, dass es aber kaum humoristische Karten unter Verwendung dieses Sujets gibt. In der Plakatkunst, einem in Tirol immer besonders fruchtbaren Zweig der bildenden Kunst, nimmt das Goldene Dachl einen hervorragenden Platz ein.

Das Goldene Dachl als Mythos Die ungeklärten

Fragen

In der Vielzahl an ungeklärten bzw. unwidersprochenen Fragen ist die des Errichtungszeitpunktes an erster Stelle zu nennen. Damit steht in Zusammenhang, ob es sich um einen Hochzeitserker in Erinnerung an die zweite Hochzeit Maximilians mit Bianca Maria Sforza am 16. April 1494 in Hall oder um ein Denkmal der Zeitenwende, des Beginns des „Goldenen Zeitalters", handelt.

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Die Tänzer auf den Reliefs werden von einem Schriftband mit hebräisierenden Buchstaben umflossen. Trotz zahlreicher Versuche konnte dieses Rätsel bisher noch nicht gelöst werden. 59 Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinden für Tirol und Vorarlberg, Esther Fritsch, schrieb 1996 dazu in einem Kommentar: „Die hebräischen Buchstaben ergeben, soweit lesbar, keine zusammenhängenden Worte, geschweige denn Sätze. Die Möglichkeit von Akronymen bleibt natürlich offen [...] Spezielle Botschaften, insbesondere kabalistische, sind aus den Buchstaben nicht zu erkennen." 60 Und weiter: „Eine sinnvolle Interpretation der hebräischen Buchstaben scheint, daß zur Zeit Maximilians Hebräisch als zugleich mystische und fortschrittlich wissenschaftliche Geheimsprache galt, derer sich der Herrscher zu Demonstrationszwecken bediente." 61 Auch der Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Paul Chaim Eisenberg, stellte in einem Brief an Frau Fritsch fest, dass „bisher kein sinnvoller Text entziffert werden" konnte. 62 Felmayer meinte hingegen, dass „die Buchstaben nicht als solche, sondern als Symbole aufzufassen sind. Es handelt sich um Chiffren." 63 Durch die zentrale Positionierung kann fast mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass es sich nicht um einen Zierrat oder eine geheime Nachricht des Künstlers handelt. Eine der kleinen, nichtsdestoweniger ungelösten Fragen ist die Anzahl der goldenen Schindeln. Es handelt sich um feuervergoldete Kupferschindeln. Heute ist der Erker (wahrscheinlich) mit 2.657 Schindeln gedeckt. 64 Bei der Neuvergoldung im Zuge der Restaurierung 1899 vergoldete Jakob Rappel in Schwaz 65 angeblich noch 3.450 Schindeln.66 Hye nennt eine Zahl von 2.728.67 Die Höchstzahl mit 3.495 kennt Oberhammer, der aber eher 3.450 anzunehmen scheint. 6 8 Schlussendlich ist eine Abschrift der Zahlungsbestätigung aus dem Jahr 1500 über den Betrag von 593 Gulden IOV2 Kreuzer für die Schindeln auch die einzige zeitgenössische schriftliche Quelle. Der Text lautet: „Auf Tachwerk des Neuen Ganges zu Neuhof ist gangen um kupfer und kupferplatten umb Golt und Goltschindlen von dem vergulten laut Register 593 Gd. 10'Λ Kr."69 Die Frage, warum mit Ausnahme der genannten Zahlungsbestätigung keine schriftlichen Quellen erhalten sind, gibt immer wieder Raum für verschiedene Spekulationen. Man könnte entweder von einer gezielten Vernichtung der Unterlagen ausgehen, für die aber kein wirklich schlagendes Argument vorgebracht werden kann, oder dass die Belege bisher einfach noch nicht aufgefunden worden sind. Dies scheint als noch eher wahrscheinlich. Ein so selektiver natürlicher Verlust wäre schon eine besondere Ironie des Schicksals. Durch den Mangel an schriftlichen Quellen erhält auch die Überlegung Nahrung, dass es bereits einen kleineren Sigmundischen Vorgänger-Erker gegeben haben könnte. 70 Bei der Restaurierung des Jahre 1898/99 wurden nach Abnahme der Schindeln hinter dem Dachstuhl zwei spätgotische Fenster entdeckt. 71 Der Vorgängerbau müsste demnach unterhalb dieser Fenster im dritten Geschoss seinen Abschluss gefunden haben. 72

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Weitere Themen langer Spekulationen sind der symbolische Gehalt der Fresken und die Frage, ob und welche historischen Persönlichkeiten dargestellt sind. Am Beispiel eines Mannes mit einer Art Narrenkappe sei dies kurz illustriert: Hye bezeichnet die Darstellung als „ein Herr mit gelben Narrenkleid bzw. mit Eselshaube", 7 3 Felmayer erläutert hingegen umfänglich die Frage, warum es sich bei dem „Narren" um Kaiser Maximilian handeln muss. 74 Doch während sich die Forschung bisher vor allem auf die figuralen Darstellungen konzentrierte, sind die restlichen Fresken bisher weitgehend unbeachtet geblieben. Das Netzrippengewölbe des Erkers ist mit zahlreichen figuralen Ornamenten geschmückt. In Summe handelt es sich um 148 Steine, deren Bedeutung aber nicht in alle Fällen auflösbar ist. 75 Darin zeigt sich ein wesentlicher Teil des Programms des Baus. Eine Besonderheit ist in der Gewölbe-Mittelachse in Form einer Mondsichel mit einem menschlichen Gesicht zu finden. Hye interpretiert sie als Symbol der hochzeitlichen Freuden, als Honigmond. 76 Felmayer jedoch bezieht sich auf das „Buch, genannt der Zaiger" 7 7 aus dem Jahr 1518, in dem die göttliche Auserwählung des Hauses Habsburg dargestellt ist. Daher soll der Mond als Zeichen der kaiserlichen Würde stehen. Neben den hier kurz angesprochenen Fragen, die jeweils in den beiden Publikationen von Felmayer und Hye kontroversiell diskutiert werden, bleiben zahlreiche relevante Fragen offen. Vor allem in den symbolischen Fresken könnte eine Lösung vieler programmatischer Fragen stecken.

Formen des Kults Das Goldene Dachl tritt uns bis heute in verschiedenen Darstellungen unterschiedlichster Ausrichtungen entgegen: Von der offiziellen Anstecknadel der Stadtgemeinde Innsbruck bis zu einer Unzahl touristischer Souvenirs. Neben den obligaten T-Shirts erscheinen Plastikmodelle, Schneekugeln mit dem Goldenen Dachl und schokoladene Schindeln in goldgelber Alufolie besonders erwähnenswert. Seit Mai 1999 ist das Innsbrucker Wahrzeichen auch in der Luftfahrt präsent. Drei Mal ist das Goldene Dachl auf der Hülle eines 3.500 m 3 großen Heißluftballons abgebildet und damit auch hier als Werbeträger für die Stadt unterwegs. Im Jänner 2001 trat ein Innsbrucker Uhrmacher an die Stadtgemeinde mit dem Ansinnen einer Armbanduhr mit dem Goldenen Dachl auf dem Ziffernblatt heran. Dem Vernehmen nach handelt es sich um ein „gehobenes Souvenir", was immer man sich darunter auch vorzustellen hat. Daneben ist zu bemerken, dass sich das Goldene Dachl auch sehr gut als Logo eignet. Die Innbrücke ist als namengebendes Bauwerk Inhalt des Stadtwappens. Doch Brücken gibt es in jeder Stadt und über eine markante

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Brücke mit hohem Wiedererkennungswert verfügt Innsbruck nicht. Schloss Ambras lag bis zur Eingemeindung im Jahr 1938 nicht im Gemeindegebiet der Stadt und schied somit als Wahrzeichen aus. Die Hofburg verfügt über keine außergewöhnliche Fassade. Das Maximilian-Grab in der Hofkirche ist in seiner Art sicherlich markant, es gibt nur wenige vergleichbare Grabmäler. Doch wäre eine Darstellung zu komplex und böte auch kaum einen Wiedererkennungswert. Außerdem ist ein Grab, noch dazu ein leeres, nicht gerade dazu angetan, ein gutes Licht auf eine Stadt und ihre Bewohner zu werfen.

Heißluft-Ballon mit dem Goldenen Dachl als Werbung für die Lnnsbrucker Ballonwoche 2001

So bleiben unter den Monumenten der Stadt nur mehr die Annasäule, die Triumphpforte und der Stadtturm. Die Annasäule, die 1706 zum Dank für den Abzug der feindlichen Franzosen und Bayern errichtet wurde, ähnelt in der äußeren Form den zahlreichen Pestsäulen, die in vielen Orten zu finden sind, und eignet sich daher nur bedingt als Logo. Das gleiche gilt für die Triumphpforte. Anders verhält es sich mit dem Stadtturm: In zentraler Lage an das Historische Rathaus angebaut, mit einem charakteristischen Helm als Abschluss, bietet er alle Voraussetzungen für ein Wahrzeichen. Doch: Mittelalterliche Türme gibt es in verschiedener Form in fast allen europäischen Städten.

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Das Goldene Dachl hingegen erfüllt alle Anforderungen an ein Wahrzeichen auf hervorragende Weise: Es hat eine Form, die leicht darstellbar und abbildbar ist. Je nach gewünschtem Format kann man das Hochformat des Erkers unter Hinzuziehung eines Teiles des Gebäudes, ohne von der Natur abweichen zu müssen, in ein Querformat umwandeln. Der bereits erwähnte maximilianeische Erker in Wels, der große formale Ähnlichkeiten mit dem Innsbrucker aufweist, ist jedoch zu wenig bekannt, um eine Konkurrenz für das Goldene Dachl zu bilden.

Das Goldene Dachl heute Wissenschaftliche

Kontroversen

In der Auffassung der Innsbrucker/innen hält sich bis heute hartnäckig die Ansicht, dass Friedrich mit der leeren Tasche der Erbauer des Goldenen Dachls gewesen ist. Das genaue Datum der Fertigstellung des Erkers ist mangels schriftlicher Belege bis heute heftig umstritten. Einen bemerkenswerten Höhepunkt erreichte die langjährige Diskussion vor wenigen Jahren in einem nur teilweise wissenschaftlichen Streit zwischen dem damaligen Leiter des Stadtarchivs, FranzHeinz Hye, und der Kunsthistorikerin Johanna Felmayer. Die kontroversiellen Auffassungen wurden in Monographien dargelegt, in denen versucht wurde, zahlreiche Ansichten des/der Anderen zu widerlegen. 78 Hye vertrat dabei die Ansicht, das Goldene Dachl sei im Jahr 1496 fertiggestellt worden. Felmayer äußerte im April 1996 die Meinung, dass der Prunkerker als Ganzes im Jahr 1500 entstanden sei.79 Ein Gutachten von Dr. Kurt Nicolussi vom Institut für Hochgebirgsforschung an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, vom 11. Juni 199680 besagt, dass die verwendeten Hölzer im Winterhalbjahr 1497/98 gefällt wurden. Und weiter: „Damit ist die Errichtung des Dachstuhls des Goldenen Dachls frühestens im Jahr 1498 möglich. Nach den bisher in Tirol gemachten Erfahrungen ist wiederum eine gegenüber dem Fälldatum um mehr als 2 Jahre verzögerte Verwendung unüblich." 81 Daraus folgt klar eine Errichtung - zumindest des Dachstuhls - in den Jahren 1498 bis 1500. Hye argumentiert dagegen, dass der Erker ursprünglich, also 1496, ein Dach mit Holzschindeln trug. Die Deckung mit den uns heute bekannten feuervergoldeten Kupferschindeln erfolgte 1500 und machte durch das wesentlich höhere Gewicht einen neuen und massiveren Dachstuhl - aus den analysierten Hölzern - notwendig. 1996 feierte jedenfalls die Stadt Innsbruck auf Anregung von Hye das 500Jahr-Jubiläum des Goldenen Dachls.

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Offizielles Werbeplakat für das (angebliche) Jubiläum 1996

Die lokalen Medien verfolgten diese Entwicklungen mit teilweise überaus gehässiger Schadenfreude. Im Verlauf der Konfrontationen machten absonderliche Vermutungen und Verdächtigungen die Runde. Moderne Sagen entwickelten sich.82 Wohl selten zuvor nahmen die Innsbrucker/innen so regen Anteil am Goldenen Dachl.

Die Restaurierung

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Die bis dahin letzte umfassende Sanierung des Goldenen Dachls war 1899 erfolgt. 83 Danach wurden - mit Ausnahme der Maßnahmen während des Zweiten Weltkrieges - vor allem die Originalreliefs durch Kopien ersetzt. 84 1975 wurde das Dachl durch die Werkstätten des Bundesdenkmalamts restauriert. Unter Aufsicht des Bundesdenkmalamtes, Landeskonservatorat für Tirol, wurde eine aktuelle Überholung vorgenommen. Die Arbeiten wurden am 17. April 1998 begonnen und mit der feierlichen Enthüllung durch Bürgermeister DDr. Herwig Van Staa am 26. Oktober 1998, bezeichnenderweise am Nationalfeiertag, im Rahmen einer Feier beendet. 85

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Da sich aufgrund der Mindesttemperaturen für die Verarbeitung verschiedener Chemikalien die Restaurierung auch über die Sommersaison des Fremdenverkehrs erstreckte, veranlasste der damalige Tourismusstadtrat Rudi Federspiel die Montage einer Kunststoffplane vor dem Original. Ein Photo der Erkers wurde auf eine Folie von etwa 10 χ 20 m mit einem Ink-Jet-Verfahren mit je 40 bis 50 Farbtropfen pro m2 aufgetragen. Sie war während der Restaurierungsarbeiten vor den Erker montiert.86 Sowohl aus eigener Beobachtung als auch aus Erzählungen der Stadtführer/ innen kann berichtet werden, dass zahlreiche Touristen das Original keineswegs vermissten bzw. die Plane von Ferne für das Original hielten. Heute dient diese Kopie als Werbeträger der Stadt Innsbruck bei verschiedenen Veranstaltungen im In- und Ausland. Unter anderem wurden im Zuge der Renovierung auch die feuervergoldeten Kupferschindeln abgenommen und saniert. Kurz nach Beginn der Restaurierung wurde von der eingerüsteten und abgesperrten Baustelle am 30. April 1998 eine Schindel gestohlen.87 Nach einem medialen Aufschrei wurde die Schindel anonym am 4. Mai 1998 auf dem Postwege an das Tiroler ORF Landesstudio retourniert. Das beiliegende Schreiben lautete: „Habts scho gschwitzt? Passt's halt bessa auf auf's Goldene Dachl. Aber mia sein jo nit so."88 Um das „neue" Goldene Dachl im Sinne des Tourismus auch in das richtige Licht89 zu rücken, initiierte der Tourismusstadtrat eine „Schindel-Aktion". Dabei konnte für den Betrag von 1.000 Schilling eine von 520 Urkunden in Form einer Schindel erworben werden, um damit den Preis der Beleuchtungsanlage zu lukrieren. Mit dieser Aktion konnte der ganze Betrag von 520.000 Schilling eingenommen werden. Eine solche Summe ist für eine verhältnismäßig kleine Stadt wie Innsbruck bemerkenswert. Das

Maximilianeum

Im Jahr 1996 entstand im Zusammenwirken von Stadtgemeinde Innsbruck und dem Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum die Idee eines Gedenkortes für Kaiser Maximilian. Durch das Freiwerden von Räumlichkeiten an der Stelle des Olympia-Museums im Neuen Hof bot sich durch die historische Verbindung und die zentrale Lage das Stöckl-Gebäude hinter dem Erker als museale Fläche an. Dieser Gedenkort, der als Maximilianeum bisher noch Außenstelle des Landesmuseums ist, wurde am 15. Juni 1996, gleichzeitig mit den Feierlichkeiten für das 500-Jahr-Jubiläum, eröffnet. Wie bereits das Olympia-Museum konnte sich auch das Maximilianeum bisher nicht des erhofften Besucherinteresses erfreuen. Heute darf der Erker des Goldene Dachls von Touristen nicht betreten werden. Nur für besondere Anlässe wird vom Stadtarchiv - in Begleitung - eine Genehmigung erteilt. Daneben werden vor allem im Advent, aber auch zu besonderen Anlässen vom Erker aus musikalische Darbietungen veranstaltet.

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Die historische

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Informationstafel

Am Fuß des Erkers neben dem Brunnen befindet sich eine von stadtweit insgesamt 127 Informationstafeln. Diese Tafeln werden vom Stadtarchiv verfasst und betreut. Die Tafel am Goldenen Dachl wurde von Dr. Hye verfasst und gab mehrfach Anlass zu Kritik. 90 Daher hat sich das Stadtarchiv Ende des Jahres 2000 entschlossen, einen neuen Text zu formulieren. In internen Besprechungen wurde ein Rohentwurf entwickelt. Dieser wurde an etwa 20 Personen mit dem Ersuchen um Kritik und Kommentar verschickt. Der Kreis umfasst u.a. Kollegen und Kolleginnen aus Museen, dem Bundesdenkmalamt, dem Institut für Geschichte der hiesigen Universität, dem Landesarchiv, aber auch Schriftsteller und ausgewählte Politiker/innen. Da Dr. Felmayer zwischenzeitlich leider verstorben ist, wurde auch Dr. Hye nicht eingebunden. Die Frist zur Rückmeldung ist zwar noch nicht abgelaufen, doch haben die bisherigen Anregungen bereits eine Reihe interessanter Aspekte ergeben: So wurde beinahe einhellig gefordert, die Anzahl der Schindeln und die Frage des Schriftbandes anzuführen. Einen Datierungsversuch hingegen hat bisher niemand gefordert. Hinter diesem erstmaligen Versuch steht die Idee, einerseits möglichst viele Interessierte einzubinden und so einen weithin akzeptierten Text erstellen zu können, und andererseits soll damit das Goldene Dachl weg vom teilweise wenig wissenschaftlichen Streit hin zum Gegenstand der seriösen Betätigung gebracht werden.

Zusammenfassung Kein anderes Bauwerk in Innsbruck ist so bekannt wie das Goldene Dachl. Kein anderes Bauwerk erregte in der Vergangenheit und Gegenwart die Phantasie der Besucher/innen und der Innsbrucker/innen. Der historische und kunsthistorische Wert des Erkers ist trotz aller Unstimmigkeiten bei der Datierung des wirklichen Alters unbestritten. Dennoch ist es sicherlich nicht das bedeutendste Kunstwerk der Stadt. Der eigentümlichen Persönlichkeit von Kaiser Maximilian I., der in Innsbruck in mannigfaltiger Weise auch in der Volkstradition verankert ist, wird mit dem Goldenen Dachl ein bemerkenswertes Denkmal zuteil. Dabei handelt es sich um ein einheitlich konzipiertes Gesamtdenkmal, dessen Konzept mangels schriftlicher Quellen bis heute noch nicht zur Gänze erklärt werden kann. Mit diesem Artikel konnte belegt werden, dass die Wahrnehmung des Goldenen Dachls als bekanntestes Wahrzeichen Innsbrucks erstaunlicherweise erst nach dem Zweiten Weltkrieg voll einsetzte. Zwar wurde es bereits früher erwähnt, und es finden sich Postkarten, Hinweise in Fremdenführern und künstlerische Arbeiten aus früherer Zeit, allerdings konnte nicht nachgewiesen wer-

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den, dass das Goldene Dachl in jener Zeit bereits jene Bedeutung hatte, die wir ihm aus zeitlicher Distanz rückblickend zuweisen würden. Dies führt uns wieder zurück zu den einleitenden Bemerkungen, in denen festgehalten wurde, dass es eigentlich keine Mythenbildung um das Goldene Dachl gegeben hat. Erst in der jüngeren Vergangenheit hat der „Kult" um das Wahrzeichen begonnen und es zum bekanntesten Gebäude Innsbrucks gemacht. Dabei waren allerdings keine geheimnisvollen, unerklärlichen Dinge die vordringlichen Intentionen. Es war der Tourismus, der in der Bewerbung Innsbrucks und Tirols einfache, einprägsame Symbole brauchte, die einen hohen Wiedererkennungsfaktor mit klarer örtlicher Zuordnung bieten konnten. Kein anderes Gebäude erfüllte diese Erwartungen stärker als das Goldene Dachl. In der Kombination glänzende Geschichte versus Berglandschaft im Hintergrund konnten all jene potenziellen Besucher angesprochen werden, die der Tiroler Touristiker als sein Zielpublikum sah: Städte- und Kulturreisende sowie Bergfexe und Wintersportler. Diese Hypothesen zu belegen, würde den Raum dieser Betrachtungen sprengen, allerdings lässt sich aufgrund von einigen Parallelitäten in der Entwicklung der Bedeutung des Goldenen Dachls und der Entwicklung des Massentourismus in Tirol doch eine gewisse Richtigkeit der Schlüsse annehmen. Die Intensität, mit der nun in den letzten zwei Jahrzehnten das Bild des Goldenen Dachls präsent ist, weist auf zwei wichtige Punkte hin. Einerseits werden Symbole, egal ob aus historischen, gesellschaftlichen, kulturellen oder mythischen Gründen entstanden, immer stärker gewinnorientiert vermarktet. Der viel wichtigere Aspekt scheint aber jener zu sein, dass nach der kurzen Zeit der intensiven touristischen Werbung das Goldene Dachl heute wirklich ein Symbol, aber noch keinen Mythos, für das heutige Tirol darstellt. Nicht anders kann erklärt werden, dass eine de facto wertlose Schindel entwendet wird, was nicht weiter verwundert, dann aber in den lokalen Medien ein Aufschrei der Entrüstung zu vernehmen ist, der den Schindeldieb auch wieder zur Vernunft bringt. Auch ist es kennzeichnend, dass in den BundeslandNachrichten des ORF (Tirol heute) im Vorspann als einziges altes Bauwerk das Goldene Dachl zu sehen ist. Abschließend lässt sich also feststellen, dass es zwar nie einen Mythos um das Goldene Dachl gegeben hat, es jedoch heute einen Kult um das Goldene Dachl gibt. Es wird spannend zu beobachten, ob aus diesem Kult vielleicht irgendwann einmal ein Mythos entstehen wird.

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Georg Rösch von Geroldshausen, Der fürstlichen Grafschafft Tyrol Landreim 1558. Zum Mythosbegriff: Eduard Guggenberger, u.a., Die Fäden der Normen. Zur Macht der Mythen in politischen Bewegungen, Wien 1993, 1 5 - 2 3 . Matthäus Merian, Topographia Provinciarum Austriacarum 1649. Stadtarchiv Innsbruck, Sign. Bi/k-928. Eine Abbildung des Kupferstichs findet sich in Wolfgang Pfaundler, Innsbruck. Bildnis einer Stadt, Innsbruck 1989, 19.

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Waltraud Palme-Comploy, Pfarrkirche und Basilika Mariae Empfängnis mit Friedhof (Österreichische Kunsttopographie, LH, Teil 2), 6. Zuletzt: Norbert Möller, Das Mariahilf-Bild im Dom zu St. Jakob in Innsbruck, Innsbruck 2000. Johanna Felmayer, Propsteipfarrkirche und Dom St. Jakob - Beschreibender Teil (Österreichische Kunsttopographie, LH, Teil 1), 21 ff. Ricarda Oettinger, Hofburg - Baugeschichte (Österreichische Kunsttopographie, XLVII), 8 2 86.

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Johanna Felmayer, Franziskanerkloster und Neues Stift (Österreichische Kunsttopographie, XLVII), 2 5 7 - 2 6 2 . Johanna Felmayer, Neuhof, „Goldenes Dachl" (Österreichische Kunsttopographie, XXXVIII, Teil 1), 106 ff. Siegfried Steinlechner, Des Hofers neue Kleider. Über die staatstragende Funktion von Mythen, Innsbruck 2000. Vgl. Pfaundler, Innsbruck, 143. Eingehend Peter Adelsberger, Johann Georg Schädler. 1777-1866. Leben und Werk, Phil. Diss. Innsbruck 1999. Coelestin Stampfer, Geschichte von Meran der alten Hauptstadt des Landes Tirol, Innsbruck 1889, 383; Franz-Heinz Hye, Das Problem der Landeshauptstadt in Tirol, in: Alpenregion und Österreich. Festschrift für Hans Kramer, hg. von Eduard Widmoser, Innsbruck 1976, 4 7 - 5 5 . Die de iure Anerkennung Innsbrucks als Landeshauptstadt erfolgt jedoch erst am 11. Juni 1850 (LGB1.98/1850) auf der Grundlage des provisorischen Gemeindegesetzes vom 17. März 1849, § 6. Bis heute hält sich verbreitet die Meinung, dass Herzog Friedrich mit der leeren Tasche zum Hohn für seine Feinde das Goldene Dachl erbaut haben soll. Vgl. dazu: Konrad Fischnaler, Innsbrucker Chronik 2, Innsbruck 1930, 77. Tiroler Landesarchiv, Orig. Perg. Urkunde, Signatur: Urk. I, 1667. Zur weiteren Geschichte des Komplexes Franz-Heinz Hye, Zur Geschichte des GoldenenDachl-Gebäudes, des „Neuen Hofes" in Innsbruck, in: Tiroler Heimat, 29/30, 149-159. Jahrbuch des Allerhöchsten Kaiserhauses 20, Reg. 17581. Tiroler Landesarchiv, Kopialbuch „Bekhennen" 1513/14, Fol. 56f. Gesamtgröße mit Rahmenteilen: 153 χ 93 cm, Wappenstein allein: 83 χ 62 cm. Näher dazu Vinzenz Oberhammer, Das Goldene Dachl zu Innsbruck, Innsbruck 1970, 1 4 18. „Das Goldene Dachl", Kupferstich um 1750 von Salomon Kleiner in Marquait Herrgott, Monumenta domus Austriacae, Tomus 1. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Inventarnummer P556. Näher: Oberhammer, Das Goldene Dachl zu Innsbruck, 11 f. Tiroler Landesarchiv, Gemeine Missiven 1572, Fol. 1194 und 1607. Franz Huter, Die Geschichte der Sparkasse der Stadt Innsbruck. Das erste heimische Geldinstitut Tirols im Spiegel der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung (1822-1958), Innsbruck 1962. Oberhammer, Das Goldene Dachl zu Innsbruck, 23. Am 26. Februar 1536 wurde u.a. der Religionsbegründer Jakob Huter vor dem Goldenen Dachl verbrannt. Monika Fritz, Maximilian I. und Innsbruck, Innsbruck 1968, 22. Eine beinahe poetische Deutung bei Oberhammer, Das Goldene Dachl zu Innsbruck, 25. Zuletzt Lukas Morscher und Georg Ulrich Großmann mit einem Beitrag von Anja Grebe, Das Goldene Dachl in Innsbruck, Regensburg 2004. Zit. in: Europa erlesen - Tirol, hg. von Bernhard Sandbichler, Klagenfurt/Celovec 2000, 215. Ebd., 64. Officieller, illustrirter Katalog der Tiroler und Vorarlberger Fremden-Verkehrsausstellung, hg. von Louis Rainer, Wien 1896,35. Zit. in: Europa erlesen - Tirol, hg. von Bernhard Sandbichler, Klagenfurt/Celovec 2000, 215.

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Johann Kreid, Innsbruck als Fremdenstadt. Blätter der Anweisung und Erinnerung für Reisende und Sommerfrischgäste, Innsbruck 1890, 26 f. Hermann Schwaighofer, Wagner's Führer durch Innsbruck und seine Umgebung, Innsbruck 7 1934. Josef Mayrhofer, Über den Brenner. Von Innsbruck nach Bozen und die Seiten Thäler. Topographisch- kulturhistorische Schilderung, München 1868, 1. Vgl. die Zahlen in: Franz-Heinz Hye, Die Städte Tirols, 1. Teil: Bundesland Tirol (Österreichisches Städtebuch 5/1), Wien 1980, 89. Vgl. Pfaundler, Innsbruck, 262. Einen Überblick dazu bietet der sehr aufwändig gestaltete Ausstellungskatalog: Der Weg in den Süden. Reisen durch Tirol von Dürer bis Heine, Schloß Tirol 1998. Vgl. z.B. William-Adolph Baillie-Grohman, Tyrol and the Tyrolese, London 1876 oder Josiah Gilbert and F.G. Churchill, The Dolomite Mountains, London 1864. Vgl. Ludwig Steub, Herbsttage in Tirol, München 1867. Franz Carl Zoller, Geschichte und Denkwürdigkeiten der Stadt Innsbruck und der umliegenden Gegend, 1, Innsbruck 1825, 139. Vgl. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Dip 936/V. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, FB 4695-4697. Clemens Graf von Brandis, Deß Tirolischen Adlers Immergrünendes Ehren-Kräntzel, oder Zusammengezogene Erzehlung jeninger Schrifft-würdigsten Geschichten, So sich in den Zehen nacheinander gefolgten Herrschungen der fürstlichen Graffschaft Tirol von Noe an bis auff jetzige Zeit zugetragen, 1678. Die folgenden Angaben beziehen sich auf Oberhammer, Das Goldene Dachl zu Innsbruck. Vgl. Franz Kirnbauer, Der Tiroler Landreim (1558), 16; Oberhammer, Das Goldene Dachl zu Innsbruck 18. Vgl. dazu die Verordnungen über das Jagdverbot und das Verbot der Haltung von großen Hunden. Ähnlich die Version bei Zoller, Geschichte und Denkwürdigkeiten der Stadt Innsbruck 1, 185. Dazu u.a. Fritz, Maximilian I. und Innsbruck, 14 f. Neuerdings dazu Rudolf Palme, Das Messingwerk Mühlau bei Innsbruck. Ein Innovationsversuch Kaiser Maximilians I. Aus den Quellen dargestellt, Hall 2000. Näher zur Vereinheitlichung des Strafrechts: Lukas Morscher, Die Tiroler Halsgerichtsordnung 1499 von Kaiser Maximilian, Innsbruck 1998. In beinahe regelmäßigen Abständen versuchen die Innsbrucker/innen eine Art der Wiedergutmachung. Der letzte allerdings nie realisierte Gedanke war die Bezahlung der Außenstände durch einen Sponsor. Das Geld sollte durch Verzicht der Wirte einem sozialen Zweck zugeführt werden. Freundliche Mitteilung des Stadtarchivs Wels. Oswald Trapp, Die Kunstwerke Tirols in Not und Gefahr, Innsbruck 1947. Eine solche Wahrnehmung zu verifizieren bedürfte einer umfangreichen Untersuchung. Eine umfangreiche Interpretation bei Johanna Felmayer, Das Goldene Dachl in Innsbruck. Maximilians Traum vom Goldenen Zeitalter, Innsbruck 1996, 64 ff. Esther Fritsch, Die hebräischen Buchstaben am Goldenen Dachl in Innsbruck, Manuskript, Innsbruck 1996, 4. Ebd., 5 f. Undatierter Brief von Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg an Esther Fritsch. Kopie im Stadtarchiv Innsbruck. Unveröffentliche Aktennotiz von Johanna Felmayer vom 15.7.1996. Kopie im Stadtarchiv Innsbruck. Felmayer, Das Goldene Dachl in Innsbruck, 9. Angeblich befindet sich in der Goldschmiede der Familie in Schwaz noch heute eine originale Schindel. Neuerdings soll sie sogar als Teil der Schaufensterdekoration dienen. Dabei dürfte es sich möglicherweise um eine der 300 ausgetauschten Schindeln handeln.

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Johann Deininger, Die Restaurirung des goldenen Dachls in Innsbruck, in: Mitteilungen der k.k. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale NF 26(1900), 127. 67 Franz-Heinz Hye, Das Goldene Dachl und seine Stellung in der Geschichte der Innsbrucker Residenz. Zugleich eine Stellungnahme zur Diskussion über die 500-Jahre-Feier dieses Prunkerkers, in: Tiroler Heimatblätter 1996, 43. 68 Oberhammer, Das Goldene Dachl zu Innsbruck, 20. 69 Codex Dipauliana 463, IV und Codex Dipauliana 1049, V im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. 70 So Hye, Das Goldene Dachl Kaiser Maximilians I. und die Anfänge der Innsbrucker Residenz, Innsbruck 1997, 35-38. 71 Deininger, Die Restaurirung des goldenen Dachls in Innsbruck, 125. 72 Ein entsprechendes Holzmodell wurde im Auftrag von Dr. Hye angefertigt. Hye, Das Goldene Dachl Kaiser Maximilians I. und die Anfänge der Innsbrucker Residenz, 37. 73 Ebd., 98. 74 Felmayer, Das Goldene Dachl in Innsbruck, 88-92. 75 Ebd., 73-79, Hye, Das Goldene Dachl Kaiser Maximilians I. und die Anfänge der Innsbrucker Residenz, 46 ff. 76 Ebd., 67. 77 Jacobus Mennel, Buch, genannt der Zaiger, Österreichische Nationalbibliothek Wien. Näher dazu: Eva Irblich, Maximilian und weltliche Fürsten auf der Silberleiter, in: Hispania - Austria, Ausstellungskatalog, hg. von Lukas Madersbacher, Mailand 1992, 314. 78 Felmayer, Das Goldene Dachl in Innsbruck; Hye, Das Goldene Dachl Kaiser Maximilians I. und die Anfänge der Innsbrucker Residenz. 79 So Johanna Felmayer in der Tiroler Tageszeitung am 26.4.1996. 80 Wörtlich wiedergegeben bei: Hye, Das Goldene Dachl Kaiser Maximilians I. und die Anfänge der Innsbrucker Residenz, 96 f. 81 Gutachten Dr. Kurt Nicolussi vom 11.6.1996. «2 Vgl. www.sagen.at., Zugriff 29.12.2004. 83 Der Restaurierungsbericht: Deiniger, Die Restaurirung des goldenen Dachls in Innsbruck. 84 So wurden in den Jahren 1950, 1952 und 1969 durch den Bildhauer Franz Roilo Arbeiten ausgeführt. 85 Näher zu den Maßnahmen: Baubericht von Ing. Horst Gaisberger vom 26.2.1999. 86 Näher zu den technischen Daten: Schreiben des Referates Wirtschaftsförderung und Tourismus an das Stadtarchiv Innsbruck vom 20.9.1999. 87 Von einem früheren Diebstahl berichteten David Schönherr, Die Kunstbestrebungen Erzherzog Sigmund von Tyrol, in: Gesammelte Schriften 1, Innsbruck 1899, 120 und Fischnaler, Innsbrucker Chronik 2, 79. 88 Zitiert nach Tiroler Tageszeitung vom 5.5.1998. 89 Näher zu den technischen Daten: Schreiben der Firma Bartenbach Lichtlabor an das Stadtarchiv vom 2.9.1999. 90 Zuletzt Walter Klier, Innsbruck, Innsbruck 1999, 73.

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„Landschaft" Zwischen Verstaatlichung und Privatisierung Wegweiser: Zur Reiseroute Die Österreicher sind stolz auf ihre Landschaft. Bei allen seit den siebziger Jahren durchgeführten Umfragen rangiert die „landschaftliche Schönheit" an der Spitze der angebotenen Identifikationssymbole. 1 Ernst Bruckmüller betont die große Stabilität des Symbolkomplexes „Landschaften und Baulichkeiten" (mit den Bergen als „Zentralsymbol"), weist aber auch darauf hin, dass das gemeinsame Bewohnen von als „schön" klassifizierten Gegenden „doch wohl kein Grund [sei], sich voller Stolz aufzuplustern." 2 Auch wenn „Landschaft" grundsätzlich ein eher schwaches gemeinschaftliches Bindemittel ist, hat sie als mentaler Speicher und Echoraum für ideologische Einschreibungen Bedeutung. Mit Recht ist im Hinblick auf den mühevollen Weg der Republik Österreich zu sich selbst, also zu einem konsistenten Staatsbewusstsein, immer wieder auf die ideologisch-kulturellen „Inszenierungen" hingewiesen worden, mit denen über politisch eher „weiche" Bereichen wie Kultur, Musik, Lebensweise, Folklore und Landschaft Identität konstruiert worden ist.3 Ihre vermeintliche Harmlosigkeit, ihre Unschuld und ihre in patriotischen Fibeln gerne behauptete „Ewigkeit" machte die Landschaft zu einem besonders subtilen Gemeinschaftsstifter mit hoher moralischer Autorität. Wer über den Komplex Österreich & Landschaft nachdenkt, kommt an Stichworten wie „Harmonie" und „Konsens" ebenso wenig vorbei wie an der Rolle des Fremdenverkehrs und dessen Zugriff auf Idealbilder der Landschaft. Das Bündnis zwischen Nationalbewusstsein und Landschaftsstolz erlangte erst in den 1920er-Jahren größere Bedeutung, als Landschaft den Status eines nationalen Emblems bekam und vor allem die Alpen zum österreichischen Leitmotiv wurden. Diese Studie behandelt vor allem den Zeitraum und das Territorium der heutigen Republik Österreich, mit einigen Rückverweisen auf das 19. Jahrhundert (etwa in Hinblick auf die tiefe Prägekraft der „BiedermeierLandschaft") und auf die mentalitätsgeschichtliche Schwellenzeit um 1800. Damals begann sich eine neuartige ästhetisierend-reflexive Lektüre von Natur-

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räumen zu etablieren. Diese lässt sich jedoch nicht auf einzelne Staaten beziehen, sondern gehört in den Kontext einer transnationalen Kulturgeschichte. Vor rund 200 Jahren setzte etwa eine „Industrialisierung der Ästhetik" ein, die dank neuer apparativer Bildverfahren zu einer „Industrialisierung der Wahrnehmung" führte. 4 Theoretisch ist ein Paradoxon zu konstatieren: Für Pierre Noras Konzept sind „Erinnerungsorte" auch dann abstrakte und imaginativ konstruierte Orte, wenn sie wie der Louvre oder die Vendée auf Stadtplänen und Landkarten aufscheinen und somit auch eine reale topographische Dimension haben. Wenn nun „Landschaft" als Gedächtnisort untersucht werden soll, muss sie von der metaphorischen Ebene, ihrer eigentlichen Sphäre, ein Stück weit in die geographische Realität rückübersetzt werden, auch deshalb, weil sich Kulturwissenschaftler angewöhnt haben, „Landschaft" nahezu ausschließlich als geistiges Konstrukt zu sehen. Diese „gedachte", gedeutete und ästhetisch überhöhte Landschaft kann jedoch jederzeit auf ganz handfeste Weise mit der Geographie und der Raumökonomie rückkoppeln - weil der Umgang mit ihr Prestigekämpfe zwischen konkurrierenden sozialen Schichten verdeutlicht, weil sie Kapital im Wirtschaftsfeld Fremdenverkehr ist. Da den befragten Österreichern wohl bewusst ist, dass exzeptionelle landschaftliche Schönheit für das Ansehen und Wohlergehen ihres Landes volkswirtschaftlich wichtig ist, kann vermutet werden, dass der hohe Stellenwert der Landschaft in den Umfragen nicht nur emotionale, sondern auch pragmatische Gründe hat. Wenn andererseits das „schöne Österreich" allzu sehr als ein Faktor nüchterner Interessenslogik betrachtet wird, muss wieder an die kulturelle Konstruktion des heute gängigen LandschaftsBegriffs erinnert werden - und daran, welche Vielfalt von Weltbildern, Werthaltungen und Klischees seit 200 Jahren in unserem Umgang mit „Landschaft" eingeflossen sind. Die Anführungszeichen beim Begriff „Landschaft" sollen daran erinnern, dass das, was allen gefällt und vertraut erscheint, in einen höchst komplexen und vielschichtigen Begriff gefasst ist.5 Wichtig ist, das Konzept „Landschaft" als fließend, hybrid und dynamisch zu sehen. Also wird danach zu fragen sein, welche Ideologeme und Machtverhältnisse sich aus den österreichischen Landschafts-Diskursen ablesen lassen. Nicht nur politische Argumentation und Propaganda liefern Anschauungsmaterial, sondern auch „Promotion"-Kampagnen in Tourismus oder Handel, wechselnde gesellschaftliche Werthaltungen oder kulturelle Usancen im Umgang mit Symbolen. Erst in der wiederholenden „Formung durch Texte und Bilder" können Landschaften zu „typischen" werden und „in den Stand eines Denkmals" erhoben werden. 6 Die Erfahrung und Deutung von Landschaft unterlag wechselnden Moden, die nur selten spezifisch österreichisch waren. Obwohl etwa LandschaftsTypologien als mentale Festungsanlagen des Nationalismus dienten, stehen sie für eine übernationale Tendenz. Denn alle europäischen Nationalbewegungen entwickelten ein „ähnliches Set zur Formulierung des behaupteten Eigenen"

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(Reinhard Johler), um ihre Abgrenzung zu anderen Nationen - eben mittels typischer „Wir"-Landschaften - zu formulieren. Das Regelsystem zur Lektüre und Konstruktion von Landschaften war und ist Staaten übergreifend. Aber durch gemeinschaftliche Einübung und emotionales „Gruppentraining" entstehen nationale Bindungen. Erst die einübende Praxis macht aus schönen Landschaften „österreichische Landschaften": „Österreichische Landschaften sind patriotisch bestimmte, markante geographische Räume, die schon den Kindern in der Schule eingeprägt wurden und werden." 7

Der Kaiser auf dem Gipfel - Eine Exkursion vorneweg Der 2.074 Meter hohe Schneeberg, den man bei gutem Wetter sogar vom Südrand Wiens aus sehen kann, galt noch um 1800 als einer der höchsten Berge Österreichs. Immer schon war der „mächtige Greis" (Grillparzer) dank seines aus niederen Vorbergen imposant aufragenden Massivs und der an den Rand des Flachlandes vorgeschobenen Stellung als die Landschaft beherrschend empfunden worden. Eine Art vaterländische Weihe erlebte der majestätische Berg 1805, als Kaiser Franz I. auf dem Gipfel stand, was zur Folge hatte, dass der zweithöchste Punkt des Massivs seither die Bezeichnung „Kaiserstein" trägt. Das geschah ein Jahr, nachdem im Zustand von Staatsnot infolge der napoleonischen Einschnürung ein „Kaisertum Österreich" ausgerufen worden war. Das geschah vier Jahre, nachdem das erste Buch mit der Schilderung einer Fußreise ins Schneeberggebiet erschienen war, verfasst von einem schwärmerischen Hofbeamten, der losmarschiert war, „um seine geschwächte Gesundheit in Gebirgsluft zu stärken". 8 Man sollte sich keine wagemutige Kraxelei vorstellen, denn der Kaiser, begleitet von Graf Hoyos als Besitzer des Gebiets, dem jungen Erzherzog Johann und großem Gefolge, ist größtenteils geritten. Man folgte offenbar der relativ sanft ansteigenden Route über den Hengst zum Ochsenboden, die für örtliche Jäger und Viehhirten längst üblicher Arbeitsweg war, in einem Schneeberg-Führer von 1830 als „Weg Nr. 1" standardisiert wurde und später der Zahnradbahn als Trasse diente. Handelte es sich bei der kaiserlichen Schneeberg-Besteigung um eine Staatsaktion mit hohem Symbolwert? Oder um einen Routinebesuch bei einem aristokratischen Großgrundbesitzer? Oder gar um eine frühe Anwandlung von Natur- und Landschaftslust? Symbolträchtig erscheint das Ereignis, weil es in den europäischen Monarchien keineswegs alltäglich war, einen Gipfel mittels real durchgeführter „Inbesitznahme" zum „Kaiserstein" zu erhöhen. Doch geschah dies überhaupt? Gegen eine gezielte Politinszenierung von nationaler Bedeutung spricht, dass die Schneeberg-Besteigung von 1805, der 1807 eine zweite folgte, in der Hagiographie des „guten Kaisers Franz" kaum Spuren hinterlassen hat. Nicht ein-

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mal eine Darstellung des Kaisers auf dem Schneeberg ist bekannt. 9 Andererseits war die Habsburger-Monarchie zum Zeitpunkt der kaiserlichen Bergpartie in einer prekären Lage. Napoleons Griff nach Europa stellte die Weiterexistenz des Römisch-Deutschen Kaisertums in Frage, und im demütigenden Frieden von Preßburg ( 1806) sollte Österreich wichtige Teile seines Staatsgebietes verlieren. In dieser Situation legte Franz, nachdem er schon zwei Jahre lang zusätzlich den Titel eines österreichischen Kaisers geführt hatte, die deutsche Reichskrone nieder. Dadurch kam es 1806 zur politischen Trennung von Deutschland. Auch wenn damit die Idee eines übernationalen, dynastischen Herrschertums vom alten Reich auf Österreich übertragen werden sollte, war dies doch auch ein Schritt in Richtung Territorialisierung und räumliche Fassung des Staates. Das drückte sich etwa im Begriff „vaterländisch" aus, der in Österreich im frühen 19. Jahrhundert stark forciert wurde, ging es doch darum, eine „österreichische Idee" nicht mehr bloß dynastisch, sondern auch im Sinn eines neuen Staats-Patriotismus zu propagieren. In diesem Zusammenhang ist ein Satz der Inschrift auf dem von den Grafen Hoyos gestifteten Gedenkstein bedeutsam: „Wohlwollend sah er auf das Land hinab, dessen Einwohner nur für ihn zu leben wünschen." War der Berggipfel also doch eine Art Thron, von dem herab der Kaiser in einer Phase politischer Bedrängnis mit „seinem" Volk kommunizierte? Man könnte einwenden, dass dieser Satz den Aussagewert einer Phrase hat. Andererseits: Ist nicht entscheidend, wie ein solcher Satz später von wandernden Untertanen gelesen und empfunden wurde? Man kann davon ausgehen, dass Graf Hoyos seinen Gast auf sein wissenschaftlich-empirisches Interesse hingewiesen hat, hatte er doch schon um 1770 mit einem mathematisch gebildeten Kapuziner erste trigonometrische Höhenmessungen angestellt. Die Männer, die um 1800 dem Schneeberg zu Leibe rückten und ihre „Expeditionen" in Büchern beschrieben, waren zumeist Naturwissenschaftler, vor allem Botaniker und Mineralogen. Doch auch der unexakte Faktor „Schönheit" mag sie zunehmend beflügelt haben. Überliefert ist, dass die Idee zum kaiserlichen Schneeberg-Aufstieg vom jungen Erzherzog Johann kam. Dieser war stark vom neuen romantischen Naturgefühl geprägt und hatte bereits 1802 erstmals den Berg erklommen, wohl mit Embels Buch von 1801 im Gepäck. In diesem wird ganz à la mode den sittlichen und sozialen Übeln Wiens das befreiende Gefühl gegenübergestellt, im Aufstieg zum Gipfel die Sorgen hinter sich zu lassen. In den österreichischen Alpen („unter meinen Hirten, unter guten treuen Menschen") sollte Johann, ein tüchtiger Früh-Alpinist, für sich eine einfach-natürliche Gegenwelt finden. 10 Sowohl in seiner Wahlheimat Steiermark, wo 1817 eine Marmorplatte auf dem von ihm bestiegenen Hochgolling angebracht wurde, als auch in den Hohen Tauern, wo ein Gipfel nach ihm benannt wurde (der „Johannesberg"; die „Johanneshöhe" im Glocknergebiet wurde später in „Franz-Josefs-Höhe" umbenannt), profilierte sich der prominente und eigenwillige Habsburger, der

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sich zumeist von „Kammermalern" (Ender, Gurk, Loder) begleiten ließ, zu einem frühen Promotor der alpinen Landschaft. Man könnte also relativierend sagen: Ein kaiserlicher Ausflug auf den höchsten Berg im Umland Wiens lag durchaus im Koordinatennetz des Zeitgeistes. Den 1801/02 erschienenen Schneeberg-Reiseberichten von Josef August Schuhes und Franz Xaver Embel folgten schnell weitere. Zwei, drei Jahrzehnte später herrschte bereits reger Ausflugsbetrieb im Schneeberggebiet. Der Rundblick vom Gipfel, der im beginnenden bürgerlichen Ausflugstourismus sehr beliebt war und 1831 erstmals auf einem Faltpanorama dargestellt wurde (mit einer Abbildung des Denkmals für Franz I. als Titelkupfer), hatte auf dem Schneeberg einen zusätzlichen „Kick" - denn hier reproduzierte man einen kaiserlichen Blick. Exponierte Punkte waren auch Orte der heimatkundlichen Erziehung, bot der Rundblick vom Gipfel dem Einzelnen doch die seltene Möglichkeit, sich als Teil seines Lebensraums zu erleben, indem er seinen Blick mit patriotischem Stolz in die Ferne dehnte. Typisch für das panoramatische Schauen war und ist ein Wunsch nach Übersteigerung des tatsächlichen Blickfeldes. Auffällig ist, dass sich schon bei Joseph August Schultes, dem ersten Beschreiber des Schneeberg-Rundblicks, die Horizont-Phantasien weitgehend mit den Grenzen des Habsburgerreiches deckten. Schultes vermeinte im Nordosten die Ausläufer des Riesengebirges und „im Südwesten die Alpen um Berchtesgaden in deutlich scharfen Conturen und hinter ihnen die blauen Alpen Tyrols" zu erkennen." Von anderen österreichischen Gipfeln wurde und wird behauptet, das Land um Triest oder gar Venedig sehen zu können.

Ausflug von Wiener Malern (Welker, J. Schnorr, L. Schnorr, Höchle, Duvivier) auf den Schneeberg. Federzeichnung von Johann Nepomuk Höchle, 1811

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Zur Zeit der kaiserlichen Besteigung des Schneebergs von 1805 koexistierten im Begriff „Landschaft" ältere und neue Bedeutungsschichten nebeneinander. Im rechtlichen Gebrauch der frühen Neuzeit waren „Landschaften" vor allem Gebiete mit einheitlicher Verwaltung gewesen. Angesichts der Nennung von Ländern und Landstrichen in den Titelketten und Namen von Herrschern und Grundbesitzern könnte man zugleich von einer Art Wappenfunktion sprechen. Für viele Gegenden, etwa auch für die Herrschaft Hoyos-Sprintzenstein im Gebiet um Hohe Wand und Schneeberg, hatten die ersten bildlichen Darstellungen des landschaftlichen Reliefs den Charakter von frühen grundbücherlichen Urkunden: Man konnte sehen (und zeigen), was man hatte. 12 Um 1800 wurde aus einem „guten", also möglichst ertragreichen Land zunehmend ein „schönes" - wobei die alte Schönheit, wie sie in topographischen Bezeichnungen tradiert wird („Schönfeld", „Schönbühel"), bevorzugte Weide-, Anbauoder Siedlungsplätze bezeichnet und damit ein Echo der Plage ist und mit Ästhetik und Genießen nur wenig zu tun hat. Die neue Schönheit („Zur schönen Aussicht") kümmerte sich nicht um Rechtsfragen. Nun wurde das Gelände emotional signiert. Pointiert hat dies Peter Altenberg ausgedrückt, als er 1913 auf eine Schneeberg-Ansichtskarte kritzelte: „Der Schneeberg! Nein, mein Schneeberg!" An anderer Stelle fragte der Dichter, wem eigentlich die Landschaft gehöre, „dem Hiasl, der sie bewirtschaftet" oder dem „Wanderer, der sie empfindet?" Die „Landschaft" musste emotional privatisiert werden, um als kollektiver Stimmungs- und Identitätsspeicher öffentliche Dienste verrichten zu können.

Österreich als Importeur landschaftlicher Innovation Erst während des 18. Jahrhunderts wurde „Landschaft" von einem rechtlichen und räumlichen Begriff zu einem konzeptuellen. Zwei gedankliche Schritte waren dabei wesentlich: Die Interpretation von Naturräumen auf der Basis regelhafter ästhetischer Konstrukte und das Rückkoppeln der Landschaftserfahrung mit dem persönlichen und subjektiven Erleben. „Landschaft" als Idee betraf nicht nur den realen physischen Raum, sondern auch die Vorstellungen und Sichtweisen, mit denen genussbereite Menschen diesem gegenübertreten. Als Beispiel mag der Wiener Hofschauspieler Johann Anton Reil dienen, der 1815 während eines Sommeraufenthalts in Rosenburg am Kamp ins Tagebuch schrieb: „Derjenige ist doch der eigentliche Besitzer jeden Bezirkes, der in dem Augenblick auf dem Fleck Erde, wo er steht, die Natur rundum zu genießen zu versteht." 13 Ein Mann wie Reil verhielt sich à la mode und war Teil einer intellektuellen Stafette, durch die um 1800 avancierte Sichtweisen in die Alltagserfahrung einflössen. Diese geistige Innovation ergab sich aus vielen Schritten. Philosophen, Künstler, Landschaftsarchitekten, Dichter und viele andere Pioniere bürgerli-

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cher Subjektivität hatten daran Anteil. Österreich war vor allem ein Importland der neuen Ideen. Entscheidende Module der neuen Landschafts-Theorien kamen aus England (Burke, Gilpin, Gray), Frankreich (Rousseau) und Deutschland (Schiller). Begriffe wie „erhaben", „pittoresk" oder „delightful horror" machten europaweit Karriere. Lange Zeit waren es antike oder zeitlose arkadische Landschaften, die der Projektion neuer Ideale und Harmonievorstellungen dienten. Doch im 18. Jahrhundert wurden erstmals konkrete zeitgenössische Landschaftsräume zu Prototypen der ästhetischen Gemütserziehung, etwa der englische Lake District mit seinem aparten Wechselspiel von Seen, sanften Rundungen und gelegentlichen Felspartien oder die Hochalpen der Schweiz, in denen die neue Begierde nach Kontrasten besonders dramatische Bilder fand. Die Schweiz wurde im 18. Jahrhundert zum Maßstab für landschaftliche Schönheit. Die Landschafts-Theorie war eine politische. England und die Schweiz konnten auch deshalb Vorbilder liefern, weil diese Länder mit der Vorstellung mit der Idee der Freiheit in Zusammenhang gebracht wurden. 14 Die ersten Adeligen, die im späten 18. Jahrhundert englische Landschaftsgärten in der Umgebung Wiens anlegen ließen, fühlten sich den neuen Ideen verpflichtet. Vorbild für Ansichtenserien der Donau, wie sie ab 1800 von Wiener Verlagen initiiert wurden, war die romantische Rhein-Reise. 15 Relativ schnell entwickelten sich in ganz Europa Kriterien für die Auswahl festhaltenswerter Orte und idealer Blickpunkte. Wie einen Werkzeugkasten trugen enthusiastische Reisende die neuen Blickregeln und präfabrizierten Sprachbilder mit sich. Am Beispiel des bereits erwähnten Wiener Gelehrten und Reiseschriftstellers Joseph August Schuhes lässt sich die Partitur, nach der die Wahrnehmung geübt wurde, anschaulich exemplifizieren. In seinen „Ausflügen nach dem Schneeberge" von 1802 registrierte er, ganz nach englischem Vorbild, abwechselnd „sanfte Partien" und „wilde Szenen" und war jederzeit bereit, in der „magischen Scenerey" des Schneebergs „Erscheinungen aus Ossians Gefilden" zu begegnen. Immer wieder überlegte er, welche Blicke geeignete Malermotive - und damit auch Touristenpunkte - sein könnten. Genau genommen bedeuteten „pittoresque" und der deutsche Komplementärbegriff „malerisch" nichts anderes als „bildwürdig" oder „sehenswert". Auf dem Mariahilferberg bei Gutenstein war Schultes angesichts prächtig gestaffelter Schneebergblicke förmlich hin und her gerissen, bis er endlich seine Wahl traf: „Ein Maler würde hier tagelang verweilen." 16 Der „prächtige Prospekt" des Schneebergmassivs erschien ihm als „Hintergrund" von „Gemälden", die er bei seiner wandernden Annäherung real durchschritt. In der Kunst- und Kulturgeschichte ist häufig von der „ästhetischen Entdeckung" von Regionen - etwa der Umgebungen von Wien und Salzburg um 1800 oder des Salzkammerguts um 1830 - die Rede. Doch es erscheint angebrachter, von „Übernahmen" oder imitativen Transfers von Referenzlandschaften in die heimische Topographie zu sprechen. 17 Es gab in Europa kaum eine Ge-

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gend mit Seen, schroffen Höhen, sanftem Grün und exponierten „Bellevues", die um 1800 nicht mit der Schweiz verglichen, ja sogar als „Schweiz" bezeichnet worden wäre. Mehr als hundert Gebiete - von Franken bis Australien - wurden im 19. Jahrhundert zeitweilig oder dauerhaft mit dem Namen „Schweiz" versehen. Ob Salzkammergut (der Schafberg als „österreichischer Rigi"), „Böhmische Schweiz" oder „Perchauer Schweiz" - Floskeln wie die vom Reichenauer Tal, das „ebenso erhebend sei wie ein wahres Schweizer Tal", gehörten durch Jahrzehnte zum austauschbaren Standardrepertoire der Reiseführer. 18 Dem Vergleich mit der Schweiz folgte häufig der Hinweis auf die mangelnde Bekanntheit der heimischen Gegenden. Diese zu preisen und systematisch in Bild und Wort darzustellen war das Anliegen vieler Projekte, die den Begriff „vaterländisch" im Titel führten. Das Wort „Vaterland" war 1771 in Joseph von Sonnenfelds Schrift „Über die Liebe zum Vaterland" erstmals aufgetaucht und diente vor allem nach der Proklamierung des österreichischen Kaisertums als Kitt der Gesamtstaatsinteressen. Eines der ersten Werke, mit dem die Schönheit der österreichischen Landschaft international vorgestellt werden sollte, war die prunkvolle dreibändige „Voyage pittoresque en Autriche" (1821, seit 1809 von Jakob Gauermann, Benedikt Piringer und anderen illustriert) des französischen Gelehrten und Diplomaten Alexandre de Laborde. Im Text wird das mangelnde österreichische Bewusstsein für die eigene Schönheit bemängelt. 19 Die Übernahme neuer internationaler Landschaftsmoden lässt sich auch später beobachten - das Gedankengut des Heimatschutzes veranlasste um 1900 österreichische Bildungsbürger zu Vereinsgründungen nach deutschem Vorbild; die Nationalpark-Idee erreichte Österreich Jahrzehnte nach den ersten „wilderness"-Aktivitäten in den USA. Im Zug der fortschrittskritischen Alternativ-Bewegung wurden ab etwa 1970 unspektakuläre „echte" und „alte" Landschaften wie das Waldviertel zu moralisch aufgeladenen Anti-Landschaften umgedeutet. Wenn es darum gehen soll, für Österreich Spezifisches im Umgang mit landschaftlicher Symbolik herauszuarbeiten, muss darauf hingewiesen werden, dass Landschaftsdiskurse nicht von Landesgrenzen, sondern von sozialer Differenz und von kultureller Innovation strukturiert werden.

Die Biedermeierlandschaft - ein österreichischer Prototyp Mit nur geringen Schwankungen in Ansehen und Kurswert können biedermeierliche Landschaften, ob in Öl oder als Aquarell, ob von Waldmüller, Gauermann oder Ender, ob im Museum, in der Auktion oder als Reproduktion, damit rechnen, vom österreichischen Publikum geschätzt zu werden. Ein tief sitzendes, ja geradezu familiäres Vertrauen in die Motive und in die Art ihrer Präsentation kann festgestellt werden. Die Kunstgeschichte spricht von der „Wiener Biedermeierlandschaft" und meint damit einerseits eine Ballung von künstlerischer Kompetenz im Wien der

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Vormärzjahre und andererseits einen regionalen, quasi kolonialen Aspekt: fast alle Sujets hingen eng mit den Spazier- und Reiseradien des Wiener Publikums zusammen. 20 Beispielhaft für den Trend zur parkähnlichen Fassung der Naturlandschaft bei gleichzeitiger Akzentuierung schroffer und pittoresker Details waren die Vorderbrühl bei Mödling oder das Helenental bei Baden, beide im südlichen Umland Wiens. Wichtig für die biedermeierliche Blickeinstellung war die Beschränkung auf Naturausschnitte und die Betonung des Vordergrunds - im Gegensatz zur neutralen barocken Weitwinkelperspektive und zur akademischen Ideallandschaft. Typisch waren Zoom-Motive wie „Felspartie am Waldesrand" oder „Eine Buche bei Ischl".21 Das Herauslösen kleiner Erlebnisse ohne Erhabenheitspathos nannte man „Partie". Der Standpunkt des Malers wurde zum standardisierten Schaupunkt des nachvollziehenden Betrachters - ob im Wohnzimmer, an der Uferpromenade des Traunsees oder im „Malerwinkel". Einen solchen hatten viele der neuen Sommerorte im topografischen Ausflugsrepertoire. Man könnte von einer „Miniaturisierung" der Alpen im Zuge einer Domestizierung sprechen. Auf Etuis und Souvenirgläsern, auf neckischen Billets und Tabakdöschen fanden sich Miniaturbildchen landschaftlicher „Sensationen" kleine Idyllen, die einen duftigen Hauch von Frischluft in die muffigen Zimmer brachten und eine neue Virtuosität im spielerischen Umgang mit Landschaftsangeboten belegten. 22 Aus Schauerlichem wurde Annehmlichkeit, Natur mutierte, etwa in der Landschaftsbenützung durch die Sommerfrischler, zu einer Art Theaterstaffage: „Die Berge umrahmten das harmonische Bild des Verweilens auf Veranden, Baikonen und Ruhebänken." 23 Eifrig wurden Wege, Aussichtskanzeln und hölzerne Sonnenschirme angelegt. Ideale Bilder und „Partien" wurden in Raumdesign übersetzt, fixiert und befestigt. Über Generationen hinweg - an manchen Orten bis heute - spazierten die Bürger auf biedermeierlich gezähmten und blickstrategisch optimierten Wegen. Das im Schlager besungene „kleine Wegerl im Helenental" oder manch ideal positioniertes „Bankerl" (man liebte in diesem Zusammenhang Verkleinerungsformen) wurden zumindest für das Bürgertum zum vertrauten Terrain sentimentalen Erinnerns. „Vielleicht haben wir in ganz Österreich nichts Edleres als dieses glückliche Helenental. Jeder neu ins Blickfeld eintretende Berg erzählt eine neue Schönheit f...]."24 Die kleinräumige Anordnung der Attraktionen, also genau das, was Spaziergänger gerne „abwechslungsreich" nennen, und seine viel gerühmte Lieblichkeit prädestinierte den beschaulichen Wienerwald zu einen österreichischen Musterlandschaft. In solchen Gegenden, so die Essayistin Hilde Spiel 1967, werde „die Liebe zum Detail" gelehrt. Im Wienerwald sei das Bürgerideal des Biedermeier enthalten, „das Mittelmaß, die bescheidene Selbstzufriedenheit". 25 Im Biedermeier wurde das aristokratische Ideal eines müßiggängerischen Lebens im Grünen zumindest für die Zeit eines Ausflugs oder eines sommerlichen Landaufenthalts bürgerlich uminterpretiert. Georg Waldmüllers Bildnis

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der zehnköpfigen Familie des Wiener Notars Dr. Eitz am Ischler Sommersitz (1835), verknüpft die traditionellen Bildgattungen „Landschaft", „Gruppenporträt" und „Genreszene" auf bemerkenswerte Weise: Festgehalten wird der Augenblick, in dem der Vater mit zwei zünftig gekleideten Buben (Blumen am Hut) von einem Ausflug zurückkehrt. Die Frau und die restlichen Kinder erwarten ihn im Park seiner Villa. Diese durch vielfältige Blickkontakte und Gesten verknüpfte Gruppe erscheint mehrfach gerahmt und geschützt durch eine Aura von innigem Familienglück, vom englischen Garten, der im Alpenort angelegt worden war, vom Gebirgsrund mit dem gletscherbekrönten Dachstein als äußerstem Ring der allsommerlichen Identitäts-Regeneration und von mildem sommerlichen Streulicht. Die grünen und blauen Töne der Wälder und Berge umschließen die Figurengruppe, wodurch diese „wie in eine Schale gebettet leuchtet". 26 Die Familie Eitz, so ein anderer Waldmüller-Interpret, werde „von der Folie der Natur so sehr hinterfangen, wie sie, auf eigenem Terrain gesichert, von ihr eingegrenzt ist [...]" - damit sei sie abgeschottet „gegenüber einer als bedrohlich gefürchteten Außenwelt." 27

Georg Waldmüller, Die Familie des Notars Dr. Eitz in Ischl (1835)

Von der Suggestivkraft solcher Idealbilder ließe sich ein Bogen zu den im europäischen Vergleich überdurchschnittlich stark ausgeprägten EinfamilienhausWünschen der Österreicher im späten 20. Jahrhundert herstellen. Aus dem

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Wunsch nach individueller Grün-Besetzung wurden Flächenfraß und Zersiedelung. Einsame Alpen-Partien à la Hallstättersee, routiniert aufgepinselt von ländlichen Lüftelmalern, machen manches heutige Eigenheim zum konkreten Bildträger von Biedermeier-Referenzen. 28 Ebenso nachhaltig haben im kollektiven Blickspeicher Fern- und Tiefblicke Spuren hinterlassen. Solche Landschaften von erhöhtem Standpunkt malte Waldmüller seit den späten 1830er-Jahren, etwa die „Ansicht des Dachsteins mit dem Hallstätter See von der Hütteneckalpe bei Ischl". Solche Inszenierungen weiter Räume mit Hilfe einer harmonischen Tiefenstaffelung - Almhütte und duftiges Grün im Vordergrund, Wälder und dunkler See im Mittelgrund, Fels und Eis im Hintergrund - entsprachen exakt den Bedürfnissen des neuen touristischen Publikums. Dieses schätzte panoramatische Rundblicke von leicht erreichbaren Schaupunkten mittlerer Höhe, die möglichst mit bewirtschafteten Almen, Berghotels oder Jausenstationen versorgt sein sollten. 29 Längst sind solche Punkte mit Seilbahn oder Auto erreichbar. Aber sie haben weiterhin eine prägende Bedeutung, auch im Sinn einer von Generation zu Generation weiter gegebenen Schau-Konvention, in die sich jederzeit Heimatstolz mischen kann. Das „Wesen" heimischer Landschaft, die sich am gültigsten in der Größendimension „Kleinod" offenbart, scheint immer wieder aus der „Harmonie des Erhabenen mit dem Schönen" destilliert werden zu können. Ein Sprachbeispiel für viele ähnliche: „Das Salzkammergut ist die Vereinigung des Kraftvollen mit Anmut, des Wuchtigen mit Leichtigkeit, des Majestätischen mit dem Freundlichen und Gewinnenden." 30 Der Bildfaden scheint nicht zu reißen. Auch die landschaftliche Rahmung von volkstümlichen Schlagergruppen heutiger TV-Sendungen folgt weitgehend dem biedermeierlichen Erfolgsschema. Bemerkenswerterweise wurden für ein im Jahr 2000 erschienenes politologisches Buch mit Strukturdaten zur österreichischen Politik weder Parlament noch ein städtisches Motiv als Coverbild gewählt, sondern ein digital nachbearbeiteten Dachstein-Blick von Waldmüller.31 Das Entscheidende solcher Bilder ist, dass die Betrachter sie auswendig kennen. Was für die Engländer die Jägergruppe in hügeliger Countryside und für die Amerikaner die reitenden Cowboys in der Prärie sind, sind für Österreicher offenbar Ausflügler auf einer Terrasse mit Fernrohr und üppigem Mehlspeisenangebot. Oder - in der Winterversion - in nostalgisch dekorierter Hütte sitzende lustige Menschen, die „Jaga-Tee" trinken und gemeinsam „Schifoan" von Wolfgang Ambros anstimmen.

1918,1933 und 1945 als landschaftspolitische Schlüsseljahre - die Landschaft wird Gemeinschaftsrahmen eines Kleinstaats Erst das jähe Ende der Monarchie und der mit Skepsis begleitete Beginn der Republik „Deutschösterreich" machten den vorher relativ neutralen Faktor Land-

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schaft zu einem Atout im österreichischen Selbstbild. Das Nationalgefühl der Habsburger-Monarchie war nicht primär territorial begründet, sondern ergab sich aus der Bindung an eine dynastische Staatsidee. Die Reduktion auf den Kleinstaat zwang zu einer Re-Territorialisierung der Identitätspolitik. „Landschaft" und deren Übertragung in Imagination und Ideologie gewannen nun politische Bedeutung. Dafür gab es zumindest drei Gründe: Das Bedürfnis, die plötzliche Verkleinerung des Staates durch die Behauptung besonderer Schönheit zu kompensieren (und damit einen Rest von Großmacht-Stolz zu retten); die Transformation der „Donaumonarchie" zur „Alpenrepublik", wodurch die Alpen erstmals zur dominanten Referenzlandschaft wurden; die Forcierung des Fremdenverkehrs in einem ökonomisch geschwächten Staat, wodurch die Attraktivität Österreichs systematisch behauptet werden musste. Diese drei Komplexe sollen in diesem Abschnitt behandelt werden. Wichtig ist dabei, dass es sich um Konstanten handelt, die über politische Systembrüche hinweg wirksam waren. Das spezielle Verhältnis des Kleinstaates zur „Landschaft" war eine solche Klammer von der Ersten Republik über Ständestaatsdiktatur und Nationalsozialismus zum „Neuen Österreich". Gezielt wurde nach 1945 das Bekenntnis zur Schönheit des Landes zur Verknüpfung unterschiedlicher Biografíen eingesetzt. „Lerne Österreich kennen, es ist ein schöner Teil der Welt. Lerne Österreich in deinem Wesen finden, es ist ein guter Teil von dir."32 Überspitzt könnte man sagen: Die hohe Identifikation der Österreicher mit ihrer „schönen Landschaft" lässt sich am Zusammenklang dreier Jahreszahlen festmachen: 1918/ 1933/ 1945.

Klein, aber schön: Das Motiv der harmonischen

Vielfalt

Mit dem unfreiwilligen Entstehen der Republik (Deutsch-)Österreich ergab sich 1918 ein staatliches Rest-Gebilde, dessen Fläche nur etwa einem Achtel des Habsburgerreiches entsprach. Am Beispiel von zwei ungefähr ein Jahrzehnt später entstandene Essays soll gezeigt werden, wie dieser topographische Einschnitt mental verarbeitet wurde. Der eine Text, „Die österreichische Landschaft" von Wolfgang Madjera (1868-1926), einem patriotischen Wiener Beamten und Stimmungslyriker, kam 1926 in der Schriftenreihe einer Wiener Tageszeitung heraus. Der andere, „Die Landschaft" von Felix Braun (1885-1973), war der Beitrag eines prominenten Dichters und Intellektuellen zum 1928 erschienenen repräsentativen Sammelband „Ewiges Österreich. Ein Spiegel seiner Kultur". 33 So unterschiedlich die Qualität der Texte auch sein möge, beide Autoren argumentierten Sinn stiftend und in offiziöser Mission: Madjeras Broschüre war ein Geleitwort von Bundespräsident Michael Hainisch beigegeben, im Buch „Ewiges Österreich" war die neue kulturelle Elite des Staates versammelt. Beide Essays erlebten nach 1945 Neuausgaben mit nur geringfügigen Bearbeitungen.34

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Madjera wie Braun gingen vom Erlebnis eines emotionalen Schmerzes aus. Braun konstatierte ein Gefühl der „Verstümmelung" der alten Monarchie („Wie schön zog sich Tirol nach Süden [...]"), für Madjera war die Landschaft von den Feinden „wie ein geschlachtetes Tier zerstückelt" worden: „Sie reichte von den Pforten des Orients bis zum Bodensee, von den Quellen der jungen Elbe und den Steppen Russlands bis zu den Lorbeer- und Pinienhainen der Adria. Heute jedoch, umstrickt von der Messschnur erbarmungsloser Friedensdiktatoren, taucht nicht mehr ihr Saum in die glitzernden Wellen des südlichen Meeres und hütet kein Rübezahl mehr den nördlichsten Rand ihrer Berge." 35 Dennoch sei auch das, was übrig blieb, „im eigentlichsten und reinsten Sinn" ein „Ganzes", und zwar nicht bloß durch das Deutschtum und den historischen Werdegang, sondern auch durch die „Fülle seiner Schönheiten". Der Vorteil der ins Treffen geführten „Vielgestaltigkeit", bis heute ein zentrales Motiv der österreichischen Landschafts-Hymnik, liegt darin, dass es sich dabei um eine von realer territorialer Ausdehnung weit gehend unabhängige Dimension handelt. „Wie unerschöpflich im Wechsel vielgestaltiger Bilder", so Madjera, „ist diese österreichische Landschaft! Was immer das Binnenland an Reisen zu bieten vermag, hier ist's in unübertrefflicher Harmonie ausgebreitet, verwoben und zusammengefasst". 36 Auch Felix Braun beschwor die Verschiedenheit der Landschaft mit ihren Ebenen, lieblichen Hügeln und höchsten Bergen: „Es fehlt allerdings die höchste Schönheit, die des Meeres." Also musste die mittelhohe Schönheit besungen werden. Ein heimatliches Rasenstück verwandelte sich unter dem sprachlichen Mikroskop des Dichters zum synästhetischen Gesamtkunstwerk: „ [...] eine Hochwiese in Österreich, feucht von Tau, durchsummt von Insekten, in der Runde Berge, Brausen von Wasserfällen, von vielen freundlichen Wolken durchflogener Blauhimmel, Bauernhäuser in der Tiefe, auf deren Holzdächern noch beschwerende Steine liegen, Heuschober da und dort, von denen es süß herriecht: dies alles ist Land und nirgends wieder so ganz und so rein und so treu zu erleben wie einzig hier."37 Auf den Zusammenklang von schöner Landschaft, Geneigtheit der Musen und Abendland-Mythos baute die Gründungsidee der 1920 erstmals durchgeführten Salzburger Festspiele. Diese bestand in der „Wiedererrichtung Österreichs" im Sinn einer National-Mythologie und griff dabei auf das TheatralischBarocke zurück. 38 Salzburg galt um 1920 als Zentrum eines extraterritorialen christlich-konservativen Universalismus. Hier war, so etwa Hermann Bahr, „das Deutsche noch deutscher, das Italienische noch italienischer als daheim". 39 Das „Wunder" Salzburg wurde zum Inbegriff eines perfekten Zusammenspiels von prächtiger Naturkulisse und festlicher Hochkultur. Im Aufruf „Die Salzburger Festpiele" bezeichnete Hugo von Hofmannsthal das Salzburger Land als „das Herz vom Herzen Europas", das in der Mitte „zwischen Berg und Ebene, zwischen dem Heroischen und Idyllischen" und „zwischen dem barocken Fürstlichen und dem lieblich ewig Bäuerlichen" liege. 40

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Um die Verbindung von Kultur und Natur zu beschreiben, wurden immer wieder Vergleiche mit dem Bereich der Musik bemüht. Bei Franz Nabl liest man beispielsweise: „Welch eine unerschöpfliche aus gebenedeiten Quellen aufsprudelnde Fülle von Musik muß doch in dieser österreichischen Landschaft gebannt sein, daß aus ihr ein Haydn, ein Mozart, ein Schubert, ein Johann Strauß, ein Bruckner und ein Hugo Wolf geboren werden konnten." 41 Andererseits bot die Musik das ästhetische Maß, um landschaftlichen Wohlklang zu fassen. Für Felix Braun war Österreich quasi eine in neun Sätze gegliedertes Orchesterstück: „Einer Symphonie von Bruckner gleich setzt sich das Alpenland aus den Sätzen zusammen, welche die Länder bilden." Dabei übernimmt der Wienerwald das Liebliche und in den Bergen Tirols erklingt „etwas heroisch Gedrängtes".42 Wolfgang Madjera schlug sogar eine spezielle Österreich-Harmonielehre vor: Wien und der Wienerwald stehen bei ihm für das „Dityrambisch-Sentimentale" des österreichischen Gemüts, in den fruchtbaren Ebenen und im friedlichen Alpenvorland dominiert das „Hirtenmäßig-Beschauliche" und entlang der Donau und in den Seengebieten die „ruhevoll-prangende Landschaft". Erst in den Hochalpen, wo Wasserfälle niederstürzen und zwischen „titanischen Felsgestalten" sich ein „stärkerer, zäherer Daseinswille" zeigt, braust das Lied der Landschaft endlich „heroisch" auf, „orgelnd, tosend". 43 Die Vorstellung einer umschlossenen landschaftlichen Vielfalt hat weit zurückreichende Wurzeln. Simon Schama hat in „Landscape & Memory" daran erinnert, dass im Humanismus des 15. Jahrhunderts die Diversität der Natur als Beweis für die unerschöpfliche Kreativität Gottes diente.44 Dieser Idee waren auch die etwa am Hof von Rudolf II. sehr geschätzten „Weltlandschaften" des 16. Jahrhunderts verpflichtet. Mit der Propagierung des Rund- und Tiefblicken von erhöhten Aussichtspunkten kam es im 19. Jahrhundert zu einer Art Verweltlichung der gottgefälligen Mannigfaltigkeit. Das Land erschien, etwa vom Gebhardsberg von Bregenz aus, als gelungene Komposition aus Natur und Kultur: „[...] einzelne Bauerndächer mit ihren Giebeldächern, kleinere und größere Wäldchen wechseln mit Wiesen und Kornfeldern, schroffe Felsenwände mit herabstürzenden Bächen färben das Grün noch angenehmer [...]".45 In der Republik Österreich hatte die Aufzählung heterogener Landschaftstypen stets auch die Funktion, das relativ abstrakte Verfassungskonstrukt eines föderalistischen Bundesstaates zu illustrieren. Dabei kam dem neu hinzugekommenen Burgenland eine besondere Bedeutung zu, bot es doch eine Antithese zum trotz aller Vielfaltsbeteuerung alpin dominierten Land. Wenn etwa Johann Christoph Allmayer-Beck behauptet, in Österreich seien „alle Geländeformen" vertreten, „von den schneebedeckten, eisbewährten Alpengipfeln des Westens bis zu den steppenartigen, mit Salztümpeln durchsetzten Ebenen des äußersten Ostens", wird die Bedeutung der Randlandschaften für das nationale Selbstbild deutlich. 46 Der Neusiedler See wurde in der Publizistik der Zwischenkriegsjahre als „Meer der Wiener" domestiziert, was auch eine Kompensation für verlorenen Meereszugang gewesen sein mag. Zugleich repräsentierte das kleine

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Zipfel pannonischer Steppe exotische Weite, ja sogar „unser Afrika", wie Ernst Krenek 1932 schrieb. Sándor Békesi ist am Beispiel von Ansichtskarten den Wandlungen den Images von Neusiedlersee und Seewinkel nachgegangen und stellte dabei fest, dass das Leitmotiv „Ziehbrunnen und Schilfhütte" erst um 1960 fest etabliert und schließlich in den siebziger Jahren zum „Denkmal einer Landschaft", zum Selbstbild einer Region und zum touristischen Logo wurde. Aus einer landwirtschaftlichen Zweck-Landschaft und einer „traurigen" Heide wurde in einem langen Umdeutungsprozess erhabene Landschaft. 47 Verklammernde „Von-Bis"-Formulierungen gehören zum Standardrepertoire, wenn es darum geht, territoriale Schönheit ins nationalistische Blickfeld zu rücken. Das bezeugen Landes- und Nationalhymnen ebenso wie Schulbuchtexte, Vorworte oder Festreden. Mit der Zeile „Land der Berge / Land am Strome" folgt die österreichische Bundeshymne mustergültig diesem rhetorischen Muster und verknüpft damit zwei zentrale Elemente der Österreich-Formel. Der Hymnen-Zeile entsprach nach 1945 ein duales Bebilderungssystem in Österreich-Publikationen, etwa der Doppelklang der kanonisierten Motive Heiligenblut und Stift Melk. Stets wurden den Bundesländern spezifische Motive zugeordnet, die gemeinsam ein gültiges Ensemble ergeben sollten: Niederösterreichische Klöster, Kornfelder oder Weinberge, oberösterreichische Berg/ See-Kombinationen, steirische Wälder, Salzburger Gletscher etc. Solche Standard-Bilder waren in den zwanziger Jahren von der neu gegründeten Bundeslichtbildstelle systematisch angelegt worden und leisteten in der Propaganda von Ständestaatsdiktatur und Nationalsozialismus ebenso ihre Dienste wie in der Zweiten Republik. 48 Dazu las man in geradezu obsessiver Wiederholung von der landschaftlichen „Fülle", die dem Land „inneren Reichtum" und „Harmonie" verleihe. „O" als Dichterwort oder als zum Stehsatz verdünnte Politikerphrase: Die Kampagne „Österreich - ein einzigartiges Mosaik der Vielfalt" wurde zu einem rot-weit-roten Selbstläufer. Den Höhepunkt scheint die „Klein, aber schön"Rhetorik - verzahnt mit der Beschwörung einer Brückenfunktion zwischen Ost und West - in den ersten Jahrzehnten nach 1945 erreicht zu haben, als sich die Republik in der europäischen Staatengemeinschaft neu zu positionieren hatte. Dem Bildband „Schatzkammer Österreich" waren nicht weniger als 15 Politikervorworte beigegeben, in denen gleich mehrmals die landschaftliche Vielgestaltigkeit eines Landes angesprochen wurde. Im Geleitwort von Bundespräsident Karl Renner wird die „Mannigfaltigkeit des Volkscharakters" mit der „abwechslungsreichen, von den Schneegipfeln der Alpen bis zu den weiten Ebenen der östlichen Donauniederung reichenden österreichischen Landschaft" ident gesetzt. Die „reichlichste Abwechslung" der landschaftlichen Formenschönheit und der kulturelle Reichtum des Landes, so Bundeskanzler Leopold Figi, verleihe Österreich „geistige Macht weit über die Enge seiner Grenzen hinaus". Deshalb könne Österreich allen dienlich sein. Auch bei Figi findet sich eine „Von-Bis"-Formulierung: Das vielfältige Land reiche von den „genußverheiß-

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enden" Weingärten um Wien hin zu den „vom ewigen Schnee begrenzten Felsbergen". Die verschiedenen Formen stünden aber nicht in schroffem Gegensatz, sondern in wohlgefälligem Zusammenklang. 49

Cover des Bildbands „Österreich. Landschaft, Mensch und Kultur", 1952. Entwurf Atelier Hans Breidenstein

Die Formel vom Zusammenklang des Unterschiedlichen ist im Lauf der Zeit so geschmeidig geworden, dass sie sich jedem neuen Marketing-Erfordernis anschmiegen kann. Fünfzig Jahre nach Figi, im Vorfeld der Präsentation von Georg Rihas Luftaufnahmen österreichischer Landschaften bei der EXPO 2000 in Hannover, konnte man beispielsweise diese Variation lesen: „An Österreich kommt niemand vorbei: In der Mitte Europas treffen Landschaftstypen, Klimazonen, Sprachfamilien und Kultursphären aufeinander. [...] Das Ergebnis dieser permanenten Begegnungen hat einen Namen: LebensKunst." 50

Wien am Gebirge:

Die Alpinisierung

Österreichs

Als die „Donaumonarchie" zur „Alpenrepublik" wurde, hatte das mentalitätspolitische Auswirkungen. Es verstärkte sich die Tendenz, „die Erzählung des

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Österreichischen näher an das Alpine heranzurücken". 51 Die „Donau" war einst für weiträumige Öffnung und ethnische Vielfalt gestanden, das Leitmotiv „Alpen" signalisierte dagegen einen Rückzug in eine gewisse Enge. Immerhin sind 60% des Gebietes der Republik Österreich den Alpen zuzurechnen, die im Hymnentext von Paula von Preradovic festgelegte Reihenfolge Berge/Strom/ Ebene/Stadt befestigte somit die Faktenlage und hob den Primat der Alpen gleichsam in den Rang einer Alltagsverfassung. Zu typischen „Signets" der katholischen Alpenrepublik wurden trutzige Berghöfe, das über dem Strom thronende barocke Stift oder Gebirgsdörfer mit markantem Kirchturm. Vor allem das Motiv „Heiligenblut" mit dem spitzen Turm, hinter dem der Großglockner als Kathedrale eines nationalen Tempelbezirks mächtig in den Schönwetter-Himmel ragt, erwies sich als starkes Zeichen. Auch wenn der höchste Berg des Landes kein Viertausender ist (der Ortler war auch keiner!) und damit im weltweiten Vergleich nicht gerade als Gigant gelten darf, wuchs ihm seit 1918 zumindest symbolische Übergröße zu. Auf dem Titelblatt eines Schulbuchs von 1935 sind im Himmel über Heiligenblut und Glocknerspitze Staatsheilige wie Maria Theresia und Andreas Hofer zu sehen. Zusammengehalten wird die Collage durch die Parole „Der Österreicher hat ein Vaterland". Sollte Rainhard Fendrichs Lied „I am from Austria" je einen ironischen Ansatz gehabt haben: spätestens beim Musikvideo, einer Flugumrundung von Majestät Glockner mit seinem Gipfelkreuz, wich dieser ehrfurchtsvollem Stolz mit chauvinistischem Subtext. Mit Hinweis auf Skisport, alpine Populärmusik und Alltagskultur vertritt Jon Mathieu in einem Vergleich zwischen schweizerischer und österreichischer Alpenperzeption die These, „dass im Lauf der letzten 200 Jahre eine Verlagerung des alpinen Gravitationszentrums von der Schweiz nach Österreich erfolgte". 52 In keinem anderen Land sei die „Inszenierung einer alpinen Ruralität" im 20. Jahrhundert derart intensiv betrieben worden. Mit den Hohen Tauern erhielt die Alpenrepublik ein neues symbolisches Dach (neben dem älteren und stärker von Landesidentität befrachteten AlpenSinnbild Tirol), aber auch eine Art energetischer Kraftkammer. Um 1930 errichtete der schwächelnde Kleinstaat mit dem Bau der Großglockner-Hochalpenstraße ein heroisches Prestigebauwerk. Einige Kilometer weiter baute die junge Zweite Republik - in Fortführung eines Projekts der NS-Energiepolitik mit ähnlich heroischer Gebärde die Staudämme des Kraftwerks Kaprun. 53 Auch die Sportnation Österreich feierte in den Hohen Tauern mit der Glockner-Etappe der Radrundfahrt ein alljährliches Hochleistungsfest, das lange von der Behauptung begleitet wurde, hier stünden Österreichs „Berggemsen" mit den weitbesten Radlern im Wettstreit.54 Seit den siebziger Jahren erhielt das Gebiet durch die Umwandlung zum „Nationalpark Hohe Tauern" eine zusätzliche gemeinnützige Bedeutungsschicht und steht seither für naturbelassene Reserven im ökologischen, aber auch im ökonomischen Sinn. Zahllose Mineralwasser-Abfüller im alpinen Bereich setzen auf Slogans wie „Kraft der Alpen".

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Mit der Verkleinerung Österreichs hat sich ab 1918 vor das Kraftfeld zwischen der Hauptstadt Wien und der alpin dominierten Provinz nachhaltig verändert. Einerseits bediente der Vorwurf, Wien sei zum „Wasserkopf" geworden, antiurbane Reflexe. Vor allem war der Hauptstadt ihr multikulturelles Umland im Osten und Norden abhanden gekommen. Dadurch wurde Wien „kleinhorizontaler" (Anton Kuh) und sah sich „wild" gewordenen Alpenmenschen gegenüber. Diese gewannen im Staat an Gewicht, was den Schriftsteller Robert Müller 1923 zu folgender Feststellung veranlasste: „Die Menschen der österreichischen Provinz sind noch gröber, aber schöner und selbstherrlicher geworden." 55 Für viele Intellektuelle, Satiriker und Karikaturisten der zwanziger Jahre bot die drohende „Verdorfung" (Otto Bauer) und „Versumperung" (Hugo Bettauer) Wiens reiches Material für diagnostische Überspitzungen. Die verloren gegangene „Weltfreude" mit weitem Blick nach Norden und Osten („Wien an der Donau") wurde, so Anton Kuh 1923 in einer Glosse, durch eine neue alpine Knorrigkeit („Wien am Gebirge") ersetzt: „Was in Stammbeiseln krakeelt oder kniehosig und wickelgamaschig Marschtakte aufs Pflaster schlägt, was da Baumstämme als Spazierstöcke trägt [...] - das ist der Geist von Schladming, Unterhollersbach und St. Kathrein." 56 Auch Josef Weinheber beklagte die drohende Provinzialisierung, indem er Ortsnamen aufzählte: „Sie haben uns erobert: Bruck, Gurgl und Gföhl [...]".57 Der Kulturkampf zwischen „Schollenduftlern" (Anton Kuh) und „Kaffeehaus-Ästheten" (Volkskundler Viktor von Geramb), zwischen dem Hütl der Schwarzen und der Schirmmütze der Roten, zwischen Volkstümelei und Großstadtleben war Ausdruck eines tiefen politischen Risses zwischen Urbanen, kosmopolitischen und proletarischen Weltbildern einerseits und einer Sehnsucht nach einer anti-urbanen und anti-modernen Gegenwelt andererseits. Diese griff auf den Symbolschatz des Bäuerlichen zurück und aktivierte zudem antisemitische Ressentiments. Die „Landschaft" bot nicht nur Kürzel, um Gegensätze zu verdeutlichen, sondern wurde selbst zum Kampfgebiet, etwa zwischen Alpenverein und sozialistischen Naturfreunden. Die Art des Umgangs mit Natur und „Landschaft" wurde zu einem Gradmesser für politische Haltung, etwa am Beispiel des Gegensatzes zwischen „echt" und „dekadent". In einem Bergsteigerroman von 1912 steht einem jungen Sportfex ein kränkelnder und sittlich schwacher Mann gegenüber, zugleich werden „Rax" und „Semmering" als moralische Kürzel eingesetzt. „Rax" steht für echten Sport, Rucksack, Natürlichkeit und Hüttenzauber. „Semmering", damals Synonym für mondänen Landschaftsgenuss eines großbürgerlichen, vor allem jüdischen Publikums, stand für eine passive, städtische Kultur von „Sportgigerln" und dekadenten „Laffen und Modedamen". 58 Durch die Dominanz der Alpenlandschaft „verländlichte" der Staat insgesamt, denn, so Reinhard Johler, „der Alpenraum gewann nicht nur symbolisch, sondern durch die Bundesländer vertreten, auch real und politisch an Bedeu-

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tung". 59 Die populärsten Schriftsteller des Landes - Waggerl, Perkonig, Grogger - stellten sich in den Dienst einer schollentreuen Heimatpflege und schufen, wie bereits Rosegger und Ganghofer vor ihnen, suggestive und nachhaltig wirksame Bilder einer bäuerlich-alpinen Ewigkeitslandschaft. Deren gut geerdete Bewohner stellten sich der städtisch-industriellen Dynamik mit all ihrer sittlichen Kraft entgegen. Die Großausstellung, mit der sich das ins Deutsche Reich „heimgekehrte" Österreich 1939 programmatisch in Berlin präsentierte, hieß „Berge und Menschen der Ostmark". Das Titelbild zeigt einen kantigen Bergbauern vor Berggipfeln.

y?it* in Sirol. Umschlagseite der „Österreichischen Woche", Wochenzeitschrift des Österreichischen Heimatdienstes, 14. Juni 1934

Obwohl die meisten der populären literarischen Heimatpflüger begeisterte Nationalsozialisten gewesen waren, blieben sie auch nach 1945 im „Neuen Österreich" einflussreich und standen weiterhin für das Gute und Positive. 60 Aus der Natur und aus der Berglandschaft ließ sich erneut Kraft beziehen. Doch die alpinen Zeichen verloren im Zug der Modernisierung des Lebensalltags spätestens seit den sechziger Jahren ihre Bedeutungsschwere. Sie gerieten zusehends unter Kitschverdacht und verschoben sich in Richtung Freizeit-Blasmusik und

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touristischer Kulissen-Folklore. In der intellektuellen Auseinandersetzung blieb das Alpin-Ländliche jedoch weiterhin Kampfgebiet. Um 1970 wurden karge Bergregionen zu bevorzugten Schauplätzen von Büchern und Autorenfilmen, die unter Bezeichnungen wie „Anti-Idylle" oder „Anti-Heimatroman" bald als spezifisch österreichisch galten und vorübergehend zu einem kritischen Mainstream wurden. 61 Stellvertretend genannt seien Innerhofer, Winkler oder die „Alpensaga" von Pevny/Turrini. Zugleich aber zeigen die wachsende Popularität des relativ neuen Genres „volkstümliche Schlagermusik", die hohe Identifikation mit TV-Reihen wie dem „Musikantenstadl", der gezielte Einsatz von alpinen Paradiesbildern in der Produktwerbung für Lebensmittel oder in chauvinistisch getönten Wahlkämpfen das anhaltende affirmative Potenzial der gesellschaftlichen Konstruktion „Österreich alpin".

Die organisierte

Schönheit:

Die Landschaft

im

Schaufenster

Wenn Wolfgang Madjera 1926 schreibt, die Landschaft sei „kostbares Kleinod des armen Staates, den ein schnödes Schicksal um seine einstige Größe gebracht hat", so ist das auch ein Plädoyer für eine stärkere touristische Nutzung. 62 Es bestehe ein Recht des verarmten Landes, den hehren Wert seiner landschaftlichen Schönheit international anzupreisen und zu versilbern. In der Monarchie hatte der Tourismus nur regional Bedeutung gehabt. Er war mit Ausnahme einiger Kurorte, der Stadt Wien und der Südroute durch Tirol vor allem Inländertourismus gewesen. Nach 1918 lagen etliche beliebte Destinationen, etwa die Dolomiten, der Gardasee, die „österreichische Riviera" um Abbazia oder die böhmischen Bäder, im Ausland. Das nationale „Landschaftskapital" (Georg Rigele) musste neu geordnet und taxiert werden. Diverse gesellschaftliche Trends kamen dem österreichischen Fremdenverkehr in den zwanziger und dreißiger Jahren zu Hilfe, etwa die Zunahme von Breitentourismus und Weekend-Ausflügen (mit Bahn oder Postbus), die beginnende Automobilisierung und die steigende Popularität des Wintersports. Im Gegensatz zum früheren Nobeltourismus der Oberschicht waren nach 1918 auch bescheidene und abgelegene Orte willkommene Sommerfrischenquartiere gemäß der Maxime „In Österreich ist es überall schön". Mit Kitzbühel und dem Arlberg etablierten sich nach Schweizer Vorbild fashionable Winterorte, mit dem Skisport entstanden neue landschaftliche Traumbilder. 63 Die einsamen Spuren im Schnee durften in den 1930er-Jahren in keinem Bildband fehlen. Abgelöst wurden sie von den Wedelgirlanden, die in den sechziger Jahre als Triumphbilder österreichischer Schischul- und Alpinkompetenz um die Welt gingen. Die freie Natur wurde zur Bühne für einen neuen Körperkult, der Kraft und Vitalität signalisierte. Plakatdesigner und Fotografen zeigten, oft in heroisierender Untersicht, fesche, draufgängerische und sonnengebräunte junge Menschen, für die die Natur auch Jux und Gaudi bot.

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Systematisch wurden Werbung und Infrastruktur modernisiert. 1929 entfielen bereits 42,9% der Nächtigungen auf Ausländer. 64 Zwischen 1926 und 1928 wurden in Österreich nicht weniger als zehn Luftseilbahnen errichtet, unter ihnen „Klassiker" wie die Raxbahn, die Pfänderbahn oder die Innsbrucker Nordkettenbahn. Der kommerziell angebotene Rundblick (mit obligatem Fernrohr) war nun auch mit Stadtschuhen erreichbar.

(jßOSSGLOCKNER HOCHALPEN S T R A S S E SAUCBURG

„Winter in Österreich", hg. vom Werbedienst des Staatssekretariats für Fremdenverkehr, 1933. Entwurf: Joseph Binder

ÖSTERREICH

KÄRNTEN

„Großglockner-Hochalpenstraße". Tourismusprospekt, nach 1935. Grafik: Atelier Berann

Mitte der 1920er-Jahre machte die Regierung den Straßenausbau zu einem Investitionsschwerpunkt, auch und gerade in abgeschiedenen Regionen wie dem Bregenzer Wald oder dem Gesäuse. „Die Neubauten in randständigen Gebieten waren ebenso wie die Ausbaumaßnahmen der Bundesstraßen in erster Linie wirtschaftlich motiviert. [...] Darüber hinaus hatten sie häufig einen landschaftsästhetischen Nebeneffekt. Im Gebirge und in Fremdenverkehrsregionen ergab sich ein kreativer Dialog von Straßenbau und Landschaft beinahe automatisch, in vielen Fällen wurde er von landschaftsbewußten Ingenieuren gezielt angestrebt." 65 Es entstanden zudem zahlreiche „szenische" Straßen, die vorrangig

„ L a n d s c h a f t " - Z w i s c h e n V e r s t a a t l i c h u n g und P r i v a t i s i e r u n g

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der Attraktivierung der Landschaft dienten, etwa die Wiener Höhenstraße, die Salzburger Gaisbergstraße, die Straße auf die Hohe Wand und, als Krönung des vor allem in der Zeit der Ständestaats forcierten Programms, die GroßglocknerHochalpenstraße. Dabei wurde erlebnisorientertes Re-Design der Natur betrieben. Bei der Glocknerstraße wurde etwa eine Erhöhung - der Leitenkopf - zu einem prominenten Aussichtspunkt umgestaltet und mit dem effektvollen Produktnamen „Edelweißspitze" versehen. 66 Die architektonische Gestaltung der Seilbahnen, Alpenstraßen, Hotels, Ausflugslokale und Sportstätten war zumeist einer moderaten und regionalisierten Moderne verpflichtet, im graphic design der Werbemittel dominierte die neue Bildsprache der Urbanen Konsumkultur. Damit war der touristisch gestylten österreichischen Landschaft ein eigentümlicher Doppelcode eingeschrieben: modern und konservativ, mondän und einfach, elegant und rustikal, elitär und volkstümlich. 67 Auf vielen um 1930 entstandenen Österreich-Plakaten bevölkert Trachtenpersonal die schöne Landschaft, die Darstellungen suggerieren Heiterkeit und Sinneslust: Rustikale Pärchen winken Donauschiffen zu, stehen auf dem Burgfried oder tanzen unter dem Maibaum. Als Bildmarke der in den 1950erJahren kreiierten „Almdudler"-Limonade wurde eines von ihnen zu einem Österreich-Symbol mit Langzeitwirkung. Auch die Tracht war ein mehrdeutiges Zeichen. Im Staatspatriotismus des Ständestaats waren Dirndl und Steirerhut Ausdruck eines statischen Gesellschaftsmodells und einer rückwärtsgewandten, entproletarisierten Welt. Auf den Werbematerialien des Fremdenverkehrs offerierte die Tracht den Städtern Verkleidungsangebote. Die Sommerfrischler und Festspiel-Gäste trugen häufig Edel-Varianten ländlicher Kleidung, die von Design-Spezialisten wie der Salzburger Firma Lanz in Hinblick auf das internationale Publikum mit modischer Ambition entworfen wurden. 68 „Wir fielen in den Eingang der Traube. In den holzgetäfelten Stuben saßen Fräcke neben Lederhosen, Abendroben neben Bauernjacken und Tirolerhut." 69 VolkstumsPuristen empfanden diese Entheimatlichung und Verfremdung von Lodenjoppe, Dirndl und Ausseer Hut als Provokation. Das 1938 ergangene Verbot für Juden, Trachtenbekleidung zu tragen, steht im Zusammenhang mit diesem Konflikt. 1934, nach Verfügung der 1000-Mark-Sperre und dem Wegfall des Massentourismus aus Deutschland, nützte Österreich Weltausstellungen und internationale Messen, um sich einem internationalen Publikum als ideales Reiseland im Herzen Europas zu präsentieren. Im Gegensatz zur zunehmenden Miefigkeit im Land setzte der Ständestaat in der Außendarstellung auf moderne Großzügigkeit. Die von Oswald Haerdtl entworfenen Pavillons für Brüssel 1935 und Paris 1937 waren wie Vitrinen, in denen Österreichs Landschaft präsentiert werden konnte. „,Kultur' und ,Landschaft' als politisch neutralisierbare Begriffe standen einer solchen Konzeption nicht nur näher als die klassischen Industriedisziplinen, sie halfen auch, die Widersprüche des Regimes ästhetisch

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aufzulösen. [...] Landschaft wurde gleichzeitig als Ware und als Ressource präsentiert, der die heimische Industrie und die Bewohner ihre spezifische Identität verdanken." 70 Bereits im 19.Jahrhundert war Österreich-Ungarn auf Weltausstellungen nicht nur mit den obligaten Häusern in „Nationalkostümen", sondern auch mit landschaftlichen Simulationen präsent. 1893 war in Chicago ein historisierender Nachbau der Wiener Innenstadt („Old Vienna") ebenso zu sehen wie ein vom Tiroler Landesfremdenverkehrsverband errichteter Pavillon mit dem Titel „Tyrolese Alps". Dieser war eine Mischform aus Gebirgskapelle und Stadttor und zeigte im Inneren ein aufwändig gestaltetes Gletscherpanorama der Ötztaler Alpen. „Erstmals beschrieb sich damit eine österreichische Region statt über einzelne Denkmäler über ihren Landschaftsraum. [...] Die ganze Region wird zum Exportartikel." 71 Besonders ambitioniert war Haerdtls Konzept für die Pariser Weltausstellung von 1937. Ursprünglich war ein Modell des Großglockners vorgesehen, schließlich lockte der transparente Pavillon mit einer 30 Meter langen und zehn Meter hohen Fotocollage, die ein Panorama der österreichischen Alpenstraßen ergab. In der Zweiten Republik dominierten breitere Publikumsschichten, vor allem aus dem „Wirtschaftswunderland" Deutschland. Dementsprechend schlichter, herzhafter und unraffinierter wurden die landschaftlichen Offerte. Statt Nobeltracht dominierte - außer in spätbürgerlichen Rückzugslandschaften wie dem Attersee - der pauschalierte Heimatabend. Die wenigen Versuche einer ambitionierten Moderne wichen im massenhaften Hotel- und Appartement-Bau dem breithüftigen Einheitstypus mit Rustikaldekor und totaler Balkonierung. 72 Erst in den 1970er-Jahren wurde die Zersiedelung und „Betonierung" gerade der attraktivsten Ferienorte landesweit als Problem erkannt. Es kam, ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit, zu Hybridphänomenen zwischen globalem Verhalten und lokalem Authentizitätsanspruch, etwa durch eine Neuinterpretation regionaltypischer „Schmankerl" aus der Sicht von nouvelle cuisine und Ethno-Küche. Genaue Gebietsbezeichnungen und Bilder der Natur wurden zu Qualitätsgarantien für kenntnisreichen Genuss. Zunehmend wird „Landschaft" als gefährdeter Rohstoff interpretiert, dessen Pflege die Marktchancen der österreichischen Wirtschaft erhöhen könnte. Eine Konstante in einer vom Fremdenverkehr dominierten Ökonomie lautet: Man ist in Österreich zu Schönheit und Attraktivität verpflichtet. Die Propagierung eines optimalen Fremdbildes beeinflusst - und verzerrt - wiederum das Selbstbild der Bewohner des im Show-Business erfolgreichen Landes.

Wenig Blut und Ehre in österreichischer Erde Alle Nationalstaaten und Herkunftsgemeinschaften kennen landschaftlich verortbare Gebiete, die an oft weit zurück liegende historische oder sagenhafte

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Ereignisse erinnern. Oft reicht die Evozierung von derart aufgeladenen Ortsnamen bereits aus, um Geschehnisse großer Dramatik zu imaginieren. Bekannte Beispiele „nationalistisch durchtränkter" Landschaftsräume (Hermann Bausinger) sind das Amselfeld/Kosovo, der Teutoburger Wald oder die „Rütli-Wiese" am Vierwaldstätter See. Das heutige österreichische Staatsgebiet ist relativ arm an historischen Pathos-Einschreibungen. Wo solche noch nachvollziehbar sind, wirken sie erkaltet. Generationen von Historikern, Dichtern und Volkserziehern haben darauf hingewiesen, dass sich etwa im niederösterreichischen Marchfeld Schlachten von europäischer Bedeutung zugetragen haben und dass dort die Böden „von altem Blute getränkt" seien.73 Doch von den Schlachten bei Diirnkrut, wo 1278 Böhmenkönig Ottokar Rudolf von Habsburg unterlag - das Thema von Grillparzers patriotischem Stück „König Ottokars Glück und Ende" - oder von den Zwischensiegen gegen Napoleon bei Aspern ist heute in Österreich neben papierenem Schulbuchwissen und nicht allzu beredten Denkmälern kaum etwas präsent geblieben. 74 In vielen Fällen wurden historische Gedächtnisstätten an die Sphäre des Anekdotischen oder Touristischen weitergereicht, etwa im Fall von Dürnstein, wo „König Löwenherz" und „Sänger Blondel" heute Hotels und Weinsorten bezeichnen. Lange war die Donau mit der Großerzählung von der deutschen Ostexpansion in Sage und Geschichte verknüpft. 1917, als es darum ging, die deutsch-österreichische Waffenbrüderschaft auch publizistisch zu stärken, verglich Hermann Bahr die Rolle Österreichs mit einer „Nibelungenfahrt". Der Donaustrom symbolisierte den Ausgriff nach Südost, „denn Österreich ist der deutsche Drang ins Morgenland." 75 Etliche historische Bezüge sind den Ausläufern des Wienerwaldes im Nordwesten von Wien eingeschrieben. Es mag mit der Lieblichkeit der für Spaziergänge gerne genutzten Hügel liegen, dass sich der Ernst der Lage auch hier weitgehend verflüchtigt hat. Das gilt für die Erinnerung an eine vermutete Burg von Leopold III. auf dem nach dem Markgrafen benannten Leopoldsberg ebenso wie für den Kahlenberg als jenem Ort, von dem aus ein Christenheer unter dem Polenkönig Sobieski nach Wien hinunter ritt, um die Stadt und damit das ganze Abendland vor den Türken zu erretten, ein heute eher für Polen „heiß" gebliebener „heiliger Ort". Immer wieder wurde betont, dass der Kahlenberg „ein Mittel- und Wendepunkt der europäischen Geschichte" sei.76 Nirgendwo sonst schien sich Österreichs Bollwerkfunktion gegenüber dem Osten, und damit indirekt Europas Angst vor Asien, derart symbolträchtig in der Topographie zu manifestieren. Das gab dem Rundblick auf Wien und über die Ebene bis zu den Karpaten stets eine politische Tönung. Als nach 1918 von konservativer Seite versucht wurde, die entleerte Identität Rest-Österreichs zu füllen, war die Metapher vom abendländischen Wachposten abermals identitätsstiftend. Die Abwehrschlacht, die vom Kahlenberg aus gegen die Türken geführt worden war, bekam bei den großen

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Festlichkeiten, die das Ständestaatsregime im „Türkenjahr" 1933 organisierte, einen zusätzlichen Subtext, nämlich den eines Kreuzzugs gegen den Marxismus. Als 1935 beim Eingang zur Kapuzinergruft ein Denkmal für den Kapuzinerpater Marco d'Aviano, den religiösen Berater des Christenheeres von 1683, errichtet wurde, stellte man in einem Relief die sanften Abhänge des Kahlenbergs dar - aber eben nicht als Weinbau- und Ausflugsgebiet der Wiener, sondern als schicksalsträchtigen Schauplatz einer triumphalen Schlacht. Ernst Hanisch wies auf die Versuche des politischen Katholizismus hin, die Umgebung der ehemaligen Babenberger-Residenz Klosterneuburg als „heiligen Raum" des Staates zu definieren: „Man griff auf die vorhabsburgische Zeit zurück und konnte so an eine monarchische Tradition anknüpfen, ohne das Habsburger-Tabu berühren zu müssen; man stieß die Großmachtambitionen der Habsburger ab und schloß an eine Kleinstaatsideologie an: Babenberg=Kleinösterreich." 77 Für Leopoldsberg und Kahlenberg wurden in den 1930er-Jahren diverse Monumente angedacht, etwa nach dem Anschluss von 1938 ein Gedenkturm für den Minnesänger Walter von der Vogelweide auf dem Leopoldsberg. Diese sollte von deutscher Sendung künden. Nach 1945 blieben von all diesen ideologischen Besetzungen Leerstellen ohne Pathosrest. Politisierte Landschaften behalten offenbar nur dann ihre Aufladung, wenn sie durch politische Kulthandlungen permanent reanimiert werden. Das gilt etwa für die landespolitische Mythisierung des Kärntner Abwehrkampfes von 1919/ 20 zur „mit Blut" geschriebenen Grenze. 78 „Über Kärnten flimmert die besondere Atmosphäre des Grenzlandes", war beispielsweise 1948 im offiziellen „Österreichbuch" zu lesen. 79 Auch der Innsbrucker Berg Isel, Schauplatz der Kämpfe von 1809, Ort des Denkmals für Andreas Hofer und damit Kultstätte Tiroler Wehrhaftigkeit, erlebte nach 1945 im Zuge der Auseinandersetzung um Südtirol eine heimatpolitische Re-Aktualisierung. Auch nach 1945 entstanden neue Pathos-Orte, die von Siegen und Niederlagen kündeten. So griffen Politiker und Journalisten während der Errichtung der Kraftwerksgruppe Kaprun, einem Nationalmonument der Wiederaufbau-Ära, immer wieder zu Metaphern wie „Schlacht der Arbeit", „Titanenwerk" oder „wie an einer Frontlinie". Es galt die Formel „Kaprun ist Österreich". In der Hermetik des hochalpinen Ortes - nationale Mythen haben ihre Quelle oft in den Grenzzonen des kultivierten Landes - überhöhte sich das Heldenlied vom tapferen Einzelkämpfer zur Symphonie einer perfekt orchestrierten Gemeinschaftsleistung. 80 Später, als Freizeit und Wohlstand bereits abgesichert waren und das Fernsehen zum wichtigsten Bildgeber und Vervielfältiger wurde, waren es Orte sportlicher Triumphe, die zu Wallfahrtsorten nationaler Tüchtigkeit werden konnten - etwa die Hahnenkamm-Abfahrt in Kitzbühel oder die BergIsel-Schanze in Innsbruck. Während die Images von Kaprun in den ersten Nachkriegsjahren gewissermaßen staatlich verordnet worden waren, um das Vertrauen in die Zukunft zu festigen, benötigten die Bilder des Steinbruchs von Mauthausen einige Zeit,

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um sich in Kombination mit dem Konzentrationslager und der Todestreppe als Erinnerungskomplex zu etablieren. Claudio Magris berichtet im Buch „Donau" von seiner subjektiven Erfahrung, dass es speziell die topographische Situation sei, die in Mauthausen den „radikalen Schrecken" stärker erfahrbar mache als an den meisten nationalsozialistischen Vernichtungsstätten. Die roh behauenen Stufen lassen Magris, so mythisch überformt erscheint ihm der Ort, nicht nur an die Grausamkeit der SS-Schergen denken, sondern auch an „archaische Gottheiten". 81

Nicht wilde Natur, sondern geordnete Kulturlandschaft - Holzzaun, Kirche und Bergbahn Die österreichische Nation erkennt sich nicht in offenen, weiten Naturräumen. Vorstellungen von Wildnis und Ungezähmtheit sind für das Bild der österreichischen Landschaft weniger konstitutiv als solche von Einhegungen und kulturellen Überformungen. Darin liegt ein markanter Unterschied zur Schweiz, obwohl der Flächenanteil an alpinem Ödland in Österreich kaum geringer ist. Image-Vergleiche haben wiederholt ergeben, dass mit der Schweiz Berge und hochalpine Extremlandschaften viel stärker assoziiert werden als mit Österreich. 82 Das gilt offenbar für die Innen- wie für die Außenperspektive. Für das österreichische Staatsverständnis wäre es kaum vorstellbar, im Parlament bildsymbolisch von einem Alpenpanorama repräsentiert zu werden, wie dies im Berner Bundestag der Fall ist. Auch die Touristikwerber wissen, dass im Fernblick auf Österreich aus amerikanischer oder japanischer Perspektive menschenleere Alpennatur und monumentale Gipfel eher der Schweiz zugeordnet werden, während Österreich vorrangig mit der Kombinationsformel „Landschaft & Kultur" in Zusammenhang gebracht wird. Nicht so sehr das urtümlich Alpine, sondern eher ein Mix aus historischen Bauten (vorzugsweise aus dem Barock), Habsburg und Musik, also „Kultur" im weitesten Sinn, gilt als Synonym für Österreich. Die Attraktionen erscheinen allerdings eingebettet in Gottes schöne Natur und in eine „musische Landschaft" (Felix Braun). Dieser Mischkalkulation verdanken Filme wie „Sissi" und „The Sound of Music" ihren Erfolg und ihre prägende Wirkung für das Produkt Austria. Auch wenn der himmelsnahen Zone des ewigen Eises in patriotischen Texten eine gewisse Rolle zukommt - de facto ist der Gletscher im modernen Österreich ein Begrenzungselement des landschaftlichen Wohnraumes geworden. Einerseits benötigt man ihn seit dem Biedermeier eher als dekorativen Stimmungsfaktor in perfekt gestaffelten Landschaftsprospekten, in denen er komplementär zum See im Vordergrund auftritt. Der von touristischer Infrastruktur gezähmte Naturraum ist die jüngste Schicht der österreichischen Kulturlandschaft. Auffällig ist das im internationalen Vergleich ungewöhnlich dichte Netz von Wanderwegen, deren mehrfar-

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bige Leitsysteme („Markierungen") seit dem Beginn von Alpinismus und Vereinswesen in fast allen Geländelagen den Menschen ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. 83 Entscheidend war, dass die standardisierten Wege früh an die Eisenbahn und damit an ein System von Fahrplänen gebunden waren. Die Bergsteiger, Wanderer und Ausflügler bewegten sich also relativ früh in einer durchorganisierten Landschaft und damit in einem Netz aus Disziplin, Ordnung und Funktionalität. Drei Schichten der strukturellen Durchdringung, die tiefer wurzeln als die touristische, erscheinen für die österreichische Kulturlandschaft von besonderer Bedeutung zu sein: die agrarische, die katholische und die technische. Die beiden ersten hängen eng miteinander zusammen. Zum Gründungsmythos der mittelalterlichen Klöster gehören untrennbar die Rodung der Wälder und die Urbarmachung des Landes. Die ordnenden Raumzeichen des ländlichen Lebens waren über Jahrhunderte hinweg Dorfkirchen, Kapellen, Bildstöcke und Wegkreuze. Im Repertoire der Bildbände dominieren seit der Zeit des konservativen Ständestaates Verknüpfungen bäuerlicher und religiöser Motive: Schlanke Tiroler Kirchtürme, hölzerne Bildstöcke vor Gebirgsszenarien mit dräuenden Wolken und ländliche Fronleichnams-Prozessionen in fruchtbarem Land. Der Klang der Kirchglocken scheint die bäuerliche Kulturlandschaft spirituell zu überwölben. Auch der Begriff „Ewigkeit" ist stets griffbereit: Österreichs sei dort am schönsten, lobpreiste Josef Friedrich Perkonig 1936 im Vorwort des völkischen Sammelbandes „Deutsche Ostmark", „wo seine Landschaft und Menschen einen tieferen, erhabenen Sinn des nur scheinbar rein Gegenständlichen andeuten, dort, wo der Augenblick Ewigkeit wird." 84 Auch für den Schriftsteller Karl Hans Strobl, ebenfalls ein früher NS-Parteigänger, war der „herbe, harte Mensch der Ostmark-Alpen" Träger eines überindividuellen Schicksals, das in uralter Sitte und Brauchtum seinen Ausdruck finde: „Ihm wächst aus der ständigen Gefahr und dem Kampf um Scholle und Dasein der Berg als Mythos empor; er wird ihm lebendige Wahrheit." 85 Schwer arbeitende Bergbauern traten in der Rural-Fotografie des 20. Jahrhunderts die Nachfolge der Hirten und Sennerinnen an, die in den Landschaftsbildern des 19. Jahrhunderts obligate Staffagefiguren waren. Diese „Schule des Sehens" führte dazu, „dass ein vor niedrigem Wolkenhorizont entsprechend ins Bild gesetzter Wetterbaum nicht mehr zu lesen ist, ohne die ,Kampfzone' mitanzusehen, ohne den behaupteten Kampf der Bergbauern und Bergsteiger gleichermaßen mitzudenken". 86 Der landschaftliche Agrarkult, wie ihn Austrofaschismus und Nationalsozialismus propagierten, entsprach keineswegs der tatsächlichen Bedeutung der Landwirtschaft jener Jahre. Zwar arbeiteten 1934 36% aller Erwerbstätigen im Agrarbereich, der Grundnahrungsbedarf der österreichischen Bevölkerung konnte von den Bauern aber nur zu 72% gedeckt werden. Die bäuerliche Produktion war vor den fünfziger Jahren kaum mechanisiert. 87 Anders als etwa in den USA oder in der Sowjetunion kamen in den populären Bildern der österreichischen

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Agrarlandschaft Traktor und Mähdrescher - mit Ausnahme des Sujets Marchfeld - kaum vor. Die Agrarromantik war also retrospektiv. Hoch oben, wo keine Holzzäune, Heuhaufen und Kapellen als Bildvordergründe zur Verfügung stehen, übernahmen die Gipfelkreuze die Rolle der Landschaftsweihe. Sie verweisen auf die Interpretation der Natur durch die Menschen. Das exponierte Gipfelkreuz, meist von alpinen Vereinen errichtet, war quasi die urbane Ergänzung in der ländlich-katholischen Landschaftsausstattung. Neben den dörflich-agrarischen Landschafts-Attributen kam vor allem Bildern großer, weithin sichtbarer Wallfahrtskirchen und Klosteranlagen eine identitätsstiftende Funktion zu. Das barocke Stift Melk vertritt einerseits die Macht der gegenreformatorischen Kirche über das Land und andererseits die Erfolgsformel Landschaft & Kulturbauwerk auf idealtypische Art. Die dritte dominante Schicht der österreichischen Kulturlandschaft, die der technischen Eroberung, hängt eng mit der Staatsmacht zusammen. Hierher gehören etwa die Fernstraßen des Absolutismus, die staatswirtschaftlichen und militärischen Zwecken dienten und die wegen des gebirgigen Terrains früh zu planerischen und konstruktiven Hochleistungen zwangen. An diese Epoche erinnert etwa ein steinernes Denkmal auf dem Semmering-Pass. Die Semmeringbahn, Sinnbild der Überwindung eines natürlichen Hindernisses, wurde weit über ihre wirtschaftliche und technische Bedeutung hinaus zu einem nationalen Symbol. Der Topos einer die Landschaft veredelnden und somit dem Schönen gewogenen Technik spielte auch bei vielen österreichischen Großbauten des 20. Jahrhunderts eine tragende Rolle. Vor allem Staudämme wurden als landschaftliche Pathosverstärker wahrgenommen. Für den Architekten Max Rieder markieren Kaprun und das Donaukraftwerk Ybbs-Persenberg einen historischen Höhepunkt von „Landschaftsproduktion" durch Technik. Im Gegensatz zu späteren Großbauten seien die Anlagen der fünfziger und sechziger Jahre als perfekte Gleichklang von Landschaft und Technik wahrgenommen worden. 88 Während die 1961 errichtete Europabrücke bei Innsbruck anfangs noch als Signum österreichischer Modernität und Waghalsigkeit galt, war die Brennerautobahn nur zwei Jahrzehnte später Synonym für ein brutales und menschenverachtendes Eingreifen der Technokraten in die Kultur- und Naturlandschaft. Obwohl etwa das alpine Massenverkehrsmittel Seilbahn vor allem eine funktionale Bestimmung hatte, wurde diese, so Bernhard Tschofen, stärker als in anderen Ländern zu einem Zeichen des nationalen Aufstiegs aus eigener Kraft und damit zu einem „nationalen Mythologem": „Wagte man es - vor allem mit Blick auf die dreißiger Jahre - , eine Inventur der europäischen Nationen zu erstellen, so hätte man wohl Deutschland die Straße, dem faschistischen Italien das Flugzeug, der Schweiz aber die das Gebirge über- und unterquerenden traditionellen Schienenbahnen zuzuordnen." 89 Die Bedeutung der Gondelbahn für eine spezifisch österreichische Berg- und Fortschrittssymbolik hielt auch nach 1945 an, als es mit Mitteln aus amerikanischen ERP-Krediten zu einer neuerlichen Gründerwelle im Seilbahnbau kam. Nun dienten die Bahnen nicht mehr

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der Erreichung exponierter Blickpunkte, sondern der systematischen Erschließung von Skigebieten und somit einem immer totaleren Zugriff auf das Terrain („Skischaukel")· Je leistungsstärker die Anlagen wurden, umso unsichtbarer sollten sie jedoch für die Gäste wirken. In den letzten drei Dezennien hat sich nicht nur die Koalition von „harter Technik" und „schöner Landschaft" entkoppelt, sondern es scheint zu einem grundlegenden Einstellungswandel gekommen zu sein. Die Illusion einer „unberührten Landschaft" wurde, als postindustrielle Versöhnungsutopie, zum Leitbild fortschrittsskeptischer Sehnsüchte. Die alte Dialektik von Naturbeherrschung und Naturgenuss geriet unter Fälschungsverdacht. Gleichzeitig kam es zu einer Re-Naturalisierung der „Landschaft". 90 Einmal mehr wurden die Reste der alten bäuerliches Kulturlandschaft im Zug von Nostalgie-Welle, „Urlaub am Bauernhof" und Bio-Bewegung zu einem Vorzeigeraum demonstrativ intakter österreichischer Identität. Zumindest indirekt ist auch die religiöse Durchdringung in die „Landschaft" zurückgekehrt, indem unter den Auspizien von New Age alte Kraftorte in der Natur reanimiert und Waldviertler Granitblöcke zum Gegenstand mystischen Raunens wurden. Mit dem partiellen Überlagern des Wortes „Landschaft" durch den ebenso vagen Begriff „Umwelt", der in der politischen Debatte zur Metapher für ein ganzheitlich orientiertes Problembewusstsein geworden ist, ging die Vorstellung von der Natur als Pflegefall einher. Es waren einerseits gefühlsstarke Bilder gefährdeter Landschaften (Wasserfälle, Donauauen etc.) und andererseits Negativbilder „betonierter" Lebensräume, mit denen die Umwelt- und Grünbewegung ihre Sorgen und Anliegen kommunizierte. Das Beispiel des Konflikts um die Hainburger Au zeigt, wie die Auseinandersetzung um unterschiedliche Wertkontexte - Bewahrungslandschaft gegen Nutzungslandschaft - Österreich an den Rand einer Staatskrise führen konnte. 91 Doch bereits wenige Jahre später bestand weitgehend Konsens darüber, dass sich Österreich als NaturMusterland vermarkten sollte. Vor allem die Alpen wurden - über Österreich hinaus - zu einem Referenzraum mit moralischer Aufladung. Indem sie in den Dokumenten der Alpenschutzbewegung zum letzten großräumigen Gegenpol zum Sündenfall der modernen Zivilisation stilisiert worden sind, wurden sie, so der Soziologe Gerhard Strohmeier, letztlich zum Generator von verfälschendem Bewusstsein: „Die einfache Ansicht entsteht: Es gibt die guten Alpen, mit sich selbst im Gleichgewicht, die durch den Menschen gestört wurde. [...] Übersehen wird, was die Moderne bedeutet: soziale Ungleichheit und Arbeitslosigkeit, aber gleichzeitig Lebenschancen für die Bewohner durch Industrie und Tourismus." 92 Obwohl es auch in Österreich im 20. Jahrhundert zu epochalen Urbanisierungsprozessen kam, spielten Bilder des städtischen Lebens, mit Ausnahme historischer Monumente, im Österreich-Kanon immer nur eine untergeordnete Rolle. Selbst in den Bildbänden und Briefmarkenserien der Wiederaufbaujahre sah man öfter Trachten und Ländliches als Fabriken und Neubauten. 93 „Fast

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nirgends ist das Land gestört durch häßliche Ansammlungen von Industriebauten", betonte Kanzler Figi 1947. Weil es „der Österreicher" immer verstanden habe, seine Siedlungen „harmonisch" in die Landschaft einzufügen, habe er „eine wohlgelungene Komposition geschaffen, deren Anblick jeden Besucher entzückt". 94

Österreichs Bekenntnis zur Moderne: 87-Cent-Briefmarke, Inneralpbach Tirol, Entwurf: A. Tuma 2 0 0 2

Die Sehnsuchtsbilder kohärenter und ungestörter Landschafts-Sonderräume sind weiterhin intakt. Andererseits bemühen sich Theoretiker um differenziertere Betrachtungsweisen, indem sie etwa auf Verlogenheiten hinweisen, die sich aus der Behauptung einer scharfen Trennlinie zwischen Stadt und Land, zwischen Kultur und Natur ergeben. Ein für die österreichische Debatte wichtiger Beitrag war der 1974 von Friedrich Achleitner herausgegebene Sammelband „Die Ware Landschaft". Am Beispiel des Landes Salzburg wurde die Monokultur alpinen Bauens angeprangert, ein Entleeren des Landschaftsbegriffes durch Blutund-Boden-Ideologie und Tourismusinteressen konstatiert und darauf hingewiesen, dass mit der Interdependenz zwischen „wahrer Landschaft" und der „Ware Landschaft" eine neue und möglicherweise produktive Unsicherheit entstanden sei. Denn, so Achleitner: „Die gute und die böse, die schöne und die häßliche Landschaft sind nicht mehr so ohne weiteres auseinanderzuhalten." 95 Im Vorwort eines im Jahr 2000 erschienenen Sammelbandes über „Landschaft nach der ökologischen Krise" stellte Anton Hölzer fest, dass es für die

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neue Landschaftsdebatte typisch sei, dass die Moral wieder an den Rand und das ästhetische Spiel wieder ins Zentrum rückten. Die „Landschaft" sei selbstbewusst in den Raum des Urbanen zurückgekehrt, und auch Abweichungen vom Ideal der schönen Landschaft, etwa nachindustrielle Brachen, könnten mit kultureller Lektüre rechnen. „Diese Hybride, die den Bilderbuch vorgaben idealer Landschaften gar nicht mehr folgen wollen, sind dabei, sich selbstbewußt und nicht mehr nur verschämt einen Platz in unserer kollektiven Vorstellungswelt zu erobern." 96 Der Rekonstruktion und Simulation von Naturlandschaft wird zunehmend das Konzept einer Historisierung von Landschaft entgegengesetzt. Aus den einer Landschaft eingeschriebenen Geschichten könnten sich, so Wieland Elferding, verschiedene Menschen auf einen gemeinsamen Sinnhorizont beziehen. Im Gegensatz zum obrigkeitlichen Landschafts-Patriotismus handle es sich dabei um einen relativierender Prozess: „Die Landschaft soll gegenüber ihrer Geschichte offen gehalten werden, Spuren erkennen lassen, Mehrdeutigkeiten und Entwicklungslinien zeigen. Die Totalisierung einer Landschaft durch ein Prinzip, egal ob durch Autobahnzubringerschleifen oder , Lederhosenarchitektur', ist in diesem Sinn zerstörerisch." 97 Man bewegt sich mit zunehmender Bewusstheit auf den Spuren früherer Bewohner und Landschafts-Benutzer, auch und gerade als Tourist. Zugleich laden sich traditionelle Sommerrituale, ob über Generationen hinweg stabilisierte Ausflugsgewohnheiten oder romantisch geprägte Blick-Konventionen immer wieder neu auf. Die gemeinschaftliche Verbindlichkeit von „Landschaft" nimmt, auch in Österreich, eher ab. Aber als Echoraum sehr unterschiedlicher kultureller Haltungen, Interessen und Erinnerungen bleibt sie ein brisantes gesellschaftliches Medium.

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1980 nannten zum Beispiel 97 % der Befragten die „landschaftliche Schönheit" als einen „für die Liebe zu Österreich eher wichtigen Grund". Knapp dahinter folgte der „politische und soziale Friede" (96 %). Vgl. Peter Gerlich, Nationalbewußtsein und nationale Identität in Österreich, in: Das österreichische Parteiensystem, hg. von Anton Pelinka und Fritz Plasser, WienKöln-Graz 1988,259. Auch bei einer 13 Jahre später durchgeführten Studie wurden als Nationalsymbole vorrangig Landschaft und Natur genannt. Vgl. Symbole für Österreich, April/Mai 1993, Integral Markt-und Meinungsforschungsges.m.b.H. Auch die diesem Projekt zugrunde liegende Umfrage bestätigt die Kontinuität dieser Einschätzung. Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien-Köln-Graz 2 1996, 71 u. 92. „Inszenierungen" nennt sich folgerichtig eine Enzyklopädie kritischer Österreich-Kunde, in der es natürlich auch die Stichworte „Landschaft" und „Heimat" gibt. Vgl. Susanne Breuss, Karin Liebhart und Andreas Pribersky, Inszenierungen. Stichworte zu Österreich, Wien 1995. Peter Weibel, Wahrnehmung im technologischen Zeitalter, in: Max Peintner. Der Pilot als blinder Passagier. Wahrnehmung im technologischen Zeitalter, hg. von Peter Weibel, GrazOstfildern 2000, 8 ff. Die Anführungszeichen werden, um den Lesefluss nicht zu belasten, nicht durchgängig gesetzt, aber oft genug, um an das Problem immer wieder zu erinnern.

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Reinhard Johler, Herbert Nikitsch und Bernhard Tschofen, Schönes Österreich. Heimatschutz zwischen Ästhetik und Ideologie (Kataloge des österreichischen Museums für Volkskunde 65), Wien 1995, 188. Georg Rigele, Die Wiener Höhenstraße. Autos, Landschaft und Politik in den dreißiger Jahren. Wien 1993, 29. Franz Xaver Embel, Schilderung der Gebirgs-Gegenden um den Schneeberg in Oesterreich, Wien 1801. Zu diesem Ergebnis führte die Bildrecherche zur Ausstellung „Die Eroberung der Landschaft". Vgl. Christian Rapp, Mit Femrohr und Bergstock. Die ästhetische Bändigung des Schneebergs 1800-1842, in: Die Eroberung der Landschaft. Semmering, Rax, Schneeberg (Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung, Schloß Gloggnitz 1992), hg. von Wolfgang Kos, Wien 1992, 476. Erzherzog Johann 1811 im Tagebuch, zit. nach Hans Dattinger, Vorwort, in: Erzherzog Johann. Sein Leben in den Bergen, Bad Aussee 1982, 6 u. 40. Johann verknüpfte seine Berggänge in zeittypischer Weise mit der Jagd, mit botanischen, geologischen und landeskundlichen Interessen, mit ästhetischem Gefühl und mit intellektueller Reflexion. Johann August Schuhes, Ausflüge nach dem Schneeberge in Unterösterreich, Wien 1802. Ähnlich funktionell begründet sind andere zwischen Karte und Ansicht stehende Darstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts: Bergbaukarten, militärische Vues, Bildprotokolle bei Grenzstreitigkeiten. Zit. nach Friedrich B. Polleross, Zur Kulturgeschichte des Kamptals II. Vom Friihhumanismus bis zur Postmoderne, Gars 1995, 127. Zur politischen Dimension der Schweizer Alpen vgl. etwa: Zeichen der Freiheit. Das Bild der Republik in der Kunst des 16. bis 20. Jahrhunderts, hg. von Dario Gamboni und Georg Germann, Bern 1991 ; Hilmar Frank, Joseph Anton Koch. Der Schmadribachfall. Natur und Freiheit, Frankfurt am Main 1995. Die bedeutendste lithographische Serie war die in um 1825 entstandene, 264 Blätter umfassende Folge „Donau Ansichten vom Ursprünge bis zum Ausflusse ins Meer" nach Zeichnungen von Jakob Alt. Dieses vom Wiener Verlag Kunike herausgebrachte Prachtwerk sollte den „pittoresken" Folgen der Franzosen und Engländer Konkurrenz machen. Schuhes, Ausflüge, 64. Ein österreichischer „Klassiker" in diesem Zusammenhang: Heinrich Schwarz, Salzburg und das Salzkammergut. Eine künstlerische Entdeckung in hundert Bildern des 19. Jahrhunderts, Wien 1926 (letzte Auflage: Salzburg 1977). Vgl. auch: Peter Pötschner, Genesis der Wiener Biedermeierlandschaft, Wien 1964. Pötschners Studie war eine Antwort auf Schwarz. Beide Kunsthistoriker versuchten, die Entstehung einer neuen Naturauffassung an die künstlerische „Entdeckung" von Gebieten - Salzkammergut und Wienerwald - zu koppeln. Ging Schwarz eher von einer Entdeckung von Deutschland (via Romantik und Salzburg) aus, so betonte Pötschner die Wiener Perspektive und die Vorbildrolle der holländischen Effektstücke. Zu Salzburg: Robert Hoffmann, Die Romantiker „entdecken" Salzburg, in: Wehbühne und Naturkulisse: Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus, hg. von Hanns Haas, Robert Hoffmann und Kurt Luger, Salzburg 1994. Das konkrete Beispiel stammt aus Schuhes, Ausflüge. Fast wortidente Wendungen findet man in Voralpen-Beschreibungen von Schmidt, Koch oder Augustin. Vgl. Herbert Kaut, Der Begründer des österreichischen Fremdenverkehrs, in: Wiener Monatshefte 37, 6 (1963), 15 ff. Die Entstehung der Wiener Biedermeierlandschaft ist oft beschrieben worden. Vgl. Pötschner, Genesis; ders., Wien und die Wiener Landschaft. Spätbarocke und biedermeierliche Landschaftskunst in Wien, Salzburg 1978; Gerbert Frodi, Landschaftsmalerei, in: Bürgersinn und Aufbegehren. Biedermeier und Vormärz in Wien 1815-1848, Wien 1987; ders., Wiener Malerei der Biedermeierzeit, Rosenheim 1987. Vgl. Klaus Albrecht Schröder, Ferdinand Georg Waldmüller und die Entdeckung der Wirklichkeit, in: Ferdinand Georg Waldmüller, hg. von Klaus Albrecht Schröder, München 1990, 24 ff.

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Für die Ausstellung „Die Eroberung der Landschaft" wurde unter dem Titel „Die Verkleinerung der Alpen" ein Querschnitt solcher Objekte zusammengestellt. Siehe Eroberung der Landschaft, hg. von Wolfgang Kos, 169-173. Hanns Haas, Die Sommerfrische - eine verlorene Kulturform, in: Weltbühne und Naturkulisse, hg. von Hanns Haas u.a., 69. Felix Braun, Die Landschaft, in: Ewiges Österreich. Ein Spiegel seiner Kultur, hg. von Erwin Riegler, Wien 1928, 10. Hilde Spiel, Unvergänglicher Besitz, in: Das Buch vom Wienerwald, hg. von Ilse Ellmerich, Wien-Hannover 1967, 1 f. Bruno Grimschitz, Ferdinand Georg Waldmüller, Salzburg 1957, 39. Siehe Schröder, Waldmüller, 20 f. Zum Weiterleben landschaftlicher Traditionen des 19.Jahrhundert im Siedlungsalltag vgl. Erika Thümmel, Kunst an der Wand. Die Straße als Galerie - Häuser zwischen Graz und Laibach. Eine Dokumentation über zeitgenössische Lüftelmalerei und Graffiti, Graz 1988. In der Ausstellung „Über die Berge" (Shedhalle St.Pölten 1999), von der es keinen Katalog gibt, war eine Diaserie mit Alpendarstellungen auf rezenten niederösterreichischen Eigenheimen zu sehen. Ich habe mich wiederholt mit der Frage befasst, ob der touristische Blick dem künstlerischen folgte (der Maler als „location hunter" und Blick-Pionier) oder ob von einer komplexeren Interdependenz von Wissenschaft, Dichtung, Malerei und Freizeitverhalten auszugehen ist. Vgl. Wolfgang Kos, Das Malerische und das Touristische. Über die Bildwürdigkeit von Motiven - Landschaftsmoden im 19. Jahrhundert, in: Faszination Landschaft. Österreichische Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts auf Reisen, Salzburg 1995. Franz Lipp, Das Salzkammergut. Wesen einer Landschaft, Gmunden-Bad Ischl 1951, 7. Anton Pelinka und Sieglinde Rosenberger, Österreichische Politik. Grundlagen - Strukturen Trends, Wien 2000. Vorwort zu: Das Österreich-Buch, hg. von Ernst Marboe, Wien 1948, X. Wolfgang Madjera, Die österreichische Landschaft. Wien o. J. (1926); Felix Braun, Die Landschaft, in: Ewiges Österreich. Ein Spiegel seiner Kultur, Wien 1928. Alle Zitate des folgenden Abschnitts stammen aus diesen Ausgaben. Nur längere Passagen werden mit Seitenangabe versehen. Wolfgang Madjera, Die österreichische Landschaft, Wien 1945; Felix Braun, Das musische Land. Versuche über Österreichs Landschaft und Dichtung, Wien 1953. Madjera, Landschaft, 15 f. Ebd., 19. Braun, Die Landschaft, 9 f. Derlei Versuche, aus einem engen Naturausschnitt einen sensuellen Totaleindruck zu destillieren, entsprachen den literarischen Verfahren von Jugendstil und Impressionismus. Man denke etwa an die zahlreichen „Märchenwiesen", die Peter Altenberg besungen hat und in denen für ihn „Heimat" ein Gefühlskonzentrat fand. Vgl. Michael P. Steinberg, The Meaning of the Salzburg Festival. Austria as Theatre and Ideology, 1890-1938, Ithaca-London 1990. Hermann Bahr, Salzburg, Berlin 1914, 1. Hugo von Hofmannsthal, Die Salzburger Festspiele (1919), in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II, 1914-1924, hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt am Main 1979,261. Vgl. auch den Beitrag von Robert Hoffmann im vorliegenden Band. Franz Nabl, Einleitung zum Bildband Österreich, Königstein im Taunus 1957, 10 f. Natürlich wurde auch das Schaffen von Dichtern immer wieder als Produkt von Landschaften dargestellt. Braun, Die Landschaft, 18 ff. Madjera, Landschaft, 23-57. Simon Schama, Landscape & Memory, London 1996, 428. Franz Josef Weizenegger, Vorarlberg ( 1839), aus dem Nachlass bearbeitet und herausgegeben von Meinrad Merkle, Bregenz 1989, 48.

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Johann Christoph Allmayer-Beck, Was ist Österreich?, in: Imago Austriae, hg. von Otto Schulmeister, Wien 1963, 53. Sándor Békési, Das populäre Bild der Landschaft. Ansichtskarten als Quellen für eine visuelle Umweltgeschichte vom Neusiedler See - Seewinkel, in: Das Dorf und sein Bild, hg. vom Amt der Burgenländischen Landesregierung, Eisenstadt 2000, 89. Vgl. Wolfgang Kos, Imagereservoir Landschaft, in: Die Eroberung der Landschaft, hg. von dems., 605 ff. Alle Zitate aus: Schatzkammer Österreich. Wahrzeichen der Heimat in Wort und Bild, Wien 1948. Unterrichtsminister Hurdes sekundierte in seinem Vorwort: „Von der Lieblichkeit bis zum Erhabenen ist alles auf dem Gebiete vereint, das wir Österreich, unsere Heimat, nennen." Handelsminister Kolb: „In Österreichs Landschaft, vielgestaltig und immer reizvoll, liegt ein eigenartiger Zauber." Einleitung zu: Schnittstelle des Kontinents, Universum Extra, Sonderheft Expo2000, Wien 2000. Bernhard Tschofen, Berg Kultur Moderne. Volkskundliches aus den Alpen, Wien 1999, 125. Tschofen belegt dies am Beispiel der im österreichischen Symbolhaushalt dominanten Zeichen Edelweiß und Enzian. Vgl. auch ders., „Alpen". Ausschnitte eines historisch-ethnographischen Panoramas, in: Heroen - Mythen - Identitäten. Die Slowakei und Österreich im Vergleich, hg. von Hannes Stekl und Elena Mannová, Wien 2003, 291-315. Jon Mathieu, Zwei Staaten, ein Gebirge: schweizerische und österreichische Alpenperzeption im Vergleich ( 18.-20. Jahrhundert), in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 15 (2004), 102. Auf die nationale Symboldichte in den Hohen Tauern verweist Georg Rigele, Die Großglockner-Hochalpenstraße. Zur Geschichte eines österreichischen Monuments, Wien 1998. Vgl. auch Susanne Breuss, Karin Liebhart und Andreas Pribersky, Land des Stroms. Heimische Energie für den Wideraufbau, in: Memoria Austriae I. Menschen - Mythen - Zeiten, hg. von Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, Wien 2004, 505-529. Nach 1945 war die „Tour d'Autriche" eines der ersten Sport-Großereignisse, mit dem Österreich am internationalen Geschehen teilnahm. In den letzten Jahrzehnten ging die Bedeutung des Rennens drastisch zurück und auch die Glockner-Etappe verlor ihren Nimbus. Robert Müller, Austria...ultima (1923), zit. nach Literatur und Kritik 261/261, Feb.1992, 81. Vgl. zu diesem Thema auch Werner Michael Schwarz, Wien - „Hauptstadt von was?" Zur Einschätzung Wiens im 20. Jahrhundert, in: Heroen - Mythen - Identitäten, hg. von Hannes Stekl und Elena Mannová, 175-196. Anton Kuh, Wien am Gebirge, in: ders., Hans Nebbich im Glück. Feuilletons, Essay und Publizistik, Zürich 1987, 108 f. Josef Weinheber, Wien wörtlich, Hamburg 1972, 20. Leo Feigl, Die Rax. Ein Bergsteiger-Roman (1912), Wien 1924, 128, 175. Reinhard Johler, Das Österreichische. In: Schönes Österreich, hg. von dems. u.a., 37. Vgl. Klaus Amann, Die Dichter und die Politik. Essays zur österreichischen Literatur nach 1918, Wien 1992; Literatur der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre in Österreich, hg. von Friedbert Aspetsberger, Norbert Frei und Hubert Lengauer, Wien 1984; Gert Kerschbaumer und Karl Müller, Begnadet für das Schöne. Der rot-weiß-rote Kulturkampf gegen die Moderne, Wien 1992. Vgl. als frühe Diagnose dieses Trends: Wendelin Schmidt-Dengler, Die antagonistische Natur. Zum Konzept der Anti-Idylle in der neueren österreichischen Prosa, in: Literatur & Kritik 4, 1969. Schmidt-Dengler hat wiederholt auf die starke Präsenz des Dorfes in der neueren österreichischen Literatur und auf das auffällige Fehlen von Stadtromanen hingewiesen. Madjera, Landschaft, 66. Vgl. Christian Maryska, Buchungslage gut, Nächtigungszahlen steigend! Wintertourismus und Fremdenverkehrswerbung in Österreich, in: Schnee von gestern. Winterplakate der Österreichischen Nationalbibliothek, hg. von dems., Wien 2004, 15-52. Kurt Luger und Franz Rest, Mobile Privatisierung. Kultur und Tourismus in der Zweiten

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Republik, in: Österreich 1945-1955. Gesellschaft, Politile, Kultur, hg. von Reinhard Sieder u.a., Wien 21996, 656. Rigele, Die Großglockner-Hochalpenstraße, 32 f. Ebd., 175. Vgl. Bernhard Tschofen, Ein Wintermärchen? Die Erfindung einer österreichischen Moderne im Geiste des Skilaufs; Désirée Schellerer, Ski-Lauf-Steg Alpen, Vom Norwegeranzug bis zur Jethose. Beide in: Schnee von gestern, hg. von Christian Maryska. Vgl. Ulrike Kammerhofer-Aggermann, Kulturmetropole Salzburg. Der Festspieltourismus der Zwischenkriegszeit, in: Weltbühne und Naturkulisse, hg. von Hanns Haas u.a., 113— 119. Hilde Spiel, Verwirrung am Wolfgangsee. Roman, Leipzig-Wien 1935, 172. Ulrike Felber, Elke Krasny und Christian Rapp, Smart Exports. Österreich auf den Weltausstellungen 1851-2000, Wien 2000, 120. Vgl. auch Gemot Heiss, Tourismus, in: Memoria Austriae I, hg. von Emil Brix u.a., 330-356. Ebd., 92 f. Vgl. Wolfgang Kos, Das Alpine schlug zurück. Kulturgeschichtliche Bemerkungen zur verschollenen Urbanität im alpinen Tourismusbau. In: Österreich - Architektur im 20. Jahrhundert, hg. von Annette Becker, Dietmar Steiner und Wilfried Wang, München-New York 1995. Madjera, Landschaft, 37. Auch die oberösterreichischen Bauernkriege hinterließen für Madjera „mit Blut gedüngten Ackerboden", doch bereits im Folgesatz wird darauf verwiesen, dass die österreichische Landschaft vor allem bukolisch und idyllisch sei. Interessanterweise war 1998 bei der Ausstellung „Mythen der Nationen" im Deutschen Historischen Museum, in der im europäischen Vergleich verschiedenen Nationen je fünf Identität stiftende historische Ereignisse/Mythen dargestellt wurden, die „Schlacht auf dem Marchfeld" von 1278 der tschechischen und nicht der österreichischen Erinnerung erinnert. Die anhaltende Brisanz des Ottokar-Mythos für Böhmen stützt sich aus der Expansionspolitik des sagenumwobenen Herrschers. Für das Habsburger Kaiserhaus stand der Gedächtnisort „Dürnkrut" dagegen für die Erinnerung an den großmütigen Sieger Rudolf. Nach 1918 verlor diese Erinnerung zumindest für Österreich ihre staatstragende Bedeutung. Vgl. Vit Vinas und Zdenëk Hojda, Tschechien - „Gönnt einem jeden die Wahrheit", in: Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama (Begeitband zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums), hg. von Monika Flacke, Berlin 1998, 508 ff. Hermann Bahr, Österreich, in: ders., Schwarzgelb, Berlin 1917,47. Der Wald-und Wiesengürtel und die Höhenstraße der Stadt Wien, Wien 1905, 25. Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 33 f. In der vierten Strophe der 1930 in einem Preisausschreiben ermittelten und von Agnes Millonig verfassten Kärntner Landeshymne heißt es: „Wo man mit Blut die Grenze schrieb / Und frei in Not und Tod verblieb / Helljubelnd klingt's zur Bergeswand: / Das ist mein herrlich Heimatland.;' Das Österreichbuch, hg. von Ernst Marboe, 237. Vgl. den Abschnitt „Die Männer von Kaprun", in: Wolfgang Kos, Zukunftsfroh und muskelstark. Zum öffentlichen Menschenbild der Wiederaufbaujahre, in: ders., Eigenheim Österreich. Zu Politik, Kultur und Alltag nach 1945, Wien 1994, 131 ff. „Über diese 186 hohen Stufen trugen die Gefangenen große Felsblocken, stürzten dabei vor Erschöpfung oder weil die SS-Leute sie stolpern und unter die Steine fallen ließen zu Boden, wurden dort zu Tode geprügelt oder erschossen. Die Stufen bestehen aus ungleichen, roh behauenen Blöcken, die Sonne brennt, das Massaker ist noch präsent, es kommt die Erinnerung an archaische Gottheiten, die begierig waren auf Menschenopfer, an die Pyramiden von Teotihuacán und die atztekischen Götzen [...]". Claudio Magris, Donau. Biographie eines Flusses, München-Wien 1988, 167. Zu Mauthausen vgl. Bertrand Perz und Heidemarie Uhi, Gedächtnis-Orte im „Kampf um die Erinnerung": Gedenkstätten für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges und für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, in: Memoria Austriae I, hg. von Emil Brix u.a., 545-579.

.Landschaft" - Zwischen Verstaatlichung und Privatisierung

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Vgl. Günter Schweiger. Österreichs Image in der Welt. Ein weltweiter Vergleich mit Deutschland und der Schweiz, Wien 1992. 83 Vgl. Christian Rapp, Die Urbanisierung des Gebirges. Die Rax 1870-1930, in: Die Eroberung der Landschaft, hg. von Wolfgang Kos, 536-543. 84 Deutsche Ostmark. Zehn Dichter und hundert Bilder lobpreisen Österreich, hg. von Josef Friedrich Perkonig, Graz-Wien-Leipzig 1936, 4. 85 Karl Hans Strobl, Vorwort zu: Berge und Menschen der Ostmark, Wien 1939. 86 Tschofen, Berg Kultur Moderne, 265. 87 Vgl. Josef Krammer, Von „Blut und Boden" zur „Eurofitness". Die Entwicklung der Landwirtschaft seit 1945, in: Österreich 1945-1955, hg. von Reinhard Sieder u.a., 567. 88 Max Rieder, Kunst produziert Natur. Technik produziert Landschaft. Unpublizierter Vortrag beim Symposium „Landna(h)me", Bad Ischl 1995, zit nach Georg Rigele, Kaprun. Das Kraftwerk des österreichischen Wiederaufbaus, in: Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, hg. von Wolfgang Kos und Georg Rigele, Wien 1996, 321. Vgl. auch Passage über die Malta-Sperre in: Max Peintner, Bilderschrift, Salzburg-Wien 1984. 89 Tschofen, Berg Kultur Moderne, 210 f. 90 Die Protest-Bewegung gegen das Dorfertal-Kraftwerk im Glockner-Gebiet entzündete sich in den siebziger Jahren an der Gefährdung der Umbal-Wasserfälle. Als die Planer andeuteten, bei diesen nur zeitweilig die Wasserzufuhr zu drosseln, wurde dies zum Paradebeispiel für Natur-Fälschung. " Dazu Gerhard Strohmeier, „Umwelt": Österreichische Mythen, Topoi und Erinnerungen. Die Gedächtnisorte „Zwentendorf',. „Hainburg" und „das Waldsterben", in: Memoria Austriae I, hg. von Emil Brix u.a., 357-391. 92 Gerhard Strohmeier, Die Alpen als Institution, in: Zolltexte Nr. 36, 6 (2000), 53 f. 93 Bernhard Tschofen, Berg Kultur Moderne, 57, 63, nannte Vorarlberg als anschauliches Beispiel. Trotz der Dominanz der Städte und Industrieansiedlungen in der Rheinebene zog das Land „mit den Bergen das Interesse anderer auf sich, aus den Alpen kam ein Fremdbild, das sich zum Selbstbild gewendet hat [...]". 94 Leopold Figi, Vorwort zu Schatzkammer Österreich. 95 Die Ware Landschaft, hg. von Friedrich Achleitner, Salzburg 1974. 96 Vorwort zu: Ist es hier schön. Landschaft nach der ökologischen Krise, hg. von Anton Holzer und Wieland Elferding, Wien 2000, 9 ff. 97 Wieland Elferding, Cybernatur. Der Nationalpark als Landschaftsdiskurs, in: ebd., 185 f.

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Flüsse führen stets eine Art passiver Regie bei der Anlage von Siedlungen, bei der Einrichtung von Handelsknoten und auch bei politischen und kulturellen Aktivitäten. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Stadt Passau, die einen solchen Gewässerknoten markiert. Die Donau, die dort bereits große Teile des südlichen Deutschlands entwässert hat, nimmt den Inn auf, der seinerseits die Wasser eines weiten inneralpinen Einzugsgebietes mitbringt. Dazu kommt am selben Ort - allerdings deutlich kleiner - von Norden her auch noch die Ilz. Das Zusammentreffen der Flüsse ist in zahllosen Bildern und Beschreibungen dokumentiert. Von Adalbert Stifter stammt eine der prominentesten Schilderungen: „Zwischen beiden Bergen ist eine Schlucht, durch welche ein Wasser hervorkömmt, das von oben gesehen so schwarz wie Tinte ist. Es ist die Ilz, es kömmt von dem Böhmisch-Bayerischen Walde, der überall die braunen und schwarzen Wässer gegen die Donau sendet, und vereinigt sich hier mit der Donau, deren mitternächtliches Ufer es weithin mit einem dunklen Bande säumt. [...] Weiter hinter der Stadt ist wieder ein Wasser, das aus den fernen mittäglichen Hochgebirgen kömmt. Es ist der Inn, der hier ebenfalls in die Donau geht und sie auch an ihrer Mittagsseite mit einem Bande einfaßt, das aber eine sanftgrüne Farbe hat." 1 Die drei Flüsse kommen aus den Himmelsrichtungen Westen, Süden und Norden zusammen. Sie suggerieren aufgrund der unterschiedlichen Farben auch unterschiedliche Charakteristika und fließen gemeinsam einem fernen Osten zu. Sie verheißen Trennung und Vereinigung ...

Lokalisation Das antike Römische Reich machte die Stelle zu einem Grenzpunkt - einmal gegen Norden hin und gleichzeitig zwischen den Provinzen Rätien und Noricum. Im Mittelalter führte die Kirche die Stadt Passau als zeitweise weitum mächtigsten Bischofssitz fort. Und neben den Wasserwegen etablierten sich wichtige terrestrische Handelsstraßen, die hier zusammenliefen. Auf diese siedlungsgeschichtliche Genese weist der Schriftsteller Hans Carossa hin, wenn er davon spricht, dass Passau ohne Donau und Inn wohl

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„immer eine verträumte Legendenstadt gewesen" wäre, die erst „die zwei mächtig zusammenflutenden Gewässer [...] zu einer freien weltoffenen Siedlung" gemacht hätten. 2 Damit beschreibt er allerdings die kausalen Zusammenhänge nur ungenügend. Denn Passau hat nicht nur durch die beiden Flüsse seine Bedeutung erlangt, eigentlich ist die Stadt nichts weniger als die kulturelle Konsequenz aus deren Zusammentreffen. Die interdependente Bedeutung von Orten und Wasserwegen ist damit angedeutet. Sie verweist weiter auf ein grundsätzliches Problem, wenn man die Donau unter den Aspekten des Generalthemas „Gedächtnisorte" - im engeren, wörtlichen Sinn - zu behandeln versucht. Ein Fluss ist Ort und Sache gleichermaßen. Der Vergleich von Indices zu Büchern veranschaulicht die Unentschiedenheit in dieser Frage. Das eine Mal findet man Flussnamen unter „Orte", das andere Mal unter „Sachen" und ein drittes Mal in keiner der angebotenen Kategorien. Die Flüsse schaffen Orte, geben ihnen bestimmte Inhalte und sind an allen Orten, die sie berühren, gleichzeitig. Sie selbst erhalten kulturelle Substanz einzig aufgrund ihrer Nutzung, die an ihren Ufern organisiert wird, und der Gefahr, die von ihnen ausgeht: beides ist an feste Orte gebunden. Für diesen Beitrag heißt das, dass „Ort" zwar eine geographische Größe, nicht aber konkret lokalisierbar ist. Sie ist eher ideell gefasst, und es interessiert uns vor allem, wie sie in den Dienst politischer, kulturräumlicher, wirtschaftlicher oder generell Identitäten betreffender Ideen genommen wird - womit auch die wichtigsten Bereiche angesprochen sind, innerhalb derer mit dem Mythologem „Donau" im 19. und 20. Jahrhundert operiert worden ist. Durchgängig einhalten lässt sich das Vorhaben, den Fluss und nicht die Orte am Fluss zu behandeln, nicht, denn die Orte bestimmen die Geschichte des Flusses, und wer an den Fluss denkt, denkt stets auch an die Orte, wenigstens an die Landschaft an seinen Ufern. Die Literatur zum Thema Donau darauf hin zu untersuchen, ist ein lohnendes Unterfangen, das allerdings aufgrund ihres unüberschaubaren Umfangs nur ungenügend durchgeführt werden konnte. Man ist dabei zwangsläufig mit dem Problem eines Ortes „Donau" konfrontiert, der sich nicht festhalten lässt. Zwei Werke, die den Fluss als dramaturgischen Leitfaden verwenden und dafür ähnlich lautende metaphorische Titel verwenden, seien beispielhaft genannt: Der österreichische Journalist Ernst Trost schrieb 1968 den „Lebenslauf eines Stromes", 3 der italienische Germanist Claudio Magris 1986 die „Biographie eines Flusses". 4 Beide Autoren beschreiben - Magris offenbar unabhängig von Trost - sehr selbstverständlich nicht eine Zeitspanne, die die Begriffe „Lebenslauf und „Biographie" normalerweise meinen, sondern eine gedankliche Reise von den Quellflüssen der Donau bis zum Mündungsdelta. Die beiden Bücher spiegeln einen unterschiedlichen persönlichen Hintergrund wider, setzen darüber hinaus, naturgemäß auch bedingt durch die zeitliche Differenz ihres Erscheinens, andere Schwerpunkte - ihre grundsätzliche Konzeption aber ist dieselbe. Weder Ernst Trost noch und vor allem Claudia Magris hat sich

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dabei eigentlich für den Fluss selbst interessiert. Es geht vor allem um die Orte, die an seinen Ufern gelegen sind. Für beide ist die Donau der rote Faden und darüber hinaus eine Methapher auf die relative Spezifik der Kulturgeschichte eines Raumes. Verpflichtet sind sie einem durchgängigen Prinzip, demzufolge der Fluss den Ort und der Ort die Geschichte macht.

Donau oder Inn Bei Passau, an der Stelle, wo sich Donau und Inn vereinigen, macht Ernst Trost einen markanten Entwicklungsschritt aus: „Bis Passau war die Donau ein deutscher Fluß, nun ist sie ein europäischer Strom. Und nichts kann ihren Rang anfechten." 5 Offenbar ist es einzig die Wassermenge, die eine derartige Unterscheidung zulässt. Trotzdem gibt es meines Wissens keine Kriterien dafür, wie groß die Breite oder die Abflussmenge eines Flusses sein muss, um ihn in den Rang eines Stromes zu erheben. Die Frage danach ist aber wohl eher eine rhetorische, zumal die diesbezügliche Wahrnehmung nicht a priori von messbaren Faktoren geleitet wird.

Passau. Ansichtskarte um 1910

Auch für die Namengebung nach der Vereinigung der beiden Flüsse ist die äußere Wahrnehmung bestimmend. Gleichwohl die Sache eindeutig entschieden ist, wird sie seit zumindest 300 Jahren immer wieder und stets aufs Neue zum Thema gemacht. Der Umstand, dass es sich bei Inn und Donau um zwei ähnlich große Flüsse handelt, ist zumindest Anlass für sprachliche Spielereien: Wenn

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Wien, das eigentlich gar nicht an der Donau liegt, am Inn liegen würde, der hier aber mehr grau als blau ist... Je nach Perspektive wird die Frage des richtigen Namens aber nicht nur augenzwinkernd behandelt, sondern als eine von geradezu ideologischer Tragweite begriffen. Wehmütig und bedeutungsvoll beschreibt Franz Gschnitzer den Abschnitt, wo sich die Wasser allmählich vermengen, als Abschied vom Inn: „So trägt die Donau, hin und hin nachgebend, zuletzt den Sieg davon! [...] Der Inn ist am Ende, so es ein Ende gibt. Alles, was er war, lebt fort: dennoch ist es nicht mehr er, dem unsere Liebe gehört - sein Name ist erloschen! Sein Name ... Was tuts zur Sache, wie die Flüsse heißen, die sich hier vereinen und der Strom, der der Vereinigung entspringt? Wenn nicht für uns Namen und Bilder alles wären!" 6 Die auftretenden Einwände gegen den Namen Donau mögen allein aufgrund des historischen Gebrauchsrechts verblüffen, sind häufig aber durchaus ernst gemeint und werden dementsprechend begründet: Der Inn sei in Passau der größere der beiden Flüsse, was bedeute, dass er und nicht die Donau den Namen beibehalten müsste. Bezeichnenderweise ist das zunächst in einer schweizerischen Publikation, der Hydrographia Helvetica, die 1717 erstmals erschienen ist, formuliert worden - hat der Inn doch seinen Ursprung im Engadin. Der Autor Johann Jacob Scheuchzer sieht sich veranlasst, auch der Donau einen Absatz zu widmen, obgleich „der Name der Donauw äussert denen Grenzen des Schweitzerlandes sich findet". 7 Grund dafür ist der Umstand, dass Scheuchzer den Inn bei Passau als den Hauptfluss ansieht. Dessen Quellen, so die Argumentation, sind höher gelegen als die der Donau und - „nach dem Bericht zweyer gelehrter Medicorum Hrn. D. Mezger / und Preusmann" - „der Ynn mehr Wasser der Donau giebet / als diese selbst hat". 8 Der Inn sei demnach deutlich breiter und nur unwesentlich weniger tief. Diese Argumentation ist nicht wichtig geworden, so sehr sie sich auch naturwissenschaftlich legitimiert hat. Allein die Macht der Namengebung ist zu keiner Zeit in der Schweiz (oder in Tirol) gelegen. Dass von vornherein und selbstverständlich die Donau als der namensmächtigere Fluss geführt worden ist, wird damit erklärt, dass das Römische Reich den von West nach Ost verlaufenden Fluss als durchgehende Grenze gegen Norden angenommen hat und ihm daher in der Antike das größere Interesse geschenkt worden ist. 9 Verwirrung stiftet da bloß der Donaureisende Johann Bundschue, der 1815 auf der Peutinger'schen Tafel, einem mittelalterlichen Kartenwerk, das auf eine römerzeitliche Vorlage zurückgeht, für Passau den Namen „Castra ad Oenum", also „Kastell am Inn" liest.10 Er zieht aber daraus hinsichtlich des Namens für den weiteren Flusslauf keine Schlüsse. Das kommt ihm zugute, denn offenbar ist ihm nur ein Lesefehler unterlaufen, lautet doch der Karteneintrag im Original „Castellum Bolodurum"." Claudio Magris hat eine Erklärung für den Vorzug, den man dem Namen Donau gegeben hat, die nicht nur auf die römische Antike fixiert ist. Er bringt

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die Wahrnehmungspsychologie ins Spiel, „derzufolge bei einem Zusammenfluß zweier Gewässer als Hauptfluß derjenige angesehen wird, der dort, wo beide Flüsse ineinander übergehen, einen größeren Winkel mit dem daraus entstehenden Strom bildet." 12 Abgesehen davon erklärt er das Thema zur Glaubensfrage, die er zugunsten der Bezeichnung „Donau" entscheidet, indem er sich mit dem „Theologieprofessor einer katholischen Universität" vergleicht, der „nicht die Existenz Gottes, des Gegenstands seiner Wissenschaft, leugnen" dürfe. 13 Ernst Trost sieht demgegenüber viel eher einen Legitimationsbedarf. Er ist irritiert, weil sich der Inn so „herrisch" gegenüber der Donau benimmt. Der Blick auf die Mündung veranlasst ihn zu der Feststellung: „Und nun mündet die Donau in den Inn", 14 die er aber umgehend wieder zurücknimmt. Unter Hinweis auf einen gewässerkundigen Passauer erläutert er: „Die Vormachtbestrebungen des Inn beruhen lediglich auf einer optischen Täuschung. Trotz mancher Tiroler und Innviertier Einwände führt die Donau bis zum Schwarzen Meer ihren Namen zu Recht. Der Inn ist bei Passau wohl breiter, aber der tägliche Wasserstandsbericht setzt die Donau sofort wieder in die ihr gebührende Position. Sie ist nämlich zu normalen Zeiten bei Passau etwa viereinhalb Meter tief - der Inn nur zweieinhalb." 15 Auch diese Formulierung verzerrt das Verhältnis der Wasser zueinander. Sie zeigt bloß die Position des Autors in dieser Glaubensfrage, zumal wohl die „Größe" eines Flusses durch die Tiefe nicht besser definiert ist als durch seine Breite. Ein logischer Zusammenhang besteht aber zwischen dem Wasserstand und der Schiffbarkeit, und bei Passau ist diese wohl für die Donau, nicht aber für den Inn (das ganze Jahr über) gegeben. Trost nennt auch noch die größere Wegstrecke, die die Donau bis Passau zurückgelegt habe, und die Tatsache, dass der Inn bei der Vereinigung seine Richtung ändert, ist für ihn nicht ein Fall für die Wahrnehmungspsychologie, sondern ein weiteres Argument dafür, dass er in die Donau mündet und nicht umgekehrt. 16 Der ungarische Donaureisende Péter Esterházy zeigt im Gegensatz zu Magris und Trost kein Verständnis für das Problem. Despektierlich spricht er im Übrigen aber von jenen, die einem törichten Gedanken nachhingen, „denn was bedeutet es schon, daß die Donau der Inn ist [...]."17 Immerhin - ein paar Sätze ist ihm das Thema wert. Man merkt es an der inhaltlichen Vielfalt der Für und Wider: Die Frage, wer da wen aufnimmt, ist zwar sachlich folgenlos, aber dennoch wichtig. Man müsste meinen, dass es leicht ist, den Wettstreit zu entscheiden. Wenn man von den optischen Eindrücken - also dem größeren Winkel der Donau beziehungsweise der größeren Breite des Inns - absieht, dann bleibt als Faktor einzig die einigermaßen objektive Größe der Abflusswerte. Mit diesem Begriff werden jene Zahlen bezeichnet, die angeben, wie viele Kubikmeter Wasser je Sekunde eine bestimmte Stelle passieren. Im gegenständlichen Fall ist der Vergleich trotzdem nicht ganz einfach. Von Seiten des Bayerischen Landesamtes für Wasserwirtschaft ist die erste für

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die Donau in Frage kommende Messstelle in Hofkirchen, zirka 32 Kilometer oberhalb von Passau, eingerichtet, 18 für den Inn vom österreichischen Hydrographischen Dienst in Schärding, zirka 17 Kilometer von der Mündung entfernt. 19 Die Donau nimmt auf der verbleibenden Strecke bis Passau jedenfalls noch mehr Wasser auf als der Inn, ein Umstand, der das Gesamtbild aber nicht wesentlich verändert. Wenn man die dadurch bedingte Unschärfe also vernachlässigt, dann ergibt sich aus der Berechnung des langjährigen Durchschnitts folgendes Bild: Die Donau bringt in den Wintermonaten Dezember bis März mehr Wasser zur Mündung, der Inn in den Sommermonaten Mai bis September. Die Mittelwerte der Monate April, Oktober und November sind in etwa ausgeglichen. Die großen Differenzen der Abflusswerte des Inns sind damit zu erklären, dass er aufgrund seines inneralpinen Einzugsgebietes deutlich größeren Pegelschwankungen unterliegt. Die Bäche, die ihn speisen, entspringen in viel höheren Regionen. Deshalb führt er bei Schneeschmelze wesentlich mehr, im Winter entsprechend weniger Wasser. Vergleich der Abflusswerte im langjährigen Durchschnitt: Hofkirchen (19011996) und Schärding (1951-1997) Abflusswerte, m 3 /s Jän. Feb. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez. Hofkirchen/Donau 623 652 722 755 726 742 696 603 542 496 512 573 Schärding/Inn 406 425 525 714 1020 1240 1205 991 720 539 464 453

Das Urteil in dem Streit um die Größe der Flüsse könnte man demnach in einer salomonischen Weise fällen: Man einigt sich darauf, dass den Inn in die Donau münden sieht, wer Passau im Winter besucht. Umgekehrt aber, wer im Sommer kommt, sieht die Donau in den Inn fließen. Einen Besuch der Stadt muss man so, je nach Fraktion, der man angehört, nur zeitlich richtig planen. Dass sich eine solche Frage überhaupt zu einer Debatte auswachsen kann, erscheint insofern erstaunlich, als sie rational ohne Belang sein müsste. Es gibt keine ökonomischen und höchstens an den Haaren herbeigezogene politische Argumente, die es rechtfertigen könnten, daraus ein Problem zu machen. Ihr Hintergrund sind aber kulturräumliche Vorstellungen und Identitäten, die mit Flüssen verknüpft werden. Die oben erwähnte Lebenslauf-Metapher ist ein Hinweis darauf. Sie ist der Idee verpflichtet, dass ein Fluss in einer zeitlichen Abfolge Ursprung, Wachstum und Erfüllung symbolisiert, und solche Assoziationen können bei Fragen nach seiner Herkunft, dem Quell, und seinem Ende, der Mündung, keineswegs gleichgültig bleiben. In dem Moment, da die Donau in das Repertoire der Träger der kulturellen Identität von politischen Einheiten oder sozialen Gruppen aufgenommen ist, wird es durchaus bedeutsam, ob sie ins Schwarze Meer oder in den Inn mündet.

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Der Ursprung Aus ganz ähnlichen Gründen ist der Ursprung der Donau umstritten, erhält sie doch ihren Namen erst durch die Vereinigung von Breg und Brigach in Donaueschingen. Diesen Umstand nützend, haben die dort ansässigen Fürsten von Fürstenberg den Brunnen in ihrem Schlosshof zum Donauquell ernannt, was mit der Erklärung verbunden wurde, dass sein Wasser vormals als Donaubach zugleich mit Breg und Brigach zusammengeflossen sei. Seit 1820 leite ein unterirdischer Kanal das Brunnenwasser in die Brigach. Wie dies häufig bei zweifelhaften Deutungen der Fall ist, ist die Glaubwürdigkeit dieser Version durch Inschriften und Bilder unterstützt worden. 20 Péter Esterházy nimmt im Übrigen auch die Frage der Donauquelle nicht ernst. Er handelt sie in einem kurzen Dialog zwischen seiner Figur, dem „Reisenden", und dem Fluss ab: „Reisender: Nennen sie ihre Quellen! / Donau: (zuckt die Schulter)" 21 Noch skurriler wird die Sachlage aufgrund eines eigentümlichen Phänomens, das den Oberlauf der Donau betrifft: zirka 30 Kilometer unterhalb von Donaueschingen, auf dem Weg durch die Schwäbische Alb, verliert sie ihr Wasser. Während der Sommermonate versickert es zur Gänze, sodass das Bachbett austrocknet. Das Wasser der Donau rinnt nach Süden, wo es als mächtige Aachquelle wieder an die Oberfläche kommt. 22 Die Aach aber rinnt in den Bodensee und von dort weiter in den Rhein. Das heißt nichts weniger, als dass Breg, Brigach und der Fürstenberg'sehe Brunnen die meiste Zeit über keine Donau-, sondern Rheinquellen sind. Folgerichtig fragt Franz Gschnitzer: „Warum lassen wir die Donau nicht aus dem Bächlein entspringen, das in das ausgetrocknete Bett wieder das erste dünne Gerinnsel schickt?", und gibt sich gleich selbst die Antwort: „Weil Bett und Tal schon da sind! Weil Brege und Brigach es lange Zeit benützt haben und in wasserreichen Zeiten noch benützen, über den toten Punkt, die Krise, wenn auch geschwächt, hinwegkommen und das ihnen von Anfang an bestimmte Ziel erreichen." 23 Mit ihrer strittigen Ursprungsfrage steht die Donau übrigens nicht allein da. Um die Quelle des Piave wurde erst in jüngerer Zeit ein Disput zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern zweier benachbarter Täler geführt. Es musste eine ministerielle Kommission eingesetzt werden, die zugunsten des Val Sesis entschied. So sind nunmehr dort die „Sorgenti del Piave" - die Quellen des Piave - gefasst, eingezäunt und durch ein Denkmal gewürdigt. 24 Was sich hier als bloß kleinräumlich wirksame Geschichten mit Unterhaltungswert vorstellt, hat aber auch eine weniger harmlose Komponente. Diese tritt dann ans Licht, wenn man über den Ursprung eines Flusses hinaus denkt und sein Einzugsgebiet mit der Idee des Kulturraumes verknüpft. Dadurch bietet sich die Möglichkeit, politische Sachverhalte oder auch territoriale Begehrlichkeiten als naturgegeben zu legitimieren. Den Argumentationen ist in aller Regel gemeinsam, dass ihnen einerseits eine inhärente Logik nicht abgesprochen werden kann, dass sie aber stets lückenhaft bleiben, weil sich die politi-

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sehen Landschaften nicht nach hydrographischen Gesichtspunkten entwickelt haben (wenngleich solche immer in die Konzepte von Grenzziehungen eingeflossen sind). In Vorarlberg sind föderalistische und separatistische Ideen immer wieder von dem Gedanken begleitet gewesen, dass das Bundesland als einziges zum Rhein und somit zur Nordsee hin entwässere, während das übrige Österreich (beinahe) ausschließlich Einzugsgebiet der Donau ist. Das stimmt aber nur fast. Einige Täler im Norden Vorarlbergs entwässern sehr wohl zur Donau hin. Trotzdem wurden ethnische und kulturelle Differenzen und die Notwendigkeit zur politischen und wirtschaftlichen Abgrenzung des Landes gegenüber Innsbruck und Wien immer wieder damit begründet. 25

Donauland In diesem Fall ist das Konstrukt ethnischer Geschlossenheit im Bereich eines Flusssystems mit der Wasserscheide als Grenze im Sinne einer Abkehr von der Donau verwendet worden. Umgekehrt wäre eine ähnlich lautende Argumentation sehr viel schwieriger. Wollte man das Einzugsgebiet der Donau als ethnischkulturell wie auch immer einheitlichen Raum beschreiben, so stieße man auf eine allzu offensichtliche sprachliche Vielfalt. Als Metapher für eine nationale Einheit, als die etwa der Rhein gedient hat, taugt sie nicht. Wenn eine ethnische Vielfalt konstatiert und in der Literatur thematisiert ist, dann geschieht dies häufig mit Blick auf die Wirtschaftsbeziehungen und wird durchaus positiv beurteilt. Die Donau ist dann ein „völkerverbindender Strom". 26 Für die ethnische Vielfalt entlang der Donau hatte Friedrich Ratzel Ende des 19. Jahrhunderts auch eine theoretisch Begründung parat: „Ein Volk, das über ein Land sich ausbreitet, folgt den Flüssen und steigt es an die Flüsse hinab aus allen den angegebenen Gründen und lässt sich womöglich in ihrer Nähe nieder, indem es weite Räume freilässt, die zwischen den größeren Wasseradern liegen. [...] Die Flüsse empfangen dadurch einen höheren politischen Wert. Die politische Anziehung bewirkt an den Flußrändern ähnliche Änderungen wie an den Meeresküsten. Am Rhein schoben sich Kelten und Germanen ineinander, und wo an der Donaulinie heute die deutschen, serbokroatischen, slowakischen und magyarischen Kolonien sich drängen, sitzen dieselben Völker im inneren Lande nördlich und südlich vom Strom ungemischt." 27 Ratzel hat in der „Politischen Geographie", mit der er zum Begründer einer Fachrichtung geworden ist, die Bedeutung von je unterschiedlichen geographischen Gegebenheiten, unter anderem die Struktur von Flussläufen, für die Entwicklung von Staatsgebilden zu analysieren versucht. Dies geschah sehr grundsätzlich, weil er stets vergleichend vorging. Die Österreichisch-Ungarische Monarchie ist für ihn geographisch ein äußerst heterogenes Gebilde, das einzig durch die Donau zusammengehalten wird. Sie und ihre Zuflüsse bezeichnet er als „Lebensfäden". Unter dem Eindruck der sprachnationalen Separations-

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bewegungen warnt Ratzel: „Die Unterbindung dieser Fäden ,entgliedert' den Staat." 28 Die Monarchie sieht er durch vier getrennte Verkehrsgebiete konstituiert: „Das Donauland, das Sudeten- und Karpathenland, die Alpenländer, die Länder am Mittelmeer"; und weiter: „Indem die Donau diese vier Gebiete verbindet, rechtfertigt sie die Auffassung dieses Stromes als Lebens- und Wachstumsader des Reiches, und die Lage von Wien in der Kreuzung der Hauptverbindungswege zwischen diesen vier Teilen ist daher politisch notwendig wie bei keiner anderen Hauptstadt." 29 Aber auch Ratzel unterliegt da dem Fehler, dass er eine rezente politische Gegebenheit quasi „natürlich" zu erklären versucht. Sein Modell bezieht seine relative Gültigkeit vor allem aus dem Umstand, dass sich das osmanische Reich vom Balkan zurückgezogen und den Habsburgem dadurch die Möglichkeit einer offensiven Ostorientierung eingeräumt hat. Für frühere Zeiten, in denen der österreichische Blick deutlich stärker westwärts gerichtet und deren Herrschaft über die Donau östlich von Preßburg eher theoretischer Natur gewesen war, ist es unbrauchbar. Die Bezeichnung „Donaumonarchie", als geographisches Charakteristikum des habsburgischen Machtbereichs, gilt wohl erst für das 18. Jahrhundert; konsequente Versuche, diesen Staat in Wien zu zentralisieren, gehen jedenfalls auf den aufgeklärten Absolutismus zurück. 30 Die zentrifugalen Kräfte in der Monarchie haben es in den Jahrzehnten vor ihrem Ende für deren Befürworter aber immer notwendiger werden lassen, das Einigende des Staates in den Vordergrund zu stellen. Der Donau war in diesem Bemühen die Rolle eines natürlichen, verbindenden Symbols der gemeinsamen Identität zugedacht, das sogar in die offizielle politische Symbolik eingepasst wurde: In diesem Sinne wusste der Kulturhistoriker Richard Kralik 1917 von drei möglichen Deutungen des österreichischen Bindenschildes zu berichten. Neben die bekannte von Leopold, der nach einem Kampftag im Heiligen Land den Gürtel ablegte und so auf seinem blutbeschmierten Leib das Muster rot-weiß-rot trug, stellte er zunächst eine zweite, die die Farbenkombination als Mund der „lächelnden Dame Austria oder der altdeutschen Frühlingsgöttin Ostara mit der schneeweißen Zähnereihe zwischen den blutroten Lippen" erklärte, um dann mit einer Version fortzufahren, die einem einiges an Phantasie abverlangt: „Aber nicht minder bedeutsam ist eine dritte, geographische Deutung, wonach der weiße Strich die silberne Donau bedeute, die durch fruchtbare rote Erde der Äcker und Weingärten hindurchfließt: wahrlich ein treffendes Sinnbild für die Donaumonarchie, eine abgekürzte Landkarte von Österreich, die nur eben das Wesentliche, das Kernhafte heraushebt: den großen Donaustrom, wie er das Land durchbricht, es befruchtet und eine Völkerstraße bildet, wie sie ganz einzig in aller Welt dasteht." 31 Ihre symbolische Bedeutung für die Österreichisch-Ungarische Monarchie hat die Donau bis in die Gegenwart fortgetragen. Sie wird noch immer als „Metapher für ein kulturelles Netzwerk gesehen, das sich an den Traditionen Österreich-Ungarns" orientiert. 32

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In der Tat kann man der Formel von der politischen Achse auch etwas abgewinnen. Sie gilt wohl nicht für den gesamten Lauf der Donau, und auch ein Staatsgebilde lässt sich damit kaum „natürlich" erklären, aber für die Ausbildung von Machtbereichen wäre ihre systematische Überprüfung ein reizvolles Unterfangen, zumal solche in engem Zusammenhang mit starken wirtschaftlichen Achsen stehen. Hingewiesen sei für die Österreichisch-Ungarische Monarchie nur auf die habsburgischen Kernländer, die sich entlang des Laufes der Donau etabliert haben, 33 und insbesondere für die fünf Jahrzehnte vor dem Untergang des Staates stellt Karl Vocelka die Frage, ob es nur Zufall ist, „daß die einzigen beiden Nationen [gemeint sind Deutsch-Österreicher und Ungarn], die auf Kosten aller anderen Privilegien erhalten, gerade an der Donau wohnend sind?" 34 Die Metapher vom „Lebensstrom" beziehungsweise der „Lebensader" Donau wird jedenfalls in der Literatur immer wieder gerne verwendet. Wo sie bemüht wird, ist aber bemerkenswerter Weise gar nicht so sehr die wirtschaftliche Bedeutung des schiffbaren Flusses die sinnfällige Erläuterung dafür. Eine solche bleibt - offenbar unter der Annahme, dass sich das Bild selbst erklärt gewöhnlich ausgespart. Die Sätze, in denen das Bild verwendet wird, sind getragen von Pathos und - in Österreich nach 1918 - immer wieder auch von Melancholie. 35 Da ist es nicht einmal so sehr die Frage, ob die Autorinnen und Autoren eine Affinität zur Staatsform der Monarchie haben oder nicht; der Verlust der Donau in ihrer relativen Gesamthaftigkeit schmerzt - und das auch ohne dass eine konkrete Beziehung zum Donautal unterhalb von Bratislava vorhanden sein muss. Assoziative Vorstellungen von der Donau sind zwangsläufig auf einen bestimmten vergleichsweise eng begrenzten Bereich beschränkt - jeder Poet besingt nur seinen Abschnitt des Stromes 36 - , trotzdem geraten sie leicht zu Projektionen auf den gesamten Fluss.

Landschaft als nationales Gut Nach 1945 hat sich der Blickwinkel in Österreich aber in jeder Hinsicht konsequent auf den Abschnitt zwischen Passau und Bratislava verengt. Verantwortlich dafür ist einerseits die nationale Selbstfindung, die insbesondere für dieses erste Jahrzehnt der Zweiten Republik charakteristisch ist, und andererseits der Kalte Krieg, der relativ rasch dazu geführt hat, dass der untere Donauabschnitt in seiner rezenten Dimension aus dem kollektiven Bewusstsein gewichen ist. Die Staatsgrenze unterhalb von Passau musste und wollte als solche akzeptiert werden, jene bei Hainburg wurde ohne das Zutun Österreichs zu einer harten. Die Anpassung an die politische Wirklichkeit wurde auch geographisch argumentiert: „Österreich wurde durch die historischen Ereignisse von 1918 noch mehr zum Lande am Strom als es die einstige .Donaumonarchie' war. Die österreichische Republik wurde flächenmäßig auf etwa ein Viertel der zisleithanischen Reichshälfte reduziert, aber der Streckenanteil an der Donau blieb gleich." 37

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Der Kunstgriff gelingt nur, weil die „Donaumonarchie" mit deren cisleithanischer Reichshälfte gleichgesetzt wird. Das ist eine Auslegung der geographischen Gegebenheiten, wie sie bis dahin nicht erfolgt ist.

» M H I I V I I i n X T U C M T l (lIKTaitlTXTSWIRTICWVT

Briefmarke Donaukraftwerk Ybbs-Persenbeug, 1962

In der Zweiten Republik kam als neuer Bedeutungsaspekt für die Donau auch ihre energiewirtschaftliche Nutzung dazu. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte es Pläne zur Nutzung der Wasserkraft gegeben, deren Umsetzung die ganze Strecke von Krems bis zur Marchmündung in Staustufen abgeteilt hätte. 38 Weiter gediehen war ein Vorhaben, das 1924 die Errichtung eines Kraftwerks Ybbs-Persenbeug zum Ziel hatte. Wegen Preissenkungen für Kohleimporte, vor allem aber aufgrund der Weltwirtschaftskrise konnte keines der Projekte verwirklicht werden. Erst 1938 wurden die Bauvorhaben als Teil des gesamten energiewirtschaftlichen Konzeptes des Dritten Reiches wieder aufgenommen, während des Zweiten Weltkrieges aber neuerlich gestoppt. Nach dem Krieg nahm sich die Republik den Bau von Wasserkraftwerken als bevorzugtes wirtschaftliches Programm vor. 1947 wurde die Österreichische Donaukraftwerke AG gegründet, die neuerlich ein Kraftwerk Ybbs-Persenbeug errichten wollte. Die Beschlagnahmung der Baustelle durch die sowjetische Besatzungsmacht verzögerte das Vorhaben aber noch einmal kurzfristig. 1959 schließlich konnte es fertiggestellt werden, drei Jahre nachdem bereits das Kraftwerk Jochenstein in Betrieb gegangen war.39 Der Ausbau der Wasserkraftnutzung an der Donau wurde in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich vorangetrieben, bis sie durch die Landschaftsschutz-

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und Ökologiebewegung, die seit den späten 1970er-Jahren große gesellschaftspolitische Relevanz entwickelte, irritiert wurde. Der Widerstand gegen zwei Kraft Werksprojekte zeigt auch einen graduellen Unterschied in der Wahrnehmung der Flusslandschaft - die sich einerseits zeitbedingt verändert, andererseits den verschiedenen Abschnitten der Donau unterschiedliche Werte beimisst: Am Anfang der 1970er-Jahre war ein Kraftwerk in der Wachau geplant, das als störender Eingriff in die charakteristische Kulturlandschaft empfunden wurde - vor allem von der dort ansässigen Bevölkerung. Deren Opposition, wohl im Verein mit dem allgemein ausgeprägten Bewusstsein für die Kulturlandschaft Wachau, hat dazu geführt, dass das Projekt nicht zustande gekommen ist.

Ansicht von Dürnstein. Ansichtskarte um 1925

Ungefähr zehn Jahre später wurde der Plan virulent, in Hainburg ein Kraftwerk zu errichten. Daraufhin formierte sich Widerstand vor allem aufgrund der absehbaren Eingriffe in die Naturlandschaft und das ökologische System der Hainburger Au. Er wurde tendenziell von Wien aus artikuliert und in ganz Österreich mitgetragen. Dieses Vorhaben war 1984 schon weit gediehen und von heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen begleitet. Der Bau selbst wurde, nachdem das Gelände im Dezember 1984 von Kraftwerksgegnem besetzt worden war, gestoppt. Den Auseinandersetzungen der Au-Aktivistinnen und -Aktivisten mit den Exekutivkräften folgten die Verkündigung eines „Weihnachtsfriedens" durch den Bundeskanzler und eine „Denkpause", deren Ergebnisse der Verzicht auf das Kraftwerk und schließlich der Beschluss zur Errichtung eines Nationalparks Donauauen waren. 40 Gebaut wurde schließlich noch das

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Kraftwerk Wien-Freudenau, aber auch erst, nachdem eine Volksabstimmung unter der Wiener Bevölkerung durchgeführt worden war, die im Sinne der Errichtung ein positives Ergebnis gebracht hatte. Für das ökologische Bewusstsein in Österreich, das vergleichsweise früh und heftig artikuliert wurde, war wohl auch eine ausgeprägte Wertschätzung der Landschaft an sich verantwortlich. Als nationales Gut, das es zu bewahren gilt und dem ein identitätsstiftender Charakter eigen ist, wurde sie in Österreich schon lange gesehen. Organisiert hat man dieses Ideal seit Beginn des 20. Jahrhunderts in der Heimatschutzbewegung. 41 Und nach 1945 war Landschaft wie selbstverständlich zu einem Identifikationsmerkmal der neuen Republik geworden, das auch durch einen breiten Konsens abgesichert war.42 Wasser - oder genauer, die Abstimmung zwischen Wasser und Land - ist häufig ein bestimmendes Element von Landschaften, und für Österreich insgesamt ist die Donau, der größte Fluss des Landes, konstitutiv. Gleich die ersten beiden Strophen der Bundeshymne, deren Text 1947 in einem österreichweit ausgeschriebenen Wettbewerb ermittelt wurde, kennzeichnen die Funktion des Flusses deutlich: Die Donau bildet gemeinsam mit den Alpen ein Begriffspaar, das als prägnante Formel für die landschaftliche Vielfalt Österreichs eingesetzt werden kann. Dieses polare Symbolsystem machte es möglich, der heterogenen Topographie des Landes ein gemeinsames, positiv konnotiertes Konzept zu geben, in dem sich alle Regionen vertreten sehen konnten.

Die Produktion von Bildern Verinnerlicht wurde dieses Konzept durch die forcierte Pflege der Volksmusik43 und durch den Einsatz sagenhafter Erzählstoffe, bei denen man bereits auf eine längere Tradition zurückgreifen konnte, 44 beispielsweise in den Schulen. Relativ neu dagegen war die Produktion von Filmen, bei denen die Donau zum Thema, jedenfalls zur gezielt eingesetzten Kulisse gemacht wurde. Als initialgebend dafür gilt „Der Hofrat Geiger", der im Dezember 1947 in die Kinos kam, zum erfolgreichsten Film der ersten Nachkriegsjahre avancierte und sich auch außerhalb Österreichs größter Beliebtheit erfreute. 45 Der Protagonist, gespielt von Paul Hörbiger, kommt als Urlauber nach Spitz an der Donau, um Marianne wieder zu treffen, die dort mit der gemeinsamen Tochter Mariandl (Waltraud Haas) unter ärmlichen Verhältnissen ein Wirtshaus betreibt. In der bekanntesten Szene des Films begegnen einander Hofrat Geiger und Mariandl, die nicht weiß, dass er ihr Vater ist, auf einer Bank an der Donau. Gekleidet in ein Wachauer Dirndl singt sie das „Mariandl-Lied", dies alles vor der Kulisse des Ortes Spitz. Die Szene bot eine Kulmination sämtlicher Ingredienzien, wie sie kennzeichnend für ein neues sanftmütiges, liebliches Bild der Donaulandschaft (und ein ebenso sanftmütiges, liebliches Österreichbild) wurden. Er war ein wichtiger Vertreter des Genres „Touristenfilm", einer „modernen Vari-

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ante des Heimat-Films", in dem „nicht mehr die Einheimischen in den Dörfern, sondern die Urlauber, die sich nur zeitweise in diesen Orten aufhalten", die Handlungsträgerinnen und -träger sind. 46

Szenenbild aus dem Film „Der Hofrat Geiger", 1947

Sein Erfolg provozierte eine Reihe weiterer Produktionen, die die Donau als Kulisse und Signal einsetzten. Genannt seien die Neuverfilmungen „Mariandl" (1961) und „Mariandls Heimkehr" (1962), 47 der Operettenfilm „Gruß und Kuß aus der Wachau" von 1950, 48 der insofern bemerkenswert ist, als der Donauabschnitt Wachau Aufnahme in den Titel gefunden hat. „Das Kind der Donau", ebenfalls aus dem Jahr 1950, war der erste österreichische Farbfilm der Nachkriegszeit. Im Jahr 1957 wurden gleich zwei österreichische und eine deutsche Filmproduktion gedreht, denen außer dem Entstehungsjahr auch die Tatsache gemeinsam ist, dass sie die werbewirksam gewordenen Orts- und Flurnamen in den Titel aufnahmen: „Vier Mädel aus der Wachau", „Die Lindenwirtin vom Donaustrand" und „Dort in der Wachau". 49 Auch die Sissi-Trilogie (1955-1957) setzt den Fluss vorteilhaft ins Bild, insbesondere in den Szenen der Brautfahrt Sissis von Passau nach Wien im ersten Film, während der der zukünftigen Kaiserin von einer idealisiert dargestellten Bevölkerung begeistert gehuldigt wird. Die Sissi-Filme sind im Übrigen Bestandteil eines Mythos von Alt-Österreich, der sich vom verkrampften Verhältnis zur Monarchie zu lösen begonnen und dabei den Umweg über ein idealisiertes Bild vom Leben der Kaiserin gewählt hat, das weitestgehend frei von Politik und Historizität gewesen ist. Die Tradition der Wachau-Filme wirkt jedenfalls bis in die Gegenwart weiter, da der Heimat- und Touristenfilm in einer seriellen Variante auftritt.

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Wachau-Nibelungengau Die Wachau bietet ein assoziatives Stereotypen-Spektrum, das in die idealtypischen Repräsentationen Österreichs aufs Beste eingefügt ist und diese auch bis zu einem gewissen Grad trägt. Begründet ist das spezifische Bewusstsein für diesen Donauabschnitt vor allem in der Zeit der Romantik, als er von Malern und Dichtern als pittoreske Kulturlandschaft entdeckt wurde. Das Ensemble von fließendem Wasser, Felslandschaften, Weinbergen, altertümlichen Orten und Ruinen, die verheißungsvolle Hinweise auf mittelalterliche Geschichte gaben, übte große Anziehungskraft aus. In und am Rande der Wachau konnten die Stätten ursprünglicher Kultur ausgemacht werden: Melk, die historische Residenz der Österreich begründenden Babenberger, Dürnstein, legendärer Ort der Gefangenschaft des Richard Löwenherz, wichtige Schauplätze des sagenhaften Nibelungenliedes, das gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als deutsches Pendant zu Homers „Ilias" entdeckt und begriffen wurde. 50 Die tiefgründende Historie vermochte verklärte Vorstellungen von Kreuzzügen, Minnesang und originärer deutscher Kultur zu evozieren, wie sie die vergleichsweise junge und vor allem rezent erlebte Reichshauptstadt Wien, der die Besucher der Wachau zumeist entstammten, nicht anzubieten imstande war. Das romantische Aufschwingen ist sicherlich von der Einführung der Dampfschifffahrt begünstigt worden. Zuvor hat man Donaureisen mit dem Schiff flussabwärts unternommen. Gegen die Strömung sind höchstens Güter, und diese unter großem Aufwand mittels Schiffzügen, transportiert worden. Reisende von Ost nach West haben gewöhnlich den Landweg genommen. Erst ab 1831, zwei Jahre nach der Gründung der Ersten Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft, konnte ein organisierter Personentransport auch bergwärts durchgeführt werden. Mit der Aufnahme des Schiffsverkehrs zwischen Wien und Linz (1837) wurde ein Ausflug in die Wachau, vor allem von der Residenzstadt aus, entscheidend erleichtert. Ein viel beschriebenes Kuriosum der Romantik sind die Markierungen des Wiener Verwaltungsbeamten Joseph Kyselak, der - noch die Fußreise mit der Schifffahrt kombinierend - mehrmals die Wachau bereist" und an möglichst unzugänglichen Stellen, an Felswänden zumeist, mit Hilfe einer Schablone seinen Namen aufgepinselt hat. Ob das in einem direkten Zusammenhang mit dem historischen Reiz steht, den die Orte der Wachau ausgeübt haben, sei dahingestellt. Festzuhalten bleibt, dass Kyselak den Raum markiert, seine persönliche Geschichte in die österreichische integriert und solcherart selbst Geschichte gemacht hat. Das war denn auch - so wird das eigentümliche Verhalten interpretiert - seine Intention. 52 Das romantische Bewusstsein für die historischen Stätten ist im Laufe der Zeit von einer nüchterneren, methodisch sichereren Geschichtswissenschaft unterspült worden. Irgendwann nach 1945 sind vor allem noch Versatzstücke davon übrig gewesen, die sich aber noch immer geeignet haben, historische

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Tiefe anzuzeigen. Andererseits waren neue Zutaten zum Bild der Wachau gefunden und zu einem selbstverständlichen Gesamtkunstwerk gefügt worden. Ein solcher - kulinarischer - Bestandteil, der Wein, hat beispielsweise zunächst nicht ungeteilten Zuspruch genossen. Das „Panorama der österreichischen Monarchie" von 1839 erlebt ihn - bevor er diverse Schritte der Veredelung durchgemacht hat - offensichtlich nicht als Bestandteil des idealisierten Wachau-Bildes: „Die Wachauer Weine sind größtenteils sehr sauer und werden meist zur Essigbereitung verwendet. Es gibt aber doch Weinberge im Tal, deren Gewächse sich durch starkes Bouquet, Reinheit, Geist und eine hell orangegelbe Farbe auszeichnen. Sie müssen aber 50 bis 70 Jahre alt werden, um unseren besseren Gebirgsweinen zu gleichen. Die Wachauer Weine werden auch häufig zur Mischung fetter ungarischer Weine verwendet und zu dieser Bestimmung stark nach Oberösterreich und Wien verführt [,..]."53 Unklar ist allerdings, welche Weine da gering geschätzt werden; die Stadt Krems hatte auch zu dieser Zeit diesbezüglich zumindest eine recht gute Tradition. Wie auch immer, im Verlauf des 20. Jahrhunderts ist der Wein eines der besonderen Markenzeichen der Region geworden.

Sommerfrische Emmersdorf in der Wachau, Ansichtskarte um 1910

Mit Beschluss vom 30. November 2000 wurde die Wachau in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen. Deren Kriterium ist unter anderem „eine außergewöhnliche Symbiose von Kultur und Natur". 54 Sie war damit nach dem Schloss Schönbrunn, der Altstadt von Salzburg, dem inneren Salz-

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kammergut, der Semmeringbahn und der Grazer Innenstadt die sechste Örtlichkeit in Österreich, der dieser Status zugesprochen wurde. Bereits 1994 hatte die Region das „europäische Naturschutzdiplom" erhalten. 55 Die möglichen wirtschaftlichen Vorteile, die solche Auszeichnung mit sich bringt, lassen sich nicht abschätzen, in jedem Fall aber sind sie wirksame Katalysatoren für das Bewusstsein um die Kulturlandschaft und das diesbezügliche Selbstverständnis ihrer Bewohnerinnen und Bewohner selbst. Vor geraumer Zeit äußerte sich das in einem Konflikt, der das ganze österreichische Donautal betrifft: 56 Hinsichtlich der touristischen Vermarktung des österreichischen Donauabschnittes arbeiten die niederösterreichischen und oberösterreichischen Gemeinden in Kooperationen zusammen. In Niederösterreich wurde eine „Arbeitsgemeinschaft Donautal" mit dem erklärten Ziel gegründet, die Fremdenverkehrsaktivitäten in einem einheitlichen Konzept zusammenzufassen. Das Vorhaben ist einigermaßen erfolgreich, obwohl die einzelnen Gemeinden zum Teil bereits in anderen Tourismusregionen organisiert sind. Einzig die wirtschaftlich sehr starke „Tourismus-Region Wachau-Nibelungengau" zeigte nur geringes Interesse an einer großräumigen Zusammenarbeit. Deren Vertreter werden zwar zu den gemeinsamen Veranstaltungen eingeladen, sind aber nicht Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft. Das Dilemma des Vorhabens zeigt eine Begebenheit, die sich Anfang Dezember 2000 anlässlich einer Vorstellung des „Donautals Niederösterreich" in Tulln zugetragen hat. Dort wurde ein neues Werbe-Video der Dachorganisation präsentiert, das überwiegend Bilder aus der Region des Nicht-Mitglieds, eben aus der Wachau, zeigt.

Das Nibelungenlied Die werbewirksame Bezeichnung „Wachau-Nibelungengau" durch „Donautal Niederösterreich" zu überlagern, ist für die betroffenen Gemeinden offenbar keine attraktive Option. Ob der Begriff „Nibelungengau" glücklich gewählt ist, sei aus anderen Gründen dahingestellt, er taucht jedenfalls in den 1920erJahren in der Literatur auf, seit den 1960er-Jahren wird er in der Tourismuswerbung verwendet. Außer Zweifel steht die Faszination, die das Nibelungenlied ausübt. Das große Alter des Heldenepos, die ferne Mystik der Verse und seine unsichere Herkunftsgeschichte laden zu Spekulationen und phantasievollen Deutungen ein. Der Umstand, dass das Nibelungenlied punktuell dennoch in der Geschichte und an konkreten Orten festgehalten werden kann, bietet die Möglichkeit zur Identifikation - und die wird mit Begeisterung angenommen. Da spielt es keine Rolle, dass der Text heute im Vergleich zu früher kaum noch, und wenn dann von Expertinnen und Experten, rezipiert wird. Vor allem die Städte Passau und Pöchlarn sind es, die im Nibelungenlied durch Handlungsträger ausgewiesen sind und namentliche Erwähnung finden. In Passau trifft sich Kriemhild mit ihrem Onkel Pilgrim, bevor sie die Fahrt Donau abwärts

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nach Ungarn, zum Hunnenkönig Etzel beginnt. Es wird angenommen, dass in der Person Pilgrims dem historische Bischof Wolfger von Passau ein Denkmal dafür gesetzt worden ist, dass er die Entstehung des Nibelungenliedes maßgeblich gefördert hat. 57 In Pöchlarn wiederum macht Kriemhild Station bei Markgraf Rüdiger, der dort Burgherr ist, für dessen Existenz es aber keine historischen Zeugnisse gibt. Auch der später folgende Zug der Burgunder kehrt bei Rüdiger ein. Weil die Stationen dieser Donaufahrten im heutigen Ober- und Niederösterreich besonders genau und ausführlich beschrieben sind, wird auch davon ausgegangen, dass der oder die Schöpfer des Nibelungenliedes aus dieser Gegend stammen. Passau und Pöchlarn jedenfalls haben sich das Nibelungenlied zu eigen gemacht. Beide Städte sind mit dem Beinamen „Nibelungenstadt" geschmückt. Pöchlarn hat neben einer Rüdigerstraße auch noch eine Gunther-, Gernot-, Giselher-, Dietlinde-, Ute-, Gotelinde- und eine Nibelungenstraße bekommen. 5 8 In Passau wurde 1934 die „Nibelungenhalle", ein Veranstaltungsgebäude in der Mitte der Stadt, im kantigen Stil der Zeit errichtet. 59 Ein Einkaufszentrum erhielt den Namen „Nibelungenpassage" und im Prunksaal des Rathauses hängt ein kolossales Gemälde, auf dem der prunkvolle Einzug Kriemhilds in die Stadt dargestellt ist. 60 Und auch das Kraftwerk YbbsPersenbeug wird von einem Nibelungen-Relief geziert. Doch nicht immer war es damit getan gewesen, die alten Mähren durch Vergabe von Straßennamen aus der Vergangenheit zu holen. Ernst Trost äußerte die Annahme, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts „ein romantisiertes Geschichtsbewusstsein die ehrsamen Biedermänner zu einem Kopfsprung in eine heroische Vergangenheit riß" und „den Pöchlarnern die Nibelungen den Sinn" verwirrten: 6 1 Es wurde ein Nibelungenverein gegründet, und der plante, bei Pöchlarn „ein hochragendes Nibelungendenkmal zu errichten, ein regendes Denkmal, das auch den minder Achtsamen an die gewaltige Vergangenheit dieses Ortes gemahnen sollte". Für ein „Volksschauspiel" sollten die Darstellerinnen und Darsteller - Laien aus der Bevölkerung - in den „Sitten und Gebräuchen der in Betracht kommenden Zeit" geschult und „an die Benutzung der Gerätschaften, Rüstungen und Waffen" gewöhnt werden. Die „Rüstungen aber und die Kostüme sollten von Pöchlarner Handwerkern und Gewerbetreibenden hergestellt werden [...]." Auf diese Weise wollte der Nibelungenverein erreichen, dass Pöchlarn Bayreuth überflügelt. Aber auch einem höheren Zweck diente das Spektakel, wie in der Zeitschrift des Vereins erläutert wurde: „[...] dann wird in uns Deutschen die Freude wieder auflodern, die stürmische Begeisterung für deutsches Sein und deutsche Art, dann wird unser Herz höher schlagen und uns bestürmen, daß wir zur großen Vergangenheit eine Zukunft schaffen, die nicht kleiner sei. Und Pöchlarn wird uns ein Mekka heißen [...]." Das Vorhaben wurde wegen Streitigkeiten und schließlich durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert. Es ist rückblickend eine törichte Episode geblieben. Ihre Lächerlichkeit kann aber nicht über das Ausmaß der Phantasien hinwegtäuschen, die das Nibelungenlied zu wecken imstande gewesen ist.

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Die Euphorie, mit der das Epos als metaphorisches Leitbild für die Gegenwart gelesen wurde, war auch alles andere als lokal begrenzt. Aufgrund der Schauplätze und der angenommenen Entstehung diesseits der Grenze war es nicht nur Motivation für deutsch-nationales Denken, sondern auch für die zu dieser Zeit unsichere deutschsprachige österreichische Identität. Zumindest für ein paar Jahrzehnte wurde ein feines Spiel der Symbole aufgehoben - der Gegensatz zwischen Rhein und Donau, dessen Assoziationsspektrum von Claudio Magris charakterisiert wird: „Seit dem Nibelungenlied stehen Rhein und Donau sich voller Mißtrauen gegenüber. Der Rhein ist Siegfried, germanische Tugend und Reinheit, Nibelungentreue, heldenhaftes Rittertum, unerschrockene Liebe zum Verhängnis, deutsche Seele. Die Donau ist Pannonien, das Reich Attilas, orientalisch, asiatische Flut, die am Ende des Nibelungenliedes die germanischen Werte und Tugenden untergehen läßt; indem die Burgunder die Donau überschreiten, um sich an den Hof des treulosen Hunnen zu begeben, ist ihr Schicksal - ein deutsches Schicksal - besiegelt." 62 Im Bewusstsein einer deutsch-österreichische Donau veröffentlichte der schon genannte Richard Kralik 1906 ein Drama mit dem Titel „Das Donaugold des heiligen Severin". 63 Darin verknüpfte er die Heiligenvita mit Motiven der deutschen Heldensagen und schuf, wie er später in seinen Lebenserinnerungen schrieb, „ein bewußtes Gegenstück des ,Rheingold'." 64 Damit erhob der Autor Anspruch auf eine mögliche österreichische Lesart des Sagenstoffes - eine ganz andere Variante, als sie dann 1939 von Hans Baumann, einem der prominentesten Dichter des Nationalsozialismus, vorgelegt werden sollte. Auch dieser hat ein Drama geschrieben, das Kriemhilds Rache, also die Ereignisse des Nibelungenliedes, die an der Donau, von Passau flussabwärts, spielen, neu interpretiert hat.65 Bei ihm aber wird vor allem der Gegensatz der Nibelungen zu den Hunnen betont, und die Donau ist ein markant deutscher Strom. Rüdiger, der Markgraf Etzels, ist die Hauptfigur des Stückes, zentraler Inhalt ist sein in der Blutsverwandtschaft begründetes Bekenntnis zu den Nibelungen. 1941 hat Baumann in derselben Intention noch eine Sammlung von Gedichten nachgelegt, die die Donau von Passau bis Wien besingen. 66

Im Geist des Nationalsozialismus Die Interpretationen des Nibelungenstoffes von Kralik und Baumann sind nicht nur aufgrund von deren unterschiedlichen ideologischen Positionen völlig andere. Zwischen den beiden liegt auch eine Zeit, in der vor allem in Deutschland die Politik gegenüber dem Balkan heftig diskutiert und in Entwürfen sehr verschieden positioniert wurde. Schon vor 1914 war das mangelnde Engagement Deutschlands in Südosteuropa kritisiert worden. 67 Der starke Einfluss des fernen Englands auf die wirtschaftlich und strategisch so wichtige Donaumündung wurde missbilligend als Versagen der eigenen Politik gedeutet. 68 Nach 1918

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wurde die Politik Bismarcks, der den Balkan dem russischen Reich und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie überlassen hatte wollen, als einer der Gründe dafür genannt, dass der Erste Weltkrieg verloren worden war. Bismarcks Satz vom pommerschen Grenadier, „dessen Knochen ihm für die balkanischen Streitigkeiten zu schade wären", wurde nun entgegengehalten, dass im Krieg das Blut vieler deutscher Soldaten in Südosteuropa die „Äcker und Schluchten gedüngt" hätte.69 Aus dem Umstand, dass Deutschland die Donauquelle besitze, wurde das Recht auf die „wirtschaftliche Führung auch der unteren Donauländer" abgeleitet. Die Staaten Südosteuropas, in denen noch immer und schon wieder Bestrebungen im Gange waren, eine Föderation einzurichten, in deren Programmen Deutschland aber nicht vorgesehen war, sollten beschwichtigt werden, indem ihnen mitgeteilt wurde, dass sie „von dem schwachen Deutschland unserer Tage" keine Hegemonie zu befürchten hätten. Im Übrigen wurde, wie stets, wenn es darum geht, politische Interessen durchzusetzen, das „einigende Band der Donau" beschworen. Den Wünschen nach einer offensiven Politik Deutschlands auf dem Balkan kam aber erst die nationalsozialistische Regierung nach, die alles andere als im Bewusstsein eines „schwachen Deutschlands" agierte. Umgekehrt waren den föderativen Ansätzen in Südosteuropa bis dahin keine außergewöhnlichen Erfolge beschieden. Den paneuropäischen Ideen von Richard CoudenhoveKalergi etwa wurde zwar Beachtung entgegengebracht, von einer realpolitischen Umsetzung waren sie aber immer weit entfernt. Deutschland hatte großes Interesse an einer wirtschaftlich effizienten Verbindung mit den Agrarländern Südosteuropas, wofür die Donau als Wasserstraße die idealen Voraussetzungen bot. Österreich kam im deutschen Konzept eine Brückenfunktion zu - eine Rolle, in der es sich auch selbst gefiel, zumal sie hierzulande 1936 im Zusammenhang mit dem Normalisierungsabkommen zwischen den beiden Staaten nach der Tausend-Mark-Sperre gesehen wurde. 70 Korrespondierend mit diesen Ereignissen veränderte sich in Deutschland der Blick auf die Donau. Nicht mehr jenseitig sollte sie sein, sondern im nationalen symbolischen Repertoire einen Platz neben dem Rhein erhalten. Der Gegensatz zwischen den beiden Flüssen sollte aufgehoben werden, die Donau wurde „Deutschlands anderer Schicksalsstrom", 71 ein deutsches Anrecht auf den Fluss politisch nüchtern 72 und freundlich sentimental 73 erhoben. In die Bedeutung des Begriffs „Donauraum", der nie definiert worden war, aber tendenziell immer Deutschland ausgeschlossen hatte, wurde auch das Einzugsgebiet des Oberlaufs hineinreklamiert. 74 Das Pannonische, Slawische und Asiatische, das ihr anhaftete, wurde vor allem in der Weise gedeutet, dass solches immer wieder in der Geschichte gegen den Lauf des Flusses heraufgedrängt hatte und vom Deutschen hatte aufgehalten werden müssen. Den Verderben bringenden „Ritt gegen Osten", 75 den die Nibelungen an den Hof König Etzels unternehmen, hat man mit einer tiefen Bedeutung ausgestattet. Seine neuzeitliche Wiederholung allerdings stellte man sich anders vor.

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Weil man den Begriff Österreich eliminieren wollte, wurde nach dem „Anschluss" die Donau sogar namengebend für die Länder, durch das sie floss: Mit Anordnung vom 31. Mai 1938 wurden aus Niederösterreich und Oberösterreich die Gaue „Niederdonau" und „Oberdonau". 76 Oberösterreich wurde auch als „Heimatgau des Führers" bezeichnet, die Örtlichkeiten, die frühe biografische Stationen Hitlers gewesen sind, wurden zu nationalsozialistischen Wallfahrtsstätten. 77 Als Orte an der österreichischen Donau, die Assoziationen mit dem nationalsozialistischen „Dritten Reich" herstellen lassen, sind vor allem Mauthausen und Linz hervorzuheben. Im Falle des Konzentrationslagers Mauthausen ist an die Wahl des Standortes zu erinnern: ein Steinbruch, in dem man durch den zwangsweisen Einsatz von Häftlingen billigst Material abbauen konnte, aufs Beste durch die Schifffahrtsstraße Donau erschlossen, die den raschen Abtransport gewährleistete. Die Erinnerung daran mochte nach 1945 zunächst nicht gelingen. Die ersten Publikationen, in denen die Donau und die anliegenden Orte beschrieben wurden, pflegten das Lager und was dort geschehen war, zu verdrängen. Die Marktgemeinde wurde entweder überhaupt übergangen, 78 oder sie wurde historisch erklärt. 79 Das Konzentrationslager blieb unerwähnt. Erst nach und nach begann eine Auseinandersetzung mit dem Ort und dem Geschehen. Je größer die zeitliche Distanz, desto eher findet das Grauen seinen Weg ins Bewusstsein der Autorinnen und Autoren, bis es - vor allem in den literarischen Schilderungen - zu einem zentralen Thema einer Donaureise wird, das eine intensive Reflexion erfährt. 80 Der Stadt Linz schenkte Hitler große Aufmerksamkeit. Einerseits maß er ihr als Wirtschaftsstandort große Bedeutung bei: Das wichtigste Projekt war die Hütte Linz der „Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten .Hermann Göring' Linz", mit deren Errichtung schon im Mai 1938 begonnen wurde. Der erste Hochofen wurde 1941 angeblasen, das Erz dazu kam vom steirischen Erzberg. Es war aber auch geplant, auf der Donau ukrainisches Erz anzuliefern und die Distribution der Produkte zu organisieren. 81 Ebenfalls bereits im Mai 1938 wurde mit dem Ausbau der Schiffswerft, die bereits stillgelegt worden war, begonnen. 82 Mit der Stadt hatte Adolf Hitler große Pläne: „Er führte hierzu aus, daß heute Budapest die weitaus schönste Donaustadt sei. Es sei deshalb sein Ehrgeiz, eine deutsche Donaustadt in Linz aufzubauen, die Budapest weit überrage und den eindeutigen Beweis erbringe, daß der deutsche Geist und das deutsche Kunstschaffen dem magyarischen weit überlegen seien. [...] Außerdem sei es ja auch - geschichtlich gesehen - eine unverzeihliche Parodie, wenn die Hauptstadt der Nachfahren König Etzels und seiner Hunnen die schönste Stadt am Nibelungenstrom wäre [...]."83 Die Pläne Hitlers, für den der Linzer Schlossberg auch als Alterssitz - mit Blick zur Donau - vorgesehen war,84 sahen eine Prachtstraße und großartige Veranstaltungs- und Museumsprojekte vor, für die vorsorglich Kunstgegenstände

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zusammengeraubt wurden. Tatsächlich ist aber außer der Nibelungenbrücke, die zwischen Linz und der eingemeindeten Stadt Urfahr eine alte Eisenbrücke ersetzte, wenig gebaut worden. Die Begrenzungen der Brücke sollten Reiterstatuen von Siegfried, Kriemhild, Gunther und Brunhild übernehmen. Nördlich der Donau hätte Hitler noch die Statuen von Hagen und Volker aufstellen lassen.85 Wenn es möglich wäre, die grundgelegte Idee von der intentionsgebenden Ideologie zu trennen, so könnte man diese als durchaus reizvoll bezeichnen: Die als „Nibelungenstrom" apostrophierte Donau wird mit einer Brücke überspannt, die das Nibelungenlied zitiert. Das Bauwerk ist aber ohne flankierende Plastiken geblieben.

Hitler in Linz, 1938

So erinnert kaum etwas an einen größenwahnsinnigen Versuch, das Stadtbild durch gigantomanische faschistische Architektursymbolik zu zeichnen. Die „Göring-Werke" wurden bombardiert und präsentierten sich 1945 als „jammervoller Industriefriedhof". 86 Es blieb zunächst unklar, ob sie wieder aufgebaut werden sollten. Die Entscheidung fiel schließlich im Sinne einer Wiedererrichtung unter dem Namen „Vereinigte Österreichische Edelstahlwerke". 87

Wien an der Donau Linz wird, wenn die Stadt mit Wien verglichen wird, gewöhnlich mangelnde Urbanität nachgesagt, dafür aber hebt man seine Lage unmittelbar an der Do-

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ñau hervor. Umgekehrt wird für Wien gerne eine Anekdote kolportiert, wonach Touristinnen und Touristen, die an den Donaukanal kommen, häufig enttäuscht sind, weil sie ihn für die Donau selbst halten, die sie sich größer vorgestellt haben. Nicht nur deswegen, sondern auch weil die Bezeichnung „Donaukanal" Vorstellungen von Schmutz und Gestank wecken könnte, wurde bereits vorgeschlagen, den Flussarm in „Kleine Donau" umzubenennen. Da es diesbezüglich kein einheitliches Vorgehen der städtischen Institutionen gibt, wurde die Idee nicht umgesetzt. Die Tourismus-taugliche Bezeichnung hat sich offenbar auch noch nicht herumgesprochen. In der Tat wird es heute von der Wiener Stadtplanung als Nachteil empfunden, dass das Zentrum der Stadt so weit vom eigentlichen Fluss entfernt ist. Das Problem wurde schon im 19. Jahrhundert als solches gesehen und diskutiert: „Wien gehört ans Wasser! Daß es sich nach der Landseite entwickelt, ist höchstens das erste, nimmer mehr aber das letzte Wort der Stadterweiterung. Jede Stadt, welche an einem schiffbaren Fluß liegt, sogar Bamberg, Würzburg und Ulm nicht ausgenommen, besitzt verhältnismäßig mehr Hafenleben als Wien. Die Landstadt Wien hatte von jeher eine kindische Furcht, sich die Füße naß zu machen, und überließ den Boden, der ihr natürlicher ist, den Praterhirschen und den geduldeten Juden. Der Wörth, wo Kaiser Leopold die letzteren aufnahm und die ersteren hegte, das ist Wiens Wurzelstock." 88 1890 brachte der niederösterreichische Statthalter, Erich Graf Kielmansegg, den Vorschlag ein, Floridsdorf zur Landeshauptstadt von Niederösterreich zu machen. Systematisch geplant und ausgebaut hätte die neue Stadt zur „Bühne einer neuen niederösterreichischen Identität" werden sollen.89 Eine zweite, auch für Wien selbst reizvolle Idee, die dahinter stand, war, aus der entstehenden Agglomeration ähnlich wie in Budapest eine zusammenwachsende Doppelstadt werden zu lassen. Noch weit mehr als Linz ist Wien mit dem Problem konfrontiert, bei jedem städtebaulichen Vergleich mit Budapest den Kürzeren zu ziehen. Und Schuld hat die Donau. Das Floridsdorf-Projekt kam jedenfalls über einen Kirchenneubau, dessen außergewöhnlich große Dimensionierung auf diese Idee zurück gehen soll, nicht hinaus. 1904 wurde Floridsdorf in Wien eingemeindet, als Teil „Transdanubiens" nahm man es bis in die jüngere Vergangenheit stadtplanerisch kaum wahr. Auch der Feuilletonist Anton Kuh hat sich 1923 dieses Problems angenommen. In einem Essay konstatiert er für Wien seit dem Ende der Monarchie einen zunehmenden Verlust an Weltoffenheit. Als Methaphern wählt er einerseits die Donau, die ihm für Internationalität und andererseits das Gebirge, das ihm für Provinzialismus steht: „Als Wien noch die Reichshaupt- und Residenzstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie war, da hieß die Stadt mit ihrem vollen volkksschul-geographischen Titel: Wien an der Donau. Der unendliche Strom war das Wichtige, der, Industrie schaffend, Handel bindend, von Europas Herz fast bis zu Asiens Pforte reichte und das Reich in der Mitte

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durchschnitt. Dieser Strom war die Zufahrtstraße der Stadt, ihr Vorrang in der Staatsgeographie. Das Wien, das nichts als Hauptstadt ist, liegt nur noch an der Donau, wird von ihr flüchtig mitbeschenkt, aber es gebietet nicht mehr über sie. Es hat an dem Strom nicht mehr Recht als das frühere Königreich Serbien oder irgendeines der balkanischen Unterländer, denen er noch zum Abschied den Boden stärkt. Man sagt nicht mehr ,Wien an der Donau', und wenn man es sagt, so hat es nicht mehr den weitgebietenden, imperialen Glanz. Wien liegt einfach nicht mehr an der Donau - wo es ja strenggenommen niemals lag sondern am Gebirge [..,]."90 Mit dem am Schluss eingeschobenen Halbsatz irrt Kuh allerdings. Einstmals war Wien sehr wohl an der Donau gelegen - nämlich an beziehungsweise zwischen einzelnen Armen. Der Umstand dass sich der Fluss nach dem Durchbruch zwischen Leopoldsberg und Bisamberg in mehrere Läufe teilte und eine ausgedehnte Aulandschaft bildete, wird überhaupt für die Entstehung der Siedlung verantwortlich gemacht. Lange Zeit war an dieser Stelle weit und breit die einzige Möglichkeit, die Donau zu überqueren. Die heutige Innere Stadt ist am rechten Rand dieser Flusslandschaft angelegt worden. Eine ganze Reihe von Straßen weisen mit ihren Namen noch heute auf das Wasser hin, obwohl sie längst weit davon entfernt liegen: Salzgries, Rossau, Spittelau u.a.. 91 Auch die Kirche „Maria am Gestade" ist weit vom Fluss entfernt, befand sich aber einst an der Einmündung des Ottakringer Baches in einen Donauarm, einer Anlegestelle für Fischer, Holzflößer und Schiffsleute. 92 Der Fluss ist seit dem Mittelalter mehr und mehr nach Nordosten gewandert, hat sich gewissermaßen von Wien wegbewegt. Das hat dazu geführt, dass man große Anstrengungen unternehmen musste, um den rechten Arm, den später so genannten Donaukanal also, weiterhin für Schiffe offen zu halten. Die Donau bei Wien hat sich aber weiterhin in mehrere Arme verzweigt. Erst mit der großen Regulierung von 1870 wurde dies grundlegend geändert. Deshalb unterscheidet sich die Wahrnehmung von Wien hinsichtlich seiner Lage an der Donau zu einer früheren Zeit denn auch grundlegend von jener in später entstandenen Darstellungen: „Die Stadt Wien hat eine so herrliche Lage, wie man sie gewiß bei so großen Residenz-Städten selten finden wird. Man sieht in ihren nächsten Umgebungen die majestätische Donau, welche hier in mehrere Arme getheilt ist, und in ihrer Nähe die fruchtbaren Felder, und die angenehmen Wäldchen von Laubholz. Durch einen Arm der Donau von der Nordseite her fließt ein Theil dieses Stromes zwischen der Stadt und den Vorstädten durch, welche mittels vortrefflicher Brücken mit einander verbunden sind. Dadurch wird der Verkehr auf der Donau ungemein befördert, indem auf diese Weise die Waren hart an der Stadt auf dem so genannten Schänzel ausund eingeladen werden können." 93 So vermittelt der bereits genannte Johann Bundschue seine Eindrücke, als er 1814, zur Zeit des Wiener Kongresses, mit dem Schiff Donau abwärts fahrend in Wien ankommt. Noch davor zeigt er sich beeindruckt vom „großen

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Marktflecken" Nussdorf, wo er schöne Sommerhäuser reicher Wienerinnen und Wiener und guten Weinbau ausmacht. 94 Bundschue schildert dann, wie sich die Donau ausbreitet und in verschiedene Arme teilt, „welche viele lieblich Inseln bilden, auf denen einige von Wiens Vorstädten, und darunter die [...] Leopoldstadt, erbaut sind." 95 Man muss sich wohl dieses andere Erscheinungsbild vor Augen halten, wenn man in Texten aus der Zeit vor 1870 mit „Wien" und „Donau" als einem Begriffspaar konfrontiert ist. Weiter flussabwärts ist die Wiener Aulandschaft auch nach der Regulierung durch die - nunmehr stehenden - Donauarme geprägt geblieben. Dem Kronprinzen Rudolf mochte die Gegend - namentlich die Kaiser-Ebersdorfer und Alberner Auen, also das rechte Flussufer - aber gar nicht mehr gefallen. Er fand „nur mehr niedere Junghölzer" vor, „von träge fließenden und stehenden Gewässern umgeben, die des Sommers arge Fieberdünste aus faulenden Pflanzenstoffen entwickeln." Die Bewohner der Gegend werden gar als „halb in Wasser halb auf dem Lande lebende [...] amphibienartige [...] Menschen" beschrieben, deren Haupterwerb das „Fischen, ein reines Glücksspiel in Anbetracht der mangelhaften Utensilien", sei. Daneben lebten sie von „etwas Schlingenstellen, Auffinden der hier in reicher Zahl angeschwemmten Leichname, Baumklettern und Nesterausnehmen". 96 Die zeitlich, räumlich, individuell und im jeweiligen Kontext sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen der Donau betreffen bekanntermaßen auch eine eigentlich objektive Größe - nämlich deren Farbe. Blau ist sie vor allem deswegen, weil der Wiener Lyriker Karl Isidor Beck „Nachtigallen kamen an die Donau, an die schöne blaue Donau" gedichtet hat. Genauer gesagt: Blau ist sie, weil diese Zeile Johann Strauß dazu inspirierte, einem Walzer den Titel „An der schönen Blauen Donau" zu geben, und dieser Walzer auf dem Umweg über die Weltausstellung von Paris 186797 ein riesiger Erfolg und späterhin die „heimliche" Bundeshymne Österreichs wurde. Aber die nüchternen Beobachterinnen und Beobachter sind sich einig: blau ist sie nicht! Sie ist blond, sagen die Ungarn: „a szöke Duna", und auch die Franzosen: „Le beau Danube blond". 98 Exakter differenziert Walter Schneefuß - nur nebenbei eigentlich, denn angetreten ist er 1942, um nationalsozialistischen Anspruch auf die Donau zu erheben: Bei Pressburg habe sie die „schöne hellgrüne Farbe ihres Oberlaufes [...] verloren und ist gelb und hellbraun geworden". 99 Schließlich tritt auch noch ein Vermittler auf, für den recht eigentlich das „Donauwunder die Farbe des Stromes" ist: „[...] wer aus der Nähe sein Wasser betrachtet, fragt sich vergebens, warum Dichter immer wieder von der blauen Donau singen; denn ihr Wasser scheint lauchgrün. Aber wer von einer der Höhen, die oft fast senkrecht in das Tal abstürzen, auf das hin- und herwallende Wasserband hinunterschaut, zu dem blinkt es in wundervollem tiefem Blau empor." 100 Da zeigt sich: So unklar es ist, ob die Donau ein Ort ist oder nicht, so umstritten ihr Ursprung und angezweifelt der Name, so wenig sicher die

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Geschichtsbilder sind, für die die Donau steht - ebenso ungeklärt ist die Frage ihrer Farbe. 1

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Adalbert Stifter, Witiko, in: Stifters Werke in zwei Bänden, hg. von I. E. Walter, 2, Wien 1951, 703. Hans Carossa, Der Tag des jungen Arztes, in: ders., Sämtliche Werke 2, Frankfurt/Main 1962, 479-635, hier 515. Emst Trost, Die Donau. Lebenslauf eines Stromes, Wien-München-Zürich 1968. Claudio Magris, Donau. Biographie eines Flusses, München-Wien 1988 [Original: Milano 1986], Die auf den Fluss bezogene Lebenslauf-Metapher hat eine weiter zurückreichende Tradition (vgl. Victor Pietschmann, Die Donau. Deutschlands anderer Schicksalsstrom, Jena 1938, 5, wo der Autor erklärt, keine „ausführliche Lebensgeschichte" anbieten zu können und die Leser auf spätere Zeiten vertröstet) und wird wohl auch für andere Flüsse verwendet. Trost, Donau, 137. Franz Gschnitzer, „Der Inn". Ursprung - Vereinigung - Hohe Zeit, Innsbruck 1947, 20. Joh.[ann] Jacob Scheuchzer, Hydrographia Helvetica. Beschreibung Der Seen / Flüssen / Brünnen / Warmen und Kalten Bäderen / und anderen Mineral-Wasseren Des Schweitzerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands Zweyter Theil, Zürich 1717, 31. Ebd. Vgl. Andreas Dusl, Wien am Inn. Ein etymologischer Essay, in: Das Wiener Donaubuch. Ein Führer durch Alltag und Geschichte, hg. von Hubert Ch. Ehalt, Manfred Chobot und Gero Fischer, o.O. [Wien] 1987, 132-138, hier 135. Johann Bundschue, Reise auf der Donau von Ulm nach Wien, und von da über Salzburg und durch das nördliche Tirol nach Kempten, gemacht im September und Oktober 1814, Kempten 1815, 119. Tabula Peutingeriana. Codex Vindobonensis 324. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat, Graz 1976, Segment III. Magris, Donau, 142. Ebd. Die Grafik des Buches von Magris gibt aber auch einen Hinweis darauf, dass mitunter der Glaube durch die Korrektur der Wirklichkeit unterstützt werden mag: Die Innenseiten der Buchdeckel zeigen eine Karte von der Donau und deren Einzugsgebiet. Daraufkommt der Inn nicht aus dem Engadin, sondern aus der Silvretta. Oberhalb von Landeck folgt er auf der Karte fälschlicherweise dem Lauf der Trisanna, ist also seines eigentlichen, wesentlich längeren, Oberlaufs in Graubünden beraubt. Trost, Donau, 121. Ebd. Ebd., 121 f. Péter Esterházy, Donau abwärts, Salzburg-Wien 1992, die Zitate 92 und 93. Die Angaben für die Messstelle Hofkirchen stammen aus dem Deutschen Gewässerkundlichen Jahrbuch, Donaugebiet, 1996, hg. vom Bayerischen Landesamt für Wasserwirtschaft, München. Die Abflusswerte der Messstelle Schärding sind publiziert im Hydrographischen Jahrbuch von Österreich 105, 1997, hg. vom Hydrographischen Zentralbüro im Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Wien 2000. Der Streit um die Donauquelle ist ebenfalls bereits in der Hydrographia Helvetica des Johann Jacob Scheuchzer thematisiert worden, der sich aber als hierfür nicht zuständig erklärt und das Problem „denen Teutschen Scribenten übergeben" möchte: Scheuchzer, Hydrographia Helvetica, 31. Esterházy, Donau abwärts, 56. Vgl. www.ach.de/einzugsgebiet.htm (Zugriff: 11.10.2004). Gschnitzer, „Der Inn", 21. Nikola Langreiter und Christian Stadelmann, Den Quellen entgegen. Talportrait Val Sesis, in: Naturfreund. Magazin für Freizeit & Umwelt 91 (1998), 1, 22-24, hier 24.

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Diese Strategie der „Beweisführung" wurde bereits im Vorarlberger Landtag der Jahre 1906/7 verfolgt: Stenographische Sitzungsberichte, Beilage 61, zit.n. Markus Barnay, Die Erfindung des Vorarlbergers. Ethnizität und Landesbewußtsein im 19. und 20. Jahrhundert, Bregenz 1988,

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Eduard Widmoser, Das ist Österreich. Ein Blick auf seine Lage, Geschichte und Kultur, in: Österreichische Landschaft, Mensch und Kultur, Innsbruck 1952, 5. Friedrich Ratzel, Politische Geographie (durchges. u. erg. v. Eugen Oberhummer), MünchenBerlin 31923, 528. Ebd., 532. Ebd., 223. Vgl. Karl Vocelka, Die „Donaumonarchie", in: Die Donau. Facetten eines europäischen Stromes. Katalog zur oberösterreichischen Landesausstellung 1994 in Engelhartszell, hg. vom Kulturreferat der OÖ. Landesregierung, Linz 1994, 125-132, hier 128. Richard von Kralik-Meyrswalden, Das unbekannte Österreich. Eine Entdeckungsfahrt, Wien 1917, die Zitate 4 f. Emil Brix, Mitteleuropa als Kulturraum und politische Landschaft, in: Die Donau. Facetten eines europäischen Stroms, 148-153, hier 148. Das Zitat ist auf die Bücher von Magris, Donau, und Esterházy, Donau abwärts, bezogen. Vgl. Ratzel, Politische Geographie, 529. Vocelka, Die „Donaumonarchie", 130. Vgl. Laurentius Freyberger, Donautal unter weiß-blauen Rauten und rot-weiß-rotem Banner, Hamburg 1948, 7. Sinngemäß Pierre Burlaud in einem Referat zum Thema „Die Donau als Realität und Mythologem", gehalten am 20. April 2001 im Rahmen eines Workshops unter dem Titel „Europäische Gedächtnisorte (Lieux de mémoire) in Mitteleuropa" im Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Institut in Wien. Franz Pisecky, Österreich und die Donau, Wien 1965, 5. Roman Sandgruber, Wirtschaftsraum Donau, in: Die Donau. Facetten eines europäischen Stroms, 210-215, hier 214. Zu den Bauvorhaben Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, 364, 392 und 410. Ausführlich Gerhard Strohmeier, „Umwelt": Österreichische Mythen, Topoi und Erinnerungen. Die Gedächtnisorte „Zwentendorf", „Hainburg" und „das Waldsterben", in: Memoria Austriae I. Menschen-Mythen-Zeiten, hg. von Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, Wien 2004, 357-391. Vgl. Schönes Österreich. Heimatschutz zwischen Ästhetik und Ideologie. Begleitpublikation zu einer Sonderausstellung vom 26. Oktober 1995 bis 25. Februar 1996, Wien 1995. Vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang Kos im vorliegenden Band; kurz auch Susanne Breuss, Karin Liebhart und Andreas Pribersky, Inszenierungen. Stichwörter zu Österreich, Wien 1995, 176-180. Volker Derschmidt, Die Donau und die Volksmusik, in: Die Donau. Facetten eines europäischen Stroms, 316-318. Vgl. Susanne Schaber, Literaturreisen. Die Donau von Passau bis Wien, Stuttgart-Dresden 1993, 65 u. dies., Donausagen, in: Die Donau. Facetten eines europäischen Stroms, 246-248. Sammeleditionen sind z.B.: Donau-Sagen vom Ursprung bis zur Mündung des Stromes. Ein poetisches Pilgerbuch, hg. von Ludwig Foglar, Wien 1860 oder - nach 1945 - Josef Pöttinger, Donausagen, Wien 1964, die mehrfach aufgelegt worden sind. Vgl. Gertraud Steiner, Die Heimat-Macher. Kino in Österreich 1946-1966, Wien 1987, 70. Ebd., 68. Vgl. Paulus Ebner und Franz Marksteiner, Die Donau im Spielfilm, in: Die Donau. Facetten eines europäischen Stroms, 319-324, hier 321. Steiner, Heimat-Macher, 126. Ebd., 206 u. 208. Vgl. Werner Hoffmann, Nibelungenlied, Stuttgart-Weimar 61992, 4-10.

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Vgl. Joseph Kyselak, Skizzen einer Fußreise durch Oesterreich, Steiermark, Kärnthen, Salzburg, Berchtesgaden, Tirol und Baiern nach Wien, nebst einer romantisch pittoresken Darstellung mehrerer Ritterburgen und ihrer Volkssagen, Gebirgsgegenden und Eisglätscher auf dieser Wanderung, unternommen im Jahre 1825, Zweiter Theil, Wien 1829, bes. 253. Vgl. z.B. Magris, Donau, 179 oder Trost, Donau, 217. Zit. n. Trost, Donau, 215. Die Stelle habe ich im Original nicht finden können; immerhin aber eine andere, in der der Wein aus Stein „zu den mittelmäßigen österreich'schen Weinen gezählt wird". (Panorama der Oesterreichischen Monarchie, oder malerisch-romantisches Denkbuch der schönsten und merkwürdigsten Gegenden derselben, der Gletscher, Hochgebirge, Alpenseen und Wasserfälle, bedeutender Städte mit ihren Kathedralen, Pallästen und alterthümlichen Bauwerken, berühmter Badeörter, Schlösser, Burgen und Ruinen, so wie der interessantesten Donau-Ansichten mit Stahlstichen den vorzüglichsten englischen und deutschen Künstlern eigends zu diesem Werke aufgenommenen Originalzeichnungen, Bd. 3, Pesth-Leipzig 1839, 85.) Kurier, Bundeslandausgabe NÖ, 1.12.2000, 9. Ebd. Vgl. im folgenden die Regionalausgaben des Kurier, NÖ West, 5.5.2000, 9,18.10.2000,10 u. 5.12.2000, 9. Vgl. Schaber, Literaturreisen, 13. Trost, Donau, 190. Das Gebäude hätte ursprünglich „Ostmarkhalle" heißen sollen. Durch regelmäßige Treffen der Deutschen Volksunion (DVU) wurde die Nibelungenhalle in jüngerer Zeit zusätzlich symbolisch belastet. Von 1975 bis 2003 fanden dort die alljährlichen Aschermittwochs-Veranstaltungen der Christlich-Sozialen Union (CSU) statt. 2004 wurde die Nibelungenhalle abgerissen; sie weicht einem Konzerthaus. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.3.2003, 3 u. die tageszeitung, 16.2.2004, 7. Schaber, Literaturreisen, 12 f. Trost, Donau, die folgenden Zitate 191-193. Magris, Donau, 30. Richard von Kralik, Das Donaugold des heiligen Severin. Weihefestspiel mit Chören, Steyl/ Kaldenkirchen 1906. Richard Kralik, Tage und Werke. Lebenserinnerungen, Wien 1922, 147. Hans Baumann, Rüdiger von Bechelaren. Das Passauer Nibelungenspiel, Jena 1939. Ders., Der Strom, Jena 1941. Ratzel, Politische Geographie, 530. Ebd., 523. Arthur Dix, Politische Geographie. Weltpolitisches Handbuch, München-Berlin 2 1923, die folgenden Zitate 571-573. Der gegenwärtige Stand der Donauraum-Pläne. Eine Sammlung grundsätzlicher Abhandlungen und Pressestimmen, hg. von Roman Procházka, Wien 1937. Pietschmann, Die Donau. Walter Hoffmann, Großdeutschland im Donauraum, Berlin 1939. K.[urt] P.[eter] Karfeld und Artur Kuhnert, Die Deutsche Donau. Ein Farbbild-Buch, Leipzig 1939. Josef Keindl, Einige Züge aus der geographischen Individualität des Donauraumes, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft Wien in der Deutschen Geographischen Gesellschaft / Organ der deutschen Geographischen Gesellschaft für den europäischen Südosten, 85, H. 7-10, 1942, 273-282, hier 273 u. 277; Hoffmann, Großdeutschland im Donauraum, 4; Walter Schneefuß, Donauräume und Donaureiche, Wien-Leipzig 1942, 108. Pietschmann, Die Donau, 20. Vgl. Harry Slapnicka, Zwischen „Anschluß" und Befreiung. Die Ideologisierung der Donau am Beispiel von Linz und „Oberdonau", in: Die Donau. Facetten eines europäischen Stroms, 137-141, hier 137. Vgl. ebd. und Handbuch für Donaureisende, hg. von der ersten Donau-Dampfschiffahrts-

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Gesellschaft, Jubiläumsausgabe 1835 / 1935. o.O. [Wien] o.J. [1935], 142, wo jenes Haus in Passau als Sehenswürdigkeit eingetragen ist, in dem Hitler 1892 bis 1894 zwei Jahre lang gewohnt hatte. 78 Vgl. Das Österreich Buch, hg. von Ernst Marboe, Wien 1948. 79 Vgl. Freyberger, Donautal, 75 f. 80 Vgl. Magris, Donau, 165-169 oder Esterházy, Donau abwärts, 9 2 - 9 7 . Über den Memorialcharakter von Mauthausen ausführlich bei Heidemarie Uhi und Bertrand Perz, Gedächtnisorte im „Kampf um die Erinnerung". Gedenkstätten für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs und für die Opfer des Nationalsozialismus, in: Memoria Austriae I, hg. von Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, bes. 560-579. 81 Vgl. Sandgruber, Ökonomie und Politik, 411. 82 Ebd., 410. 83 Notizen von Henry Picker vom 26. April 1942 über Aussagen Adolf Hitlers bei einem Abendessen in der Berliner Reichskanzlei, an dem auch einer der in Linz tätigen Architekten, Albert Speer, teilnahm. Zit. n. Trost, Donau, 148. 84 Slapnicka, Zwischen „Anschluß" und Befreiung, 138 f. 85 Ebd., 140. 86 Ernst Koref, der spätere Bürgermeister von Linz, zit. n. Beginn - Zerstörung - Aufbau: VÖEST. Ein zeitgeschichtlicher Abriß zum 40. Jahrestag der Gründung des Werkes Linz der VOESTAlpine, o.O. o.J. [1985], 20. 87 Zur Bedeutung der VOEST für das österreichische Selbstverständnis vgl. den Beitrag von André Pfoertner in: Memoria Austriae II. Unternehmer - Firmen - Produkte, hg. von Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, Wien 2005. 88 Ferdinand Kürnberger, zit. n. Manfried Welan, Donauraum - Utopie und Realität, in: Das Wiener Donaubuch, hg. v. Hubert Ch. Ehalt u.a., 124-127, hier 124 f. 89 Alfred Komarek, Rings um Wien. Gegenwelten zur Metropole. Wien 1996, 30. 90 Anton Kuh, Wien am Gebirge, in: Zeitgeist im Literatur-Café. Feuilletons, Essays und Publizistik. Neue Sammlung, hg. v. Ulrike Lehner, Wien 1983, 108 f., hier 108. 91 Vgl. Michael Buchmann, Historische Entwicklung des Donauraumes, in: Das Wiener Donaubuch, hg. von Hubert Ch. Ehalt u.a., 12-35, insbes. 13-15 und 19. 92 Alfred Missong, Heiliges Wien. Ein Führer durch Wiens Kirchen und Kapellen, Wien 31970, 40. 93 Bundschue, Reise auf der Donau von Ulm nach Wien, 161. Vgl. u.a. auch Des Berliner Freidenkers Friedrich Nicolai bedeutsame Aufzeichnungen über das Katholische Deutschland 1781, Leipzig-Wien, 1921, 68 f. 94 Bundschue, Reise auf der Donau von Ulm nach Wien, 158. 95 Ebd., 159. 96 Rudolf von Habsburg, Die Donau-Auen von Wien bis zur ungarischen Grenze, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild - Wien und Niederösterreich, 2. Abtheilung: Niederösterreich, Wien 1888, 97-122, hier 104 f. bzw. 112. 97 Vgl. Trost, Donau, 246. 98 Magris, Donau, 204. 99 Schneefuß, Donauräume und Donaureiche, 8. 100 freyberger, Donautal, 12.

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„Salzburg - das ist mehr als der bloße Name einer Stadt"* Salzburg-Mythen in historischer Perspektive Mythen sind verschlüsselte Botschaften und repräsentieren kulturelles und soziales Gedächtnis. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind Mythen freilich Geschichten, „deren Wahrheitsanspruch nicht allzu ernst genommen wird, die aber auf den Rezipienten eine große Faszination ausüben". 1 Dies hängt mit einer begrifflichen Unschärfe zusammen, denn meist bleibt unklar, was „Mythen" von jenen alltäglichen „Image"-Merkmalen unterscheidet, die auf klischeehaften Einstellungen, Wertungen und Stereotypen beruhen. Roland Barthes sah das Eigentümliche des Mythos in der Umwandlung eines Sinns in Form. Der Mythos entziehe dem Objekt, von dem er spricht, jeden geschichtlichen Sinn. Die Geschichte verflüchtige sich aus ihm, bis man nur noch zu genießen brauche, „ohne sich zu fragen, woher dieses schöne Objekt komme". 2 Nach Barthes Definition ist „Salzburg" zweifelsfrei ein Wort von mythischer Dimension. Im Rückblick auf eine zwei Jahrhunderte zurückreichende Tradition hymnischer Stadtbeschreibungen, welche der Außenwelt das Bild eines unveränderlichen, von Schönheit, Kunst und Kultur gleichermaßen geprägten Naturzustandes vorspiegelt, scheint die Annahme eines „Mythos Salzburg" durchaus berechtigt. „Salzburg - das ist mehr als der bloße Name einer Stadt", schreibt der Autor eines populären Österreich-Bildbandes der 1950er-Jahre, „es ist ein Wort, ein Anruf gleichsam, der eine Fülle von Bildern und Erlebnissen erweckt: eine bezaubernde, vielfältige Landschaft, eine lange ruhmreiche Geschichte und eine ganze Welt von Kunstwerken. Vieles war Voraussetzung und vieles mußte geschehen, damit dieses Wort seinen reichen Inhalt bekommen hat." 3 Mythen erscheinen zeitlos, sind aber keineswegs geschichtslos. Thema dieses Beitrages sind daher jene Prozesse einer Imagebildung und Traditionsstiftung, die zur Ausformung eines in seiner heutigen Erscheinungsform durchaus vielgestaltigen „Mythos Salzburg" führten. Nimmt man die Chronologie der Ereignisse als Maßstab, dann bietet sich die „Entdeckung" der Stadt und ihrer Landschaft durch die Maler der Romantik als Ausgangspunkt der Darstellung an. Weitere Themen sind unter anderem die Transformation des Bildes der „schö-

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nen Stadt" in die gängigen Klischees der modernen Tourismuswerbung sowie die erfolgreiche Aneignung des Namens und der Person Mozarts durch eine regionale Kulturelite, wodurch Salzburg zum „Gedächtnisort" für den heute weltweit bekanntesten Österreicher avancierte. 4 Jüngste der drei wesentlichen Komponenten des überregional wirksamen „Salzburgbildes" ist schließlich der auf älteren Mythos-Komponenten aufbauende und um Konzepte einer kulturellen Erneuerung im Geist des Fin de Siècle angereicherte „Salzburger Mythos" Hugo von Hofmannsthals, der in weiterer Folge in den touristisch vermarktbaren „Mythos der Salzburger Festspiele" übergehen sollte. Im Dienst der österreichischen Tourismuswerbung erfüllt der „Mythos Salzburg" seit Jahrzehnten eine wesentliche Funktion. Obwohl das historische Stadtbild ausschließlich auf den Gestaltungswillen der geistlichen Landesfürsten zurückgeht und keine Identifikation mit der habsburgisch-österreichischen Geschichte zulässt, zählt die berühmte Silhouette mit ihren vielen Türmen und Kuppeln, überragt von der Festung Hohensalzburg, zu den am häufigsten reproduzierten Bildstereotypen Österreichs. Kein Bildband, Reiseführer oder Fremdenverkehrsprospekt über Österreich kommt ohne die berühmte Salzburger Stadtansicht aus, die daher als ein besonders markantes „Symbol Österreichs" gelten kann. 5 Der „Mythos Salzburg" prägt aber nicht nur das Image der Stadt in der ganzen Welt, er ist auch Teil jenes Selbstbilds vom „Kulturland Österreich", das im langwierigen Prozess der Herausbildung einer österreichischen Identität zunehmend an Gewicht gewann. Wenn Salzburg heute nach Wien von allen österreichischen Städten im kollektiven Bewusstsein der Österreicher am stärksten verhaftet ist,6 dann vor allem aufgrund der Strahlkraft des „Mythos Salzburg". Mythen sind aber nicht nur langlebig, sondern verfügen zudem über eine erstaunliche Fähigkeit zur inhaltlichen Ausweitung. Die Person Mozarts wurde bekanntlich erst Mitte des 19. Jahrhunderts im Verlauf einer erfolgreichen Selbstinszenierung des Salzburger Bürgertums in den Mythos der „schönen Stadt" integriert. Als Konsequenz dieser inhaltlichen Ausweitung gewann die Stadt Ende des 19. Jahrhunderts eine Aura der Musikalität hinzu, welche der Festspielidee den Boden bereitete. Gerade am Beispiel der Geschichte der Festspielgründung zeigt sich, dass jedes Raumbild vor allem ein Werk der Imagination ist: „Wenn eine bestimmte Vorstellung von einer Landschaft, ein Mythos, eine Vision, sich an einem bestimmten Ort etabliert", verschwimmen „die Kategorien in eigentümlicher Weise [...]: Metaphern werden wirklicher als das, worauf sie Bezug nehmen, und werden tatsächlich ein Teil der Szenerie." 7 Im Folgenden geht es um die Geschichte der Wahrnehmung des städtischen Raums von Salzburg, also um die Ausformung und Tradierung jenes mythischen Salzburgbildes, das seit zwei Jahrhunderten in mannigfaltigen Variationen als Vision einer arkadischen Einheit von Natur und Kultur das Image der Stadt prägt. Die Gültigkeit von Roland Barthes' These, dass es die Funktion von Mythen sei, „das Reale zu entleeren", 8 bestätigt sich im Falle Salzburgs bis

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in die Gegenwart. Von der „märchenhaften Irrealität" Salzburgs sprach - um nur ein Beispiel zu zitieren - der ungarische Schriftsteller und langjährige Staatspräsident Árpád Göncz in der Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele von 1993. „Die Nacht senkte sich auf uns hernieder, nur das Zwielicht und die Wogen der Engelsmusik umschwebten uns. [...] Seit damals bedeutet Salzburg für mich all das - Musik der Engel, die durch die Wände sickert, Glühen, das sich langsam in Dunkelheit verliert, vibrierende Lichter drunten im Wasser des Flusses." 9

Die romantische „Entdeckung" Salzburgs Dem Bild der „schönen Stadt" Salzburg liegt die Vision eines idealen naturräumlich-städtebaulichen Ensembles zugrunde, die Ausdruck eines sich um 1800 vollziehenden Wandels im Verhältnis des Menschen zur Natur war. Erst in dieser Phase des Übergangs von der Spätaufklärung zur Romantik wurden die Stadt und ihre Umgebung „entdeckt" und in den Rang einer idealtypischen Landschaft von ästhetischem Rang erhoben. Dieser Vorgang war keineswegs einmalig. Zur selben Zeit entdeckten die Romantiker die rheinische Landschaft, die Schönheiten des Salzkammerguts und Berchtesgadens sowie der Alpen in ihrer Gesamtheit. Auch Heidelberg und Nürnberg rückten damals als schöne Städte ins Bewusstsein zeitgenössischer Besucher. 10 Das Eindringen romantischer Empfindungen in das Salzburgbild der aufgeklärten Rationalisten zeichnete sich bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert ab. Erste Ansätze zur einer Neubewertung des Stadtbildes finden sich in den Schriften der Salzburger Spätaufklärung. Lorenz Hübner, Salzburgs führender Aufklärer, beschrieb in seinen Topographien und Reisehandbüchern Land und Leute, Staat und Wirtschaft zwar noch in altertümlicher Weise. Dennoch findet sich bei ihm über eine enzyklopädische Auflistung des Sehens- und Wissenswerten hinaus bereits jene Form von ästhetisch-empfindsamer Landschaftsschilderung, die dem romantischen Naturempfinden einer neuen Generation von Bildungsreisenden entgegenkam." Auch Franz Michael Vierthalers topographische Hauptwerke, die „Geographie von Salzburg" (1796) und seine „Reisen durch Salzburg" (1799), stimulierten das Interesse einer bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit an Salzburg. 12 Vierthaler billigte Salzburg 1799 „eine schöne romantische Lage" zu. „Mahler und Nichtmahler" würden überrascht von „schönsten Ansichten", die Salzburg von allen Seiten biete, der Mönchsberg gleiche „einem großen Englischen Garten". 13 Als dritter bedeutender Literat der Spätaufklärung brachte schließlich der Domherr Friedrich Graf Spaur Salzburg einem breiten Leserkreis näher. Seine „Reise durch Oberdeutschland", die „Nachrichten über das Erzstift Salzburg" und vor allem die „Spaziergänge in den Umgebungen von Salzburg" vermittelten ein gleichermaßen durch rationale Beobachtung und romantisches Empfinden geprägtes Bild von Stadt und Land. 14

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Die Salzburger Gelehrten thematisierten in ihren Werken erstmals die landschaftlichen Schönheiten von Stadt und Land Salzburg und wurden dadurch zu Wegbereitern der späteren „Entdeckung" Salzburgs durch die Maler und Zeichner der Romantik. Der Blick der meisten Salzburgbesucher an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war jedoch landschaftsbezogen. Die Stadt selbst blieb dem großen Ganzen, also der umgebenden Naturlandschaft untergeordnet. Noch war ihr in den Augen der Reisenden nicht das Image einer „schönen Stadt" eigen. Im Gegenteil: Manche Zeitgenossen schilderten um 1800 den Kontrast zwischen Stadt und umgebender Landschaft in krassen Worten. Der Naturforscher und Schriftsteller Joseph August Schultes etwa war 1804 für Salzburg nicht zu begeistern. Sein Bericht lautete: „Nirgendwo habe ich in diesem erzbischöflichen Sitz etwas gefunden, das mir Bewunderung abgerungen [...]; ich möchte lieber auf seinem Schloßberg eingesperrt, als in der Stadt selbst Bürgermeister seyn." 15

Die „Entdeckung" Salzburgs als „Motiv", Radierung von Friedrich Wilhelm Schlotterbeck in „Malerische Reise durch das Herzogthum Salzburg und das Fürstenthum Berchtesgaden", 1805

Die zwiespältige Bewertung der Stadt kontrastierte mit einer schier grenzenlosen Bewunderung der sie umgebenden Landschaft. Schultes etwa fehlte nur das Meer, um Salzburg mit dem Paradies gleichzusetzen: „Die schönste Gegend und die Gegend um Salzburg sind mir Synonyme geworden; ich kann mir das

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eine ohne das andere nicht denken. Die Gegend um Salzburg ist der Vereinigungspunct aller Naturschönheiten, die die üppigste Phantasie sich auf dem Continente wünschen kann." 16 Die Begeisterung der Literaten übertrug sich allmählich auf die Reisenden. Auf der Suche nach der romantischen Ideallandschaft strömten zwischen 1800 und 1816 - ungeachtet der kriegerischen Ereignisse - zahlreiche Besucher an die Salzach. 17 Unter ihnen auch illustre Gäste wie der Berliner Architekt Carl Friedrich Schinkel, dessen Zeichnungen die Salzburgisch-Berchtesgadner Landschaft erstmals „in die Sphäre deutscher Landschaftskunst" erhoben.18 Aber erst nach dem Ende der napoleonischen Kriege ging jene Saat auf, der das literarische Interesse für die Stadt den Boden bereitet hatte. Dann aber ging es schnell. Binnen weniger Jahre wurde Salzburg zum Treffpunkt einer neuen Generation von Künstlern, denen die Stadt und ihre Umgebung mehr als jeder andere Ort in Österreichs als „die äußerste Steigerung des romantischen Ideals" galten.19 Die künstlerische Entdeckung Salzburgs ging von Wien aus, wo sich nach 1810 um die Brüder Ferdinand und Friedrich Olivier eine vom Geist der religiösen Romantik, der Naturphilosophie Schellings und Schlegels beeinflusste deutsche Künstlerkolonie gebildet hatte. Angeregt durch die Alpenlandschaften Schinkels reiste Ferdinand Olivier in den Sommern 1815 und 1817 nach Salzburg, wo er, der eigentlich am Weg nach Italien gewesen war, seine künstlerische Bestimmung fand. Oliviers Vorbild machte Schule und bewog eine Reihe weiterer deutscher Künstler zum Besuch Salzburgs und seiner Umgebung. Sie hoben mit ihren Gemälden, Zeichnungen und Lithographien die Gegend von Salzburg „aus der Begrenzung lokal-topographischer Vedutendarstellung in den Bereich deutscher Landschaftskunst empor". 20 Aus romantischer Perspektive bildeten Stadt und umgebende Landschaft nun eine untrennbare Einheit. Auf der „Flucht aus der Gegenwart in eine schönere Vergangenheit" 21 fühlten die Maler und Zeichner der Romantik sich ausgerechnet vom Flair der herabgekommenen und wirtschaftlich stagnierenden alten Stadt angezogen. Hatte die „öde, tote, menschenleere Stadt" 22 für einen Teil der Reisenden nach wie vor nur wenig Anziehendes an sich, so sahen die Künstler sich gerade hier am Ziel ihrer Wünsche. Indem sie Salzburg als „malerische" Stadt entdeckten, in der die Vergangenheit durch die Zufälle der Geschichte konserviert schien, wurde Salzburg für sie gleichsam zum „Erinnerungsraum", denn: „je leerer der Ort von gegenwärtigem Leben, desto lesbarer die in ihm eingegrabenen Spuren der Vergangenheit". 23 Besonders nahe der Vergangenheit fühlten sich die romantisch-nazarenischen Künstler auf dem St. Peters-Friedhof. Der Friedhof mit seinen in den Felsen eingehauenen Katakomben und den gotischen Kapellen wurde so zum „heiligen Ort" einer imaginierten Tradition, die je nach Bedarf bis in die christliche Antike oder in das deutsche Mittelalter zurückgeführt wurde. Während das barocke Salzburg mit seinen prächtigen Kirchen, Palästen und Brunnen bei der Motivauswahl weitgehend ausgespart blieb, wetteiferten die

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Künstler in der Darstellung dieses Friedhofs. 24 Beliebte Motive des mittelalterlichen Salzburg waren außerdem das Kloster Nonnberg und die Festung. Ludwig Richter, der Meister der volkstümlich-idyllischen Buchillustration, kam ebenfalls nach Salzburg. Er knüpfte in seinen „Malerischen Ansichten aus den Umgebungen von Salzburg und Berchtesgaden" (1823) thematisch zwar an Olivier an, der Gegenstand wandte sich bei ihm jedoch ins Gemütvoll-Beschauliche. Fast im Sinne späterer Fremdenverkehrswerbung kündigte sich bei ihm der Übergang zu jenen biedermeierlichen Darstellungen an, die mit Vorliebe die Sonnenseite der Landschaft, ihre Freundlichkeit und einladende Heiterkeit abbilden. 25 Seit damals ist die „künstlerische Verhüllung einer realen Welt" ein epochenübergreifender Grundtenor zahlreicher Salzburg-Bilder. 26 Um 1830 war die künstlerische Entdeckung von Land und Stadt Salzburg abgeschlossen. Was auf literarischem Gebiet bereits in den 1790er-Jahren eingesetzt hatte, war von den Malern und Zeichnern der Romantik vollendet worden. Doch auf dem Weg von der Aufklärung zur Romantik hatte sich der Blick verengt. Während die Gelehrten noch bemüht gewesen waren, die Realität des Lebens in ihren Schriften einzufangen, vermittelten die darstellenden Künstler das „Bild" einer von der „Natur mit der üppigsten Vegetation und den mannigfaltigsten Reizen" 27 ausgestatteten Region. Damit ebneten sie aber dem „Betteldorf mit leeren Palästen" 28 - wie die Salzburger ihre Stadt selbst bezeichneten - den Aufstieg zur Touristenstadt. Innerhalb weniger Jahrzehnte verwandelten sich die elitären Visionen der Maler und Zeichner der Romantik in breitenwirksame Klischees. Nicht mehr die Annäherung von Mensch und Natur war jetzt das vorrangige Anliegen, sondern die Befriedigung des Geschmacks eines reiselustigen internationalen Publikums.

Leitbilder des Belle-Epoque-Tourismus Mitte des 19. Jahrhunderts sah die lokale Salzburger Wirtschaftselite den Zeitpunkt gekommen, Stadtbild und Stadtlandschaft touristisch im großem Maßstab zu verwerten. Hatten die Zeichner und Maler der Romantik die Salzachstadt gerade wegen ihrer Verträumtheit und idyllischen Antiquiertheit geschätzt, ging es nun um die Ausgestaltung der „schönen Stadt" zu einem jener zeitgenössisch so beliebten künstlichen Paradiese, die vor allem den spezifischen Bedürfnissen einer zahlungskräftigen „Crème der vornehmen Welt" zu entsprechen hatten. 29 Mit dem Aufstieg des bürgerlichen Tourismus entstand ein wachsender Markt für Ansichten, Veduten, Stahlstichen sowie Panoramen, und kaum eine andere Stadt dieser Größenordnung erfreute sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Motiv einer ähnlichen Beliebtheit wie Salzburg. 30 Am Ende der Biedermeierära war das Bild der „schönen Stadt" Salzburg im Bewusstsein einer überregionalen bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit bereits fest verankert. Im Nach-

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hinein gesehen hatten sich die Maler gleichsam als „Locationhunter des zukünftigen Tourismus" betätigt, deren Bilder sich nun zu tourismustauglichen Images verfestigten, die „von einer Stafette moderner Medien [...] vom Faltpanorama bis zum Souvenirglas mit aufgemalter Vedute" weitergetragen wurden.31 Erfolgreichster Propagandist Salzburgs war Johann Michael Sattler, der angeblich auf Anregung von Kaiser Franz I. - gemeinsam mit den Wiener Malern Friedrich Loos und Johann Schindler ein monumentales Panorama der Stadt und der sie umgebenden Landschaft anfertigte. Sattler stellte das Panorama auf jahrelangen Rundreisen (1829 bis 1839) in fast allen größeren Städten Europas aus, was - so kann man vermuten - Salzburgs Ruf als attraktives Reiseziel mehr als alles andere festigte. 32 Neue Formen der Landschaftswahrnehmung zogen unter dem Einfluss des Tourismus regelmäßig eine „Verdünnung und Popularisierung von Leitmotiven", also den „Übergang von der ästhetischen Erfahrung zum sozialen Muster" nach sich. 33 „Natur" und „Geschichte" gaben von nun an nur noch den Rahmen ab für die standardisierten touristischen Leitbilder des bürgerlichen Zeitalters. Die Reisenden beschränkten ihre Wahrnehmung auf einige wenige Teilbereiche des „Fremden", wobei der touristische Blick das „Fremde" auf seine reizauslösende Funktion reduzierte, so dass es letztlich nur noch „als schönes, kurioses, exotisches, wichtiges oder in irgendeiner anderen Form als m e r k würdig' ausgezeichnetes Detail" in Erscheinung trat.34 Auch im Salzburgtourismus fand diese Einengung der Perspektive statt. Die große Mehrheit der Fremden folgte den in Reisehandbüchern und -führern vorgezeichneten Pfaden und wusste somit im vorhinein, was sie in Salzburg erwartete. Vor allem die handlichen Reiseführer von Murray, Baedeker oder Meyer, die den Touristen des bürgerlichen Zeitalters nicht nur mit praktischen Reiseanleitungen versorgten, sondern durch bildhafte Beschreibungen die Auswahl der Destinationen beeinflussten, trugen schon frühzeitig zur Verfestigung des Mythos der „schönen Stadt" bei. Murrays „Handbook for Travellers in Southern Germany" von 1840 schwelgte in Superlativen: „It is impossible to give in a verbal description any satisfactory idea of the romantic beauties of the surrounding district: it is hardly possible to exaggerate them. Salzburg is allowed by common consent to be the most beautiful spot in Germany; and many travellers will not hesitate to prefer the scenery of the surrounding mountains, lakes and valleys, to the finest parts of Switzerland." 35 Auch Baedekers „Handbuch für Reisende in Deutschland und dem Österreichischen Kaiserstaate" warb für Salzburgs „so reizende, unvergleichliche Lage", mit der sich „keine deutsche Stadt" messen könne. 36 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts zählten Salzburg und seine Umgebung zu den populärsten Landschaften des Alpenraums und darüber hinaus ganz Mitteleuropas. Die Kunstausstellungen dieser Zeit wurden von Salzburg- und Salzkammergut-Bildern geradezu überschwemmt, woran gerade die künstlerisch

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bedeutenden Bindeglieder zwischen Romantik und Biedermeier wie Friedrich Loos, Friedrich Gauermann, Rudolf Alt, Thomas Ender und der in Aigen bei Salzburg ansässige Johann Fischbach nicht unwesentlich beteiligt waren. 37 Der Anteil der Salzburger an der Ausformung des Mythos der „schönen Stadt" war gering. Angesichts der sozialen und ökonomischen Stagnation des städtischen Gemeinwesens verlief seine Einpflanzung in die Salzburger Szenerie nur schleppend. Während die gebildete Welt die Reize der rückständigen Kleinstadt längst lieben gelernt hatte, träumte die regionale fortschrittsgläubige Elite ganz unromantisch von Stadterweiterung und Modernisierung. Als dann seit den frühen 1860er-Jahren die politischen Rahmenbedingungen eine autonome Gestaltung der kommunalen Entwicklung ermöglichten, nahm das liberale Bürgertum im Rahmen der Stadterweiterung die radikale Umgestaltung des barocken Stadtbildes ohne zu zögern in Angriff. In Abkehr von der romantischen Vision der „schönen Stadt" schuf sich die kommunale Elite ein neues „Raumbild", das geprägt war von der Entwicklungsutopie eines Verkehrs- und wirtschaftsgerechten, hygienischen und darüber hinaus mit ausreichend Wohnraum ausgestatteten städtischen Gemeinwesens. 38 Zum ersten Mal formierte sich aber auch eine Opposition gegen den fortschrittsgläubigen Optimismus der kommunalen Elite und die in seinem Geist vollzogenen Eingriffe in die historische Substanz der Stadt. War es zunächst der Maler und Gemeinderat Josef Mayburger beinahe allein, der mit scharfer Zunge gegen die in verschiedenen Stadterweiterungsplänen projektierte radikale Zerstörung des überkommenen Stadtbildes ankämpfte, 3 9 so stießen Entfestigung und Stadterweiterung in den folgenden Jahrzehnten auf den heftigen Widerstand breiter bildungsbürgerlicher Kreise. Diese hatten sich im 1862 gegründeten „Stadtverschônerungs-Comité" mit der Zielsetzung zusammengefunden, die Schönheiten Salzburgs zu pflegen und der Nachwelt zu erhalten. 40 Wie sehr sich der seit der gründerzeitlichen Stadterweiterung virulente Gegensatz zwischen „Bewahrern" und „Erneuerern" auch als Kampf um die Durchsetzung neuer Raumbilder interpretieren lässt, zeigte sich vor allem in Verkehrsfragen. In der Planungsdiskussion wurde auf die „Erhaltung des historischen Charakters der Stadt" vordergründig zwar großer Wert gelegt, de facto sollten jedoch nach Meinung sowohl der Stadtverwaltung wie auch der meisten Kommunalpolitiker „alte historische Bauten dann demoliert werden, wenn es die unbedingte Notwendigkeit aus Verkehrsrücksichten" nahe legte.41 Unter jenen Baulichkeiten, die zwischen 1890 und 1914 „aus Verkehrsrücksichten" zerstört wurden, 4 2 befand sich auch das Linzer- oder Sebastianstor. 43 Die Abrissbefürworter diffamierten das alte Tor gleichsam als bauliches Relikt feudaler Unterdrückung und machten damit klar, dass die Demolierung des Bauwerks für sie nicht nur ein funktionaler Akt war, sondern gleichsam eine symbolische Bildzerstörung, die dem Konzept einer modernen Stadt zum Durchbruch verhelfen sollte: „Zerfallen müssen die alten trotzigen Thürme, Mauern und Thore, um neuen frischen Gebilden Platz zu machen. Schon ist Salzburg

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fast überall von diesen Ketten befreit und konnte Dank der Schleifung der Festungswerke blühen und gedeihen." 44 Wie immer bei der Ausformung neuer „Raumbilder" identifizierten auch die Initiatoren der Salzburger Stadterweiterung „die Materialität des Räumlichen" mit einem neuen „Konzept des richtigen Lebens". 45 Für die Generation der gründerzeitlichen Stadterweiterung standen die baulichen Eingriffe in das malerische Stadtbild im Übrigen keineswegs im Widerspruch zur romantischen Vision der „schönen Stadt". Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass gerade in dieser Zeit einer umfassenden Modernisierung des städtischen Gemeinwesens sowie tiefgreifender Veränderungen auf gesamtstaatlicher Ebene jenes Schlagwort in der Öffentlichkeit auftauchte, das Salzburg und seine Umgebung von nun an mit der Autorität des weltberühmten Gelehrten Alexander von Humboldt gleichsam in den Rang eines Weltkulturdenkmals emporhob: „Die Gegenden von Salzburg, Neapel und Constantinopel halte ich für die schönsten der Erde." 46 Obwohl die Authentizität des Humboldtwortes nie nachgewiesen wurde, stieg dieses binnen Kurzem zum bis heute meistzitierten Salzburglob auf. Dank Humboldt verfestigte sich Salzburgs Image als „schöne Stadt" im Weltmaßstab. 47 Die aufstrebende „Saisonstadt" warb von nun an höchst erfolgreich mit dem Namen des renommierten Naturforschers und Reisenden. Auch vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen erwies sich das Humboldtwort als überaus nützlich. War es bis zur Gründung des Zweiten deutschen Kaiserreichs üblich gewesen, die „Gegend von Salzburg" bzw. die Stadt als „schönste" Gegend oder Stadt Deutschlands (mitunter auch nur als „eine der schönsten" Gegenden oder Städte Deutschlands) zu bezeichnen, so bot die Einreihung Salzburgs unter die weltschönsten Gegenden einen vollwertigen Ersatz für den Verlust der gesamtdeutschen Perspektive. Für Baedekers Reiseführer blieb Salzburg zwar vorerst noch eine „deutsche Stadt", während sich in Meyers Reisebüchern in den 1890er-Jahren bereits die Formulierung „schönstgelegene Stadt Österreichs" findet. 48 Die Salzburger Tourismuswerbung bevorzugt dagegen seit mehr als hundert Jahren Humboldts angebliches Salzburglob.

Deutsches Rom Bis in die Gegenwart preisen Reiseführer und Stadtbeschreibungen die Stadt als „deutsches Rom", 49 ein Ehrentitel, auf den im übrigen auch Bamberg, Erfurt, Fulda und vor allem München Anspruch erheben. Städtenamen wie „Elbflorenz" (Dresden) oder „Spreeathen" (Berlin) sind ebenfalls Ausdruck einer nördlich der Alpen weit verbreiteten „Sehnsucht nach mediterraner Lebensart und Gestaltung". 5 0 Die Bezeichnung Salzburgs als „Rom des Nordens" scheint erstmals 1699 in einem Schreiben des Architekten Giovanni Gaspare Zucalli auf und dient seitdem in verschiedenen Variationen zur Charakterisie-

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rung der urbanistischen Neugestaltung Salzburgs im barocken Geiste. 5 ' Der Vergleich mit Rom drückt aus, dass in der erzbischöflichen Residenzstadt nicht die profanen Monumente des höfischen Absolutismus dominieren, sondern wie auch in anderen bedeutenden Zentren der Gegenreformation - „Kuppeln und Türme der Kirchen sowie die Marien- und Dreifaltigkeitssäulen". Der ideologische Hintergrund dieser religiös-absolutistischen Architekturpolitik verlor im Laufe des 18. Jahrhunderts zwar seine Aktualität. Die baulichen Zeugnisse der „landesfürstlichen Repräsentation und kultischen Stadtplanung" 52 im Zeitalter des Barock forderten spätere Generationen aber stets aufs neue zur Stellungnahme heraus. Spätestens seit dem Zeitalter der Romantik standen die barocke Szenerie und der „italienischen Charakter" des Salzburger Stadtbilds im Widerstreit der Meinungen. Die Auseinandersetzung um den angeblich „italienischen Charakter" des Stadtbildes eskalierte im Kontext eines aus dem Historismus herausgewachsenen Geschichtsverständnisses, das den Menschen und seine Werke als Ergebnis historischer Prozesse interpretierte. Indem die Erkenntnis der Gegenwart auf die der Geschichte angewiesen war, forderte das nach übereinstimmender Meinung außergewöhnliche Bild der Stadt den Betrachter zwangsläufig dazu auf, der „steingewordenen Geschichte" Salzburgs gegenüber Position zu beziehen. Salzburgs Besucher bewerteten das bauliche Erscheinungsbild jedoch vor dem Hintergrund ihrer persönlichen und kollektiven Identität oder bereits beeinflusst von vorgeformten Geschichtsbildern. Salzburgs tatsächliche Geschichte spielte dem gegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Ob das Stadtbild nun als „italienisch" oder „deutsch", als von geistlichen Fürsten oder vom städtischen Bürgertum geprägt erschien, ob der Baustil des Barock hoch oder gering bewertet wurde, war zumeist weniger Ergebnis wissenschaftlicher Analyse als Ausfluss des jeweiligen Zeitgeistes. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts registrierte eine immer zahlreicher nach Salzburg strömende Schar von Besuchern die „Merkwürdigkeit" des von einer Vielzahl von geistlichen Bauwerken und durch die Dominanz des barocken Baustils geprägten Stadtbildes. Der Hinweis auf das italienische Erscheinungsbild der Stadt wurde zum obligatorischen Bestandteil fast jeder Stadtbeschreibung. Die Empfindungen beim Anblick der barocken Stadt waren jedoch durchaus ambivalent. Italiensehnsucht und Vorbehalte gegen das „welsche" Ambiente der Bischofsstadt standen miteinander im Widerstreit. Im „deutschen Rom", wie es Schultes 1804 nannte, falle „ein gewisser pfäffischer Ton" auf. 53 Der protestantische Siebenbürger Sachse Stephan Joseph Roth wiederum bemängelte 1815, dass die italienische Bauart von Salzburg kein Satteldach kenne. Einem Fremden, der daran nicht gewöhnt sei, mische sich folglich „selbst beim Anblick des schönsten Gebäudes etwas Widerliches, Fremdes" ein.54 Das Barock galt als Stilrichtung einer gottlob überwundenen Epoche. Kirchen und Paläste der Fürstenstadt stießen daher nicht selten auf Unverständnis. Vor allem am Dom, dem herausragenden Bauwerk des barocken Ensembles,

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schieden sich die Geister. Zwar imponierten dessen Größe und Pracht, die architektonische Konzeption hinterließ jedoch einen zwiespältigen Eindruck. Während der Katholik Franz Schubert ein „himmlisches Gebäude, nach dem Muster der Peterskirche in Rom" 5 5 vor sich sah, fand August Graf Platen, dass der Dom „nicht die mindeste Sehnsucht nach R o m " errege, „um das Original zu sehen". 5 6 Auch der Engländer Turnbull beschrieb, wie viele andere Betrachter, die Kathedrale „ohne alle äußere Schönheit". 5 7 Die übrigen im „modernen italienischen Styl" erbauten Kirchen Salzburgs fanden ebenfalls kaum Anerkennung. Fischer von Erlachs Kollegienkirche verrate - so Mathias Koch - „das Gepräge der künstlichen Zusammensetzung" sogar „noch deutlicher" als der Dom. 5 8 Diese radikale Ablehnung von Kunst und Kultur des Barock stand bei vielen Salzburgbesuchern in Kontrast zur romantischen Verehrung des Mittelalters, aus der eine ausgeprägte Vorliebe für den „altdeutschen Styl" erwuchs. Die Stiftskirche von St. Peter, die Margarethenkapelle, die Franziskanerkirche sowie vor allem die Kirche von Stift Nonnberg galten als die herausragenden sakralen Bauwerke Salzburgs. In dieser romantischen Grunddisposition gestaltete sich insbesondere der Besuch des vormals wenig beachteten St. PetersFriedhofs zu einem Ereignis. 5 9 Nach der Jahrhundertmitte steigerte sich die Geringschätzung der barocken Architektur bei einigen Autoren bis zur gänzlichen Abwertung einzelner Baudenkmäler. Unter den Vorzeichen des Kulturkampfs zwischen katholischer Kirche und liberalem Zeitgeist diffamierte etwa Adolph Bühlers vielgelesener „Historisch-topographischer Führer durch die Stadt und ihre Umgebung" von 1873 die Kollegienkirche als typisches Beispiel des „gedankenmüde(n), auf das ,Opfer des gesunden Menschenverstandes' gegründete(n) ,Jesuitenstyl(s)"'. 6 0 Aus deutschnationaler Perspektive wiederum war der künstlerische Einfluss Italiens auf die Gestaltung des Salzburger Stadtbildes nur schwer mit dem Ziel nationaler Traditionsstiftung vereinbar. „National" gesinnte Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tendierten zu einer offenen oder zumindest latenten Abwertung des barocken Ambientes. Einer der renommiertesten unter ihnen war der Geograph und Historiker Eduard Richter, dessen Salzburg-Beschreibungen sich unter anderem in den großen historisch-ethnographischen Sammelwerken der späten Habsburgermonarchie finden. Im Salzburgband der Reihe „Die Länder Österreich-Ungarns in Wort und Bild" schreibt Richter, dass „hohe Häuser, enge Straßen, aber eine Menge von Kirchen und Thürmen, große freie Plätze" einen „Gesamteindruck vermittelten, der sich von dem fast aller anderen deutschen Städte wesentlich" unterscheide. „Überall herrschen die Formen der Baukunst des 17. Jahrhunderts, der späten Renaissance, vor", und nur durch Abbildungen ließe sich von „dem eigenthümlich prunkhaften, südlichen, undeutschen Charakter dieses Stiles eine Vorstellung geben; die Feder vermag es nur schwer. Auch der Hausbau ist undeutsch." 61

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Ein unterschwelliges nationales Sentiment kennzeichnete auch Benno Imendörffers Salzburger „Städtebild" in der 1913 erschienenen „Illustrierten Volks- und Vaterlandskunde des Österreichischen Kaiserstaates", einem speziell dem „Deutsch-Österreicher" als dem „eigentliche(n) Österreicher par excellence" gewidmeten Sammelwerk. Imendörffer leugnet zwar nicht, dass Salzburg seinen baulichen Charakter „in erster Linie durch die Renaissance und durch das Barock" erhalten habe. Die „Stürme der Reformationszeit" hätten jedoch „den Faden der kunstgeschichtlichen Entwicklung des Stadtbildes" zerrissen: „Eine wahre Flut neuer Prunkbauten, vorwiegend weltlicher Natur, überschwemmte Salzburg." 62 Diese provinziellen Ressentiments gegen das barocke Stadtbild wirkten schon vor der Jahrhundertwende reichlich antiquiert. Seit den 1890er-Jahren entdeckten Denkmalschutz- und Heimatschutzbewegung angesichts der rasanten baulichen Umgestaltung zahlreicher Städte das „künstlerische Städtebild". 63 Der Prozess der „Bildwerdung" zog auch in Salzburg eine intensivere Beschäftigung mit der Altstadt nach sich, die nun erstmals in ihrer Ganzheit als Ensemble gesehen wurde. Zum einen ging es ganz pragmatisch um die Abwehr von baulichen Eingriffen in das überlieferte Gefüge der Altstadt, wobei die Salzburger Auseinandersetzungen die gesamtösterreichische Denkmalschutzdiskussion maßgeblich beeinflussten. 64 Darüber hinaus zog der moderne „Denkmalkultus" auch eine „seelische Anteilnahme an den Denkmalen als Dokumenten der das Werden und Vergehen bestimmenden Entwicklungsgesetze" nach sich, 65 was letztlich dazu führte, das Stadtbild als Materialisation eines innewohnenden Wesens zu begreifen. 66 Alois Riegl, um die Jahrhundertwende Österreichs bedeutendster Kunsthistoriker und Denkmalschützer, interpretierte aus diesem Geiste Salzburgs Italianità als keineswegs oberflächlich aufgesetztes Architekturprinzip, sondern als inneres Wesensmerkmal des Stadtorganismus: „Es handelt sich also in Salzburg [...] um eine verhältnismäßig schroffe, absichtliche Verpflanzung südlichen Wesens nach dem Norden, wofür eben in Salzburg die Bedingungen vorhanden gewesen sein müssen, wie sonst nirgends im gewesenen römischen Reiche deutscher Nation. [...] Da wir aber das Deutsche von anderen Städten her gewöhnt sind, stößt uns vor allem das ungewohnte Italienische auf, und darum finden wir den italienischen Charakter im ganzen so vorherrschend." 67 Hermann Bahr, der Riegls Abhandlung als „die wichtigste Schrift über Salzburg" 68 bezeichnete, integrierte das Bild von „Deutschen Rom" in seine hymnischen Stadtbeschreibungen: „Wer zum erstenmal nach Salzburg kommt und, aus Bayern einfahrend, von der Eisenbahnbrücke plötzlich die Stadt erblickt, glaubt auf einmal über alle Berge zu sein, und mitten in Italien! Der Eindruck hat noch jeden überwältigt: mit einem Mal scheint Deutschland weg, der ganze Süden tut sich auf." 69 Einen letzten Höhepunkt sollte die ideologische Auseinandersetzung um den italienischen oder deutschen Charakter des Salzburger Stadtbildes schließlich - wie noch zu zeigen sein wird - in

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der NS-Zeit erreichen. Für den großen Spötter Thomas Bernhard schließlich war „Deutsches Rom" schlichtweg eine „herrliche Bezeichnung", denn „da ist ja alles drinnen. Rom, Kirche, deutsch, Nazi - alles. Eine wunderbare Mischung." 70

Mozartstadt Der Mythos der „schönen Stadt" war längst gefestigt, als Salzburg im späten Biedermeier zum Gedächtnisort für Wolfgang A. Mozart aufstieg. Das von der romantischen Kunstauffassung stilisierte Bild der „schönen Stadt" im schönen Land erfuhr nunmehr durch das Mozart-Motiv eine Erweiterung. Heute gilt Salzburg als „Mozartstadt" par excellence und zieht größten Nutzen aus der Popularität des Komponisten. Diese Einvernahmung Mozarts durch seine Geburtsstadt war in historischer Perspektive jedoch nicht selbstverständlich, sondern Ergebnis eines langwierigen und komplexen Aneignungs-Prozesses, der erst Jahrzehnte nach Mozarts Tod einsetzte und geprägt war durch ein Zusammenwirken lokaler Interessen und auswärtiger Einflüsse. Vor 1830 war Mozart weder für die Einwohner noch für die Besucher Salzburgs ein Thema. Wenn schon, dann war Salzburg zu dieser Zeit ein Gedächtnisort für Theophrastus Paracelsus. Sein Grabmal im St. Sebastians-Friedhof und das Wohnhaus in der Linzergasse stellten fixe Bestandteile jeder Stadtbesichtigung dar.71 Besondere Verehrung genoss auch der 1806 verstorbene Hofund Domorganist Michael Haydn. 72 An seinem Grabmonument in der Stiftskirche von St. Peter gedachte Franz Schubert 1825 des damals berühmten, heute jedoch fast vergessenen „Salzburger Haydns". 73 Mozart, sein großes Vorbild, erwähnte Schubert dagegen nicht, was darauf schließen lässt, dass ihm dessen Bezug zu Salzburg nicht bewusst war. Erst nach Jahrzehnten des kollektiven Vergessens setzte in den 1830erJahren die Implantation eines Mozart-Kultes ein, wobei der Ort die Erinnerung ebenso reaktivierte wie die Erinnerung den Ort.74 Die schrittweise Aneignung Mozarts durch Salzburg lässt sich aus zeitgenössischen Reiseberichten ablesen. Als erste Mozarttouristen gelten Vincent und Mary Novello. Das englische Ehepaar besuchte 1829 im Verlauf seiner „Mozart Pilgrimage" Schwester Nannerl und Witwe Constanze, die sich beide in Salzburg niedergelassen hatten. Aber erst Mitte der 1830er-Jahre häuften sich kritische Bemerkungen darüber, dass bis jetzt noch „keine Inschrift, keine Büste, keinerlei Denkmal die Aufmerksamkeit des Vorübergehenden" auf Mozarts Geburtshaus lenke. Die Verehrer des Komponisten müssten sich bei ihrer Spurensuche mit dem „sanften Schauer" begnügen, der sie im Durchgang vom Universitätsplatz zur Getreidegasse „durchrieselte", und „der nicht von der Zugluft herkam". 75 1839 wurde Mozarts Geburtshaus schließlich bereits als Attraktion angeführt, als ein Gebäude „vor dem schon mehrere Fremde niederknieten". 76 Um 1840 ließ der Kaufmann

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Thury das Geburtshaus neu herabputzen und mit der Aufschrift „Mozarts Geburtshaus" versehen. 77 Auch konnte von nun an die Wohnung der Mozarts im dritten Stock besichtigt werden.

Das Mozart-Denkmal in Salzburg, nach einem Gussmodell von Ludwig Schwanthaler, 1842

Mozarts Geburtshaus befriedigte das zeittypische Bedürfnis zur Monumentalisierung hehrer Ideale jedoch nur in geringem Ausmaß. Entscheidend für den Aufstieg Salzburgs zum Gedächtnisort für Mozart erwies sich vielmehr der Mitte der 1830er-Jahre von einer kleinen Gruppe von Salzburger Bildungsbürgern gefasste Entschluss, Mozarts Andenken durch Errichtung eines Denkmals dauerhaft zu festigen. In der Initiative zur Errichtung des Mozartdenkmals manifestierte sich nach Jahrzehnten fast völligen Stillstands des kulturellen und politischen Lebens in der Stadt Salzburg erstmals wieder eine zaghafte Regung bürgerlichen Selbstbewusstseins. Im Jahre 1835 regten der Salzburger Sigmund von Kofiern und der aus Posen eingewanderte Schriftsteller Julius Schilling die Errichtung eines Mozartdenkmals an und es gelang ihnen, die alteingesessene bürgerliche „Museums-Gesellschaft" für dieses Vorhaben zu gewinnen. 78 Im Herbst 1836 konstituierte sich der Vorstand dieses Vereins zugleich auch als Komitee zur Errichtung einer Mozartstatue in Salzburg. Gegen den Willen der k. k. Behörden, welche die Einwilligung zur Errichtung des Denkmals nach Möglichkeit verzögerten, 79 solidarisierte sich das deutsche Ausland mit dem Salzburger Vorhaben und ermöglichte durch großzügige Spenden seine Ausführung. 80 Der Erfolg, den Salzburgs Bürger mit der Enthüllung des Mozartdenkmals im September 1842 in Anwesenheit Tausender Festgäste aus dem

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ganzen deutschen Sprachraum feiern konnten, 81 stärkte das Selbstbewusstsein gegenüber dem Staat. Mit der feierlichen Enthüllung dieses ersten „historisch kulturellen Nationaldenkmals" 82 auf österreichischem Boden - darüber hinaus des ersten nicht für einen oder von einem Monarchen errichteten Denkmals im österreichischen Kaiserstaat 83 - hatte Salzburg außerdem der Reichshauptstadt Wien den Rang als „Mozartstadt" abgelaufen. Wie vielfach in dieser Zeit ging es auch bei der Salzburger Denkmalsinitiative um bürgerliche Selbstthematisierung durch „Invention of Tradition". 84 Der absolutistische Staat zog sich - nachdem das Denkmalprojekt eine unerwartete Eigendynamik entwickelt hatte - auf eine ambivalente Position zurück: Die Eigenständigkeit des bürgerlichen Denkmalskultus war der vormärzlichen Obrigkeit zwar zutiefst suspekt. Zugleich wusste der habsburgische Staat es aber zu schätzen, dass sich das Werk Mozarts „als klingendes Symbol" einer österreichisch-vaterländischen Opposition gegen den von außen kommenden „Fortschritt" anbot. 85 Welche Welten noch um 1840 zwischen den kulturellen Bestrebungen des städtischen Bürgertums und den Vorstellungen des „gemeinen" Volkes lagen, illustrieren die zahlreichen Anekdoten, die sich um die Errichtung des Mozart-Denkmals ranken. „Als sich in Salzburg das Mozartdenkmal erhob", so berichtet uns der Wiener Publizist Matthias Koch, „sagten sich die Landleute, nun sei offenbar das Weltende nahe und der Antichrist gekommen, denn es geschehe bereits, wie in der Schrift steht, dass man Götzenbilder aufrichtet, sie nach heidnischer Weise anbetet und Umgänge zu ihnen anstellt. ,Sie nennen die Statue Mozartstatue', sagten sie, ,es ist aber nichts anderes als ein Götzenbild; wer wäre denn dieser Mozart'". 86 Anstoß erregten die ungewohnten kulturellen Aktivitäten vor allem wegen der Vertreibung der Statue des populären heiligen Michael von dem nach ihm benannten Platz, dem heutigen Mozart-Platz. 87 Die für die Salzburger Denkmalinitiative kennzeichnende „Symbiose aus Bodenständigkeit und weltoffenem Heroenkult" nimmt sich aus späterer Perspektive zwar „wie eine Vorwegnahme des Salzburger Festspielgedankens aus", mündete zunächst aber in einen „skurrilen Provinzialismus". 88 Immerhin wurde das Selbstbewusstsein des Salzburger Bürgertums gegenüber dem vormärzlichen Staat durch die Errichtung des Mozartdenkmals gestärkt, was wiederum zur Folge hatte, dass mit einiger Verspätung die zeittypische bürgerliche Vereinsleidenschaft auch in Salzburg ausbrach. 89 Kulturelle Aktivitäten von überregionaler Bedeutung lassen sich in der nunmehrigen „Mozartstadt" Salzburg aber bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nachweisen. Man war zwar stolz auf den „großen Sohn" der Stadt, seine Werke wurden hier jedoch kaum aufgeführt. Jahre nach der Denkmalenthüllung meinte etwa die „Salzburger Zeitung", dass die Verehrer Mozarts in der Stadt denn doch nicht so gering wären, als „dass man es nicht wagen dürfte, auch in den Museumskonzerten manchmal eine Symphonie oder Ouverture unseres unsterblichen Tonmeisters dem Publikum vorzuführen". 90

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Unmittelbar spürbare Konsequenzen hatte die „Entdeckung" Mozarts in Salzburg jedoch für den Fremdenverkehr. Bereits in den 1840er-Jahren besuchten jährlich 50.000 bis 80.000 Fremde die kaum mehr als 16.000 Einwohner zählende Stadt und Mozarts Denkmal sowie sein Geburtshaus zählten zum fixen Kanon der Sehenswürdigkeiten. Noch immer wurde die Stadt übrigens in Reisenbeschreibungen und Fremdenführern zu den „schönsten Städte Deutschlands" 91 gezählt, eine Sicht, die durchaus in Einklang stand mit der nationalen Identität der liberalen städtischen Elite. Hatte sich Salzburgs Bürgertum schon anlässlich der bescheidenen Mozart-Säkularfeier von 1856 um die Herstellung eines gesamtdeutschen Zusammenhangs bemüht, so entwickelte sich die Stadt in den frühen 1860er-Jahren zu einem Zentrum großdeutscher Festkultur, die getragen war von der Hoffnung auf eine Einigung Deutschlands unter Einschluss Österreichs. Großartig inszeniert von Stadt und Bürgerschaft fand innerhalb weniger Jahre eine ganze Reihe von gesamtdeutschen Festen statt, wobei Fackelzüge zum Mozartdenkmal - nun auch ein „heiliger Ort" mit nationaler Integrationsfunktion - unverzichtbarer Bestandteil eines ausgefeilten Festrituals waren. 92 Ab den 1870er-Jahren flössen Sommerfrischentourismus und Mozartkult ineinander, was vor allem eine weitere Ausgestaltung Salzburgs als Erinnerungsraum für Mozart nach sich zog. 1882 erfolgte die Einrichtung eines Museums in Mozarts Geburtshaus in der Getreidegasse. Großer Beliebtheit bei den Touristen erfreute sich nun auch das damals auf dem Kapuzinerberg situierte „Zauberflötenhäuschen".93 Unmittelbare Vorläufer der späteren Salzburger Festspiele waren die Mozart gewidmeten acht Salzburger Musikfeste, die von der „Internationalen Stiftung Mozarteum" zwischen 1877 und 1910 in unregelmäßigen Abständen veranstaltet wurden. Sie standen in der spezifischen Tradition bürgerlicher Musikkultur, wie sie sich im Vormärz herausgebildet hatte, und die getragen war von der optimistischen Überzeugung, „daß es an den Musikfesten gelinge, die Kunst ins Leben der Gegenwart einzubinden, Musik, Wirtschaft und technischen Fortschritt zu einer Art Gesamtkunstwerk zu vereinen". 94 Tatsächlich verfügte die „Mozartstadt" vor dem Ersten Weltkrieg aber noch über kein eigenständiges kulturelles Profil, denn es fehlten im „brav provinzlerischen, verschlafenen und verfressenen Touristenstädtchen" 95 all jene wirtschaftlichen, intellektuellen und künstlerischen Ressourcen, die in den Urbanen Zentren die ästhetische Kultur beflügelten. Einige der ideellen Strömungen und organisatorischen Initiativen des späteren, durch die Festspielgründung von 1920 vollzogenen Aufstiegs zur kulturellen Metropole reichen in ihren Wurzeln jedoch weit in die Zeit vor 1914 zurück. Zum einen formierten sich auf regionaler Ebene jene bildungsbürgerlichen Kreise, die durch den Bau eines Festspielhauses eine kontinuierliche Abhaltung von Mozartfesten gewährleisten wollten, und zwar unter der Devise: „Wir schaffen ein österreichisches Bayreuth in Salzburg." 9 6 Zum anderen wurde die „schöne Stadt" im Fin de Siècle zum Refugium einer großstadtmüden intellektuellen Elite, die hier einen natur-

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gegeben Zusammenhang zwischen Mozarts Musik und dem Wesen der Stadt zu erkennen glaubte.

Die „Musikalisierung" des Stadtbildes Das Aufblühen des Salzburger „Mozart-Cultus" 97 wäre undenkbar gewesen ohne den Transfer kreativen kulturellen Potenzials aus der Reichshauptstadt Wien.98 Vor allem aus der Perspektive jener intellektueller Zeitströmungen, die eine Abkehr von der Kultur der Metropolen und den Rückzug in die Idylle der Provinz zum Programm erhoben, schien Salzburg nunmehr als der ideale Ort für eine kulturkonservative Rückbesinnung. Aber auch die Vertreter der damals nicht nur unter Konservativen populären Heimatschutzbewegung sahen in bewusster Abgrenzung gegenüber der „gewaltsame(n) Art" des modernen Städtebaus „alles Heil auf diesem Gebiet in den alten Städten". Es gehe darum - so heißt es in einer Schrift über das Stadtbild von Salzburg - „an ihnen immer wieder zu lernen, in ihrer Schönheit zu schwelgen, ihre künstlerische Wesenheit in uns aufzunehmen und solchermaßen, vollgesogen von der Poesie der Vergangenheit, gestärkt und gerüstet mit ihr einzutreten ins moderne Leben [...]"."

Gefälliges Jugendstil-Biedermeier als Inbegriff populärer Salzburgillustration: Ulf Seidl, Mozarts Geburts- und Wohnhaus, um 1930

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Der „schönen Stadt" wurde von nun an eine spezifische „Aura" zugeschrieben. Darüber hinaus diente sie als „poetisches Modell", an dessen Herstellung, Verbreitung und unablässig wiederholter Beschwörung sich neben Schriftstellern und bildenden Künstlern auch die Tourismuswirtschaft sowie Politiker und Ideologen jeglicher Provenienz beteiligten. 100 So vermeinte bereits der junge Hugo von Hofmannsthal die besondere Stimmung der Stadt zu verspüren, als er 1891 der Zentenarfeier von Mozarts 100. Todestag beiwohnte. Im Empfinden eines spezifischen Zusammenhangs von Architektur, Raum und Geist kündigte sich bereits die romantisierende Salzburgsicht des späteren Festspielbegründers an: „Über den vornehmen Stiegenhäusern, den manierierten Sandsteingruppen, den überornamentierten Gartenhäuschen liegt der Duft einer wirklichen Individualität. Dieser Duft weht aus Mozarts jugendlichen Singspielen." Dem abendlichen Flaneur erschien „die ganze Stadt mit leise vibrierender, unaufhörlicher Musik erfüllt, ein enges Theater mit der drückenden, aufregenden Menschenfülle, die wir Großstädter nicht mehr kennen". 101 Salzburgs Image als „schöne Stadt" erfuhr im Fin de Siècle insofern eine neuromantische Überhöhung, als Literaten und Schriftsteller, Maler und Graphiker gerade hier eine einzigartige Symbiose von Landschaft, Architektur und Musik zu erkennen glaubten. Maßgeblichen Anteil an der Ausformung und Verbreitung dieses neuen Salzburg-Mythos hatte Hermann Bahr, der das überkommene romantisch-landschaftsbezogene Bild der „schönen Stadt" um eine spirituell überhöhte und zugleich musikalische Komponente erweiterte. Salzburgs Baudenkmäler sind nun „steingewordene Musik" 102 und plötzlich war es kein Zufall mehr, sondern naturhafte Bestimmung, dass Mozart in Salzburg geboren worden war: „Aber Salzburg kann lächelnd darauf antworten: ,Ob ich es nun verdienen mag oder nicht, die Mozartstadt zu heißen, bin ich es denn nicht? Seht mich doch nur an! Was ihr an mir mit Augen seht, lässt Mozart euch in Tönen hören!'. [...] Und wenn Mozart in Lüneburg geboren wäre, Salzburg bliebe doch die Mozartstadt. Salzburg war schon Mozart, bevor er noch geboren war. Er hat es nur erlauscht. Er hat es nur erklingen lassen." 103 Literaten und bildende Künstler des Fin de Siècle beschworen in Wort und Bild den „unaussprechlichen Zauber" der Stadt, in der „Natur, ganz Geist geworden, Geist zu Stein".104 „Verweilen und Wiederkommen" lautete die Devise einer großstadtmüden Generation, deren ermattete Vertreter nach Salzburg kamen, um bei dieser „unvergleichlichen Geliebten" Ruhe und Entspannung zu finden. 105 In der Tourismuswerbung wiederum verengte sich das Image Salzburgs zum Klischeebild der „verwunschenen, von Mozart-Geigen und Glockenspielklängen widerhallenden Bischofstadt", 106 das von nun an in fast allen Salzburg-Beschreibungen vorherrschte. 107 Noch vor dem Ersten Weltkrieg entstand schließlich jenes Gedicht, welches nach 1945 „das poetische Modell für fast alle nachfolgenden Lieder, Sonette und Hymnen auf Salzburg" abgeben sollte: Georg Trakls „Die schöne Stadt". 108 Trakls impressionistisches Stimmungsbild stand zwar weit über den

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zeitgenössischen literarischen Salzburg-Ergüssen. Die dem Gedicht eigene „herbstliche" Grundstimmung von Dekadenz und Verfall war allerdings zeittypisch und manche der von ihm gewählten Topoi finden sich auch bei anderen, minder bedeutenden Autoren. Als „Traumpostkarten mit dem Abfertigungsstempel Salzburg" bezeichnete Heinz Politzer, der amerikanisch-österreichische Literaturhistoriker, Trakls frühe Gedichte. Bild reihe sich an Bildchen, aber „plötzlich ist der Traum zu Ende und eine Wirklichkeit bricht an, in der , Kirchen, Brücken und Spital Grauenvoll im Zwielicht stehen'". 109 Trakls emotionaler Bezug zu Salzburg war vielschichtig und ambivalent. Hatte er 1908 erfüllt von Heimweh aus Wien geschrieben: „Ich denke, der Kapuzinerberg ist schon im flammenden Rot des Herbstes aufgegangen. [...] Das Glockenspiel spielt die .letzte Rose' in den ernsten freundlichen Abend hinein, so süßbewegt, dass der Himmel sich ins Unendliche wölbt!", 110 so distanzierte er sich zwei Jahre später unmissverständlich vom neuromantischen Klischeebild der „schönen Stadt": „Man tut gut daran, sich gegen vollendete Schönheit zu wehren, davor einem nichts erübrigt als ein blödes Schauen." 1 " Wenn sich einige von Trakls Gedichte dennoch bis heute einer salzburgmythischen Instrumentalisierung erfreuen, dann im Sinne einer nostalgischen Assoziation mit der „alten" Stadt, in der die Vergangenheit „lebt". Bildlicher Ausdruck von Trakls „schöner Stadt" wären dann etwa die in ein düster stimmungsverklärendes Licht getauchten Stadtlandschaften Franz Hinterholzers oder die goldschweren Herbstbilder Leo Reiffensteins, die als bevorzugte Ansichtskartenmotive und als Illustrationen zahlreicher Salzburg-Führer das Image der Stadt im Zeitalter des bürgerlichen Tourismus prägten.112 Impressionistische Stimmungen prägten das Salzburgbild sogar im zeitgenössischen Schulbuch. Das „Deutsche Lesebuch für österreichische Realschulen" etwa schreibt der „alten, weltberühmten Stadt [...] eine gewisse Persönlichkeit" zu, „deren Grundzüge wir gewissermaßen mit menschlichen Maßstab messen" und schwelgt im übrigen in zeittypischen Klischees: „der letzte Klang des Abendläutens" - „Stille einer mächtigen Natur" - „auf den Gassen tönte Musik, es lag ein Stück von südlichem, fast von italienischem Leben über der Stadt"." 3 Unübertroffener Meister einer Apotheose Salzburgs in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war jedoch Hermann Bahr, der unermüdlich den naturgegebenen Zusammenhang von Stadt und Musik propagierte: „Wolf Dietrich hat, aus der Idee Ruperts, Salzburg erschaut, seine Vision hat Paris Lodron in Stein und Mozart dann in Musik gesetzt." 114 Die Beständigkeit dieser Vision über alle Epochenzäsuren hinweg belegt Heinz Politzers Festspielrede von 1976, in welcher der amerikanisch-österreichische Literaturhistoriker die „Einzigartigkeit dieser Stadt" darauf zurückführte, dass „sie eine Stätte durch Musik erlöster Dämonie" darstelle, „wo Traum, in Trauer eingewebt als Melodie die Flügel hebt und schwebt und so die wahre Heimstatt Georg Trakls und Wolfgang Amadeus Mozarts bildet". 115

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Der Mythos der Salzburger Festspiele Hugo von Hofmannsthal war geprägt von diesem neuromantischen Bild der Stadt, als er unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der alten Welt Salzburg als Schauplatz einer konservativen kulturellen Neuorientierung ausersah. Von der moralischen Sendung Salzburgs war nun die Rede, welche die seelischen Wunden des Ersten Weltkrieges heilen sollte.116 Das aus der Romantik überkommene Salzburg-Bild wurde erneuert und wie schon hundert Jahre zuvor hoffte eine verunsicherte Generation gerade hier eine „schuldlose , Unberührtheit' aus Geschichte, Tradition und Natur" vorzufinden. 117 Max Reinhardt, Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal hatten die Stadt Salzburg bereits vor dem Ersten Weltkrieg als idealen Ort einer kulturkonservativen Rückbesinnung entdeckt, als möglichen Schauplatz einer Abkehr von der Kultur der Metropolen und des Rückzugs in die Idylle der Provinz. 118 In eine konkrete Phase traten die Festspielpläne allerdings erst in den beiden letzten Kriegsjahren. In einem programmatischen Brief definierte Reinhardt im Juli 1918 erstmals die Grundzüge seiner Festspielkonzeption, die hinsichtlich des Zusammenhangs von Kunstwollen und Raum deutliche Bezüge auf Richard Wagners in Bayreuth verwirklichte Idee von der „schönen Einöde"" 9 als idealem Schauplatz von Festspielen erkennen ließ: „Mein Ziel ist" - so Reinhardt - „das, was ich in mehr als zwei Dezennien geschaffen, erneuert, herangebildet habe, mit dem, was sonst in deutschen und österreichischen Landen an zeitgemäßen Kräften erblüht ist, zusammenzufassen, und sie alle, Dichter, Musiker, Schauspieler, Sänger, Maler, Regisseure an einem schönen Ort, abseits vom Alltagsgetriebe der Großstadt zu einem lebendigen, die höchste Kultur des heutigen Theaters repräsentierenden Organismus wachsen zu lassen." Reinhardt war überzeugt, dass angesichts der Weltkatastrophe gerade in Salzburg ideale räumliche Voraussetzungen zur Verwirklichung seiner Festspielidee bestünden. Der entscheidende Impuls zur Festspielgründung ging von Hugo von Hofmannsthal aus. Im berühmten „Ersten Aufruf zum Salzburger Festspielplan" überhöhte Hofmannsthal 1919 die alten Mythen der „schönen Stadt" und der „Mozartstadt" zum „Salzburger Mythos", einem Kunstprodukt, das als restauratives Gegenmodell einer ästhetisch-politischen Reintegration konzipiert war und an die kulturellen Traditionen des österreichischen Barocks anzuknüpfen suchte. „Erst der Zusammenbruch der Habsburger-Monarchie und das kulturelle Vakuum der Ersten Republik schufen" - wie Michael P. Steinberg feststellt „die Voraussetzung dafür, die schlummernden Salzburger Traditionen - Mozart und die Kirche - zum Mythos Salzburg zu vereinen, die traditionsreiche Vergangenheit in Energie umzuwandeln und sie zum Definitionsprinzip für Gegenwart und Zukunft zu machen." 120 Für Hofmannsthal war die Stadt Salzburg das natürliche Zentrum eines kulturellen Kraftfeldes von mitteleuropäischer Dimension:

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„Und nun, wenn schon Festspiele, warum gerade in Salzburg? [...] Das Salzburger Land ist das Herz vom Herzen Europas. Es liegt halbwegs zwischen der Schweiz und den slawischen Ländern, halbwegs zwischen dem nördlichen Deutschland und dem lombardischen Italien; es liegt in der Mitte zwischen Süd und Nord, zwischen Berg und Ebene, zwischen dem Heroischen und dem Idyllischen; Salzburg liegt als Bauwerk zwischen dem Städtischen und dem Ländlichen, dem Uralten und dem Neuzeitlichen, dem barocken Fürstlichen und dem lieblich, ewig Bäuerlichen. Mozart ist der Ausdruck von alledem. Das mittlere Europa hat keinen schöneren Raum und gerade hier mußte Mozart geboren werden." 121 Bereits ein Jahr später wurde die Idee zur Realität: Mit Hofmannsthals „Jedermann" in der Inszenierung von Max Reinhardt, aufgeführt am 22. August 1920 auf dem Salzburger Domplatz, war die Gründung der Salzburger Festspiele vollzogen. Nicht Mozart stand somit am Beginn der Festspiele, sondern Hofmannsthals neobarockes Mysterienspiel, das als fixer Bestandteil des Festspielprogramms bis heute Zeugnis ablegt von dessen restaurativem Gründungsmythos. 122 War Hofmannsthals und Reinhardts theatralisches Festspielkonzept auf eine Einbeziehung der ganzen Stadt als Szene ausgerichtet, so ging es der parallelen Festspielinitiative der regionalen bürgerlich-deutschnationalen Mozartkreise - angeführt von Friedrich Gehmacher und Heinrich Damisch - um die Etablierung regelmäßiger Mozartfestspiele im Dienste einer „idealen" Mozartpflege wie auch im Interesse des Fremdenverkehrs. Beide Initiativen hatten - wenn auch in unterschiedlichem ideologischen Kontext - das Vorbild von Bayreuth vor Augen und argumentierten darüber hinaus unter Einbeziehung des bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Mythos von der „schönen Stadt".

Theaterzettel zur „Jedermann"-Erstaufführung bei den Salzburger Festspielen mit Unterschriften der Mitwirkenden, 1920

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Aufmerksame Zeitgenossen registrierten, dass sich mitten in der ökonomischen, politischen und mentalen Krise der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Teil der metropolitanen Kunstkompetenz von Wien nach Salzburg verlagerte: „Etwas Merkwürdiges hatte sich in aller Stille ereignet", erinnert sich Stefan Zweig, der seinen Wohnsitz 1918 in Salzburg genommen hatte: „Die kleine Stadt Salzburg, die ich mir gerade um ihrer romantischen Abgelegenheit willen gewählt, hatte sich erstaunlich verwandelt: sie war im Sommer zur künstlerischen Hauptstadt nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt geworden." 123 Durch den Aufstieg der Salzburger Festspiele zum - neben Bayreuth renommiertesten Festival hatte Salzburg zum Image der „schönen Stadt" und „Mozartstadt" noch das einer „Festspielstadt" hinzugewonnen. Für einige Sommerwochen schien nun alljährlich das Ideal einer glücklicheren und besseren Welt verwirklicht. Mit dem Publikumserfolg trat das ideologische Konstrukt von Hofmannsthals „Salzburger Mythos" allerdings in den Hintergrund. An seine Stelle trat der unverbindliche „Mythos der Salzburger Festspiele", 124 als der eines hochkulturellen und zugleich exklusiven Ereignisses im Ambiente der „schönen Stadt". 125 Die (bis heute anhaltende) Beliebtheit des Motivs der „schönen Stadt" in der bildenden Kunst kann im Übrigen nicht über den seit der Festspielgründung bestehenden absoluten Vorrang der Musik im Kunstleben Salzburgs hinwegtäuschen, in dessen Schatten alle anderen Kunstrichtungen „nur als Störung der Vollkommenheit auftreten", sofern sie „nicht das NaturArchitektur-Gesamtkunstwerks" dekorieren. 126 Als „Festspielstadt" erfuhr die Position Salzburgs im gesamtösterreichischen Kontext eine beträchtliche Aufwertung. Zwar genoss die „Mozartstadt" bereits in den Jahrzehnten vor 1914 ein - wenn auch eingeschränktes - kulturelles Renommee. Die Integration der Stadt ins Zentrum eines - nunmehr auf das Territorium der Republik eingeengten - Österreichbewusstseins erfolgte jedoch erst in den 1920er-Jahren, als Österreichs Zukunft mangels ökonomischer und politischer Alternativen vor allem „in seiner kulturellen und künstlerischen Sendung" zu liegen schien. 127 In dieser Phase „schwerer österreichischer Selbstzweifel" 128 wurde Salzburg zum integralen Bestandteil jener Vision vom „Kulturland Österreich", die bis in die Gegenwart zu den am „häufigsten zitierten Selbstbildern" und zugleich am „häufigsten erfahrenen Fremdbildern" dieses Landes zählt.129 Nach dem zweiten Festspielsommer, der auch in der internationalen Presse als Anzeichen einer inneren Konsolidierung der jungen Republik interpretiert wurde, bewertete die „Neue Freie Presse" die Salzburger Ereignisse als Beweis, dass Österreichs Streben nach der Verwirklichung kultureller Ideale durch den Krieg nicht zerstört worden sei: „Wir wollen uns an unsere große Tradition halten und sie auch festhalten." 130 Anton Wildgans, der Direktor des Burgtheaters, bot den Festspielen seine Unterstützung an und forderte 1921 für Salzburg ein „österreichisches Festspielhaus", das sich „Musteraufführungen österreichischer Klassiker" widme.131

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Nachdem der institutionelle Bestand der Festspiele Ende der 1920er-Jahre gesichert war und das Programm Jahr für Jahr ausgeweitet wurde, entwickelte sich Salzburg rasch zum sommerlichen Treffpunkt der internationalen Prominenz aus Politik, Finanz und Kunst, die tagsüber in Lederhose und Dirndl die Innenstadt bevölkerte und abends in ihren Limousinen am Festspielhaus vorfuhr. Damals kam das Schlagwort vom „Salzburger Flair" auf. Gemeint war damit jene „Stimmung aus idealtypischer Landschaft der Romantik, barocker Fürstenstadt, ländlicher Idylle, Tracht und Volkskultur", die das Image der Stadt zwar bereits seit dem Sommerfrischen-Tourismus der Jahrhundertwende prägte, dank der Festspiele nun aber zum internationalen Markenzeichen Salzburgs avancierte. 132 Nicht nur der Festspielbezirk, sondern die ganze Stadt diente als Bühne des Gesellschaftslebens, in dessen Mittelpunkt Max Reinhardt stand. Glanzvoller gesellschaftlicher Höhepunkt des Festspielgeschehens waren unbestritten Reinhardts Feste in Schloss Leopoldskron. Nach der Machtergreifung Hitlers im Deutschen Reich gewannen die Festspiele überdies eine wichtige politische Dimension, und zwar „als Gegen-Bayreuth, mit dem Antifaschisten Arturo Toscanini als weltberühmtem Aushängeschild". 133 Während der Sommermonate war Salzburg in den letzten Jahren vor dem Anschluss, „wenn schon nicht der Mittelpunkt Europas, so doch die unbestrittene Hauptstadt Österreichs". Die „nationale Opposition" hielt sich vom Festspieltreiben freilich fern, sah sie darin doch nicht ganz zu unrecht eine „Art von internationaler Demonstration gegen das Dritte Reich". 134 Vor allem ein zahlungskräftiges Publikum aus Amerika und Westeuropa verlieh den letzten Festspielsommern vor dem Anschluss einen besonderen Glanz. Das internationale Flair von Reichtum kontrastierte freilich mit einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, welche die speziell für amerikanische Dollarmillionäre arrangierten Trachtenschauen und Sommerfeste ebenso als Provokation empfanden wie das von der Werbung propagierte Bild Salzburgs als „einer österreichischen Insel der Schönheit [...] inmitten einer leidenschaftlich erregten Welt".135 Auch Erich Kästner, der sich während des Dritten Reichs mit unterhaltsamen Romanen über Wasser hielt, zeichnet in „Der kleine Grenzverkehr" ein stimmungsvoll-heiteres Bild des „Salzburger Flairs" im letzten Festspielsommer vor dem Anschluss, paradoxerweise vor dem Hintergrund der von Hitlerdeutschland gegenüber Österreich erlassenen Devisenrestriktionen. 136

Salzburg-Mythos mit braunen Vorzeichen Zum letzten Mal traf sich „tout Salsbourg" im Sommer 1937 zur „Danse Macabre vom Café Bazar". 137 Im darauffolgenden Sommer 1938 war die Internationalität der Festspiele bereits Vergangenheit. Statt dessen strömten nun Massen von Besuchern aus dem „Altreich" in die „Gauhauptstadt" Salzburg. Die Festspiele

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blieben nach dem Anschluss dennoch das kulturelle Aushängeschild der Stadt, auch wenn ein radikaler Bruch mit der Festspieltradition Hofmannsthals und Reinhardts vollzogen wurde und die neuen Machthaber Juden und Klerikale des Missbrauchs der Festspielidee bezichtigten. Der Salzburger Gauleiter Friedrich Rainer bemühte sich, die „gesunde Idee" der Salzburger Festspiele von Richard Wagner abzuleiten. Salzburg hätte vor 1938 eine „jüdisch-kosmopolitische Fratze" gehabt, „nun aber" - so die Absichtserklärung der Nationalsozialisten in Gau und Stadt - sollten „germanische Ideale in höchster Vollendung gelten". 1 3 8 Statt Hofmannsthals barockisierendem Salzburg-Mythos müsse dem Vorbild von Bayreuth, allerdings unter dem Leitmotiv Mozart, nachgeeifert werden. 1 3 9 Rainer legitimierte sein permanentes Streben nach einer Aufwertung Salzburgs im Übrigen mit dem angeblichen Wunsch Hitlers, aus Salzburg „eine Metropole des Geistes- und Kulturlebens" zu machen. 140 Auch unter den Nationalsozialisten lief die Imagepflege letztlich auf eine Tradierung der überlieferten Klischees hinaus. Bis weit in den Krieg hinein bestimmten Kunst und Kultur das offiziöse Bild Salzburgs in Propaganda und Medien. Die „schönste Stadt Deutschlands" sei - so Gauleiter Rainer 1941 — eine „Insel der Seligen", die „mitten im Lärm der Schlachten" ein „kultiviertes Leben" weiterführe. 141 Salzburg blieb in der Terminologie der neuen Machthaber, was es durch die Festspielgründung geworden war: ein begnadeter Ort der Musen inmitten einer schönen Natur. Die historischen Rahmenbedingungen, denen das „ewige deutsche Salzburg" 1 4 2 sein einzigartiges Aussehen verdankte, erfuhren allerdings eine Uminterpretation. In radikaler Weiterführung der bereits im 19. Jahrhundert gängigen Abwertung des „welschen" Einflusses auf Salzburgs Stadtbild avancierten die geistlichen Landesfürsten des Barock in den Stadtbeschreibungen der NS-Zeit zu den Dunkelmännern der Salzburger Geschichte, die „im Lande nach ihrem Gutdünken schalten und walten konnten". 143 Im Vorwort zu einem zeitgenössischen Bildband etwa hieß es, dass „die weitgehende Überlagerung mit einer fremden Formgesetzen gehorchenden Machtkunst fremden Volkstums entstammender Fürsten, [...] zu einer restlosen Zerstörung des deutschen Gesichtes dieser Stadt (hätte) führen müssen, hätte ihr nicht das bodenständige Bürgertum die von ihm getragenen Werte eigenen Volkstums und seine aus allen Kämpfen ungeschwächt bewahrte, ureigentümlichste Geisteshaltung und Kunstgesinnung entgegenzusetzen vermocht". Für die Zukunft hoffte der Autor auf eine Überwindung des barocken Ambientes im Zuge der projektierten Umgestaltung der Stadt im nationalsozialistischen Geist: „Das große Parteiforum aber, das über Wunsch und Willen des Führers auf dem Imberg, dem alten Wahrzeichen der Fürstenstadt gegenüber, entstehen soll, wird Ausdruck sein des neuen Glaubens und der neuen Weltordnung". 144 Eingezwängt zwischen den Monumentalbauten auf den Stadtbergen wären Festung und historische Altstadt im Falle einer Realisierung dieser Planungen perspektivisch zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. 145

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Diese monströsen stadtplanerische Projekte spiegelten wohl eher den Geschmack der regionalen NS-Eliten als jenen der obersten Führungsebene. Reichspropagandaminister Josef Goebbels, der höchste Kulturfunktionär des Dritten Reichs, stellte das überkommene Bild der „schönen Stadt" jedenfalls nie in Frage. Bereits bei seinem ersten Salzburgbesuch im Juli 1938 zeigte sich Goebbels „ganz berückt von dem Zauber dieses einzigartigen Fleckchens Erde". 146 Zugleich beharrte er auf den barocken Traditionen der Stadt: „In Salzburg muß aus der Atmosphäre dieser Barockstadt heraus geschaffen werden. Wiener Kunst nach Salzburg zu verpflanzen, das heißt, den Salzburger Festspielen ihren Reiz und ihren typischen Charakter zu nehmen." 147 Spätestens seit der NS-Zeit repräsentierte der Photo-Bildband schließlich jenes Medium, das in Nachfolge der bildenden Kunst die Tradition des künstlerischen Städtebildes fortsetzte. Voraussetzung für den Aufstieg dieses Genres, das sich einer bis heute anhaltenden Beliebtheit erfreut, waren technische Innovationen wie der Siegeszug der Kleinbildkamera sowie die durch den Kupfertiefdruck verbesserten Reproduktionsmöglichkeiten. Zwar hatte es schon um die Jahrhundertwende eine Reihe von Publikationen gegeben, die photographischen Aufnahmen der Stadt enthielten. 148 Die Ära des modernen Salzburg-Bildbandes setzte allerdings erst in den 1930er-Jahren ein. Nachdem bereits vor dem Anschluss eine Reihe von Bildbänden erschienen war, erreichte die Produktion in der NS-Zeit einen vorläufigen Höhepunkt, wobei es den neuen Machthabern nicht zuletzt darum ging, die Schönheiten der nunmehrigen „Ostmark" einer großdeutschen Öffentlichkeit zu präsentieren. 149

„Karajanopolis" und „Sound of Music" Die „deutsche Stadt" 150 Salzburg wurde 1945 wieder zum „Kleinod von Österreich". 151 Der Bombenkrieg hatte der „schönen Stadt" keine irreparablen Schäden zugefügt. 152 Zudem genoss sie als informelle Hauptstadt des amerikanisch besetzten „goldenen Westens" beträchtliche wirtschaftliche Vorteile. Einer nahtlosen Wiederaufnahme des vor 1938 gepflegten Images „der kleinen Stadt, in der sich die ganze Welt trifft" 153 stand in der Zweiten Republik zwar ein durch Nationalsozialismus, Krieg und in weiterer Folge durch Wiederaufbau und Wirtschaftsaufschwung völlig veränderter Stadtorganismus entgegen. Unter fast gänzlicher Ausblendung aller traumatischen Erinnerungen an das Dritte Reich wurde im Salzburgschrifttum der 1950er- bis 1970er-Jahre das Bild der „schönen Stadt" und der „Mozartstadt" ohne Abstriche, wenn nicht sogar mit gesteigerter Intensität weitertradiert. 154 Autoren wie Franz Karl Ginzkey, Josef Weinheber, Karl Heinrich Waggerl, Erna Blaas und Erich Landgrebe, die bereits seit den 1930er-Jahren ein verklärtes Salzburgbild verbreitet hatten, setzten der „Unsicherheit" der Nachkriegszeit „die Reinheit und Kraft der lyrischen Empfindung tröstlich entgegen" und waren nun abermals in fast allen Salzburg-Antho-

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logien, Bildbänden und Almanachen vertreten. Auch das Genre des historischen Salzburg-Romans erfreute sich nach der Katastrophe des Weltkriegs großer Beliebtheit. Pert Peternell („Die Mozarts") und Erwin H. Rainalter („Mirabell") präsentierten ihren Lesern „Salzburg-Mythisches in Form von Barock- und Mozart-Verklärung, als Rückgriff in eine nicht mehr unmittelbar bewegende Vergangenheit". 155 In der künstlerischen Vermittlung des Bildes von der „schönen Stadt" dominierten nach 1945 zunächst aber die bildenden Künstler, welche die bis in die Romantik zurückreichende Tradition der stimmungsvoll inspirierten Stadtansicht fortführten. 156 Max Peiffer Watenpuhl stieg nach 1945 zur Leitfigur der Salzburger Malerszene auf, die mit Eduard Bäumer, Herbert Breiter, Rudolf Hradil, Agnes Muthspiel, Trude Engelsberger, Wilhelm Kaufmann und Lukas Suppin über eine beachtliche Zahl von Talenten verfügte. Thematisch beschränkten sich die Künstler der Nachkriegszeit ebenso wie frühere Malergenerationen auf die variationsreiche Wiedergabe der Silhouette der Stadt, wobei der Blick von den Stadtbergen auf die Türme und Kuppeln der Altstadt sich als Motiv besonderer Beliebtheit erfreute. Auch Oskar Kokoschka stellte sich 1950 mit seiner berühmten Stadtansicht „Salzburg vom Kapuzinerberg" in den Dienst dieser Tradition. Während die reale Stadt also bereits durch baulichen Wildwuchs und massentouristische Überflutung geprägt war, verharrte jener Teil der regionalen Kunstszene, der sich die Stadt zum Thema wählte, in der Bildwelt des 19. Jahrhunderts. Als zeitgemäße und populäre Spielart des künstlerischen Städtebildes profilierte sich nach 1945 die Kunstphotographie. In großem Maßstab setzte die Produktion von Salzburg-Bildbänden mit dem Aufstieg des Massentourismus ein, der diesem Genre letztlich bis in die Gegenwart optimale Absatzchancen garantiert. Heute ist die Zahl der in den letzten 50 Jahren erschienenen Salzburg-Bildbände kaum mehr überschaubar, überdies kennzeichnet die meisten Publikationen eine monotone Wiedergabe altbekannter touristisch verwertbarer Bildstereotypen. 157 Sieht man von einigen avantgardistischen Ausnahmen einmal ab, so wirkte in der Salzburg-Photographie der Nachkriegszeit - fast im selben Ausmaß wie in der bildenden Kunst - die romantische Tradition einer künstlerischen Verhüllung der realen Welt ungebrochen weiter fort. Bildende Kunst und Photographie dienten in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vielfach nur als schmückendes Beiwerk für mehr oder weniger anspruchsvolle Tourismuswerbung oder zur Illustrierung jenes kunstvoll inszenierten Selbstbildes, das amtliche oder halbamtliche Publikationen zu dieser Zeit von Stadt und Land Salzburg vermittelten. Abgesehen von seiner Aufgabe im Dienste des Fremdenverkehrs erfüllte der Salzburg-Mythos eine wesentliche Funktion bei der regionalen wie auch gesamtösterreichischen Identitätsfindung. Salzburg wurde nach 1945 - in Anknüpfung an die kulturell fundierte Österreichideologie der Ersten Republik - zum integralen Bestandteil jenes

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Selbstbilds vom „Kulturland Österreich", das in der Wahrnehmung des In- wie auch des Auslandes geprägt wurde durch den „harmonischen Zusammenklang von Landschaft, historischer Bausubstanz und Kultur, mit besonderer Dominanz von klassischer Musik, Tradition und Brauchtum". 158 Derartige Zuordnungen wurden von den gesamtösterreichischen Bildgestaltern in allen Medien vorgenommen. In den offiziellen und offiziösen Österreich-Bildbänden der frühen Zweiten Republik scheint Salzburg entweder als Denkmal zeitloser Schönheit oder als Schauplatz der in eine heitere Sommerlandschaft eingebetteten Festspiele auf. Wochenschauen und vor allem der Heimatfilm der 1950er-Jahre brachten die Postkarten-Idylle zur selben Zeit in bewegten Bildern auf die Leinwand. Salzburg lieferte Österreich den Festspielmythos, den kulturellen Heros Mozart (200. Geburtstag 1956 und 200. Todestag 1991) und - nicht zu vergessen - das Phänomen Herbert von Karajan.

Zwei Kultfiguren: Herbert v. Karajan und Wolfgang Amadeus Mozart. Karikatur aus der Washington Post

Salzburgs Rang als „Mozartstadt" prägt das Image der Stadt im gesamtösterreichischen Kontext bis in die Gegenwart. Der Komponist zählt gemeinsam mit Johann Strauß und Kaiserin Maria Theresia zu jenen „nationalen" Identifikationsfiguren, die ihren Platz im kollektiven Gedächtnis über alle politischen Zäsuren hinweg behaupteten. 159 Einer neueren Umfrage nach steht Mozart an der Spitze aller lebenden oder toten Persönlichkeiten aus Politik,

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Wissenschaft, Kunst und Sport, auf welche die Österreicher stolz sind. 160 Mozart ist „Salzburger" und darüber hinaus der weltweit bekannteste Österreicher. Salzburgs Image als „Mozartstadt" hat zwar immer wieder eine Anpassung an die jeweiligen Zeittendenzen erfahren, sich in seinen Grundzügen aber nur wenig verändert. Bis zur Gegenwart findet die Einvernahme Mozarts durch seine Geburtsstadt auf jenen beiden Handlungsebenen des „Mozartkults" statt, die seit den 1920er-Jahren relativ unvermittelt nebeneinander existieren: Zum einen erfolgt eine maximale Vermarktung bzw. Verkitschung Mozarts als Werbeträger im Dienste des Fremdenverkehrs, zum anderen erhebt Salzburg den Anspruch auf eine mustergültige Pflege seines Werks auf höchstem Niveau. Die Kultfigur Mozart dient heute als Namensbestandteil von Konsummarken und Produktbezeichnungen von Gütern, die mit seiner Geburtstadt weltweit in Bezug gebracht werden. Im österreichischen Markenregister finden sich 1992 rund 80 Eintragungen, die das Wort Mozart verwenden, weitere zehn sind in ausländischen Markenregistern zu finden. Besonders gut scheint sich der Name für Süßwaren zu eignen. Das berühmteste Produkt darunter ist unbestritten die Mozart-Kugel, die heute bereits auf eine fast hundertjährige Geschichte zurückblicken kann. 16 '

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Mozart als Werbeträger

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das ursprünglich „im Diskurs der Eliten und bürgerlichen Oberschichten gepflegte Bild geglückter Salzburger Harmonie aus Natur und Kunst" erst in der Zweiten Republik allgemeine Verbreitung gefunden hat, nun aber maßgeblich beeinflusst durch Elemente der

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Trivialkultur. 162 Diese Vermittlungsarbeit lief auf mehreren Schienen, wobei neben Film und Tourismuswerbung - der Schule, durch Heimatkunde und Feierstunden, eine wichtige Rolle zukam. Mozarts 200-jähriger Geburtstag wurde 1956 etwa an allen österreichischen Pflichtschulen gewürdigt. 163 Das Image Salzburgs wurde im Zeitalter des Massentourismus - allein von 1981 bis 1992 stieg die Zahl der Übernachtungen von 1,465 Millionen auf 1,725 Millionen 164 - aber nicht nur von Mozart und den Festspielen geprägt: „Neben der Stadt der Hochkultur gibt es gewissermaßen ein zweites Salzburg, das den Mythos der heilen Welt im Dorf symbolisiert, eine Harmonie zwischen Mensch und Natur suggeriert - ein ,Sound-of-Music-Image'". 165 Tatsächlich hat die Hollywood-Verfilmung des Lebens der aus Salzburg nach den Vereinigten Staaten emigrierten Familie Trapp entscheidend zur weltweiten und mediengerechten Vermarktung des alten Salzburg-Mythos von der „schönen Stadt" beigetragen, und zwar unter Einbeziehung des überlieferten Klischees von der heilen Welt in den Alpen, das bereits in den 1920er-Jahren in Amerika unter dem Markenzeichen des „Tyrolese Style" Verbreitung gefunden hatte.166

Hie watt fe over! \ m can thrill again to the happiest sound in all the world.

Salzburg-Image-Kampagne in den USA: Die Verfilmung von Roger Hammersteins Musical „The Sound of Music", 1965

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Auch wenn die trivialisierte Salzburg-Wahrnehmung von Hammersteins Musical „Sound of Music" gerade in Österreich auf Unverständnis stieß, so stellte dessen Verfilmung durch Robert Wise (1965) „an der Schwelle zum audiovisuellen Zeitalter" die denkbar effizienteste und billigste „Salzburg-ImageKampagne" dar. Millionen von Amerikanern sahen sich durch den Film zum Besuch von Salzburg motiviert. Auch dreißig Jahre danach gaben drei von vier amerikanischen Touristen den Film als Hauptgrund ihrer Österreich-Reise an. Die Salzburger Tourismuswirtschaft nutzt dieses Potential bis in die Gegenwart, indem sie das „Sound of Music"-Image der Stadt für den US-amerikanischen Tourismusmarkt sorgsam kultiviert und an die jeweiligen touristischen Trends anpasst. Obwohl der Film „im Salzburger Selbstverständnis, in der Salzburger Identität, nicht zu eigenen Geschichte oder Kultur gehört, wird er den Gästen als genau das präsentiert". 167

Die „andere Stadt" „Die Stadt ist, von zwei Menschenkategorien bevölkert, von Geschäftemachern und ihren Opfern, dem Lernenden und Studierenden nur auf die schmerzhafte, eine jede Natur störende, mit der Zeit verstörende und zerstörende, sehr oft nur auf die heimtückisch-tödliche Weise bewohnbar." 168 Schon am Beginn des ersten Bandes seiner Erinnerungen stellte Thomas Bernhard 1975 gerade jenes Salzburg-Bild radikal infrage, das in der Fremdenverkehrswerbung wie auch in allen kulturpolitischen Selbstdarstellungen bis dahin vorgeherrscht hatte.169 Aber nicht nur die schonungslose Abrechnung mit der nationalsozialistischen Ära und der katholischen Restauration der Nachkriegsjahre sorgte für beträchtliche Irritationen. Auch die von Bernhard lustvoll inszenierte Demontage des tradierten Klischees der „schönen Stadt" wurde als Sakrileg empfunden: 170 „Die Schönheit dieses Ortes und dieser Landschaft, von welcher alle Welt spricht, [...] ist genau jenes tödliche Element auf diesem tödlichen Boden, hier werden die Menschen, die an diese Stadt und an diese Landschaft durch Geburt oder eine andere unverschuldete Weise gebunden und mit Naturgewalt daran gekettet sind, fortwährend von dieser weltberühmten Schönheit erdrückt." 171 Ohne dass es Bernhard beabsichtigt hätte, entsprach seine Umkehrung des Salzburger Schönheits-Mythos in ein von Zerstörung und moralischer Verderbnis geprägtes Bild der Stadt dem zeitgenössisch aufkeimenden Unbehagen an der Stadtentwicklung der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Seit den späten 1960erJahren war unübersehbar, dass die Folgen der dynamischen Stadterweiterung und des überbordenden Massentourismus die Strahlkraft des Mythos der schönen alten Stadt beeinträchtigten. Zaghaft zunächst, dann jedoch mit zunehmender Vehemenz ließen sich kritische Stimmen vernehmen, die angesichts der nach allen Seiten ausufernden Landeshauptstadt und rücksichtloser Eingriffe in das überkommene bauliche Gefüge der Altstadt die von Landes- wie Stadtpolitikern

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unter dem Eindruck des „Wirtschaftswunders" entworfene Vision eines „einmaligen Zusammenklangs von Natur und Technik" und einer „Symbiose der Wirtschaft mit der Kultur" (Landeshauptmann Klaus) in Frage stellten.172 1965 war der Gegensatz zwischen „schöner Stadt" und dem hässlichen „anderen Salzburg" erstmals zum öffentlichen Thema geworden, nachdem der renommierte Kunsthistoriker und kulturkonservative Vordenker („Verlust der Mitte") Hans Sedlmayr unter dem Eindruck der Demolierung einer ganzen Reihe von Altstadtbauten seinen berühmten Aufruf zur Rettung der Salzburger Altstadt veröffentlicht hatte.173 Der Bewusstseinsstand von Öffentlichkeit und Politik in Fragen des Denkmal- und Ensembleschutzes war zunächst völlig unterentwickelt. Was zählte, war einzig die kommerzielle Verwertbarkeit der Objekte, und noch 1965 hielt Bürgermeister Alfred Bäck es für vollkommend ausreichend, den „Charakter" der Altstadt zu bewahren, und zugleich für notwendig, „zahlreiche" nicht sanierbare Häuser durch Neubauten ersetzen. 174 Auch nach dem Erlass des Salzburger Altstadterhaltungsgesetzes von 1967 vertiefte sich die Kluft zwischen historischem Stadtkern und städtischer Agglomeration noch weiter. Hatte die Sorge eines Teils der Öffentlichkeit zunächst vor allem der gefährdeten Altstadt gegolten, so stand nun die Stadt als Ganzes im Mittelpunkt des Interesses. 1970 trat Hans Sedlmayr, der „spiritus rector" der Salzburger Bürgerinitiativen, erneut an die Öffentlichkeit, indem er die Horror-Vision einer „Stadt ohne Landschaft" entwarf. 175 Seit den 1980er-Jahren kennzeichnen behutsame Sanierungen unter strikter Rücksichtnahme auf die historische Bausubstanz das Baugeschehen im Salzburger Altstadtkern, ohne dass dadurch freilich der Prozess einer von Kapitalverwertungsstrategien bestimmten monofunktionalen Citybildung zum Stillstand gekommen wäre. Die heute in den Konsummeilen der ganzen Welt dominierenden Filialen der großen Handelsketten bestimmen längst auch das Bild der Getreidegasse sowie der umliegenden Plätze und Gassen der Altstadt. Zugleich verstärkt der Rückgang an Wohnbevölkerung bei manch einem skeptischen Beobachter den Eindruck eines riesigen Freilichtmuseums. Der ökonomische, demographische und auch kulturelle Bedeutungsverlust der Altstadt innerhalb des Stadtganzen wurde durch die Erhebung von Salzburgs Altstadt in den Rang eines „Weltkulturerbes" im Herbst 1997 nur scheinbar kompensiert. Der UNESCO-Titel bestätigte zwar hochoffiziell Salzburgs Image als „schöne Stadt". Ob die zum „Schönheitsmuseum" 176 herabgesunkene Altstadt aber im gesamtösterreichischen Kontext oder wenigstens im regionalen Rahmen heute noch eine wesentliche gesellschaftlich-kulturelle Sinnstiftungs-Funktion erfüllt, erscheint angesichts der den säkularen Wertewandel begleitenden „Heimat-, Geschichts- und Vertrautheitsverluste" jedoch als fraglich. 177 Fast zeitgleich zur Kontroverse über die Zerstörung von Altstadt und Stadtlandschaft setzte die kritische Auseinandersetzung einer jungen Generation von Schriftstellern mit dem tradierten Bild der „schönen" und zugleich Wirtschaft-

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lieh erfolgreichen Stadt ein. Den alten Klischees wurde seit den frühen 1970erJahren das Spiegelbild des „anderen Salzburg", also der politischen und sozialen Realität sowie der alltäglichen Lebenswelt abseits der touristischen Perspektive, entgegengehalten. 178 War der Blick hinter die schöne Kulisse seit der Romantik die seltene Ausnahme gewesen, so wählten nunmehr vor allem die Literaten eine „neue Form von Wirklichkeits-Registratur, Vergangenheit und Gegenwart umfassend" zum Stilmittel ihrer Salzburg-Interpretationen. 179 Gerhard Amanshauser war einer der ersten, der die Versatzstücke des SalzburgMythos aufgriff und in satirischer Form demontierte. 180 Mit Thomas Bernhards „Ursache" erreichte - wie bereits erwähnt - die radikale Abkehr vom Klischee der „schönen Stadt" 1975 ihren literarischen Höhepunkt. Bernhards Abrechnung mit der Stadt seiner Jugend gilt heute als Meisterwerk der autobiographischen Weltliteratur. So verwundert es nicht, dass das Bild vom „anderen Salzburg" längst Teil des tradierten „Salzburg-Mythos" geworden ist. Die meisten der in den letzten Jahren erschienenen Salzburg-Anthologien beinhalten neben den herkömmlichen hymnischen Stadtbeschreibungen auch Texte Salzburg-kritischer Autoren. 181 Zum Abschluss sei noch auf jenes „Bild" von Salzburg verwiesen, das in den letzten Jahrzehnten - weitgehend losgelöst von allen Klischees - die Einstellung zahlreicher Österreicher gegenüber der Stadt insofern in höchst pragmatischer Weise geformt hat, als es sie dazu veranlasst hat, hier ihren Wohnsitz zu nehmen. Der Wirtschaftshistoriker Josef Wysocki beschrieb vor 20 Jahren das „Salzburg-Phänomen" als echtes Unikat im innerösterreichischen Vergleich städtischer Standortqualitäten. Nach seiner Definition handelt es sich hierbei um „ein Konglomerat von heterogenen Eigenschaften, die in ihrer Gesamtheit bewirken, daß dem Ortsfremden das Leben im Geltungsbereich dieses Phänomens erstrebenswert erscheint". 182 Geht man davon aus, dass raumbezogene Identität eine wesentliche Grundlage für die Entstehung kollektiver Images von Orten ist, dann fiel den Salzburger Zu Wanderern der letzten Jahrzehnte „eine bejahende Identifikation" mit ihrer neuen Lebenswelt offenbar besonders leicht. Bemerkenswert allerdings ist, dass die Salzburger Altstadt - die heute lediglich 3,5% der Salzburger Stadtbevölkerung beherbergt - die Identität der Salzburger weit weniger prägt als man angesichts der weltweiten Berühmtheit des Stadtkerns annehmen würde.183 Wie in allen modernen Agglomerationen konzentriert sich die emotionale Ortsbezogenheit der Individuen auch in Salzburg vor allem auf die Wohnsiedlungen und Einkaufszentren am Stadtrand und in den Umlandgemeinden sowie auf die Freizeitlandschaft der näheren Umgebung. Wenn der „Mythos Salzburg" im Bewusstsein der heutigen Salzburger Stadtbevölkerung dennoch weiterlebt, dann nicht mehr im Sinne des romantischen Glückversprechens, sondern als Vorstellung von einem Lebensraum, der die Standortqualitäten eines wirtschaftlich dynamischen zentralen Ortes mit den Vorteilen einer besonders attraktiven „Freizeitlandschaft" verbindet.

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* Vgl.: Robert Hoffmann, Mythos Salzburg. Bilder einer Stadt, Salzburg, München 2002. ' Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos, Opladen 1995, 19. 2 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1964, 141. 3 Viktor Griessmaier, Österreich. Landschaft und Kunst, Wien 1950, 38. 4 Günther Schweiger, Österreichs Image in der Welt, Wien 1992. 5 Vgl. Georg Wagner, Österreich. Zweite Republik. Zeitgeschichte und Bundesstaatstradition. Eine Dokumentation, Bd. 2, Thaur/Tirol-Wien 1987, 981. 6 Österreichs Lieux de mémoire. Umfrage des Fessel-GfK Instituts für Marktforschung, 1998. 7 Simon Schama, Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination, München 1996, 74 f. 8 Barthes, Mythen des Alltags, 131. 9 Arpád Göncz, Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, in: Harald Waitzbauer, Festlicher Sommer. Das gesellschaftliche Ambiente der Salzburger Festspiele von 1920 bis zur Gegenwart, Salzburg 1996, 356-368, hier 357. 10 Vgl. Ludwig Grote, Die romantische Entdeckung Nürnbergs, München 1967; Katja Czarnowski, Nürnberg - „gemauerte Chronik oder „Abfallhaufen der Geschichte"? in: Steinbruch Deutsche Erinnerungsorte. Annäherung an eine deutsche Gedächtnisgeschichte, hg. von Constanze Carcenac-Lecomteu.a., Frankfurt a.M. u.a. 2000,167-186; Oliver Fink, Heidelberg, in: Deutsche Erinnerungsorte 3, hg. von Etienne François und Hagen Schulze, München 2001, 4 7 3 487. 11 Lorenz Hübner, Beschreibung der hochfürstlich erzbischöflichen Haupt- und Residenzstadt Salzburg und ihrer Gegenden verbunden mit ihrer ältesten Geschichte. 1. Bd.: Topographie, Salzburg 1792 (Neuauflage Salzburg 1982), 468. 12 Vgl. dazu Robert Hoffmann, Die Romantiker „entdecken" Salzburg, in: Weltbühne und Naturkulisse. Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus, hg. von Hanns Haas, Robert Hoffmann und Kurt Luger, Salzburg 1994, 16-21. 13 Franz Michael Vierthaler, Reisen durch Salzburg, Salzburg 1799; Ders, Meine Wanderungen durch Salzburg, Berchtesgaden, und Österreich, 3 Bde, Wien 1816. 14 Ulrich Salzmann, Friedrich Graf Spaurs Leben, in: Begleitband und Register zur Neuauflage der Werke Spaurs, Salzburg 1985, 74 f. 15 Joseph August Schultes, Reise durch Salzburg und Berchtesgaden, Wien 1804, 2. Theil, 253. 16 Ebd., 226. 17 Georg Stadler, Von der Kavalierstour zum Sozialtourismus. Kulturgeschichte des Salzburger Fremdenverkehrs, Salzburg 1975, 220 ff. 18 Heinrich Schwarz, Salzburg und das Salzkammergut. Eine künstlerische Entdeckung der Stadt und der Landschaft in Bildern des 19. Jahrhunderts, Salzburg 4 1977, 13. 19 Ebd., 11. 20 Ebd., 15; vgl. außerdem: Franz Fuhrmann, Salzburg in alten Ansichten. Bd. 1: Die Stadt, Salzburg 21982. 21 Schwarz, Salzburg und das Salzkammergut, 11. 22 Reise von Venedig über Triest, Krain, Kärnten, Steiermark und Salzburg samt historisch-statistischen Bemerkungen über die Regierung und Einwohner dieser Länder, Frankfurt-Leipzig 1793, 218. 23 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999,312. 24 Schwarz, Salzburg und das Salzkammergut, 29. 25 Renate Krüger, Biedermeier. Eine Lebenshaltung zwischen 1815 und 1848, Wien 1979, 117. 26 Hanns Haas, Bilder vom Heimatland Salzburg, in: Liebe auf den zweiten Blick. Landes- und Österreichbewußtsein nach 1945, hg. von Robert Kriechbaumer, Wien-Köln-Weimar 1998, 149-203. 27 Rudolph Löser, in: Salzburg und seine Umgebungen, München 1845, 5, zit. nach: Margret Gröner, Salzburger Land: Garten Gottes, in: Mit dem Auge des Touristen. Zur Geschichte des Reisebildes, Tübingen 1981, 87-94, hier 91.

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Petition der Salzburger Bürger vom 12. November 1816. Zit. nach: Hanna Hintner, Joseph Philipp Feiner (1769-1850) als Staatsmann, Historiker und Mensch, Phil. Diss. Wien 1967, 291. Robert Hoffmann, Salzburg wird „Saisonstadt", in: Weltbühne und Naturkulisse, hg. von Hanns Haas u.a., 45-51, hier 45. Nikolaus Schaffer, Streifzüge durch das „österreichische Arkadien". Johann Fischbach als Vollender der Tradition der Salzburger Vedute, in: Johann Fischbach, Malerische Ansichten der Stadt Salzburg und ihrem Kreise des Salzkammergutes und Berchtesgadens, Salzburg o. J. Faksimile des Ausg. v. 1849, Salzburg 1998, 5 - 9 , hier 5. Wolfgang Kos, Die Eroberung der Landschaft. Zu einem kulturhistorischen Ausstellungsprojekt, in: Die Eroberung der Landschaft. Semmering, Rax, Schneeberg. Katalog zur Niederösterreichischen Landesausstellung 1992, hg. von dems., Wien 1992, 20-48, hier 23. Josef Gassner, Johann Michael Sattler und sein Panorama von Salzburg, in: Jahresschrift des Salzburger Museums Carolino Augusteum 4 (1958), 103-122. Kos, Die Eroberung der Landschaft, 31. Peter J. Brenner, Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hg. von dems., Frankfurt a.M. 1989, 14-39, hier 38. A Handbook for Travellers in Southern Germany, London 1840, 194. Karl Baedeker, Handbuch für Reisende in Deutschland und dem Österreichischen Kaiserstaate, Coblenz 31846, 60. Vgl. Rupert Feuchtmüller, Was kein Auge schauen kann, in: Schönes altes Salzburg, hg. von Johannes Neuhardt, Salzburg 1989, 7-131. Zur Ausformung neuer Raumbilder vgl. Detlev Ipsen, Raumbilder. Kultur und Ökonomie räumlicher Entwicklung, Pfaffenweiler 1997. Josef Mayburger, Memorandum zur Stadterweiterungsfrage, in: Salzburger Zeitung, Nr. 141; zu Mayburger allg. vgl. Nekrolog in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 49 (1909), 587 ff.; Friedrich Breitinger, Josef Mayburger. Sein Leben und sein Werk, in: Schriftenreihe des Stadtvereins Salzburg, Kulturgut der Heimat, Heft 2, 1952. Die Gründung dieser Vorgängerorganisation des heute noch existierenden Salzburger Stadtvereins erfolgte ebenfalls auf Initiative von Mayburger. Salzburger Volksblatt, Nr. 25, 31.1.1911. Vgl. Gerhard Plasser, Stadterweiterung II, in: Vom Stadtrecht zur Bürgerbeteiligung. Ausstellungskatalog 700 Jahre Stadtrecht von Salzburg, Salzburg 1987, 186-195. J. A. Frh. v. Helfert, Eine Geschichte von Thoren, Wien 1894 (Sonderabdruck aus den Mittheilungen der K.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale, Neue Folge 20 [1894]); Roman Höllbacher, Landschaft und Stadt als entwicklungsgeschichtliche Paradigmen - der Wandel der Rezeption vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Phil. Diss. Salzburg 1990, 163-176. Salzburger Zeitung, Nr. 166, 21.7.1888, zit. nach: Höllbacher, Landschaft und Stadt, 164. Ipsen, Raumbilder, 66. Erstmals nachgewiesen 1870 in: Führer durch Salzburg und seine Umgebungen. Mit besonderer Berücksichtigung von Gastein, Berchtesgaden und Reichenhall, Salzburg 1870. Dazu Robert Hoffmann, Die Entstehung einer Legende. Alexander von Humboldts angeblicher Ausspruch über Salzburg, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 141 (2001), 265-278. Meyers Reisebücher. Deutsche Alpen. 2. Tl., Leipzig-Wien 41895, 25. Nach 1945 mitunter auch als „Rom des Nordens"; vgl. Hans Murenwald, Salzburg. Bild-Stadtführer. Berchtesgaden 1991. Olaf B. Rader, Dresden, in: Deutsche Erinnerungsorte 3, hg. von Etienne François und Hagen Schulze, 451-470, hier 460. Friedrich Polleroß, Pro Deo & Pro Populo. Die barocke Stadt als „Gedächtniskunstwerk" am Beispiel von Wien und Salzburg, in: Barockberichte 18/19, 149-168, hier 149. Vgl. auch ders., Barock ist die Art, wie der Österreicher lebt. Oder: Barocke Architektur als Brücke und

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Bollwerk, in: Memoria Austriae I. Menschen - Mythen - Zeiten, hg. von Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, Wien 2004, 446-472. Ebd. Schuhes, Reise durch Salzburg, 228. Stephan Ludwig Roth, Gesammelte Schriften und Briefe. Bd. 1 : Die Wanderschaft. Dokumente aus den Jahren 1815-1819, hauptsächlich aus Tübingen und Iferten, Berlin 21970, 120. Franz Schubert, Briefe und Schriften, Wien "1958, 135. August Graf Platen, Die Tagebücher (Eintragung v. 27.8.1824), zit. nach: Salzburg. Stadt und Land, hg. von Jacqueline und Werner Hofmann, München 31967, 93 f. Peter Evan Turnbull, Reise durch die österreichischen Staaten, Leipzig 1838, 88. Matthias Koch, Reise in Oberösterreich und Salzburg auf der Route von Linz nach Salzburg, Gastein und Ischl, Wien 1846, 128. Leopold Chimani, Meine Ferienreise von Wien durch das Land unter und ob der Enns, über Linz und das k.k. Salzkammergut, nach Salzburg, Berchtesgaden und Gastein und von da zurück durch einen Teil der Steiermark, unternommen und beschrieben von Leopold Chimani im Jahre 1829, 2. Bd., Wien 1830, 8. Adolph Bühler, Salzburg, seine Monumente und seine Fürsten. Historisch-topographischer Führer durch die Stadt und ihre Umgebung, Salzburg 1873, 135. Eduard Richter, Das Herzogthum Salzburg, Wien 1881, 36. Benno Imendörffer, Städte- und Siedelungsbilder aus Salzburg, in: Mein Österreich, mein Heimatland. Illustrierte Volks- und Vaterlandskunde des Österreichischen Kaiserstaates, hg. von Sigmund Schneider, fortgef. v. Benno Imendörffer, Wien 1913, 358. Ferdinand von Feldegg, Die Platz- und Straßenanlagen von Salzburg, Wien (1909), 6; s. dazu auch Höllbacher, Landschaft und Stadt, 274. Vgl. Robert Hoffmann, Erzherzog Franz Ferdinand und der Fortschritt, Wien-Köln-Weimar 1994. Max Dvorák, Einleitung zum ersten Band der österreichischen Kunsttopographie, Wiederabdruck in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 28 (1974), 105-114. Höllbacher, Landschaft und Stadt, 6. Alois Riegl, Salzburgs Stellung in der Kunstgeschichte, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 50 (1905), 1-20, hier 3. Hermann Bahr, Salzburg, Berlin 1914, XI; vgl. Bernhard Paumgartner, Erinnerungen, Salzburg 2 2001, 117. Bahr, Salzburg, I. Bernhard im Gespräch über Salzburg. „Aus Schlagobers entsteht nichts" Gespräch zwischen Rudolf Bayr und Thomas Bernhard, 12.9.1975 (ORF), in: Thomas Bernhard und Salzburg, hg. von Manfred Mittermayer und Sabine Veits-Falk, Salzburg 2001, 13-30, hier 24. Franz Sartori, Neueste Reise durch Österreich ob der Enns, Salzburg, Berchtesgaden, Kärnthen und Steyermark, 2. Bd, Wien 1811,15. Georg Reinbeck, Reise-Plaudereien über Ausflüge nach Wien (1811), Salzburg und dem Salzkammergut in Ober-Österreich (1834), Weimar (1806). In die Würtembergische Alb (1824) und nach den Vor-Cantonen der Schweiz und dem Rigi (1818). 1. Bd., Stuttgart 1837, 262.

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Schubert, Briefe und Schriften, 135. Vgl. Assmann, Erinnerungsräume, 21. Über die Stilisierung Mozarts zum österreichischen Musikheros vgl. Gernot Gruber, Mozart, in: Memoria Austriae I, hg. von Emil Brix u.a., 4 8 78. Frances Trollope, Wien und die Oesterreicher, sammt Reisebildern aus Schwaben, Baiem, Tyrol und Salzburg. 1. Bd., Leipzig 1838, 162; Reinbeck, Reise-Plaudereien, 262. Benedikt Pillwein, Geschichte, Geographie und Statistik des Erzherzogthums Oesterreich ob der Enns und des Herzogthums Salzburg, 5. Theil: Der Salzachkreis, Linz 1839, 314. Die Stadt Salzburg und ihre Umgebungen. Ein Taschenbuch und Wegweiser für Fremde und Einheimische, Salzburg 51840, 48.

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Vgl. Rudolph Angermüller, Das Salzburger Mozart-Denkmal: Eine Dokumentation (bis 1845) zur 150-Jahre-Enthüllungsfeier, Salzburg 1992. Rudolph Angermüller, Die Errichtung des Salzburger Mozart-Denkmals, in: Österreichische Zeitschrift für Musikwissenschaft 26 (1971), 429-434, hier 429. Vgl. Hans Spatzenegger, Neue Dokumente zur Entstehung des Mozart-Denkmales in Salzburg, in: Mozart-Jahrbuch 1980-83, 147-166. Vgl. Ludwig Mielichhofer, Das Mozart-Denkmal zu Salzburg und dessen EnthüllungsFeier im September 1842, Salzburg 1843; Robert Hoffmann, Gesellschaft, Politik und Kultur in der Stadt Salzburg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Bürgerliche Musikkultur im 19. Jahrhundert in Salzburg, hg. von Rudolf Angermüller, Salzburg 1981, 9 30. Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 206 (1968), 529-585, hier 551; vgl. auch Michael Mitterauer, Anniversarium und Jubiläum. Zur Entstehung und Entwicklung öffentlicher Gedenktage, in: Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, hg. von Emil Brix und Hannes Stekl, Wien-Köln-Weimar 1997, 23-90, hier 81. Vgl. Stefan Riesenfellner, Zwischen deutscher „Kulturnation" und österreichischer „Staatsnation". Aspekte staatlicher und nationaler Repräsentation in Dichter- und Musikerdenkmälern der Wiener Ringstraße bis zum Ersten Weltkrieg, in: Steinernes Bewußtsein I. Die öffentliche Repräsentation staatlicher und nationaler Identität Österreichs in seinen Denkmälern, hg. von dems., Wien-Köln-Weimar 1998, 269-304. Eric Hobsbawm, Introduction. Inventing Traditions, in: The Invention of Tradition, hg. von dems. und Terence Ranger, Cambridge 1996, 1-14, hier 9. Gemot Gruber, Mozart und die Nachwelt, München, Zürich 1987, 165 f. Koch, Reise in Oberösterreich und Salzburg, 181. Ludwig August Frankl, Erinnerungen, hg. von Stefan Hock, Prag 1910, 315. Gruber, Mozart und die Nachwelt, 166. Hanns Haas, Salzburg in der Habsburgermonarchie, in: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. II/2, hg. von Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger, Salzburg 1988,661-1022, hier 687-692. Zit. nach: Karl Wagner, Das Salzburger Bürgertum und dessen Musik- und Mozart-Pflege in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Bürgerliche Musikkultur, hg. von Rudolph Angermüller, 31-43, hier 37. Führer durch Salzburg und seine Umgebungen. Mit besonderer Berücksichtigung von Gastein, Berchtesgaden und Reichenhall, Salzburg 1869, 5. Robert Hoffmann, Bürgerliche Kommunikationsstrategien zu Beginn der liberalen Ära. Salzburg und der Eisenbahnanschluß, in: „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit" (Bürgertum in der Habsburgermonarchie II), hg. von Hannes Stekl u.a., Wien-Köln-Weimar 1992, 317-336; vgl. Mitterauer, Anniversarium und Jubiläum, 87. Hundert Jahre Internationale Stiftung Mozarteum Salzburg, 1880-1980, red. von Rudolph Angermüller und Geza Rech, Kassel etc. 1980, 21. Ernst Lichtenhann, Das bürgerliche Musikfest im 19. Jahrhundert, in: Stadt und Fest. Zu Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur, hg. von Paul Hugger u. a., Unterägeri-Stuttgart 1987, 161-179, hier 176. Berta Zuckerkandl, zit. nach Ernst Hanisch, Provinzbürgertum und die Kunst der Moderne, in: Bürgertum in der Habsburgermonarchie, hg. von Ernst Bruckmüller u.a.,Wien-Köln 1990, 127-139, hier 134. Friedrich Gehmacher, Antrag an das Kuratorium der Internationalen Stiftung Mozarteum v. Oktober 1913, zit. nach: Oskar Holl, Dokumente zur Entstehung der Salzburger Festspiele. Unveröffentlichtes aus der Korrespondenz der Gründer, in: Maske und Kothurn 13 (1967), 148-179, hier 152. Merkblatt der Internationalen Mozartstiftung v. 24. Juli 1880, zit. nach Internationale Stiftung Mozarteum, 20. Zum kulturellen Leben in Salzburg im Fin de Siècle s. Ernst Hanisch und Ulrike Fleischer,

„Salzburg - das ist mehr als der bloße Name einer Stadt"

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Im Schatten berühmter Zeiten. Salzburg in den Jahren Georg Trakls (1887-1914), Salzburg 1986, 103 ff. 99 Feldegg, Die Platz- und Straßenanlagen von Salzburg, 6. 100 Karl Müller, „Die schöne Stadt". Salzburg-Mythos und Bilder des anderen Salzburg, in: Österreich in Geschichte und Literatur 36 (1992), 312-323, hier 313. 101 Hugo von Hofmannsthal, Die Mozart-Zentenarfeier in Salzburg, in: Ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben: Prosa I, Frankfurt a.M. 1956, 39 f. 102 Otto Kunz, Das Stadtbild von Salzburg, in: Die Städte DeutschösterTeichs, Bd. VIII: Salzburg, hg. von Erwin Stein, Berlin-Friedenau 1932, 31-36, hier 31 f. 103 Hermann Bahr, Die Mozartstadt, in: Musica Divina 2, Wien 1914, 303-306, hier 304. 104 Bahr, Salzburg, X. 105 W. Fred (=Alfred Drechsler), Salzburg, Berlin 1907, 5. 106 Nikolaus Schaffer, Malerei. Plastik. Architektur, in: Salzburg 1905, Salzburg 1995 (Festschrift zum 90jährigen Bestehen der Raiffeisenkasse), 39-60, 45 f. 107 Barthes, Mythen des Alltags, 131. 108 Müller, „Die schöne Stadt", 313. 109 Heinz Politzer, Musikerlöste Dämonie, in: Harald Waitzbauer, Festlicher Sommer. Das gesellschaftliche Ambiente der Salzburger Festspiele von 1920 bis zur Gegenwart, Salzburg 1996, 214-220, hier 217 f. Zitat aus „Winterdämmerung", in: Georg Trakl, Die Dichtungen, Salzburg ,2 1938, 47. 110 Georg Trakl, Dichtungen und Briefe, hg. von Walter Killy und Hans Szklenar, 2 Bde., Salzburg 1969, 472. '" Ebd., 549; vgl. Hans Weichselbaum, Georg Trakl, Salzburg 1994, 73. " 2 Z.B. in den vom Verlag Eduard Höllrigl, vorm. Hermann Kerber, in zahlreichen Auflagen vertriebenen Reiseführer: Salzburg. Stadt - Umgebung - Ausflüge. Ein Geleit- und Erinnerungsbuch, Salzburg (ca. 1905), mit Illustrationen von E. T. Compton, T. Grubhofer, F. Hegenbarth, P. Rieth u.a.. 113 Franz Jelinek, Valentin Pollak und Franz Streinz, Deutsches Lesebuch für österreichische Realschulen. 4. Bd., Wien 1910, 95. 114 Bahr, Salzburg, IX. 115 Politzer, Musikerlöste Dämonie, 220. 116 Michael P. Steinberg, The Meaning of the Salzburg Festival. Austria as Theatre and Ideology 1890-1938. Ithaca-London 1990, 42 ff., (dt.: Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele, 1890-1938, Salzburg-München 2000), 42 ff.; vgl. auch Walter Weiss, Salzburger Mythos? Hofmannsthals und Reinhardts Welttheater, in: Zeitgeschichte 2 (1975), 109-119. 117 Haas, Heimatland Salzburg, 168. 118 Vgl. dazu Steinberg, Ursprung und Ideologie; Stephen Gallup, Die Geschichte der Salzburger Festspiele, Wien 1989. 1,9 Zum Einfluss der Festspielidee Richard Wagners auf die Entstehung der Salzburger Festspiele s. Robert Hoffmann, Stadt und Festspiele. Das Beispiel von Salzburg, in: Stadt und Theater, hg. von Bernhard Kirchgässner und Hans-Peter Becht, Stuttgart 1999, 143-168. 120 Steinberg, Ursprung und Ideologie, 47. 121 Der erste Aufruf zum Salzburger Festspielplan, in: Hugo von Hofmannsthal, Festspiele in Salzburg, Wien 31952, 32. 122 Vgl. Andres Müry, Jedermann darf nicht sterben. Geschichte eines Salzburger Kults 19202001 ff., Salzburg 2001. 123 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Leck 1992, 394 f. 124 Vgl. Paumgartner, Erinnerungen, 122. 125 Vgl. Robert Hoffmann und Claudia Schöndorfer, Die Zelebration des Besonderen. Die Salzburger Festspiele als Luxus-Event, in: Luxus und Konsum. Eine historische Annäherung, hg. von Reinhold Reith und Torsten Meyer, Münster u.a. 2003, 159-179. 126 Anton Gugg, Die Moderne in Salzburg. Kunst nach 1945, Salzburg 1988, 9. 127 Anton Reichel, Österreichs kulturelle Sendung, in: Neu-Österreich, Amsterdam-Wien 1923, 277-290, hier 277.

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Ernst Bruckmiiller, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien-Köln-Graz 21996, 93. Ebd., 120 ff. Neue Freie Presse, 17.8.1920, zit. nach Gallup, Geschichte der Salzburger Festspiele, 45. Führende Künstler über die Salzburger Festspiele, in: Moderne Welt. Salzburg als Festspielstadt. Festschrift der Salzburger Festspielhausgemeinde, Wien 1921, 4 - 5 , hier 4. Ulrike Kammerhofer-Aggermann, Vom Salzburger Flair zum Klischee, in: The „Sound of Music" zwischen Mythos und Marketing, hg. von ders., Salzburg 2000, 379-386, hier 379. Ernst Hanisch, Wirtschaftswachstum ohne Industrialisierung. Fremdenverkehr und sozialer Wandel in Salzburg 1918-1938, in: Weltbühne und Naturkulisse, hg. von Hanns Haas u.a., 104-112, hier 109. Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau 2, hg. von Peter Broucek, Wien- Köln-Graz 1983, 111. Bruno Walter, in: Salzburger Illustrierte, I, Nr. 4, 4.7.1936, zit. nach Ulrike KammerhoferAggermann, Kulturmetropole Salzburg. Der Festspieltourismus der Zwischenkriegszeit, in: Weltbühne und Naturkulisse, hg. von Hanns Haas u.a., 113-199, hier 118. Erich Kästners Roman erschien erstmals 1938 unter dem Titel: „Georg und die Zwischenfälle", die Neuauflage 1949 erfolgte unter dem Titel: „Der kleine Grenzverkehr". Zit. nach Kammerhofer-Aggermann, Kulturmetropole Salzburg, 116. Zit. nach Ernst Hanisch, Gau der guten Nerven. Die nationalsozialistische Herrschaft in Salzburg 1938-1945, Salzburg-München 1997, 65. Vgl. Gert Kerschbaumer, Mozart - „arisch", in: Das Phänomen Mozart im 20. Jahrhundert, hg. von Peter Csobádi u.a., Salzburg 1991, 7 5 - 9 1 . Emst Hanisch, Nationalsozialistische Herrschaft in der Provinz. Salzburg im Dritten Reich, Salzburg 1983, 182. Das Flügelroß, hg. von Heinrich Zillich, Salzburg 1941 (Erstes Kunstjahrbuch des Reichsgaues Salzburg), 5 u. 7. Zit. nach Hanisch, Gau der guten Nerven, 65. Eduard Kriechbaum, Salzburg und das Oberdonauland, Berlin 1939,4. Alois Schmiedbauer und Karl Fuchs, Salzburg. Gestalt und Antlitz, Salzburg 1943, 26, 32. Christoph Braumann, Stadtplanung in Österreich von 1918 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Salzburg, Wien 1986,120 ff; Norbert Mayr, Eine NS-Akropolis für Salzburg. Das Wirken der Architekten Otto Strohmayr und Otto Reitter, in: Kunst und Diktatur. Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 1922-1956, hg. von Jan Tabor, Baden 1994, 342-349. Tagebucheintragung v. 24.7.1938, in: Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hg. von Elke Fröhlich, Teil I/Bd. 5, München 2000, 392. Tagebucheintragung v. 30.8.1942, in: ebd., Teil II/Bd. 5, München u.a. 1995, 424. Z.B. Feldegg, Die Platz- und Straßenanlagen von Salzburg. Schmiedbauer und Fuchs, Salzburg. Gestalt und Antlitz; Bruno Grimschitz, Salzburg im Bild, Berlin 1940; Erika Schwarz, Salzburg und das Salzkammergut, Berlin 1939; Kurt P. Karfeld, Salzburg. Ein Farbbildwerk, o.O., o.J. (um 1940); künstlerisch hochstehend: Stefan Kruckenhauser, Verborgene Schönheit. Bauwerk und Plastik der Ostmark. 180 Leicabilder, Salzburg-Leipzig 1938. Franz Martin, Salzburg. Kunstwerk der deutschen Stadt, Salzburg-München 1943. Salzburg - Kleinod von Österreich, 10 Jahre Aufbau 1945-1955, Salzburg o.J. Erich Marx, „Dann ging es Schlag auf Schlag". Die Bombenangriffe auf die Stadt Salzburg, in: Bomben auf Salzburg. Die „Gauhauptstadt" im „Totalen Krieg", hg. von dems., Salzburg 1995, 139-274, hier 153. Stefan Zweig, Salzburg - die Stadt als Rahmen, in: Almanach der Salzburger Festspiele, 1925, 87 ff. Vgl. Gert Kerschbaumer und Karl Müller, Begnadet für das Schöne. Der rot-weiß-rote Kulturkampf gegen die Moderne, Wien 1992. Müller, „Die schöne Stadt", 316.

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Nikolaus Schaffer, Der stille Triumph der Schönheit. Max Peiffer Watenphul und Salzburg, in: Ders., Max Peiffer Watenphul (1896-1976), Salzburg 1993, 7 - 3 4 , hier 15. Siehe auch Harald Waitzbauer, Eine Herzensangelegenheit, in: Othmar Thormann und Verena von Gagern, Inge Morath, Salzburg. An Artist's View, Salzburg 1991, 7-16. Wolfgang Kos, Imagereservoir Landschaft. Landschaftsmoden und ideologische Gemütslagen seit 1945, in: Österreich 1945-1995, hg. von Reinhard Sieder u.a., Wien 1995,599-624, hier 601. Vgl. Bruckmüller, Nation Österreich, 107 f., 115. Österreichs Lieux de mémoire. Umfrage des Fessel-GfK Instituts für Marktforschung, August 1998. Vgl. Beate Krannich, Von der Zauberflöte zum Sound of Music. Die touristische Vermarktung der Stadt Salzburg. Diplomarbeit Univ. Salzburg 1992, 123. Haas, Heimatland Salzburg, 182 f. Ursula 1. Neumayer, Österreichbilder. Eine Analyse nationaler Identifikationsmuster am Beginn der Zweiten Republik. Diplomarbeit Univ. Salzburg 1995, 112. Kurt Luger, Salzburg als Bühne und Kulisse. Die Stadt als Schauplatz der internationalen Unterhaltungsindustrie, in: Weltbühne und Naturkulisse, hg. von Hanns Haas u.a., 176-187, hier 177. Ebd., 181. Kammerhofer-Aggermann, Vom Salzburger Flair zum Klischee, 383. Thomas Huber, Wie Julie Andrews Mozart verdrängte. Hintergründe und Auswirkungen des US-Tourismus in der Stadt Salzburg, in: The „Sound of Music" zwischen Mythos und Marketing, hg. von Ulrike Kammerhofer-Aggermann, 401-426, hier 419. Thomas Bernhard, Die Ursache. Eine Andeutung, Salzburg 1975, 7. Vgl. Manfred Mittermayer, „...ich hatte immer nur ich werden wollen". Thomas Bernhards autobiographische Erzählungen, in: Thomas Bernhard und Salzburg, hg. von Manfred Mittermayer und Sabine Veits-Falk, 13-30. Vgl. etwa: Bernhard im Gespräch über Salzburg. Bernhard, Die Ursache, 64. Zit. nach Haas, Heimatland Salzburg, 196. Hans Sedlmayr, Die demolierte Schönheit. Ein Aufruf zur Rettung von Salzburgs Altstadt, Salzburg 1965. Salzburger Nachrichten, Nr. 236, 1965. Hans Sedlmayr, Die Stadt ohne Landschaft. Salzburgs Schicksal morgen? Salzburg 1970. Bernhard, Die Ursache, 75. Michael Metschies, „Erweiterter", gewandelter oder unveränderter Denkmalbegriff? in: Die Alte Stadt 23 (1996), 219-246, hier 245. Der Genius loci überzieht die Stadt, hg. von Ludwig Laher, Wien-Mühlheim a. d. Ruhr 1992, 6 ff.; Johannes Voggenhuber, Bericht an den Souverän. Salzburg: Der Bürger und seine Stadt, Salzburg-Wien 1988, 7 ff. Müller, „Die schöne Stadt", 321. Gerhard Amanshauser, Salzburger Marginalien, in: Ärgernisse eines Zauberers. Satiren und Marginalien, Salzburg 1973, 7 - 2 6 ; ders., Generalsanierungsplan für Salzburg, in: Fahrt zur verbotenen Stadt. Satiren und Capriccios, Salzburg 1987, 9-11. Z.B. Salzburg. Reisebuch, hg. v. Adolf Haslinger, Frankfurt a.M.-Leipzig 1993. Josef Wysocki, Entwicklung bis zur Gegenwart, in: Wirtschaft in Salzburg. VIII. LandesSymposium am 26. September 1987, Salzburg 1987, 19-27, hier 25. Peter Weichhart, Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation, Stuttgart 1990; ders., Heimatbindung und Weltverantwortung. Widersprüchliches oder komplementäre Motivkonstellationen menschliches Handelns? in: geographie heute, 100 (1992), 30-33, 43-44.

Christian

Stadelmann

Mariazell Eine barockzeitliche Wallfahrt nach Mariazell folgte einem stets ähnlichen, schematisierten Ablauf. Sie war zumeist gemeindeweise organisiert und irgendwann einer Gefahr wegen, die den ganzen Ort betroffen hatte, versprochen worden. Die Bedrohung durch die Osmanen, eine Feuersbrunst oder eine Hungersnot waren typische Motive dafür, dass man von einer Pfarre aus alljährlich eine bestimmte Wallfahrt zu einem mehr oder weniger festen Termin durchführte. Häufig wurde sie von einer eigens dafür eingerichteten Bruderschaft im Zusammenwirken mit der Pfarr- und Diözesangeistlichkeit vorbereitet und beworben. Es war ein Pilgerführer zu nominieren, der schon in den Jahren davor teilgenommen hatte und den Weg gut kannte. Dieser war die Ansprechperson bei den Vorbereitungen der Wallfahrt; er fixierte die Routenabschnitte und plante die zeitliche Abfolge, wählte die Quartiere aus und bestimmte auch während der Wallfahrt, wann gebetet oder gesungen wurde. Einzelpersonen und Kleingruppen als Pilger dürften eher eine Ausnahme gewesen sein, jedenfalls haben deren Wallfahrten fast keinen Niederschlag in historischen Quellen gefunden. Zu sehr ist ihnen der Charakter einer halbprivaten Religiosität eigen. Auch zeichnen sie sich nicht durch regelmäßige Wiederholung aus. Und insgesamt fehlt ihnen der Sinn für das Spektakel. Die Wallfahrergruppen werden von ihrer Pfarrgemeinde mit einer Messe und Glockengeläute verabschiedet. Diejenigen, die daheim bleiben, gehen wenigstens bis zum sogenannten Urlauberkreuz mit, jenem durch ein sakrales Kleindenkmal bezeichneten Ort, von dem aus man die Heimatgemeinde das letzte Mal sehen kann. Bis hierher wird der Wallfahrtszug in einer strengen Ordnung geführt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer tragen ihre Festtagstrachten, sie singen und beten - laut, rhythmisch und korrespondierend; Fahnen, Schilder, Kerzen und Kreuze, womöglich beziehungsvolle Ikonen werden mitgetragen. Ein Wagen begleitet die Wallfahrt zu dem Zweck, Gepäck, Lebensmittel und erkrankte oder des Gehens nicht fähige Personen zu transportieren. Der Weg, der jedes Jahr gleich gewählt wird, ist „markiert"; man hat Bilder an Bäume gehängt, Bildstöcke und Wegkreuze aufgestellt. 1 Womöglich ist mit der Gruppe auch ein eigener Priester mitgekommen. Er betreut die Teilnehmenden seelsorgerisch und liest unterwegs und auch am Gnadenort selbst die Messen.

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Im weiten Umkreis von Mariazell ist die Region als stark ausgeprägte sakralisierte Landschaft erfahrbar. Zahlreiche Orts- und Flurnamen sind Ausdruck einer katholischen Territorialität, die sich im unmittelbaren Einzugsbereich immer mehr verdichtet: Annaberg, Joachimsberg, Josefsberg und Sebastianshöhe als die letzten Stationen von Norden her stellen sich in ihrer Abfolge den Wallfahrten wie ein finaler Hürdenlauf in den Weg. Die Bezeichnungen für die Erhebungen sind barocken Ursprungs und haben sich erst mit der neuzeitlichen Blüte der Wallfahrt gegen ältere Flurnamen durchgesetzt. Den Heiligen begegnet man auch in Kirchenausstattung von Mariazell: die Statuen von Josef, dem Bräutigam Mariens, und deren Eltern Anna und Joachim wurden 1734 als Abschluss auf den Altar der Gnadenkapelle im Hauptschiff der Basilika gestellt. 2 Auf der Hauptroute nach Mariazell haben sie eine topographische Entsprechung gefunden. Die heiligen Fürbitter sind gewissermaßen sinnlich mehrfach wahrnehmbar geworden.

Sakralisierte Landschaft in Einzugsgebiet von Mariazell. Ansichtskarte Anfang 20. Jahrhundert

Auf jeder der sternförmig zusammenlaufenden Routen fordern Wegkreuze, Erinnerungstafeln und Marterln immer wieder dazu auf, innezuhalten und Gebete zu verrichten. Auch große, reich ausgestattete Kapellen stehen auf freier Flur, ohne dass sie einen Bezug auf eine dazu gehörende Ansiedlung erkennen lassen würden. 3 Sie sind zumeist Hinweise auf vermögende Gläubige, die erfolgreich ein Anliegen nach Mariazell getragen und sich dann als Stifter erkenntlich gezeigt haben. Die Pfarrkirchen der Orte, die an den Pilgerstraßen gelegen sind, sind prächtiger ausgestattet als anderswo. Sie haben Teil an der barocken Aura, die das weitum bedeutendste Wallfahrtszentrum ausstrahlt. Ihre Altäre sind von prominenten Künstlern der Zeit gestaltet und beherbergen Reliquien, die einen besonderen Wert haben, mögen sie echt sein oder nicht:

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Heiligenkreuz eine große Partikel des Christuskreuzes, Türnitz einen Dorn aus der Krone Christi, Annaberg ein Stück Hirnschale der heiligen Anna, der Mutter Marias. Die wichtigsten Monumente entlang des Weges nach Mariazell sind jedoch die Klöster. Sie sind Orientierungs- und Stützpunkte. Sie gewähren Herberge, womöglich auch für größere Gruppen, und bieten eine umfassende geistliche Betreuung an. Die Äbte zeigen auch für die Infrastruktur Verantwortung, kümmern sich etwa darum, dass die Straßen instand gehalten werden. Den Würdenträgern, die der Gnadenmutter ihre Aufwartung machen wollen, bieten sie einen standesgemäßen Komfort, wie er ansonsten in dieser Gegend nicht zu finden wäre. Eines dieser Klöster ist das Zisterzienserstift Lilienfeld. Es liegt noch etwa eineinhalb Tagesetappen von Mariazell entfernt, an einer Stelle, wo die Pilgerrouten aus dem Donautal gebündelt werden 4 und wo allmählich der gebirgige Abschnitt der Wallfahrt beginnt. Danach geht es weiter durch das Tal der Traisen hinein, das nach dem gleichnamigen Ort enger wird, bis es vor dem Annaberg ein Ende findet. Hier steht das sogenannte Bergbauernkreuz, bei dem traditionsgemäß vor dem beschwerlichen Anstieg Rast gehalten wird. Der Weg auf den Annaberg wird als Kreuzweg begriffen. Man geht ihn schweigend, still betend. Manche tragen als Büßer einen Stein mit sich, andere haben ihren Pilgerstab wie den Querbalken eines Kreuzes über die Schultern gelegt und spannen die Arme darauf. Nur für vornehme Wallfahrerinnen und Wallfahrer stehen Sänften bereit. Die Ankunft einer Wallfahrtsgruppe wird in Annaberg durch das Läuten der Glocken angekündigt. Oben werden die Ankömmlinge von Devotionalienhändlern erwartet, wie sie in der ganzen Umgebung von Mariazell - nicht nur mit festen Buden, sondern auch mobil - zu finden sind. In Annaberg wird vielfach zum letzten Mal vor Mariazell übernachtet. Der Weg führt nunmehr hinunter nach Wienerbruck und über die letzte Erhebung, den Josefsberg, mit dem man eine Meereshöhe von knapp über 1.000 Meter erreicht. Den Joachimsberg kann, muss man aber nicht in die Route einbeziehen. Ein letztes Mal geht es noch hinunter und wieder hinauf, 5 dann ist man beim Mariazeller Urlauberkreuz angekommen, wo sich die Wallfahrt sammelt. Wie einige Tage zuvor der Auszug aus der Heimatgemeinde wird die Ankunft am Gnadenort mit allen optischen und akustischen Mitteln, die zur Verfügung stehen, zelebriert. Die Wallfahrt trägt darüber hinaus auch ihre große Bußfertigkeit zur Schau. Manche Wallfahrerinnen und Wallfahrer oder auch ganze Prozessionen überbieten sich gegenseitig in dem Bestreben, dem Heiligtum, dessen man nunmehr ansichtig wird, den nötigen Respekt zu zollen. Nicht nur, dass sie sich der Kirche Steine tragend und den Gekreuzigten imitierend nähern, manche rutschen überhaupt auf den Knien darauf zu. Die Form, in der die Buße zu erfolgen hatte, war dabei nicht individuell bestimmt. Sie war in der Beichte und durch die Anleitungen des begleitenden Geistlichen vorgegeben. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kauften bei den Wachsziehern, die unter den Devotionalienhändlern ihre Buden hatten, jeweils

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eine Kerze. Sie zogen ihre Schuhe aus und legten die Kopfbedeckung ab. Die Männer entblößten auch den Oberkörper, die Frauen lösten das Haar und verhüllten mit dem Kopftuch das Gesicht. 6 So bewegten sie sich kniend rund um die Gnadenkapelle und zum Hochaltar. Manche betonten ihre Demut, indem sie die Körper auf die Erde streckten und von Geistlichen Buß-Ruten empfingen. Danach wurde ein Lobgesang angestimmt. 7

Wallfahrergruppe beim Mitteleuropäischen Katholikentag 2 0 0 4

Jeder der Autoren, die diese Vorgänge beschrieben haben, zeigt sich sehr beeindruckt davon. Selbst der kompromisslose Aufklärer Johann Rautenstrauch, der sich 1785 auf einer „Reise nach Mariazell" ausdrücklich nicht für die Religion interessiert und demonstrativ ausschließlich naturwissenschaftliche und ökonomische Betrachtungen anstellt, bleibt nicht ungerührt: „Das vorzüglichste, so mir da auffiel, waren die verschiedenen Nationen und mancherley Menschen, welche hier bey dem Altar hingekniet, ihre Herzensangelegenheiten vortrugen. Einige waren wie Stäbe ohne Gefühl hingelehnt, und begaften das so alles mit, was hier vorgieng. Andere knieten da mit funkelnden Augen, hinter die Ohren gestrichenen Haaren, und erhitzten Gesichtern, ohne ein Aug vom Altar zu verwenden; andere ganz kaltsinnig und andächtig-stumm strichen ihren Rosenkranz fleißig. Einige sangen so recht aus Herzensgrund, einige in die tiefste Traurigkeit versenkt seufzten, viele zerfloßen unter lautem Aechzen in Thränen, ein jeder that so nach seiner Weise, Lage, Gemüthsverfaßung oder Andacht, so gut er konnte. Der Anblick aller dieser Menschen, welche im größten Eifer und mit wahrer innerlichen Ueberzeugung vor dem Altar hingestreckt Hilfe suchen, ist ausserordentlich rührend. Man wird davon mit hingerissen, und alle übrigen Begriffe entfliehen." 8 Neben der eindrücklichen Schilderung der emotionalen Verfassung der Pilger macht Rautenstrauch auch auf eine Besonderheit aufmerksam, die später, im 19. Jahrhundert, mehr und mehr als völkerverbindendes Merkmal betont

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wurde: Menschen mit verschiedenen Sprachen und Verhaltensweisen begegnen einander, wobei der katholische Glaube und das Ritual als Normen gemeinsamen Kulturbewusstseins fungieren. Dies gilt bis in die Gegenwart. Der große Einzugsbereich, den der Wallfahrtsort stets hatte, wurde schon immer betont. Damit war aber zunächst nur seine überregionale Bedeutung angesprochen: Eine Wallfahrt nach Mariazell wurde in die Tradition der großen Pilgerfahrten zu den Grabstätten bedeutender Heiliger des Mittelalters, von Jerusalem, Rom, Santiago di Compostella und Aachen gestellt. Seit dem 17. Jahrhundert war Mariazell als Reichsheiligtum der Habsburger aufgebaut worden, aber erst als nationalstaatliche Bestrebungen innerhalb dieses Reiches lauter wurden, diente das friedliche Zusammentreffen der Völker, für das es ansonsten ja keine Anlässe gab, als Argument für die Einheit in der Vielfalt, wie sie zum Ende hin immer flehentlicher beschworen wurde.

Der heilige Ursprung Die Legenden, auf denen der Ruf Mariazells als Wallfahrtsort gegründet ist, bilden denn auch ein treffliches Fundament für seine Indienstnahme im Sinne der habsburgischen Reichsidee. Damit ist noch nicht die Ursprungslegende gemeint, mit der nur die Geschichte von der christlich motivierten Kultivierung der Region auf pittoreske Weise erzählt wird: Ein Mönch wird vom Kloster Sankt Lambrecht, das für die Seelsorge in der Gegend um das spätere Mariazell zuständig ist, ins obere Aflenztal gesandt, um die dortigen Hirten zu betreuen. Der Geistliche richtet sich eine kleine Andachtsstätte ein, indem er eine mitgebrachte Marienstatue - das Gnadenbild - auf einen Baumstumpf stellt. Sie ist die Erklärung für die Wallfahrt an sich, folgt ansonsten aber einem stereotypen Muster, wie man es vielhundertfach auch für andere Wallfahrtsorte kennt. Die Reichsidee verlangt nach einer komplexeren Grundlegung. Und eine solche wird durch zwei Initiallegenden bereit gestellt, die zwar historisch unsicher, um so mehr aber nachträglich mit Historizität ausgestattet worden sind: Die eine Legende erzählt von einem mährischen Markgrafen Heinrich, der um 1200 gemeinsam mit seiner Frau nach Mariazell gekommen sein soll. Beide waren von schwerer Krankheit genesen, nachdem sie im Traum vom heiligen Wenzel nach Mariazell gewiesen worden waren, einem Wallfahrtsort, von dem sie noch nie zuvor gehört hatten. Aus Dankbarkeit sollen sie eine Kapelle - den Kern des heutigen Gnadenaltars - gestiftet haben. Aufgrund der Herkunft des Markgrafen und der Einbindung des heiligen Wenzel in die Sage ist der Bezug zu Böhmen und Mähren hergestellt. Die Rolle Wenzels wird im Übrigen unterschiedlich stark betont. Abgesehen davon, dass er Heinrich und dessen Gemahlin nach Mariazell geschickt hat, soll er (nach anderer Version ein Engel) auch die Wallfahrt Heinrichs, die im unwegsamen Gelände in die Irre geraten sei, auf den richtigen Weg zurückgeführt und sicher nach Mariazell geleitet haben. 9

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Darstellung der Gründungslegende von Mariazell. Ansichtskarte 1907

Johann Mannerstorfer, der 1487 die erste (erhalten gebliebene) historische Darstellung des Wallfahrtsortes verfasst hat, datiert die Heinrichslegende noch mit 1286. Da aber die spätere Geschichtsschreibung für diese Zeit keinen Heinrich von Mähren ausmachen kann und überdies den Beweis für einen Kirchenbau im Jahr 1200 zu haben glaubt, wird die Legende entsprechend vorverlegt. 10 Welcher Heinrich wirklich gemeint sein könnte, ist stets unklar geblieben." Eine solche zeitliche Festlegung korrespondiert auch besser mit der Darstellung des Tympanonreliefs über dem Eingang der Kirche, das für die Legendenbildung das wohl gewichtigste Dokument ist. Den Stein ließ der Sankt Lambrechter Abt Heinrich Moyker in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts anfertigen. 1 2 Er ist der oben erwähnte Beweis für den ersten Kirchenbau, weil er bildhaft - die Initiallegenden erzählt und - schriftlich - für das Jahr 1200 die Errichtung einer ersten Kapelle vermerkt, die folgerichtig als eine Stiftung des Markgrafen Heinrich angesehen wurde. Konkrete Anhaltspunkte für die Wallfahrt nach Mariazell gibt es erst im 14. Jahrhundert, als erstmals Ablässe verliehen wurden. Der damit verbundene ökonomische Aufschwung fand seine Entsprechung in der Markterhebung 1342. Die zweite Initiallegende, die für den Wallfahrtsort von größter Wichtigkeit werden sollte, weist auf das dritte Viertel des 14. Jahrhunderts hin. König Ludwig von Ungarn (1326-1382) habe einen Feldzug gegen die Türken unternommen, die damals das erste Mal mit kriegerischer Absicht auf den Balkan gekommen seien. Ludwig stand ein vergleichsweise kleines Heer zur Verfü-

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gung, mit dem er eigentlich der türkischen Übermacht unterliegen hätte müssen. Vor der entscheidenden Schlacht habe er gebetet und sei dann eingeschlafen. Als er aufgewacht sei, habe er ein Marienbild auf der Brust liegen gehabt. Durch dieses Zeichen motiviert, sei er in die Schlacht gezogen und habe einen großartigen Sieg errungen. Aus Dankbarkeit dafür habe er das hilfreiche Bildnis und andere Geschenke der Muttergottes nach Mariazell gebracht. Darüber hinaus habe Ludwig eine gotische Kirche an Stelle der alten bauen lassen. Deren Turm sei später, im Zuge der Neugestaltung des Gotteshauses, aus Respekt vor König Ludwig und den ihm folgenden ungarischen Wallfahrern, nicht abgerissen worden, obwohl dies ursprünglich geplant gewesen war. Er steht heute noch zwischen den zwei flankierenden Barocktürmen. Auch diese Legende birgt historische Unsicherheiten, die aber aufschlussreich hinsichtlich ihrer sinnstiftenden Funktion für das spätere Reichsheiligtum sind. Einerseits ist es die Initiative zum Kirchenbau, die zumindest von der historiographischen Literatur der letzten hundert Jahre nicht ohne weiteres König Ludwig von Ungarn zugeschrieben wird. Es wird betont, dass nicht die gotische Kirche und der Turm, sondern eine „Empore der Wallfahrtskirche - heute noch teilweise und in stark veränderter Form als Gnadenkapelle erhalten - " auf Ludwig zurückgehe. 13 Mit dieser Neudatierung der Gnadenkapelle geht aber der sichtbare Nachweis für den früheren, von Heinrich von Mähren initiierten Bau verloren. Tatsächlich ist anzunehmen, dass eher das Stift Sankt Lambrecht ein Interesse an der Errichtung der großen gotischen Wallfahrtskirche hatte als der ungarische König. In unserem Zusammenhang ist es aber weniger bedeutsam, wie die bauliche Entwicklung wirklich abgelaufen ist. Interessant ist vor allem, dass eine Stiftung der gotischen Kirche durch König Ludwig während all der Jahrhunderte die „bessere Geschichte" gewesen ist als ein Bau, der auf die Initiative des Klosters Sankt Lambrecht zurückgeht. Die Ludwigs-Version wurde sogar aus dem Kloster selbst kolportiert, 14 von dem man annehmen müsste, dass es die eigenen Leistungen nicht leugnet und deren Würdigung einem anderen zukommen lässt. Wichtiger noch als die Frage, wem der gotische Kirchenneubau zu verdanken ist, ist die nach dem Anlassfall für Ludwigs Wallfahrt. Vor allem sind die Versuche, eine konkrete Schlacht zu benennen, in der sich Ludwigs Heer gegen eine vierfache Übermacht an Türken behauptet haben soll, stets von Ungereimtheiten begleitet gewesen. Unter den zahlreichen Kriegsmanövern, die der streitbare Ungarnkönig vorgenommen hat, lässt sich keines gegen die Osmanen belegen. Das macht auch die Datierung der Ereignisse schwierig. Je nachdem, ob der Zusammenhang mit der Baugeschichte der Kirche oder eine bestimmte Schlacht fokussiert wird, variieren die Angaben zwischen 134415 und 1377,16 am meisten aber werden die Jahreszahlen 1363 und 1365 genannt. 17 Auch hinsichtlich der Feinde Ludwigs gibt es sehr unterschiedliche Lesarten. Das reicht von einer unreflektierten Verwendung des Begriffs „Türken" 18 über historisch plausiblere Umdeutungen in „Bosnier" 19 oder „Bulgaren" 20 bis zur vorsichti-

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gen Verallgemeinerung „Ungläubige", 21 oder man verzichtete überhaupt darauf, den Feind zu benennen. 22 Berthold Sternegger hat sich bereits 1758 in einer insgesamt sehr umfangreichen Monographie über Mariazell dem Problem ausführlich gewidmet. Die historischen Gegebenheiten sind ihm vertraut, und er stellt fest, dass es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass die Osmanen im Zuge ihrer Expansion schon 1363 in den Einflussbereich Ludwigs gekommen seien. 23 Er kann sich vorstellen, dass „zwar die Türken mit denen Tartarn [...] keinen offenen Angrif, wohl aber einen jähligen Einfall in die Gränzen Ungarn gewaget" hätten, 24 hält es aber auch nicht für ausgeschlossen, dass Ludwig die Wallfahrt aus Dankbarkeit für einen anderen Sieg unternommen hat. Nur spräche halt das Tympanonrelief eindeutig davon, dass Ludwig „wider die Türken glorreich gesieget" habe. Sternegger zitiert die lateinische Inschrift gleich zwei Mal und behilft sich dann damit, dass auf dem Relief der Begriff „Türken" unscharf verwendet werde, zumal man ihn ja auch ganz allgemein sprichwörtlich für einen „ungesitteten Menschen" verwende. Ansonsten aber ist für ihn die Inschrift des Tympanonreliefs als Quelle untadelig: „Was Schwierigkeit will man dann jetzt über den Sieg Ludovici vorbringen, da wir das Zeugnuß hievon nicht auf schwaches Papier geschrieben, sondern in dauerhaften Stein gegraben den Lesern seit mehr als dreyhundert Jahren öffentlich vorweisen." 25

Tympanonrelief über dem Hauptportal der Basilika Mariazell

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Das Tympanonrelief über dem Hauptportal wurde im Auftrag des damaligen Abtes von Sankt Lambrecht, Heinrich Moyker (Abt 1419-1455), zu jener Zeit angefertigt, als der Habsburger Albrecht V. von Österreich durch Heirat König von Ungarn (1437) und von Böhmen (1438) wurde. Benedikt Plank sieht in dem Bild nicht zufällig „die geistlichen und politischen Bezüge des in Österreich gelegenen Mariazell zu Böhmen und Ungarn" ausgewiesen. 26 Man kann wohl davon ausgehen, dass das Relief, so knapp die Legenden darauf auch erzählt sind, zumindest deren wichtigste Quelle für die späteren literarischen beziehungsweise historiographischen Bearbeitungen darstellt. Berthold Sternegger, der seinerseits eine bedeutsame Quelle geworden ist, nimmt vor allem auf den Stein Bezug. Ältere Quellen sind nicht erhalten. Als Zeugnis für den historischen Gehalt der Legenden aber ist das Relief äußerst fragwürdig: Abgesehen vom lateinischen Text am oberen und unteren Rand zeigt es bildlich die Muttergottes, zu der sowohl Heinrich von Mähren als auch Ludwig von Ungarn Zuflucht nehmen. Daneben sind die Schlacht gegen die Türken 27 und eine Dämonenaustreibung dargestellt. Maria hat ihren Schutzmantel um eine Personengruppe gelegt, die das (österreichische) Staatsvolk versinnbildlicht. Darunter befindet sich Herzog Albrecht, der bereits die Krone von Böhmen trägt.28 Auf die konstitutive Ursprungslegende nimmt das Tympanonrelief nicht unmittelbar Bezug, dafür aber zeigt es neben dem Wappen Ludwigs den Bindenschild von Albrecht V. und das Wappen seiner Gemahlin Elisabeth, der Tochter König Sigismunds von Ungarn. Aus heutiger Sicht kann es aber nicht mehr allein darum gehen, darüber zu spekulieren, was historisch falsch an den Initiallegenden und nur einem politischen Programm verpflichtet ist. Faktizität, Possibilität und vereinnahmende Deutung sind ein enges Geflecht eingegangen, das zu entwirren nicht leicht ist. Das Unterfangen könnte auch nicht endgültig gelingen: Im Dienste einer machtorientierten Staatsidee haben die Legenden eine Art Wahrheit erlangt.

1757 - das sechste Zentenarium Der erwähnte Berthold Sternegger dürfte großen Anteil daran gehabt haben, dass Legende zu Geschichte geworden und als solche festgeschrieben ist. Anlass dafür war ihm das 600-Jahr-Jubiläum von Mariazell, das 1757 gefeiert wurde. Er veröffentlichte im darauffolgenden Jahr das Buch „Sechstes Jahr-Hundert der zu Mariam nach Zell in Steyermark angefangenen Wallfahrt", 29 zu spät zwar, als dass es den Jubiläumspilgerinnen und -pilgern als Anleitung dienen hätte können, dafür aber ist eine Bewertung der sehr erfolgreich verlaufenen Feiern bereits eingeflossen. Das Buch ist deutlich vom Anspruch getragen, Geschichte festzuhalten. Es lässt auch nicht an historischer Methodik mangeln, zumal es ausführlich auf die verwendeten Quellen eingeht und diese gegeneinander abwägt. Ausführlich referiert der Autor immer wieder Passagen aus älterer Literatur und anderen Dokumenten. Er wägt Für und Wider ab, entscheidet schließ-

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lieh aber immer im Sinne einer Verankerung der Legende in der Geschichte. Im Falle der Ursprungslegende irritiert ihn beispielsweise, dass die ihm vorliegenden älteren historischen Beschreibungen die Errichtung des Heiligtums erst im 13. Jahrhundert ansetzen. Der Geschichtsschreiber Christoph Andreas Fischer, der 1604 die erste Geschichte von Mariazell geschrieben hat, die im Druck erschienen ist, 3 0 macht eine Mönchszelle erst für das Jahr 1282 aus, was die Legende von Heinrich von Mähren in Frage stellen und vor allem die 600-JahrFeiern ad absurdum führen würde. Sternegger behilft sich da mit der Überlegung, dass Fischer nicht schreibe, dass es sich um den ersten Geistlichen gehandelt habe, der hier gelebt hat, und dass auch das Gnadenbild genauso gut schon vorher hier gestanden habe könne.31 Das Buch Sterneggers hat insgesamt historische Festschreibung im Sinn. Er verzichtet auf ausführliche Mirakelberichte, wie sie in der Wallfahrtsliteratur zu dieser Zeit noch üblich gewesen sind, und konzentriert sich auf 445 Seiten vor allem darauf, akribisch von herrschaftlichen Wallfahrten während der zurückliegenden Jahrhunderte - vor allem denen der Familie Habsburg - zu berichten und die Ursprungs- und Initiallegenden als historisch zu verankern. Man wird die Monographie wohl auch als Versuch werten dürfen, dem Geist der Aufklärung eine möglichst abgesicherte Legitimation der Wallfahrt entgegenzuhalten und dem Wallfahrtsort gleichzeitig die Wertschätzung des Kaiserhauses zu sichern. Ganz offensichtlich war es Sternegger jedenfalls ein großes Anliegen, das sechshundertjährige Jubiläum zu rechtfertigen, wobei nicht bekannt ist, ob es dazu kontroversielle Ansichten gab.32 Jedenfalls wurde ein Mariazeller Zentenarium mit Sicherheit im Jahr 1757 zum ersten Mal gefeiert. Die Vorstellung für den Zeitraum von einem Jahrhundert - was ja eine abstrakte Form der Zeitgliederung darstellt - setzt ein lineares Zeitverständnis sowie die allgemeine Verwendung des Dezimalsystems voraus. Beides sind in Mitteleuropa neuzeitliche Entwicklungen. Das Wort „Jahrhundert" ist überhaupt erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in Verwendung. 33 1700 hatten erstmals Feiern stattgefunden, die vom Bewusstsein getragen waren, dass man eine kalendarische Zeitenwende erlebte. Die römische Kirche hatte, ohne dass eine geistesgeschichtliche Grundlegung auszumachen wäre, bereits im Mittelalter damit begonnen, Heilige Jahre zu begehen. Im Jahr 1300 wurde erstmals für den Besuch der Basiliken Sankt Peter und Sankt Paul in Rom ein genereller Sündenablass gewährt - ein „ungewöhnlich großzügiges Angebot, denn ein vollständiger Ablass war ansonsten nur durch den Kreuzzug zu erlangen". 34 Dessen Bekanntgabe hatte - vor dem Hintergrund eines aufs beste ausgeprägten Bewusstseins um Fegefeuer und ewiges Leben - eine enorme Wirkung und löste große Pilgerströme aus. Noch die folgenden Jahrhundertwenden waren aber nicht durch Ende und Anfang eines Säkulums symbolisch aufgeladen, sondern durch den Sündenablass, der in Heiligen Jahren erlangt werden konnte. 35 Heilige Jahre finden, nach einer ersten Phase der relativen Willkür, seit 1475 regelmäßig alle 25 Jahre statt.36

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Die Sündenablässe blieben auch nicht auf den Besuch der großen mittelalterlichen Pilgerziele beschränkt. Sie erwiesen sich als äußerst wirksames Instrument, die Bedeutung eines Wallfahrtsortes zu heben und kamen nicht selten durch landesherrschaftliche Interventionen zustande. 37 Für Mariazell ist zunächst 1330 ein erzbischöflicher und 1342 ein päpstlicher Ablass belegt, der auf 100 Tage beschränkt war. Die Reihe setzt sich während der ersten Blütezeit des Gnadenortes im Spätmittelalter und dann in der Barockzeit wieder fort. Die Ablässe korrespondieren mit einer entsprechend hohen Pilgerfrequenz, wie sie durch die Zahl der ausgegebenen Hostien erhoben wurde. 1725 war eine Ablassbestätigung für die Wallfahrt nach Mariazell erfolgt, womit an eine umstrittene vorreformatorische Tradition angeknüpft wurde. 1754 verlieh Papst Benedikt XIV. neuerlich einen vollkommenen Ablass, mit dem als Argument die Wallfahrt augenscheinlich sehr erfolgreich propagiert wurde.38 Als bedeutendstes Ereignis des Jahres 1757 galt die Tatsache, dass das Kaiserhaus Mariazell die Ehre gab. Am 13. September besuchte Maria Theresia, begleitet von ihren Kindern Josef, Karl, Leopold, Maria Anna, Maria Christina und Maria Elisabeth, den Ort. Sie stiftete ein prächtiges silbernes Gitter für den Gnadenaltar, wie überhaupt die ganze Umgebung von diesem Besuch profitiert haben dürfte. 39 Das Bemerkenswerteste, was die Ausstattung betrifft, ist in dem uns interessierenden Zusammenhang aber die Aufstellung zweier bleierner Plastiken vor dem Hauptportal der Kirche, die ebenfalls 1757 erfolgt ist. Die Figuren stellen den Markgrafen Heinrich von Mähren mit dem Gnadenbild in der Hand und König Ludwig von Ungarn dar, der das Schatzkammerbild vorzeigt. Den Eingang flankierend, prolongieren sie die Aussage des Tympanonreliefs über ihnen und konfrontieren die in die Kirche Eintretenden auf eine noch viel unmittelbarere Weise mit den Initiallegenden. Gegenüber jenem, dessen Ikonographie sich nicht mehr ohne Weiteres erschließen lässt, waren die Statuen das zeitgemäßere Medium, um daran zu erinnern, dass hier die Länder Habsburgs gemeinsam der Gnadenmutter von Mariazell huldigen. In der Literatur wird die Zahl von 373.000 Hostien kolportiert, die in diesem Jahr ausgegeben worden sein sollen. Ähnlich viele Pilgerinnen und Pilger sind für keine andere Zeit genannt. Es sind mir keine Berichte darüber bekannt, wie ein solches Massenspektakel organisiert gewesen ist. Die wichtigsten Initiativen zu dessen Durchführung gingen vom Kloster Sankt Lambrecht und dessen Abt Eugen Graf Inzaghi (Abt 1737-1760) aus.40 Mobilisiert wurden die Menschen vor allem unter Verwendung des guten Netzes der innerkirchlichen Kommunikation. Geistliche und weltliche Obrigkeit wirkten zweifelsohne bestens zusammen. In einem weiten katholischen Umland, vor allem in der Monarchie, wurden die 600-Jahr-Feiern als außergewöhnliches, verheißungsvolles Ereignis bekannt, dem beizuwohnen es wert war, große Strapazen und persönliche finanzielle Opfer auf sich zu nehmen.

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Die Bedeutung von Mariazell als besonders geheiligter Ort, an dem Gott durch Maria Wunder wirkt, war zur Mitte des 18. Jahrhunderts längst durch eine große Zahl von Mirakelbüchern belegt.41 Berthold Sternegger nimmt auf diese besondere Gnade und die damit verbundene Heilserwartung Bezug, erklärt das auch topographisch und stellt den Zusammenhang mit dem Jubeljahr her: „Ich will sagen, daß wann irgendwo anders, so pflege der allgütigste GOtt gewis in dem Cellerischen Tempel besonders starke, und würksame Gnaden zu ertheilen [...]. Das lauffende sechste Celler Jahr-Hundert ist hievon durch eine Menge der Beyspiel, die man Wunder der Büß mit allem Recht nennen kann, bereits schon vielmals merkwürdig worden. Da nun aber zu allen diesen auch die freywillige Bußwerke kommen, zu deren Ausübung der beschwärliche Zugang des Orts, und andere denen Straffen zustoßende Ungemächlichkeiten theils von der unbeständigen Witterung, theils von der Unbequemlichkeit der bergichtund rauhen Wegen vielfältigen Anlaß geben; so ist eben darum vernünftig zu glauben, daß denen Wallfahrtern, welche ihre Reise mit einem wahren BußGeist über sich nehmen, die in hiesigen Gottes-Haus zu erlangen seyenden Ablässe zum besonderen Vortheil gereichen." 42 Die geographischen Verhältnisse hatten für den Wallfahrtsort aber auch Vorteile. Das Mariazeller Land ist in einem abseitigen Winkel zwischen den wirtschaftlichen Zentren des Donau- und Mürztales gelegen und sehr lange Grenzregion zwischen Österreich und der Steiermark gewesen. Die Grenze hat sich je nach politischen Verhältnissen als unterschiedlich „hart" erwiesen. Sie wurde aber auf alle Fälle noch im 19. Jahrhundert viel deutlicher wahrgenommen als dies heute der Fall ist.43 Da zur Zeit der ersten Blüte der Wallfahrt die Habsburger erstmals einen Anspruch auf die Steiermark erhoben, erscheint es naheliegend, dass das Herrscherhaus diesem auch in Form von Wallfahrten an einen steirischen Gnadenort Ausdruck gab. Ungeachtet anderer Rahmenbedingungen dürfte es einfach praktisch gewesen sein, in der Nähe der Grenze zu bleiben - einen Ort zu wählen, der von Wien aus weniger schwer zu erreichen war als ein innersteirischer. Ein weiterer Aspekt, der die besondere Aura Mariazells ausmacht, aber auch erst mit großer zeitlicher Distanz deutlicher sichtbar wird, ist jener der politischen Topographie - die Lage, in die Mariazell im Laufe der letzten hundert Jahre vor dem sechsten Zentenarium geraten war. Gemeint ist die reichspolitische Strategie des Barockzeitalters, die das im 15. Jahrhundert wie maßgeschneidert grundgelegte Symbolrepertoire aufgriff und nützte. Im Zuge der Entwicklung gegenreformatorischer Strategien hatte sich das Herrscherhaus mit zunehmender Emphase und unter Bezugnahme auf den Stammvater Rudolf auf eine eigene Tradition der Marienverehrung berufen. Dies geschah auch unter dem Einfluss Bayerns, wo Maria als Patrona Bavariae große Verehrung genoss.44 Der symbolische Wert, den die Gottesmutter in den Religionskriegen gegen die Protestanten erhalten hatte, war ideal dafür, auch in der Auseinandersetzung

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mit den Osmanen eingesetzt zu werden. Damit korrespondierend - einer beinahe zwingenden Logik folgend - stieg Mariazell in relativ kurzer Zeit zum Reichsheiligtum auf. Noch unter Ferdinand II. (1578-1637) war die Wirkkraft des Wallfahrtsortes regional beschränkt gewesen: Als Erzherzog von Steiermark (ab 1596) hatte er das Land gewaltsam rekatholisiert und dann in Mariazell gelobt, in Böhmen gleiches tun zu wollen. 45 Später dann, als römischer Kaiser, war er mit dem ungarischen Erzbischof Péter Pázmány (1570-1637), seinerseits ein maßgeblicher Vertreter der Gegenreformation, anlässlich einer Wallfahrt in Mariazell zusammengetroffen. 46 Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, gerade zu jener Zeit, als sich die Hinwendung zu Maria zu einem konstitutiven Element habsburgischer Frömmigkeit entwickelte, sind dann regelmäßige Verbindungen der klerikalen und weltlichen Oberschicht Ungarns zu Mariazell nachgewiesen. 47 Ihr eifrigster Vertreter war zweifellos Fürst Paul Esterházy (16351713), der sich an den Kämpfen gegen die Osmanen beteiligte. Von seinem Sitz in Eisenstadt und vorher von Graz, seiner zeitweiligen Ausbildungsstätte, aus, besuchte er häufig Mariazell. Insgesamt soll er 58 mal dort gewesen sein.48 Als Fürst (ab 1687) ordnete er an, dass alle in seinem Machtbereich gelegenen Pfarren jährlich Prozessionen durchzuführen hätten. 1692 sollen solcherart 11.200 Personen zum Gnadenort geführt worden sein.49 In die Zeit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts fällt auch der barocke Ausbau der Kirche. Die Habsburger hatten noch bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts Wallfahrten nach Altötting, dem zu dieser Zeit wichtigsten Wallfahrtsort im Deutschen Reich, unternommen. Es mag die „andauernde [...] Gegnerschaft zu Bayern" 50 ein Grund dafür gewesen sein, dass dies immer seltener und nach 1713 überhaupt nicht mehr geschah. Wichtiger war wohl ganz allgemein die allmähliche Abwendung Habsburgs vom Deutschen Reich bei einer gleichzeitigen deutlichen Ostorientierung, die durch die Rückeroberung Ungarns (ab 1683) erst möglich gemacht wurde. Erst jetzt, an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, wurde aufgrund der politischen Gegebenheiten das symbolische Kapital Mariazells wirklich frei. Das Tympanonrelief, das mittlerweile ein hohes Alter erreicht hatte und allein deshalb heilige Ursprünglichkeit suggerierte, erzählte nunmehr Legenden mit rezenten Bezügen und assoziativer Kraft. Vor allem die Ludwigslegende musste zur Zeit der Rückeroberung Ungarns wie eine prophetische Weissagung gewirkt haben, die sich nun, fast 300 Jahre später, erfüllte. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts waren die Osmanen eine ferne Bedrohung gewesen. Zwischenzeitlich aber waren sie zwei Mal vor Wien gestanden. Die allerorten mit großem Schrecken erlebten Ereignisse um 1683 waren noch sehr präsent. Aber man hatte sie abgewehrt und jetzt - wie einst Ludwig - warf man sie zurück. Wallfahrten des Kaiserhauses nach Mariazell waren nun obligat. Das Haus Habsburg hatte einen spezifische Kosmos der Religiosität - einer Pietas Austriaca - eingerichtet, in dem die Verehrung Mariens als Herrscherin und Königin ein konstitutives Element war. Die Praktik der Wallfahrt war eine Form von öffent-

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licher und demonstrativer Religiosität, der auch eine wichtige politische Funktion zukam. Sie war eines der wenigen, aber ein bestens geeignetes Mittel, ein breites Bewusstsein für die Reichsidee zu schaffen. Eine Wallfahrt nach Mariazell durchmaß katholischen Raum und erklärte dabei - auch jenen Schichten, die ansonsten wenig mobil waren - den Zusammenhang von Marienverehrung, Herrschergeschlecht und überregionaler habsburgischer Staatlichkeit.

Die Gnadenstatue

So viel zu den politischen Rahmenbedingungen, die eine Voraussetzung für die Darstellung der Geschichte Mariazells im 18. Jahrhundert bildeten und die 600Jahr-Feiern erst möglich gemacht hatten. Für die Zeit Maria Theresias wurde aber auch konstatiert, „daß sich die Gesinnung um eine Nuance verschoben hatte. Maria Theresia, die Landesmutter, sieht in Maria vorwiegend die .Gnadenmutter' und Schutzfrau, deren Stellung als Herrscherin und Königin aber verblasst." 5 1 Es ist „ganz naiv und nahezu unbewußt, bereits ein Element der Kritik an den ehrwürdigen Grundbegriffen eingeflossen," 5 2 eine Verlagerung des Schwerpunkts marianischer Frömmigkeit, die einer Herabminderung ihrer Bedeutung für die Staatsinteressen gleichkommt und eine erste Voraussetzung dafür ist, dass der aufgeklärte Absolutismus auf das Instrument Wallfahrt verzichten kann. 1764 feierte Mariazell noch das 400-jährige Jubiläum der Überbringung des Schatzkammerbildes von König Ludwig. 5 3 Offenbar wollte man damit an den Erfolg von 1757 anknüpfen. Aber schon 1772, nur 15 Jahre nach

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den 600-Jahr-Feiern, wurden mehrtägige Wallfahrten verboten, was Mariazell eigentlich unerreichbar machte. Dass eine solche Verordnung zunächst wirkungslos bleiben musste, ist eingedenk der Tatsache, wie sehr die Wallfahrt über mehr als hundert Jahre eingeübt worden war, leicht vorstellbar. Ihr endgültiges Verbot kam 1783 und blieb bis 1796 aufrecht. 54 Bei Durchsicht der Literatur zu Mariazell, die nach dieser Zäsur erschienen ist, fällt vor allem auf, dass der Sinnzusammenhang von Wallfahrten erweitert worden war. 1785 hatte der schon zitierte Aufklärer Johann Rautenstrauch eine „Reise nach Mariazell in Steyermark" veröffentlicht, welche „blos die Naturgeschichte, Wirthschaft, Gewerbe und Sitten der Einwohner dieser Gegend, zum Gegenstande" machte. Und weiter: „Was die bekannte Andacht zu diesem Ort und das geistliche Fach anbelangt, so kann man sich aus andern Büchern, die davon handeln, vielfältig erbauen." 55 Die Autoren des 19. Jahrhunderts verhielten sich gegenüber den Wallfahrten weitaus affirmativer. Aber das Interesse an den wirtschaftlichen Verhältnissen und der Natur war geweckt. Der Weg nach Mariazell wurde nicht mehr so sehr als beschwerlich empfunden, sondern als interessant und beschaulich (tatsächlich waren die Straßen in der Zwischenzeit wesentlich besser geworden). Heilserwartung und Buße bildeten noch immer Zwecke der Reise, aber zumindest bei bürgerlichen Schichten gesellte sich bewusst ein touristischer Aspekt dazu, und in feudalen Kreisen gar ein sportiver: Die Umgebung von Mariazell wurde nach und nach auch als prächtiges Jagdrevier erschlossen und mit einer komfortablen Infrastruktur ausgestattet. Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es Andeutungen, dass die Ehre habsburgischen Besuches in Mariazell eher nebenbei erteilt wurde. Jedenfalls wurden jedes Mal auch andere Ziele aufgesucht.

1857 - das siebte Zentenarium Das Ursprungsjahr stand mittlerweile grundsätzlich nicht mehr in Frage. Es bedurfte keiner historiographischen Untermauerung mehr, wie sie 1757/58 vorgenommen worden war. Im Gegenteil: 1819 stellte ein Nachfolger Berthold Sterneggers in der Funktion des Schatzmeisters von Mariazell unbeschwert eine ungebrochene Kontinuität her, indem er erklärte, dass „das Jahr 1157 [...] von allen unsern Vorfahren als das Jahr der Ankunft dieses ersten Priesters hierher angenommen" und „in jedem der folgenden Jahrhunderte als Jubeljahr, und besonders das letzte Mahl 1757, feyerlich begangen" worden sei.56 Dieser Versuch, eine vage Geschichte festzuzurren, ist in der späteren Literatur immer wieder aufgegriffen worden. 57 In einer sehr freien Darstellung der frühen Geschichte Mariazells aus dem Jahr 1864 wird zunächst suggeriert, dass gleich das zweite Zentenarium gefeiert worden sei, indem ein Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass 1357 für eine Wallfahrt nach Mariazell ein päpstlicher Ablass auf zwei Jahre gewährt worden war, und den späteren Jubiläen herge-

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stellt wird.58 1907 schließlich, in der seit Sternegger fundiertesten Geschichtsdarstellung, die Gerhard Rodler - wiederum ein Schatzmeister von Mariazell anlässlich des 750-Jahr-Jubiläums verfasst hat, wird die Idee der regelmäßigen Jubelfeier festgeschrieben: „So viel ist sicher, daß dieses Jahr schon in der frühesten Zeit als das Gründungsjahr gehalten wurde und in den folgenden Jahrhunderten das siebenundfünfzigste jedes Mal als Jubeljahr festlich begangen wurde. (So wurden schon im Jahre 1357 ausgedehnte päpstliche Ablässe erteilt; besonders festlich wurden die Jubeljahre 1757 und 1857 gefeiert.)" 59 Das Zitat gibt aber einen Anlass, auf einen grundsätzlichen Unterschied einzugehen, wie mit der Geschichte Mariazells 1757 beziehungsweise später umgegangen wurde: Während Berthold Sternegger noch darum bemüht war, seine legitimierenden Darstellungen mit den wissenschaftlichen Methoden seiner Zeit zu fixieren - was ihm auch nachhaltig gelungen ist - , so wurde die Vergangenheit im 19. Jahrhundert leichtfertiger gedeutet. Die Geschichte ist geschrieben, sie wird jetzt vor allem perpetuiert und affirmativ interpretiert. Michael Mitterauer hat für das Feiern von Geschichte im 19. Jahrhundert „eine ganz besondere Form des Umgangs mit Vergangenheit" ausgemacht, bei der „das Gefühlsleben der Teilnehmer" angesprochen wird und „weniger das Denken." Damit öffnet sich eine Schere zwischen dem Geschichtsbewusstsein, wie es bei Gedenktagen gepflegt wurde, und jenen Denkweisen, „die gerade im 19. Jahrhundert der Entwicklung von Geschichte zur Wissenschaft so maßgebliche Anstöße gaben." 60 Ganz allgemein war man zur Mitte des Jahrhunderts bereits geübt im Feiern von Jubiläen. Insgesamt hatten sie das inhaltlich engere religiös bestimmte Repertoire vor allem um das Thema nationale Identität erweitert, formal aber gleichzeitig den „Memorialcharakter des Christentums" bewahrt: „Denkmäler werden geweiht, Jubiläen haben sich im Anschluß an Anniversarien als heilige Tage des christlichen Festkalenders entwickelt. Traditionen von .heiligen Orten',,heiligen Zeiten' und ihnen gemeinsamen ^eiligen Handlungen' sind mit beiden verbunden. An solche Traditionen christlichen Kults konnte der nationale Kult des 19. Jahrhunderts in religiösen wie in säkularisierten Formen anschließen." 61 Obgleich die Feiern zum 700-jährigen Jubiläum von Mariazell im Jahr 1857 inhaltlich primär religiös bestimmt waren, fällt auf, dass der Aspekt der nationalen Identität gegenüber 1757 deutlich an Bedeutung gewonnen hat. Dabei zeichnen die Quellen, so wie sie heute vorliegen, ein seltsam durchmischtes Bild, in dem das Bewusstsein um nationalstaatliche Identität und das Ideal der katholischen Donaumonarchie verschränkt sind. Keiner der beiden Aspekte ist in einer Veröffentlichung explizit angesprochen, beide aber werden immer wieder angedeutet. Mariazell war sicherlich ein Ort, an dem die Idee des Vielvölkerstaates besser gepflegt wurde als die der Nationalstaaten, aber andererseits zeigten sich kaum irgendwo die ethnischen Unterschiede besser als hier, wo in unterschiedlichen Festtagstrachten unterschiedliche Lieder in unter-

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schiedlichen Sprachen gesungen wurden. Das obrigkeitliche Interesse an der Wallfahrt war sicherlich wieder erstarkt. Aufgrund der zunehmenden sprachnationalen Separationsbewegungen hätte Mariazell nun die Funktion übertragen bekommen können, Einheit in der Vielfalt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zu demonstrieren. Das Repertoire an Symbolen lag bereit. Trotzdem, die Ereignisse zeigen, dass der Staat weniger Einfluss auf die religiöse Praxis ausübte, als dies vor der Aufklärung der Fall gewesen war; oder umgekehrt: dass die katholische Kirche deutlich eigenständiger agierte - vor allem die ungarische. Papst Pius IX. fixierte die Bedeutung des Jubiläums, indem er auf Fürsprache des Bischofs von Graz, Ottokar Graf von Attems, am 30. Jänner 1857 in einer Bulle allen Pilgern, die im Laufe des Jahres nach Mariazell kamen, einen vollkommenen Sündenablass gewährte. 62 Die Wirkung, die dieser Ablass erzielte, zeigt ein interessanter Bericht, der aufgrund von Erzählungen eines Pinzgauer Bauern - wahrscheinlich von der regionalen Geistlichkeit - zusammengestellt wurde. Johann Eder, so der Name des Bauern, hatte zunächst eine ausgedehnte Pilgerreise nach Jerusalem und Rom unternommen und unterwegs für den Fall einer glücklichen Heimkunft gelobt, zum Dank auch noch entweder nach Altötting oder nach Mariazell zu gehen: „Da wurde nun auf Einmal sicher bekannt, daß in dem weitberühmten Wallfahrtsorte Maria-Zell in Steiermark das Säculum gefeiert werde, und diese Nachricht war für mich der stärkste Antrieb, jetzt meine Wallfahrt dorthin zu unternehmen und damit mein Versprechen zu erfüllen [...]."63 Über das siebte Zentenarium sind wir wesentlich besser informiert als über das sechste. Die Organisation wurde vom Kloster Sankt Lambrecht aus durchgeführt. Zunächst ließ man - wohl als Akt, der die Kontinuität andeutete das silberne Gitter renovieren, das Maria Theresia 1757 gespendet hatte. Die kirchlichen Feiern setzten am 31. Dezember 1856 ein und folgten bis zum 6. Jänner 1857 einem dichten Programm. Das ganze Jahr war liturgisch durchgeplant. 64 Im Juni 1857 unternahm traditionell die Pfarre Sankt Stephan in Wien eine große Wallfahrt, und einen Monat später fand ein erster Höhepunkt des Jubeljahres statt. Der Kaiser machte der Gnadenmutter seine Aufwartung. Der Besuch erfolgte allerdings auf eine andere, weit weniger auf Repräsentation bedachte Weise als jener Maria Theresias hundert Jahre zuvor. Franz Joseph und Elisabeth kamen inoffiziell nach Mariazell und zwar nicht zur Zeit des Patroziniumsfestes am 8. September, sondern bereits im Juli. Ein feierlicher Empfang war abgelehnt worden. Die Akten der Gendarmerie berichten, dass das Kaiserpaar „in der Weise einfacher Pilger" in den Wallfahrtsort kam und den „Eindruck der höchsten Überraschung und des Tiefergriffenseins" hinterließ. 65 Demnach ist unklar, ob dieser Besuch auf das Jubiläum abgestimmt gewesen oder mehr oder minder zufällig damit zusammengefallen war. Jedenfalls war er nicht der einzige Anlass für die Reise (hier von einer Wallfahrt zu sprechen,

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wäre wohl falsch). Sie wurde durch das Salzatal nach Wildalpen und von dort nach Admont und Ischl fortgesetzt. 66 Das beeindruckendste Ereignis war dann aber die große „Ungarn-Wallfahrt" Anfang September 1857, die bis heute das Bild dieser 700-Jahr-Feiern prägt. 67 Angeblich 27.000 Wallfahrerinnen und Wallfahrer vor allem aus Ungarn, Böhmen und Mähren waren in den Tagen um den 8. September in Mariazell. Die Teilnahme der höchsten geistlichen Würdenträger von Ungarn und Böhmen dürfte das auslösende Moment dafür gewesen sein, dass eine dermaßen große Begeisterung für die Wallfahrt herrschte. Und damit ist der prinzipielle Unterschied zu den barocken Wallfahrten, die aus den Ländern der Monarchie nach Mariazell geführt worden waren, angesprochen. Während vormals die weltlichen Fürsten durch massenhafte Mobilisierung der Bevölkerung Habsburgtreue bewiesen hatten, so waren diesmal die geistlichen Würdenträger die treibende Kraft. Das Selbstbewusstsein dafür mochten sie aus dem Konkordat von 1855 geschöpft haben, mit dem sich die römisch-katholische Kirche in der Monarchie enormen Einfluss verschafft hatte. In Ungarn sah man die Möglichkeit, in religiös verbrämter Form nationales Bewusstsein zu demonstrieren. Das Jubiläum fiel ja in die Zeit zwischen Revolution und Ausgleich, als das Verhältnis zwischen Ungarn und der Staatsgewalt besonders belastet war. Der Erzbischof von Esztergom forderte in mehreren Hirtenbriefen den Klerus in Ungarn auf, die katholische Bevölkerung für die Wallfahrt zu begeistern. 68 Der Erfolg beweist, dass die katholische Kirche ein bedeutendes Potenzial im kulturellen und politischen Getriebe der Monarchie besaß. Der Zug der Ungarn zog jedenfalls die Aufmerksam der Polizei auf sich.69 Die Wallfahrt wurde mehrfach von Zeitgenossen beschrieben - in ungarischer, 70 slowakischer,71 tschechischer 72 und deutscher 73 Sprache. Ihren offiziellen Start hatte sie in Preßburg, wo sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am 3. September sammelten. Man ging gemeindeweise in Gruppen, die sich in der einleitend beschriebenen Weise kennzeichneten. Interessant sind aber auch die Hinweise auf die Abgrenzungen in Sprachgruppen: „Die Deutschen bildeten also die Avantgarde. Das Zentrum machten die Slaven aus, die wohl 6 - 7 0 0 0 Seelen die ihrigen nannten, ebenso mit Fahnen und ihren Kreuzen geschmückt und in Gemei[n]den abgetheilt. Die Arriergarde [Nachhut] bildeten die Ungarn, in deren Mitte Se. Eminenz der Fürstprimas umgeben von einem zahlreichen Klerus dahinschritt." 74 So beschrieb der Journalist Wilhelm Szigmund, der an der Wallfahrt teilgenommen und darüber in Tagebuchform in einer Budapester Zeitung berichtet hatte, den Auszug aus Preßburg. Aus dem Artikel geht hervor, dass dieses Verhalten offenbar nicht so sehr einem ethnisch motivierten Separatismus verpflichtet war, sondern vor allem den praktischen Grund hatte, dass sich die Gruppen mit ihren laut memorierten Gebeten und Gesängen nicht gegenseitig störten. Szigmund schilderte im Weiteren mehrfach, wie die Wallfahrt sich nach dem geordneten Auszug aus einer Kirche auflöste und vor dem Einzug in die nächs-

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te wieder sammelte. Auch Erzbischof Johannes Scitovsky nahm an der Wallfahrt teil. Er ließ sich von Kloster zu Kloster fahren und zelebrierte an größeren Stationen jeweils eine Messe. Eine große Zahl Geistlicher war aufgeboten, sich um die Pilgerinnen und Pilger zu kümmern. Wie weit in dem Zug eine gewisse Ordnung aufrechterhalten werden konnte, ist nicht ganz klar. Die Infrastruktur entlang des Weges und auch in Mariazell selbst dürfte jedenfalls stark überfordert gewesen sein. Szigmund, der fraglos zu den besser ausgestatteten Teilnehmern gehört hat, berichtete immer wieder über seine Schwierigkeiten, ein Quartier zu finden, und vom Lärm, den die Wallfahrerinnen und Wallfahrer verursachten, die während der ganzen Nacht durch die Ortschaften zogen. Auch gab er zumindest vage Hinweise darauf, dass auf der Wallfahrt Hunger und Erschöpfung herrschten. 75 Die Feiern in Mariazell dauerten vom Abend des 7. September bis zum Morgen des 9. September, also einen Tag und zwei Nächte. In der Kirche von Mariazell, „die bis Mitternacht, ja die ganze Nacht überfüllt war", herrschte „beständiges Gedränge". Am ersten Abend war der Platz „übersäet mit Menschen, man sah nichts als Köpfe! Alles drängte sich zur Kirche, die aber, nachdem sie überfüllt war, gesperrt wurde." 76 Die Predigten wurden nacheinander in den verschiedenen Sprachen gehalten. Szigmund zog es vor, den Rückweg mit der Eisenbahn zu absolvieren. Er ging nach Mürzzuschlag, von wo es ja seit 1854 eine Verbindung über den Semmering nach Wien gab.

1907 - ein Dreivierteljahrtausend Die Inbetriebnahme der Semmeringbahn hatte Mariazell von einer anderen Seite näher an Wien herangebracht. Der Wallfahrtsort rückte in den Großraum des Semmeringgebietes, des für lange Zeit beliebtesten Ausflugszieles der Hauptstadt. Dementsprechend stärkeres Gewicht für eine Reise erhielten in der Folge touristische Motive. In der Literatur, die seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Mariazell gewidmet ist, treten die religiösen Momente allmählich zurück, verlieren jedenfalls ihre Dominanz. Zunehmend bezieht man den Ort auch der Attraktion und Sehenswürdigkeit wegen in ein größeres touristisches Programm ein.77 Daneben etablierte sich zur Jahrhundertwende hin aber auch eine neue Politisierung der Wallfahrt. Der Schulterschluss zwischen konservativer Politik und katholischer Geistlichkeit, zunächst vor allem gegenüber dem sehr erfolgreichen Liberalismus, bescherte Mariazell eine Aufmerksamkeit, die inhaltlich neu formuliert war, sich aber der symbolischen Kraft des Ortes bedienen konnte. Der öffentliche Charakter der Wallfahrt eignete sich bestens zur Ausübung eines „praktischen Katholizismus". Als diesbezüglich nachhaltigste Initiative etablierten sich seit 1893 die sogenannten „Wiener Männerfahrten", die der Jesuitenpater Heinrich Abel (1843-1926) ins Leben gerufen hatte. In deren Rah-

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men stellten konservative weltliche und geistliche Eliten in mehrfacher Hinsicht ihr einträchtiges Einherschreiten zur Schau - alljährlich und mit Unterbrechungen noch lange nach 1945. Das Neue gegenüber früheren Massenwallfahrten war das wesentlich stärkere politische Bewusstsein der Teilnehmer, das in Reden auch direkt angesprochen wurde.

Ansicht von Mariazell

Den 750-Jahr-Feiern von Mariazell, die 1907 begangen wurden, maß man insgesamt nicht soviel Bedeutung bei wie den beiden Zentenarien im 18. und 19. Jahrhundert. Vielleicht gab es damals keine konkreten Interessen, ähnliche Massenwallfahrten zu inszenieren, vielleicht wurde das Ereignis auch von Seiten der Kirche nicht genügend gewürdigt. Es wurde jedenfalls kein motivationsfördernder päpstlicher Ablass erteilt. Immerhin aber erhob das Vatikanische Kapitel die Kirche in den Rang einer Basilica minor 78 und fasste den Beschluss, das Gnadenbild der Muttergottes feierlich zu krönen. Vom Schatzmeister von Mariazell wurde in der „Erwägung, daß seit dem Jahre 1819 von berufener Seite keine ausführliche Geschichte und Beschreibung Mariazells" erschienen war, eine solche herausgegeben. 79 Zufällig fiel mit dem Jubiläum 1907 auch die Eröffnung des letzten Teilstückes der Mariazellerbahn zusammen, was zumindest für jene, die sich ihrer bedienen konnten, den Bußcharakter der Wallfahrt endgültig relativierte. Erstaunlicherweise hat diesen Umstand offenbar kaum jemand diskutiert. Die Bahn wurde als Erleichterung wahrgenommen, sie ermöglichte beispielsweise 1910 dem mittlerweile 80-jährigen Kaiser, noch einmal nach Mariazell zu kommen. Dabei handelte es sich um seinen ersten Besuch seit jenem von 1857. Er kam am Vormittag des 24. September im festlich geschmückten Ort an, nahm an einer heiligen Messe und einem anschließenden Mittagessen teil und hielt eine

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kurze Ansprache, in der er die Bedeutung des Wallfahrtsortes für die Österreichisch-Ungarische Monarchie betonte und die Nationalitätenfrage ansprach: „Es zeugt von größter religiöser und patriotischer Gesinnung der hiesigen Bevölkerung, daß sie allen hieher pilgernden Angehörigen der Monarchie ohne Unterschied der Nationalität gastliche Aufnahme bietet." 80 Anschließend wurde der Kaiser in die Walster gefahren, wo er ein Denkmal besichtigte, das ihn bei der Jagd zeigte, und daraufhin im Krupp'schen Jagdhaus eine Jause einnahm. Von Kernhof aus, der nächstgelegenen Bahnstation, fuhr Franz Josef über Lilienfeld zurück nach Sankt Pölten und Wien.81 Die Worte des Kaisers waren Ausdruck der funktionalen Zuschreibungen, mit denen Mariazell angesichts der zunehmend labiler werdenden Verfassung des Gesamtstaates konfrontiert war. Durch die ungarische Vereinnahmung der Gnadenstätte von 1857 belastet, hatte sich lange Zeit kein einigendes Bewusstsein ausbilden können, wie es zum immanenten symbolischen Kapital von Mariazell hätte gehören müssen. Je näher der Zusammenbruch des Vielvölkerstaates rückte, umso mehr galt es, von diesem Kapital Gebrauch zu machen. Der Besuch des Kaisers nach so langer Zeit kann in diesem Sinne als neuerliche Umdeutung interpretiert werden. Verstärkt begannen andere Mitglieder der Familie Habsburg, ihre Wallfahrtstradition wieder aufzunehmen 82 ohne dass dieser neue Geist freilich zur Entfaltung gekommen wäre. Zu rasch kam das Ende der Monarchie, das für Mariazell wahrscheinlich ähnlich einschneidend war wie seinerzeit das josephinische Wallfahrtsverbot. Dass der Zuzug nicht völlig zum Erliegen kam, ist vor allem den stark wirkenden Wallfahrtstraditionen zu verdanken, denen zufolge die Pilgergruppen - zumeist einem Gelöbnis folgend - Jahr für Jahr denselben Ort aufsuchen. Die großen Krisen beider Weltkriege konnten den Zuzug wohl mindern, aber nicht stoppen. Dabei kommt ein besonderes Charakteristikum der Religion an sich zum Tragen: sie ist weit eher imstande, Antworten auf Leid und Elend zu geben als etwa politische Ideen. Das wiegt die eingeschränkten Möglichkeiten, den Wallfahrtsort aufzusuchen, wenigstens teilweise wieder auf. Konkrete Zahlen über die Herkunft von Wallfahrergruppen (die besonders in einer Aufschlüsselung nach Nationen interessant wären) sind mir aber für die Zeiten der politischen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht bekannt.

1957 - das achte Zentenarium Das Jahr 1957 stand unter geopolitischen Konstellationen, die regelrecht als Katalysator für 800-Jahr-Feiern von Mariazell wirksam wurden. Wie von selbst ergab es sich, dass der Wallfahrtsort eine klare Position im Kalten Krieg markierte. Angesichts der prononciert religionsfeindlichen Haltung der sozialistischen Regierungen in Osteuropa wurde in Mariazell das Bewusstsein neu genährt, ein religiöses Zentrum für zumindest zwei Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs zu sein. In der Verwendung der Titel „Patrona Gentium Slavorum"

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und „Magna Domina Hungarorum" wurde auf eine barocke „Pietas Mariana" zurückgegriffen; und es schwangen tiefe Emphase, sentimentales Heimatgefühl und entschlossenes Aufbegehren mit. Schon 1952, anlässlich des Österreichischen Katholikentages, hatte Papst Pius XII. in einer Radiorede eigens auf die Mariazeller Gnadenmutter und deren traditionelle Bedeutung aufmerksam gemacht. 1954 wurde von der katholischen Kirche ein Marianisches Jahr begangen und der Titel „Magna Mater Austriae" vom Vatikan bestätigt. 83 Gleichzeitig begann man damit, die Basilika auf die Jubelfeier hin zu renovieren.84 Mariazell etablierte sich in diesen Jahren unter der Regie des österreichischen Klerus als geistiges Zentrum für katholisch orientierte Flüchtlinge aus Osteuropa. Bereits am 10. Juni 1956, mehr als vier Monate vor dem Aufstand in Ungarn, kamen Tausende Exilanten zusammen, um den fünfhundertsten Jahrestag des Sieges Ungarns über die Osmanen bei Belgrad zu feiern. Der Salzburger Erzbischof Andreas Rohracher (1892-1976), der die Messe zelebrierte, bezog in seiner Predigt unmittelbar Stellung zur politischen Situation: „Es gibt keine Koexistenz zwischen Christentum und Kommunismus", erklärte er nach einem Zeitungsbericht. 85 Ein Bezug zu Mariazell musste nicht erst hergestellt werden: Das Bild der Türkenabwehr unter der Patronanz Mariens war in der Ludwigslegende begründet und vor allem im 17. Jahrhundert massiv bereichert und prolongiert worden. Die Ausstattung der Basilika ist reich an türkenabwehrender Symbolik, ihre Schatzkammer gefüllt mit Geschenken, die dargebracht wurden, weil jemand vor den Osmanen verschont geblieben war oder über sie gesiegt hatte. Eine Konstruktion von Parallelen zwischen den Feindbildern „Türken" und „Kommunisten" und deren ideengeschichtliche Kumulation in Mariazell war ebenso naheliegend: Wieder ging es um die aufgezwungene Fremdherrschaft Ungläubiger. Wieder war es den Katholiken jenseits der österreichischen Grenze unmöglich gemacht, ihren Glauben frei zu praktizieren. Wieder musste Mariazell als exterritorialer heiliger Ort der Zusammenkunft dienen, weil es, anders als die Gnadenstätten der Heimat, außerhalb des Zugriffs dieser Fremdherrschaft lag. Und wieder war die Aufgabe, das Land zu befreien, angesichts der eigenen Ohnmacht Maria zugedacht. 86 Aus Anlass der 500-Jahr-Feier des Sieges der Ungarn über die Osmanen wurde auch der so genannte „Mariazeller Freiheitstaler" in einer ungarischen Version geprägt. Statt einer deutschen Umschrift stand darauf „Magna Domina Hungarorum". Ansonsten war es die gleiche Münze wie jene, die schon ein Jahr zuvor vom Mariazeller Priorat präsentiert worden war. Der „Mariazeller Freiheitstaler" zeigte auf der einen Seite die „Magna Mater Austriae", auf der anderen die Basilika und die Jahreszahlen „1157-1957". Es handelte sich also um einen Vorgriff auf das Jubeljahr. Auch diese Münze sollte einen Bogen von der Belagerung Wiens (1683) zur Gegenwart spannen. Die Parallelen zog man allerdings unüberlegt: „Zum Dank für die Befreiung der Reichs-, Haupt- und Residenzstadt und damit des ganzen christlichen Europa vom Türkenjoch wurde damals ein ,Ma-

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riazeller Türkenpfennig' geprägt, der die Gnadenmutter als ,Patronin von Wien' zeigt. In Erinnerung daran ließ das Benediktinerpriorat 1955 anläßlich der gottlob unblutigen - Befreiung Österreichs von fremder Besetzung den ,Mariazeller Freiheitstaler' in verschiedenen Ausführungen prägen [...]" 87 Den Taler überreichte man dann „mehreren höchsten Persönlichkeiten des In- und Auslandes", unter ihnen „Bundeskanzler Raab, den Kardinälen Innitzer von Wien, Wendel von München, Feitin von Paris, Frings von Köln, Staatschef Franco, Bundeskanzler Adenauer". 8 8

Feierliche Beisetzung Kardinal Mindszentys in der Ladislauskapelle 1975

Es mag erstaunen, dass im 20. Jahrhundert wieder so stark auf die Auseinandersetzungen mit den Osmanen des 17. Jahrhunderts Bezug genommen wird, nachdem diese zuvor längere Zeit im symbolischen Repertoire von Mariazell nach hinten gereiht gewesen waren. Das geistige Paradigma war aber schon früher wieder belebt worden war: Im Bestreben, in Österreich ein autoritäres Staatsmodell zu etablieren, das auf katholischen Grundlagen basierte, war spätestens seit 1933 das Bild der Bedrohung des christlichen Abendlandes durch die Osmanen strapaziert worden. Mit einem beträchtlichen Aufwand hatte der österreichische Heimatschutz das 250-jährige Jubiläum der Entsatz-

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schlacht von Wien gefeiert. Der Höhepunkt war eine „Türkenbefreiungsfeier" in Schönbrunn gewesen, an der nach Angaben der Tageszeitung „Reichspost" 40.000 Personen teilgenommen hatten. 89 Es lässt sich denken, dass Mariazell in eine solcherart vor allem religiös konnotierte Konzeption eingebunden worden ist. Der Wallfahrtsort hatte insgesamt eine Phase erlebt, die durch eine eigentümliche Dialektik gekennzeichnet gewesen war. Einerseits hatten die Zelebritäten eines ständestaatlichen Österreichs die symbolische Reichweite Mariazells mehr oder weniger auf das Staatsgebiet der Republik reduziert, andererseits hatten sie dem Wallfahrtsort auf einem Weg hin zu einem ständisch strukturierten, autoritären Österreich mit katholischer (Fest)Kultur einen besonderen Platz zuerkannt. Dementsprechend war beispielsweise den „Wiener Männerfahrten" in dieser Zeit eine besondere Aufmerksamkeit zuteil geworden: 1934 hatten Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (1892-1934), Kardinal Theodor Innitzer (1875-1955) und Bundespräsident Wilhelm Miklas (18721956) daran teilgenommen und die Veranstaltung für staatspolitische Reden genützt. 90 Mit dem Aufstand in Ungarn im Oktober/November 1956 und der anschließenden massenhaften Fluchtbewegung nach Westen übernahm Mariazell die Rolle eines geistigen Kulminationspunktes für Katholikinnen und Katholiken. Der spätere Bischof von Eisenstadt, Stephan László (1913-1995), wurde eigens als päpstlicher Visitator für Flüchtlingsfragen in Österreich eingesetzt. In dieser Funktion war er häufig in Mariazell, das sich als Exklave anbot, in der Trost gefunden und spirituelle Heimatpflege betrieben werden konnte. Das Zelebrieren heiliger Messfeiern in ungarischer Sprache, das geschichtstrunkene Betrachten der Stiftungen ungarischer Feudalherren in der Schatzkammer und das Gebet in den seitlich in der Basilika angelegten Kapellen der Ungarnheiligen Ladislaus, Emmerich, Stephan und Katharina wurden zu wichtigen Ritualen des Umgangs mit dem Heimatverlust. Besonders die Ladislauskapelle, die der Esztergomer Erzbischof Georg Szelepchényi 1672 in der im Bau befindlichen Kirche errichten lassen hatte, wurde zum Ziel der ungarischen Wallfahrerinnen und Wallfahrer. Sie sollte später, von 1975 bis 1991, vorübergehend die Grabstätte des Kardinal Erzprimas József Mindszenty (1892-1975) werden, einer umstrittenen, gleichwohl schillernden Symbolfigur des Antikommunismus. 91 Die 800-Jahr-Feiern trugen dann diese Ideen weiter. Wesentliche neue Akzente brachten sie aber nicht mehr. Im Festprogramm, das für das ganze Jahr zusammengestellt worden war,92 findet die Flüchtlingsproblematik eigens Berücksichtigung. Während des Höhepunktes des Jahres, der „Mariazeller Festwoche", wurde eine Großwallfahrt der Exilungarn durchgeführt, die eng an den Hauptfesttag, den 15. September, angebunden war. Das Bundesministerium für Finanzen gab eine 25-Schilling-Silbermünze aus und die Generaldirektion der österreichischen Post legte eine 1-SchillingBriefmarke mit der Basilika als Motiv auf. Das zeigt immerhin, dass dem Jubiläum gesamtstaatliche Relevanz verliehen wurde. Auch für die Herausgabe der

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bis dahin ausführlichsten kunsthistorischen Darstellung Mariazells nahm man die 800-Jahr-Feier zum Anlass. 93

Das Prinzip des heiligen Ortes Seit 1957 haben sich die geopolitischen Verhältnisse wieder grundlegend verändert. Sieht man von den unterschiedlichsten individuellen Anliegen ab, mit denen die Gnadenmutter in Mariazell konfrontiert wird, so kann man in der Beziehung zwischen dem heiligen Ort und der ihn umgebenden Welt eine Entspannung konstatieren. Das heißt aber nicht, dass Mariazell nicht mehr ernst genommen wird. Nach wie vor ist es einbezogen in die gesamtgesellschaftlichen Prozesse - zumindest betrifft das den spirituellen Wert des Ortes. Der letzte österreichische Bundespräsident hat verschiedentlich die Gelegenheit wahrgenommen, in Mariazell dessen historisch grundgelegte Bedeutung zu betonen, wenn er dessen Brückenfunktion „zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Religion und Staat, zwischen Österreich und Europa" betont hat.94 Die Vertreterinnen und Vertreter der Österreichischen Volkspartei beziehen darüber hinaus auch allenthalben in ihre politische Tätigkeit eine richtige Wallfahrt mit ein. So hat der österreichische Bundeskanzler im Herbst 2000 als Dank für die Beendigung der Sanktionen, die die anderen EU-Mitgliedsstaaten über Österreich verhängt hatten, Mariazell aufgesucht. Aleida Assmann zitiert eine Stelle im Buch Exodus (3.5), in der Gott aus dem brennenden Dornbusch mit Moses spricht: „Ziehe die Schuhe von den Füßen, denn die Stelle, darauf du stehst, ist heiliges Land!" Sie interpretiert allgemein: „Der heilige Ort ist eine Kontaktzone zwischen Gott und Mensch." 95 Wie nun immer eine Gestalt der religiösen Verehrung dazwischen geschaltet sein will: Für Wallfahrtsorte ist „Heiligkeit" konstitutiv. Die Geschichte Mariazells ist eine Geschichte der Beweisführung in dem Sinne, dass wir es mit einer Kontaktzone zwischen Gott und Mensch zu tun haben. Geweiht ist diese Kontaktzone Maria, der die Funktion einer Mittlerin zukommt. Jede Kapelle und jeder Turm, jeder Altar, jedes Schmuckwerk, die Legenden und deren Deutungen, die Mirakelberichte und jede unternommene Wallfahrt sind bestätigende Elemente für den heiligen Charakter des Gnadenortes. Das Bewusstsein davon ist eine Konstante, die nicht von vornherein einer bestimmten Ideologie verpflichtet ist, sieht man davon ab, dass sie als Bedingung den Glauben an eine Reihe von Dogmen der römisch-katholischen Kirche voraussetzt. Insofern ist die Idee „Mariazell" auch unabhängig von den konkreten politischen Intentionen, die zu einer bestimmten Zeit verfolgt worden sind, tragfähig. Demgegenüber kann man aber immer, wenn die besondere Heiligkeit eines Ortes betont wird, auf dahinter stehende Intentionen schließen. 1857 gab der Religionslehrer Ludwig Donin ein didaktisch aufgebautes Büchlein anlässlich der 700-Jahr-Feier heraus, in dem er die Frage stellte: „Warum wird Maria Zell ein Gnadenort

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Mariens genannt?". In der Beantwortung führte er die „Wohltaten und Gnaden" an, die Gott „auf die Fürbitten Mariens bei einer Statue oder einem Bilde oder an einem besonderen Orte den Menschen" erweise. Und er setzte den in seiner Heiligkeit unbestrittenen, weil biblischen Ort Sinai mit Mariazell gleich.96 Kaiser Ferdinand II. soll bei seinem Besuch 1621 zum Abt von Sankt Lambrecht gesagt haben, dass er Mariazell „nicht nur in Ansehen der erstaunlichen und unzähligen Wundertaten" liebe und schätze, „sondern auch und fürnehmlich wegen einer gewissen anziehenden Kraft, welche dem heiligen Orte wie angeboren scheint". 97 Und dem Kulturhistoriker Richard Kralik (1852-1934) ist es 1922 wichtig zu betonen, dass er, nachdem er die klassischen Stätten Griechenlands besucht hat, vom Zauber Mariazells „ebenso mächtig ergriffen" war. Er „sah, daß auch hier etwas Wunderbares, Geheimnisvolles schon in der Gebirgslandschaft lag, die gleichsam die Stufe einer Himmelsleiter bildete, auf der Himmlische und Irdische heilbringend und heilsuchend auf und nieder schweben können." 98 Auch Kralik bemühte in weiterer Folge einen Vergleich aus dem Alten Testament. Die Ausgangssituationen und Intentionen von Kaiser Ferdinand II., Ludwig Donin und Richard Kralik sind höchst unterschiedliche; sie können auch nur interpretierend erschlossen werden: Ferdinand II. hatte nichts weniger als den Aufbau Mariazells zum Reichsheiligtum im Sinn, dessen Bedeutung seine Position und seine Ansprüche bestätigen sollte. Donin ging es darum, möglichst viele Menschen davon zu überzeugen, eine Wallfahrt nach Mariazell zu unternehmen - im Bewusstsein der Werte der römisch-katholischen Kirche. Kralik wiederum wollte der Begeisterung für die griechische Klassik ein österreichisches Modell an die Seite stellen, das geeignet war zu belegen, dass eine zeitgenössische christlich-katholische Kultur zumindest ebenso leistungsfähig sei wie die heidnische der Antike. Selbst der Schriftsteller Jörg Mauthe, der in einem 1974 erschienenen und damals viel gelesenen Roman in der Mariazeller Gegend eine Art Showdown inszeniert, tut dies mit Bezug auf die Mystik des Ortes, obwohl es ihm um eine religiöse Dimension nicht unmittelbar zu tun ist.99 In „Die große Hitze" - so der Titel - findet der Protagonist den Weg aus einer Staatskrise - die zustande gekommen ist, weil es in Österreich schon seit Jahren nicht mehr geregnet hat dadurch, dass er mit Zwergen Kontakt aufnimmt. Er gerät in deren Reich, ein Höhlensystem, das tief unter dem Ötscher und Mariazell liegt und eine Art Nabel der Welt ist. Selbst ein schwarzer Schlund ist auszumachen, „aus dem der Odem des Erdmittelpunktes aufsteigt." 100 Auch Hans Magenschabs Fortsetzung „Die große Flut" findet ihren Abschluss auf einer Wallfahrt nach Mariazell und durch ein Wunder der Magna Mater Austriae vor den Augen von Roma, gläubigen Österreicherinnen, Taufscheinkatholiken und Opportunisten aller Art.101 Den Teufel aber lassen Mauthe und Magenschab aus dem Spiel, was mir zu guter Letzt noch Gelegenheit gibt, eine Dimension anzusprechen, die Maria-

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zeli von anderen Orten des kulturellen Gedächtnisses grundsätzlich unterscheidet. Mariazell wurde als Ort des Gedächtnisses im Gegensatz zu anderen eigentlich nie durch mehrere politisch rivalisierende Gruppen besetzt. Wenn sich im 18. Jahrhundert Anhänger der reformierten Kirche Holzfällersiedlungen im Umland einrichteten, dann erhoben sie damit niemals auch nur den Verdacht eines Anspruchs auf Mariazell. Wenn unter Josef II. die Wallfahrt für einige Jahre aufgehoben wurde, dann war das keine Neuinterpretation des Ortes und seiner Geschichte, sondern Teil des Versuchs seiner Demontage im Sinne einer systematischen Aufklärung. 102 Wenn Nationalsozialisten aus der Umgebung Mariazells den Auftritt von Bundeskanzler Dollfuß und Kardinal Innitzer in Mariazell durch das Abbrennen eines Feuers in Form des Hakenkreuzes auf einem nahegelegen Berg störten,103 dann war dies eine Aktion gegen den österreichischen Ständestaat und nicht gegen das heilige Mariazell - die noch dazu aus sicherer Distanz erfolgte. Wenn die sozialdemokratische Staatssekretärin Brigitte Ederer eine verlorene Wette dergestalt einlöste, dass sie zu Fuß von Wien nach Mariazell wanderte, dann war dies aufgrund eines entspannten Verhältnisses zwischen der Sozialdemokratie und einer katholischen Kirche, die sich aus der Parteipolitik zurückgezogen hat, ermöglicht worden. Einen Kampf ums Gedächtnis in dem Sinne, dass unterschiedliche Ideen sich auf den Ort bezogen und dort in Konkurrenz zueinander gestanden wären, 104 hat es in Mariazell eigentlich nicht gegeben. Der Ort und seine Ideen sind dermaßen stark von der Symbolik der katholischen Kirche bestimmt, dass alternative Konzepte nie hätten greifen können. 1

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Vgl. Robert Plötz, Wallfahrten, in: Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, hg. von Hermann Bausinger, Klaus Beyrer und Gottfried Korff, München 1991, 3 1 - 3 8 . Vgl. Othmar Wonisch, Mariazell, München 1957, 32. Vgl. u.a. Emil Schneeweis, Wegweiser zur Magna Mater Austriae. Denkmale der Volksfrömmigkeit auf der Via sacra, in: Via Sacra. Das Wallfahrtsmuseum in Kleinmariazell [Ausstellungskatalog], hg. von Helene Grünn, Wien 1975, 67-77. Einige Kilometer vor Lilienfeld treffen zwei für die Wallfahrt nach Mariazell wichtige Straßen zusammen: Jene von Sankt Pölten her, auf der auch viele Pilger aus Böhmen kommen, und jene von Wien her, die so genannte Via sacra. So wird die Verbindung zwischen der Residenzstadt und Mariazell, „zwischen dem Thron des Pater Patriae, des Vaters des Vaterlandes [...], und dem Thron der Magna Mater Austriae" bezeichnet. Schneeweis, Wegweiser, nennt sie „Achse von patriotisch-sakraler Funktion", was Überhöhung und tiefen Sinngehalt anzeigt. Die Route über Wien wurde auch von vielen Wallfahrerinnen und Wallfahrern benützt, die aus dem östlichen Böhmen, Mähren und aus dem Norden Ungarns kamen. Dabei passiert man auch die relativ große Gemeinde Mitterbach, die aber in der Literatur fast immer unerwähnt bleibt. Das kann meines Erachtens nur damit erklärt werden, dass deren Bevölkerung überwiegend der reformierten Kirche angehört hat, deren Existenz - „im Schatten der Basilika" (Alfred Pollatsek) - nicht zur Kenntnis genommen wird. Eine eingehende Untersuchung des Nebeneinanders von katholischer Kultur, die demonstrativ in Erscheinung tritt, und lokalem protestantischen Gemeindeleben müsste lohnend sein. So beschrieben bei Othmar Wonisch, Mariazell in Legende und Geschichte, in: Mariazeller Wallfahrer-Zeitung, 1. Jg., Nr. 2, 15. Juni 1924, 12 f., hier 12. Vgl. Berthold Sternegger, Sechstes Jahr-Hundert der zu Mariam nach Zell in Steyermark angefangenen Wallfahrt, mit dazu gehörigen Nachrichten. Steyr 1758,43 u. 164 f. Um die Mitte

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des 17. Jahrhunderts ist demnach der „Gebrauch der Buß-Ruthen [...] aufgehoben worden", ohne dass Sternegger eine Erklärung dafür hat. Wonisch, Mariazell, dürfte unter anderem Sternegger als Quelle für seine Schilderung verwendet haben. Arnold [d.i. Johann Rautenstrauch], Reise nach Mariazell in Steyermark, Wien 1785, 23 f. 9 Vgl. Sternegger, Wallfahrt, 74 f. 10 Ebd., 76 f.; Vgl. Othmar Wonisch, Die vorbarocke Kunstentwicklung der Mariazeller Gnadenkirche, Graz 1 9 6 0 , 3 1 . " Sternegger befand die Beantwortung dieser Frage für „unnothwendig" (ebd., 78). Später wurde es üblich, einen Bruder Ottokar Premysls I., Markgraf Heinrich von Mähren, zu identifizieren. Dieser wurde aber einerseits in der einschlägigen Literatur aus Mähren selbst Wladislaw (seit 1197 Markgraf von Mähren) genannt (Ferdinand Pátek, Die Wallfahrt von Brünn nach Maria-Zell, Brünn 1874, 30), andererseits auch wieder als Bruder Ottokar Premysls II. ausgegeben (1157. Erinnerungsbüchlein Mariazell / Steiermark, Austria, o. O., [Mariazell] o. J. [1957], 4), was zwar geographisch plausibel erklärt werden kann, weil Premysl II. ab 1261 Herzog der Steiermark war, umgekehrt aber Datierungsprobleme bereitet. Hans Rögl (Maria-Zell in Steiermark. Entwurf einer Monographie des berühmten Wallfahrtsortes, Wien-Leipzig 1903, 18 f.) brachte einen Vorschlag im Sinne der historischen Plausibilität ein: „Ohne an dieser Überlieferung rütteln zu wollen, glaube ich die Erklärung für den Umstand, daß Markgraf Heinrich gerade nach Maria-Zell zog, darin zu finden, daß seine Gemahlin Agnes, nach dem Zeugnis mehrerer Historiker, eine Tochter jenes Herzogs Heinrich von Kärnten war, welcher die Lambrechter Abtei erbaute." Der Umstand, dass Heinrich von Mähren historisch schwer zu fassen ist, zeigt auch eine kleine - allerdings allein stehende - rezente Begebenheit: Ein Mariazeller Bürger hat mir erklärt, dass es sich bei der Heinrichs-Plastik vor dem Hauptportal der Kirche um den heiligen Wenzel handle. 8

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Vgl. Benedikt Plank, Geschichte der Abtei St. Lambrecht. Festschrift zur 900. Wiederkehr des Todestages des Gründers Markward von Eppenstein, St. Lambrecht 1976, 49. Ebd., 40; vgl. auch Gerhard Rodler, Geschichte und Beschreibung der Gnadenkirche Mariazell in Steiermark, Mariazell 1907, 15. Aktuelle Kirchenführer schließen sich dem an und formulieren die historischen Deutungen der Legenden insgesamt vorsichtiger, lassen sie beispielsweise nur noch als „historisch glaubwürdig erscheinen". Benedikt Plank und Heidelinde Fell, Basilika Mariazell, Ried im Innkreis 1996, 6. Vgl. Sternegger, Wallfahrt, 99 f., 111-115. Vgl. Leopold Schmidt, Via sacra. Zur Geschichte der „Heiligen Straße" zwischen Wien und Mariazell, in: Via Sacra, hg. von Helene Grünn, 7 3 - 8 3 , hier 75. (Es dürfte sich bei dieser Datierung allerdings überhaupt um einen Irrtum handeln.) Z . B . Othmar Wonisch, Die Wallfahrtskirche Maria-Zell in Obersteiermark, Wien-Augsburg o.J.,4. Eine Analyse der Datierungsfrage versucht Wonisch, Kunstentwicklung, 37. Vor allem in Wallfahrtsführern, die keinen weiter gehenden historischen Anspruch haben (z. B.: Hans Tritschel, Illustrierter Führer des weiteren Mariazeller Gebietes und der Seilschwebebahn auf die Bürgeralpe, Walzburg o. J., 8.) 1363. 500jähriges Jubiläum der Schatzkammer. Das Neueste und Merkwürdigste über MariaZell und der Schatzkammer mit ihren kostbaren Opfergegenständen, Maria-Zell o.J. [1863], 2. 1157. Erinnerungsbüchlein Mariazell, 4., „Türken" und „Bulgaren" kombinierend bringt Johann Graus 1898 eine Variante ein, der 1907 auch Gerhard Rodler folgt, dass nämlich der „Sieg über den zum türkischen Vasallen gewordenen Bulgarenfürst Sracimir" im August 1377 errungen worden sei (zit. n. Rodler, Mariazell, 15). Plank und Fell, Basilika Mariazell, 6. Z . B . : Jubiläumsbüchel zur Feier des 500jährigen Jubiläums der Schatzkammer zu Maria Zell anno 1864. Maria Zell o.J. [1864], 3; Wonisch, Maria-Zell, 4; Ursprung und geschichtliche Darstellung des weltberühmten Gnaden- und Wallfahrtsortes Maria-Zell, Maria-Zell o . J . [1864/65], 15, 17.

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Vgl. Sternegger, Wallfahrt, 101-104. Ebd., 104. Dieses und die vorangegangenen Zitate ebd., 106-108. Plank, Abtei St. Lambrecht, 49. Zusätzlich Verwirrung bei der Interpretation stiftet die Entdeckung, dass die Ungarn den deutschen Waffenrock tragen und die Türken jenen der Ungarn (vgl. Rodler, Mariazell, 41). Vgl. Wonisch, Mariazell, 23. Sternegger, Wallfahrt. Berthold Sternegger (1713-1793) war Schatzmeister in Sankt Lambrecht, zwei Jahre nach dem Erscheinen des Buches wurde er zum Abt gewählt, eine Funktion, die er bis zur Aufhebung des Klosters, 1786, inne hatte (Plank, Abtei St. Lambrecht, 77 u. 79). Christopherus Andreas Fischer, Historiae ecclesiae Cellensis ad beatam Virginem liber unus, Wien 1604. Vgl. Sternegger, Wallfahrt, 2 6 - 2 8 . Erst 1903 setzt sich wieder ein Autor - wenn auch vor allem über Sternegger vermittelt - mit der frühen Literatur auseinander (Rögl, Maria-Zell, 15 f.). Den Umstand, dass alle Geschichtsschreiber vor Sternegger den Ursprung ins 13. Jahrhundert datieren, führt er darauf zurück, dass schon diesen Johann Mannerstorfers Manuskript von 1487 nicht mehr vollständig vorgelegen sei. Es beginnt erst mit dem Jahr 1284. Rögl folgt also konsequent der Darstellung Sterneggers. Sternegger dürfte auch unzufrieden damit gewesen sein, dass das Buch erst nach dem Jubeljahr fertiggestellt wurdet. Er bedauerte das in der Vorrede (o.S.). Bereits 1757 gab es eine in Mariazell veröffentlichte Ausgabe des Buches (vgl. Gustav Gugitz, Österreichs Gnadenstätten in Kult und Brauch, Bd. 4: Kärnten und Steiermark, Wien 1956, 203). Vgl. Michael Mitterauer, Anniversarium und Jubiläum. Zur Entstehung und Entwicklung öffentlicher Gedenktage, zuletzt in: ders., Dimensionen des Heiligen. Annäherungen eines Historikers. Wien-Köln-Weimar 2000, 1 3 7 - 2 1 3 , hier 176-179. Arndt Brendecke, Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Frankfurt am Main-New York 1999, 46. Ebd., 66. Mitterauer, Anniversarium und Jubiläum, 161. Die Symbolkraft des Phänomens ist ungebrochen. Die Verkündigung des Heiligen Jahres 2000 hat zu enormen Besucherzahlen in Rom geführt. Seine feierliche Begehung war - gestreut über das ganze Jahr - ein wirtschaftlich höchst erfolgreiches Tourismusprojekt. Vgl. Sternegger, Wallfahrt, 168-170, wonach beispielsweise Kaiser Friedrich ein solches Gesuch an den Papst gerichtet hat. Vgl. auch Rögl, Maria-Zell, 42 f. Vgl. Sternegger, Wallfahrt, 176 f. In demselben Jahr wurde Josefsberg zur Pfarre erhoben und in Annaberg ein Altarumbau realisiert. Vgl. Plank, Abtei St. Lambrecht, 76. Vgl. z.B. Johann Urban Pikelius, Histori vun vnser lieben frawen zu Zell in Steyrmarck, Graz 1646; ein Jahr zuvor in lateinischer Sprache erschienen. Ausführlich aufgelistet ist die Mirakelliteratur bei Gugitz, Österreichs Gnadenstätten 4, 2 0 2 - 2 0 4 . Sternegger, Wallfahrt, 159 f. Zwei Beispiele können dies belegen: Früher wurde Mariazell häufig als „Mariazell in Steiermark" bezeichnet, um es vom älteren Kloster „Mariazell in Österreich" zu unterscheiden. Selbst nach der Aufhebung des Klosters, 1782, ist die Notwendigkeit, eine Unterscheidung in der Nomenklatur zu treffen, nur ganz allmählich geschwunden. Erst in jüngerer Zeit ist man dazu übergegangen, „Mariazell in Österreich" mit dem Begriff „Kleinmariazell" von „Mariazell" (das nun ohne erklärende Beifügung auskommt) zu unterscheiden. Das zweite Beispiel findet man noch heute in der nahe bei Mariazell gelegenen kleinen Siedlung Terz, die im Mittelalter größere Bedeutung hatte und in Konkurrenz zu Mariazell stand. Terz liegt direkt an der Grenze zwischen Niederösterreich und Steiermark, die dort die noch junge Salza quert. Beiderseits der Grenze steht an der Straße je ein Gasthaus, deren eines nicht mehr betrieben wird. Dieses ist durch einen nicht mehr ganz deutlich erkennbaren Schriftzug als „Gasthof zur

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steirischen Grenze" bezeichnet. Sein niederösterreichisches Gegenüber wird noch immer als „Gasthof zur österreichischen Grenze" geführt. Vgl. Anna Coreth, Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock, Wien 21982, 50 f. Vgl. ebd., 53. Vgl. Michael Staberl, Mariazell und die Habsburger. Die Geschichte der Beziehungen des Hauses Habsburg zur Magna Mater Austriae im übernationalen Heiligtum Mariazell, Kath.Theol. Dipl.-Arb., Wien 1996, 49. Inwieweit der Ort des Treffens aufgrund des reichen symbolischen Repertoires ausgewählt wurde, muss offen bleiben. Auf alle Fälle ist der Gedanke interessant, dass sich sozusagen unter dem Mantel Märiens, der gemeinsamen Königin, der höchste Vertreter der katholischen Kirche aus dem Land, das ihr, der „Patrona Hungaria", geweiht war, mit einem römischen Kaiser an dem Ort traf, der von jenem zuvor als Herzog der Steiermark zum Landesheiligtum erkoren worden war; beide als bedeutende Vertreter der Gegenreformation, in deren Dienst sie auch Maria nahmen. Vgl. Gábor Tüskés und Eva Knapp, Volksfrömmigkeit in Ungarn. Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturgeschichte, Dettelbach 1996, 211 f., vgl. auch 220 f. Vgl. Liselotte Blumauer-Montenave, Gäste des Wallfahrtsortes Mariazell. Eine Dokumentation, Wien 1996, 74. Vgl. Ernst Karl Winter, Die Heilige Straße. Der Pilgerweg von Wien nach Mariazell, Wien 1926, 16 f. Coreth, Pietas Austriaca, 65. Ebd., 69. Adam Wandruszka, Das Haus Habsburg. Die Geschichte einer europäischen Dynastie, Wien 1956, 169. Adalbert Strobl, Vier hundert-jährige Jubel-Feyere [D]er Gnadenreichen Bildnuß Mariae, in: Johann Anthon Krävogl, Sittliches Cantzel-Gespräch zwischen einem Pfarrer und Art-Geist seiner anvertrauten Pfarr-Kirchen, Krems 1723-1765, Adi. 21. Vgl. Michael Staberl, „Succisa virescit". Mariazell, Aufhebung und Wiedererrichtung des Benediktinerstiftes St. Lambrecht im Josephinismus, Theol. Diss., Wien 2003. Arnold, Reise nach Mariazell, 3 f. Das Wallfahrtsverbot lässt er im Übrigen unerwähnt. Marian Sterz, Grundriß einer Geschichte der Entstehung und Vergrößerung der Kirche und des Ortes Maria-Zell, Wien 1819, 14. Zuerst (nach der mir vorliegenden Literatur) 1857 von Wilhelm Szigmund: „Von Jahrhundert zu Jahrhundert werden die Secularfeiern hier abgehalten. So wurde auch heuer die siebente Secularfeier mit besonderem Pompe begangen." (Mein Tagebuch. Ein Gedenkbüchlein an die siebente Seculärfeier zu Groß-Maria-Zell und die von Sr. Eminenz dem Fürstprimas von Ungarn Johann Scitovszky von Nagy-Kér geführte National-Wallfahrt im Monat September des Jahres 1857, Pest 1857, 22). Vgl. Ursprung und geschichtliche Darstellung des weltberühmten Gnaden- und Wallfahrtsortes Maria-Zell, 34. Rodler, Mariazell, 12. Mitterauer, Anniversarium und Jubiläum, 198. Ebd., 194. Vgl. Ludwig Donin, Maria Zell, der 700jährige Gnadenort. Geschichtliche Übersicht der Entstehung dieses Wallfahrts- und Gnadenortes, Wien 1857, 5; Ursprung und geschichtliche Darstellung des weltberühmten Gnaden- und Wallfahrtsortes Maria-Zell, 34. Des Pinzgauer Bauers Johann Eder vom Ebengute in Alm Pilgerreise nach Jerusalem und Rom im Jahre 1856, und Wallfahrt nach Maria Zell im Jahre 1857. In 2 Abtheilungen. Nach dessen Erzählungen und Aufschreibungen zusammengestellt, Salzburg 1862, 77. Mathias Macher, Der Pilger zur Jubelfeier des siebenten Jahrhunderts der Gründung des Gnadenortes Maria Zell in Steiermark, im Jahre 1157, Wien 1857, VI f. Zit. n. Coreth, Pietas Austriaca, 71.

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Vgl. Rodler, Mariazell, 34;. Adolf Grabner, Geschichte der Gemeinde Wildalpen. Teilweise mit Auszügen aus der angegebenen Literatur und einer Chronik 1960-1985 zusammengestellt, Wildalpen 21986, 51. 67 Die Geschichte der Ungarn-Wallfahrt ist in einem erst jüngst erschienen Werk, das für diese Arbeit insgesamt leider nicht mehr heran gezogen werden hat können, dargestellt: Gábor Barna, Mariazell und Ungarn im 19. und 20. Jahrhundert. Von den Bauernwallfahrten bis zum Pilgertourismus, in: Ungarn in Mariazell - Mariazell in Ungarn, hg. von Péter Farbaky und Szabolcs Serfozo Budapest 2004. 68 Vgl. Szigmund, Mein Tagebuch723. 69 Vgl. Coreth, Pietas Austriaca, 71. 70 Vgl. Mária-Czeli Liliomok. Az 1857. Sept. 8-ki Mária-czeli magyar országos bucsujáratra vonatkozó tôrténeti jegyzetek, fopásztori levelek, elokésszületek, utazási rajzok,versezetek, s egyházi beszédek gyüjteménye. Pesten 1858 und Mária-Czeli Emlék-Kônyv Az 1857. September 8-diki Magyar Országos Búcsujáratról, Pest 1857. 71 Vgl. Maria-Celskú Pamatná Knizecka. O drzanom dfta 8-ého septembra léta Páné 1857-ého uhorsko-krajinskom pûtë. W Pessti 1857. 72 Vgl. Benes Method Kulda, 7001etá slawnost poswátného pontniho mista Marie-Celly, od 1. ledna, az do 31. prosince, léta Pànë 1857, kteráz úplnymi jubilejnimi odpustky Swatym Otcem, papezem Piem IX., nadána jest pro wssecky poutníkky Marie-Cellské, W Brnë 1857. 73 Vgl. Szigmund, Mein Tagebuch. 74 Ebd., 5 f. 75 Ebd., 16. 76 Ebd., 14. 77 Ein besonders anschauliches Beispiel für diese Entwicklung in der Literatur ist Rafael Hellbach, Der Pilger und Tourist nach dem Wallfahrtsorte Maria-Zell, Wien 1857. Das Buch erschien anlässlich des Jubeljahres 1857, wollte aber Wallfahrt und Tourismus gleichermaßen bedienen. Es ist auf Mariazell fokussiert und beschreibt ausführlich eine Vielzahl von Zugangsrouten. Die Untertitel charakterisieren den hybriden Charakter des Führers recht gut: „Nebst Ausflügen auf den Schneeberg, die Raxalpe, den Semmering etc., einem Abstecher nach Eisenerz und Graz, und einer Darstellung der Donaufahrt von Ybbs nach Wien. Ein Handbuch für Reisende und ein Führer für andächtige Pilger zur siebenhundertjährigen Jubelfeier. Mit einer Karte und 19 Illustrationen." 78 Vgl. Wonisch, Mariazell, 10 f. 79 Rodler, Mariazell, Vorwort. 80 Zit.n. P.O.W. [Pater Othmar Wonisch,] Kaiser Franz Joseph in Mariazell, in; Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige, NF 1, GF 32,1911, 189 f., hier 189. 81 Vgl. Reichspost, 25.9.1910, 7 f. 82 Vgl. Staberl, Mariazell und die Habsburger, 150. 83 Vgl. 1157. Erinnerungsbüchlein Mariazell, 10. 84 Wonisch, Mariazell, 16. 85 Bild-Telegraph, 11.6.1956, zit. in: Peter Eppel und Heinrich Lotter, Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte 1955-1980, Wien-München 1981, 476. 86 Interessant wäre es, zu erforschen, wie weit Mariazell zu welcher Zeit Ersatzwallfahrt für andere Orte war, die man zu bestimmten Zeiten nicht aufsuchen konnte, und wie diese Substitution erfahren wurde. Eine Anregung dazu gibt auch Aleida Assmann, die ähnliche Konstellationen für das jüdische Jerusalem beschreibt (Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, 306). 87 1157. Erinnerungsbüchlein Mariazell, 8. 88 Ebd. 89 Vgl. Reichspost, 15.5.1933, 1-3. 90 Vgl. Ebd., 8.7.1934, 8; 9.7.1934, 2 u. 10.7.1934, 10. 91 Vgl. Christian Stadelmann, Das ungarische Mariazell oder: Die politische Neubewertung einer religiösen Leitfigur, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, NS LUI, GS 102,

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1999, 1-20. Der Kardinal musste während des Aufstandes in Ungarn in die US-amerikanische Botschaft fliehen, wo er bis 1971 blieb. Danach ließ man ihn ausreisen. Er übersiedelte nach Wien, von wo aus er sich als Sprecher für die Exilungarn engagierte. Am Tag vor seinem Tod, dem 6. Mai 1975, bestimmte er, dass er vorübergehend in der Basilika Mariazell bestattet werden wollte. Schon vorher hatte er testamentarisch festgehalten: „Wenn über dem Land Mariens und des Heiligen Stephan der Stern des Moskauer Unglaubens herniedergefallen ist, überführt meinen Leib in die Gruft der Basilika von Esztergom!" Vgl. Priorat Maria Zell (Hg.), 800 Jahre Mariazell. 1157 / 1957. Magna Mater Austriae / Magna Hugarorum Domina / Mater Gentium Slavorum. Festzeit 1. Mai bis 15. Oktober 1957. Festwoche: 8. bis 15. September 1957, O.O. o.J. [1957], Wonisch, Mariazell. Thomas Klestil, Ansprache anläßlich der Vorweihnachtlichen Benefizmatinee für die Basilika Mariazell vom 17.12.1995 (zit. n. Staberl, Mariazell und die Habsburger, 166). Ähnlich auch ders., Ansprache anläßlich der Eröffnung der Steirischen Landesausstellung (2. Teil) am 3.5.1996 in Mariazell. O.O. o. J. [1996], Text als Handzettel vervielfältigt. Assmann, Erinnerungsräume, 303. Donin, Maria Zell, 9 f. Zit. n. Rodler, Mariazell, 19. Richard Kralik, Tage und Werke. Lebenserinnerungen, Wien 1922, 89. Jörg Mauthe, Die große Hitze oder Die Errettung Österreichs durch den Legationsrat Dr. Tuzzi, Wien-München-Zürich 1974. Die Wallfahrt interessiert Mauthe eigentlich nicht. Die stete Abfolge von Prozessionen bezeichnet er despektierlich als „Heereswurm verzweifelter Gläubigkeit" (202). Ebd., 240. Hans Magenschab, Die große Flut. Oder: Die Errettung Mitteleuropas durch den Kabinettsdirektor Dr. Tuzzi, St. Pölten-Wien-Linz 2004, bes. 239 ff. Mariazell als heiligen Ort hat sich Josef aber nicht getraut, in Frage zu stellen: ,,[A]ls der Kaiser, alarmiert über das Wirken seiner Kommissäre in Mariazell, unverhofft am Gnadenort erschien und dort die Altäre ihres Schmuckes beraubt, die sakralen Gegenstände und Ornate wie in eine Rumpelkammer in die Schatzkammer verräumt und diese versiegelt vorfand, ließ er unter scharfer Rüge die Ordnung wiederherstellen." (Coreth, Pietas Austriaca, 69). Vgl. Reichspost, 10.7.1934, 10. Vgl. Emil Brix, Kontinuität und Wandel im öffentlichen Gedenken in den Staaten Mitteleuropas, in: Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, hg. von dems. und Hannes Stekl, Wien-Köln-Weimar 1997, 13-20, bes. 16.

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Das Salzkammergut „Lieux de mémoire" bzw. Erinnerungsorte entstehen laut Pierre Nora in „Schlüsselmomenten, in denen das Bewusstsein des Bruches mit der Vergangenheit sich mit dem Gefühl einer zerrissenen Erinnerung vermischt". 1 Bestimmten Orten - „Kreuzungsorte [...], durchquert von zahlreichen Dimensionen" 2 kommt in dieser Situation große Bedeutung zu, weil sie die „zerrissenen Erinnerungen" wieder zu vervollständigen scheinen. Erinnerungsorte sind also gleichsam kulturelle Konstrukte, die in einer sich ständig verändernden Welt den Eindruck von Kontinuität und somit Sicherheit vermitteln. Im Folgenden werden daher nicht nur bestimmte Orte oder Gegenstände unter dem Begriff der Erinnerungsorte subsumiert, sondern auch bestimmte historische Ereignisse sowie das Verhalten und Handeln sozialer Gruppen, das sich etwa in Festveranstaltungen oder in der Brauchtumspflege manifestiert. Erinnerungsorte stellen einen wichtigen Faktor im Prozess der individuellen und kollektiven Identitätsbildung dar, vorausgesetzt freilich, dass Identität als „subjektiver Konstruktionsprozess" begriffen wird, „in dem Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen". Identität resultiert daher aus kontinuierlicher „Identitätsarbeit", die sich die „innere Kohärenz" zum zentralen Ziel gesetzt hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass individuelle Identität „nur in engem Zusammenwirken mit ,den anderen'", also durch soziale Interaktion entwickelt werden kann. 3 Ferner agieren Individuen in lokalen, regionalen und überregionalen Räumen und stehen mit diesen in wechselseitiger Beziehung. Sowohl die materielle als auch imaginäre Konstitution des jeweiligen Raumes wird einerseits von den darin lebenden Personen produziert, andererseits beeinflusst der Raum, der zusätzlich auch noch äußeren Einflüssen unterliegt, etwa eindringenden Klischeebildern, wiederum deren Verhalten und Handeln. 4 Demnach können sich auch Erinnerungsorte wandeln, mit neuen Bedeutungen belegt werden bzw. überhaupt an Bedeutung verlieren. Bezogen auf das Salzkammergut bedeutet dies, dass zum einen zwischen einer Identifikation der Region ,νοη außen' und ,νοη innen' zu unterscheiden ist.5 Dabei stellt sich die Frage, welche Bedeutungen der Region je nach Perspektive zugeschrieben werden und welche Zusammenhänge zwischen den beiden Formen der Identifikation bestehen. Zum anderen muss bei der Innen-

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Perspektive der jeweilige Raum berücksichtigt werden, in dem ein Bewohner des Salzkammerguts handelt. „Salzkammergut", schreibt Alfred Komarek, „sei der gemeinsame Begriff für Landschaften und Menschen, denen gemeinsam ist, nichts gemeinsam zu haben - das gilt natürlich nur intern. Wenn es um die Beziehung zum restlichen Österreich geht, ist das Salzkammergut ein harmonisch in sich ruhendes Ganzes, ein Paradies". 6 Das Salzkammergut kann demnach für seine Bewohner als Gesamtheit ein Erinnerungsort sein, innerhalb der Region existieren aber wiederum Erinnerungsorte, die nur in bestimmten sozialen und räumlichen Kontexten als solche wirksam werden. Individuen besitzen folglich nicht nur eine Identität, sondern zerfallen gleichsam in mehrere Teile, weisen also Mehrfachidentitäten auf. 7 Zu diesen Mehrfachidentitäten zählen nicht nur lokale und regionale, sondern auch überregionale Identitäten, etwa die österreichische Identität. Ausgehend von diesen Überlegungen versucht der vorliegende Aufsatz, die Konstruktion und inhaltliche Transformation von Erinnerungsorten in ihrer sozialen und räumlichen Bedingtheit zu analysieren. Bestimmte Orte und Gegenstände oder Verhaltens- und Handlungsweisen gewinnen nur in gewissen Situationen und sozialen Zusammenhängen an Bedeutung, wenn eben die „zerrissenen Erinnerungen" spürbar werden und eine vermeintliche Kontinuität der eigenen Geschichte als ,Überlebensstrategie' geschaffen werden muss. Die Identitätsforschung spricht in diesem Fall von Identitätskrisen, die zu verstärkter Identitätsarbeit führen. 8 Erinnerungsorte, die den Eindruck von Kontinuität vermitteln, besitzen dabei besondere Bedeutung. Im Salzkammergut bieten sich gleichsam mehrere Bausätze zur Konstruktion von Erinnerungsorten an: Zunächst ist hier auf die traditionelle Salzproduktion und die damit verbundene kulturelle Vielfalt zu verweisen, damit im Zusammenhang auch auf die Brauchtumspflege, die im Salzkammergut besondere Bedeutung besitzt. Ferner spielen die Imaginationen von Natur bzw. Landschaft bei der Konstruktion von Erinnerungsorten eine besondere Rolle. Schließlich werden „zerrissene Erinnerungen" auch durch die verklärte Geschichte der Habsburgermonarchie bzw. des Kaiserhauses vervollständigt.

Die Vielfalt in der Einheit Seit dem 19. Jahrhundert, als das Salzkammergut vom Fremdenverkehr entdeckt und zunehmend mit der Natur in Verbindung gebracht wurde, sind die Grenzen der Region gleichsam fließend 9 bzw. von der jeweiligen Perspektive des Betrachters abhängig. „In neuester Zeit", schreibt Ferdinand Krackowizer im Jahr 1898, „begann man den Namen ,Salzkammergut' auch auf das westliche Nachbargebiet desselben auszudehnen. So spricht man gegenwärtig von .Salzkammergutseen' und zählt hiezu unter anderen auch den Mond- und Attersee sammt Umgebung, also Gegenden, die niemals ein landesfürstliches

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Kammergut gewesen sind. Wir können daher [...] diese Bezeichnung lediglich als einen touristischen Begriff gelten lassen, der den Bedürfnissen des steigenden Fremdenverkehrs zuliebe ohne genaue geographische Abgrenzungen geschaffen worden ist." 10 Auch aktuelle Tourismuskonzepte bedienen sich dieser verschwommenen Grenzen, wenn sie etwa eine gemeinsame Vermarktung des Salzkammerguts mit der Stadt Salzburg und ihrer Umgebung vorsehen." Ursprünglich beschränkte sich das Salzkammergut - der Begriff wird urkundlich erstmals im 16. Jahrhundert erwähnt - aber auf das so genannte „Ischler Land", das sich vom Südufer des Traunsees bis zum Südende des Hallstätter Sees erstreckte. Aufgrund der gewinnträchtigen und daher landesfürstlichen Salzproduktion verfügte das Salzkammergut seit dem 16. Jahrhundert über eine rechtliche Sonderstellung: Es unterstand der direkten Verwaltung des Staates und eine eigene Verfassung regelte das Rechts- und Wirtschaftsleben der Region. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Ausseerland Teil des Salzkammergutes, 1762 allerdings wieder ausgegliedert, um schließlich 1825 neuerlich dieser „Einheit für sich" zugerechnet zu werden. Zu dieser Zeit war der „Salzstaat" aber infolge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik des 18. Jahrhunderts bereits in Auflösung begriffen, die Industrialisierung führte schließlich zum endgültigen Ende der jahrhundertelangen Sonderstellung. 12 Bis dahin war das „Weiße Gold" bei der Identifikation der Region - zumindest aus der Außenperspektive betrachtet - im Mittelpunkt gestanden. Für Bewohner des Salzkammerguts zeichnete sich die Region selbstverständlich durch eine größere Vielfalt aus, als es zunächst erscheinen mag. Zwar fehlten größere landwirtschaftliche Betriebe, neben der seit Jahrhunderten bedeutenden Salzproduktion bildete jedoch die Forstwirtschaft einen wichtigen Wirtschaftsfaktor. Sie galt als „die Seele", die „allein das Ganze in lebendigem Gange zu verhalten vermochte". 13 Tatsächlich war die Salzproduktion noch bis in das 19. Jahrhundert ohne den Energieträger Holz undenkbar. Zahlenmäßig dominierten daher nicht die Berg- und Salzarbeiter, sondern die staatlichen bzw. „ärarischen" Holzknechte. Beide Arbeitergruppen waren zudem durch eine starke soziale Binnendifferenzierung geprägt, die sich aus einer vom Staat diktierten und streng hierarchischen Beschäftigtenstruktur sowie den schon im Mittelalter üblichen großbetrieblichen Arbeitsverhältnissen ergab. Arbeitsteilung, rationalisierte Arbeitsorganisation und Lohnarbeit hatten unterschiedliche dienstrechtliche Stellungen sowie ein stark abgestuftes Lohn- und Privilegiensystem geschaffen. Mit letzterem sollte die erfahrene Arbeiterschaft über einen längeren Zeitraum an die Saline gebunden und die Reproduktion der Arbeitskräfte gewährleistet werden. 14 Dem Bedarf an Facharbeitern ist es schließlich auch zuzuschreiben, dass die Gegenreformation im Salzkammergut nur zum Teil erfolgreich war und daher noch zahlreiche evangelische Gemeinden existieren. Die stark aufgefächerte Binnenstruktur der Arbeiterschaft bzw. der Bevölkerung im Salzkammergut bedingte eine kulturelle Vielfalt, die sich in unterschiedlichem Verhalten und Handeln, unter anderem in zahlreichen Bräuchen

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und Festlichkeiten, ausdrückte und mit denen sich die einzelnen Berufsgruppen und auch Ortschaften deutlich voneinander abgrenzten. Freilich bildete in vielen Fällen das Salz ein wichtiges Bindeglied, mit dem nach außen hin der Eindruck der Einheit vermittelt werden konnte. Noch heute betonten bei Festveranstaltungen der Saline zwar alle Berufsgruppen durch ihre Trachten und Werkzeuge ihre berufsständische Identität, dennoch marschieren sie immer wieder gemeinsam im Zeichen des Salzes auf. Das Salz verbindet auch einen lokalen Faschingsbrauch in Bad Aussee, die „Trommelweiber", mit der gesamten Region: An ihren Hälsen und auf ihrer Fahne tragen die „Trommelweiber" die so genannten „Beugeln", ein traditionelles Salzgebäck, das angeblich auf die Fruchtbarkeitssymbolik des Salzes anspielen soll.15 Ähnlich verhält es sich bei der Seeprozession von Hallstatt, einer Fronleichnamsprozession, die auf geschmückten Booten und Plätten auf dem Wasser stattfindet. 1623 wurde sie erstmals urkundlich erwähnt, kurz darauf übernahm bereits die Saline das Patronat über die Veranstaltung. 16

Folklorisierung der Salzarbeiterkultur - Aufmarsch der längst „ausgestorbenen" Salzträger in Gmunden, Postkarte nach 1945

Als schließlich die traditionellen Arbeits- und Lebensverhältnisse seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einem beschleunigten Wandel unterworfen wurden, sollte diese Vielfalt in der Einheit zahlreiche Bausteine zur Konstruktion von Erinnerungsorten bieten. Die vom Staat gewährten Privilegien verloren zunehmend an Bedeutung, die Produktion wurde rationalisiert und in der Folge auch Arbeitskräfte abgebaut. 17 Zudem stellte die Saline im Jahr 1877 auf Kohlenfeuerung um, womit schließlich auch das Forstwesen in Schwierigkeiten geriet. Da die Salzproduktion gleichsam ein ökonomisches Monopol in der Region

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besaß, führten die Entlassungen zu hoher Arbeitslosigkeit und ließen das Salzkammergut zu einem „Jammergut" werden, wie es der Hallstätter Bergmeister Hans Riezinger am Ende des 18. Jahrhunderts ausdrückte. 18 Manche traditionelle Nebengewerbe, etwa die Erzeugung von Holzwaren sowie die Wollspinnerei und Spitzenklöpplerei, gewährten zwar ein bescheidenes Zusatzeinkommen, 19 aber erst der aufkommende Fremdenverkehr und die 1885 in Ebensee eröffneten Soda- und Ammoniakfabrik der Firma Solvay boten erstmals nennenswerte Beschäftigungsalternativen. Ein tiefgreifender Wandel der Lebensverhältnisse war eingeleitet worden, der verstärkte Identitätsarbeit infolge von Identitätskrisen erforderte.

Brauchtum Der als Bruch verstandene Wandel der herkömmlichen Verhältnisse konnte dabei mit der verstärkten Betonung von Traditionen, die das Gefühl von Konstanz, Übersichtlichkeit und Sicherheit erzeugen, gemildert werden. „Ich bleib bei mein' lodernen steirischen Rock / Und pfeif auf án modischen Fráck", heißt es in einem Ausseer Gedicht. 20 Verwurzelt im heimatlichen Boden, scheinen sich die Einheimischen erfolgreich gegen Veränderungen zu stemmen. Adalbert Stifter thematisiert bzw. idealisiert den angeblichen Stillstand in seiner Novelle „Bergkristall". Bei genauerer Betrachtung der Novelle erkennt man allerdings die anstrengenden Bemühungen der „stetigfen]" Bevölkerung, die als Bruch empfundenen ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu kompensieren. Identitätsarbeit wird - von Stifter freilich unbeabsichtigt aus literarischer Perspektive dargestellt, „Steine", „Schindeln" und „scheckige Kühe" sind nichts anderes als ,Bausteine' für Erinnerungsorte: „Es gehen keine Straßen durch das Tal [...]. Daher bilden die Bewohner eine eigene Welt [...]. Wenn ein Stein aus einer Mauer fällt, wird derselbe wieder hineingesetzt, die neuen Häuser werden wie die alten gebaut, die schadhaften Dächer werden mit gleichen Schindeln ausgebessert, und wenn in einem Hause scheckige Kühe sind, so werden immer solche Kälber aufgezogen, und die Farbe bleibt bei dem Hause." Immer wieder gelangt aber „eine Gesellschaft von Gebirgsreisenden" in das Dorf, dessen Bewohner als Bergführer dienen, „und einmal Führer gewesen zu sein, dieses und jenes erlebt zu haben, ist eine Auszeichnung, die jeder gerne von sich darlegt. Sie reden oft davon, wenn sie in der Wirtsstube beieinandersitzen [...], was dieser oder jener Reisende gesprochen habe und was sie von ihm als Lohn für ihre Bemühungen empfangen hätten." 21 Die „Zivilisation" hat also bereits Eingang in das Dorf gefunden. Im Rahmen einer 1992 erstellten Studie, die sich mit der Transformation des Begriffs „Salzkammergut" beschäftigt, wurde auch nach Eigenschaften und Kennzeichen der Einheimischen gefragt. Zu den am häufigsten genannten gehörten „Tracht", „Körperbau" und „unverfälscht", „Festhalten am Althergebrach-

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ten", „Heimatliebe" und „arbeitsam" sowie „Tanz" und „Singen/Jodeln". 22 Diese Stereotypen haben ihre Wurzeln in den erwähnten ökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen seit dem 18. Jahrhundert, sie sind Bestandteile von Erinnerungsorten, die der Bevölkerung noch heute eine regionale Abgrenzung, aber auch lokale und soziale Differenzierung erlauben. So gelangte die Musik bzw. ein angeblich vor allem den Alpenbewohnern eigenes musikalisches Gespür, eine Art .musikalisches Gen', in das Bewusstsein der Einheimischen. Im Zusammenhang damit blühte die Brauchtumspflege auf. Das gesamte, auch in der Gegenwart bedeutende Repertoire der so genannten „Volkskultur" entstand, wobei der Modernisierungsprozess im Verständnis der meisten Salzkammergütler zumeist als potenzielle Bedrohung auftritt. Die Musikalität, die den Salzkammergütlern angeblich in die Wiege gelegt wurde, manifestiert sich etwa im so genannten „Pfeiferltag", der seit den 1920erJahren jedes Jahr auf einer anderen Alm abgehalten wird. Dabei spielen Musikanten mit Instrumenten auf, die als typisch für das Salzkammergut gelten, etwa eine aus Holz geschnitzte Querflöte ohne Klappen, die so genannte „Seitelpfeife". Aber auch Ziehharmonika, Geige und Zither prägen den ,Sound des Salzkammerguts'. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als im Zuge des einsetzenden Vereinsbooms zahlreiche Musikkapellen gegründet wurden, waren die Einheimischen von ihrer angeborenen musikalischen Neigung überzeugt. 1848 erhielt etwa die Saline Ebensee eine eigene Salinenkapelle, seit 1852 findet sich auch in Altaussee eine „Bergmusik", deren Gründung mit einem „den Aelplern und im besonderen den Bergleuten angeborene Sinn für Musik und Gesang" erklärt wurde. 23 Anlässlich des 80-jährigen Jubiläums der Salinenkapelle Ebensee betonte die „Werkszeitung der Oesterreichischen Salinen" den „Wert unserer Musik", der „in der heutigen Zeit mit ihren zersplitternden und entfremdenden Kämpfen [...] gar nicht hoch genug eingeschätzt" werden könne. Im Gegensatz zur Moderne wird die Musik als „Sinnbild des uralten Bergmannsgeistes der Zusammengehörigkeit und Kameradschaft, des ehernen Zusammenhaltes in Not und Gefahr" bezeichnet, „alles umfassend, vom ersten Leiter bis zum letzten Arbeiter". 24 Berufsständische Traditionen werden hier wieder belebt: Zwar erfolgt eine Abgrenzung nach außen, gegenüber der modernen Industriearbeiterschaft, das Salinenpersonal selbst unterteilt sich aber im Sinne der ständischen Gesellschaftsordnung in unterschiedliche Gruppen. Berufsständische Ordnung war bzw. ist immer wieder Thema in der Brauchtumspflege der Region, vor allem aber im Bereich der Salzproduktion. So marschieren die einzelnen Salzarbeitergruppen - vom Bergknappen über die Sudarbeiter bis hin zu den Salzschiffern - auf Festveranstaltungen in ihren unterschiedlichen Trachten und mit ihren spezifischen Werkzeugen auf und betonen damit ihre berufsständische Exklusivität. „Berg- und Hüttenwesen", schreibt die „Werkszeitung der Oesterreichischen Salinen" im Jahr 1928, „sind kraft ihrer alten Tradition der Uradel in der Industrie; das verleiht uns Stolz und ein Standesbewußtsein, wie es kein anderer Zweig der Technik hat [...]. Die alte

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Zeit mit ihrer poetischen Beschaulichkeit und gemütvollen Kultur ist verschwunden. Unerbitterlich und unaufhaltsam dringt der neue amerikanische Geist der Rationalisierung und der damit verbundenen Mechanisierung und Hast in der Gütererzeugung auch in unser Wirtschaftsleben [...]. Damit muß manches Althergebrachte, das sich überlebt hat, fallen und die nüchterne Maschine dringt auch in unseren Betrieb immer mehr und mehr ein. Gegen diesen kalten, nüchternen Geist der Mechanisierung können wir uns nur schützen, indem wir alles pflegen, was unser Gemüt erhebt, damit unsere Seele nicht verdorre." 25 Noch heute werden die realen Arbeitsverhältnisse immer wieder durch die Betonung der kulturellen Traditionen verdrängt. 26 Ein über Generationen vermittelter „Habitus", wie Pierre Bourdieu sozialisierte Wahrnehmungs- und Verhaltensdispositionen bezeichnet, 27 bewirkt eine Diskrepanz zwischen tradierter berufsständischer Exklusivität und Arbeitsrealität. Als Bestandteil von Mehrfachidentitäten gehören sie zu den individuellen Überlebensstrategien, die im Prozess der Globalisierung entwickelt werden. Daraus folgt, dass der „Habitus" als einerseits „strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur", andererseits aber auch als „strukturierte Struktur" letztendlich mittel- bis langfristig modifizierbar ist.28 Da neue Verhaltensdispositionen übernommen werden, die zwar zunächst dem traditionellen Habitus widersprechen, letztlich aber mit diesem einen Zweckverbund eingehen, ist im Übrigen auch - wie noch weiter unten besprochen werden soll - eine inhaltliche Transformation von Erinnerungsorten anzunehmen. In diesem Zusammenhang ist es auch bedeutend, dass die Einheimischen das Salzkammergut entweder als exemplarische Arbeiterregion, damit zusammenhängend als republikanisch-freiheitlich oder sogar proletarisch hochstilisieren oder als Ort der Tradition und des Traditionalismus betrachten. Neben der berufsständischen Differenzierung erfolgt bei der Brauchtumspflege im Salzkammergut auch eine räumliche. „Ah in Leutn eahn' Gmüat, / In eahn' Tanz und eahn' Liad, / In eahn' Redn, in eahn' Gwand / Kennt má 's Ausseerland", schreibt der Ausseer Mundartdichter Hans Gielge in seinem Gedicht „Glückliches Ausseerland". 29 Oft unterscheiden sich die Trachten aber nur in Nuancen voneinander. „Daß die Tracht nach wie vor ohne Falsch davon erzählt, wo jemand hingehört [...], wissen alle", erzählt der bereits erwähnte Salzkammergutchronist Alfred Komarek. Selbst an den Hüten, an der Art, wie sie getragen werden, könne der Eingeweihte die Herkunft des Trägers ableiten: „Natürlich haben die Ischler ihre Ischlerhüte und den Kaiserhut, gibt es in Gmunden den Herzogshut, braun, mit breiter Krempe und dicker, einfacher Kordel, doch der Hutmacher Leithner [...] ist im ganzen Salzkammergut zu Hause, vielleicht weil er es fertigbringt, Hüte zu liefern, die einander zwar im Regal gleichen, nicht aber auf den Köpfen." 30 In solchen soziokulturellen Erscheinungen manifestiert sich wieder die Vielfalt in der Einheit, eine Vielfalt, die sich auch in den unterschiedlichen Bräu-

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chen widerspiegelt. 31 So gibt es etwa nur im Ausseerland die „Heiligen drei Faschingtag", die sich durch ein höchst,unheiliges' Treiben auszeichnen: Von verschiedenen Karnevalsgruppen werden die so genannten „Faschingbriefe" vorgelesen, in denen die Verfehlungen einzelner Gemeindebürger persifliert werden. Nicht genannt zu werden, gilt beinahe als eine Schande - in der Faschingszeit ist die Welt eben eine verkehrte. Und aus der Bedeutung, die der Umkehrung des .Normalen' gerade im Ausseerland beigemessen wird, lässt sich erahnen, dass der Fasching hier nicht alleine die Funktion eines sozialen Ventils besitzt, sondern einen - nur zu einer bestimmten Zeit ins Gedächtnis gerufenen - Erinnerungsort darstellt, mit dem die regionale Besonderheit betont und somit auch ein Kontrapunkt zum gesellschaftlichen Wandel gesetzt werden soll. So scheinen etwa im Ausseerland die Uhren stillzustehen, wenn etwa die „Flinserl" - Gestalten in bunten, mit Silber- und Goldpailletten geschmückten Gewändern - aufmarschieren. Salzschiffer sollen einst die Masken der Harlekine nach Aussee gebracht haben, die dann in Form dieser Karnevalsfiguren in das lokale Brauchtum integriert wurden. Wieder findet sich das Salz als gemeinsamer Nenner, als regionaler Erinnerungsort. Begleitet werden die „Flinserl" von der „Bless", närrischen Gestalten, die mit aus Stroh geflochtenen Körben über den Kopf durch die Straßen laufen, springen oder kugeln, um angeblich das Böse fernzuhalten.

Brauchtum als Erinnerungsort - Die „Flinserl" im Ausseerland (1938). Für die Fotografie posieren die Harlekine ohne Masken, die ansonsten ihre Anonymität gewährleisten

Eine weitere Brauchtumsgruppe in Aussee sind schließlich die 1767 erstmals genannten „Trommelweiber", mit rüschenbesetzten weißen Unterröcken und Häubchen verkleidete Männer, die sich „bei ihren Ausrückungen schier in Tran-

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ce" trommeln. 32 Zwei Gruppen von „Trommelweibern" sind dabei zu unterscheiden: die als „bürgerlich" zu charakterisierenden „Markter Trommelweiber" und die jüngeren, vor rund 70 Jahren gegründeten „Salinentrommelweiber". 33 Letztere können wohl als eine Reaktion auf die rationalisierte Salzproduktion verstanden werden, als „Invention of Tradition", 34 welche die zu verschwinden drohende Exklusivität der Salzarbeiterschaft kompensieren soll. Obwohl touristisch vermarktet, ist dieses Faschingsspektakel für die aktiv Beteiligten weniger Ware als vielmehr konstituierender Bestandteil ihrer Identität. Folklorismus führt folglich nicht unbedingt zum Sinnverlust von Bräuchen, zur Unterwerfung von Traditionen unter die „Warenästhetik". Vielmehr werden diese einem Bedeutungswandel unterworfen; sie sind Erinnerungsorte, die je nach ökonomischer und gesellschaftlicher Situation, aber auch nach der jeweiligen Perspektive unterschiedliche Inhalte aufweisen. „Fasching total. Das ist im Ausseerland nicht übertrieben", schreibt Bernhard Strobl. „Gäste werden bald aus der Zuschauerrolle verdrängt und rutschen unverhofft in den Trubel." 35 Freilich haben Touristen andere Assoziationen als die Einheimischen, die ebenfalls die Bräuche unterschiedlich interpretieren. Außenstehende, auch wenn sie von den Festlichkeiten .aufgesogen' werden, sehen das ausgelassene Treiben als Teil der angeblich so vielfältigen österreichischen oder alpenländischen Identität; in Verbindung damit präsentieren sich die „Heiligen drei Faschingtag" auch als Bewahrung von ,Ursprünglichkeit'. So steht das Ausseerland gleichsam als Fels in der Brandung zivilisatorischer Veränderungen, auch wenn diese Vorstellung kaum der Realität entspricht. Das ,νοη außen' zugeschriebene Bild wird von den Einheimischen häufig übernommen, womit jedoch manche Bräuche ihre lokalspezifische Bedeutung einbüßen. So werden etwa im gesamten Salzkammergut so genannte „Glöcklerläufe" veranstaltet. Ursprünglich stammt aber der Brauch der Glöckler, die kunstvoll verzierte und von innen mit Kerzen beleuchtete Kappen tragen, aus Ebensee. Die Gleichsetzung von Brauch und Ursprünglichkeit sowie die Selbstdefinition der Salzkammergütler als Bewahrer dieser Ursprünglichkeit hat aber letztendlich bewirkt, dass beinahe jede Gemeinde in der Region über eine eigene „Pass", eine Gruppe zur Pflege des Brauchtums, verfügt. Diese Nivellierung lokaler Spezifika findet auch in der Wiederbelebung bzw. Pflege des traditionellen Heimgewerbes ihren Ausdruck. Bereits in den 1890er-Jahren veranstaltete etwa ein bürgerliches „Frauen-Comité" mit dem 1880 gegründeten Ausseer „Hausindustrie-Verein" mehrere gut besuchte Verkaufsausstellungen von Buntstickereien. Dabei fanden die „schönen Arbeiten, die [...] bedeutende Fortschritte in Façon und Technik aufwiesen, [...] allseitige Bewunderung und wirklich reissenden Absatz". 36 Die protoindustrielle Textilverarbeitung, die der Bevölkerung im Raum Aussee einen Zusatzverdienst ermöglicht hatte, wurde zum Erinnerungsort. Freilich konnte der Schein der „guten alten Zeit" nur durch die Übernahme neuer Arbeitstechniken und die Anpassung an Modeerscheinungen bewahrt werden.

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Bemerkenswert scheint in diesem Zusammenhang, dass die Konstruktion von Erinnerungsorten durch das bürgerlichen Vereinswesen erleichtert wurde. Gleichzeit konnte sich mit dem Vereinswesen, das gleichsam ein Modell der bürgerlich-liberalen Gesellschaft darstellt, 37 auch zunehmend das Idealbild einer durch gemeinsame Normen und Werte konstituierten gesellschaftlichen Einheit durchsetzen, die sowohl der sozialen Differenzierung der ständisch-feudalen als auch industriellen Welt gegenübersteht. Die bürgerliche Kultur sollte folglich als Instrumentarium zur sozialen Integration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen dienen, wobei allerdings die Anpassung an das Lokal- oder Regionalkolorit als Voraussetzung galt. Auf diese Weise wurden auch die kulturellen Traditionen des Salzwesens in den bürgerlichen Normen- und Wertekatalog eingeordnet und transformiert. 38 S o musizierte etwa die Ischler Salinenkapelle gemeinsam mit der Kurmusik und der Bürgerkapelle auf dem Parkfest in Ischl, eine Attraktion, die Einheimische und bürgerliche Sommerfrischler in gleicher Weise begeisterte. 39 Nicht nur die aktiv teilnehmenden Musiker, sondern auch die Zuschauer empfanden sich im Trubel der Veranstaltung als ein .Ganzes', nicht zuletzt deshalb, weil die lokalspezifischen Traditionen in die Festveranstaltung miteingebunden wurden. Der Sommerfrischler unternahm damit eine Reise in die Fremde bzw. in die .exotisch' anmutende Vergangenheit des Salinenortes. Der Einheimische entdeckte dagegen bereits verloren geglaubte Bausteine seiner Identität - der Bruch mit der Geschichte, der Siegeszug der bürgerlichen Gesellschaft, bot plötzlich die Möglichkeit, aus den „zerrissenen Erinnerungen" gleichsam eine neue Erinnerung zu konstruieren. Die Volkskultur, so wie sie heute meist verstanden wird, entstand aus diesem Wechselspiel zwischen bürgerlicher und regional- bzw. lokalspezifischer Kultur. Daher erscheinen Erinnerungsorte nur auf dem ersten Blick als unbeweglich, zumal ihre Transformation von jenen Personen, die sich ihrer bei der Identitätsbildung bedienen, meist als Zerstörung wahrgenommen wird. Tatsächlich erhalten „zerrissene Erinnerungen" jedoch nur dann wieder den Eindruck von Vollständigkeit, wenn gleichsam eine Versöhnung zwischen Veränderung und Beharrung erfolgt. Es bleibt in diesem Zusammenhang zu fragen, ob mit der Herausbildung regionaler bzw. lokaler Identitäten im Rahmen der Globalisierung nicht auch die bewusste Transformation von Volkskultur, etwa die Vermischung volksmusikalischer Elemente mit moderner Musik, einen Erinnerungsort darstellen kann. Die .moderne Volksmusik', die den kulturellen Wandel mit einbezieht und damit den Anspruch auf die so genannte Authentizität in Frage stellt, besitzt letztendlich eine .versöhnende' Funktion. In diesem Sinne schafft der aus dem S a l z k a m m e r g u t stammende Hubert von G o i s e r n mit seiner M u s i k Erinnerungsorte, mit denen individuelle und kollektive Identitätskrisen gemeistert werden können. In den ersten zwei Strophen seines Liedes „da dâsige", 4 0 der Einheimische, verwirrt er durch einen unverständlichen, unzusammenhängenden Text. Die Vermutung liegt nahe, dass er damit - ebenso wie durch das Vermischen moderner und traditioneller musikalischer Elemente - die Irritati-

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on infolge von Veränderungen thematisiert: Die Sprache und auch die Musik verändern sich, das Altbekannte scheint plötzlich nicht mehr erkennbar. Es besteht die Gefahr, dass der Sänger, ein „däsiger", als Fremder identifiziert wird: „versteht eigentlich irgendwer wâs i dà sing / kimmt überhaupt no' oana mit? / ebbert is gär a so, dass si' wer denkt / i wa' koan däsiger nit". 41 Die Ursache dafür scheint im Zusammenwachsen der lokalen und regionalen Welten zu liegen: „ob entn, ob herentn is a wohl wurscht / weil sei' kânns überall g'schmâ / enhö is herenhö wannst enhö bist / und menscha gibt's docht oder dà". 42 Dennoch bleiben auch weiterhin Relikte kultureller Tradition erhalten, sie bilden einen Teil der transformierten Identität. So drängt sich plötzlich ein altbekanntes „Stanzi" auf, durchdringt den eigentümlichen Sound, der durch eine Mélange aus modernen und traditionellen Instrumenten erzeugt wird: „buama stehts z'samm im kroas / i säg enk was i woass / zinnts enk a pfeifferl ân / de's raucha kânn". 43 Und auch die ihn umgebende Natur und seine Mitmenschen lassen keinen Zweifel, dass sich der Sänger in seiner Heimat, im Salzkammergut, befindet: „i moan hiatzt is's ge wieder soweit / i hält's scho' gär neama aus / umatum suderns und regna tuat's a so vül / dass da sau sogâr graust". 44

Gezähmte Wildnis Der Regen ruft zwar aus der Perspektive der Einheimischen vorwiegend negative Assoziationen hervor, bildet aber dennoch einen zentralen Bestandteil lokaler und regionaler Identität. Der aus dem Salzkammergut stammende Schriftsteller Gerhard Zeillinger erkennt darin die „Kehrseite des schönen Salzkammergut", allerdings eine Seite, die zu seiner frühen Kindheit gehört und ihm daher als Erinnerung unentbehrlich ist.45 Ein ebenso differenziertes Verhältnis zum Regen besitzen die Fremden, die alle Jahre wieder in das Salzkammergut pilgern. Zwar klagt Nikolaus Lenau in seinem Gedicht „An den Ischler Himmel im Sommer 1838": „Hätte Ischl nur dich und seine Solen, / Hätt' ich mit einem Fluche mich längst empfohlen; / Doch nebst dir und deinem Wolkengewimmel / Hat es zum Glück noch einen anderen Himmel!" 46 Beide Himmel aber, sowohl der unfreundliche als auch der freundliche, werden als Bestandteile der Naturlandschaft des Salzkammerguts akzeptiert. Sie sind für die Ursprünglichkeit, welche die Sommerfrischler seit dem 19. Jahrhundert verzweifelt suchten und schließlich in einer ideellen, die Zivilisation und die Wildnis vereinenden Landschaft fanden, unentbehrlich. Der Regen bildet einen notwendigen Gegenpol zum freundlichen Himmel, der letztendlich alles andere vergessen lässt: „[...] wenn die echte, rechte Reiselust im Herzen wohnt, die Sehnsucht nach den saftigen grünen Wäldern, den Bergriesen, den blaugrünen Alpenseen das Blut schneller fließen macht, achtet man der Medardi-Tage nicht", schreibt Ida Barber, eine von vielen Sommerfrischlerinnen, die Ende des 19. Jahrhunderts dem Salzkammergut entgegenfieberten. „[...] ,hinaus' ist das Losungswort und

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mit jeder Meile Entfernung von der Großstadt steigert sich die Lust am Naturgenuß, freut man sich des närrischen Einfalls trotz Sturm und Regen die Reise angetreten zu haben." 47 Und über den Traunsee ist im so genannten „Kronprinzenwerk" zu lesen: „Nicht selten geschieht es jedoch, daß [...] in heißer Sommerszeit aus dem Westen ein Gewittersturm heranzieht. [...] Ein fast nächtliches Dunkel lagert sich über die kurz vorher noch sonnenhelle Landschaft. Immer häufigere, immer gewaltigere Windstöße fegen über den See hin und verwandeln dessen Spiegel in eine hochwogende, schäumende Wasserfläche, deren Brausen nur momentan vom Rollen des Donners übertönt wird. So rasch wie der Gewittersturm gekommen, verläuft er auch meist wieder, und nicht selten bildet Abends das herrlichste Alpenglühen den letzten Abschluß desselben." 48 Es scheint so, als sei die „Scenerie wildesten Aufruhrs" letztlich ein romantisches Ereignis oder ein Abenteuer, das dem nach Abwechslung suchenden Touristen entgegenkommt, eine unabdingbare Voraussetzung, um das Salzkammergut zu dem zu machen, was es zu sein hat: ein bürgerliches Paradies. „Gott hat Kärnten sonnig geschaffen, auf daß es die Menschen aus allen Richtungen anziehe", schreibt Hans Weigel, „aber das Salzkammergut hat er regnerisch werden lassen, um nicht alle anderen Landstriche zu entvölkern. Das Salzkammergut liebt man trotzdem, das Salzkammergut ist trotzdem überfüllt." 49 Und das hat seinen guten Grund: Durch das seltsame Zusammenspiel beider Himmel rückt die Zivilisation in weite Ferne, der Mensch begibt sich zu seinen vermeintlichen Ursprüngen zurück. Damit ist ein Wunschbild umschrieben, welches das Bürgertum in die Bergwelt führte bzw. geradezu in die Natur zwang. Bis in das 18. Jahrhundert waren die in den Himmel ragenden Gebirge noch als eine feindliche Welt gemieden worden. Sie galten - selbst bei der in den Tälern wohnenden Bevölkerung - als gefährlich, als unwirtlich und sogar als hässlich, gleichsam als Ruinen des einstigen Paradieses. Nun aber wandelte sich die Gebirgswelt in ein säkularisiertes Paradies, in ein Refugium des Bürgertums. Hatte die Ebene die Rastlosigkeit der industrialisierten Gesellschaft hervorgebracht, so bot die Gebirgswelt dagegen Ruhe und Sinneslust. 50 Und somit fand auch das Bürgertum wieder zu Gott, der freilich nicht mehr strafend war. Vielmehr ruhte er sich von den Strapazen seiner Schöpfung aus, befand sich in permanenter Sommerfrische, wo er durch seine Wunder dafür gesorgt hatte, dass die Natur die Ressourcen bot, um den Wünschen des Bürgertums zu genügen. Damit sich aber die Wildnis tatsächlich zu einen bürgerlichen Paradies wandeln konnte, war es unabdingbar, sie zu zähmen. Das von den Reisenden gewählte ländliche Refugium sollte leicht zugänglich sein, sowohl dem sportlichen Bergsteiger als auch der zerbrechlichen Tochter aus gutem Hause. In den bürgerlichen Reiseführern über die Alpen wurde daher „nicht nur den speciellen Wünschen des Bergsteigers Rechnung getragen, sondern auch die näheren Thalpartien und Anhöhen eingehend" berücksichtigt. 5 ' Ebenso durfte das notwendige Ausmaß an Komfort in der Sommerfrische nicht fehlen, ohne dabei aber an Fremdartigkeit ganz zu verlieren. Somit wurde ein Bild von ,Ursprüng-

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lichkeit' konstruiert, ein Produkt erzeugt, dessen Rohstoff zwar aus der ländlichen Gesellschaft stammte, allerdings durch Versatzstücke der Zivilisation gleichsam .veredelt' wurde. Die auf diese Weise geschaffene künstliche Wildnis hatte - wie Hans Magnus Enzensberger schreibt - zugleich „zugänglich und unzugänglich, zivilisationsfern und komfortabel" zu sein.52 Die bürgerlichen Zivilisationsflüchtlinge projizierten die von ihnen geschaffene ,Ursprünglichkeit' auch auf das Salzkammergut, das daher seit dem Ende des 18. Jahrhunderts von außen weniger mit dem einst so wertvollen „Weißen Gold" als vielmehr mit Natur in Verbindung gebracht wurde. 53 Als 1819 in Ischl ein Kurbetrieb eröffnet wurde und seit 1867 schließlich auch Aussee über ein Kurhaus verfügte, erhielt das Salzkammergut zunehmend den Ruf einer .Wiege der Ursprünglichkeit'. „Nichts von jener Effecthascherei und Modesucht, die unangenehm in den grösseren rheinischen und böhmischen Curorten zur Schau treten", störte etwa in Ischl den Naturgenuss. Wie „Nektar und Ambrosia" konnte dort der bürgerliche Sommerfrischler die „echte, von tausend Wohlgerüchen durchwürzte Gebirgsluft" genießen, „die Quintessenz dessen, was Millionen blühender Bäume, duftender Wiesen, wogender Felder im weiten Umkreis von berauschend süßen Düften von sich geben". 54 Und sinnige Verse, geschrieben auf eine Außenwand des Badehotels „Elisabeth" in Aussee, erinnerten daran, wozu der Aufenthalt im Salzkammergut dienen sollte: „Der Gebirge reine Luft, / Dieses Waldes Fichtenduft / Und der Soolebäder Schärfen / Gut für stadtverdorb'ne Nerven. / Singet Vöglein in dem Busch, / Springt Eichhörnchen, husch, husch, husch, / Ohne Kummer, ohne Sorgen, - / Musst von ihnen Frohsinn borgen." 55

Landschaftliche Gegensätze und harmonische Vielfalt Zum Zeitpunkt seiner ,Entdeckung' hatte das Salzkammergut aber noch keineswegs der vom Bürgertum geforderten ,Ursprünglichkeit' entsprochen. Ende des 18. Jahrhunderts, im Übergang von der Aufklärung zur Romantik, galt das Salzkammergut vielmehr als eine Landschaft, die sich durch ihre Vielfalt und deren Gegensätze auszeichnete. Begeistert von den Naturwundern, aber auch geleitet von naturwissenschaftlichem Interesse durchwanderten neugierige Naturforscher die Region. Joseph August Schultes pries etwa das Salzkammergut, indem er zugleich in wissenschaftlicher Manier auf die Größe des Landes und den Umfang der Seen hinwies: „Wie viele Reisende, die im Harze und im Fichtelberge eine Schweiz sich erträumen, wissen es, daß hier auf einem Flecke von kaum kaum 12 QMeilen nicht weniger als 20 Seen sind, wovon einige 2 - 4 deutsche Meilen Umfang halten?" 56 Und in Friedrich Simonys Aufzeichnungen über die erste Winterbesteigung des Dachsteins, die er 1842 veröffentlichte, erhalten die naturkundlichen Betrachtungen einen poetischen Rahmen. Beschreibt er die Naturwunder zunächst aus geologischer Perspektive, so lässt er

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sich schließlich vom Sonnenaufgang in das Reich der Poesie verführen: „Wie ein feuriger Rubin von ungeheurer Größe tauchte mit einem Male die Sonnenscheibe aus der Tiefe des Ostens auf. Ihr Lichtstrahl durchbrach mächtig jenes feine violette Nebelgewebe, Lichtstrahl um Lichtstrahl zuckte zuerst über die höchsten Spitzen der Alpen, dann über ihre Wände und verdrängte Minute um Minute die fliehenden Schatten der Nacht, immer tiefer und tiefer steigend, bis endlich auch in den Tälern der Tag angebrochen war." 57

.Ansicht des Dachsteins mit dem Hallstätter See von der Hütteneckalpe bei Ischl", Ferdinand Georg Waldmüller, 1838

Der landschaftsbezogene Blick wurde durch das anthropologische Interesse der Reisenden ergänzt, womit manche noch heute gültige Stereotypen geschaffen wurden. Franz Sartori gelangte etwa im Jahr 1811 in das Salzkammergut und begegnete dort ,,Mitteldinger[n] zwischen einem Orang-Outang und einem Menschen, die [ihn] mit triefenden Augen und struppigen Haaren, drey bis vier Kröpfe am Halse, sprachlos und kreischend" über den Hallstätter See ruderten. „Man kann sich also denken", schrieb er verdrossen, „daß ich hier, wo die Natur klassisch ist, [...] nicht wenig über die ganz unvermuthete Erscheinung der drey weiblichen Paviane erstaunen mußte". 5 8 Neben den ,,viele[n] krüppelhafte[n] Menschen und Cretins (Troddel)" 59 entdeckten die Reisenden aber auch „die von Gesundheit strotzenden Alpendirnen", 6 0 die gleichsam ein Abbild der .ursprünglichen' Verhältnisse im Salzkammergut darstellten. Damit war ein Bild

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umschrieben, das letztlich auf alle Einheimischen übertragen und von diesen auch selbst übernommen werden sollte. Tatsächlich verdrängte die Vorstellung der ,Ursprünglichkeit' das differenzierte Bild, das die Naturforscher in ihren Berichten über das Salzkammergut gezeichnet hatten. Bei Schultes oder Simony hatte sich freilich die romantische Entdeckung bereits angekündigt, die Bildungsintention trat nun aber zugunsten der Erholung endgültig in den Hintergrund. Wie auch andernorts bewirkten die Landschaftsmaler, die den Naturforschern in die Alpenwelt folgten, und schließlich auch die zahlreichen Schriftsteller, dass der bürgerlichen Gesellschaft das Salzkammergut als ideale .ursprüngliche' Landschaft galt.61 Die Verzauberung der Welt sollte wieder entdeckt, somit also der romantische Blick der rationalen Betrachtungsweise entgegengesetzt werden. In der Folge blendeten die Reisenden die landschaftlichen Gegensätze zunehmend aus. Weiterhin wurde zwar die Vielfältigkeit des Salzkammerguts wahrgenommen, allerdings nicht mehr aus der wissenschaftlichen Perspektive, sondern als wichtiger Bestandteil eines abwechslungsreichen, aber harmonischen Ganzen. 62 „Auf verhältnismäßig kleinem Raum zusammengedrängt", schreibt Ludwig Wörl in seinem Reiseführer, „finden sich hier liebliche, lachende Gegenden, durch freundliche Dörfer und elegante Kurorte belebt, im Wechsel mit großartigen Gebirgskesseln, welche schimmernde Seen umschließen, in deren Fluten sich dunkel dräuende Felswände und schneeige Gletscher spiegeln, und zu denen aus schwindelnden Höhen silberne Bäche herabstürzen". 63 Die aufkommende Tourismusindustrie verschönerte' nun die Wildnis, gestaltete sie also gemäß den Ansprüchen der Zivilisationsflüchtlinge. So eroberte das Kaffeehaus das Salzkammergut und gewährten den Genuss des bürgerlichen Getränkes par excellence vor der Kulisse prächtiger Gebirgsketten. Komfortable Villen und Hotels dienten den bürgerlichen Familien während ihres Sommeraufenthaltes im Salzkammergut als Unterkunft, und mit der Errichtung von Promenaden und Esplanaden gelangten auch die zartesten Damen in den Genuss der (künstlichen) Natur. Ferner wurden Wanderwege angelegt und gekennzeichnet, zahlreiche Einheimische verdingten sich als Bergführer und begleiteten die Natursüchtigen auf Almhütten, wo diese mit natürlicher' Kost ihren Gaumen erfreuten. Freilich waren die Gasthöfe aber mit dem aufkommenden Fremdenverkehr gezwungen, den Bedürfnissen der Reisenden auch bei den Speisen entgegenzukommen. Die wirklich traditionellen Mahlzeiten, etwa die im Fett herausgebratenen Mehlnudeln der Berg- und Holzarbeiter des Salzkammerguts, die so genannten „Holzknecht-Nock'n", wären den bürgerlichen Vorstellungen von ,Ursprünglichkeit' eher abträglich gewesen. „Die alte Zeit der Entdeckung einer fremden, oft schaurig-schönen Landschaft war endgültig zu Ende", schreibt Lutz Maurer. „Man kannte nun die Landschaft und begann sie zu ,verschönern'". 6 4 So war etwa der Verschönerungsverein von Goisern stetig bemüht, „das was Mutter Natur versäumte durch seine Wirksamkeit zu ersetzen". 65

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Aber nicht nur die Natur wurde verschönt, sondern auch der Einheimische, der plötzlich als Idealtyp des mit der Natur verbundenen Menschen galt. Der .Naturbursche' war geboren, etwas einfältig und .exotisch' in seinem Verhalten, aber in seiner Beziehung zur Natur und in seinem vom Bürgertum nicht als ärmlich erkannten, sondern als einfach idealisierten Lebensstil durchaus zur Nachahmung empfohlen. Georg J. Kanzler bildete hier ein Ausnahme, wenn er den Kretinismus, der seiner Meinung nach im Salzkammergut herrschte, einerseits mit den Mangel an ausreichender Sonnenstrahlung in den engen Tälern, andererseits mit der „Freiheit auf den Bergen" erklärt, die „nur allzu sehr in geist- und körpertödtendes dolce far niente" ausarte. 66 Dagegen betrachtete der Großteil der Reiseschriftsteller gerade die Bergwelt als Voraussetzung für eine natürliche und einfache Lebensweise. „Almer und Almerin", schreibt L. Kegele, „fristen [...] durch einige Monate hindurch ein einsames und bescheidenes, jedoch freies und zufriedenes Leben." In einem Gedicht, das der „Almerin" gewidmet ist, fasst er denn auch die Vermählung des Menschen mit den ihm umgebenden Bergen in Verse: „Schöne Sennin, noch einmal / Sing deinen Ruf ins Thal, / Daß die frohe Felsensprache / Deinem hellen Ruf erwache. / Horch', o Mädchen, wie dein Sang / In die Brust dem Felsen drang, / Wie dein Wort die Felsenseelen / Freudig fort und fort erzählen!" Wenn aber der Tod die Sennerin der Welt entreißt, dann zerreißt das Band: „Und verlassen werden stehen, / Traurig, stumm herübersehen / Dort die grauen Felsenzinnen / Und auf deine Lieder sinnen." 67 Johann Steiner bewunderte wiederum den kräftigen und gesunden Körperbau der Salzkammergütler und wies darauf hin, dass „das männliche und weibliche Geschlecht [...] in diesem rauhen gebirgigen Salzkammergut nicht so ganz stiefmütterlich von der Natur behandelt" seien.68 Selbst Franz Sartori, von der „Affengesellschaft" erschreckt, die ihn über den Hallstättersee gerudert hatte, musste eingestehen, neben „mittelmäßig hübschen Gesichter[n]" auch „schöne Physiognomien mit griechischen Umrisse[n]" entdeckt zu haben, „deren vorteilhafte Bildung" allerdings „mit dem manchmal, aber selten vorkommenden etwas braunen Teint, und der nichts weniger als geschmackvollen Kleidung sonderbar kontrastierte". 69 Erzherzog Johann zeigte sich dagegen von der Kleidung der Ausseer tief beeindruckt, zumal ihm diese als Ausdruck des einfachen Wesens der Einheimischen galt. Durch das Tragen der lokalen Tracht strebte er danach, sich der Bevölkerung und somit auch der Natur anzugleichen, gleichsam mit der , Ursprünglichkeit' eins zu werden: „Als ich den grauen Rock in der Steyermark einführte, geschah es, um ein Beyspiel der Einfachheit und Sitte zu geben, so wie mein Rock so wurde mein Hauswesen, so mein Reden und mein Handeln. Das Beyspiel wirkte, und ich ziehe ihn nie mehr aus, ebenso wenig weich ich von meiner Einfachheit, lieber gebe ich mein Leben her."70 Auch Kaiser Franz Joseph I. erschien das Äußere der Gebirgsbewohner zu beeindrucken, weshalb er wohl „für ein Weilchen ein ganz klein wenig so wie sie sein wollte: naturverbunden und echt." 71 Nicht von ungefähr kleidete er sich für die Jagd mit einer

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Ischler Lederhose, einem graubraunen Lodenjanker und grünen Wadenstutzen. Die legendären Goiserer, genagelte Bergschuhe mit einer so genannten Zwienahnt (einer Doppelnaht), durften selbstverständlich auch nicht fehlen.

Der Bürger als Einheimischer - Der in Wien geborene Konrad Mautner (1880-1924) war ein eifriger Sammler von Ausseer Volksliedern und Trachten. Gemälde von Viktor Hammer, 1914

Die Kleidung der Einheimischen wurde zum Synonym der ,Ursprünglichkeit'. Trug jemand lokale Tracht, wähnte er sich in enger Verbindung mit der Natur. Tatsächlich erfolgte aber eine Anpassung der Trachten an die Vorstellung der Sommerfrischler; sie wurden geschönt, durch die Beigabe von Seiden, Brokaten und Spitzen sowie Silberschmuck spielerisch nachgeahmt und - oftmals in Trachtenvereinen - als Bestandteil einer heilen Welt, einer Bauernidylle, hochstilisiert. 72 „Ich finde sie einfach entzückend. Diese roten oder blauen Kattunkleider, die mit Sternen oder Blumen gemustert sind", lässt Oscar Blumenthal dem Ich-Erzähler in seinen „Ischler Frühlingsgesprächen" schwärmen, „diese schillernden Seidenschürzen, die in einem fröhlichen koloristischen Gegensatze zum Rocke stehen; diese schmucklosen weißen Leinenärmel, aus welchen noch

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weißere Arme hervorwinken; die hübschen grellgelben oder lichtblauen Busentücher; die grobgeflochtenen runden Strohhüte und die nickenden roten Spielhahnfedern [...] mit einer köstlichen Farbenkeckheit leuchten diese Trachten in den hellen Tag hinein." 73 Das Tragen von Trachten war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Modetrend geworden, ein Sommerfrischler ohne adäquate Kleidung, ohne Dirndl oder Trachtenanzug, war nur ein halber Sommerfrischler. „Die Modengecken haben sich nun in Lodengecken verwandelt", heißt es in den „Ischler Frühlingsgesprächen". „Kratzen sie an diesen Naturmenschen, und sie werden das Alpengigerl finden. Untersuchen sie ihren Rucksack, und sie entdecken die Bartbinde." 74 Zum modischen Kleidungsstück geworden, übernahmen letztlich auch die Einheimischen die „geschönten" Trachten, vor allem die kleinen Accessoires wie Seidentücher, Bänder oder Gürtel, die für die unterbürgerlichen Schichten gerade noch erschwinglich waren. Überhaupt ermöglichte die Pflege der Volkskultur den Einheimischen einerseits die Rückbindung an ihren Herkunftsort, um den ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel leichter erträglich zu machen, andererseits half sie auch bei der Annäherung an die bürgerlichen Lebensformen, somit bei der Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft. 75 Die Volkskultur war also keineswegs nur rückwärtsgewandt, sondern diente auch der bürgerlichen Vergesellschaftung, besaß also durchaus eine moderne gesellschaftliche Funktion. „Es gibt wahrscheinlich nur wenige Gegenden in Österreich", schreibt Hubertus Czernin, „die im Lauf der Jahrzehnte mit derart hartnäckigen Stereotypen bedacht wurden wie das Salzkammergut. Das beginnt beim Schnürlregen und endet beim Wetterfleck als einzig möglichem Bekleidungsstück für diese Gegend. Und tatsächlich kann man sich bisweilen nicht des Gefühls erwehren, daß sich die Menschen des Salzkammerguts jenem Bild anzupassen versuchen, das seit Jahrzehnten allen Wirklichkeiten zum Trotz überliefert wird." 76 In diesem Bild hat das Salzwesen seine einst dominierende Stellung als Identifikator verloren und ist zu einem Bestandteil der „herrlichen Gegend" geworden. Als etwa die Salinenkapelle Ebensee im Jahr 1928 ein Musikfest veranstaltete, marschierten zahlreiche Kapellen aus dem Salzkammergut und die Salinenarbeiter in Uniformen auf. Dazu gesellte sich ein buntes Gemisch von Vereinen, die jeweils einem der drei politischen Lager, die sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hatten, d.h. den Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Deutschnationalen zuzurechnen waren. So präsentierte sich der katholische Arbeiterverein neben der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft, ferner fanden sich der Deutsche Turnverein und der Veteranenverein unter den Teilnehmern. In seiner Festrede wies der Generaldirektor der österreichischen Salinen auf das Bindeglied hin, das diese so unterschiedlichen Organisationen vereinte: „Wir sind glücklich, daß unsere Arbeitsstätten in herrlicher Gegend stehen. Unsere Heimat mit ihrer reichen Schönheit wird uns stets vor innerer Verelendung bewahren." 77

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Und unter dem Himmel des Salzkammerguts, der den Regen ebenso wenig entbehren kann wie die Sonne, erscheinen sie alle gleich, die Einheimischen und die Fremden. Die Natur hebt alle sozialen Schranken auf, der Mensch hat sein Paradies gefunden. „Früh am Morgen begann das Glockengeläute. [...] ich hörte die Glocke hell und dunkel, fern und nah im Traum", schreibt Hilde Spiel in ihrem Roman „Verwirrung am Wolfgangsee". Wie im Traum tummeln sich die Menschen auf den Straßen und Plätzen, glücklich und sorgenlos, während sie die Natur schützend umgibt: „[...] auf der Straße unter meinem Fenster begann es zu trappen; in bunten und schwarzen Trachten kehrten die Kirchgänger von der Messe zurück. Unter ihnen gingen andere mit Bademänteln auf dem Arm, mittendurch bewegten sich Bergsteiger in genagelten Schuhen. Von einem Fenster wurde herübergerufen, auf dem Balkon stand eine alte Dame und wand einen nassen Badeanzug aus, es tropfte auf den Briefträger, der eben durch den Garten kam. Ich sah zu den Bergen hinüber, um die Morgennebel strich. An den Rändern, wo die Hänge sanft verliefen, war der Himmel noch apfelgrün." 78

Der Schein der Harmonie Mit der Entdeckung des Salzkammergutes als eine , Wiege der Ursprünglichkeit' wurde die Region erstmals zu einem überregionalen, einem bürgerlichen Erinnerungsort. Dass der erwähnte ökonomische Wandel seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zahlreiche soziale Probleme nach sich zog und die politischen Transformationsprozesse auch im Salzkammergut ihre Spuren hinterließen, scheint in der Wahrnehmung der nach ,Ursprünglichkeit' suchenden Bürger verdrängt worden zu sein. Tatsächlich fand aber etwa die Sozialdemokratie mit der Gründung von Arbeiterbildungsvereinen Eingang in die einstmals hermetisch abgeriegelte Region. Vor allem der Arbeiterbildungsverein in Gmunden fühlte sich in den 1880er-Jahren zum Teil radikalen sozialistischen Positionen verpflichtet. Dagegen blieben die Vereine in Hallstatt und Goisern gemäßigt und konzentrierten sich insbesondere auf die mit den Bildungsvereinen im Zusammenhang stehenden Konsumvereine. 79 Ohne Zweifel hängt dies mit dem besonderen sozialen Status der Berg-, Salinen- und Forstarbeiter zusammen, der aus der bereits erwähnten Privilegierung als Staatsarbeiter resultierte. Dennoch zeigt die große Mitgliederzahl dieser Arbeitervereine, dass die Arbeiterschaft im Salzkammergut dem ökonomischen Wandel nicht nur durch die Verklärung der Traditionen, sondern durchaus auch mit modernen Mitteln begegnete. Sowohl aus der Innen- als auch aus der Außenperspektive wurde daher die Region oftmals als exemplarische Arbeiterregion betrachtet; selbst die Industrialisierung wurde folglich zum Erinnerungsort hochstilisiert. Schließlich zeigt auch das politische Engagement des „Bauernphilosophen" Konrad Deubler, der um 1848 in Goisern einer liberal-antiklerikalen Gruppe angehörte, 80 dass sich

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das Salzkammergut nur als bürgerlicher Erinnerungsort frei von Differenzen präsentiert. Neben der entstehenden Klassengesellschaft machte sich seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auch der irrationale und auf sozialer Ausgrenzung basierende Deutschnationalismus breit. Jeder Sommerfrischler anderer Nation erschien den Deutschnationalen als „Unnatur in der Natur". 81 Angeblich entsprach die Ursprünglichkeit allein dem deutschen Wesen, der Fremde verkörperte dagegen die gesellschaftliche Dekadenz, die als Folge der Industrialisierung interpretiert wurde. „Als ich einen Spaziergang durch den Wald machte", schreibt eine Ischler Sommerfrischlerin am Ende des 19. Jahrhunderts, „überlegte ich, ob ich denn wirklich in .deutschen' Bergen lustwandle. Hier rief eine französische, dort eine englische Gouvernante die Kleinen zur Ordnung, Bonne rechts, Bonne links [...]. Es wäre so schön in den Bergen, in unseren deutschen Alpen, wenn man sie durch fremdländischen Tand und fremdartiges Wortgeklingel nicht entweihen wollte." 82 Gemeinsam mit dem Deutschnationalismus machte sich auch der Antisemitismus im Salzkammergut bemerkbar. In den 1920er-Jahren inserierte etwa ein Gasthof in St. Georgen im Attergau, dass nur christliche Sommergäste Unterkunft erhalten würden, und in Schörfling am Attersee bekannte sich ein Großteil der Wirte zum Antisemitismus. 83 Anfang der 1930er-Jahre häuften sich schließlich die offenen Angriffe gegen Juden. Die von der Bad Ischler NSDAP herausgegebene Zeitung „Ischler Beobachter" veröffentlichte etwa zwei Hetzartikel gegen jüdische Kurgäste, die unmittelbar zu Ausschreitungen führten. Im traditionellen Café Ramsauer in Ischl forderten Mitglieder der Mittelschulverbindung „Gamundia" jüdische Gäste zum Verlassen des Kaffeehauses auf.84 Das Dekanat Bad Ischl vermerkte 1930 in seinem „Visitationsbericht" über St. Wolfgang: „Nicht erfreulich wirken [...] im Sommer die meisten jüdischen Fremden und besonders die Filmgesellschaften." 85 Rund zehn Jahre vor 1938 wurde im Salzkammergut bereits eine „judenfreie Sommerfrische" gefordert. 1938 beklagte ein Bewohner von Strobl, der Ort sei bisher „vom Wiener Publikum, [...] leider meist vom nichtarischen" bevorzugt worden. 86 Kurz nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich informierte die Bad Ausseer Kurkommission die Einheimischen davon, „unter keinen Umständen Wohnungen und Zimmer an Juden zu vermieten. Mit Juden getätigte Abschlüsse für den heurigen Sommer sind rückgängig zu machen. Ebenso wurden bereits die nötigen Schritte eingeleitet, um den jüdischen Hausbesitz im Bezirke Bad Aussee der freihändigen Vermietung an Volksgenossen zu erschließen." 87 Es erscheint daher erstaunlich, dass für viele Überlebende des Holocaust die Sommerfrische im Salzkammergut zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Identität, zu einem Erinnerungsort geworden ist. Immer wieder taucht in den Erinnerungen jüdischer Vertriebener die Sehnsucht nach dem Salzkammergut auf, eine Sehnsucht, die offensichtlich aus dem bürgerlichen Charakter der Sommerfrische resultiert, aus dem Ideal der bürgerlichen Vergesellschaftung, somit

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auch der kulturellen Assimilation. Ein konstituierender Bestandteil des bürgerlich-egalitären Gesellschaftsmodells war auch die beschriebene ,Ursprünglichkeit', die dem Bürgertum seit dem 19. Jahrhundert zur temporären Zivilisationsflucht diente. In der Erinnerung vertriebener jüdischer Bürger wird dieses Refugium zur „Heimat", die bürgerliche Sommerfrische wird zum Symbol für ganz Österreich hochstilisiert. Auf diese Weise transformiert sich die bürgerliche Identität in eine nationale bzw. österreichische Identität, die jedoch ihre Wurzeln in der Habsburgermonarchie, im habsburgischen Mythos, und hier wiederum in der bürgerlichen Kultur zu haben scheint. „[...] dies ist meine wahre Heimat", schreibt die Schriftstellerin Gina Kaus über Aussee. „Wiesen und Wälder und Ausblicke gibt es allenthalben im Salzkammergut. Aber nichts war mit Aussee zu vergleichen. Selbst der Waldboden war anders und schöner als irgendwo sonst." 8 8 Der ehemalige Wohnort bleibt mit den nationalsozialistischen Verbrechen verknüpft, die Sommerfrische lindert dagegen den Schmerz, der die Begegnung mit der früheren Heimat hervorruft. Voraussetzung ist freilich die Reduzierung der Sommerfrische auf die Schönheiten der Natur und der Landschaft. „Österreich hat für mich wenig mit Fahne und Nationalität zu tun", meint der in New York lebende Leo Glückselig. „Es ist die Landschaft, es sind die Berge, wo ich wieder dieses tiefe Heimatgefühl verspürte, das mir als junger Mensch so selbstverständlich war." 89

Villa Paulick mit Bootshaus in Seewalchen am Attersee

Als Symbole der ,Ursprünglichkeit' sowie in ihrer Bedeutung für die bürgerliche Vergesellschaftung, schließlich auch als Folge des Trachtenverbots für Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft dienen selbstverständlich

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auch die Trachten als habsburgisch-österreichische Identitätsbausteine. George Clare schreibt etwa in seiner Autobiographie, dass er und seine Freunde in Bad Ischl „die Tracht der Einheimischen" trugen und somit „durch und durch österreichisch" waren. 90 „Österreich" bedeutet hier letztlich die vom Bürgertum gesuchte heile Welt; der Begriff steht also für einen imaginären Ort, an dem gleichsam die Gräuel des Holocaust nicht existent sind: „An Österreich habe ich schöne Erinnerungen, hauptsächlich an das Land, nicht an die Leute", erzählt Walter Spangler. „Die Wälder, die Berge, die Flüsse, die Seen, die haben vor Hitler existiert, und wenn schon kaum jemand mehr von Hitler redet, da werden die immer noch da sein". 91 Der Schriftsteller Robert Schindel, der in seinem Werk das Leben und die Ängste von Holocaust-Nachkommen thematisiert, zerstört diesen Mythos der heilen Welt. „Doch ich muß zugeben, nach Altaussee tät ich gern fahren", sagt der Ich-Erzähler in seinem Roman „Gebürtig", um schließlich festzustellen: „Warum tu ich mir das an? Eigentlich empfinde ich nichts Besonderes hier. Ich erinnere mich nicht einmal so genau. Das ist doch alles passé, was will ich denn noch?" 92

Österreichische Erinnerungsorte - künstliche Natur und Habsburgermonarchie Die Entstehung von Erinnerungsorten ist eng verbunden mit ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen, somit auch mit dem seit dem 19. Jahrhundert aufkommenden Tourismus. Daher können überregionale und regionale bzw. lokale Erinnerungsorte nicht isoliert voneinander betrachtet werden, sie beeinflussen einander vielmehr gegenseitig. So wurden zwar die kulturellen Traditionen aufgrund der veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen von den Einheimischen hochstilisiert und zugleich von den Sommerfrischlern genutzt, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Da der Fremdenverkehr aber im Salzkammergut mittlerweile zu einem lebensnotwendigen ökonomischen Faktor geworden ist, bilden die folklorisierten, nunmehr aber wieder mit den Lebensverhältnissen korrelierenden Traditionen wichtige Ressourcen, aus denen Eigenständigkeit, Überschaubarkeit und somit auch Sicherheit geschöpft werden kann. 93 Dieses Zusammenspiel der Innen- und Außenperspektive bewirkte schließlich auch eine Verbindung von Landes- und Nationalbewusstsein, 94 ließ das Salzkammergut also zum Bestandteil österreichischer Identität werden. Zwar bildet das Salzkammergut kein eigenes Bundesland, sondern erstreckt sich im heutigen Verständnis über Teile Oberösterreichs, Salzburgs und der Steiermark. Dennoch lässt sich gerade die Position, die von den Bewohnern des Salzkammergutes nach außen vertreten wird, durchaus als eine Art Landesbewusstsein deuten. Und dieses Landesbewusstsein deckt sich zum Teil mit dem nationalen Bewusstsein, vor allem wenn das Image des Salzkammerguts als heile Natur-

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landschaft und - etwas überspitzt formuliert - als ,habsburgisches Disneyland' bemüht wird. Die Region wird daher in den Medien regelmäßig als eine österreichische Kernlandschaft dargestellt, etwa im ersten Beitrag der ORF-Sendung „Land der Berge". Auch eine Landschaftsdokumentation des Österreichischen Rundfunks mit dem Titel „Heimat" startete 1997 mit dem Salzkammergut, wobei vor allem der Landschaft besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. 95 Tatsächlich bildet die gepriesene harmonische Vielfalt der österreichischen Landschaft einen wichtigen Bestandteil der österreichischen Identität. Das zu Beginn des 19. Jahrhunderts als „österreichische Schweiz" 96 bezeichnete Salzkammergut mit seinen Naturschönheiten stellt dabei nicht nur eine Facette der landschaftlichen Vielfalt dar, sondern repräsentiert diese vielmehr. „In diesem einzigartigen Wechsel von Lieblichkeit und Ernst erscheint das Salzkammergut als die österreichische Landschaft", ist in einem 1934 veröffentlichten Reiseführer zu lesen, „keiner seiner Berge, von deren Gipfel der Blick nicht auch in die Weite der Donauebene dränge, kein See und kein Ort, den nicht der nahe oder ferne Berg feierlich erhöhe. Jenseits des Salzkammerguts werden die Berge rauher, gnadenloser, schon weil das freundlich Gegenspiel der Seen fehlt; oder die Grenze ist nah und türmt die Berge zu Wällen. Hier aber, drei österreichische Kronländer umfassend, im Bannkreis des renaissancen, des barocken Salzburg, der derberen Volksstadt Linz, des steirischen Oberlandes, schlägt das Herz Österreichs, der österreichischen Berge und Landschaften vielleicht am stärksten und eigensten." 97 Von einer österreichischen Identität im heutigen Verständnis kann freilich vor 1945 noch keine Rede sein.98 Vielmehr handelt es sich hier um einen Versuch, in den politischen Wirren der 1930er-Jahre den autoritären österreichischen Ständestaat gegen das nationalsozialistische Deutschland abzugrenzen. Dennoch finden sich bereits jene Topoi, die auch nach 1945 zur Beschreibung der österreichischen Besonderheiten dienten. Noch heute gilt die Region als österreichische Miniaturausgabe. „Es vereint Hügelland und schroffen Fels, sinnliche Wasserlandschaften, dunkle Wälder und geheimnisvolle Hoehlen, die auf die Phantasie einwirken", steht in einer InternetWerbung zu lesen. „Das Salz, das der Region den Namen gab, war Quelle des Reichtums. Aus einer unglaublichen Vielfalt bäuerlicher Kultur entstand ein Lebensstil, wie er österreichischer nicht sein könnte." 99 Das „typisch Österreichische" wird je nach Perspektive auch mit bestimmten Städten, Regionen und Bundesländern identifiziert. Die österreichische Bevölkerung sieht sich im Selbstbild als sehr inhomogen und misst regionalen Differenzen große Bedeutung zu. 100 Folglich kann der Prozess der Nationsbildung nicht als Nivellierung der ländlichen Peripherie verstanden werden. Regionale und lokale Bindungen sind keine Überreste einer längst vergangenen Welt, sondern ermöglichen es erst den Individuen, eine nationale Identität zu entwickeln. Indem nämlich die Regionen als konstituierende Teile der Nation betont werden, erhalten die an überschaubare Räume gebundenen Identitäten auch überregionale bzw. nationale Bedeutung. Allerdings werden den Regio-

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nen auf diese Weise oftmals auch Merkmale zugeschrieben, die nicht unbedingt auf sie zutreffen. Dass etwa das Salzkammergut - wie in der oben zitierten Internet-Werbung - eine „Vielfalt bäuerlicher Kultur" besessen hätte, resultiert aus dem Klischeebild des Bauernlandes Österreich. Auch in dem deutsch-österreichischen Spielfilm „Hoch vom Dachstein" von 1953 wird dieses Bild kolportiert. 101 Die Landschaft des Salzkammergutes dient darin lediglich als Kulisse, die Darstellung eines Großbauern widerspricht der historischen Realität, da die Landwirtschaft im Salzkammergut bis in das 19. Jahrhundert hinein eine eher geringe Bedeutung besaß. Erst im ,neuen' Salzkammergut, mit der Auflösung der traditionellen Grenzen infolge des Fremdenverkehrs und der damit verbundenen Identifikation der Region mit der Natur, spielte die Landwirtschaft schließlich eine größere Rolle. Neben der harmonischen Vielfalt der Landschaft bildet ferner die nostalgische Erinnerung an das Habsburgerreich einen wichtigen Bestandteil der österreichischen Identität. Bei jenen, die sich heute auf der Suche nach der „guten alten Zeit" befinden, besitzt das Salzkammergut als ehemalige Sommerfrische und kaiserliche Sommerresidenz geradezu Kultstatus. Hier wähnt man sich noch in der Vergangenheit, in einer Zeit, als Kaiser Franz Joseph I. besorgt über seine Untertanen wachte. Bis zum heutigen Tag wird in Ischl am 18. August der Geburtstag des Kaisers gefeiert. Alle Grundmotive des habsburgischen Mythos, wie sie Claudio Magris beschrieben hat,102 finden sich im Salzkammergut auf kleinen Raum vereint: Die Welt erscheint bewegungslos und übernational, wobei freilich der im Salzkammergut aufkommende Deutschnationalismus ausgeklammert bleibt. 1890 wurde dieser Übernationalität etwa anlässlich des traditionellen Gmundner „Blumencorso" symbolischer Ausdruck verliehen, indem ein „Tableau vivant" mit dem Titel „Die Volksstämme Österreichs huldigen ihren erlauchten Herrscher" die Festlichkeit bereicherte.' 03 Ferner wird der Mythos des guten alten Kaisers gepflegt und der Hedonismus, der „Mythos des Walzers und der Lebensfreude", 104 zum alleine glücklich machenden Lebenszweck erhoben. „Die Sommerfrische der Wiener Operette war Bad Ischl", schreibt Gottfried Heindl.105 Und die Operettenfestspiele in Bad Ischl erinnern auch in der Gegenwart an Johann Strauß und Franz Lehar, die sich allsommerlich im Salzkammergut niederließen. Mit der gezähmten Wildnis findet sich schließlich ein weiteres, von Claudio Magris nur implizit erwähntes Grundmotiv des habsburgischen Mythos. 106 Untrennbar scheinen im Salzkammergut Natur und Landschaft mit der Habsburgermonarchie verbunden. Kaiser Franz Joseph I. konnte den Staatsgeschäften bzw. der sich wandelnden Welt, die ihm, dem konservativen Herrscher, der es kaum ertrug, als „konstitutioneller Kaiser" bezeichnet zu werden, so ganz und gar fremd geworden war, offenbar nur in der Natur bzw. auf der Pirsch entrinnen. Seine Jagdleidenschaft scheint geradezu zwanghaft gewesen zu sein: Mehr als 50.000 Stück geschossenes Wild sind in seinem Jagdbuch verzeichnet. „Auf eine Ursprünglichkeit, die hie und da noch archaische Züge trägt", schreibt

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Gerhard Zeillinger über Ischl, „trifft der matte Abglanz einer imperialen Epoche, treffen die Reste einer ,mondänen' Welt." 107 Natur, Kaiserhaus und die elegante bürgerliche Gesellschaft verschmelzen gleichsam im Salzkammergut; durch die gemeinsame Suche nach ,Ursprünglichkeit' wird das Bürgertum mit der Monarchie versöhnt. Nachdem sich der Kaiser das kleine Ischl als Sommerresidenz gewählt hatte, zog das Salzkammergut die bürgerliche Welt geradezu magnetisch an. Schauspieler, Literaten, Komponisten und bildende Künstler mieteten Sommerwohnungen oder leisteten sich prachtvolle Villen. Bürgerliche Familien zogen samt Köchinnen, Gouvernanten und Hauslehrern nach Ischl, Aussee, Ebensee, Strobl oder St. Wolfgang, um nur einige der beliebten Sommerfrischen zu nennen.' 0 8

Romy Schneider als „Sissi" und und Karlheinz Böhm als Kaiser Franz Joseph Natur als Synonym für Menschlichkeit

Als österreichischer Erinnerungsort erscheint das Salzkammergut als ein Paradies, in dem die Bürger und die Mitglieder des Kaiserhauses zuallererst Menschen und erst in zweiter Linie Unternehmer, Künstler oder Adelige sind. Und diese Menschlichkeit definiert sich letztlich durch die Verbundenheit zur gezähmten Wildnis. Nicht von Ungefähr erhielt etwa der 1956 gedrehte Film „Sissi - die junge Kaiserin" von Ernst Marischka das Prädikat „künstlerisch wertvoll"

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verliehen. Die vom österreichischen Unterrichtsministerium beauftragte Jury begründete ihre Entscheidung mit der Vermeidung von „wesentlichen historischen Fehlern bzw. geschichtliche^] Verzeichnungen" sowie der ,,positive[n] Aussage des Films, der die Werte des Herzens und der Menschlichkeit als charakteristische Merkmale österreichischer Wesensart überzeugend zur Darstellung bringt".' 09 Ernst Marischkas Sissi, von Romy Schneider als naives und unschuldiges Mäderl gespielt, ist auf das Engste mit der Natur verbunden, womit erst die gepriesene Menschlichkeit entstehen kann. Im ersten Teil der SissiTriologie wird diese Natur mit dem Salzkammergut gleichgesetzt. Dort kommen sich Sissi und Kaiser Franz Joseph I. bei einem Waldspaziergang näher, und nur dort ist ihre Beziehung von Glück beseelt. „Wundervoll!", begeistert sich Sissi. „Schön daß Majestät den Wald auch so lieben wie ich!" Und da die Staatsangelegenheiten dem jungen Kaiser kaum Zeit für den Naturgenuss gewähren, versucht sie ihn aufzumuntern: „Wenn du einmal im Leben Kummer oder Sorgen haben solltest, dann geh', wie jetzt mit offenen Augen, durch den Wald, und in jedem Baum, jedem Strauch und in jeder Blume wird dir die Allmacht Gottes zum Bewußtsein kommen und dir Trost und Kraft spenden!" 110 In dieser allmächtigen, religiös verklärten Natur verflacht sogar der rebellische Erzherzog Johann „zur volkstümlichen Gestalt eines noblen Jägers im sauberen Steirergewand". 111 Enttäuscht von politischen Misserfolgen - mit Ausnahme eines Zwischenspiels im Jahr 1848 - gab er letztlich der Suche nach ,Ursprünglichkeit' gegenüber der Politik den Vorzug. Zudem heiratete er Anna Plochl, ein einfaches Mädchen aus dem Volke, wie es heißt, auch wenn sie als Postmeisterstochter wohl eher zur lokalen Oberschicht zählte. Aber unter dem Himmel des Salzkammerguts gibt es nur naturverbundene und daher einfache Menschen, und so trifft sich Erzherzog Johann, der seinen „Steirerjanker" um keinen Preis der Welt mehr ausziehen wollte, in der gezähmten Wildnis nicht nur mit der einheimischen Bevölkerung, sondern auch mit dem Bürgertum und dem reaktionären Kaiserhaus. In dem 1950 gedrehten österreichischen Spielfilm „Erzherzog Johanns große Liebe", der eine durchgängig monarchistische Tendenz aufweist, ist daher nicht Kaiser Franz I. der Gegenspieler seines Bruders Johann, sondern der dem Volk völlig entfremdete Metternich. Die Natürlichkeit Anna Plochls, die gleichsam die gesamte Ausseer Bevölkerung repräsentiert, siegt über die Vorurteile des kaiserlichen Hauses: Vor versammelter Hofgesellschaft singt sie den Erzherzog Johann-Jodler, eine Art Symbol der Naturverbundenheit und Menschlichkeit, und kann damit sogar das Herz des Kaiser erweichen." 2 Rückblickend erinnert die Person Erzherzog Johanns also nicht an seine politische Opposition zum Kaiserhaus, sondern in erster Linie an seine Verbindung mit dem Mädchen aus dem Volke, die Peter Pfarl in seinem Tourismusführer über die „Habsburger im Salzkammergut" pathetisch beschreibt: „Die Geschichte seiner großen Liebe [...] stellt sich für uns Heutige als eine schöne Romanze dar: Am Ostufer des Toplitzsees, einem der romantischsten Punkte des Salzkammerguts, wo Felsen und Wälder eine eigenen Welt

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abzugrenzen scheinen, eine Welt der unzugänglichen Seen und Wasserfälle, für die das Wort Märchenreich nicht unangebracht ist, erblickte der Erzherzog zum erstenmal das Mädchen f...]."" 3 Die verklärte Natur bedeutet zugleich Menschlichkeit, und in einem Märchenreich wie dem Salzkammergut hat die Politik keinen Platz.

In der Märchenwelt des Salzkammerguts gibt es nur Liebe und Menschlichkeit. Erzherzog Johann rudert Anna Plochl über den Toplitzsee. Aquarell von Matthäus Loder, 1816

Resümee Das Salzkammergut stellt einen österreichischen Erinnerungsort dar, der in erster Linie mit Natur und - in Verbindung mit dem habsburgischen Mythos - mit der „guten alten Zeit" konnotiert wird. Folglich erfüllt die Region als Erinnerungsort zwei Funktionen: Erstens repräsentiert sie die angeblich so harmonische und vielfältige österreichische Landschaft, und zweitens dient sie als temporäres Refugium für Zivilisationsflüchtlinge, zunächst als weitgehend elitäre Sommerfrische vor allem für das habsburgische Bürgertum, schließlich als modernes Freizeitparadies für einen weiteren sozialen Kreis im Zuge des entstehenden Massentourismus. Das Image des Salzkammerguts als ,Land der Ursprünglichkeit' und ,habsburgisches Disneyland' wurde seit dem 19. Jahrhundert durch Schriftsteller und Künstler vermittelt. Im 20. Jahrhundert haben auch die modernen Medien, wie etwa Kino, Fernsehen und Internet, diese Rolle übernommen. Selbst jene, die

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sich als Aufklärer verstehen und hinter die Kulissen des Salzkammerguts zu schauen versuchen, umgeben das Salzkammergut letztendlich mit einer geheimnisvollen Aura. So hat etwa Alfred Komarek seinem Buch „Salzkammergut" den Untertitel „Reise durch ein unbekanntes Land" gegeben. In journalistischer Manier versucht er, die Eigenarten der Einheimischen aus kritisch-ironischer Perspektive zu beleuchten, in seinen launigen Ausführungen schwingt aber immer wieder die Verklärung der Region und ihrer Bewohner mit. Ebenso idealisiert Hans Weigel das Salzkammergut in seinem Buch „O du mein Österreich". In „keiner Weise" sei das Salzkammergut erschlossen, trotz der Sommerfrische seit dem 19. Jahrhundert ist es für den Fremden noch immer unbekannt. „Man ist zur idyllischen, weitabgewandten Lebenshaltung verpflichtet (man könnte sagen: verurteilt, man möchte sagen: begnadigt)", schreibt er, „man ist aller Luftlinie zum Trotz ganz weit weg von der nächsten Nähe, von der Hauptstrecke, man ist um so näher bei sich."114

Die Grenzen des touristischen Salzkammerguts sind fließend: Oberösterreich, Steiermark und Salzburg werben mit Natur, Wohlbefinden und monarchischer Vergangenheit

Mit seiner Bedeutung als überregionaler Erinnerungsort, als konstituierender Bestandteil der österreichischen Nation bzw. als Miniaturausgabe Österreichs, prägt das Salzkammergut freilich auch die österreichische Identität der Einhei-

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mischen. Außen- und Innenperspektive überschneiden sich; von außen in das Salzkammergut eindringende Klischeebilder werden übernommen, in spezifischer Weise interpretiert und somit wiederum von der Region beeinflusst. Allerdings besitzt ein Individuum nicht nur eine Identität, sondern weist mehrere Identitäten auf. So verliert demnach das Salzkammergut in seiner Gesamtheit als Erinnerungsort in spezifischen lokalen und regionalen Situationen seine Bedeutung. Erinnerungsorte sind eben vielfältig, sie bilden - wie eingangs erwähnt - „Kreuzungsorte [...], durchquert von zahlreichen Dimensionen"." 5 Je weiter man in den lokalen Mikrokosmos oder gar in individuelle Lebenswelten eindringt, desto schwieriger wird es, jeweils relevante Erinnerungsorte zu eruieren und deren Bedeutung im subjektiven Identitätsprozess abzuwägen. Damit wird deutlich, dass ein bestimmter Erinnerungsort für bestimmte soziale Gruppen oder auch für den Einzelnen unterschiedliche Bedeutung besitzt oder nur in bestimmten Situationen als Erinnerungsort dient. So bilden etwa die mit der Jahrhunderte alten Salzproduktion verbundenen kulturellen Traditionen in erster Linie für die Salzarbeiter Erinnerungsorte, wenn es gilt, ihre berufsständische Exklusivität trotz der Industrialisierung zu betonen. In einer anderen Situation gilt das Salzkammergut aber wiederum als Beispiel für eine moderne Arbeiterregion, und die Industrialisierung, die gerade noch durch die Brauchtumspflege kompensiert wurde, erweist sich im nächsten Moment als ebenfalls wichtiger Bestandteil der Identität als Salzarbeiter. Neben dieser sozialen Differenzierung von Erinnerungsorten ist schließlich auch zu berücksichtigen, dass Erinnerungsorte einem ständigen Wandel unterliegen, der von der jeweiligen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung geprägt ist. „Die natürlich Umwelt an sich ist noch nicht Landschaft", schreibt Thomas Woldrich. „Diese entsteht erst durch die Wahrnehmung und Interpretation des Betrachters. [...] Das Phänomen Landschaft ist im wahrsten Sinne des Wortes .Ansichtssache' und unterliegt gerade deswegen sehr starken modischen Einflüssen." 116 So gilt das Salzkammergut erst seit dem 19. Jahrhundert als überregionaler Erinnerungsort, als die Region durch die kaiserliche Sommerresidenz in Ischl und den aufkommenden Fremdenverkehr, durch die Suche nach ,Ursprünglichkeit', gleichsam entdeckt wurde. Spätestens seit den 1950er-Jahren, infolge des aufkommenden Massentourismus, repräsentierte das Salzkammergut zwar auch weiterhin eine unverdorbene Naturlandschaft, zunehmend rückten aber die Seen in den Vordergrund der Betrachtung. 117 Zum wanderbaren Salzkammergut gesellten sich das Badevergnügen und der Wassersport. Die harmonische Vielfalt der Landschaft wurde damit auf wenige Klischeebilder - Berge, Wasser und Freizeit - reduziert. Damit ergibt sich im Übrigen ein bislang ungelöstes Problem der Region, die ihr Angebot nur allmählich dem veränderten Freizeitmarkt anzupassen weiß. Nun scheint es allerdings problematisch, sich dabei allein auf die Bedürfnisse des Gastes zu konzentrieren. Vielmehr sollten touristische Marketingkonzepte auch die Bedürfnisse der Region berücksichtigen und somit Trends aktiv beein-

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Aussen. N u r ein f u n k t i o n i e r e n d e s Z u s a m m e n s p i e l beider Faktoren, die g e g e n s e i t i g e B e e i n f l u s s u n g s o w o h l der B e d ü r f n i s s e der E i n h e i m i s c h e n als auch der Fremden, e r m ö g l i c h t mittelfristig e i n e stabile F r e m d e n v e r k e h r s w i r t s c h a f t und die L ö s u n g v o n Identitätskrisen, d . h . a l s o e r f o l g r e i c h e l o k a l e und r e g i o n a l e Identitätsarbeit." 8 D a m i t verbunden ist aber auch ein neuerlicher Wandel sow o h l der lokalen und regionalen als auch überregionalen Erinnerungsorte. „Räum e , seien dies g a n z e R e g i o n e n , Landschaften oder Städte", schreibt D e t l e f Ipsen, unterliegen „ e i n e m P r o z e ß der A u f - , A b w e r t u n g und e v e n t u e l l einer neuerlic h e n A u f w e r t u n g [...]. D i e s e r P r o z e ß hat o f f e n s i c h t l i c h g r o ß e B e d e u t u n g für d i e N u t z u n g und Vernutzung der R ä u m e , er wird die L e b e n s b e d i n g u n g e n in diesen Räumen wesentlich mitbestimmen.""9

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Pierre Nora, Entre Mémoire et Histoire. La problématique des lieux, in: Les lieux de mémoire, Bd. I. La République, Paris 1986, XVII. Originalzitat: „Moment charnière, où la conscience de la rupture avec le passé se confond avec le sentiment d'une mémoire déchirée [...]." Pierre Nora, Présentation, in: Ebd., VII. Originalzitat: „Des lieux-carrefours [...], traversés de dimensions multiples". Heiner Keupp, Thomas Ahbe, Wolfgang Gmiir, Renate Höfer, Beate Mitzscherlich, Wolfgang Kraus und Florian Straus, Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek b. Hamburg 1999,7,67, siehe dazu auch: 9 f, 12; Carl Friedrich Graumann, On Multiple Identities, in: International Social Science Journal, 35/96 (1983), 309-321; Peter Weichhart, Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation, Stuttgart 1990, 16-19. Detlev Ipsen, Regionale Identität. Überlegungen zum politischen Charakter einer psychosozialen Raumkategorie, in: Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität, hg. von Rolf Lindner, Frankfurt a.M.-New York 1994, 237-239. Thomas Hellmuth, Die „Erfindung" des Salzkammergutes. Imaginationen alpiner Räume und ihre gesellschaftlichen Funktionen, in: Die Eliten und die Berge - Les élites et les montagnes, hg. von Jon Mathieu (erscheint 2005 in Zürich); Christian Dirninger, Historische Standortanalyse. Der Wandel regionaler Wirtschaftsstandorte am Beispiel des Salzkammergutes. Regionalgeschichte unter neuen Aspekten, in: Bericht über den 23. Österreichischen Historikertag in Salzburg, Salzburg 2003, 229. Alfred Komarek, Salzkammergut. Reise durch ein unbekanntes Land, Wien 1994, 7. Weichart, Raumbezogene Identität, 45; Jean Baudrillard, Subjekt und Objekt: fraktal, Bern 1986. Keupp u.a., Identitätskonstruktionen, 70 f. Angelika Maria Ingeborg Pauli, Das Salzkammergut. Ein Begriff im Wandel der Zeit. Raumbezogene Urteilsstereotype und Mental Maps, Diplomarbeit Univ. Salzburg 1992, 48 f., 70. Ferdinand Krackowizer, Geschichte der Stadt Gmunden in Oberösterreich, Gmunden 1898, 8. Die Vermarktung (ehemaliger) Salzregionen war Thema der Podiumsdiskussion „Disneyland statt Industrie? Fremdenverkehr als neue Einnahmequelle in ehemaligen Industriehochburgen", die am 2. Juli 1998 im ORF-Landesstudio Salzburg anlässlich der internationalen Tagung „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Salzes" in Salzburg und Hallein (Organisation: Thomas Hellmuth, Ewald Hiebl, Hanns Haas) stattfand. Siehe dazu: „Dornröschen wachküssen", in: Salzburger Nachrichten, 6. Juli 1998. Victor Felix von Kraus, Die Wirtschafts- und Verwaltungspolitik des aufgeklärten Absolutismus im Gmundner Salzkammergut. Dargestellt aufgrund archivalischer Quellen, Freiburg i. Br.-Wien 1899, 4-70. Siehe dazu auch: Pauli, Das Salzkammergut, 29-46. Krackowizer, Geschichte der Stadt Gmunden 1, 20.

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Thomas Hellmuth, „Stolz auf ihren Stand". Salzarbeiter in der Habsburgermonarchie zwischen berufsständischer Identität und Industrialisierung, in: Der Anschnitt 2 - 3 (1999), 76. Olaf Bockhorn, „Heunt is der Faschingtag, Heunt sauf i was i mag". Fasching in Bad Aussee, in: Salzburger Volkskultur 23 (1999), 15 f. Paul Kaufmann, Brauchtum in Österreich. Fest, Sitten, Glaube, Wien-Hamburg 1982, 124, 129. Hellmuth, Stolz auf ihren Stand, 72-84. Hans Riezinger Chronik. Aufzeichnungen eines Hallstätter Bergmeisters aus dem 18. Jahrhundert, Hallstatt 1995, 15. Josef Ehmer, In jener höchstverdächtigen Gegend - die „kaiserlichen Arbeiter" des Salzkammerguts, in: Vom nicht ganz einfachen Leben. Geschichte und Geschichten, hg. von Ilse König und Josef Ehmer, Wien 1996, 115. Hans Gielge, Dà Ausseer Bua, in: ders., Dalebt und niedagschriebm. Gedichte in der Mundart des Ausseerlandes (Steirisches Salzkammergut), Wels 1960, 12. Adalbert Stifter, Bergkristall, in: ders., Gesammelte Werke. Novellen II, München 1982, 204 f. Pauli, Das Salzkammergut, 200. Werkszeitung der Oesterreichischen Salinen 1/1 (1928), 9. Ebd., 1/8 (1928), 117. Ebd. Thomas Hellmuth, „Die alte Zeit mit ihrer poetischen Beschaulichkeit". Kulturelle Traditionen und Identitäten in europäischen Salzregionen (1800-2000), in: Kulturgeschichte des Salzes. 18. bis 20. Jahrhundert, hg. von Thomas Hellmuth und Ewald Hiebl, Wien-München 2001,254. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 101998, 277-286; ders., Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis, in: ders., Zur Soziologie symbolischer Formen, Frankfurt a. M. 6 1997,125 -158; ders., Réponses. Pour une anthropologie reflexive, Paris 1992, 101. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 279. Gielge, Glückliches Ausseerland, in: ders., Dalebt und niedagschriebm, 6. Übersetzung: „Auch im Gemüt der Leute, / an ihrem Tanz und ihren Liedern, / An ihrer Sprache, an ihrer Kleidung / Erkennt man das Ausseerland." Zu Musik, Tanz und Tracht im Ausseerland siehe: Reinhard Lamer, Das Ausseer Land. Geschichte und Kultur einer Landschaft, Graz-Wien-Köln 1998, 238-244. Komarek, Salzkammergut, 12, 15. Zu den folgenden Bräuchen siehe u.a.: Kaufmann, Brauchtum in Österreich, 67 f. 74 f., 8 4 88, 199; Lamer, Das Ausseerland, 233-236; Bernhard Strobl, Die „Heiligen drei Faschingtag", in: Salzburger Nachrichten, 12.2.1999. Strobl, Die „Heiligen drei Faschingtag". Bockhorn, Heunt is der Faschingtag, 18-21. Eric Hobsbawm, Das Erfinden von Traditionen, in: Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, hg. von Christoph Conrad und Martina Kessel, Stuttgart 1998, 97-118. Strobl, Die „Heiligen drei Faschingtag". Fremden-Zeitung, 5.8.1893. Klaus Tenfelde, Die Entfaltung des Vereinsweisens während der Industriellen Revolution in Deutschland (1850-1873), in: Vereinwesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, hg. von Otto Dann, München 1984, 56; Hans-Peter Hye, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Österreich, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 18 (1988), 93. Hellmuth, Die alte Zeit mit ihrer poetischen Beschaulichkeit, 253 f. Salzburger Fremden-Zeitung, 27.8.1889. Hubert von Goisern, Fön, 2000 (CD). „Versteht eigentlich irgendwer den Text / kann überhaupt noch jemand folgen / nächstens ist es gar so, dass sich wer denkt / dass ich kein Einheimischer bin."

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„Ob drüben, ob herüben, das ist gleichgültig / weil überall kann es gemütlich sein / drüben ist herüben, wenn du drüben bist / und Mädchen gibt es dort oder hier." „Burschen, vereint euch im Kreis / ich sag euch, was ich weiß / zündet euch ein Pfeifchen an / das rauchen kann." „Ich glaube, jetzt ist es gar wieder soweit / ich kann es schon nicht mehr ertragen / rundherum klagen sie und es regnet auch so viel / dass sogar einer Sau graust." Gerhard Zeillinger, Ischl, in: Literatur und Kritik 319-320 (1997), 5. Nikolaus Lenau, An den Ischler Himmel im Sommer 1838, in: Salzkammergut, hg. von Hubertus Czernin, Klagenfurt/Celovec 1998, 95. Ida Barber, Briefe aus dem Salzkammergut, in: Fremden-Zeitung, 19.8.1893. Die Österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Oberösterreich und Salzburg. Auf Anregung und unter Mitwirkung weiland Seiner kaiserl. und königl. Hoheit und durchlauchtigsten Kronprinzen Erzherzog Rudolf begonnen, fortgesetzt unter dem Protectorate Ihrer kaiserl. und königl. Hoheit der durchlauchtigsten Frau Kronprinzessin-Witwe Erzherzogin Stephanie, Wien 1889, 37. Hans Weigel, Exkurs: Wir sind entdeckt, in: ders., O du mein Österreich. Versuch des Fragments einer Improvisation. Illustriert von Paul Flora, München 7 1982, 126. Dieter und Ruth Groh, Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt a.M. 1991, 113; Hanns Haas, Die Eroberung der Berge, in: Weltbühne und Naturkulisse. Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus, hg. von Hanns Haas, Robert Hoffmann und Kurt Luger, Salzburg 1994, 29-37. Georg Geyer, Führer durch das Dachsteingebirge und die angrenzenden Gebiete des Salzkammergutes und Ennsthales, Wien 1886, S. III—IV. Siehe dazu u.a. auch: Theodor Hartwig, Handbuch für Reisende durch Südbayern, Tyrol, Vorarlberg, Salzburg und das Salzkammergut, München 1842; Theodor Gettinger, Das Salzkammergut, das salzburgische Hochgebirge und Berchtesgaden, Wien 1868; Theodor Trautwein, Das Bairische Hochland und das angrenzende Tirol und Salzburg nebst Salzkammergut, Augsburg 41888. Hans Magnus Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus, in: ders.: Einzelheiten, Frankfurt a. M. 1962, 159. Pauli, Das Salzkammergut, 77-93, 234; Maria Margareta Pußwald, Altaussee als Ort des Gedächtnisses, Diplomarbeit Univ. Graz 2000, 23-26. Barber, Briefe aus dem Salzkammergut. Fremden-Zeitung, 16.4.1892. Zur Entwicklung der Sommerfrische in Altaussee siehe: Andrea Maria Penz, „Bürgerliche Sommerfrische": Der Konsum von Gesundheit und Naturerfahrung. Das Beispiel Altaussee um 1900, Diplomarbeit Univ. Graz 2001. J[oseph] A[ugust] Schultes, Reisen durch Oberösterreich in den Jahren 1794, 1795, 1802, 1803, 1804 und 1808, Tübingen 1809, 1. Friedrich Simony, Drei Dezembertage auf dem Dachsteingebirge, in: Salzkammergut, hg. von Hubertus Czernin, 33. Franz Sartori, Neueste Reise durch Österreich ob und unter der Enns, Salzburg, Berchtesgaden, Kärnthen und Steyermark in statistischer, geographischer, naturhistorischer, ökonomischer, geschichtlicher und pittoresker Hinsicht, 1, Wien 1811, 287, 303. J. Moshamer, Fremdenführer in das Salzkammergut, nach Salzburg und Gastein nebst kleinen Ausflügen nach Aussee, Reichenhall und Berchtesgaden, Wien 1867, 10. Johann Steiner, Der Reisegefährte durch die Österreichische Schweiz oder das obderennsische Salzkammergut. In historisch, geographisch, statistisch, kameralisch und pittoresker Ansicht. Ein Taschenbuch zur geseeligen Begleitung in diese Gegenden. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage, Linz 1832, VI. Gottfried Heindl, Das Salzkammergut und seine Gäste. Die Geschichte einer Sommerfrische, Wien 1993, 47-59; Gerhard Mayrhofer, Die Fremdenverkehrsgeschichte von Hallstatt, Dissertation Univ. Salzburg 2003, 112-120. Siehe dazu auch das Salzburger Beispiel: Robert Hoffmann, Die Romantiker „entdecken" Salzburg, in: Weltbühne und Naturkulisse, hg. von Hanns Haas u.a., 16-21. Pauli, Das Salzkammergut, 81.

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L[udwig] Wörl, Illustrierter Führer durch das Salzkammergut und die angrenzenden Gebiete mit Einschluß von Salzburg, Hallein und Golling, Leipzig 4 1907, 7. Lutz Maurer, Aussee bleibt mir das Schönste, Starnberg 1996, 19. Fremden-Zeitung, 21.8.1891. Georg J. Kanzler, Wanderungen durch das Salzkammergut. Historisch-geographische Skizzen, Linz 1883, 9. L. Kegele, Das Salzkammergut nebst angrenzenden Gebieten in Wort und Bild, Wien-PestLeipzig 1898, 39, 2. Steiner, Der Reisegefährte durch die Österreichische Schweiz, VI. Sartori, Neueste Reise, 302. Erzherzog Johann, zit. bei: Heindl, Das Salzkammergut und seine Gäste, 174. Siehe dazu auch: Gundl Holaubek-Lawatsch, Das Kleid der Anna Plochl und des Erzherzogs grauer Rock, in: Erzherzog Johann von Österreich. Katalog zur Landesausstellung 1982, Bd. 2. Beiträge zur Geschichte seiner Zeit, hg. von Grete Klingenstein, Graz 2 1982, 415-426. Komarek, Salzkammergut, 123. Wolfgang Kaschuba, Lebenswelt und Kultur unterbürgerlicher Schichten im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, 10. Oscar Blumenthal, Ischler Frühlingsgespräche, in: Salzkammergut, hg. von Hubertus Czernin, 101.

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Ebd, 102. Kaschuba, Lebenswelt und Kultur, 104; Hermann Bausinger, Bürgerlichkeit und Kultur, in: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Kocka, Göttingen 1987, 138. Hubertus Czernin, Nachbemerkung, in: Salzkammergut, hg. von dems., 207 f. Werkszeitung der Oesterreichischen Salinen 1/8 (1928), 117. Hilde Spiel, Verwirrung am Wolfgangsee, in: dies., Frühe Tage. Kati auf der Brücke, Verwirrung am Wolfgangsee, Flöte und Trommeln. Drei Romane, Reinbek b. Hamburg 1992, 166 f. Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterbewegung in Oberösterreich, Wien-MünchenZürich 1981, 147, 267-270; Ewald Hiebl, Auf halbem Weg in die Moderne. Soziale Absicherung und politische Partizipation der österreichischen Salzarbeiterschaft zur Jahrhundertwende, in: Kulturgeschichte des Salzes, hg. von Thomas Hellmuth und Ewald Hiebl, 234-236. Gerhart Baron, Der Beginn. Die Anfänge der Arbeiterbildungsvereine in Oberösterreich, Linz 1971,78-81. Barber, Briefe aus dem Salzkammergut. Ebd. Albert Lichtblau, Die Chiffre Sommerfrische als Erinnerungstopos. Der retrospektiv-lebensgeschichtliche Blick, in: Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, hg. von Sabine Hödl und Eleonore Lappin, Wien 2000, 119 f. Wolfgang Quatember, Ulrike Felber und Susanne Rolinek, Das Salzkammergut. Seine politische Kultur in der Ersten und Zweiten Republik, Grünbach 1999, 65 f. Diözesanarchiv Linz, Visitationsberichte 1930, M I/II, Visitations-Befund, Bad Ischl, 31.12.1930. Gemeindearchiv Strobl, Schreiben Georg Rudolfs an den Gaupropagandaleiter in Berlin, 8.7.1938, zit. bei: Christian Wasmeier, Der Weg durch dunkle Zeiten. Strobl von den 30er Jahren bis nach Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Strobl am Wolfgangsee. Natur, Geschichte und Kultur einer Gemeinde im Salzkammergut, hg. von Johann Stehrer, Strobl 1998, 187. Steirische Alpenpost, 20.5.1938, zit. bei: Johanna Palme, Sommerfrische des Geistes. Wissenschaftler im Ausseerland, Bad Aussee 1999, 34. Gina Kaus, Von Wien nach Hollywood, o.O. 1990, 148. Leo Glückselig, Gottlob, kein Held und Heiliger. Ein Wiener Jewboy in New York, hg. von Daniela Ellmauer und Albert Lichtblau, Wien 1999, 291. Georg Clare, Letzter Walzer in Wien. Spuren einer Familie, Frankfurt a.M.-Berlin-Wien 1984, 182.

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Interview mit Walter Spangler, in: Die Heimat wurde ihnen fremd, die Fremde nicht zur Heimat. Erinnerungen österreichischer Juden aus dem Exil, hg. von Adi Wimmer, Wien 1993, 199 f. 92 Robert Schindel, Gebürtig. Roman, Frankfurt a.M. 1992, 222 f. 93 Ina Maria Greverus, Landbewegungen. Remythologisierung oder Redefinition ruraler Weltsicht?, in: Die Anderen und ich. Kulturanthropologische Texte, hg. von ders., Darmstadt 1995, 168-171. 94 Siehe dazu allgemein: Susanne Breuss, Karin Liebhart und Andreas Pribersky, Inszenierungen. Stichwörter zu Österreich, Wien 1995,176-180; Ernst Bruckmüller, Österreichbewußtsein im Wandel. Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren, Wien 1994. 95 Martin Hebertshuber und Günther Marchner, Projektbereich Leitbilder und Nutzungskonflikte. Raum und Ökonomie. Forschungsschwerpunkt Kulturlandschaft: Kulturlandschaft im Kopf, unveröffentlichtes Manuskript, Wien 1997, 95. 96 Steiner, Der Reisegefährte durch die österreichische Schweiz. 97 H. Stifter, Salzkammergut und Dachstein, München 1934, 13, zit. bei: Hebertshuber und Marchner, Projektbereich Leitbilder, 92. 98 Breuss, Liebhart und Pribersky, Inszenierungen, 13 f, 23 f, 216. 99 http://members.chello.at/mchristian/defaulto.htm, 12.11.2000. 100 Breuss, Liebhart und Pribersky, Inszenierungen, 84, 86. 101 Gertraud Steiner, Die Heimatmacher. Kino in Österreich 1946-1966, Wien 1987, 112-115. 102 Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg 2 1988, 15-19. 103 Salzburger Fremden-Zeitung, 20.7.1890. 104 Magris, Der habsburgische Mythos, 18. 105 Heindl, Das Salzkammergut und seine Gäste, 81. 106 Magris, Der habsburgische Mythos, 135-166. 107 Zeillinger, Ischl, 88. 108 Zur Sommerfrische allgemein siehe u.a.: Hanns Haas, Die Sommerfrische - Ort der Bürgerlichkeit, in: „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit" (Bürgertum in der Habsburgermonarchie, 2), hg. von Hannes Stekl, Peter Urbanitsch, Ernst Bruckmüller und Hans Heiss, Wien-Köln-Weimar 1992, 364-377. 109 Österreichische Film- und Kinozeitung, Nr. 556, 23.3.1957, zit. bei: Steiner, Die Heimatmacher, 215. 110 Der Spiegel, 7.3.1956, zit. in: ebd., 212. "' Hans Magenschab, Erzherzog Johann. Habsburgs grüner Rebell, Graz-Wien-Köln 1981. Zu Erzherzog Johanns politischem Engagement siehe u.a.: Alfred Ableitinger: Erzherzog Johann und die Revolution von 1848/49, in: Erzherzog Johann von Österreich, hg. von Grete Klingenstein, 73-97. 112 Steiner, Die Heimatmacher, 134-138. 113 Peter Pfarl, Die Habsburger im Salzkammergut, Graz 1992, 51, 56. 114 Weigel, Exkurs, 121. 115 Nora, Entre Mémoire et Histoire, VII. '16 Thomas Woldrich, Das schöne Austria. Tourismuswerbung für Österreich mittels Landschaft, Kultur und Menschen, in: Das ist Österreich. Innensichten und Außensichten, hg. von Ursula Prutsch und Manfred Lechner, Wien 1997, 44. Siehe dazu auch: Simon Schama, Landscape and Memory, London 1995. 1,7 Pauli, Das Salzkammergut, 85-87. 118 Zum Identitätsverlust durch Tourismus siehe u.a.: Woldrich, Das schöne Austria, 56 f. Eine starke Orientierung allein an die sich wandelnden Bedürfnisse des Gastes findet sich bei Sigrid Altmanninger, Urlaubsregion Salzkammergut. Image und Akzeptanz aus der Sicht des Gastes, Diplomarbeit Univ. Linz 1997. Recht widersprüchliche Positionen vertritt Manfred Mayer, Das Salzkammergut als Fremdenverkehrs-Landschaft. Geschichte und ihre Vermarktung, Diplomarbeit Univ. Linz 1991, 139, 142, 149. 119 Ipsen, Regionale Identität. 243.

Hubert Mock

„Bozen und Meran war immer Österreichs Gedankengut"1 Anmerkungen zur Geschichte des Südtirol-Bildes in Österreich

„In der Stunde, in welcher sich eine düstere Wolke über Tirol zusammenballt, bin ich beauftragt, die Auffassung meiner Landsleute hier zum Ausdruck zu bringen. Es wird jetzt in Südtirol ein Verzweiflungskampf beginnen um jeden Bauernhof, um jedes Stadthaus, um jeden Weingarten. Sowohl aus den Worten des Staatskanzlers Dr. Renner als auch aus denjenigen des Präsidenten Hauser hat das Versprechen geklungen, daß Sie die Solidarität der Sprache, der Kultur und der Geschichte, die Deutsch-Südtirol bisher mit den Deutschen Österreichs verbunden hat, wahren wollen, und daß Sie nicht auf uns vergessen werden (,Nie, nie!' von allen Seiten des Hauses). Wir nehmen Sie beim Worte! (Stürmischer Beifall und Rufe: wir werden unser Wort halten!) Wenn wir jetzt in die finstere Zukunft hineingehen, so soll das unser einziger Trost sein, daß wir Landsleute und Volksgenossen besitzen, die uns in der Stunde der Not nicht vergessen, die uns in diesem entsetzlichen Ringen ihre Hilfe leihen werden." 2 Mit diesen pathetischen und deutschnational verbrämten Worten nahm am 6. September 1919 der Bozner Rechtsanwalt und Tiroler Landtagsabgeordnete Eduard Reut-Nicolussi in der Konstituierenden Nationalversammlung im Namen Südtirols Abschied von Österreich. In derselben Sitzung beschloss die Nationalversammlung, den von den Alliierten vorgelegten Friedensvertrag zu akzeptieren. Wenige Tage später, am 10. September, wurde er von Staatskanzler Renner in Saint-Germain unterzeichnet; am 10. Oktober 1920 hat Italien die Annexion der neuen Provinz formell vollzogen. 85 Jahre danach ist Südtirol in Österreich vor allem medial erstaunlich stark präsent. So produziert der ORF eine regionale Informationssendung mit dem Titel „Südtirol heute", die in Nord- und Südtirol ausgestrahlt wird, und der ORF-Wetterdienst vergisst in seinen Prognosen kaum einmal, auf die meteorologische Entwicklung südlich des Brenners hinzuweisen. Bei Sportübertragungen werden Skiläufer aus der Provinz Bozen in der Regel - und anders

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als vom deutschen oder schweizerischen Fernsehen - nicht Italien, sondern ihrer Herkunftsregion zugeordnet. Sepp Forcher besucht mit seiner Sendung „Klingendes Österreich" regelmäßig Südtirol, Karl Moik war mit seinem „Musikantenstadl" in Bozen und Brixen und Armin Assinger ruft Südtiroler dazu auf, sich bei der „Millionenshow" als Kandidaten zu bewerben. Österreichs großformatige Printmedien haben eigene Korrespondenten in Bozen, die „Tiroler Tageszeitung" berichtet täglich über den südlichen Landesteil. Daneben gibt es eine thematisch breit gestreute Reihe von österreichischen Publikationen mit Südtirol-Teil: Das Spektrum reicht vom Angelführer über den kulinarischen Wegweiser und der Schnapsfibel bis hin zur Abhandlung über Kirchenchöre; selbst der österreichische „Who is who" verfügt über ein Südtirol-Kapitel. Aber auch in anderen Bereichen gibt es Hinweise auf enge Beziehungen Österreichs zu Südtirol: Die Landeshauptstädte haben - mit einer Ausnahme Straßen nach Südtiroler Orten benannt und Südtiroler Musikkapellen sind Stammgäste bei Landesmusikfesten in Österreich. Österreichische Historiker haben in den vergangenen Jahrzehnten Südtirol häufig thematisiert. Dies gilt besonders für die Universität Innsbruck, wo zahlreiche Forschungen zu Südtirol initiiert und veröffentlicht werden. Meinungsumfragen unter der österreichischen Bevölkerung ergeben einen hohen Sympathiewert für Südtirol, und der Weihnachtsbaum für den Wiener Rathausplatz, der traditionell von den Bundesländern gestiftet wird, ist schon mehrmals aus den Südtiroler Landesforsten gekommen. Ist Südtirol also doch das 10. Bundesland? Man möchte die Frage spontan bejahen, wenn nicht im Bereich Verkehr ein bezeichnender Kontrapunkt festzustellen wäre: Der Kurswagen Wien-Meran wurde schon Mitte der 1980er-Jahre aus dem Fahrplan gestrichen und die „Tyrolean Airways" stellten den seit Sommer 1999 geführten Flug Bozen-Wien bereits nach einem Jahr wegen fehlender Auslastung wieder ein. Unvermittelt kommt dazu Helmut Qualtinger in den Sinn, der seinen „Travnicek" bereits 1959 sagen ließ: „I hab' mir denkt: ,Südtirol den Südtirolern' und bin net hing'fahren." Zwar halten sich zur Freude der Südtiroler Touristiker bei weitem nicht alle Österreicher an dieses Motto, ein Blick auf die Fremdenverkehrsstatistik der Provinz Bozen ergibt aber dennoch signifikante Aufschlüsse: Die Zahl der österreichischen Urlaubsgäste wuchs von 24.290 im Jahr 1950 auf 182.020 im Jahr 2003; im gleichen Zeitraum stieg die Gesamtzahl der ausländischen Gäste von 103.681 auf 2,883.703 und jene der bundesdeutschen von 16.656 auf 2,199.493. Umgekehrt sank der österreichische Anteil an der Gesamtzahl der Nächtigungen ausländischer Urlauber in Südtirol von 20% im Jahr 1950 auf 4% im Jahr 2003; seit Ende der 1980er-Jahre sind die Nächtigungen österreichischer Gäste um rund ein Drittel zurückgegangen. 3 Gerade dieser ansatzweise widersprüchliche Befund lässt vermuten, dass sich hinter der Präsenz Südtirols in Österreich eine Galerie von Bildern des altösterreichischen Gebietes zwischen Brenner und Salurn verbirgt, die in ihrer Gesamtheit keine glatte Fassade, sondern eine vielfältig strukturierte Land-

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schaft der Erinnerung darstellen. Thema des vorliegenden Beitrages ist es, die Entwicklung der Südtirol-Bilder nachzuzeichnen und zu eruieren, inwieweit sie Teil des kulturellen Gedächtnisses Österreichs geworden sind und für Österreich die Funktion von nationalen Gedächtnisorten erfüllten oder dies heute noch tun. Angesichts der Vielschichtigkeit des Themas Südtirol in der Geschichte der österreichischen Republiken muss sich der Beitrag allerdings auf eine Auswahl von Südtirol-Bildern beschränken und kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.

Die Träger der Erinnerung. Die politisch-historischen Prämissen Das offizielle

Österreich

Die Region zwischen Brenner und Salurn wurde unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zum Gegenstand der österreichischen Politik und verdankte dies in erster Linie Tiroler Initiativen. Noch im Winter 1918/19 wurden Konzepte entwickelt, wie die Abtrennung Südtirols am ehesten zu verhindern sei. Die Position Bozens war dabei vom Bestreben gekennzeichnet, eine Zukunft für den gesamten südlichen deutschsprachigen Landesteil zu entwerfen, irgendwelche Gebietsabtretungen kamen nicht in Frage. Dagegen war die Haltung Wiens nicht frei von Ambivalenz. Wohl zeigte die Regierung Renner parallel zu ihrer Anschlusspolitik starkes diplomatisches Engagement, um den Verlust Tiroler Gebietes mit deutschsprachiger Bevölkerung zu verhindern. Staatssekretär Bauer desavouierte aber eben diese Bemühungen mit der Äußerung gegenüber dem italienischen Diplomaten Macchioro, Südtirol sei für Österreich eine Frage des Gefühls; sein Gesprächspartner konnte darauf leicht kontern, dass es Italien hingegen um seine Sicherheit, sprich: um ein handfestes Interesse ginge. 4 Vor allem aber standen die diversen territorialen Rückzugslinien, die die österreichische Diplomatie im Vorfeld der Konferenz von Saint-Germain für den Fall ausarbeitete, dass der Anspruch auf das gesamte deutsche und ladinische Sprachgebiet des südlichen Tirol nicht zu halten wäre, in einem signifikanten Widerspruch zum Nachdruck, mit dem die Republik Deutschösterreich auch auf legislativer Ebene Südtirol für sich reklamierte. 5 Dabei schien die Tiroler Frage zeitweilig sogar die Entscheidung über den künftigen Weg Österreichs als selbstständiger Staat oder als reichsdeutsche Provinz zu beeinflussen: Die Friedensdelegation selbst mit Kanzler Renner an der Spitze brachte gegen die Friedensbedingungen den Einwand vor, mit der Zerstückelung Tirols würde „die Erhaltung eines neuen, für sich selbst lebensfähigen Österreich unmöglich gemacht", 6 der Verlust Vorarlbergs und Salzburgs könnte folgen: „Auf diese Weise würde die völlige Auflösung des Staates beginnen." 7 Damit wurde ein Bild Südtirols als existenzbedingender Faktor für die Republik Deutschösterreich skizziert. Die Siegermächte ließen sich davon be-

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kanntlich nicht beeindrucken: Sie haben sowohl Tirol geteilt als auch den Anschluss verboten. Gebietsanspruche 1918/19 deutschsprachige Gebiete 1919 verloren l l l i l i l Abstimmungsgebiete I I Österreich heute j gemischtsprachige Gebiete

Deutschland



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„Österreich 1919 - W u n s c h und Wirklichkeit" - die Vermittlung im Schullehrbuch ( 1 9 9 7 )

Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages verlor Südtirol, das eben noch als Kriterium für die staatliche „Lebensfähigkeit" apostrophiert worden war, in der österreichischen Politik rasch an Bedeutung. Das hing zum einen mit der volkstumsideologischen Dimension des Anschlussgedankens zusammen. Die junge Republik Deutschösterreich hatte sich bereits am Tag ihrer Proklamation als Teil des Deutschen Reiches definiert und damit die Perspektive ihrer Selbstauflösung dekretiert. Obwohl dieser Weg von der Entente in der Folge versperrt wurde, blieb der Anschlussgedanke virulent. Die „deutsche" Selbstwahrnehmung Österreichs implizierte aber die Anerkennung Berlins als Zentrum der Volkstumspolitik und Protektor auslandsdeutscher Minderheiten. Dementsprechend beiläufig musste der österreichische Einsatz für Südtirol bleiben; abgesehen davon, dass die politische und wirtschaftliche Schwäche Wiens allfälligen Schutzmacht-Ambitionen enge Grenzen gesetzt hätte. 8 Zum anderen suchte die österreichische Außenpolitik nach dem Anschlussverbot den Ausgleich mit Italien; man erhoffte sich davon italienische Unterstützung bei den noch offenen Grenzfragen und bei der Approvisionierung der Not leidenden Bevölkerung. Einen ersten Höhepunkt erreichte die neue außenpolitische Orientierung im Jahr 1922 in den Verhandlungen mit Rom zur Bildung einer Zoll- und Währungsunion. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich auch auf Parteienebene der Umgang mit dem Thema Südtirol geändert. Im Vorfeld der Friedenskonferenz war es trotz

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unterschiedlicher ideologischer und taktischer Prioritäten ein gemeinsames Anliegen gewesen, und einheitlich war auch das Bild, das die (Partei-)Presse von Südtirol gezeichnet hatte. So galt die Region zwischen Brenner und Salurn der „Neuen Freien Presse" als „alte deutsche Erde" und „kerndeutsches Land"; 9 die „Reichspost" sprach von „heilige(r) deutsche(r) Erde" und behauptete, lieber auf den Anschluss zu verzichten, als „deutsches Blut und deutschen Boden" zu opfern; 10 und die „Arbeiter-Zeitung" titulierte Südtirol als „Perle deutschen Besitztums" und dessen Bevölkerung als „uraltes deutsches Volk"." Obwohl die Bezeichnungsmuster also durchgängig deutschnational geprägt waren und es auch blieben, geriet Südtirol bald nach dem Abschluss des Friedensvertrages zu einem Objekt der parteipolitischen Auseinandersetzungen, deren Ursache in den folgenden Jahren vor allem in den unterschiedlichen Positionen der Sozialdemokratie und des bürgerlichen Lagers zum Faschismus lag. 1 2 Auf Regierungsebene hingegen musste sich angesichts der ab 1923 einsetzenden systematischen Italianisierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens im deutschsprachigen Teil der Provincia di Trento nun herausstellen, welche Bedeutung dieser Region in der österreichischen Politik noch zukam. Programmatisch für die Haltung Wiens war die Stellungnahme Seipels in seiner Regierungserklärung vom November 1923 zur Forderung des Tiroler Landtages nach Intervention in Rom und Internationalisierung der Problematik vor dem Völkerbund. Darin zeigte der Kanzler zwar Verständnis für die Irritationen der österreichischen Bevölkerung wegen der faschistischen Politik in Südtirol, wies zugleich aber jede Form von Revisionismus zurück, mahnte die Presse zur Zurückhaltung und monierte Tirol, die Außenpolitik der Regierung zu überlassen. 13 Aus diesen Äußerungen geht das Dilemma Seipels klar hervor: Südtirol an sich war für Wien kein Thema, es wurde aber zum Thema gemacht durch die Vorstöße Tirols und den Druck der Öffentlichkeit. Aus dem Bestreben der Regierung, innenpolitisch Konfrontationen hintanzuhalten und das gute Einvernehmen mit Italien nicht zu gefährden, resultierte der widersprüchliche und unglaubwürdige Versuch, bei Aufrechterhaltung der außenpolitischen Prioritäten alle Seiten zufrieden zu stellen. In der Folge verschärfte sich noch das Dilemma Wiens. Als 1927 die Tiroler Landesregierung, die sozialdemokratische Opposition, die nationalen Schutzvereine, verschiedene Verbände und diverse lokale Parteileitungen wegen der Verschärfung der Assimilierungspolitik in Südtirol die Regierung erneut zu Interventionen drängten, sah sich Seipel genötigt, im Parlament Stellung zu nehmen. Dabei sollten jene, die ihn bestürmt hatten, besänftigt werden durch die dramatisierende Verwendung biologistischen Vokabulars: Nachdem der Kanzler schon bei anderer Gelegenheit mit Bezug auf die Südtirol-Klagen von der „Stimme des Blutes" gesprochen hatte, ging nun die Rede von der „brennenden Wunde" und vom „schmerzlichen Aufschrei" der Bevölkerung; auch bestätigte er die Belastung der Beziehung zu Italien wegen der Causa Südtirol.

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Eine Befassung des Völkerbundes lehnte er aber strikt ab. Weitere heftige Kritik von Tiroler Abgeordneten aller Parteien zwang Seipel zu einer neuerlichen Stellungnahme, in der er von einer deutschen Minderheitenfrage in Italien und von „Herzensangelegenheiten" sprach und die verschiedenen Äußerungen zu Südtirol in der österreichischen Öffentlichkeit rechtfertigte; andererseits verteidigte er nachdrücklich seine bisherige Linie und erklärte Südtirol zu einer inneritalienischen Angelegenheit. 14 Nach dieser Parlamentsdebatte gingen die publizistischen Wogen hoch. Dass aber Italien seinen Botschafter abberief und Schwierigkeiten bei der beantragten Investitionsanleihe androhte, machte nun eines evident: Südtirol war für Wien gegen all seine Absicht und trotz aller gegenteiligen Bemühungen definitiv zum Problem geworden. Dementsprechend beeilte sich Seipel, seine Äußerung über die Minderheitenfrage gegenüber Rom wieder zurückzunehmen und Mussolini seines Standpunktes zu versichern, „daß es sich bei der Südtiroler Frage um eine inneritalienische Angelegenheit handelt und daß sich daher die Deutschen im Alto Adige als italienische Staatsbürger, wenn sie sich über irgend etwas zu beschweren glauben sollen oder etwas zu wünschen haben, nach Rom wenden sollen." 15 Mag Seipel diese Äußerungen auch im Vertrauen getan haben, um damit eine mildere Behandlung der Südtiroler Bevölkerung zu erreichen, so hat er damit de facto aber jeden österreichischen Ingerenzanspruch bezüglich Südtirol aufgegeben. Ende 1929 erteilte Italien die bis dahin verzögerte Zustimmung zur Investitionsanleihe, sodass Bundeskanzler Schober im Nationalrat verkündete, die Beziehungen zu Italien hätten nun „den Charakter herzlicher Freundschaft." 16 Nachdem Anfang 1930 mit italienischer Unterstützung auch noch die österreichischen Reparationsverpflichtungen und das alliierte Generalpfandrecht aufgehoben worden war, folgte kurz darauf der Abschluss des italienisch-österreichischen Freundschafts Vertrages. Südtirol war zu diesem Zeitpunkt längst schon aus den öffentlichen Stellungnahmen Wiens verschwunden. Und wenn ein Memorandum des Außenministeriums zum Thema „Österreichs Außenpolitik 1918-1928" vom „ehemaligen Südtirol" sprach,17 so dokumentiert dieser Satz, dass Südtirol offensichtlich nicht mehr Teil des staatlich-offiziellen Gedächtnisses war. Anders sah es auf der Ebene der parteipolitischen Auseinandersetzungen aus, wo der Aufstieg neuer Kräfte auch in der Frage Südtirol zu neuen Konstellationen führte. So blieb das traditionell enge Verhältnis zwischen der Tiroler Landesregierung und der Tiroler Heimatwehr weiterhin bestehen, obwohl maßgebliche Heimwehrführer Ende 1929 öffentlich auf jede Südtirol-Propaganda zugunsten ihrer von Mussolini unterstützten Aufrüstung verzichtet und sich lobend über den Faschismus geäußert hatten. Zum Streitthema zwischen den Parteien und Schutzverbänden wurde die Provinz Bozen nördlich des Brenners infolge des rasanten Aufstiegs der NSDAP ab 1931. Man warf einander gegenseitig Verrat an Südtirol vor, Versammlungen wurden gesprengt, es kam zu Schlägereien. Die potenziellen staatspolitischen Auswirkungen dieses heftig ge-

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führten Kampfes und vor allem der nationalsozialistische Vorwurf des Verrats bewogen Dollfuß und Schuschnigg, Mussolini mehrmals in direkten Gesprächen um Konzessionen für die Südtiroler Bevölkerung zu ersuchen, freilich ohne substanziellen Erfolg. 18 Allerdings musste Schuschnigg ab 1935 registrieren, dass seine innenpolitisch motivierten Initiativen zugunsten Südtirols durch Entwicklungen in Südtirol selbst konterkariert wurden. Dort war mit dem „Völkischen Kampfring Südtirols" (VKS) eine illegale, nationalsozialistisch orientierte Widerstandsbewegung entstanden, die es verstand, ihr Gedankengut an breite Bevölkerungsschichten zu vermitteln und die Hoffnungen vieler Südtiroler auf Befreiung vom Faschismus auf das „Dritte Reich" zu lenken. Dadurch wurde weiteren Initiativen Wiens faktisch der Boden entzogen. Schuschnigg soll diese Erkenntnis mit dem Ratschlag an die Südtiroler Bevölkerung quittiert haben, sich doch an Hitler zu wenden. 19 Die bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs spürbar gewordene Entfremdung zwischen Österreich und Südtirol hatte ihren Höhepunkt erreicht. Angesichts der kaum verhüllten Aversionen, die in den letzten Jahren vor dem Anschluss das Verhältnis zwischen Wien und Bozen bestimmt hatten, erstaunt es, welch wichtige Rolle das Thema Südtirol unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg für die wiedererstandene Republik erlangte; wie schon 1918/19 waren erneut Tiroler die Träger der Initiative. Neben diversen Denkschriften und Appellen, die Süd- wie Nordtiroler Politiker bei Kriegsende und unmittelbar danach an die Alliierten richteten, wurde die von der Tiroler Landesregierung installierte „Landesstelle für Südtirol" auch in Wien aktiv und belieferte die Regierung Renner mit zahlreichen Unterlagen, die den Wunsch nach Rückgliederung Südtirols zu Österreich dokumentieren sollten. In der Sitzung des Kabinettsrates vom 29. August 1945 stand zwar nicht Südtirol, wohl aber die Behandlung der Südtiroler, d.h. der infolge der Option des Jahres 1939 nach Österreich umgesiedelten Personen, auf der Tagesordnung. Staatskanzler Renner als Berichterstatter beantragte, die Südtiroler vorläufig den österreichischen Staatsbürgern gleichzustellen. Er begründete seinen Antrag damit, dass es sich bei ihnen „um Angehörige eines Gebietes (handelt), dessen Eingliederung in das neue Österreich Regierungsprogramm jeder denkbaren österreichischen Regierung sein muß, daher der gegenwärtigen Regierung ist und auch kommender Regierungen sein wird." 20 Nicht die rechtliche Gleichstellung von Südtirolern an sich war also das Motiv für diesen Antrag, sondern die Absicht der Provisorischen Staatsregierung, ihren Anspruch auf Südtirol nicht zu desavouieren, indem die in Österreich lebenden Südtiroler nicht als Österreicher anerkannt worden wären. Obwohl einzelne Sitzungsteilnehmer Vorbehalte formulierten, wurde der Antrag im Sinne Renners angenommen. In der nächsten Sitzung am 5. September 1945 stand Südtirol selbst auf der Tagesordnung des Kabinettsrates. Dabei wurde im Hinblick auf die für Mitte des Monats angesetzte Außenministerkonferenz die Veröffentlichung eines Memorandums beschlossen mit der Bitte an die Alliierten, „im Namen

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des gesamten österreichischen Volkes, vorzüglich des Volkes von Tirol nördlich und südlich des Brenners" 21 in Südtirol eine Volksabstimmung über die definitive Zugehörigkeit dieses Gebietes anzuordnen. Weitere Initiativen folgten. Im Oktober fanden in Wien Großkundgebungen für die Rückgliederung Südtirols statt, die durch die Schirmherrschaft von Renner, Figi, Honner und Körner den Charakter von Staatsdemonstrationen erhielten. Im November wurde dem Alliierten Rat in Wien ein umfangreiches Südtirol-Memorandum überreicht und Renner äußerte gegenüber dem britischen Geschäftsträger Mack, Südtirol sei gegenwärtig für Österreich die „brennendste Frage". Am 21. Dezember brachte Bundeskanzler Figi das Thema Südtirol in seiner Regierungserklärung mit folgenden Worten zur Sprache: „Eines ist für uns kein Politikum, sondern eine Herzenssache, und das ist Südtirol (Stürmischer, langanhaltender Beifall und Händeklatschen im Hause und auf den Galerien). Die Rückkehr Südtirols nach Österreich ist ein Gebet jedes Österreichers (Neuerlicher Beifall)." 22 Im Verlauf der Sitzung wurde ein Antrag des Tiroler Abgeordneten Franz Gschnitzer einstimmig angenommen, mit dem der Nationalrat an die Bundesregierung die dringende Bitte richtete, „alles zu unternehmen, um Südtirol in unsere österreichische Gemeinschaft und unsere Verwaltung zurückzuführen. Von Südtirol ist vor fast einem Jahrtausend die Einigung Tirols ausgegangen; es hängt in unverbrüchlicher, auch durch die schmerzlichen Ereignisse der letzten Jahrzehnte nie erschütterter Treue an Österreich und ersehnt heute inniger denn je die Rückkehr. Wir bitten, unser heißgeliebtes Südtirol wieder Österreich anzugliedern. Österreich wird erst dadurch seine kulturelle, wirtschaftliche und verkehrspolitische Einheit wiedergewinnen." 23 Bedenkt man die Entwicklung der österreichisch-südtirolischen Beziehungen seit 1918/19, so waren dies wirklich bemerkenswerte Worte, die hier die begeisterte Zustimmung der Abgeordneten fanden. Noch einige Jahre zuvor hatte ein Bundeskanzler die Südtiroler nach Rom und ein anderer sie nach Berlin verwiesen, und dass die Treue der Südtiroler zu Österreich so unverbrüchlich gewesen wäre, entsprach nicht den Tatsachen. Allerdings kann die Qualifizierung Südtirols als „Herzenssache" nicht automatisch als Ausdruck eines gesteigerten Interesses Wiens an der Provinz Bozen gesehen werden; immerhin hatte auch Seipel eine ähnliche Formulierung verwendet, ohne damit seine außenpolitischen Prioritäten in Frage zu stellen. Daneben mag es zunächst etwas sonderbar erscheinen, dass Österreich 1945 zentrale Aspekte seiner Einheit vom Besitz Südtirols, einer kleinen Region außerhalb der Staatsgrenzen, abhängig machte. 1946 setzte die Regierung ihr diplomatisches Engagement fort und übermittelte im Jänner dem Alliierten Rat Vorschläge zur Südtirolfrage, die für den Fall der Rückgliederung des Gebietes an Österreich vor allem hinsichtlich der Nutzung der Wasserkraft weitreichende Konzessionen an Italien vorsahen; zahlreiche Interventionen Renners, Figls und Grubers folgten. Wien und Innsbruck ließen in jenen Monaten mehrmals verlauten, Österreich brauche Südti-

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rol, „seine wertvollste und wirtschaftlich stärkste Provinz", zur Sicherung der staatlichen Selbstständigkeit. 24 Ebenso wurde ein Zusammenhang zwischen der Causa Südtirol und dem Frieden in Europa hergestellt. Am 22. April 1946 behauptete Bundeskanzler Figi auf der Großkundgebung für die Rückgliederung Südtirols in Innsbruck, bei der ihm 155.000 Unterschriften von Südtirolern und Umsiedlern übergeben wurden, dass keine österreichische Regierung je „unseren Anspruch auf unser Südtirol" aufgegeben hätte; dessen Bewohner nannte er „unsere Südtiroler Landsleute", die ihm überreichten Unterschriften „von Österreichern aus Südtirol" und rief schließlich aus: „Wir wollen unser Südtirol wieder!" 25 Zwei Monate später forderte Außenminister Gruber in einer Rede das Selbstbestimmungsrecht „für den österreichischen Volksstamm der Südtiroler" 26 und ging im Juli 1946 noch einen Schritt weiter, als er im Nationalrat erklärte, Südtirolpolitik sei „in Wahrheit die Politik der Kreierung Österreichs" und Südtirol sei „die Wiege eines guten Teils der spezifisch österreichischen Kultur."27 Zu diesem Zeitpunkt waren die Würfel allerdings bereits in eine andere Richtung gefallen: Die alliierten Außenminister hatten am 1. Mai 1946 in Paris ihre Entscheidung vom 14. September 1945 über die Beibehaltung der Brennergrenze bestätigt. Wieder waren die Reaktionen der Regierung bemerkenswert, wenngleich aus anderem Grund. Es gab in den Sitzungen des Ministerrates, die der Bekanntgabe der alliierten Entscheidung folgten, keinerlei Diskussion dazu, nach der Meinung der Südtiroler Bevölkerung wurde nicht gefragt; überhaupt war das Thema Südtirol eher von marginaler Bedeutung, oder, wie es Rolf Steininger formuliert: „Leidenschaftliches Engagement ist jedenfalls in diesem Kreis nicht festzustellen. Südtirol war offensichtlich zuallererst eine Tiroler Angelegenheit." 28 Angesichts derart divergierender Verhaltensweisen der Staatsspitze zum Thema Südtirol - emotionale Behandlung und höchste Bewertung im Parlament, kühle Distanz im Ministerrat - stellt sich die Frage nach dem tatsächlichen Interesse Österreichs an Südtirol in den Jahren 1945/46 sowie nach dem Grund und dem Zweck seines großen Einsatzes. Die Erklärung dafür liegt in der damaligen, in jeder Hinsicht überaus prekären Situation Österreichs - eines Staates, der zwar „Österreich" hieß, aber seit seiner Gründung 1918 vorwiegend „deutsch" gedacht hatte; eines Staates, der seit dem 27. April 1945 wohl als „Staatsnation" wiederhergestellt war, in dessen Bevölkerung aber das Bewusstsein einer „Willensnation" auf der Grundlage eines österreichischen Identifikationsgefühls kaum entwickelt war;29 ein Staat, der besetzt und in Zonen aufgeteilt war und der insgesamt dringenden Bedarf nach spezifisch österreichischen Symbolen, Themen und Traditionen hatte, die nationale Identität zu stiften und damit eine integrative Funktion zu erfüllen vermochten. Südtirol war in dieser Situation zweifellos ein solches Thema. Der Anspruch auf das Gebiet zwischen Brenner und Salurn war bereits 1919 erhoben worden, er war historisch leicht zu rechtfertigen und wurde von allen Parteien

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getragen; Südtirol bot sich allen Lagern als entpolitisierte Konsensplattform an, es gab hier praktisch keinen politischen Widerspruch. Auch lag damals der Erste Weltkrieg kaum mehr als 25 Jahre zurück, die spontane Erinnerung an Südtirol war mit Sicherheit nicht nur bei den zahlreichen Veteranen der Ortlerund Dolomitenfront noch lebendig. Diese Konstellation machte das Thema zur Singularität, sie erlaubte seine Überhöhung: Südtirol wurde kurzfristig zu einer Art nationaler Fetisch, zu einem sakralisierten Gedächtnisort der zu stiftenden Nation stilisiert und erhielt damit eine Funktion zugeschrieben, die weit über das Anliegen nach Rückgliederung des 7.400 km 2 großen Gebietes südlich des Brenners hinausging und die Eckwerte der neuen nationalen Existenz in sich konzentrierte, wie folgende Äußerung des Salzburger Landeshauptmanns Hochleitner zeigt: „Das Wort Südtirol ist mehr für uns als für viele andere, wenn sie ihre Heimat nennen. Es ist wiedergegebener Glaube an die Gerechtigkeit, ein hoffnungsvolles Schauen in die Zukunft, tiefer Sinn unserer Arbeit, das wiedererstandene Bewußtsein unserer Freiheit." 30 Außenpolitisch bot der Einsatz für Südtirol in einer Zeit, in der der Spielraum für die österreichische Regierung begrenzt war, die Chance, die Abwendung von der „deutschen" Orientierung und den Willen zur nationalen Eigenständigkeit zum Ausdruck zu bringen sowie die Bedeutung eines befriedeten Österreich für Europa zu behaupten. Karl Stuhlpfarrer sieht zudem ein Motiv des heftigen Südtirol-Engagements nach Kriegsende in der Opferrolle begründet, für die sich Südtirol anbot und die sich auch Österreich gerne zuschrieb, was allerdings in beiden Fällen eine selektive Wahrnehmung der jeweiligen Geschichte voraussetzte. 31 Aber die Darstellung Südtirols als Gedächtnisort war sowieso weitestgehend unhistorisch und als solche nur für die Öffentlichkeit bestimmt. Gegenüber der nach außen demonstrierten Emphase verweist die pragmatische Behandlung im Ministerrat deutlich auf den instrumentellen Charakter des offiziellen SüdtirolBildes: Regierungsintern hatte sich der Stellenwert der Provinz Bozen an den zahlreichen anderen, mitunter existenziellen Problemen der Zweiten Republik zu messen. Auf diesen veränderten Stellenwert geht wohl - ähnlich wie schon nach dem Ersten Weltkrieg - der Versuch zurück, zumindest einen Teil des Südtiroler Territoriums für Österreich zu gewinnen. Nachdem der im Jänner 1946 von Wien unterbreitete Kompromiss wirkungslos geblieben war, schlug Außenminister Gruber in einem geheimen Memorandum an den englischen Gesandten in Wien im April 1946 eine neue österreichisch-italienische Grenzlinie vor, die entlang des Eisack durch Bozen verlaufen sollte. Dadurch wären die unter dem Faschismus aus politischen Gründen errichtete Industriezone südlich von Bozen sowie das ganze Etschtal bis Salurn bei Italien verblieben. 32 Allein die Tatsache, dass dieser Vorschlag unter größter Geheimhaltung unterbreitet wurde, belegt, dass er mit der nationalen Inbrunst, mit der zugleich die Rückgliederung ganz Südtirols gefordert wurde, nicht korrelierte. Der Vorstoß Grubers

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ging ins Leere: Die alliierten Außenminister lehnten, wie erwähnt, die Rückgliederung Südtirols ab, lediglich „kleinere Grenzberichtigungen" auf Vorschlag Österreichs sollten Berücksichtigung finden. Kanzler Leopold Figi zeigte sich zwar anfänglich bestürzt über diese Entscheidung und äußerte Sorge über deren innenpolitische Auswirkungen, die österreichische Regierung schwenkte in der Folge aber rasch auf die alliierte Position ein und forderte das Pustertal, das obere Eisacktal sowie die Stadt Brixen. Bekanntlich ist Wien aber selbst damit nicht durchgedrungen: Am 24. Juni 1946 lehnten die alliierten Außenminister die so genannte Pustertal-Lösung mit der Begründung ab, es handle sich dabei nicht um eine „kleine Grenzberichtigung". Über die Reaktionen Wiens auf diese Entscheidung wird berichtet, dass Gruber in „tiefe Depression" gefallen sei, Figi hingegen die Dinge realistischer gesehen und angesichts der neuerlichen Festschreibung der Brennergrenze keine besonderen parlamentarischen Debatten in dieser Causa erwartet habe. 33 Der Abschluss des Gruber-De Gasperi-Abkommens am 5. September 1946 bewirkte notwendigerweise eine Kehrtwendung in der Ausrichtung der Südtirolpolitik: Nicht mehr um den Besitz des Gebietes ging es, sondern die Vertretung der Interessen seiner Bevölkerung war jetzt „heilige Pflicht": Die Schutzmachtfunktion war geboren. 34 Zwar wurde das Diktum von der Herzenssache in der Folge „zur offiziellen innenpolitischen Titulatur der Südtirol Bemühungen," 3 5 im jahrzehntelangen Ringen um die Autonomie hing das tatsächliche Engagement der Bundesregierung jedoch von zahlreichen Faktoren ab und war jedenfalls in seiner Intensität sehr unterschiedlich. Nachdem aber Wien aus Südtirol 1945/46 ein Thema von höchster nationaler Wertigkeit konstruiert hatte, konnte es nicht davon abrücken ohne sich der Kritik auszusetzen, dem Nationalbewusstsein Schaden zuzufügen. Trotzdem ließ das Interesse der österreichischen Politik an Südtirol zunächst rasch nach; andere Prioritäten wurden gesetzt, in erster Linie galt der Einsatz nun dem Staatsvertrag. Den Wünschen von Südtiroler Seite nach tatkräftiger Unterstützung bei der konkreten Ausgestaltung der Autonomie wurde nur halbherzig entsprochen, mitunter blieben sie unerledigt, und dies in einer Zeit, in der Rom seine Politik der Italianisierung mit Nachdruck fortsetzte. Nach Verabschiedung des ersten Autonomiestatuts für Südtirol und des so genannten Optantendekretes 36 durch Rom Anfang 1948 war die Bundesregierung der Auffassung, ihre Pflicht in Bezug auf Südtirol im Wesentlichen erfüllt zu haben. Obwohl dieses erste Statut dem Geist des Gruber-De Gasperi-Abkommens widersprach, wünschte Wien keinen weiteren Konflikt mit Italien und schien den Standpunkt Roms, Südtirol sei eine inneritalienische Angelegenheit, zu akzeptieren. Nachdem Österreich 1955 seine volle Souveränität erlangt und sich der Druck Tirols auf Wien verstärkt hatte, mit dem Tiroler Franz Gschnitzer als Staatssekretär im Außenamt ab Herbst 1956 ein hartnäckiger Verfechter einer offensiven Südtirolpolitik in der Regierung saß, in Südtirol selbst unterdessen die fehlende Bereitschaft Italiens an einer autonomistischen Politik offensicht-

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lieh geworden war, eine Radikalisierung der Positionen sich andeutete und erste Attentate eine Eskalation der ohnehin schon verhärteten Fronten befürchten ließen, sah man sich zu einer aktiveren Rolle als Schutzmacht veranlasst. Die neue Linie mündete bekanntlich unter Außenminister Kreisky in die Internationalisierung des Streites vor der UNO. In den bilateralen italienisch-österreichischen Verhandlungen aufgrund der UNO-Resolutionen der Jahre 1960/61 wurde schließlich, begleitet von mehreren Attentatswellen in Südtirol, Österreich und Oberitalien, eine Reihe von Maßnahmen erarbeitet, die den Schutz der Südtiroler als deutschsprachige Minderheit in Italien garantieren sollten; dieses so genannte Paket wurde Ende 1969 von Rom, Bozen und Wien beschlossen, 1972 trat das neue Autonomiestatut in Kraft. 1992, nach 20-jährigem Kampf um die Durchführung des Pakets, erklärten schließlich Österreich und Italien den Streit vor der UNO für beendet.

Südtirol-Kundgebung in Wien, 13. Oktober 1956

Die Motive dieser Politik wiesen manche Parallele zu den 1920er-Jahren auf, und wie damals stand Wien nach 1946 in Bezug auf Südtirol trotz aller geänderten Umstände erneut vor einem Dilemma. Alle österreichischen Regierungen hätten die Südtirolfrage aus wirtschafts- und außenpolitischen Erwägungen gerne möglichst rasch abgeschlossen und sich damit ihrer „Herzensangelegenheit" entledigt. Vor allem aus innenpolitischen Gründen erschien dies nicht möglich. Zum einen hatte sich Wien mit seinem starken Südtirol-Engagement in den Jahren 1945/46 und der Übernahme der Schutzmachtfunktion auch eine Hypothek

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auferlegt, die einigen politischen Sprengstoff in sich barg. Die Zündschnur hielt dabei in erster Linie Tirol in Händen, wo maßgebliche Persönlichkeiten selbst dann noch das Ziel der Selbstbestimmung im Auge behielten, als Wien längst andere Positionen vertrat. Die wütenden Reaktionen aus Tirol auf die Äußerung Außenminister Figls vom Frühjahr 1956 in Rom, wonach das Trennende zwischen Italien und Österreich „unendlich geringfügig" wäre gegenüber dem Verbindenden, warfen ein grelles Schlaglicht auf das innerstaatliche und innerparteiliche Konfliktpotenzial des Themas Südtirol. 37 Die häufigen Bitten aus Südtirol um eine aktive Schutzmachtpolitik waren in dieser Situation nicht auf Dauer dilatorisch zu behandeln oder gar zu ignorieren. Neu war im Vergleich zur Ersten Republik, dass das Engagement für Südtirol speziell nach dem Staatsvertrag als gemeinsame Aufgabe Österreichs interpretiert und damit als Instrument der nationalen Integration eingesetzt werden konnte, zumindest solange die Südtirolpolitik von allen Parteien getragen wurde. Dies war im Wesentlichen bis zur ÖVP-Alleinregierung 1966 der Fall, zum definitiven Bruch kam es 1969 mit der Ablehnung des Südtirol-Pakets durch die SPÖ und die FPÖ im Nationalrat. 38 Insgesamt war es ein komplexer Mix von Motiven, der ab Mitte der 1950erJahre Südtirol auf der politischen Prioritätenskala Wiens vorläufig wieder nach vorne rücken ließ und die Regierung nach langem Zaudern, teils gewollt und großteils getrieben, auf den Weg der Internationalisierung des Problems brachte. Es erstaunt deshalb nicht, dass der Paketabschluss 1969 wie das Ende eines Banns wirkte, der die österreichisch-italienischen Beziehungen geprägt bzw. blockiert hatte; seither wurden sie auf unterschiedlichsten Ebenen neu belebt, heute ist das Verhältnis so gut wie nie zuvor.39 In Bezug auf Südtirol sieht sich Österreich auch nach der offiziellen Streitbeilegung als Schutzmacht: Anlässlich der Südtirol-Debatte im Nationalrat zum 10. Jahrestag der Abgabe der Streitbeilegungserklärung im Juni 2002 rief der ÖVP-Klubobmann im Nationalrat, Andreas Khol, den anwesenden Vertretern der Provinz Bozen feierlich zu: „Wir versprechen Ihnen: Wir bleiben eure Schutzmacht!" 40 Für unseren Zusammenhang relevant ist neben dem inflationären Gebrauch emotionalisierender Titulierungen der Provinz Bozen der Umstand, dass Österreichs Politiker in den Jahren 1945/46 die Südtiroler mit allem Nachdruck als Österreicher bzw. als Teil des österreichischen Volkes bezeichneten, und auch in der Presse wurde die Botschaft vermittelt, dass „die Republik Österreich und Südtirol eine Wesenseinheit seien". 41 Dieses Bild setzte sich nicht nur deutlich von früheren Zuschreibungen ab, die Südtirol stets im ideologischen Feld des Attributes „deutsch" angesiedelt hatten, sondern implizierte die Vorgabe einer österreichischen Nation. Dafür, dass Südtirol dem „staatlichen" österreichischen Gedächtnis nach 1946 erhalten blieb, sorgten zum einen das GruberDe Gasperi-Abkommen, das die Erinnerung an das Land zwischen Brenner und Salurn institutionalisierte, und zum anderen diverse Kräfte, die das Thema politisch präsent hielten. Allerdings reduzierte das Abkommen den Ingerenz-

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anspruch Österreichs und damit die offizielle Erinnerung auf den vorwiegend politisch-juridischen Aspekt der Autonomie, wodurch der nationale Aspekt der Erinnerung, nämlich das Bild vom Südtiroler als Österreicher, zur Diskussion gestellt war. Obwohl bis 1960, wie Werner Wolf feststellt, alle politischen Parteien für die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols üblicherweise die Bezeichnung „deutsche Volksgruppe" verwendeten, zeigten deren SüdtirolBegriffe im Detail bezeichnende Divergenzen: Jener der ÖVP formulierte weiterhin die stärksten österreichnationalen Bezüge; jener der FPÖ negierte eben diese und behauptete stattdessen die Zugehörigkeit Südtirols zur „deutschen Nation"; die SPÖ schließlich betonte jenseits ethnisch-nationaler Argumentationen den Gesichtspunkt des Minderheitenschutzes. 42 Hier zeigt sich, wie sehr das Südtirol-Bild von ideologischen Positionierungen bestimmt war. Von den diversen politischen Südtirol-Bildern historisch korrekt ist die Bezeichnung der Südtiroler als „österreichische Minderheit in Italien" wie sie von Außenminister Kreisky etwa in seiner Rede vor der UNO am 18. Oktober 1960 verwendet wurde. 43 Später hat Kreisky geäußert, er hätte immer davon gesprochen, „daß die Südtiroler Südtiroler, die Tiroler in ihrer Gesamtheit aber Österreicher sind und daß es sich bei den Südtirolern deshalb um eine österreichische Minderheit in Italien handle, nicht um eine deutsche", 44 und er hätte dies getan, um nicht den Anschluss Österreichs von 1938 im Kleinen zu wiederholen. Wird hier also in der Wahl der Bezeichnungen das bewusst nichtdeutsche Motiv der österreichischen Südtirolpolitik evident, so war Kreisky selbst in der Benennung des Verhältnisses zwischen Südtirol und Österreich nicht ganz so konsequent wie er vorgibt. In seinen Berichten über den Stand der Südtirol-Verhandlungen im Nationalrat sprach er etwa stets vom „Südtiroler Volk", von der „Südtiroler Minderheit" oder von der „deutschsprachigen Bevölkerung in Südtirol" und vermied es damit, einen nationalen Zusammenhang zwischen Südtirol und Österreich ausdrücklich herzustellen. Noch stärker fallen die betont neutralen Formulierungen auf, die Bundeskanzler Klaus am 15. Dezember 1969 in seiner Regierungserklärung im Rahmen der Nationalratsdebatte zur Paketannahme wählte: Bezeichnungen wie „die sprachliche Minderheit", „die deutschsprachige Volksgruppe", „die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols" oder „die Südtiroler Volksgruppe" 45 lehnten sich an die Diktion der UNO-Resolutionen der Jahre 1960/61 an, sagten aber wenig über die nationalen Verhältnisse im Land zwischen Brenner und Salurn und waren wohl Ausdruck der Sachlichkeit, die die Beziehungen zwischen Wien und Bozen mittlerweile prägte. In der Nationalratsdebatte am 5. Juni 1992, bei der die Abgabe der Streitbeilegungserklärung vor der UNO beschlossen wurde, kam schließlich andeutungsweise noch einmal die alte Ambivalenz in der Haltung Wiens zu Südtirol zum Vorschein, als Außenminister Mock die Südtiroler als „Landsleute" und Bundeskanzler Vranitzky sie als „Nachbarn" bezeichnete.46

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Insgesamt scheint der Bogen der Südtirol-Benennungen seit 1945 und der in dieser Zeitspanne vollzogene Wandel des Südtiroler-Bildes vom Österreicher zum nicht näher spezifizierten Nachbarn den diskreten Rückzug des offiziellen Österreich vom Thema Südtirol zu dokumentieren. Trotzdem beansprucht die Republik Österreich aufgrund der Schutzmachtfunktion nach wie vor, Träger der Gedächtnisses an das Land südlich des Brenners zu sein: Südtirol ist im österreichischen Parlamentarismus bis heute präsent in Form eines Unterausschusses des Außenpolitischen Ausschusses, Bundespräsident Fischer kann sich nicht vorstellen, während seiner Amtszeit nicht auch Südtirol zu besuchen47 und Außenministerin Ursula Plassnik betont: „Südtirol bleibt uns ein Herzensanliegen." 48

Das Land

Tirol

Tirol war jeweils nach Beendigung der Weltkriege der wichtigste Promotor der österreichischen Südtirolpolitik, und zwar sowohl auf der Ebene der Institutionen des Landes als auch auf der Ebene der Parteien, Organisationen und Vereine. Das jahrzehntelange hartnäckige Beharren Tirols auf der Doktrin der Landeseinheit weist darauf hin, dass für Innsbruck die Südtirolfrage von Anfang an eine territoriale Dimension aufwies: Immerhin stellte die Teilung des Landes die Substanz des „Tirolertums" in Frage und damit jenes Systems von Werten, wie Freiheit, Bodenständigkeit und Glaube, das sich als vormodernes Landesbewusstsein aus „den staatsrechtlichen Besonderheiten des Landes bzw. der Stände im Verhältnis zum Landesfürsten" 49 und aus speziellen Bindungen zum Katholizismus entwickelt hatte und das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine vorwiegend bürgerlich geprägte Landespolitik zu einer Art deutsch-katholischer Tirol-Ideologie verdichtet hatte.50 Daneben implizierte die Teilung des Landes nach dem Ersten Weltkrieg und deren Bestätigung im Jahr 1946 die Möglichkeit von weitreichenden Folgewirkungen für das österreichische Rest-Tirol: Zum einen, weil der Bezirk Lienz vom Hauptteil des Landes und von seiner Hauptstadt abgeschnitten wurde, dadurch die politisch-ökonomische Entwicklung dieser Region präjudiziert und deren weiterer Verbleib bei Tirol bzw. der territoriale Fortbestand des Landes gefährdet waren.51 Zum anderen stand in der politischen Auseinandersetzung auf Tiroler Landesebene das Thema Südtirol im Vorfeld von Saint-Germain stets in engem Konnex zur Frage des Anschlusses, sei es unter dem strategischen Gesichtspunkt der Rettung der Landeseinheit, sei es - für den Fall einer Grenze am Brenner - unter dem Gesichtspunkt der staatsrechtlichen Zukunft Tirols. Diese Perspektiven hätten aus Tiroler Sicht, so möchte man meinen, Motivation genug ergeben können, die Abtrennung des südlichen Landesteils mit allen Mitteln verhindern bzw. diese Region aus der Souveränität des „welschen Erbfeindes" zur Gänze zurückholen zu wollen.

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Tirol hat es nach dem Ersten Weltkrieg bezüglich der politischen Rückzugslinien, die auch verschiedene Formen der Verselbstständigung des Landes inkludierten, letztlich bei Absichtserklärungen bewenden lassen. Besonders bemerkenswert ist aber, dass an der Erarbeitung der territorialen Rückzugslinien in den Jahren 1919 und 1946 jeweils Tiroler führend beteiligt waren, 52 während zugleich das Land Tirol und die Tiroler Öffentlichkeit das Weiterbestehen der Landeseinheit bzw. die Rückgliederung des gesamten abgetrennten Gebietes zwischen Brenner und Salurn als vorrangiges Ziel ihres Südtirol-Engagements definierten. Tatsächlich sind aus Tirol in der Ersten wie in der Zweiten Republik eine kaum überschaubare Zahl an Initiativen und Maßnahmen belegt, die lange Zeit die Frage der Selbstbestimmung für den südlichen Landesteil virulent hielten und erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts allmählich andere Konzepte des Tirol-Verständnisses reflektierten. 53 Dieser scheinbar widersprüchliche Befund verweist auf die simple Tatsache, dass die seit 1918 unzählige Male beschworene Landeseinheit auch in Tirol nie ein parteienübergreifendes, situationsunabhängiges Dogma, sondern primär ein Thema der Politik war und als solches dem Kampf divergierender Interessen unterlag. Unter diesem politischen Vorzeichen sind auch sämtliche Formen der Erinnerung an die „Brüder im Süden" zu sehen, die nach 1919 nördlich des Brenners ritualisiert wurden. Nahezu jede Gelegenheit diente als Anlass zur Versinnbildlichung der Einheit Tirols, patriotische Feiern ebenso wie die Eröffnung der Landtagssessionen; noch in den 1980er-Jahren bildete „Südtirol" den ersten Tagesordnungspunkt jeder Sitzung der Tiroler Landesregierung. 54 Den offiziellen Auftakt des Gedenkens bildete die Inszenierung des „Landestrauertages" anlässlich der Annexion des südlichen Landesteiles am 10. Oktober 1920. Er begann mit dem landes weiten Läuten der Kirchenglocken, der Landtag, der Innsbrucker Gemeinderat und der Senat der Universität hielten Trauersitzungen ab, in jeder Gemeinde fanden Trauergottesdienste statt, öffentliche Gebäude und Kirchen waren schwarz beflaggt, Schulen, Geschäfte und Betriebe blieben geschlossen, Kinos zeigten den Film „Volk in Not" und brachten damit die offizielle Stimmung des Landes auf die Leinwand. 55 Bis 1936 fanden jährlich Trauerfeiern nach ähnlichem Muster statt, wenngleich die Intensität des Gedenkens bald nachließ bzw. je nach der Entwicklung in Südtirol variierte. Auch die parallel dazu veranstalteten Kundgebungen wurden mit den Jahren schlichter, blieben aber Artikulationsplattform für die bürgerlichen Parteien und für nationale Organisationen, wie Sängerbund, Musikkapellen, Turnvereine und Studentenverbindungen; die sozialdemokratische Seite nahm daran nicht teil. Trauerfeiern zum Gedenken an die Annexion fanden nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr statt, dafür rückte die Figur Andreas Hofers als Symbol für den wehrhaften Einheitswillen des Landes stärker in den Vordergrund. Anlässlich der 125. Wiederkehr des Tiroler Aufstandes hatte 1934 in Innsbruck zwar eine Feier stattgefunden, aufgrund der politischen Umstände waren aber

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Bezugnahmen auf den abgetrennten Landesteil unterblieben. 56 Ganz anders die Situation 1959, als angesichts der Spannungen wegen der Nicht-Erfüllung des Gruber-De Gasperi-Abkommens durch Italien das 150. Gedenkjahr an den Tiroler Freiheitskampf gerade recht kam, um die politische Virulenz der Trennung Tirols zu demonstrieren und damit den Druck auf Wien zu verstärken. Dem vorbereitenden Ausschuss gehörte die gesamte politische Führung des Landes mit Landeshauptmann Tschiggfrey an der Spitze an, die Feierlichkeiten selbst erstreckten sich über das ganze Jahr. Nahezu alle Lebensbereiche wurden in die patriotische Inszenierung einbezogen, Landtag und Gemeinderäte wurden ebenso zu Bühnen der Beschwörung des Geistes von Anno Neun wie Kirchen, Theater und Straßen. Den Höhepunkt des Gedenkjahres bildete ein großer Festzug durch Innsbruck, der in seiner farbenprächtigen Anhäufung von Bildern und Symbolen die Aktualität eines von katholischem Glauben, Freiheitsliebe, Wehrhaftigkeit und geistiger Einheit der Landesteile geprägten Tirol-Verständnisses dokumentieren sollte.57 Den programmatischen Auftakt hatte am Abend zuvor die auf der Innsbrucker Nordkette entzündete Flammenschrift „1809-Ein Tirol-1959" gegeben, an ihn schloss das inszenatorische Glanzstück des Festzuges an: Eine aus Eisen geschmiedete und von mehreren Schützen an der Spitze des Zuges getragene Dornenkrone, die „den großen Schmerz Tirols über die 1918 erfolgte Zerreißung des Landes" 58 symbolisierte, wie das offizielle Gedenkbuch formuliert. Das damit transportierte Opfer-Bild vom Land (Süd-)Tirol als „Land-im-Leid" war an sich schon deutlich genug; die ihm immanente politische Dimension wurde zusätzlich noch verbalisiert, indem gegenüber der Ehrentribüne, auf der unter anderem Bundespräsident Schärf und Bundeskanzler Raab Platz genommen hatten, ein Transparent „Freiheit für Südtirol" forderte. 59

Dornenkrone im Festzug des Jahres 1959

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Im Jahr 1984 wiederholte sich die Szenerie anlässlich des 175-jährigen Gedenkens an den Tiroler Aufstand ungeachtet der seit 1959 eingetretenen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Erneut zog ein vor allem von Musikkapellen und Schützenkompanien Nord-, Ost- und Südtirols gebildeter Festzug durch Innsbruck und bot der mit Spitzenvertretern von Staat und Land besetzten Ehrentribüne, den rund 100.000 Zuschauern vor Ort sowie dem Fernsehpublikum ein farbenprächtiges patriotisches Spektakel. Neben diversen symbolischen Darstellungen der Einheit und Trennung Tirols wurde auch wieder eine Dornenkrone mitgetragen, „größer und dornenreicher als vor 25 Jahren," wie die „Tiroler Tageszeitung" ankündigte. 60 Getragen wurde die Krone von Südtiroler Schützen, die auch die dazu gehörige Legende in Form eines Transparentes mitführten mit der Aufschrift: „Selbstbestimmung für Südtirol. Tirol den Tirolern". Die Geschichte des in christliche Symbolik gekleideten Opfer-Bildes war mit dem Festzug allerdings noch nicht zu Ende. Zwar sah der Bürgermeister von Innsbruck nach Kritik und diversen Interventionen davon ab, die Dornenkrone in der Landeshauptstadt öffentlich aufzustellen, wohl aber fand sie auf dem Festplatz von Telfs ihre letzte Bleibe.61 Diverse ablehnende Stellungnahmen, die nur bescheidene Feier anlässlich ihrer „Weihe", das demonstrative Fernbleiben offizieller Vertreter aus der Provinz Bozen und ein relativ geringes Medienecho zeigten, dass das Bild vom „Land-im-Leid" am Ende des 20. Jahrhunderts die Wahrnehmung Südtirols von Seiten der Bevölkerung definitiv nicht mehr widerspiegelte.

Die Schutzvereine

für

Südtirol

Bis dahin allerdings hatte das Opfer-Bild in der Erinnerung an Südtirol lange Zeit eine zentrale Rolle gespielt. Zu seinen maßgeblichen Trägern zählten seit dem Ersten Weltkrieg die nationalen Schutzvereine. 62 Hier ist vor allem der im August 1919 in Innsbruck gegründete „Andreas Hofer-Bund" (AHB) zu nennen, der zahlreiche Persönlichkeiten zu seinen Mitgliedern zählte, darunter die Historiker Otto Stolz und Hermann Wopfner. Der AHB fungierte alljährlich als Organisator für die offiziellen Trauerfeiern zur Erinnerung an die Annexion, trat energisch gegen die italienfreundliche Haltung Wiens auf und geriet deshalb wiederholt in Konflikt mit der Regierung. 63 Trotz mitunter heftiger Auseinandersetzungen um die zu wählende Strategie waren alle diese Organisationen dezidiert deutschnational und tendenziell anschlussfreundlich ausgerichtet und verfolgten in Bezug auf Südtirol z.T. offen ein irredentistisch-revisionistisches Programm. Das Bild Südtirols, das sie zeichneten und das sie leitete, war eindeutig: Südtirol galt ihnen als „deutsches Land" und die Südtiroler als „deutsches Volkstum", das unter der „Knechtschaft" Italiens und des Faschismus zu leiden hatte und „befreit" werden musste, um die „blutende Wunde" zu heilen.

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Ihr Hauptbetätigungsfeld sahen die Schutzvereine in der Informations- und Propagandatätigkeit für Südtirol, in die sie sich mit militantem Aktivismus in ganz Österreich stürzten. Welchen Erfolg die Vereine mit ihrer Agitation erzielten, kann hier im einzelnen nicht beurteilt werden. Allein die Tatsache aber, dass Wien sich wiederholt veranlasst sah, aufgrund von Interventionen Roms oder bereits präventiv gegen die irredentistische Propaganda einzuschreiten, lässt vermuten, dass die Vereine über eine starke Präsenz in der Öffentlichkeit verfügten. Zudem dürften die nationalen Vereine in vielen Gemeinden die Initiatoren von Straßenbenennungen nach Südtiroler Orten und dadurch die Urheber kommunaler Denkmäler für das Land an Etsch und Eisack gewesen sein, die heute noch bestehen. Den Auftakt zum Reigen der Straßenumbenennungen in den Landeshauptstädten machte Innsbruck im November 1923, wo als Reaktion auf das faschistische Verbot des Namens Tirol und die Italianisierung der Ortsnamen in Südtirol die „Deutschvölkische Arbeitsgemeinschaft" den Antrag gestellt hatte, diverse Straßen vom Bahnhof ins Zentrum nach Südtiroler Ortschaften neu zu benennen. Daraufhin wurden mit Gemeinderatsbeschluss der Südtiroler- und der Bozner Platz sowie die Brunecker, Brixner, Meraner, Salurner und Sterzinger Straße benannt; die Anbringung der neuen Straßentafeln erfolgte im Rahmen einer patriotischen Kundgebung mit Fahnenschmuck und Musikkapelle. 6 4

.Südtirol in Wort und Bild", Vierteljahresschrift des Bergisel-Bundes, Titelblatt der September-Ausgabe 1960

„Bozen und Meran war immer Österreichs Gedankengut"

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Bis Anfang der 1930er-Jahre folgten „Südtiroler" Plätze oder Straßen in Salzburg, Wien, Graz, Linz und St. Pölten. Die oberösterreichische Landeshauptstadt ist eines der wenigen Beispiele, wo die Motive für die Umbenennung im Gemeinderatsbeschluss angeführt sind. Dort wurde im Jahr 1930 die Abänderung der Schützenstraße in Südtirolerstraße begründet mit der „Pflicht aller Öffentlichkeit, zu protestieren gegen diese Bedrückung, der die Deutschen Südtirols ausgesetzt sind" sowie mit der Pflicht, „den Südtirolern zu beweisen, daß wir in Treue zu ihnen stehen, bis auf Grund des Völkerbestimmungsrechtes alle Deutschsprechenden wieder in einem Staate vereinigt sind." 65 Spätere Benennungen, wie jene der Bozner Straße in Graz 1940 oder der Meraner Straße in Salzburg 1968, gingen hingegen auf die Initiative von Südtiroler Umsiedlern zurück. 66 Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden Anfang der 1950er-Jahre wieder Schutzvereine. Diese Neugründungen verfügten über keine einheitliche ideologische und politische Ausrichtung mehr, sondern spiegelten eher die vorhandene Vielfalt der Interessen an Südtirol wider. Die Südtiroler galten den Schutzvereinen vorwiegend als abgetrennter Teil des österreichischen Volkes, das von Italien mit den Methoden einer Kolonialmacht unterdrückt wurde. Die Zeichnung Südtirols als „Land-im-Leid" implizierte ein Spektrum von Positionen, das von der akademischen Forderung nach Schutz bis zum aktiven Kampf um „Befreiung" reichte. Als ihre Hauptaufgabe sahen die Vereine, ähnlich wie in der Ersten Republik, die öffentliche Information und Agitation in Form von Kundgebungen, Versammlungen, Vorträgen und Mitteilungsblättern; damit sollte nicht zuletzt Druck auf die Politik erzeugt werden. Trotz allen Engagements blieb ihr Mobilisierungserfolg unter der österreichischen Bevölkerung gering, nach dem Paketabschluss 1969 fielen sie weitestgehend in die Bedeutungslosigkeit.

Das Bild der

Historiographen

Allerdings waren die Schutzvereine bei weitem nicht die einzigen Träger des Opfer-Klischees, das jahrzehntelang ein Stereotyp des gängigen Südtirol-Bildes in Österreich darstellte. Seinen Ursprung hatte dieses Klischee nach 1918 generell in der drastischen Bildersprache des Deutschnationalismus, die in ihrem biologistischen Vokabular Südtirol mit gleich bleibenden Mustern als „deutsches Land im Leid" und „blutende Wunde im deutschen Volkskörper" bezeichnete. Prominent beteiligt an der deutschnationalen Imprägnierung des SüdtirolBildes war die Geschichtsschreibung, die seit dem Ende des Ersten Weltkrieges die abgetrennte Region südlich des Brenners intensiv thematisierte, ihre Arbeiten als wissenschaftliche Rechtfertigung für die Ablehnung der Annexion verstand und insofern einen Kampf mit der italienischen nationalistischen Historiographie führte, die selbstredend entgegengesetzte Ziele verfolgte.

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Bei der Durchsicht der entsprechenden Literatur fällt auf, dass es fast ausschließlich Tiroler Historiker waren, die sich des Themas Südtirol annahmen. Eine der ersten dieser Schriften erschien 1921 unter dem Titel „DeutschSüdtirol. Ein Erinnerungs- und Mahnbuch" und präsentierte eine Reihe von Aufsätzen honoriger tirolisch-patriotischer Gelehrter wie Hermann Wopfner (Die Entstehung des Deutschtums in Tirol), Otto Stolz (Stimmen des Deutschtums aus dem alten Tirol) oder Anton Dörrer (Südtirols deutsche Dichtung); auf dem Vorsatzblatt warb der „Andreas Hofer-Bund" u.a. mit dem Argument „Der Brenner ist Deutschlands Berg und darf nicht Deutschlands Grenze bleiben" um Mitglieder. 67 In der Folge tat sich insbesondere Otto Stolz als Apologet des Deutschnationalismus in dessen publizistischem Kampf um das Gebiet zwischen Brenner und Salurn hervor. In seinem Werk „Die Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol im Lichte der Urkunden" deklarierte Stolz seine Absicht, „mit den Mitteln der Geschichtsforschung [...] die Ausbreitung deutschen Wesens und deutschen Bewußtseins in Deutschsüdtirol, dem heute von Italien besetzten Grenzlande deutschen Volksbodens und deutschen Volksgebietes, festzustellen". 68 Dementsprechend „deutsch" war das Bild, das der Innsbrucker Archivar und Universitätslehrer von Südtirol zeichnete. 1937 reichte Stolz seine „Politisch-historische Landesbeschreibung von Südtirol" nach, welcher der Autor einen Begriff des „deutschen Südtirol [...] im Sinne der deutschen Volkszugehörigkeit seiner seit mehr als einem Jahrtausend alt-einheimischen und bodenständigen Bewohner" 69 zugrunde legte und die ausdrücklich nicht auf die Verhältnisse in der Verwaltung nach 1919 einging. Stolz und anderen Tiroler Historikern ging es nämlich nicht primär um die Darstellung der Ereignisse in der nunmehr italienischen Provincia di Bolzano, sondern um die geschichtliche Beweisführung, dass jenes Land „deutsch" sei. Sie ordneten sich damit in die „Schule der ,gesamtdeutschen Geschichtsauffassung'" ein, der sich seit den 1920er-Jahren „kaum ein österreichischer Historiker dieser Zeit entzog" 70 und die eine Thematisierung der jüngsten österreichischen Geschichte für kein vorrangiges Desiderat hielt. So reicht auch das „Handbuch der Geschichte Österreichs" von Mathilde Uhlirz zeitlich nur bis zu den Friedensverträgen von Saint-Germain und Trianon. Im entsprechenden, 1939 erschienenen Band bezeichnet die Autorin die Teilung Tirols als „einen der schwersten und von der gesamten deutschen Bevölkerung tief empfundenen Verlust." Zwar hätten sich auch einige Stimmen zugunsten der „Deutschen Südtirols" erhoben, letztlich aber hätte die Entente einen Länderschacher aus politischen Interessen betrieben und „die Kosten dieses Schachers mußte das deutsche Volk tragen", indem Südtirol Italien zugeschlagen wurde. Uhlirz' Befund ist eindeutig: „Der Grundsatz der Selbstbestimmung wurde von ihm [Wilson] nicht aufrecht erhalten, wenn es sich um Deutsche handelte." 71 Einige dieser Sprachmuster und Argumentationen kehrten nach dem Zweiten Weltkrieg in austrifizierter Fassung wieder. Ein Beispiel für die nur partiel-

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le Neuorientierung in der österreichischen Geschichtsschreibung nach 1945 ist der Beitrag von Walter Goldinger in der 1954 erstmals publizierten und 1977 wieder aufgelegten „Geschichte der Republik Österreich" von Heinrich Benedikt; 1962 erschien der Beitrag Goldingers zudem in erweiterter Fassung und ebenfalls unter dem Titel „Geschichte der Republik Österreich" als Monografie. Mag man in diesen Texten die Bezeichnung Südtirols als „das österreichische Kleinod" 72 zunächst als eine nostalgische Verklärung verstehen, belegen andere, aus früherer Zeit bekannte Formulierungen, wie linear ursprünglich deutschnationale Prägungen des Südtirol-Bildes in der Zweiten Republik zunächst weiter tradiert wurden: So etwa wenn der Autor schreibt „von dem Schmerz, den nicht allein das Land Tirol, sondern ganz Österreich über den Verlust Südtirols, als schwerste Bürde des Friedensvertrages empfunden hatte;" wenn er mit Bezugnahme auf Seipels Stellungnahme zu Südtirol im Nationalrat paraphrasiert, dass „das österreichische Volk die Klagerufe seiner Blutsverwandten in Italien" höre und darauf antworte, oder wenn er behauptet, dass trotz der verbesserten österreichisch-italienischen Beziehungen infolge des Freundschaftsvertrages von 1930 das „Schicksal Südtirols [...] für Österreich eine blutende Wunde bedeute." 73 Die Geschichte von Option und Umsiedlung stellt Goldinger so dar, als wäre das hohe Optionsergebnis ausschließlich aufgrund des Druckes von außen zustande gekommen und als wären die „Dableiber" nach dem Umsturz 1943 lediglich den Repressalien der SS ausgesetzt gewesen. 74 Beides ist historisch unrichtig, bekräftigte aber das Bild Südtirols als Opfer äußerer Mächte. Ähnliche Bild-Elemente weist das vom Innsbrucker Universitätsprofessor Franz Huter herausgegebene „Handbuch der historischen Stätten. Alpenländer mit Südtirol" auf. Als Auftakt präsentiert der Band auf den Vorsatzblättern eine Karte der westlichen und südlichen Bundesländer inklusive Südtirols, letzteres grafisch kaum merklich abgetrennt. Im Vorwort verweist der Herausgeber darauf, dass beim Zusammenbruch Altösterreichs Tirol „das Herzstück geraubt" worden sei und schließt mit der Feststellung: „Alle [österreichischen Alpenländer] sind sie herausgewachsen aus dem deutschen Bereich, ohne allerdings ihre deutsche Herkunft, wenngleich besonderen Wesens, zu verleugnen." 75 In der Kurzgeschichte des Landes Tirol unterscheidet Huter nach der Trennung des Landes die Entwicklung Südtirols von jener „Rumpftirols": In ersterem wäre die „deutsche Bevölkerung" einer unsicheren Zukunft entgegengegangen, jedoch hätte „das deutsche Element [...] durch seine biologische Stärke und seinen Behauptungswillen den durch die Abwanderung [...] verursachten Substanzverlust wettgemacht [...]".76 Dieser Text Huters belegt noch für die 1960erund 1970er-Jahre die patriotische Überhöhung Südtirols unter Verwendung biologistisch-rassistischer Erklärungsmuster. Von derartigen Anschauungen bis zur Innsbrucker Dornenkrone war der Weg nicht mehr weit. Freilich handelt es sich im Falle Huters um einen jener Historiker, die die „Stränge der deutschen Interpretation der österreichischen Geschichte [...] 1945

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nicht abgeschnitten" 77 hatten und insofern nicht den Mainstream der Historiographie nach dem Zweiten Weltkrieg repräsentierten. Dieser geht in seinen Thematisierungen dezidiert vom Gebiet der Republik in ihren 1946 bestätigten Grenzen aus und sieht sich in seinem sprachlichen Ausdruck natürlich wissenschaftlichen Kriterien verpflichtet. Eine Kleinstgeschichte der Südtirol-Stimmungen in Österreich bietet Ernst Hanisch in seinem Werk „Der lange Schatten des Staates". Zunächst hebt er Südtirol als ein wichtiges „Problemfeld" infolge von Saint-Germain hervor und schreibt unter anderem: „Schmerzhaft traf der Verlust von Südtirol. Was seit Jahrhunderten zusammengehört hatte, wurde geteilt. Die Schatten von St-Germain reichen so bis in die Gegenwart (Autonomie Südtirols)." In der Folge bringt der Autor eine knappe Darstellung der österreichischen Bemühungen um die Rückkehr Südtirols nach dem Zweiten Weltkrieg, erwähnt das Wort Figls von der „Herzenssache", die „breite Agitation mit prachtvollen Aufmärschen", den harten „Fall in die Realität" nach der negativen Entscheidung der Alliierten und schließt mit dem Bild von den Südtirolern als einer der am besten geschützten Minderheiten Europas. Später wird die Provinz Bozen noch erwähnt in Zusammenhang mit den außenpolitischen Problemen der Regierung Klaus, wo Hanisch etwa bezüglich der angestrebten EWG-Assoziierung feststellt: „Wegen des Südtiroler Terrors blockierte Italien weitere Verhandlungen." 78 Mit einem Satz über die Paketlösung ist Südtirol aus der Themenstellung des Autors entlassen. Diese Formulierungen liefern ein konzentriertes Bild der offiziellen österreichischen Südtirol-Rezeption, die beim Schmerz begann, über das Herz führte und bei freundschaftlich-distanzierter Sachlichkeit endete. Die Entwicklung des von der Historiographie produzierten Südtirol-Bildes dokumentieren hingegen besonders anschaulich die diversen Fassungen der erstmals 1954 publizierten Arbeit Goldingers zur Geschichte der Republik. Wie ausgeführt, hatte Walter Goldinger in seinem ursprünglichen Text Südtirol mit stark emotionalisierender Diktion als Opfergeschichte und als eine Angelegenheit von hoher nationaler Wertigkeit für Österreich dargestellt. Die 1962 erschienene Monografie „Geschichte der Republik Österreich" übernahm in Bezug auf Südtirol unverändert die früheren Formulierungen, setzte aber in der Fortführung des Textes für die Zeit nach 1945 deutlich neue Akzente: Südtirol wird nun im Kapitel zur österreichischen Außenpolitik thematisiert, die Südtiroler werden als „deutschsprachige Bevölkerungsgruppe" tituliert, die Darstellung ist knapp und sachlich, dramatisierende Attribute fehlen. Südtirol wird zur Südtirolfrage, die Goldinger allerdings als „eine ständige schwere Belastung" 79 für die österreichische Außenpolitik beschreibt. 1992 erschien eine von Dieter A. Binder erstellte Neufassung von Goldingers Monografie, die zum einen die neue Literatur berücksichtigt, zum anderen aber auch „Auffassungsunterschiede und unterschiedliche Interpretationen" 80 einarbeitet. Obwohl die Darstellung Binders mit März 1938 endet, interessiert diese Arbeit wegen ihrer Ergänzungen genauso wie wegen der vorge-

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nommenen Streichungen. So fehlt in der redigierten Neuauflage trotz der sonst weitgehenden Übernahme des Goldinger-Textes die Bezeichnung Südtirols als „österreichisches Kleinod"; dessen Verlust wird nun ebenso wenig als „schwerste Bürde des Friedensvertrages" qualifiziert wie sein weiteres Schicksal als „blutende Wunde". Auch die Wendung von den Südtirolern als „Blutsverwandte" des österreichischen Volkes findet der Leser nicht mehr, und aus Goldingers „Deutschen jenseits des Brenners" werden bei Binder „Tiroler jenseits des Brenners"; dafür fügt der Bearbeiter außen-, innen- und wirtschaftspolitische Aspekte zum „Problemkreis Südtirol" 81 ein. Diese Änderungen mögen schlicht dem seit den 1950er-Jahren gewandelten Verständnis von Wissenschaftlichkeit zu verdanken sein, aber jedenfalls ändert sich mit der Sprache unweigerlich auch das vermittelte Bild und mit dem Bild die dem Objekt zugeschriebene politische und gesellschaftliche Bedeutung. Im Fall der Darstellung Südtirols wurden in der Überarbeitung des Goldinger-Textes die nationale Dimension weitestgehend eliminiert und die Geschichte der Provinz Bozen auf die Ebenen von Politik und Wirtschaft reduziert. Damit brachte Binder den Goldinger-Text in Gleichklang mit der neueren Republik-Geschichtsschreibung, die das Thema Südtirol primär unter dem außenpolitischen Aspekt abhandelt; die innen- und wirtschaftspolitische Dimension tritt dagegen klar zurück, eine nationale Bedeutung wird kaum einmal angedeutet, eine Thematisierung der Region südlich des Brenners jenseits der Autonomieproblematik und ihrer historischen Implikate (Attentate, Prozesse, Belastung des italienisch-österreichischen Verhältnisses) findet überhaupt nicht statt.82 Ein bezeichnendes Beispiel dafür liefert das als Studienbuch konzipierte Sammelwerk „Österreich im 20. Jahrhundert". In einer Vorbemerkung begründen die Herausgeber Rolf Steininger und Michael Gehler die ausführliche Behandlung der Südtirolfrage folgendermaßen: „Südtirol wurde zwar nach dem Ersten Weltkrieg Italien als Kriegsbeute zugeschlagen, aber es war und ist in vielfacher Hinsicht ein österreichisches Thema." 83 So wahr diese Feststellung ist, so wenig thematisieren die entsprechenden Beiträge dann aber eben diese vielfältige nationale Relevanz des Themas Südtirol für Österreich. Insgesamt signalisieren in der neueren Historiographie die Sachlichkeit der Texte und die sparsame Verwendung kommentierenden Attribute unzweifelhaft Akzeptanz der bestehenden politischen Situation und produzieren darüber hinaus kaum noch ein konturiertes Südtirol-Bild. Aber selbst diese Darstellungsform scheint ein Auslaufmodell zu sein: Der 1996 publizierte Sammelband „Österreich 19451995" präsentiert die Südtirolpolitik Wiens „nur" als Phase der österreichischen Minderheitenpolitik, ihre Eckdaten werden bis zum In-Kraft-Treten des „Paketes" 1972 erwähnt, damit scheint das Thema erschöpft. 84 Eine etwas andere Entwicklung nahmen die Darstellung und das Bild Südtirols in der Tiroler Landesgeschichtsschreibung. Die erste „Geschichte des Landes Tirol" seit 1919 veröffentlichte 1955 der bereits erwähnte Otto Stolz,

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der in der Zwischenkriegszeit sehr bemüht gewesen war, den „deutschen" Charakter Südtirols nachzuweisen. Nach 1945 waren Vokabeln wie „deutsches Wesen", „deutscher Volksboden" oder „deutsche Volkszugehörigkeit" freilich völlig deplatziert und so vollzog auch Stolz in seiner Diktion einen auffälligen Schwenk, der anders als bei manchem seiner Historikerkollegen weniger in eine Austrifizierung als in eine „Tirolisierung" der Darstellung bei weitgehend unveränderten Argumentationsmustern mündete. So liegt der Schwerpunkt dieser Landesgeschichte in der Betonung der Gemeinsamkeiten zwischen Nordund Südtirol. Unter anderem geschieht dies im Rahmen einer Untersuchung über die „volkliche, stammliche, sprachliche und religiöse Zugehörigkeit des Tiroler Volkes" durch eine Beobachtung der „körperlichen Eigenschaften der Einwohner Tirols", wobei der Autor Merkmale verschiedener „Rassen" feststellt. 85 Vor allem aber hätten „das illyrisch-rätische und das germanische Element [...] sich in beiden Landesteilen zu einer neuen Einheit verschmolzen". Durch die Abtrennung Südtirols sei „eine volkliche und sprachliche, politische und kulturelle Einheit, die auf die Geschichte eines Jahrtausends zurückblickt, durch einen Spruch auswärtiger Mächte zerteilt" worden, der Faschismus hätte die „Ausrottung der deutschen Volksart" zwischen Brenner und Salurn zu seinem Regierungsprogramm erhoben, Mussolini und Hitler hätten Südtirol „schwer vergewaltigt". 86 Die Rückgliederung dieses Gebietes nach 1945 sei gescheitert, weil weder das demokratische Italien noch die demokratischen Westmächte „auf die Vergewaltigung Südtirols von 1919"87 verzichten wollten. Kein anderer akademischer Autor in der Position von Stolz hat nach 1945 ein derart nationalistisches und rassistisches (Süd-)Tirol-Bild gezeichnet und das OpferKlischee dermaßen in den Vordergrund gestellt. Neben einer weiteren, groß angelegten, im Tiroler Gedenkjahr 1984 initiierten „Geschichte des Landes Tirol", die in ihrem Südtirol betreffenden Teil das nach dem Ersten Weltkrieg angelegte und seither von der Geschichtsschreibung tradierte Bild vom „Land-im-Leid" noch einmal intensiv pflegt, 88 ist im Sinn der neueren österreichischen Republik-Geschichtsschreibung eine historiographische Tradition entstanden, die unter der Geschichte Tirols die Geschichte des Bundeslandes Tirol meint. Ein anschauliches Beispiel für die Entlassung Südtirols aus dem Tirol-Verständnis der Historiker ist die Arbeit von Richard Schober über die „Geschichte des Tiroler Landtages im 19. und 20. Jahrhundert". 89 Vom Tiroler Landtag anlässlich des 175. Gedenkjahres der Tiroler Freiheitskämpfe in Auftrag gegeben, beschränkt sich die Arbeit aber für die Zeit nach 1918 auf den Nordtiroler Landtag, sodass etwa im biografischen Teil die Südtiroler Landeshauptmänner überhaupt nicht vorkommen - ein markanter Kontrapunkt zu den sonstigen im Jahr 1984 dargebotenen Inszenierungen der Einheit des Landes Tirol. Auch der von Michael Gehler im Rahmen der „Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945" im Jahr 1999 herausgegebene Band über Tirol bezieht sich auf das Bundesland. Gehler selbst behandelt in einem umfangrei-

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chen Aufsatz die Tiroler Südtirolpolitik und thematisiert auch explizit die Rückwirkungen der seit den 1970er-Jahren zunehmenden Emanzipation des südlichen Landesteils auf das Bundesland Tirol und dessen Selbstverständnis. 90 Mit dieser Fragestellung bietet der Autor einen neuen, interessanten Ansatz in der Tirol-Geschichtsschreibung: Nämlich nicht mehr das Bild eines abgetrennten Territoriums, dessen Rückgliederung mit patriotisch-nationalistischen Argumentationen beschworen wird, auch nicht das Bild eines ehemaligen Landesteiles, der entweder historiographisch separat abgehandelt und mitunter „vergessen" wird, sondern das Bild eines aufgrund der historischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung heute selbstständigen Teiles von Tirol, der im Rahmen zahlreicher regionaler Projekte dem Bundesland Tirol als Partner gegenübersteht und ihm in vielfältiger Weise verbunden ist.

Bozen und Meran - Orte welchen Gedächtnisses? Die Bilder und ihre Rezeption Aber dieses Bild ist noch keineswegs gängig, weder in Tirol und noch weniger österreichweit. Damit stellt sich die Frage nach der Rezeption der bisher präsentierten Südtirol-Bilder bzw. die Frage nach der Relevanz des Themas Südtirol für die österreichische Bevölkerung. Von den erwähnten Traditionen des Südtirol-Bildes seit 1918 ist die deutschnational geprägte die älteste. Sie wurde in der Ersten Republik nahezu durchgängig getragen von den Schutzvereinen, von der Historiographie, vom Land Tirol, von den Medien, von den Parteien, von der Republik selbst, wenngleich nur als Reflex auf innenpolitischen Druck hin; man wird annehmen können, dass auch in der Bevölkerung die „deutschen" Bild-Elemente dominierten. Obwohl dieses deutschnationale Bild in Tirol Gegenstand einer ritualisierten Erinnerung wurde, könnte der Umstand, dass die Tagespresse ihre Berichterstattung über Südtirol ab 1922 reduzierte, speziell die „Arbeiter-Zeitung" zu diesem Thema generell nur geringe Affinität zeigte und die Redaktionen aufgrund der faschistischen Italianisierungsmaßnahmen das Alto Adige nur kurzfristig wieder stärker in den Vordergrund rückten, als Indiz für ein allgemein abflauendes Interesse an der verlorenen Region gewertet werden. 9 1 Jedenfalls blieb das deutschnationale Südtirol-Bild als potenzieller österreichischer Gedächtnisort im Kontext der politischen Entwicklung der Zwischenkriegszeit letztlich ohne Wirkung: Es adressierte Südtirol nicht an Wien, sondern an Berlin; es torpedierte die außenpolitische Orientierung Österreichs und wurde deshalb von der Regierung marginalisiert; in der „Österreich"-Ideologie des autoritären „Ständestaates" fand es keinen Platz, der Nationalsozialismus hat es schließlich ganz entfernt. Umso vehementer wurde Südtirol unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von der wiedererstandenen Republik Österreich in die Erinnerung zurückgeholt: Land und Leute zwischen Brenner und Salurn waren jetzt nicht mehr

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deutsch, sondern österreichisch. Anders als 1918/19, als der Einsatz für Südtirol in einen Zusammenhang mit der staatlichen Existenz gebracht wurde, demonstrierte die österreichische Politik nun Engagement für Südtirol jenseits des territorialen Interesses vor allem unter dem Aspekt der Förderung des nationalen Bewusstseins. Der Anspruch auf Südtirol mündete allerdings nicht in ein gemeinschaftstiftendes Erfolgserlebnis, sondern endete in der Realität des Gruber-De Gasperi-Abkommens. Zum einen schrieb dieses Abkommen den österreichischen Ingerenzanspruch auf die Provinz Bozen fest, woraus Wien in der Folge seine Schutzmachtrolle ableitete und diese Funktion in den UNOResolutionen der Jahre 1960/61 bestätigt bekommen hat; insofern besiegelte es die Austrifizierung des Südtirol-Bildes. Zum anderen aber implizierte der Pariser Vertrag einen grundlegenden Wandel in der Wertigkeit des Themas Südtirol: Es mutierte von einer nationalen Angelegenheit zu einer außenpolitischen Frage. Zumal eine österreichische Minderheit den Gegenstand dieser Frage bildete, blieb das nationalintegrative Potenzial des Themas vorderhand erhalten; indem Wien zwar mit unterschiedlich großem Engagement, letztlich aber erfolgreich seine Schutzmachtrolle ausfüllte und in der Südtirolfrage jahrelang ein Parteien übergreifender Konsens herrschte, suchte die Politik dieses Potenzial auch weiter zu nutzen. Dennoch war mit dem Wandel der Wertigkeit auch ein Wandel der Erinnerung verbunden: Nicht mehr Südtirol als österreichisches Land, die Südtiroler als Österreicher, die Südtiroler Wirtschaft als relevanter Teil der österreichischen Wirtschaft und die Südtiroler Kultur als Teil der österreichischen Kultur, wie man dies noch 1945/46 heftig reklamiert hatte, bildeten in Hinkunft den Gegenstand der Erinnerung, sondern die politisch-juridische Frage um die Ausgestaltung der Autonomie für eine nationale Minderheit jenseits der österreichischen Grenzen. Die Lösung dieser Frage konnte nicht ohne Auswirkung auf den Gegenstand der Erinnerung bleiben, und es ist nur folgerichtig, dass sich das offizielle Österreich seit der Paketannahme im Jahr 1969 vom Thema Südtirol tendenziell zurückzog. Zugleich trat Wien als Träger des Gedächtnisses an die Region zwischen Brenner und Salurn zunehmend in den Hintergrund: Schon 1968 war Südtirol in der offiziellen Festschrift „Österreich - 50 Jahre Republik" kein Thema mehr.92 Die Entwicklung des offiziellen Südtirol-Bildes der Zweiten Republik korreliert im Großen und Ganzen mit jener des Bildes der Bevölkerung. In den Jahren nach 1945 stand Südtirol im Zentrum zahlreicher Kundgebungen, Initiativen und Medienberichte, obwohl die Sorgen der Österreicherinnen eigentlich andere waren. Allerdings wurde die Tatsache, dass es nur 1946 einen Generalstreik für Südtirol gegeben hat, nämlich jenen vom 2. Mai in Innsbruck, als Indikator für die relativ geringe Anteilnahme der Österreicher an den Geschicken dieser Region gewertet; 93 der Journalist und Historiker Claus Gatterer behauptete, dass „seit 1948 das Interesse der österreichischen Öffentlichkeit, vor allem der Presse an Südtirol praktisch auf einen Nullpunkt abgesunken" sei.94

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Glaubt man dagegen den diversen seit den 1950er-Jahren durchgeführten Meinungsumfragen, dürfte Südtirol zunächst erhöhte Aufmerksamkeit zuteil geworden sein, längerfristig signalisieren die erhobenen Daten aber eine rückläufige Tendenz. So hätten sich laut einer 1959 zitierten Umfrage 65% der Befragten intensiv für die Südtirolfrage interessiert. Zehn Jahre später wussten knapp die Hälfte der befragten Österreicher über den Gegenstand dieser Frage nicht mehr Bescheid; ebenfalls 1969, im Jahr der Paketannahme, stuften 40% die Bedeutung des Themas Südtirol als mittelmäßig wichtig bis unwichtig ein, weitere 27 % hatten dazu überhaupt keine Meinung. 95 Signifikant ist zudem die scheinbare Widersprüchlichkeit mancher Daten. Mitte der 1980er-Jahre meinten 43% der Befragten, die Südtiroler seien Österreicher, sollten irgendwann nach Österreich zurückkehren und die österreichische Regierung sollte auf dieses Ziel hinarbeiten. In derselben Umfrage wurde Südtirol in einer Prioritätenliste der österreichischen Außenpolitik an die sechste und vorletzte Stelle gereiht. 96 Ähnliche Ergebnisse ergab die Auswertung der auf Südtirol bezogenen Fragen im Rahmen des „Österreichischen Sozialen Survey 1986": Der Befund bestätigte den relativ niedrigen Informationsstand in Bezug auf die Provinz Bozen, gleichzeitig aber ziemlich hohe Sympathie werte für Südtirol.97 Aber es gibt neben Meinungsumfragen noch andere Indikatoren für die Südtirol-Rezeption in Österreich. Einer davon ist die Analyse der Medienberichterstattung über Ereignisse von hohem Symbolwert wie etwa die Tiroler Gedenkfeiern der Jahre 1959 und 1984. Wie erwähnt, fand als Höhepunkt der Feiern im Jahr 1959 ein großer Festumzug durch Innsbruck statt, an dessen Spitze eine Dornenkrone aus Eisen als Symbol für den Schmerz über die Zerreißung des Landes getragen wurde. Die „Tiroler Tageszeitung" berichtete in großer Aufmachung über das Ereignis, platzierte u.a. ein Bild der Dornenkrone auf die Titelseite und formulierte dazu: „Doch die Dornenkrone [...] erinnerte uns daran, daß [...] die Vorstellung von der glücklich vereinten Familie leider Illusion ist. Die Brüder aus dem abgetrennten Landesteil waren als Bürger eines anderen Staates nur flüchtige Besucher, wenn auch die liebsten." 98 Insgesamt resümierte das Blatt das Festgeschehen mit den Worten: „Fünf Stunden Illusion, gemischt mit dankbarer Erinnerung an das Jahr 1809, erfüllt von glühendem Patriotismus und stiller Wehmut, fünf Stunden Musikkulisse, fünf Stunden Farbenpracht." Immerhin ahnte der Verfasser des Artikels, dass wohl nicht für jeden der hunderttausend Zuschauer das tirolische Hochgefühl im Vordergrund stand: „Für viele Zuschauer wird dieser [...] Festzug vor allem eine farbenprächtige, an Trachten reiche Revue gewesen sein, eine Folge von tausenden Motiven für die Kamera, eine Augenweide, vielleicht sogar eine ,Schau' im zeitgenössischen Sinne des Wortes". Dennoch schloss der Schreiber seinen Bericht ganz patriotisch mit der Information, wonach beim Vorbeimarsch der Schützen aus dem Passeier, der Heimat Andreas Hofers, vor dem Bundespräsidenten das Publikum spontan

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das Andreas Hofer-Lied anstimmte. Auch die übrigen österreichischen Tageszeitungen schilderten den Innsbrucker Festzug ausführlich. Die „Salzburger Nachrichten" titelten martialisch „Tirols Freiheitswille ungebrochen" und berichteten, dass die 3.000 Südtiroler im Zug vom Bundespräsidenten und den übrigen Ehrengästen stehend begrüßt wurden." Ebenso begeistert formulierte die „Wiener Zeitung" unter dem Titel „1809 - Ein Tirol - 1959": „Zu einem mitreißenden Bild der Einheit und Geschlossenheit des Tiroler Volkes gestaltete sich Sonntag der imposante Festzug des ,Tiroler Festtages 1 8 0 9 - 1 9 5 9 ' " , 1 0 0 und auch „Die Presse" strich heraus, dass der Festzug „im Zeichen des Bekenntnisses der Tiroler zu ihrem Freiheitswillen und zu ihrer Heimat" 101 stand. Lediglich die „Arbeiter-Zeitung" vermied in ihrem Bericht jeden politischen Aktualitätsbezug und begnügte sich mit einem knappen Zweispalter auf der Titelseite. Alle Zeitungen brachten einen Hinweis auf die Dornenkrone; am auffälligsten tat dies die „Wiener Zeitung", die mit fett gedruckten Lettern schrieb: „Tiefen Ernst löste das erste Emblem aus, das im Festzug getragen wurde und das - eine große Dornenkrone - den Ausdruck des Schmerzes des ganzen Landes über die seit 1918 bestehende Zerreißung Tirols darstellen sollt e . " 1 0 2 Beeindruckt vom Gebotenen gab sich auch Bundeskanzler Raab: Er habe „mit Bewunderung die eindrucksvolle Demonstration tirolischen Freiheitswillens erlebt." 1 0 3 Deutlich anders war die Berichterstattung der Printmedien 25 Jahre später beim Festzug des Jahres 1984. Erneut wurde vor dem Bundespräsidenten, den Präsidenten von National- und Bundesrat, dem Bundeskanzler, mehreren Landeshauptleuten, Ministern und hohen geistlichen Würdenträgern von Südtiroler Schützen eine Dornenkrone aus Metall vorbeigetragen, die, wie sich später herausstellte, von rechtsorientierten Kreisen finanziert worden war. 104 Wieder brachte die „Tiroler Tageszeitung" im Rahmen ihrer ausführlichen Fest-Reportage ein Foto der Dornenkrone, allerdings am unteren Ende von Seite 3, versehen mit einem knappen Bildtext. 1 0 5 Dagegen scheinen die überregionalen Blätter die symbolisch-politische Botschaft der Krone nicht wahrgenommen zu haben: Die „Salzburger Nachrichten" titelten am nächsten Tag „Am schönsten waren die Schützen" und zeigten sich von deren bunter Kleidung, deren Fahnen und „festen Marschtritt" besonders angetan; „Die Presse" brachte einen sachlich-emotionslosen Bericht über den „Festzug als Höhepunkt des Gedenkjahres"; die „Arbeiter-Zeitung" und die „Wiener Zeitung" begnügten sich mit einer kurzen Notiz. 1 0 6 Keines der Blätter erwähnte die Dornenkrone. Wieder einmal waren es erst scharfe Reaktionen in den italienischen Medien und Kommentare italienischer Politiker, die aus einer (Süd-)Tiroler Angelegenheit ein Thema für Österreich machten. Zwar wies Wien die italienische Berichterstattung als übertrieben zurück, trotzdem sah man sich veranlasst, die eigene Position klarzustellen: Dazu äußerte Kanzler Sinowatz u.a., dass man sich das gute Einvernehmen zwischen Italien und Österreich „nicht durch Au-

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ßenseiter, die vielleicht da oder dort mit Transparenten erscheinen, behindern lassen" 107 brauche. Die Festumzüge mit den Dornenkronen und die entsprechende Berichterstattung der Printmedien spiegeln die Bedeutung und das Bild Südtirols in der Zweiten Republik in seinem ganzen, mitunter widersprüchlichen Facettenreichtum wider. Alle bisher aufgezeigten Bild-Elemente sind vertreten: Die Präsenz höchster Staatsvertreter, deren patriotische Bekenntnisse und die Distanzierung Wiens vom Thema Südtirol zugunsten anderer politischer Prioritäten; das „Ein Tirol"-Konzept Innsbrucks mit der Perpetuierung des Bildes vom „Land-im-Leid" trotz offensichtlich schwindenden Realitätsbezuges; der zunehmende Wandel in der Südtirol-Rezeption durch die Öffentlichkeit vom historisch-nationalen Aspekt hin zur nostalgisch-folkloristischen Dimension. Zur weiteren Entwicklung der Südtirol-Rezeption in Österreich bot zwölf Jahre nach dem Innsbrucker Festzug die 1996 anlässlich der Millenniumsfeiern organisierte, von allen Bundesländern mitgetragene und in St. Pölten sowie in Neuhofen an der Ybbs gezeigte österreichische Länderausstellung „ostarrîchi Österreich" aufschlussreiche Hinweise. In ihrer Abteilung „Österreich in Brief und Siegel" wollte die Ausstellung dem Besucher die Möglichkeit bieten, „die wichtigsten Ereignisse der österreichischen Geschichte" 108 anhand einer Reihe von Urkunden nachvollziehen zu können. Unter den Themenschwerpunkten dieser Abteilung figurierte auch Südtirol mit insgesamt 17 Exponaten: Dem Original des Gruber-De Gasperi-Abkommens vom 5. September 1946, sechs Objekten zum Thema Südtirol-Terrorismus sowie zehn Objekten zum Thema Selbstbestimmung und Autonomie für Südtirol. Alle Exponate mit Ausnahme des Abkommens stammten aus den Jahren 1959 bis 1963.109 Themensetzung und Objektauswahl präsentierten Südtirol als Teil der österreichischen Geschichte und zugleich als Geschichte im Sinn von Vergangenheit: Die Wahrnehmung Südtirols als nationale Angelegenheit bricht mit der Internationalisierung der Südtirolfrage vor der UNO und den Attentaten ab, die Zeit danach wird ausgeblendet, weder das Paket des Jahres 1969 mit dem Operationskalender, noch das zweite Autonomiestatut, noch die Streitbeilegungserklärung des Jahres 1992 fanden anscheinend den Weg ins österreichische Gedächtnis und damit auch nicht den Weg in die Ausstellung. Die konzeptionellen Entscheidungen der Ausstellungsmacher dürften damit symptomatisch sein für das heutige Südtirol-Bild in Österreich und entsprechen demoskopischen Erhebungen, die zwar erhöhte Sympathie werte für Südtirol, zugleich aber eine ausgeprägte Desinformation über die gesellschaftliche Realität in der Autonomen Provinz Bozen ergeben. Verträgt sich dieser Befund mit der eingangs konstatierten starken Präsenz Südtirols in Österreich, und wie erklärt sich der Umstand, dass laut Umfrage des Fessel-Institutes die Bevölkerung im Jahr 1998 Südtirol nach wie vor verstärkt mit Österreich verbindet? Was symbolisiert heute Südtirol für die Österreicherinnen, inwiefern ist Südtirol ein Gemeinschaft stiftender Ort? Woran

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denken die Österreicherinnen wirklich, wenn sie Südtirol, Bozen oder Meran sagen? Können diese Fragen hier mangels einschlägiger Untersuchungen auch nur vorläufig beantwortet werden, so ist zunächst doch anzunehmen, dass das Südtirol-Bild des offiziellen Österreich die Bilder der Bevölkerung mitgestaltet haben wird, sei es in Bezug auf dessen Inhalte, sei es als in Bezug auf dessen Intensität. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich die „offiziellen" Bilder etwa in den Schulbüchern und damit in einem Medium mit großer Breitenwirkung wieder finden, wie ein Blick in die Unterrichtsmaterialien für den Geschichtsunterricht an höheren bildenden Schulen zeigt. 110

Bombenanschlag auf einen Hochspannungsmast in der „Feuernacht" vom 11./12. Juni 1961

Südtirol kommt in sämtlichen durchgesehenen Büchern vor, insbesondere im Zusammenhang mit den Territorialverlusten Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg und mit der so genannten Südtirolfrage nach 1945 als heikler Gegenstand der österreichischen Außenpolitik. Erwähnt werden das Pariser Abkommen 1946, das Südtirol-Paket, die Terroranschläge, die Befassung der UNO, die Autonomieverhandlungen und die Streitbeilegung 1992 als die wichtigsten Etappen des Konfliktes zwischen Italien und Österreich; seltener wird die Geschichte Südtirols unter dem Faschismus behandelt, mitunter kommt die Provinz Bozen als Fallbeispiel für Spezialthemen wie Minderheitenpolitik oder Nationalismus vor. Zentrale Ereignisse der Geschichte Südtirols, wie Option und Auswanderung, bleiben in der Regel ausgeblendet. Bei der Bezeichnung der Bevölkerung wird kaum einmal ein expliziter Bezug zu Österreich hergestellt, wie etwa folgende

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Formulierung zeigt: „Außerdem wurde Italien 1918 das Land Südtirol zugesprochen, ein Gebiet mit überwiegend deutschsprachiger Bevölkerung."" 1 Kein einziges der durchgesehenen Schulbücher geht auf die heutige soziale und politische Situation in der Provinz Bozen ein. Insgesamt wird das Thema Südtirol vorwiegend in den semantischen Feldern „Verlust", „Unterdrückung", „Enttäuschung", „Konflikt" und „Konfliktlösung" präsentiert, ein gesellschaftsgeschichtlicher Zugang fehlt völlig, die Perspektive der Darstellung ist ausschließlich eine „staatliche", die heutige Provinz Bozen liegt nicht mehr im Blickfeld. Ähnlich gewichtet ist die Darstellung des Themas Südtirol in den journalistisch-populärwissenschaftlichen Publikationen „Österreich I" und „Österreich II", die Hugo Portisch als Begleitbände zur gleichnamigen groß angelegten und sehr erfolgreichen Fernsehdokumentation des ORF herausgegeben hat. Auch hier wird die Provinz Bozen im Rahmen der bekannten semantischen Konnotationen abgehandelt, wenngleich eigene Kapitel die Geschichte des Landes südlich des Brenners von 1918 bis zur Paket-Annahme 1969 thematisieren und dabei besonderes Augenmerk auf die Option 1939 sowie auf die Attentate der 1960er-Jahre legen;112 angesichts des Titels der Reihe entsteht das Bild einer besonderen Verbindung zwischen Österreich und der Provinz Bozen.

Südtiroler Werbeprospekt „Südtirol-Erlebnisse für die ganze Familie", 2004

Dem ORF kommt überhaupt bei der Frage nach der heutigen Präsenz Südtirols in Österreich eine zentrale Bedeutung zu: Das reicht von diversen Volksmusik-

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Sendungen wie etwa dem jährlichen „Grand Prix der Volksmusik", an dem Südtirol neben Österreich, Deutschland und der Schweiz als Quasi-Nation teilnimmt, bis zu den beiden „Starmania"-Staffeln, an denen jeweils ein Teilnehmer aus Südtirol als Kandidat mitwirkte. Für die Alltagspräsenz Südtirols in Österreich sorgen die ORF-Wetterkarten: Stets prangt ein Wettersymbol über der Dolomiten-Region, und sie vermitteln in der Regel das Bild von Südtirol als Land mit vielen Sonnentagen und höheren Temperaturen als in Österreich." 3 Die Elemente Brauchtum, Folklore, reizvolle Landschaft und schönes Wetter werden via Bildschirm regelmäßig in die österreichischen Wohnzimmer geliefert, dagegen ist das Interesse der Fernsehmacher an innovativen Entwicklungen in Südtirol oder an der gesellschaftlichen Realität des Landes offensichtlich geringer. Dafür, dass das medial vermittelte Bild auch das in der Bevölkerung weitgehend gängige ist, liefern die Südtirol-Programme österreichischer Reiseveranstalter einen aufschlussreichen Indikator. Touristiker formulieren ihre Angebote auf die Vorstellungen und Erwartungshaltungen ihres Publikums hin. In Bezug auf Südtirol bieten diverse österreichische Veranstalter vor allem im Frühjahr und Herbst Busreisen an, wobei die Topoi der entsprechenden Ankündigungen und Beschreibungen als Kernelemente des heute in Österreich verbreiteten Südtirol-Bildes gelten können. 114 Im Jahresreiseprogramm 2 0 0 4 von „Ebner Busreisen" aus Ebenau in Salzburg wurde für Oktober eine Südtirolreise unter dem Titel „Ins herbstliche Südtirol. Dolomitenpässe, Weinstrasse, Meran" angeboten und folgendermaßen vorgestellt: „Zwischen Alpen und Dolomiten gelegen, verbindet Südtirol alpine und mediterrane Kultur. Sein angenehmes und mildes Klima beeinflusst sowohl die freundliche Mentalität seiner Bewohner, als auch die Gestaltung der Landschaft. [...] Endlose Obstgärten und Traubenplantagen durchziehen die Landschaft von Brixen bis Bozen. Hier befindet sich die Weinstraße Südtirols. Sie schlängelt sich durch die Obst- und Weinberge des Etschtales, des Überetsches und des Unterlandes bis Salurn. Wo bis zum 18. Jahrhundert noch Sumpfgebiet war, steht die Natur in Gärten, Wiesen und Mischwäldern nun in voller Blüte". 1 1 5 Mit ähnlichen Bildern eines Garten Eden im Gebirge pries das „Reisebüro Weiermair" aus Kirchdorf/Krems unter dem Titel „Meran - Herbstfreuden im Vinschgau" seine Südtirolreise an: „Der ehemalige k.u.k. Luftkurort spielt auch heute noch seine Reize voll aus [...]. Eingebettet in Rebenhügel und Obstgärten, umragt von der faszinierenden Bergwelt des Naturparks Texelgruppe überrascht die sonnige Lage den Besucher mit beeindruckenden Kontrasten zwischen alpiner und südlicher Naturlandschaft. [ . . . ] Die Gärten von Schloss Trautmannsdorff: [ . . . ] Am Hang oberhalb Meran, wo einst Kaiserin Sissi flanierte, erstrecken sich die blühenden Gärten."" 6 Die „Grazer Gruber Touristik GmbH" führte im September/Oktober 2 0 0 4 mit „Herbstimpressionen aus Südtirol" und „Auf Nebenstraßen durch Südtirol und ,Welschtirol'" das Land an Etsch und Eisack gleich zweimal im Programm und für ihre „Große Österreich-

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rundfahrt" wurde ohne weiteren Kommentar die Route quer durch Südtirol gewählt.117 Andere Angebote stellen die „imposante" und „unvergleichbare" Bergwelt der Dolomiten, die „das Herz jedes Berg- und Naturbegeisterten immer wieder aufs neue höher schlagen" 118 lässt, stärker in den Vordergrund, werben mit Frühlingsblütenpracht oder Törggele-Abenden bei Kastanien und neuem Wein im „zauberhaften" Südtirol, verweisen auf die bäuerliche Kulturlandschaft, „die noch unverfälscht und naturbelassen ist", und loben den Umstand, dass „in den ruhigen Bergdörfern [...] Pflege und Bewahrung des Althergebrachten und vernünftiger Fortschritt Hand in Hand" gehen. Die hier exemplarisch aufgeführten Bilder finden sich in Bezug auf Südtirol in sämtlichen durchgesehenen Internet-Auftritten von österreichischen Reisebüros wieder und präsentieren die Provinz Bozen als musealisiertes MiniParadies mit k.k. Vergangenheit, reich an Natur- und Kunstschätzen, urig, einzigartig, kulinarisch attraktiv und wetterbegünstigt aber jenseits jeden Bezuges zur heutigen gesellschaftlichen Realität. Der Umstand, dass Busreisen nach Südtirol von vielen Veranstaltern angeboten werden, weist auf deren Erfolg hin und damit indirekt auch auf die Übereinstimmung der - auch in der Südtiroler - in der Werbung gezeichneten Bilder mit jenen des Publikums. Abgesehen von der Tourismusbranche hat der Beitritt Österreichs zur EU zudem die Wahrnehmung der Provinz Bozen generell als interessanter Markt verstärkt, und zwar als Absatz- und Arbeitsmarkt, wie die vermehrte Ansiedelung österreichischer Firmen und Freiberufler südlich des Brenners zeigt.

Resümee Inwieweit stellte Südtirol also nach 1945 einen nationalen Gedächtnisort für Österreich dar? Peter Gerlich wertet „Traditionen kollektiver Partizipation" 119 als wesentlichen Faktor für die Entstehung von Nationalbewusstsein. Solche Traditionen hat es auch in Bezug auf Südtirol gegeben, die wichtigste begründete die Republik Österreich in den Jahren 1945/46: Im Engagement der Regierung für die Rückgliederung des Gebietes zwischen Brenner und Salurn wurde Südtirol als Symbol für die nationale Konsolidierung Österreichs funktionalisiert; die Bevölkerung demonstrierte mit der Teilnahme an den zahlreichen Kundgebungen Begeisterung für Südtirol und für das österreichische Bewusstsein der neuen Republik. In den Anfangsjahren des neuen Österreich bis in die 1950er-Jahre dürfte Südtirol also ein Gedächtnisort von nationaler Relevanz gewesen sein. Die Partizipation an der Südtirolfrage blieb in der Folge zumindest auf politisch-repräsentativen Ebene solange aufrecht als der Parteienkonsens bestand. Spätestens seit 1969 hat Südtirol als nationalintegratives Konzept an Relevanz eingebüßt, die Südtirol-Bilder begannen zu verblassen. Noch verstärkt hat diese Entwicklung in jüngster Zeit der Umstand, dass sich die BildTraditionen auf Südtirol als altösterreichisches, abgetrenntes, unter der Souve-

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ränität Italiens stehendes Gebiet bezogen. Diese Bild-Prämisse wurde mit dem EU-Beitritt Österreichs und dem Schengen-Abkommen zumindest teilweise obsolet. Insgesamt waren die seit 1918 produzierten Südtirol-Bilder von unterschiedlichen Motiven geprägt, ihre Intensität variierte ebenso wie ihre Träger, eine interessegeleitete Kultur der Erinnerung hat sie in unterschiedlichen Formen mitkonstruiert, verändert, positioniert, aktualisiert oder relativiert. Offenbar haben sie aber bewirkt, dass Südtirol als Substrat im kulturellen Gedächtnis der österreichischen Bevölkerung verankert geblieben ist. Es ist deshalb gewiss kein Zufall, dass 50 Jahre nachdem Julius Raab geäußert hatte, Bozen und Meran wären immer Österreichs Gedankengut gewesen, bei der Frage nach „heiligen Orten" außerhalb Österreichs auch Bozen und Meran genannt werden. Die Frage nach dem Grad der „Heiligkeit" dieser Orte und seiner Veränderung in den letzten Jahrzehnten ist damit noch nicht beantwortet. Nach den bisherigen Ausführungen wären dem heute in Österreich gängigen Südtirol-Bild in etwa folgende Attribute zuzuordnen: Positiv besetzt, nostalgisch-patriotisch angehaucht, historisch entlastet und weitgehend entpolitisiert, in Bezug auf den Alltag in der Provinz Bozen desinformiert und desinteressiert, touristisch orientiert und von Gewohnheit geprägt. Vermutlich resümiert der Austropopper Rainhard Fendrich dieses Bild treffend, wenn er auf die Frage nach seiner Wahrnehmung Südtirols antwortet: „Was mir gefällt, ist das Hochalpine in Kombination mit dem italienischen Flair. Die Südtiroler sind wirklich ein gelungenes Völkergemisch geworden, ihr habt wahnsinnig schöne Frauen und ein Lebensgefühl, das atypisch ist für das karge Leben in den Bergen. [...] Und man ist ja wirklich schnell bei euch, wenn man bedenkt, dass man von Innsbruck aus in einer Stunde in Bozen ist."120 Eine besondere Bedeutung oder Funktion als lieu de mémoire Österreichs ließe sich aus derartigen Zuschreibungen für die Gegenwart nicht ableiten - wie überhaupt die Relevanz Südtirols als Ort, an dem sich das Österreichbewusstsein nachhaltig entzündete, letztlich eher gering blieb: Trotz allem nationalen Pathos, mit dem die Regierung 1945/46 Südtirol als kollektives Identifikationsmotiv präsentierte, verfestigte sich die österreichische Identität erst ab den 1960er-Jahren,121 und in den historiographischen Arbeiten zur österreichischen Nation ist die Region zwischen Brenner und Salurn kaum ein Thema. Gleichwohl dürfte die Verankerung Südtirols im heutigen nationalen Gedächtnis Österreichs auf unterschiedlichen Ebenen wirken: Zum einen verdanken sich wohl manche österreichisch-südtirolischen Beziehungen, vor allem solche auf der Ebene der „patriotischen" Volkskultur, der Chöre, der Musikkapellen und des Brauchtums, der Erinnerung an Südtirol und damit der Erinnerung an die frühere Gemeinsamkeit, oder sie stiften diese Gemeinsamkeit symbolisch neu: Hierher gehört etwa, dass seit 1981 die Provinz Bozen in den Reigen der Bundesländer zur Stiftung des Weihnachtsbaumes für Wien eingebunden ist.122 Zum anderen aber ist anzunehmen, dass die ideelle Präsenz Südtirols

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im österreichischen Gedächtnis die materielle Präsenz Südtirols in Österreich in den Augen der Bevölkerung legitimiert, obwohl ihr in vielen Fällen weniger die Erinnerung an Bozen und Meran als politische oder ökonomische Interessen zugrunde liegen. Die Auswirkungen der fortschreitenden europäischen Integration auf Bild und Präsenz Südtirols in Österreich werden sich noch zeigen. Eine etwas andere Entwicklungslinie weist das Südtirol-Bild im Bundesland Tirol auf. Als zentrales Element hat sich hier jahrzehntelang das seit dem Ersten Weltkrieg bekannte Opfer-Klischee vom „Land-im-Leid" gehalten, dem das Land Tirol in christlicher Verbrämung bis vor wenigen Jahren eine öffentliche Bühne bot. Damit hat Innsbruck zum Langzeiterfolg eines ursprünglich nationalistisch geprägten Südtirol-Bildes beigetragen und zugleich den Beleg für die Schwierigkeit Tirols geliefert, eine hergebrachte Symbolik aufzugeben, obwohl sie mit dem Realitätsbezug weitestgehend auch ihre Akzeptanz durch die Bevölkerung verloren hatte. Hinter dieser Schwierigkeit verbirgt sich eine spezifisch tirolische Tradition des Südtirol-Bildes, die damit zusammenhängt, dass die Provinz Bozen eine Reihe von Emblemen, Figuren, Bauten und Örtlichkeiten „besitzt", ohne die die Tiroler Landesgeschichte nicht erklärbar ist und die als Ikonen des Tirol-Bewusstseins zentrale Gedächtnisorte darstellen. Dazu gehören etwa Schloss Tirol, von dem das Land seinen Namen hat, genauso wie die älteste Darstellung des Tiroler Adlers auf der Zenoburg bei Meran oder Andreas Hofer oder Michael Gaismair. All diese Gedächtnisorte werden in historischen Darstellungen als Tiroler bzw. als österreichische Orte präsentiert, obwohl sie sich seit 80 Jahren im Ausland befinden. Darin liegt das Dilemma, seitdem den „Land-im-Leid"-Inszenierungen das Publikum abhanden gekommen ist: Denn die Selbstwahrnehmung Südtirols als Teil Tirols oder als von Tirol losgelöste Entität bleibt in Wirklichkeit nicht ohne Rückwirkungen auf das Bundesland Tirol und auf dessen Identität etwa im Hinblick auf hergebrachte Positionen wie jene Innsbrucks als Landeshauptstadt und Zentrum ganz Tirols. Diese Positionen sind durch Emanzipationstendenzen des finanziell gut dotierten Landes Südtirol in Gefahr geraten; das verstärkte Engagement des Bundeslandes Tirol, Nord- und Südtirol in neue Strukturen wie die „Europaregion Tirol" einzubinden, oder die freudige Feststellung des damaligen ÖVP-Klubobmanns und Tirolers Andreas Khol anlässlich der Südtirol-Debatte im Nationalrat 2002: „Die Landeseinheit ist hergestellt im Geiste Europas" 123 muss auch in diesem Zusammenhang gesehen werden. 124 Der ehemalige Tiroler Landeshauptmann Weingartner hat die Veränderung des Verhältnisses zwischen den beiden Landesteilen seit 1945 nüchtern auf den Punkt gebracht: „Wir brauchen Südtirol notwendiger als sie uns"125 - ein Umstand übrigens, der im Bundesland Tirol bei manchen Entscheidungsträgern Verlustängste bewirkt und mitunter alte antiitalienische Ressentiments gegen Südtirol verwenden lässt.126

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Die Aussage von Julius Raab stammt aus dem Jahr 1945. Zit. n. Peter Teibenbacher, Die Ausformung der österreichischen Identität während kritischer, zeithistorischer Ereignisse 1945— 1996, in: Max Haller, Identität und Nationalstolz der Österreicher. Gesellschaftliche Ursachen und Funktionen/Herausbildung und Transformation seit 1945/Internationaler Vergleich, WienKöln-Weimar 1996, 224. 2 Zit. n. Eduard Reut-Nicolussi, Tirol unterm Beil, München 1928, 29 f. 3 Autonome Provinz Bozen, Amt für Tourismus, Fremdenverkehrsstatistik des Jahres 1950, sowie Landesinstitut für Statistik, Zeitreihe der Ankünfte und Übernachtungen nach Gebieten und Herkunftsländern, Jahr 2003 (www.provinz.bz.it/astat). 4 Federico Curato, Die österreichisch-italienischen Beziehungen auf der Pariser Friedenskonferenz 1919, in: Innsbruck-Venedig. Österreichisch-Italienisches Historikertreffen 1971 und 1972, hg. von Adam Wandruszka und Ludwig Jedlicka, Wien 1975, 137. 5 Vgl. dazu Hanns Haas, Südtirol 1919, in: Handbuch zur neueren Geschichte Tirols, Bd. 2: Zeitgeschichte, 1. Teil: Politische Geschichte, Innsbruck 1993, hg. von Anton Pelinka und Andreas Maislinger, Innsbruck 1993, 102, sowie Karl Stuhlpfarrer, Südtirol 1919, in: Saint Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979 in Wien, Wien 1989, 60 f. 6 Bericht über die Tätigkeit der deutschösterreichischen Friedensdelegation in Saint-Germainen-Laye, Bd. 2, Wien 1919, Beilage 68. Antwort auf die Friedensbedingungen vom 20. Juli, 109. 7 Ebd. 8 Vgl. Leopold Steurer, Südtirol 1918-1945, in: Handbuch zur neueren Geschichte Tirols, hg. von Anton Pelinka und Andreas Maislinger, 225 f. 9 Neue Freie Presse, 22.1.1919, Abendblatt, und 25.4.1919, Morgenblatt, zit. n. Waltraud Zeschg Schenk, Südtirol im Spiegel der österreichischen Parteipresse nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Ausbau des totalitären Staates unter Mussolini (1925), Innsbruck 1994, 65 und 68. 10 Reichspost, 14.3.1919 und 3.5.1919, zit. n. ebd., 65 und 78. " Arbeiter-Zeitung, 3.5.1919 und 3.6.1919, zit. n. ebd., 65. 12 Vgl. Steurer, Südtirol 1918-1945, 225. 13 Vgl. Stefan Malfèr, Wien und Rom nach dem Ersten Weltkrieg. Österreichisch-italienische Beziehungen 1919-1923, Wien-Köln-Graz 1978, 150-160. 14 Ebd., 112 und 124 f. Vgl. dazu auch Leopold Steurer, Südtirol zwischen Rom und Berlin 1919-1939, Wien-München-Zürich 1980, 144-151. 15 Zit. n. Klaus Weiß, Das Südtirol-Problem in der Ersten Republik. Dargestellt an Österreichs Innen- und Außenpolitik im Jahre 1928, Wien 1989, 161. 16 Ebd., 242. 17 Memorandum „Österreichs Außenpolitik 1918-1928" von Konsul Norbert Bischof, Juli 1929, zit. n. Malfèr, Wien und Rom, 128. 18 Vgl. Steurer, Südtirol zwischen Rom und Berlin, 211-216, sowie Weiß, Südtirol-Problem, 255 f. " Vgl. Emanuel Gerson Fenz, South Tyrol 1919-1939: A study in assimilation, Diss. Univ. Colorado 1967, Document 28 ([Fischer] Bericht über eine Reise nach Südtirol in den ersten Apriltagen 1935), 545. 20 Gertrude Enderle-Burcel und Rudolf Jerábek, Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Bd. 2, Wien 1999, Protokoll Nr. 28 vom 29.8.1945, 398. 21 Zit. n. Rolf Steininger, Los von Rom? Die Südtirolfrage 1945/46 und das Gruber-De GasperiAbkommen, Innsbruck 1987, 29. 22 Zit. nach ebd., 36. 23 Ebd. 24 Zit. n. Werner Wolf, Südtirol in Österreich. Die Südtirolfrage in der österreichischen Diskussion von 1945 bis 1969, Würzburg 1972, 162. 25 Zit. n. Verspielte Selbstbestimmung? Die Südtirolfrage 1945/46 in US-Geheimdienstberichten und österreichischen Akten. Eine Dokumentation, hg. von Michael Gehler, Innsbruck 1996, 598.

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Zit. n. ebd., 605. Zit. n. Wolf, Südtirol in Österreich, 26. Rolf Steininger, Los von Rom?, 71. Zu den Begriffen „Staatsnation" und „Willensnation" vgl. Emil Brix, Zur Frage der österreichischen Identität am Beginn der Zweiten Republik, in: Günter Bischof und Josef Leidenfrost, Die bevormundete Nation. Österreich und die Alliierten 1945-1949, Innsbruck 1988, 94 f., sowie Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlichpolitische Prozesse, Wien-Köln-Graz 21996, 61-66. Zit. n. Renate Tuma, Das Problem der territorialen Integrität Österreichs 1945-1947. Unter besonderer Berücksichtigung der Grenzziehung gegenüber Deutschland, der Tschechoslowakei und Ungarn, Wien 1995, 136. Vgl. Karl Stuhlpfarrer, Österreichische Südtirolpolitik, in: ... und raus bist du! Ethnische Minderheiten in der Politik, hg. von Rainer Bauböck, Gerhard Baumgartner, Bernhard Perchinig und Karin Pinter, Wien 1988, 74. Vgl. Steininger, Los von Rom?, 37 f. Ebd., 88. Zur unterschiedlichen Legitimation der österreichischen Schutzmachtfunktion gegenüber Südtirol vgl. Wolf, Südtirol in Österreich, 10-25. Ebd., 25. Dieses Dekret regelte die Staatsbürgerschaft jener Personen, die 1939 im Rahmen des deutschitalienischen Umsiedlungsabkommens für die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft optiert hatten. Vgl. Rolf Steininger, Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947-1969, Bd. 1: 1947 -1959, Bozen 1999, 237. Vgl. Wolf, Südtirol in Österreich, 113-119. Vgl. dazu Günther Pallaver, L'erba del vicino. Italien - Österreich. Nachbarn in Europa, in: Österreich und die europäische Integration 1945-1993, hg. von Michael Gehler und Rolf Steininger, Wien 1993. Dolomiten, 15./16.6.2002, 19. Teibenbacher, Die Ausformung der österreichischen Identität, 232. Vgl. Wolf, Südtirol in Österreich, 97 -111. „Österreich und Südtirol". Politischer Spezialausschuß der Generalversammlung der Vereinten Nationen, 18. Oktober 1960, in: Kreisky. Reden, Bd. 1, Wien 1981, 184. Bei der UNO wurden die Südtiroler jedoch nicht als österreichische Minderheit anerkannt. Bruno Kreisky, Im Strom der Politik. Der Memoiren zweiter Teil, Wien 1988, 158. Tiroler Tageszeitung, 16.12.1969, 14. Die Presse, 6.6.1992, 4; Wiener Zeitung, 6.6.1992, 1. Südtiroler Wochenmagazin, Nr. 41/2004, 16. Dolomiten, 4./5.12.2004, 15. Hanns Haas, Staats- und Landesbewußtsein in der Ersten Republik, in: Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918-1933, hg von Emmerich Tálos, Herbert Dachs, Emst Hanisch und Anton Staudinger, Wien 1995, 478. Vgl. dazu Wolfgang Meixner, Mythos Tirol. Zur Tiroler Ethnizitätsbildung und Heimatschutzbewegung im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Region/Storia e regione, 1 (1992), 88-106. Vgl. dazu Martin Kofier, Der zweite Landesteil. Die „Sonderregion" Osttirol in der politischen Arena seit 1945, in: Tirol. „Land im Gebirge": Zwischen Tradition und Moderne, hg. von Michael Gehler, Wien-Köln-Weimar 1999, 729. Es waren dies 1919 die Vertreter Tirols in der deutschösterreichischen Friedensdelegation Franz Schuhmacher, Paul von Stembach und Franz Grüner sowie 1946 Außenminister Karl Gruber. Von den zahlreichen historischen Darstellungen sei hier nur verwiesen auf Richard Schober, Die Tiroler Frage auf der Friedenskonferenz von Saint Germain, Innsbruck 1982; Hildegard Haas, Das Südtirolproblem in Nordtirol von 1918-1939, phil. Diss. Innsbruck 1984; Michael Gehler, Selbstbestimmung, geistig-kulturelle Landeseinheit, Europaregion? Die Tiroler Südtirolpolitik 1945-1998, in: Tirol. „Land im Gebirge", hg. von dems., 569-728.

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Vgl. Josef Riedmann, Das Bundesland Tirol (1918 bis 1970), in: Geschichte des Landes Tirol, Bd. 4/II, Bozen-Innsbruck 1988, 787 und 1294. Vgl. Haas, Das Südtirolproblem, 29. Vgl. dazu Riedmann, Das Bundesland Tirol, 878, und Stefan Nicolini, Das Andreas HoferBild in den dreißiger Jahren und in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein Vergleich, Diplomarbeit Univ. Wien 1996, 21 f. Vgl. dazu auch Irmgard Plattner, Kultur und Kulturpolitik, in: Tirol. „Land im Gebirge", hg. von Michael Gehler, 223-312, hier 240-251. Tirol 1959. Ein Buch zur Erinnerung an die Hundertfünfzigjahrfeier der Tiroler Freiheitskämpfe 1809. Herausgegeben im Einvernehmen mit der Tiroler Landesregierung und dem Landesausschuss Bozen, redigiert von Benedikt Posch, Innsbruck o. J. [1960], 146. Ebd., 169. Tiroler Tageszeitung, 7.9.1984, 5. Tiroler Tageszeitung, 5.10.1998, 4; Salzburger Nachrichten, 5.10.1998, 4. Zur Geschichte der Schutzvereine in der Ersten und Zweiten Republik vgl. allgemein Isolde von Mersi, Ziele und Praxis der Öffentlichkeitsarbeit der österreichischen Schutzvereine für Südtirol 1918-1938 und 1945-1976, phil. Diss. Univ. Wien 1979. Vgl. dazu von Mersi, Ziele und Praxis, 60-69, sowie Gerd Pircher, Der Andreas HoferBund und die Südtirolfrage in der Zwischenkriegszeit, in: Tiroler Heimat 62 (1988), 151185. Vgl. dazu Haas, Das Südtirolproblem, 108 f.; Konrad Fischnaler, Innsbrucker Chronik, Innsbruck 1929, 33, sowie Pircher, Der Andreas Hofer-Bund, 156. Auszug aus dem Gemeinderatsprotokoll vom 23.12.1930, schriftliche Mitteilung von Herrn Dr. Friedrich Mayrhofer, Stadtarchiv Linz, vom 13.3.2000. Vgl. Karl A. Kubinzky und Astrid M. Wentner, Grazer Straßennamen. Herkunft und Bedeutung, Graz 1996,66 (Mitteilung von Dr. Gerhard Marauschek, Stadtarchiv Graz) sowie schriftliche Mitteilung von Herrn Dr. Erich Marx, Stadtarchiv Salzburg, vom 13.3.2000. Nach 1945 hat es auch Fälle gegeben, wo eine „Südtiroler Gasse" wieder umbenannt wurde, so etwa 1955 und 1957 in Wien. Vgl. Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd. 2, Wien 1993, 396 und 446. Deutsch-Südtirol. Ein Erinnerungs- und Mahnbuch, hg. von Hugo Grothe, Leipzig 1921. Otto Stolz, Die Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol im Lichte der Urkunden, MünchenBerlin, 4 Bde., 1927-1934, hier Bd. 3, 1931, Vorwort des Verfassers. Otto Stolz, Politisch-historische Landesbeschreibung von Südtirol, Innsbruck 1937, 7. Gernot Heiss, Im „Reich der Unbegreiflichkeiten". Historiker als Konstrukteure Österreichs, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996), 459. Mathilde Uhlirz, Handbuch der Geschichte Österreichs und seiner Nachbarländer Böhmen und Ungarn, Bd. 3: Der Weltkrieg, Graz-Wien-Leipzig 1939, die Zitate 266 bzw. 260. Walter Goldinger, Der geschichtliche Ablauf der Ereignisse in Österreich von 1918 bis 1945, in: Geschichte der Republik Österreich, hg. von Heinrich Benedikt, Wien 1977, 66; ders., Geschichte der Republik Österreich, Wien 1962, 40. Die Zitate ebd. 168 bzw. 147, 169 bzw. 148 und 205 bzw. 183. Ebd., 278 f. bzw. 256 f. Handbuch der historischen Stätten, Bd. 2: Alpenländer mit Südtirol, hg. von Franz Huter, Stuttgart 1966 (21977), die Zitate XIII und XIV. Ebd., 484. Gemot Heiss, Im „Reich der Unbegreiflichkeiten", 470. Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichs Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, die Zitate 271, 416 und 470. Goldinger, Geschichte der Republik Österreich, 282 und 283. Walter Goldinger und Dieter A. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918-1938, Wien 1992, 10. Goldinger, Geschichte der Republik Österreich, 147; Goldinger/Binder, Geschichte der Republik Österreich, 166.

.Bozen und Meran war immer Österreichs Gedankengut"

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Vgl. dazu vor allem: Österreich. Die Zweite Republik, hg. von Erika Weinzierl und Kurt Skalnik, Graz-Wien-Köln 1972 sowie Österreich 1918-1938, hg. von dens. Österreich im 20. Jahrhundert, hg. von Rolf Steininger und Michael Gehler, 2 Bde., Wien Köln-Weimar 1997, Bd. 1, 7. Österreich 1945-1995. Gesellschaft-Politik-Kultur, hg. von Reinhard Sieder, Heinz Steinen und Emmerich Tálos, Wien 1996, darin der Beitrag von Gerhard Baumgartner und Bernhard Perchinig, Vom Staatsvertrag zum Bombenterror. Minderheitenpolitik in Österreich seit 1945,511-524, hier 515 f. Otto Stolz, Geschichte des Landes Tirol, Innsbruck 1955, 311 f. Ebd., die vorhergehenden Zitate 403, 704, 744 und 776. Ebd., 762. Geschichte des Landes Tirol, 4 Bde., Bozen-Innsbruck 1985-1988; darin Bd. 4/1: Othmar Parteli, Südtirol (1918 bis 1970), und Bd. 4/II: Josef Riedmann, Das Bundesland Tirol (1918 bis 1970), Bozen-Innsbruck 1988. Richard Schober, Geschichte des Tiroler Landtages im 19. und 20. Jahrhundert, Innsbruck 1984. Gehler, Tirol. „Land im Gebirge", darin der Beitrag von Gehler, Selbstbestimmung, geistigkulturelle Landeseinheit, Europaregion? Die Tiroler Südtirolpolitik 1945-1998, 569-728. Zeschg Schenk, Südtirol im Spiegel, 149, 189 und 211. Vgl. 1918-1968. Österreich - 50 Jahre Republik, hg. vom Institut für Österreichkunde, Wien 1968. Stuhlpfarrer, Österreichische Südtirolpolitik, 74. Claus Gatterer, Österreich und Südtirol, in: ders., Aufsätze und Reden, Bozen 1991, 225 (ursprünglich in: Die Republik 1972, H. 1, 32). Zit. n. Wolf, Südtirol, 158 f. Nation und Nationalbewußtsein in Österreich. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, hg. von Albert F. Reiterer, Wien 1988, 174 und 182 f. Werthaltungen und Lebensformen in Österreich. Ergebnisse des Sozialen Survey 1986, hg. von Max Haller und Kurt Holm, München-Wien 1987, 277-281. Tiroler Tageszeitung, 14.9.1959, 3; hier auch die folgenden Zitate. Salzburger Nachrichten, 14.9.1959,2. Wiener Zeitung, 13.9.1959, 3. Die Presse, 15.9.1959, 3. Wiener Zeitung, 13.9.1959, 3. Tiroler Tageszeitung, 15.9.1959,2. Vgl. Rolf Steininger, Südtirol im 20. Jahrhundert. Vom Leben und Überleben einer Minderheit, Innsbruck 1997, 522. Tiroler Tageszeitung, 10.9.1984,3. Salzburger Nachrichten, 10.9.1984,4; Die Presse, 10.9.1984, 8; Arbeiter-Zeitung, 10.9.1984, 2; Wiener Zeitung, 11.9.1984, 6. Tiroler Tageszeitung, 12.9.1984, 3; vgl. auch Arbeiter-Zeitung, 12.9.1984, 2. ostarrichi-Österreich 996-1996. Menschen-Mythen-Meilensteine. Katalog der Österreichischen Länderausstellung Neuhofen - St. Pölten, Horn 1996, 5. Ebd., 722-724. Dazu wurden im Jahr 2002 jene Schulbücher durchgesehen, die am Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien aufliegen; als Sample dienten die Bücher für die 4. und für die 7./8. Klasse AHS. Huber/Huber/Gusenbauer/Kowalski, einst und heute 4, Wien 1998, 27. Hugo Portisch, Österreich II. Der lange Weg zur Freiheit, Wien 1986, 238-258, und ders., Österreich II. Jahre des Aufbruchs, Jahre des Umbruchs, Wien 1996, 147-170. Als im Frühjahr 2002 Südtirol kurzfristig von den ORF-Karten verschwand, wurde dies südlich des Brenners sofort beanstandet und hatte ein Protestschreiben von Landeshauptmann

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Dumwalder zur Folge. ORF-Informationsintendant Draxler beschwichtigte, dass es sich dabei nur um ein technisches Problem handle; es sei „in unserem Interesse, wenn Südtirol auch hier präsent bleibt. Und es wird es auch bleiben." Dolomiten, 15.5.2002, 13. " 4 Die nachfolgende Recherche wurde im Internet stichprobenartig bei Unternehmen aus verschiedenen Bundesländern durchgeführt. Zumal die Veranstalter nach Abwicklung der Reise das entsprechende Programm in der Regel aus ihrem Internetauftritt entfernen, können die hier angeführten Zitate und Angaben mitunter nicht mehr online verifiziert werden. " 5 www.ebnerreisen.at 116 www.weiermair.at 1,7 www.gruberreisen.at "s www.hoedlreisen.at i" Peter Gerlich, Nationalbewußtsein und nationale Identität in Österreich. Ein Beitrag zur politischen Kultur des Parteiensystems, in: Das österreichische Parteiensystem, hg. von Anton Pelinka und Fritz Plasser, Wien 1988, 237. 120 Lust auf Leben, in: Südtirol Panorama, Nr. 7/04, 15. 121 Vgl. dazu die diversen Umfrageergebnisse, zusammengestellt bei Bruckmüller, Nation Österreich, 61-67. 122 Schriftliche Mitteilung von Herrn Franz Schuller, Stadt Wien/MA 7 - Kultur, vom 9.2.2001. 123 Dolomiten, 15./16.6.2002, 19, Rede von Andreas Khol im Nationalrat anlässlich des 10. Jahrestages der Streitbeilegung. 124 Vgl. Gehler, Selbstbestimmung, geistig-kulturelle Landeseinheit, Europaregion?, bes. 6 8 0 690. Zu den forcierten grenzüberschreitenden Initiativen zählt nicht zuletzt die eingangs erwähnte, seit Mai 2000 produzierte ORF-Sendung „Südtirol heute", deren Ziel es ist, „das Verständnis der beiden Landesteile zu verbessern." ORF-Landesintendant Adrowitzer in: Dolomiten, 3.5.2000, 29. 125 Tiroler Tageszeitung, 20.8.2001, 4. 126 Gemeint sind hier vor allem der gescheiterte Zusammenschluss zwischen der Südtiroler Sparkasse und der Hypo Tirol Bank AG im Rahmen einer Holding im Jahr 2001 und die dabei von Seiten der Tiroler Gegner des Projektes verwendeten Bilder von den Südtirolern als „Walsche". Vgl. dazu Benedikt Sauer und Michael Sprenger. Dreierwatter. Banken, Macht und Politik rund um die Brennerachse, Innsbruck 2003, bes. 89 f.

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Brücke oder Bollwerk? Grenzland Österreich-Ungarn In den vergangenen Jahrhunderten haben wir unsere Aufgabe erfüllt, wir haben den Osten und den Westen voneinander getrennt und sie einander näher gebracht. (György Konrád)

Im politischen Gedächtnis der Zweiten Republik wird Ungarn in erster Linie mit der Revolution des Jahres 1956 und der auf ihre Niederschlagung folgenden Massenflucht nach Österreich assoziiert: Bereits im Jahr nach Erlangen der Unabhängigkeit und vollständigen Souveränität durch den Staatsvertrag und der Erklärung der immerwährenden Neutralität musste letztere während der so genannten Ungarn-Krise unter internationaler Aufmerksamkeit in die politische Praxis umgesetzt werden. 1 Im Herbst des Jahres 1956 wurde die österreichisch-ungarische Grenze damit auch für Österreich zu einer „symbolischen" Grenze. 2 Über die Definition der Neutralitätspolitik wurde die Rolle des Landes in der europäischen und aufgrund der Blockgrenzen auch globalen - Nachkriegspolitik bestimmt und dadurch ein Muster für das österreichische Agieren in folgenden, vergleichbaren Situationen entwickelt: gegenüber der Tschechoslowakei 1968, Polen 1980 und schließlich Rumänien 1989.3 Dass Österreich mit den beiden letzteren Staaten keine gemeinsame Grenze hat, verweist über die Rolle der jeweils damit verbundenen Flüchtlingsproblematik umso mehr auf die Frage nach einer mentalen Ostgrenze 4 und deren Bedeutung für österreichische Identitätsentwürfe der Zweiten Republik. Im Jahr 1989 durchtrennte der damalige Außenminister Alois Mock in einem feierlichen Akt gemeinsam mit seinem Amtskollegen Gyula Horn, dem späteren Ministerpräsidenten Ungarns (1994-1998), ein Stück des Maschendrahtzauns beim Grenzübergang Sopron/Klingenbach. Dieser symbolische Abschluss der Periode der Teilung Europas - an einem der verbliebenen Reste des einstmaligen „Eisernen Vorhangs" - fand wiederum an der österreichischen Grenze mit Ungarn statt. 5 Der österreichische Außenminister bezeichnete diesen Moment als den „schönste(n) Augenblick in meiner politischen und diplomatischen Laufbahn" und stellte fest: „Wenn es aber einen historischen Augenblick gibt, dann ist es das heutige Ereignis - für die Ost-West-Beziehungen in ihrer Gesamtheit!" 6

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Alois Mock und Gyula Horn tragen die Erinnerung an 1989. Veranstaltung „15 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs", St. Margarethen, 27. Juni 2004

Deutlicher als mit diesem offiziellen Akt wird das Ende der politisch bipolar geprägten Nachkriegszeit Europas im öffentlichen Bewusstsein aber mit der Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze für DDR-Flüchtlinge im Spätsommer desselben Jahres in Verbindung gebracht. Stellvertretend für viele Belege aus Publizistik und Reiseliteratur kann man etwa im Dumont Reisetaschenbuch Ungarn über dieses Ereignis Folgendes lesen: „In der Nacht zum 11. September 1989 hörte der Ostblock im ursprünglichen Sinne des Wortes auf zu existieren; Ungarn öffnete seine Grenzen für ausreisewillige DDR-Bürger." 7 Der ungarischen Entscheidung, die DDR-Flüchtlinge ungehindert ausreisen zu lassen, wird auch von Historikerinnen entscheidende Bedeutung für den Zerfall des „sowjetischen Imperiums" beigemessen: „Diese Entscheidung [...] beschleunigte darüber hinaus zweifellos auch den Zusammenbruch des maroden Honecker-Regimes und die Schaffung der deutschen Einheit." 8 Mit der Flucht der DDR-Bürger/innen - Symbol eines Endes der Blockgrenzen und zugleich Ausgangspunkt für die Redefinition der Rolle Österreichs in einem neu gestalteten Europa - steht die österreichisch-ungarische Grenze auch im Zentrum der politischen Neuordnung nach 1989. Die Rollendefinition Österreichs in Hinblick auf den benachbarten „Osten" seit 1945 soll deshalb rekonstruiert werden - entlang realer ebenso wie entlang mentaler Grenzen, die die beiden Staaten trennen oder über die sie verbunden sind.

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Humanitäre Hilfe als politische Identität der Zweiten Republik: Die Folgen der ungarischen Revolution 1956 für Österreich In der rückblickenden Darstellung wird die österreichische Politik des Jahres 1956, vor allem die Aufnahme der ungarischen Flüchtlinge, häufig als Beginn der erfolgreichen Definition einer eigenständigen neutralen Rolle des Landes im Westen Europas bezeichnet: „Wahrscheinlich waren die Ereignisse des Jahres 1956 für Österreich nicht weniger bedeutend als Staatsvertrag und Neutralität." 9 In dieser Bewertung stimmen Historiker - „Nicht in Panzern und Soldaten wurde die Bereitschaft zur Verteidigung der Freiheit gemessen, sondern in Tonnen von Hilfsgütern und den Millionen der Geldspenden" 10 - und Zeitzeugen überein: „Durch die Ungarische Revolution, durch unser starkes humanitäres Engagement, durch unser großzügiges Asylrecht, auch dadurch, dass wir bei den Vereinten Nationen als Mitsponsor der Resolution gegen die Sowjetunion aufgetreten sind [...] und das Risiko [...] einer ungewissen Reaktion der Sowjetunion auf uns genommen haben: Dadurch haben wir eigentlich erst begonnen, im Westen, in der übrigen Staatenwelt Profil zu bekommen als eine Neutralität, die keineswegs stille sitzen will, die sich was traut, die wirklich auf Unabhängigkeit aus ist. Wir wären, glaub' ich, ohne der Ungarischen Revolution lange, lange weit stärker im Schatten der Schweiz gestanden." 11 In dieser Zusammenfassung der Bedeutung des Jahres 1956 weist der Diplomat, ehemalige Außenminister und langjährige, sehr populäre Bundespräsident Rudolf Kirchschläger deutlich auf die identitätsstiftende Komponente der ungarischen Revolution und ihrer Niederschlagung durch die Sowjetunion für Österreich hin: Erstens für die Bestätigung der österreichischen Westbindung die militärischen „Reaktionen" der Sowjetunion verblieben auch in Hinkunft innerhalb ihres europäischen Einflussbereiches, die Blockgrenzen galten, ein Jahr nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Österreich, auch gegenüber dem neutralen Land am „Eisernen Vorhang". Zweitens für die inhaltliche Bestimmung der österreichischen Neutralität als humanitäre Hilfe - aufgrund der massiven Flüchtlingsbewegungen nach der Niederschlagung der Revolution „wurde die Ungarnhilfe ein Gradmesser des österreichischen Selbstverständnisses und auch der neutralen Haltung". 12 Drittens für die Vermittlerrolle gegenüber dem Osten Europas: „Österreich verstand sich im Falle des Ungarnaufstandes als bedeutsamer politischer Vermittler, der mit dem mutigen Regierungsappell an die Sowjetunion nicht nur die Aufmerksamkeit und Anerkennung der westlichen Welt zu erringen vermochte, sondern auch seine politische Position als neutraler Staat auszuloten versuchte und ein klares Bekenntnis zur Westintegration ablegte." 13 Vor allem im Bereich der humanitären Hilfe für Flüchtlinge ist im österreichischen Selbstbild seither die internationale Vorbildwirkung eines „kleinen neutralen Landes im Herzen Europas" fest verankert: „Also ich glaube, wir hatten da große Beispielswirkung." 14

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Beide Motive finden sich wohl deshalb auch im 3. Teil des Spielfilms „Der Bockerer" (Österreich 1999, Regie: Franz Antel). Die gleichnamige Hauptfigur (ein Fleischhauer), dargestellt durch den bekannten österreichischen Schauspieler Karl Merkatz, wird durch eine „Einkaufsreise" seines Sohnes nach Ungarn in die revolutionären Ereignisse verwickelt: Eine Liebesgeschichte führt den Sohn an die Seite der aufständischen Ungarn und in der Folge beide Bockerer zu spontaner Fluchthilfe vor den heranrückenden sowjetischen Truppen. Die Bedeutung des historischen Selbstbildes Österreichs als in der Flüchtlingshilfe engagiertes humanitäres Land zeigt sich jedoch nicht nur in Repräsentationen der Populärkultur, sie ist vor allem auch Bestandteil des politischen Diskurses. Dies kam etwa in der Ansprache des Bundespräsidenten Thomas Klestil im Rahmen einer gemeinsamen Festsitzung von National- und Bundesrat am 27. April 1995 aus Anlass des 50. Jahrestages der Gründung der Zweiten Republik zum Ausdruck, in der er auf eben diesen Aspekt des österreichischen Selbstbildes Bezug nahm: „So ist die Zweite Republik nicht nur ihren Bürgern eine Heimat geworden. Ihr Werden und Wachsen ist auch eine Erfolgsgeschichte internationaler Solidarität. Es war der Marshallplan, der den hungernden und frierenden Menschen das Leben wiedergab. Die Österreicher haben das nicht vergessen. So wurde die Solidarität auch unser erfolgreichster Dienst an der Nachkriegspolitik: Ich erinnere an die ungezählten verzweifelten Nachbarn in Not, die auf unsere Nächstenhilfe vertrauen konnten; an die Fürsorge für Hunderttausende Flüchtlinge aus dem Osten." 15 Zehn Jahre später, zum 60. Jubiläum der Gründung der Zweiten Republik, bezog sich Bundespräsident Heinz Fischer auf eben dieses Selbstbild: „Ich halte es für wichtig, dass unser Interesse nicht an den Grenzen Europas halt macht, sondern dass unser Engagement für Menschenrechte, unser Engagement für Frieden, unser Engagement für Gerechtigkeit und Menschenwürde ein globales ist." 16 Die politische Rolle Österreichs während der Ungarischen Revolution 1956 wurde auch vom UNHCR als Beleg für die „humanitären Leistungen" und vor allem als Beispiel für Aufrufe zu einer aufgeschlossenen Haltung gegenüber Flüchtlingen herangezogen: „So wie es 1956 und 1968 undenkbar war, Ungarn bzw. Tschechen zwangsweise zurückzuführen, ist es heute nicht zu verantworten, abgelehnte Asylwerber in Krisenregionen zurückzuschieben." 17 Die Berufung auf die Tradition Österreichs als humanitäres Land, das besonders in der Flüchtlingsbetreuung gewirkt habe, dient(e) aber auch jenen als Argument, die in „Sorge [...], daß Österreich - zu seinem eigenen Schaden - an Menschlichkeit verlieren könnte" 18 gegen das Abrücken von humanitären Standards argumentierten. Verweise auf das Jahr 1956 tauchen auch in Verbindung mit Hilfsaktionen der jüngeren Zeit auf, etwa im Kontext der Aktion „Nachbar in Not" zugunsten der Opfer des von Kriegen begleiteten Zerfalls des sozialistischen Jugoslawien, oder besonders in Verbindung mit der Aufnahme von DDR-Flüchtlingen aus

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Ungarn infolge der Grenzöffnung des Jahres 1989: Bewohner/innen der burgenländischen Grenzgemeinde Lutzmannsburg verglichen etwa - in einer Gruppendiskussion im Rahmen des Projekts „Die österreichische West-OstGrenze"' 9 - die Grenzöffnung 1989 mit der Situation nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956. Sie erzählten, dass Frauenverein, Pfarre und Gemeinde ihre Hilfeleistung nach diesem Vorbild organisiert hätten. Die damit verbundenen Erlebnisse wurden als sehr berührend empfunden und mit Erinnerungen an die Flüchtlinge des Jahres 1956 verknüpft. Ein Vergleich dieser Erzählungen mit zeitgenössischen Darstellungen der damaligen Ungarnhilfe verweist tatsächlich auf Parallelen: „Viele österreichische Haushalte nahmen ungarische Flüchtlinge für längere Zeit auf und versorgten sie oft durch Monate hindurch auf eigene Kosten. Besonders die Bevölkerung des Burgenlandes muß hier hervorgehoben werden." 20

Ein Bild spontaner Hilfsbereitschaft: Ungarnhilfe 1956

Diesen Alltagserfahrungen entsprechen strukturelle Ähnlichkeiten der österreichischen Hilfeleistungen nach dem Muster des Jahres 1956: Österreich definierte seine Rolle für die Flüchtlinge auch in Hinkunft - etwa gegenüber den tschechoslowakischen Flüchtlingen des Jahres 1968 - vor allem als „Erstasyl-

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land" bzw. Transitland für Flüchtlinge. Wo dies aufgrund der internationalen politischen Rahmenbedingungen nicht möglich war (etwa gegenüber den Polenflüchtlingen des Jahres 1980, den Rumänienflüchtlingen 1989 oder gegenüber jenen der so genannten Balkankriege, die den Zerfall Jugoslawiens begleiteten), richteten sich die österreichischen Hilfsaktionen überwiegend auf eine humanitäre Hilfe zur Erleichterung der Lebensumstände im jeweiligen Land. Österreichs öffentliche Meinung und Politik begegneten den hier eintreffenden Flüchtlingen hingegen bald mit Misstrauen und Ablehnung. 21 Diese Einschränkungen der humanitären Rolle Österreichs, auch aufgrund von wachsenden Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen, 22 wurden in der innenpolitischen Auseinandersetzung der letzten Jahrzehnte - vor allem auch auf Druck der FPÖ unter Jörg Haider (vgl. etwa das von der FPÖ initiierte, von xenophoben Ressentiments getragene Volksbegehren „Österreich zuerst" 1993) - zum politischen Programm erhoben und bestimmen zunehmend die österreichische Flüchtlingspolitik. Das diesbezügliche Selbstbild der Österreicher/innen scheinen diese Entwicklungen jedoch ebenso wenig zu beschädigen wie das internationale Image des Landes; dies lässt sich auch noch an der Darstellung von Österreichs Politik des Jahres 1956 in aktuellen Publikationen nachvollziehen: „[...] unternahm das österreichische Volk mit Unterstützung der österreichischen Regierung alles in seiner Macht Stehende, um seinen ungarischen Nachbarn bei der Flucht vor kommunistischer Verfolgung und Rache zu helfen. Rund 150.000 ungarischen Flüchtlingen wurde während dieses traumatischen Herbsts Asyl gewährt, und viele von ihnen wurden durch die Minenfelder an der Grenze in die Sicherheit gelotst. Das geschah natürlich weitgehend zum Missfallen der Sowjetunion, deren Truppen erst zwölf Monate zuvor aus Österreich abgezogen waren. Insgesamt war es eine entschlossene ideologische Geste und eine frühe Erfüllung von Raabs Versprechen dem Westen gegenüber, daß politische Neutralität die Österreicher nicht dazu verpflichtet, auch in ihren Gedanken neutral zu sein." 23

1956: Identitätspolitik und „Realpolitik" Ein genauerer Blick auf die österreichische Politik des Jahres 1956 - den seit jüngster Zeit eine Reihe „mikrohistorischer" Untersuchungen und Dokumentationen erlaubt 24 - zeigt, im Gegensatz zu den zitierten Erinnerungen von Zeitzeugen und einer identitätsstiftenden Historisierung der österreichischen Haltung, dass auch damals eine Ambivalenz von Öffentlichkeit und Politik gegenüber den Ereignissen in Ungarn bestand. Die österreichisch-ungarische Grenze - im Kontext des Kalten Krieges Teil der an Österreichs Ostgrenzen verlaufenden Trennlinie der beiden Blöcke - war bereits im Frühjahr des Jahres 1956 in den Blickpunkt des innenpolitischen Interesses gerückt: Durch einen ersten Rückbau des „Eisernen Vorhangs" und

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einen Abbau sowie eine Umstrukturierung der ungarischen Grenzwache war die Grenze durchlässiger geworden. Schon ab diesem Zeitpunkt stieg die Zahl der ungarischen Flüchtlinge von einem Durchschnitt von 200 ab Mai des Jahres auf 1.000 pro Monat. 25 Der von Ungarn als Teil des „Eisernen Vorhangs" an der österreichischen und der jugoslawischen Grenze, den politischen „Westgrenzen", im April 1949 begonnene und erst 1953 abgeschlossene Aufbau so genannter technischer Grenzsperren - bestehend aus Stacheldraht- und Minengürtel sowie Wachtürmen - hatte den Grenzübertritt auch für die lokale Bevölkerung, die bis dahin die Grenze regelmäßig überschritt, „immer schwieriger [...] und schließlich unmöglich" gemacht. 26 Als Folge des innenpolitischen Entspannungsprozesses in Ungarn nach dem Tod Stalins wurde jedoch schon im Jahr 1955 ein Abbau der Grenzsperren beschlossen und noch im selben Jahr begonnen: „Der Vorsitzende des ungarischen Ministerrats, András Hegedüs, kündigte am 9. Mai 1956 gar die Beseitigung des Minengürtels gegenüber Österreich, der seit seiner Einrichtung allein auf österreichischer Seite etwa 200 Tote und Verwundete gefordert hatte, innerhalb dreier Monate an (diese Arbeit wurde in der zweiten Septemberhälfte tatsächlich beendet)." 27 Den in Zusammenhang mit der späteren Massenflucht über diese Grenze immer wieder erwähnten Minengürtel gab es demnach zum Zeitpunkt der Fluchtbewegung nicht mehr. Als Ersatz für den Abbau von Stacheldraht und Minengürtel sowie für eine Verlegung von Wachtürmen ins Landesinnere, oder als Ausdruck einer widersprüchlichen ungarischen Politik an den „Westgrenzen", sollten diese statt dessen ab 1956 durch eine Verstärkung der Wachmannschaften und den Einsatz von Wachhunden vor allem gegen Schmuggelaktivitäten gesichert werden. 28 Diese veränderte Definition der Grenzsicherungsaufgaben gegenüber - in chronologischer Folge Jugoslawien (aufgrund von dessen Blockfreiheit) und Österreich kann auch als außenpolitische Folge von Staatsvertrag und Neutralität Österreichs und des damit verbundenen Abzugs der sowjetischen Besatzungstruppen angesehen werden: Mit der Entstalinisierung wurden von der ungarischen Bevölkerung bereits 1955 Hoffnungen auf einen, diesem Beispiel folgenden, größeren außenpolitischen Handlungsspielraum verbunden. 29 In Österreich hatten seit dem Frühjahr 1956 anwachsende Flüchtlingszahlen bereits im Mai des Jahres Diskussionen um eine ökonomische Überforderung des Landes durch die Flüchtlinge und eine internationale Finanzierung ihrer Betreuung durch die gesamte „freie Welt" ausgelöst. 30 Der österreichische Innenminister Oskar Helmer sah sich zu einer diesbezüglichen Presseaussendung am 20. Oktober, nur wenige Tage vor Ausbruch der Revolution, veranlasst. 31 Die darin zum Ausdruck gebrachte unsichere bzw. abwehrende österreichische Reaktion auf die Folgen der Entstalinisierung in Ungarn kennzeichnet auch die österreichische Politik während der gesamten folgenden Entwicklungen. Auf den Beginn der Revolution am 23. Oktober reagierten Regierung und Bevölkerung zunächst mit großer Sympathie: Bundeskanzler Julius Raab ge-

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dachte in einer Erklärung vom 26. Oktober „ehrfurchtsvoll der blutigen Freiheitsopfer, die vom ungarischen Nachbarvolk gebracht werden" 32 und zwei Minister reisten persönlich nach Gyôr, um sich ein Bild der Lage zu machen. 33 Zeitzeugen erinnern sich an spontane Sympathiekundgebungen der Bevölkerung: „Das war ja [...] so beim ungarischen Volksaufstand, die Bevölkerung ist ja (wild) mitgegangen, die russische Botschaft ist beinahe gestürmt worden und die kommunistischen Parteilokale und alles mögliche [,..]."34 Die Regierung bemühte sich - trotz der Übergabe einer österreichischen Protestnote an den sowjetischen Botschafter und der von Rudolf Kirchschläger hervorgehobenen Beteiligung an der ersten UNO-Resolution - bald um eine neutrale Haltung: Die beiden österreichischen Minister wurden von Julius Raab „unverzüglich" aus Gyôr zurückberufen und der aus dem Schweizer Exil nach Wien gereiste Ministerpräsident der dritten ungarischen Nachkriegsregierung, Ferenc Nagy (ein Vertreter der inzwischen verbotenen Kleinlandwirtepartei) wurde binnen weniger Stunden zur Rückkehr bewogen. Am 28. Oktober erklärte die österreichische Regierung die Grenzzone zum Sperrgebiet und „am 3. November, als sowjetische Panzer begannen, die österreichisch-ungarische Grenze abzuriegeln, erging an die österreichische Presse ein Appell zur Mäßigung in der Berichterstattung". Damit reagierte die Bundesregierung auch auf Vorwürfe des sowjetischen Botschafters - die in Österreich von der kommunistischen Tageszeitung „Volksstimme" publiziert wurden - , „bewaffnete Banden" seien über die österreichische Grenze nach Ungarn eingedrungen bzw. „faschistische ungarische Organisationen" hätten „Interventionstruppen" in Süddeutschland und Österreich stationiert. 35 Diese Maßnahmen der österreichischen Regierung hinderten den nach der Niederwerfung der Revolution in Ungarn eingesetzten Ministerpräsidenten János Kádár nicht, bereits tags darauf den Vorwurf einer Neutralitätsverletzung durch Österreich zu formulieren. Trotz sowjetischer Grenzsperren setzte am 4. November eine Massenfluchtbewegung aus Ungarn über die österreichische Grenze ein: Allein an diesem ersten Tag überschritten mehr als 10.000 Flüchtlinge die Grenze, die nicht nur wegen des erwähnten Abbaus des „ersten Eisernen Vorhangs" und der organisatorischen und politischen Unsicherheiten der ungarischen Grenztruppen durchlässig war: „Nach der Phase der relativen Offenheit der Grenzen in den Revolutionstagen zwischen dem 23. Oktober und dem 4. November war die Grenze wieder von regimetreuen und Sowjetsoldaten besetzt, doch behinderten auch diese anfänglich die Flüchtlinge kaum: Gegen Abgabe der Wertsachen ließen die Grenzer sie meistens ziehen." 36 Insgesamt kamen auf diesem Wege etwa 200.000 Flüchtlinge aus Ungarn nach Österreich: „Für den Westen standen nach der Niederlage der Revolution zunächst die Hilfslieferungen und die bis Mitte Dezember nicht abebbende Flüchtlingswelle im Vordergrund. Österreich, von der Viermächtebesatzung erst kurz zuvor befreit, war kaum in der Lage, die Massen der geflohenen Ungarn in den Flüchtlingslagern zu versorgen. Dieser Flüchtlingsstrom war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die erste bedeuten-

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de .Migrationswelle'. Es gab noch keine internationalen Mechanismen zur Bewältigung einer solchen Situation." 37 Die Massenflucht der ungarischen Bevölkerung setzte die österreichische Regierung damit außen- wie innenpolitischen Problemen aus. Außenpolitisch orientierte Österreich seine Haltung gegenüber Ungarn öffentlich einerseits klar an westlichen Positionen, indem es sowohl 1956 - wie von Rudolf Kirchschläger erwähnt - als auch 1957 für UNO-Resolutionsentwürfe stimmte, die das Vorgehen der Sowjetunion verurteilten und den Abzug der sowjetischen Truppen forderten. 38 Zwar übte Ungarn offiziell Kritik an dieser österreichischen Haltung und erhob Vorwürfe, wie den der Behinderung der Rückkehr von geflohenen Jugendlichen durch die österreichischen Behörden. 3 9 Dennoch fanden auf Initiative Ungarns zwischen Außenminister Imre Horváth und Leopold Figi Geheimgespräche statt. In diesen Gesprächen bejahten „beide Seiten die Notwendigkeit einer Normalisierung der Beziehungen prinzipiell". 40 Bereits 1959 wurden die ersten zwischenstaatlichen Abkommen zwischen Österreich und Ungarn seit Kriegsende in den Bereichen Luftfahrt, Transit und Handel geschlossen. Diese „Normalisierung" der Beziehungen bildete eine Basis für die wohl einzigartig enge Zusammenarbeit der beiden Staaten über die Blockgrenzen hinweg von Beginn der 1960er-Jahre an. 41

Ungarnflüchtlinge - medial wirksame Bilder

Die politischen Erfolge einer raschen Normalisierung der Beziehungen zu Ungarn und der - trotz der geäußerten Kritik - stabilen Beziehungen zur Sowjetunion wurden durch einen Imagegewinn Österreichs im Westen vervollstän-

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digt. Wenn auch, vor allem anfangs, nur spärliche internationale Hilfeleistungen zur Versorgung der Flüchtlinge eintrafen, 42 so sind doch die damit verbundenen symbolischen Gesten der Anerkennung Österreichs in ihrer Wirkung auf das österreichische Selbstbild kaum zu überschätzen: Dies trifft besonders auf den Besuch des damaligen US-Vizepräsidenten Richard Nixon in Österreich im Dezember 1956 zu. Neben einem Scheck über 450.000 US $ für die Flüchtlingshilfe überbrachte er auch eine Note des amerikanischen Präsidenten Eisenhower an die österreichische Bundesregierung. Eisenhower formulierte in dieser Note u.a: „Sie können auch der tiefen Bewunderung gewiß sein, die das mutige und menschliche Verhalten der österreichischen Regierung und des österreichischen Volkes, die diesen heldenhaften Menschen Asyl zuteil werden ließ, in Amerika hervorgerufen hat." 43 Als Teil seines vorweihnachtlichen Österreich-Aufenthaltes besuchte Nixon auch das Burgenland, um in einem Flüchtlingslager in Eisenstadt und an der Grenze in Andau ein Bild der Situation zu erhalten, aber auch um „medial nachhaltige Bilder" 44 davon in Umlauf zu setzen und damit das Meinungsklima in den USA für eine großzügige Aufnahme von Ungarn-Flüchtlingen positiv zu beeinflussen. Für den Besuch der Grenze erschien Andau als besonders eindrucksvoller Ort, mussten die Flüchtlinge dort doch den sogenannten EinserKanal, einen schmalen Durchfluss zum Neusiedlersee, passieren, was durch eine von österreichischer Seite eigens dafür aufgebaute Behelfsbrücke erleichtert wurde: die Konzentration von Flüchtlingen an diesem Übergang sorgte für entsprechend eindrucksvolle Bilder. Die „Brücke von Andau" ist damit zu einem Symbol der österreichischen Flüchtlingshilfe geworden. Als Titel eines Buches des amerikanischen Bestsellerautors James A. Michener 45 über die Revolution in Ungarn erfuhr dieses Symbol zudem eine weltweite Verbreitung. Die Symbolik der „Brücke von Andau" wurde 1992 auch von einer unter dieser Bezeichnung gegründeten Gesellschaft für Internationale Verständigung wieder aufgenommen, die seither in Andau ein jährliches Treffen bildender Künstler/ innen, als künstlerische „Brücke" über die ehemaligen Blockgrenzen hinweg, veranstaltet. 46 „Heuer ist die Brücke wiedererrichtet worden, auf Initiative der Künstlergruppe, die sich gleichfalls ,Brücke von Andau' nennt und in Kooperation burgenländischer und ungarischer Behörden", war darüber im „Standard" vom 5. November 1996 im Rahmen einer Serie zum 40. Jahrestag der Ungarischen Revolution zu lesen. Die Anerkennung des Westens für den 1956 eingeschlagenen „österreichischen Weg" der Neutralitätspolitik, die Stabilität der Beziehungen zu den östlichen Nachbarn über die Blockgrenzen hinweg und nicht zuletzt die Bestätigung der - von diesen östlichen Nachbarstaaten „beneideten" - Position als einziges Land, aus dem die sowjetischen Truppen nach 1945 freiwillig abgezogen waren und das seinen politischen Weg nunmehr tatsächlich selbst bestimmen konnte, bildeten die Grundlagen eines neu gewonnenen Selbstbewusstseins der Zweiten Republik. Dieses kam auch unmittelbar in der veröffentlichten

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Meinung zum Ausdruck: „Im Falle der Ungarn-Flüchtlinge 1956/57 war die Berichterstattung in den einzelnen Medien geprägt durch die Politik des Kalten Krieges und den Staatsvertrag, den Österreich kurz zuvor unterzeichnet hatte. Die Freude über die wiedererlangte Freiheit im Anschluß an die zehnjährige Besatzungszeit ließ Österreich als politischen Gewinner gegenüber Ungarn erscheinen [...].'"" Die erfolgreiche Mischung aus Engagement auf Seiten des Westens und geopolitisch durch die Lage an der Blockgrenze bedingter „Realpolitik" wurde damit zum langjährigen Muster der österreichischen Außenpolitik.

Die Brücke von Andau 1956 und ihre künstlerische Neuinstallation 1996

Mit der raschen Verbesserung seiner Beziehungen zu Ungarn hatte sich in Österreich zudem ein Selbstbild verfestigt, das bereits als Ergebnis der erfolgreichen Staatsvertragsverhandlungen geprägt worden war: „Die Ereignisse des Jahres 1955 verstärkten die immer wieder in der österreichischen Geschichte auftau-

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chende Idee, dass der Österreicher eine historisch erlernte besondere Fähigkeit zur Vermittlung zwischen dem Osten und dem Westen Europas besitze, die sich im wesentlichen aus den Erfahrungen eines permanenten religiösen, ethnischen und politischen Pluralismus in der eigenen Geschichte erklären läßt."48 Die Rolle eines Vermittlers zwischen Westen und Osten wurde für Österreich vor allem auch unter dem Eindruck der Bewältigung der so genannten Ungarn-Krise des Jahres 1956 zu einem identitätsstiftenden Element der Zweiten Republik. Dieses nationale Selbstbild bestimmte nicht nur die österreichische Mitteleuropadebatte, 49 es fand auch Eingang in das Fremdbild der Zweiten Republik: Darauf verweist etwa die 1991 abgegebene offizielle Stellungnahme der EG-Kommission zum österreichischen Beitrittsansuchen 1989.50 Österreich scheint sich allerdings nach dem EU-Beitritt von seinem offiziell immer noch bekundeten, traditionellen Selbstbild einer Brücke in den Osten Europas - etwa als „Advokat" der Beitrittskandidaten innerhalb der EU - durch seine wenig konstruktiven politischen Verhandlungspositionen gegenüber seinen mittelosteuropäischen Nachbarstaaten und die kontinuierliche Konstruktion negativer Fremdbilder verabschiedet zu haben. 51 Österreich erlebte 1956 aber nicht bloß den ersten Neutralitätsfall in seiner unmittelbaren Nachbarschaft und begründete daraus im Wesentlichen seine außenpolitische Rolle; die Konzeption der österreichischen Neutralität selbst entwickelte zugleich eine politische Vorbildwirkung. Der Ministerpräsident der ungarischen Revolutionsregierung, Imre Nagy, hatte am 1. November Ungarns Austritt aus dem Warschauer Pakt und die Neutralität als außenpolitische Neuorientierung Ungarns verkündet. Seine Überlegungen sahen Ungarn als logische Ergänzung einer „neutralen Zone" zwischen den Blöcken, die damit von Jugoslawien bis in die Schweiz reichen würde. 52 Aus derartigen Gedanken hat sich für Österreich wohl eine weitere identitätsstiftende Komponente des Jahres 1956 für die Nachkriegszeit ergeben: die Neutralität, an deren freiwillige Beschlussfassung Staatsvertrag und Souveränität dennoch gebunden waren, 53 dürfte mit dem vergeblichen Bemühen der ungarischen Revolutionsregierung um diesen Status - und den Schutz, den er gegen eine sowjetische Intervention gewährte - für Österreich einiges an Anziehungskraft gewonnen haben. Dieses neu gewonnene österreichische Selbstbewusstsein als neutraler Staat kam wohl auch in Julius Raabs - verspätetem - Vorschlag eines Neutralitätsstatus für Ungarn im Jänner 1957 zum Ausdruck. 54

„Flüchtlinge haben auch Pflichten"55 Auch in Bezug auf die Aufnahme der Ungarnflüchtlinge in Österreich ergibt die mikrohistorische Perspektive ein differenzierteres Bild. Dieses ergänzt die „Erzählung" von deren einhellig positiver Aufnahme um die Probleme der Flüchtlingshilfe und die auch daraus entstandene „Kritik" an den Flüchtlingen.

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Der überwiegende Teil der Flüchtlinge kam im November und Dezember 1956 nach Österreich, als 113.810 bzw. 49.750 Personen aus Ungarn um Asyl ansuchten. Bis zur Weiterreise in Drittländer - nur etwa 10% oder ca. 18.000 Ungarnflüchtlinge blieben schließlich in Österreich - mussten diese betreut werden, wobei der Großteil nach einer Erstversorgung in meist von den Sowjetsoldaten zurückgelassenen Kasernen untergebracht wurde. Obwohl im selben Zeitraum täglich auch tausende Flüchtlinge aus Österreich Weiterreisen konnten - am 30. November 1956 hatte „die tägliche Auswandererquote mit 5.410 Flüchtlingen ihren Höhepunkt erreicht"- hielten sich durchschnittlich etwa 70.000 Flüchtlinge in Österreich auf. Erst Ende April 1958 waren rund 155.000 Ungarnflüchtlinge, die sich in Österreich aufgehalten hatten, in Drittländer weitergewandert. 56 Diese Zahlen illustrieren das Ausmaß der benötigten Hilfeleistungen, die aufgrund der nur langsam und nicht im erforderlichen Ausmaß eintreffenden internationalen Unterstützung großteils von Österreich bzw. der österreichischen Bevölkerung übernommen wurden: „Die Solidarität der Österreicher war überwältigend, die Hilfsbereitschaft mustergültig und phänomenal, die Spendenbereitschaft enorm und selbst die österreichische Bundesregierung wie die Medien waren darüber, so scheint es, überrascht." 57 Trotz dieser „Spendenfreudigkeit der Österreicher" waren „die Ressourcen des kleinen Staates bald erschöpft", was etwa den damals für die Mobilisierung der Auslandshilfe zuständigen Staatssekretär Bruno Kreisky bereits im November zum verzweifelten Aufruf „Wir brauchen die Hilfe der Welt!"58 veranlasste. Aufgrund dieser ökonomischen Belastungen wurde das zunächst eindeutig positive Bild der Ungarn/innen in der österreichischen Öffentlichkeit als „beispielhafte Helden im Kampf gegen den Kommunismus" bereits ab Ende November 1956 von „Klagen über die hohen Kosten der Flüchtlingsbetreuung" und über „Probleme bei den Weiterreisemöglichkeiten" verdrängt. 59 Die teilweise Überforderung vieler spontan gegründeter Hilfsorganisationen und die am deutlichsten in Traiskirchen, dem größten Flüchtlingslager - auftretenden Probleme im Zusammenleben der Flüchtlinge, die etwa psychische Traumatisierungen und politisch-weltanschauliche Differenzen ebenso umfassten wie die Angst vor eingeschleusten Spitzeln, verdrängten in den Medien die positive Berichterstattung über und die Anteilnahme an den Ereignissen in Ungarn. Dieser Umschwung der öffentlichen Meinung wird besonders an der zur Beschreibung der Flüchtlinge verwendeten Begrifflichkeit deutlich: Konnte man anfangs noch von den „Märtyrern des Freiheitskampfes" lesen, setzten sich ab Ende November Bezeichnungen wie „Völkerwanderung", „Flüchtlingsstrom" oder „Menschenüberschwemmung" durch, „die an Naturkatastrophen erinnerten und dazu angetan waren, die fremdenfeindliche Haltung zu verstärken". 60 Als Ergebnis dieser Entwicklung schlug die Diskussion über mangelnde Ressourcen der Flüchtlingsbetreuung in immer häufiger geäußerte Verdächtigungen gegenüber den Flüchtlingen um: „Manche von ihnen klapperten der

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Reihe nach sämtliche Hilfsstellen ab und kehrten dann mit Spenden beladen zurück, andere trachteten, als ,Flüchtlinge' billig nach Amerika zu kommen." Die in der Folge bei allen vergleichbaren Anlässen in der öffentlichen Diskussion wiederkehrende Unterscheidung zwischen „echten" und „Schein"-Flüchtlingen wurde bereits Ende 1956 als Differenzierung von „Flüchtlingen" und „Emigranten" formuliert - „Richtig zu sieben, war die Kunst" - wobei das negative Bild der Flüchtlinge offenbar im Diskurs der Politiker seinen Ausgang nahm: „Die Sorge vieler Verantwortlicher vor .nicht erwünschten Flüchtlingen' wuchs von Tag zu Tag."61 In der veröffentlichten Meinung ist ab Jänner 1957 zunehmend auch von „sogenannten Flüchtlingen" die Rede, die als „anspruchsvoll" und „undankbar" charakterisiert und - als angebliche Zitate aus dem Meinungsbild der österreichischen Bevölkerung - mit noch übleren Bezeichnungen wie „Parasiten", „Falotten" oder „Gesindel" belegt werden. 62 Im Laufe des Jahres 1957 verfestigte sich ein Meinungsbild, das die „Rolle Österreichs als großzügiger Spender" mit den Flüchtlingen als „Parasiten des österreichischen Wohlfahrtsstaates" ebenso kontrastierte wie mit der „Inaktivität", dem „Desinteresse" und der „mangelnden Unterstützung anderer (westlicher) Staaten". Im politischen Diskurs findet sich dieses Meinungsbild in den Äußerungen von Innenminister Helmer am deutlichsten wieder, der seine Kritik einerseits - etwa in der als Titel dieses Abschnitts zitierten Eingangsformulierung seiner Erklärung vom Jänner 1957 - an die Flüchtlinge, andererseits aber auch an die „freie Welt" richtet: „Österreich hat es satt, für die Flüchtlinge betteln zu müssen." Auch die innenpolitischen Diskussionen über und Reaktionen auf die Flüchtlingsproblematik erscheinen demnach von einer „Doppelstrategie" gekennzeichnet. Dies lässt sich auch an anderen Stellungnahmen Helmers nachvollziehen, der vor Weihnachten 1956 die Grundsätze der österreichischen Asylpolitik folgendermaßen zusammenfasste: „Wir betrachten die Asylgewährung nicht nur als demokratische und gesetzlich verankerte internationale Pflicht, sondern wir sehen in ihr eine tiefe menschliche und moralische Verpflichtung." 63 In diesem doppelten Diskurs wird einerseits das Vorbildhafte der österreichischen Politik - erfolgreich - hervorgehoben: „Österreich heimste Lorbeeren auf dem internationalen Parkett ein, sonnte sich im Lichte der ,Kalten KriegMentalität', da man geholfen habe, das andere System als das endgültig Böse hingestellt zu haben und jeden einzelnen Flüchtling als Beweis dafür präsentieren zu können." 64 Andererseits dient dieses positive Selbstbild als Rechtfertigung von Kritik und Vorurteilen gegenüber den Flüchtlingen. Diese Bedeutung des Jahres 1956 für das österreichische Selbstbild als Land beispielhafter humanitärer Hilfe lässt sich auch an der offiziellen Gedächtnispolitik illustrieren: Im Herbst 1981 wurde anlässlich der 25.Wiederkehr dieses Ereignisses ein privater Spendenaufruf für die Errichtung eines Denkmals zur Erinnerung an die Revolution in Ungarn publiziert. Obwohl eine Baugenehmigung für die Errichtung des Denkmals in der Gemeinde Heiligenbrunn vorlag,

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wurden wegen „diplomatischer Bedenken" das Außenministerium und der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes eingeschaltet: Langwierige Verhandlungen zwischen der Denkmalinitiative und Bundes- sowie Landespolitikern führten schließlich - und angeblich nur aufgrund der Unterstützung durch Bundespräsident Kirchschläger - erst 1984 zur Enthüllung einer Gedenktafel am Gebäude des Roten Kreuzes in Eisenstadt. Und auch diese war nur mit einer „zensurierten" Inschrift realisierbar: Während im ursprünglichen Entwurf das Andenken an die „Helden" der Revolution mit jenem an die österreichischen Flüchtlingshelfer verbunden war, konnte zuletzt nur die Erinnerung an jene, „die Flüchtlingsnot lindern halfen", in Stein gemeißelt werden. 65 Damit wurde - wohl unfreiwillig, aber vielleicht im Sinne des Freud'schen Unbewussten nicht ganz zufällig - anstelle der Ungarischen Revolution dem österreichischen Selbstbild der Zweiten Republik und dem Jahr 1956 als Teil von dessen Grundlegung ein Denkmal gesetzt. Die im Vergleich zu diesem Selbstbild ambivalente österreichische Haltung gegenüber den realen Flüchtlingen blieb seit der Revolution des Jahres 1956 - angesichts der Krisen in den östlichen Nachbarstaaten bzw. im so genannten sozialistischen Lager und von deren Folgen - ein gleichbleibendes diskursives Muster der politischen und öffentlichen Diskussion, wenn auch mit deutlichen Akzentverschiebungen. Während gegenüber den Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings" durch die Intervention des Warschauer Paktes die „Kalte Krieg-Mentalität" noch ein überwiegend positives Bild begründete, 66 führten die Folgen der politischen Krise des polnischen Einparteienstaates 1980/81 zu einer Umkehr der Bewertung. Bereits im Jahr 1980 begann - aufgrund der Liberalisierung des politischen Systems und der Auswirkungen internationaler ökonomischer Krisenerscheinungen - eine verstärkte Migration polnischer Flüchtlinge nach Österreich (24% aller Asylwerber/innen dieses Jahres bzw. 2.184 Personen). Im folgenden Jahr - noch vor der Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember - wuchs die Zahl der Asylanträge polnischer Flüchtlinge auf 29.000 an: In der öffentlichen Diskussion wurden diese Flüchtlinge als „Wirtschaftsflüchtlinge" bezeichnet und waren, auch aufgrund gestiegener Arbeitslosenzahlen, in Österreich „nicht gerade willkommen, bedeuteten sie doch eine zusätzliche Konkurrenz für billige heimische Arbeitskräfte". 67 Die internationale Wirtschaftskrise bewirkte auch eine restriktive Zuwanderungspolitik in den traditionell wichtigsten Aufnahmeländern, den USA und Kanada; die österreichische Politik reagierte auf die öffentliche Ablehnung der Flüchtlinge und die gestiegenen Kosten der Flüchtlingsbetreuung Anfang November 1981 mit der Wiedereinführung des Visumzwangs für Polen/innen. Die Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember des Jahres brachte einen kurzfristigen öffentlichen Meinungsumschwung. Dieser kam jedoch vor allem Hilfsaktionen, die nach Polen gingen, zugute: Vielen Öster-

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reicher/innen sind vermutlich die unter großer öffentlicher Anteilnahme von zahlreichen beteiligten Organisationen und Firmen betriebenen und von der öffentlichen Hand unterstützten Sammlungen für Weihnachtspakete noch in Erinnerung. Auf das Image der insgesamt etwa 120.000 bis 150.000 Polen/innen, die sich 1981/82 aufgrund des Kriegsrechts in Österreich aufhielten, hatte die Hilfsbereitschaft der Österreicherinnen kaum positive Auswirkungen: „Die hohe Flüchtlingszahl verursachte große Spannungen in der österreichischen Bevölkerung, die nach vielen Jahren wieder merklich mit der Flüchtlingsproblematik konfrontiert worden war."68 Im Gegenteil: Ein nach dem Vorbild des 1956 gegründeten „Österreichischen Nationalkomitees für die Ungarn" - das sich vor allem für die Integration der in Österreich verbliebenen ungarischen Flüchtlinge engagiert hatte 69 - kurz nach Verhängung des Kriegsrechts eingerichtetes „Österreichisches Nationalkomitee für die Polenhilfe" sah sich aufgrund der Unterstützung auch jener in Österreich befindlichen Polen/innen, die nicht um Asyl angesucht hatten, öffentlicher Kritik ausgesetzt. Diese Einteilung der Flüchtlinge in berechtigt Asylsuchende und abzulehnende Wirtschaftsflüchtlinge bestimmt auch das Bild jener beiden Flüchtlingsbewegungen, die den Zusammenbruch des „sowjetischen Imperiums" im Jahr 1989 in Österreich begleiteten und wohl auch die Einstellungen der Österreicher/ innen zur daraus folgenden geopolitischen Neuordnung Europas mit präg(t)en.

1989: „Echte" Flüchtlinge und „Wirtschaftsflüchtlinge" an Österreichs Grenzen Für Österreich ist das unmittelbare Erleben des Endes der Einparteienstaaten in der östlichen Nachbarschaft deutlich durch jene Flüchtlingsbewegungen geprägt, in deren Zentrum wiederum die österreichisch-ungarische Grenze als Schauplatz steht: Dies gilt für die Öffnung der ungarischen Grenzen für DDR-Bürger/ innen im Spätsommer 1989 ebenso wir für die Migration aus Rumänien im Gefolge des blutigen Endes des Ceaucescu-Regimes im Winter desselben Jahres. Wiederum - wie bereits 1956 die Entstalinisierung - war in Ungarn der Abbau des politischen Systems des Einparteienstaates (neben Polen) am weitesten fortgeschritten, und wiederum hatte dies unmittelbare Auswirkungen auf dessen „Westgrenze": Bereits 1987 hatte der Befehlshaber der ungarischen Grenztruppen, Generalmajor Székely, in einer Denkschrift für das Innenministerium auf Probleme mit der Grenzanlage hingewiesen. Die Mehrheit der Alarme würde durch „Wild, Wetter und technische Fehler" ausgelöst und belaste die Grenztruppen physisch und psychisch. Székely bezog sich in seiner Stellungnahme darüber hinaus auch auf die hohen Kosten der Instandhaltung sowie auf die „groteske Tatsache", dass der notwendige rostfreie Draht mittlerweile nur mehr aus dem Westen importiert werden konnte, und bezeichnete die ungarische Form der Grenzsicherung als „moralisch veraltet". 70 Zur Lösung des Pro-

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blems wurden zwei Alternativen vorgeschlagen: Der Aufbau eines neuen Systems der Grenzsicherung nach dem Muster der DDR-Grenze zur BRD oder die Demontage des Systems und ein Übergehen zu anderen Methoden der Grenzsicherung. Székely plädierte für die zweite Variante. „Das Oberkommando der Grenztruppen setzte sich also eindeutig für den Abbau des .Eisernen Vorhanges' ein sowie dafür, die zukünftige ,Grenze' nach westlichem Muster von technisch gut ausgerüsteten, flexiblen und schnellen Grenzpatrouillen kontrollieren zu lassen." 71 Natürlich gab es in Ungarn auch Gegner dieser Lösung, das größere Problem war jedoch die Ungewissheit über die Reaktion der Bündnispartner des Warschauer Paktes auf die im Fall eines Abbaus entstehende Lücke im System der gemeinsamen Grenzen. Mit der Entscheidung der ungarischen politischen Führung vom Mai 1987, ab Anfang 1988 einen „Weltpass" für ungarische Staatsbürger/innen einzuführen, der die freie Ausreise ermöglichte, wurde ein weiterer Schritt gesetzt, der die Grenzanlagen zur Überwachung der ungarischen Staatsbürger/innen obsolet erscheinen ließ. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre waren bereits 85% der 1.200-1.500 illegalen Grenzüberschreitungen von Nicht-Ungarn/innen unternommen worden. Die ungarischen Behörden gaben an, dass in der Zeit kurz vor dem Abbau des „Eisernen Vorhanges" nur mehr 3 bis 4% der von der Grenzwache festgehaltenen illegalen Grenzübertretungen von ungarischen Staatsbürgern/innen vorgenommen wurden. Dies kann auf die ökonomische und politische Öffnung Ungarns zum Westen und auf die Erleichterung der Ausreisemöglichkeiten zurückgeführt werden. 72 Im Sommer 1988 wurde das Thema des Abbaus der Grenzanlage von der ungarischen Politik öffentlich zur Diskussion gestellt. Der Innenminister stellte fest, „daß der Beschluß zur Liquidierung der elektronischen Signalanlage die Entwicklung der wirtschaftlichen und fremdenverkehrsmäßigen Beziehungen zu Österreich und zu anderen westlichen Ländern günstig beeinflußt". 73 Als „technisch überholt und politisch nicht mehr gerechtfertigt" 74 bezeichnete auch der Verteidigungsausschuss des ungarischen Parlaments im September 1988 die Sicherheitseinrichtungen des „Eisernen Vorhangs" an der österreichisch-ungarischen Grenze und kündigte deren Abbau an. Ungarn übernahm damit eine Vorreiterrolle innerhalb des Systems der Einparteienstaaten. Ende Oktober 1988 stellte der ungarische Reformpolitiker und damalige Generalsekretär der Patriotischen Volksfront, das Politbüromitglied Imre Pozsgay, bei einem Besuch der ungarischen Grenztruppen fest, dass die elektronischen Sicherungssysteme an den Grenzen Ungarns historisch, politisch sowie technisch veraltet wären. Eine Beseitigung dieser Systeme würde in Kürze die Beziehungen zwischen Ungarn und Österreich verbessern. Grenztruppen, so betonte Pozsgay, würden nicht die Landesgrenzen gegen ungarische Staatsbürgerinnen schützen, sondern der Souveränität und Sicherheit des Landes dienen. „Ungarn will Grenzzaun zu Österreich schleifen" interpretierte „Der Standard" 75 die Aussagen Pozsgays. Im Dezember 1988 versicherte auch der damalige Parteichef Károly Grosz, der nicht zum Kreis der Reformer gezählt wurde,

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der „Eiserne Vorhang" werde bis 1990 abgebaut. 76 Im Februar 1989 stimmte auch das Politbüro der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, damals noch das zentrale Entscheidungsorgan, dem Abbau zu und einige Tage später verabschiedete die Regierung ein Dokument entsprechenden Inhalts. Wie bereits 1956 hatten die innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn zu einem - diesmal endgültigen - Abbau des „Eisernen Vorhangs" geführt. Nun waren es freilich nicht mehr die Ungarn/innen, die die offene Grenze zur Flucht nutzten. Der entstandenen Lücke im Grenzsicherungssystem des Warschauer Pakts wird aber eine entscheidende Bedeutung für dessen Ende insgesamt beigemessen. Zudem stellte sie die österreichische Politik vor die unmittelbare Notwendigkeit einer Neudefinition der Beziehungen zu den Nachbarländern an den und über die ehemaligen Blockgrenzen: Auf die Öffnung der ungarischen Grenzen zu Österreich folgte nämlich eine Vervielfachung sowohl der legalen touristischen und zu Konsumzwecken vorgenommenen - wie der illegalen Übertritte dieser einstmals „toten Grenze". Bereits am 8. August 1988 hatte die oberste Staatsanwaltschaft Ungarns die Direktive ausgegeben, jene Personen, die bei illegalen Grenzübertrittsversuchen gestellt würden, nicht mehr in ihr Heimatland abzuschieben, sondern lediglich zu ermahnen. 77 1989 mehrten sich im Sommer - den traditionellerweise getrennte Verwandte und Freunde aus Ost- und Westdeutschland für ein Wiedersehen an ungarischen Urlaubsorten nutzten - die Versuche von DDRBürgern/innen, über die „Grüne Grenze", „über Äcker, Wiesen und Weingärten" von Ungarn nach Österreich zu gelangen. 78 Zu einer ersten großen Massenflucht kam es anlässlich eines von der ungarischen Opposition und der Paneuropäischen Union veranstalteten Picknicks am 19. August 1989 an der Grenze zwischen Sopron und St. Margarethen. 79 Diese Idee war im Frühjahr 1989 in einer Ortsgruppe des Ungarischen Demokratischen Forums entstanden. Man wollte in der Nähe von Sopron direkt am Drahtzaun ein Treffen mit Bewohnern/innen des nächstliegenden österreichischen Dorfes organisieren und die Grenze symbolisch öffnen: „Das Picknick sollte deshalb an einem Grenzbalken stattfinden, um zu symbolisieren, daß die Grenze nicht trennt sondern verbindet." 80 Zwei Persönlichkeiten aus West und Ost wurden als Schirmherren dieser Begegnung gewonnen: der Kaiser- und Königssohn und christlichsoziale Europaparlamentarier Otto Habsburg als führende Persönlichkeit der Paneuropa-Bewegung und der ungarische Minister Imre Pozsgay, zu diesem Zeitpunkt der bedeutendste Repräsentant des Reformflügels der Staatspartei (der MSzMP, der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei). Als die Idee zu diesem Treffen entstand, war von DDR-Flüchtlingen noch keine Rede, doch dann wurde diese Problematik mit dem Treffen verknüpft. Die Organisator/innen verteilten in Budapester Auffanglagern Flugblätter, die über das geplante Treffen informierten. So wurde für Pozsgay, der führendes Mitglied der Regierung eines damals noch Warschauer-Pakt-Staates war und Rücksichten auf die DDR nehmen musste, das Treffen immer unangeneh-

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mer. Man einigte sich über die Organisator/innen, dass beide Schirmherren Vertreter/innen schicken würden, um so die ungarische Regierung zu entlasten. Otto Habsburg wurde von seiner Tochter Walpurga Habsburg, Imre Pozsgay durch den Leiter seines Sekretariats, den stellvertretenden Vorsitzenden des Amtes des Ministerpräsidenten, László Vass, vertreten. Am 18. August versammelten sich die ungarischen Teilnehmer/innen in einem Soproner Hotel, wo nicht nur Mitglieder und Sympathisant/innen des Ungarischen Demokratischen Forums anwesend waren, sondern auch Vertreter/innen anderer oppositioneller Gruppen. So nahm u.a. auch der Schriftsteller György Konrád an dem Treffen teil. Es wurde über die paneuropäische Idee diskutiert. „Dann fuhren die Versammelten in Mietbussen über einen schmalen Feldweg an die Grenze, an dessen Rand schon die DDR-Flüchtlinge in ihren Trabis und auf Motorrädern warteten. Der Grenzbalken wurde feierlich hochgezogen, es erschienen der Bürgermeister und die Bewohner eines nahegelegenen österreichischen Dorfes", 8 1 St. Margarethen im Burgenland - der Bürgermeister dieser Gemeinde nahm als einziger österreichischer Politiker an dem Treffen teil. Grenzsoldaten schnitten Stücke aus dem Grenzzaun, die mit kleinen Plaketten an die Teilnehmer/ innen verteilt wurden. Auf einem freien Platz wurde eine Bühne für Musik und Tänze aufgestellt. Die Veranstaltung hatte den Charakter eines Volksfestes. Die Grenze wurde also offiziell vorübergehend geöffnet, war jedoch nur mit gültigen Reisedokumenten passierbar und die ungarischen Grenzsoldaten versahen die Pässe beim Übertritt mit einem Stempel. Als Walpurga Habsburg und László Vass ihre Reden hielten, kam es zu tumultartigen Szenen am Grenzbalken. Die ungarischen Grenzsoldaten hatten keine eindeutigen Befehle, wie sie sich gegenüber DDR-Staatsbürgern/innen verhalten sollten, jedoch die „inoffizielle Anweisung [...], dem Schießbefehl nicht mehr Folge zu leisten". 8 2 Aufgegriffene DDR-Grenzverletzer/innen wurden also gemäß der Anordnung des Jahres 1988 einfach ermahnt, derartige Versuche in Zukunft zu unterlassen. „Die aufsehenerregende Fluchtwelle und starke Regenfälle haben das .Paneuropäische Picknick' in der ehemaligen Sperrzone nördlich von Sopron gleichsam weggeschwemmt." Mehrere hundert Staatsbürger/innen der DDR flüchteten im Rahmen dieses von der internationalen Presse viel beachteten Ereignisses, das „(i)m Zeichen der zwischenmenschlichen Beziehungen und der neuen Bewegungsfreiheit" als „ungarisch-österreichisches Freundschaftstreffen" geplant war, von Ungarn ins Burgenland. 83 Die Massenflucht hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Haltung der ungarischen Regierung: die Entscheidung, das DDR-Flüchtlingsproblem zu lösen, wurde beschleunigt. Am 10. September gestattete Ungarn schließlich sämtlichen ausreisewilligen DDR-Bürgerinnen - es befanden sich bereits mehr als 3.500 in ungarischen Auffanglagern - legal die Ausreise in den Westen. 84 Die ungarische Regierung hatte zuvor angekündigt, nach Ende der Ferienzeit allen DDR-Flüchtlingen die Ausreise aus Ungarn in den Westen zu erlauben. Die ungarischen Behörden gingen davon aus, dass die DDR-Flüchtlinge die öster-

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reichische Grenze überschreiten dürften, wenn sie über entsprechende Reisedokumente des Roten Kreuzes verfügten. 85 Die „Frankfurter Rundschau" berichtete über eine angebliche Vereinbarung zwischen Bonn und Budapest, wie die in Ungarn auf die Ausreise wartenden DDR-Bürger/innen das Land in Richtung Westen verlassen könnten. Das Wiener Innenministerium bestätigte, dass DDR-Bürger/innen, die einen DDR-Pass ohne Einreisevisum für Österreich vorweisen konnten, trotzdem vorübergehend in Österreich einreisen dürften. Ungarn beschloss eine Vorlage zu einem neuen Asylrecht, das allen europäischen Ausländer/innen ermöglichen sollte, Asyl zu erhalten, wenn sie in ihrer Heimat verfolgt würden. Am 1. September 1989 wurden die ersten DDR-Flüchtlinge aus Budapest mit Autobussen in das gerade erst eröffnete Flüchtlingslager Zanka am Plattensee gebracht. 86 Außenminister Gyula Horn verkündete am 10. September 1989 in den Abendnachrichten des ungarischen Fernsehens, dass alle DDR-Bürger/innen ab Mitternacht das Land frei verlassen könnten. Dieser Beschluss markierte eine grundlegende Neuorientierung in der ungarischen Außenpolitik: Immer mehr trat die Zielsetzung in den Vordergrund, sich von der bis dahin verfolgten „doppelten Strategie", also der Annäherung an den Westen bei gleichzeitiger fester Integration in das östliche Bündnissystem, zugunsten der ersteren zu lösen. 87 Mehr als 60.000 Flüchtlinge aus der DDR erreichten in der Zeit zwischen 11. September und dem Fall der Berliner Mauer am 9. November via Ungarn und Österreich die BRD. 88 Die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze für DDR-Flüchtlinge wurde von der österreichischen Tageszeitung „Kurier" als „Geburtsstunde des neuen Europa" bezeichnet. 89 Die „Neue Kronen Zeitung" schrieb, Ungarn stehe den Österreichern/innen nach einem solchen Schritt näher als jedes andere osteuropäische Land. 90 Ungarn wird unter Bezugnahme auf diese Ereignisse auch in der Reiseführerliteratur häufig als das Transitland in den Westen dargestellt: „Ungarn mit seinem ,Gulaschkommunismus', seinem durchlöcherten Eisernen Vorhang war in den achtziger Jahren zum beliebten Ferien- und Transitland geworden. In beide Richtungen. Im Sommer 1989 waren Zehntausende aus der DDR über Ungarn und Österreich nach Westdeutschland geflohen. Mörbisch-Pamhagen und Nickelsdorf lieferten damals ergreifende Bilder über die ersten Schritte in die Freiheit." 91 Greift man die zitierte Metapher von der „Geburtsstunde des neuen Europa" auf, so erweckt die Rekonstruktion der Ereignisse den Eindruck, Österreich hätte bei dieser Geburt nur eine Nebenrolle gespielt: die Initiative zur Grenzöffnung ging von Ungarn aus und wurde mit der damaligen BRD ausgehandelt. Mit der Rolle eines Transitlandes für die DDR-Flüchtlinge hatte Ungarn in der Flüchtlingspolitik zudem tatsächlich die traditionelle politische Rolle Österreichs der Nachkriegszeit übernommen - und nur für die kurze Zeit der Ausreise der DDR-Flüchtlinge teilten die beiden Nachbarstaaten diese Funktion. Als Symbol eines gemeinsamen Gedächtnisses dieser Fluchtbewegung - und wohl auch, um die Rolle des „Paneuropa-Picknicks" für diese Entwicklung der Nach-

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weit zu überliefern - wurde 1996 an der Grenze im ungarischen Fertôràkos von Otto Habsburg eine von dessen Tochter Gabriella gestaltete Gedenkskulptur enthüllt. Auch diese Skulptur verbindet die Erinnerung an die Massenflucht der DDR-Bürger/innen mit jener an die Revolution des Jahres 1956,92 eine Verbindung, die dem skizzierten Bild von Zeitzeugen/innen und Öffentlichkeit entspricht und mit diesen beiden Ereignissen offenbar den Beginn und das Ende der Blockgrenzen als einer Epoche der Nachkriegszeit zu bezeichnen versucht. Dieses Gefahrenbild konkretisierte sich in der Folge des gewaltsamen Sturzes des rumänischen Einparteienstaates und seines diktatorisch herrschenden „Conducators" Nicolai Ceaucescu im Winter desselben Jahres. Anders als die vorhergegangenen Erhebungen gegen die sowjetische Herrschaft und das politische System in Osteuropa fand die Berichterstattung über die rumänische Revolution kaum positive Heldenfiguren. An die Stelle tapferer und selbstbewusster Völker, die bisher das Medienbild von den Ungarn/innen des Jahres 1956 bis zu den Polen/innen unter dem Kriegsrecht bestimmt hatten, traten die Rumänen/innen in den Massenmedien als „armes, hilfloses, unterdrücktes und erniedrigtes Volk" in Erscheinung: „Dieser anfängliche ,Mitleidsdiskurs' löste in der österreichischen Bevölkerung und der Leserschaft der [...] Printmedien eine Sympathiewelle aus, die sicher durch den Zeitpunkt rund um Weihnachten 1989 begünstigt war", 93 und mehr noch durch die ausführliche TV-Berichterstattung von der rumänischen Revolution, die daraus eine Art Live-Medienereignis machte. 94 Trotz dieser mächtigen und von Sympathie getragenen Präsenz der rumänischen Revolution (nicht allein) in den österreichischen Massenmedien war die Hilfs- und Spendenbereitschaft der Österreicher/innen fast ausschließlich nach Rumänien gerichtet. Die zunehmende Präsenz rumänischer Flüchtlinge in Österreich löste parallel dazu einen Ablehnungsdiskurs aus, der mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa noch zusätzlich gerechtfertigt erschien. Nunmehr waren die Flüchtlinge aus Osteuropa für die öffentliche Meinung eindeutig „Wirtschaftsflüchtlinge", was nicht bloß ihre Anwesenheit in Österreich delegitimierte: Das moralische Urteil über jene, die im Westen leichten Wohlstand suchten, statt Wirtschaft und Demokratie im eigenen Land aufzubauen, führte zur Formulierung des Verdachts, dass nur die übelsten Elemente einer Gesellschaft in einer derartigen historischen Umbruchsituation Asyl im Westen suchen könnten. 95 Gegenüber den Rumänienflüchtlingen artikulierte sich dieser Verdacht paradoxerweise im Rückgriff auf das negative Bild des eben gestürzten politischen Systems und seiner sozialen Folgen: „Sie wurden als .asoziale Tachinierer' oder .ehemalige Securitate-Agenten' bezeichnet." 96 Durch die Diskussion um die rumänischen Flüchtlinge wurde die politische Debatte über die Themen Flucht und Asyl zu einem Wahlkampfthema der Nationalratswahlen im Oktober 1990: Als Reaktion darauf wurde schon Anfang September 1990 der „Assistenzeinsatz" des österreichischen Bundesheeres zur Sicherung der „Ostgrenzen" des Landes vor illegaler Migration von der Bun-

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desregierung veranlasst. 97 Die Darstellung der Rumänienflüchtlinge in der österreichischen Öffentlichkeit dürfte damit das Bild „einer beginnenden Völkerwanderung' aus Osteuropa geprägt" haben, 98 das die Politik der Bundesregierung gegenüber Migranten/innen und Asylsuchenden wie auch gegenüber den ehemaligen sozialistischen (Nachbar)Staaten mit bestimmte.

Österreich - Brücke und Bollwerk? Der damalige Landeshauptmann des Burgenlandes, Karl Stix, hatte bereits 1992 - anlässlich einer Weihnachtsfeier für die an der Grenze im Assistenzeinsatz stehenden Bundesheerangehörigen - die Wahrnehmung der österreichisch-ungarischen Grenze, aber auch der österreichischen Ostgrenze insgesamt durch Politik und Öffentlichkeit in den folgenden Worten zusammengefasst: „Die Demarkationslinie des Eisernen Vorhangs sei gefallen, geblieben sei eine Wohlstandsgrenze, die noch viele Jahre bestehen werde." 99 Die Neubewertung der Flüchtlinge aus Osteuropa, die seit 1989 diskursiv und politisch in zunehmendem Maß ausgegrenzt wurden - etwa durch die Charakterisierung als Wirtschaftsflüchtlinge oder die Einstufung als potenziell kriminell 100 - war Ausgangspunkt und Rechtfertigung für die „Befestigung" dieser „Wohlstandsgrenze", nunmehr von österreichischer Seite: In Ungarn wurde deshalb für die Grenze zu Österreich - zugleich die ungarische Westgrenze - häufig die Bezeichnung „Goldener Vorhang" [„arány függöny"] gebraucht. Die Annahme eines osteuropäischen Bedrohungspotenzials - „Sicherheitsrisiken [...] von Massenmigration über ökologische Katastrophen [...] bis zu internationalem Verbrechertum und Terrorismus" 101 - fand auch in den politischen Diskurs über die Motive des österreichischen EU-Beitritts Eingang. 102 Durch das aus dem Beitritt zur EU folgende Eintreten Österreichs in die Schengen-Gruppe gewann die EU-Mitgliedschaft Österreichs eine sicherheitspolitische Dimension, die Österreichs Zugehörigkeit zur Union auch als Antwort auf die Aktualisierung der Bedeutung der österreichischen Ostgrenze erscheinen lässt. Mit der Integration Ungarns in die westlichen (europäischen) Institutionen und Bündnisse, vor allem im Zuge der Assoziation und der laufenden Beitrittsverhandlungen zur EU, scheint sich zudem eine schrittweise Institutionalisierung der „Arbeitsteilung" zwischen den beiden Staaten im Bereich der Migrationsbewegungen und inzwischen auch des Schutzes der österreichisch-ungarischen Grenze vor illegalen Übertritten durchgesetzt zu haben. Ungarn verlangt diese Arbeitsteilung einen bedeutenderen Beitrag zu beiden Bereichen ab: Da Ungarn keine Visumpflicht für Rumänen/innen verhängt(e), beherbergt(e) es während und infolge der Revolution wesentlich mehr Flüchtlinge, und ist bis heute einer wesentlich stärkeren rumänischen (Pendler)Migration ausgesetzt. Im Sommer 1992 hielten sich etwa 100.000 und damit doppelt so viele Kriegs-

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flüchtlinge aus Jugoslawien in Ungarn als in Österreich auf.103 Diese höhere „Attraktivität" Ungarns als Flüchtlings- und Migrationstransitland ist zum Teil auf historisch-politische Rahmenbedingungen zurückzuführen: Die Grenzübertritte aus Rumänien konnte Ungarn während der Revolution im Winter 1989/90 wegen der bedrohten ungarischen Minderheit ebenso wenig erschweren wie während der Balkan-Kriege diejenigen aus Jugoslawien bzw. der Teilrepublik Serbien. Ungarn hat deshalb seit dem Ende des „sowjetischen Imperiums" eine wesentlich größere Last der Flüchtlingsbetreuung zu tragen als Österreich. Begünstigt wurde diese Verteilung der Lasten der neuen geopolitischen Verhältnisse durch eine schrittweise Durchsetzung von Schubabkommen, die Österreich eine immer zahlreichere Rückführung von illegal die Grenze Überschreitenden und Asylsuchenden nach Ungarn erlauben 104 sowie durch den beiderseitigen Ausbau der Grenzkontrollen im Zuge der Umsetzung des Schengener Abkommens bzw. der ungarischen Beitrittsbemühungen. Die Vorstufen zur Einführung der Grenzkontrollen gemäß dem Schengener Abkommen machten schließlich die Grenzübertritte für Ungarn/innen so beschwerlich, dass die Situation an der österreichisch-ungarischen Grenze zu einer Belastung für die traditionell guten Nachbarschaftsbeziehungen wurde und den österreichischen Innenminister Caspar Einem 1995 zu Verhandlungen über Erleichterungen der Grenzübertritte und zur Feststellung veranlassten: „Trotz Schengen gibt's keinen Eisernen Vorhang zu Ungarn." 105 Die Erleichterung der legalen Grenzübertritte für ungarische Staatsbürger/innen wurde von verstärkten ungarischen Kontrollen der Grünen Grenze zu Österreich begleitet. Ungarn wies dabei in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre im Vergleich eine wesentlich höhere Zahl von „Aufgriffen" illegaler Grenzgänger/innen auf: Auf einen in Österreich aufgegriffenen Flüchtling kämen vier bis fünf bereits in Ungarn abgefangene, berichtete „Der Standard". 106 Trotz dieser immer effizienteren Grenzkontrollen blieben deren Problematisierung und das Schlepperwesen im Vordergrund einer medialen Darstellung, die Ungarn als Handlungsraum krimineller Schlepperpraktiken präsentierte. 107 Diese Berichterstattung ist Teil des ambivalenten Verhältnisses, das Österreich nach 1989 zu seinen ehemals sozialistischen Nachbarländern entwickelte und das auch in der Diskussion um die so genannte Osterweiterung der EU zum Ausdruck kam: Österreich gehörte zu einer Gruppe von EU-Mitgliedstaaten, die einer Erweiterung vergleichsweise ablehnend gegenüberstanden (mit Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg und Dänemark). Was die Bewertung der einzelnen Beitrittskandidaten betrifft, war Ungarn allerdings in der Gruppe jener Länder zu finden, denen gegenüber positive Einstellungen überwogen: An der Spitze der im Durchschnitt der EU-Mitglieder „erwünschten" Beitritte standen die Schweiz und Norwegen - beides keine Beitrittswerber mit deutlichem Abstand (in dieser Reihenfolge) gefolgt von Island, Ungarn und Polen; darüber hinaus überwogen nur noch gegenüber der Tschechischen Republik und Zypern die positiven Wertungen. 108 Österreichischen Umfragen zufol-

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ge fand außer dem EU-Beitritt Ungarns (mit 56% für dessen Mitgliedschaft) lediglich der Beitritt Sloweniens (mit 51 %) eine mehrheitliche Zustimmung in der Bevölkerung (ein Beitritt Tschechiens und der Slowakei wurde nur von jeweils 41%, ein Beitritt Polens von 40% unterstützt). 109 Die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik und die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft kamen ein Jahr später zu einem für Ungarn noch positiveren Meinungsbild: Laut einer Umfrage vom März 2001 begrüßten 66% der befragten Österreicher/innen einen Beitritt Ungarns zur Europäischen Union. Im Gegensatz dazu sank die Zustimmung eines Beitritts Tschechiens (39%) und der Slowakei (37%) wohl aufgrund der Konflikte um die grenznahen Atomkraftwerke. 110 Das positive Bild der aktuellen österreichisch-ungarischen Beziehungen am Vorabend des Beitritts Ungarns zur EU greift nicht bloß auf die traditionellen Verbindungen zweier, ab 1867 innenpolitisch gleichberechtigter, Teile eines großen Imperiums im Rahmen der k.u.k. Monarchie zurück: Ein Großteil des heutigen österreichischen Bundeslandes Burgenland war bis 1918 Teil des Königreichs Ungarn - eine Verbindung, die trotz der Grenzkonflikte unmittelbar nach 1918 eine relativ offene Grenze zwischen den beiden Staaten bis nach 1945 zur Folge hatte.111 Im kollektiven Gedächtnis beider Nationen wird damit ein auf historischen Beziehungen und Traditionen aufbauendes Modell besonderer Nachbarschaftsbeziehungen verbunden, die auch während der Zeit des „Kalten Krieges" in Differenz zum generellen West-Ost-Verhältnis weiterentwickelt wurden. In Ungarn wird dieses, über die Blockgrenzen hinweg entwickelte, gutnachbarliche Verhältnis in ironischer Bezugnahme auf die gemeinsame Geschichte oft auch als K. u. K. - Kádár und Kreisky-Ära - bezeichnet. Diese Gemeinsamkeiten nahmen auch in beiden Ländern einen zentralen Stellenwert in den Beiträgen zur „Mitteleuropadebatte" der 1980er-Jahre ein.112 Im Zuge der Grenzöffnung 1989 legten sie - in den eingangs zitierten Politikeraussagen zum Ausdruck kommende - gemeinsame, „europäische" Entwicklungsperspektiven nahe. Dieses Modell beruht auf der Idee einer Verwandtschaft der Mentalitäten über die Staatsgrenzen hinweg, wie sie auch von Bewohnern/innen der österreichisch-ungarischen Grenzregion zum Ausdruck gebracht wurde und der offenbar größere Bedeutung als den historischen und aktuellen West-Ost-Gegensätzen beigemessen wird. Die Menschen in dieser Grenzregion sahen ihr neues Zusammenleben nach 1989 selbst als Wiederaufnahme einer - durch die Jahrzehnte der Trennung aufgrund des „Eisernen Vorhangs" unterbrochenen - tendenziellen Zusammengehörigkeit. So meinten etwa Teilnehmer/innen der im Rahmen des bereits erwähnten Forschungsprojekts zur mentalen Ostgrenze Österreichs 113 durchgeführten Gruppendiskussion in der Gemeinde Pamhagen „ähnliche Mentalitäten in der gemeinsamen Region" feststellen zu können: „Die Region ist stärker als die Grenze, alle arbeiten in der Landwirtschaft, haben ähnliche Interessen, v. a. seit die Ungarn Grund zurückbekommen haben." Zudem verbinde die Burgenländer/innen und ihre ungarischen Nachbar/innen in

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der Grenzregion ein gemeinsames Schicksal geringer Wertschätzung: „Mia ham ziemlich am Anfang hamma scho gsprochn - dass wir j o ein - Volk aso (volks)mäßig sind [...] do lebn mia und mia san die Menschen von der Umgebung.". Man habe die Burgenländer/innen „imma ois Zweitklassige betrachtet" und „das Burgenland [...] benachteiligt [...] und auf d Seitn gstöllt [...] jetzt is es eh nimma so [...] oarg. oba es hot lang dauert, aso man hot vo die Burgnlända ned allzuviel ghoidn, mueß i sogn, aso wie ma jetzt vo die Ungarn ned allzuviel hoit". Seit der Öffnung habe sich die Grenze jedoch sichtbar weiter nach Osten verschoben: „Autos und Mikrowelle sind bei (direkt an der Grenze lebenden, Anm. d. Verf.) Ungarn Statussymbole, es wird in der Grenzregion viel gebaut." Im Gegensatz dazu sei aber „30 km weiter hinten [...] alles anders." Die unmittelbare Grenzregion werde rasch zusammenwachsen, prognostizierte ein anderer Diskussionsteilnehmer und illustrierte seine Erwartung mit einem Beispiel aus dem Bekanntenkreis: „Heute heißts noch - in XY seine Frau is a Ungarin, das wird man [...] in fünf sechs Joahr wird ma nimma so sogn, sondern wird sogn - da XY hot a ne, die is vo Fertod." Auch die Zurndorfer Diskussionsgruppe kam zu dem Ergebnis, „die Ungarn sind von der Mentalität her so Leute wie wir". Mit den direkten ungarischen Nachbarn/innen gebe es keine Probleme: „Wir haben keine Angst vor den Ungarn [...], die die wirklich an der Grenze wohnen und ein Heim haben, für die kann man die Hand ins Feuer legen", bemerkte ein Mitglied der Gruppe. Eine andere Person formulierte denselben Sachverhalt drastischer: „Wir haben Angst vor Roma und Sinti (wie man heute sagt), nicht vor den Ungarn persönlich, sondern vor denen, die nicht vom ungarischen Stamm sind." Ein Teilnehmer der Diskussionsrunde in Heiligenkreuz teilte die Einschätzung, Gefahr drohe nur von jenen, die von weiter her aus dem (Süd)Osten kommen: „I muaß scho sagn - die Ungarn die Ungarn die san net schlecht (..) wia die vo untn kommen und die wos aufbrechen und wos stöihn und donn wieda obifoahn hamfoahn." In dieser „Stammestheorie" der regionalen Bevölkerung - die auf beiden Seiten der Grenze formuliert wurde - kommen zugleich tradierte negative Einstellungsmuster gegenüber dem Südosten Europas zum Ausdruck. Das Bild einer ähnlichen Mentalität von Österreicher/ innen und Ungarn/innen spiegelte sich auch im Interesse an den kulturellen und touristischen Attraktionen des jeweils anderen Landes. Aus österreichischer Perspektive konzentrierte sich das Interesse - auch der nicht im Burgenland ansässigen - Bewohner/innen der östlichen Grenzregion eindeutig auf Ungarn. So brachten mehrere Teilnehmer/innen an den - ebenfalls im Rahmen des zitierten Projekts zur mentalen Grenze durchgeführten Gruppendiskussionen in den niederösterreichischen Gemeinden Angern und Dürnkrut - ihre Meinung zum Ausdruck, es lohne sich nicht, das direkte Nachbarland Slowakei zu bereisen, den dort sei etwa im Gegensatz zu Ungarn „nichts Interessantes" zu finden. Der Annahme einer auf historischen Mustern aufbauenden Gemeinsamkeit der österreichischen und der ungarischen (Grenz)Bevölkerung - die auch in der in Ungarn geläufigen Bezeichnung der Österreicher als Schwager („sogor") prä-

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sent ist - entspricht auf nationaler Ebene das traditionelle Selbstbild beider mitteleuropäischer Staaten als Brücke zwischen Westen und Osten, das auch in den Plänen zum - nicht realisierten - Projekt einer gemeinsamen Weltausstellung (Expo 95) der beiden Hauptstädte Wien und Budapest unter dem Motto „Brücken in die Zukunft" zum Ausdruck gebracht wurde. Die Brücken-Metapher ist ein für die Bedeutung Österreichs als Verbindung von Westen und Osten häufig gebrauchtes Bild, das sich in unzähligen Politikeräußerungen ebenso wieder findet wie im Motiv der „Brücke von Andau". Ungarn hat dieses Motiv der Verbindung von Osten und Westen in den Millecentenariumsfeiern der „Landnahme" bzw. Ansiedlung der Magyaren (1996) - die zunächst mit der Expo verbunden werden sollten - und in den Millenniumsfeiern der Staatsgründung (2000) beibehalten: Vor allem im Rahmen der letzteren wurde etwa der Staatsgründer, der heilig gesprochene König Stephan, als Symbol einer, mit der Bekehrung zum römischen Christentum erreichten, frühen und aus freier Entscheidung resultierenden Westorientierung eines aus dem Osten zugewanderten Volkes interpretiert. König Stephan wurde damit im Vorfeld des ungarischen Beitritts zur EU zum historischen Vorbild der Westintegration des Landes. Dieser nationale „Stephanskult" kam unter anderem in der im Rahmen des Jubiläums staatlich geförderten Errichtung zahlreicher Statuen des Staatsgründers im ganzen Land zum Ausdruck. Deutlicher wurde er noch in der Überführung der Stephanskrone aus dem Nationalmuseum ins Parlamentsgebäude, die von der (gesetzlichen) Einrichtung eines symbolischen Kronrats aus führenden Vertretern des ungarischen Staates114 begleitet wurde. In die Politik wurde diese Rolle des „Westens im Osten" als Anspruch auf eine regionale Führungsrolle übertragen, in der sich Österreich und Ungarn als „Advokaten" der östlichen Nachbarstaaten innerhalb bzw. gegenüber der EU sahen. Zugleich scheinen beide Länder vom Zweifel an der Stabilität ihrer Westbindung bzw. von deren Bedrohung geprägt: In historischer Perspektive ist es der Jahrhunderte lange Gegensatz zum Osmanischen Reich, dessen - wenn auch unterschiedliche - Erfahrung in beider Traditionen parallel zum Bild der Brücke das Bild eines bedrohten Bollwerks gegen den Osten hinterlassen hat.115 Auf dieses Bild greifen auch aktuelle Bedrohungsszenarien zurück: So wird etwa im zitierten Verwandtschaftsdiskurs der regionalen Bevölkerung an der Grenze deren Darstellung immer mit einem Verweis auf fremde, „östlichere" Völker und die von diesen ausgehenden Gefahren verbunden. Zugleich stützt die Konstruktion dieser Verbindung politische Argumente einer Verwestlichung. Die Zweifel finden allerdings auch als Selbstzweifel Ausdruck, in denen die Rolle der Brücke in Frage gestellt wird und die besonders in der ungarischen Literatur einen prominenten Platz einnehmen. Solche hat etwa einer der bedeutendsten ungarischen Dichter des 20. Jahrhunderts, Endre Ady, Mitbegründer der Literaturzeitschrift „Nyugat" [Der Westen] zu Beginn des 20. Jahrhunderts, über Ungarn formuliert: „Fährenland, Fährenland, Fährenland, selbst in seinen kühnsten Träumen pendelt es bloß zwischen zwei Ufern, von Ost nach

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West, aber lieber zurück [...] Warum hat man uns belogen, daß die Fähre eine Brücke ist [...] daß unter den Karpaten Europa ausgebaut ist [,..]."" 6 Solche Zweifel blitzen ironisch auch in Ernst Jandls Gedicht „tanz", im Wechsel der Zeilen „östl ich / westl du" und „westl ich / östl du" in der experimentellen österreichischen Dichtung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf.

„Ruht die Fähre?" Cover der ungarischen Zeitschrift hvg zum EU-Beitritt des Landes, in Anspielung auf ein populäres Gedicht von Endre Ady, 2004

In Referenz zu diesem kulturhistorischen Bedeutungshintergrund der Brückenmetapher wurde die Brücke auch als ein zentrales Symbol des ungarischen EUBeitritts genutzt. Bereits in der Regierungskampagne vor der Volksabstimmung über den Beitritt, am 15. März 2003 - dem Nationalfeiertag zum Gedenken an die Revolution des Jahres 1848 - wurde vor dem Parlament für einen Tag eine Pontonbrücke über die Donau nach Buda errichtet, die den EU-Beitritt symbolisch repräsentieren sollte. Damit sollte auch an die Symbolik der Budapester Kettenbrücke, der ersten Donaubrücke Ungarns Mitte des 19. Jahrhunderts, angeknüpft werden: Sie wird auch heute noch als historisches Symbol ihres Erbauers István Széchenyi, des großen Modernisierers von Ungarns Industrie und Infrastruktur im 19. Jahrhundert, erinnert, der das Land damit nach Westen geführt hat. Und so wurde auch ein zentraler Teil der Feiern anlässlich des Beitritts auf den festlich beleuchteten und geschmückten Budapester Donaubrücken abgehalten.

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Die Brücke als Symbol einer (erneuten) Verbindung von Osten und Westen verbindet also Österreich und Ungarn auch als Bild, das sich in einem sozusagen gemeinsamen Gedächtnis gespeichert findet. Zugleich birgt der beiderseitige Anspruch auf die Funktion einer Brücke vom Westen zum Osten das Potenzial einer neuen Grenze zwischen den beiden Staaten: als Konkurrenten um diese Rolle.

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Vgl. dazu den Themenbereich „Kalter Krieg und Eiserner Vorhang" in: Das neue Österreich. Die Ausstellung zum Staatsvertragsjubiläum 1955/2005, Oberes Belvedere, 16. Mai bis 1. November 2005, hg. von Günter Dürigl und Gerbert Frodi, Wien 2005, 218-239. 2 Éva Varga, Technische und mentalitätsgeschichtliche Aspekte des Eisernen Vorhangs an der österreichisch-ungarischen Grenze 1949-1957, in: Grenze im Kopf, hg. von Peter Haslinger, Frankfurt am Main 1999, 115-137, hier 115. 3 Vgl. Manfried Rauchensteiner, Spätherbst 1956. Die Neutralität auf dem Prüfstand, Wien 1981; Brigitta Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien - dargestellt am Vergleich des ungarischen Volksaufstandes 1956 und der Revolution in Rumänien 1989, Dissertation Univ. Wien 1995. Eine gekürzte Druckfassung erschien 1998 in Wien. 4 Peter Melichar, Der Osten als Problem. Überlegungen zur Ost- bzw. Südostgrenze als „Gedächtnisort", in: Heroen, Mythen, Identitäten. Die Slowakei und Österreich im Vergleich, hg. von Hannes Stekl und Elena Mannová, Wien 2002, 81-132. 5 An der Grenze zur Tschechoslowakei wurde 1990 dieses Ritual gemeinsam mit Außenminister Jiri Dienstbier wiederholt. 6 Népszabadaság, 28.6.1989. 7 Dumont Reisetaschenbuch Ungarn, Köln 1995, 32. 8 Andreas Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze für die DDR-Bürger im Sommer 1989. Vorgeschichte, Hintergründe und Schlussfolgerungen, in: Südosteuropa Mitteilungen 1997, 33-53, hier 33. 9 Erich Wendt, Der Nachbar Österreich - 1956 und danach, in: Ungarn 1956: Reaktionen in Ost und West, hg. von Heiner Timmermann und László Kiss, Berlin 2000, 45-59, hier 59. 10 Rauchensteiner, Spätherbst 1956, zit. n. Wendt, Der Nachbar Österreich, 54. " Rudolf Kirchschläger 1998 in einem Interview für das Forschungsprojekt „Immerwährende Neutralität und österreichische Identität" im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Diskurs, Politik, Identität" (Projektleitung Ruth Wodak, Interviews durchgeführt von Karin Liebhart im Sommer 1998). 12 Wendt, Der Nachbar Österreich, 54. 13 Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 555. 14 Hugo Portisch in einem Interview 1998 (vgl. Anm. 11). 15 Österreichische Staatsdruckerei 8050026. 16 Ansprache anlässlich des Neujahrsempfangs für das Diplomatische Corps am 18. Jänner 2005, http://www.hofburg.at/show_content.php?sid=28). 17 UNHCR-Direktor Michel Moussali, zit. n. Der Spiegel Nr. 31/1992, 23. 18 Florian Kuntner, Die Sorge, daß Österreich an Menschlichkeit verlieren könnte, in: Land im Lichtermeer. Stimmen gegen Fremdenfeindlichkeit, hg. von Martin Kargl und Silvio Lehmann, Wien 1994, 89-93, hier 93. 19 Die österreichische West-Ost-Grenze. Rekonstruktion der „mentalen" Grenzziehung nach 1989, durchgeführt im Rahmen des Forschungsschwerpunkts „Fremdenfeindlichkeit" des bm:wv/ BMBWK, hg. von der Sozialwissenschaftlichen Abteilung des Österreichischen Ost- und Südosteuropa Instituts, Projektbericht Wien 2000. 20 Franz Grubhofer, Der Beitrag Österreichs und des Auslandes für die Ungarn, in: Integration. Bulletin International 4 (1957), 85. 21 Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 73, 101 und 113 f.

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Ebd., 553 ff.; Ruth Wodak und Bernd Matouschek, „We are dealing with people whose origins one can clearly tell just by looking". Critical Discourse Analysis and the Study of NeoRacism in Contemporary Austria, in: Discourse & Society 4 (1993), 2 2 5 - 2 4 8 ; Bernd Matouschek und Ruth Wodak, Rumänen, Roma ... und andere Fremde. Historisch-kritische Diskursanalyse zur Rede von den „Anderen", in: Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914, hg. von Gernot Heiss und Oliver Rathkolb, Wien 1995,210-238; Bernd Matouschek, Ruth Wodak und Franz Januschek, Notwendige Maßnahmen gegen Fremde? Genese und Formen von rassistischen Diskursen der Differenz, Wien 1995. Gordon Brook-Shepherd, Österreich. Eine tausendjährige Geschichte, München 2000, 521 f. Vgl. dazu auch Karin Liebhart und Andreas Pribersky, Die Mythisierung des Neubeginns: Staatsvertrag und Neutralität, in: Memoria Austriae I, hg. von Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, Wien 2004, 392-417. Das ausgeprägte Image eines humanitären Landes, welches Flüchtlingen sicheres Asyl bietet, hatte Österreich allerdings laut einer BrookShepherd in diesem Punkt widersprechenden Untersuchung bereits Anfang der 1990er-Jahre nur in Österreich selbst, in der Schweiz, in Ungarn, Bulgarien und Polen (vgl. Günter Schweiger, Österreichs Image in der Welt. Ein Vergleich mit Deutschland und der Schweiz, Wien 1992, 261). Melitta Sunjic stellte fest, Österreich habe seinen internationalen Ruf in der Flüchtlingspolitik, der immer besser gewesen sei als die Flüchtlingspolitik selbst, verloren (vgl. Melitta H. Sunjic, Was ist ein Österreicher? Eine Annäherung, in: Land im Lichtermeer, hg. von Martin Kargl und Silvio Lehmann, 162-167, hier 166). Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien; Peter Haslinger, Hundert Jahre Nachbarschaft. Die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn 1895-1994, Frankfurt am Main 1996, 241 ff.; 1956 und das Burgenland, hg. vom Burgenländischen Landesarchiv, Eisenstadt 1996; Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze; Béla Rásky, „Flüchtlinge haben auch Pflichten". Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956. Manuskript und Referat bei der Tagung „Österreich - Ungarn ... gegen wen" am 16. Oktober 1998 in der Österreichischen Botschaft Budapest; Varga, Aspekte des Eisernen Vorhangs. Varga, Aspekte des Eisernen Vorhangs, 120. Ebd., 117. Haslinger, Hundert Jahre Nachbarschaft, 241. Varga, Aspekte des Eisernen Vorhangs, 119. Ebd., 118; György Litván und János M. Bäk, Die ungarische Revolution 1956. Reform-Aufstand-Vergeltung, Wien 1994, 102. Die Presse, 30.5.1956. Varga, Aspekte des Eisernen Vorhangs, 120. Die Presse, 27.10.1956. Haslinger, Hundert Jahre Nachbarschaft, 242. Hugo Portisch in einem Interview 1998 (vgl. Anm. 11). Die Zitate nach Haslinger, Hundert Jahre Nachbarschaft, 242 bzw. Wendt, Nachbar Österreich, 53. Béla Rásky, Béla, „Flüchtlinge haben auch Pflichten". Litván und Bäk, Die ungarische Revolution 1956, 169. Haslinger, Hundert Jahre Nachbarschaft, 244. Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 82. Haslinger, Hundert Jahre Nachbarschaft, 244. Vgl. Cornelia Grosser, Sándor Kurtán, Karin Liebhart und Andreas Pribersky, Genug von Europa. Ein Reisejournal aus Ungarn und Österreich, Wien 2000, 158 ff. Rásky, „Flüchtlinge haben auch Pflichten". Zit. n. Friedrich Kern, Österreich: Offene Grenze der Menschlichkeit. Die Bewältigung des ungarischen Flüchtlingsproblems im Geiste internationaler Solidarität, Wien 1959, 57. Roland Widder, Burgenland 1956 - Tangente einer weltpolitischen Episode, in: 1956 und das Burgenland, 7 - 4 5 , hier 33 f.

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James A. Michener, The Bridge at Andau, New York 1957. Widder, Burgenland 1956, 42 f. Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 553. Emil Brix, Widersprüche und Wandlungen im Österreichbewußtsein der Zweiten Republik, in: Österreichische Nationalgeschichte nach 1945. Die Spiegel der Erinnerung: Die Sicht von innen, hg. von Robert Kriechbaumer, 1, Wien-Köln-Weimar 1998, 449-466, hier 462. Vgl. Susanne Breuss, Karin Liebhart und Andreas Pribersky, Inszenierungen. Stichwörter zu Österreich, Wien 1995, 198. Gerhard Theato, Stichwort Österreich, München 1992, 92. Vgl. Karl Markus Gauß, Warum Österreich die Osterweiterung verschlafen mußte, in: Europäische Rundschau 27 (1999), 117-121, hier 117 f. Haslinger, Hundert Jahre Nachbarschaft, 242; Litván und Bäk, Die ungarische Revolution 1956, 102 ff. Vgl. Friedrich Koja und Gerald Stourzh, Schweiz-Österreich. Ähnlichkeiten und Kontraste, Graz-Wien 1986; Breuss u.a., Inszenierungen, 308. Zdenek Mlynar, Hans-Georg Heinrich, Toni Kofier und Jan Stankovsky, Die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn: Sonderfall oder Modell? Laxenburg-Wien 1985, 22. Aus einer Rede des Innenministers Oskar Helmer, zit. n. Rásky, „Flüchtlinge haben auch Pflichten". Die Angaben nach Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 73. Rásky, „Flüchtlinge haben auch Pflichten". Zit. n. Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 72, das folgende Zitat 74. Rásky, „Flüchtlinge haben auch Pflichten". Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 498. Sämtliche Äußerungen stammen von Staatssekretär Grubhofer, zit. n. ebd., 72. Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 500, hier auch die folgenden Zitate. Zit. n. Kern, Österreich: Offene Grenze der Menschlichkeit, 62. Wolfgang Gulis, Schein und Sein der österreichischen Flüchtlingspolitik, in: Flüchtlingslos, Steirische EB-Informationen Nr. 50, Mai 1992, Graz 1992, 14. Widder, Burgenland 1956, 43 f. Rudolf Kirchschläger in einem Interview 1998 (vgl. Anm. 11). Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 100. Ebd. 1956 und das Burgenland. Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze, 35 ff. Ebd., 37. Alfred Lang, Sichere Grenzen, in: Hart an der Grenze. Burgenland und Westungarn, hg. von Traude Horvath und Eva Müllner, Wien 1992, 141-152, hier 143 f. Zit. n. Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze, 33 ff. Lang, Sichere Grenzen, 143. Der Standard, 28.10.1988. Vgl. Neue Kronen Zeitung, 10.12.1988. Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze, 42. Lang, Sichere Grenzen, 145. Haslinger, Hundert Jahre Nachbarschaft, 344. Interview mit László Vass 1999 im Rahmen des vom bm:wv geförderten Forschungsprojekts „Politische Landeskunde Österreich/Ungarn" (Projektleitung Anton Pelinka, Interview durchgeführt von Sándor Kurtán). Haslinger, Hundert Jahre Nachbarschaft, 344. Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze, 43. Alle Zitate in: Die Presse, 21.8.1989. Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze, 43.

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Der Standard, 1.9.1989. Der Standard, 2./3.9.1989. 87 Der Standard, 10.9.1994. 88 Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze, 51. 89 Kurier, 10.9.1994. 90 Neue Kronen Zeitung, 17.9.1989, zit. n. Haslinger, Hundert Jahre Nachbarschaft, 345. 91 Geo Special Wien+Österreich 1995, 130. 92 Widder, Burgenland 1956, 44. 93 Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 548; vgl. auch Matouschek und Wodak, Rumänen, Roma ... und andere Fremde. 94 Vgl. Vilem Flusser, Die Revolution der Bilder, Mannheim 1996. 95 Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 549 f. 96 Ebd., 551, vgl. auch Matouschek und Wodak, Rumänen, Roma ... und andere Fremde. 97 Lang, Sichere Grenzen, 146. 98 Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien, 551. 99 Kurier, 23.12.1992. 100 Matouschek, Wodak und Januschek, Notwendige Maßnahmen gegen Fremde? 101 Außenpolitischer Bericht 1993, hg. vom Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Wien 1993, 25. 102 Fritz Plasser und Peter A. Ulram, Kognitive und affektive Barrieren der Entwicklung eines europäischen Bewußtseins, in: Europa als Herausforderung. Wandlungsimpulse für das politische System Österreichs, hg. von Peter Gerlich und Heinrich Neisser, Wien 1994, 209-237, hier 218. 103 Der Standard, 4.7.1992. 104 Vgl. etwa Der Standard, 25.6.1998 sowie 3.9.1998. 105 Kurier, 22.8.1995. 106 Der Standard, 10.9.1994. 107 Vgl. etwa Neue Kronen Zeitung, 7.9.1990; Der Standard 3.Z4.3 2001. 108 Ergebnisse des Eurobarometer 44.2b/ 1996, zit. nach: L' opinion Européenne, hg. von Bruno Cautrès und Dominique Reynié, Paris 2000, 71-84. 109 Die Einstellung der Österreicherinnen zur EU-Osterweiterung, SWS-Bildstatistiken, in: SWS Rundschau 2001, 73-80. Der Standard, 18.4.2001. Vgl. auch Monika Mokre, Österreich und Europa-ein schlampiges Verhältnis, in: Memoria Austriae I, hg. von Emil Brix u.a., 418-445. ' " Grosser u. a., Genug von Europa, 159-167. 112 Vgl. ζ. B. György Konrád, Der Traum von Mitteleuropa, in: Aufbruch nach Mitteleuropa, hg. von Erhard Busek und Gerd Wilflinger, Wien 1986, 87-97. 113 Die österreichische West-Ost-Grenze. Projektbericht. 1,4 Laut Gesetz Nr. 1/2000 setzt sich der Kronrat aus dem Staatspräsidenten, dem Ministerpräsidenten sowie den Präsidenten des Parlaments, des Verfassungsgerichts und der Akademie der Wissenschaften zusammen. 115 Claudio Magris, Donau. Biographie eines Flusses, München-Wien 1988. 116 Übersetzung nach Endre Ady, Ismeretlen Korvin-kódex margójára, in: ders., Publicisztikai írásai, 2, Budapest 1977, 214-220. 86

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Die Tschechen Seit dem Jahr 1870 bildet die Franz-Josefs-Bahn die kürzeste Bahnverbindung zwischen Wien und Prag. Der Prager Franz-Josefs-Bahnhof wurde nach der Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik in Wilson-Bahnhof umbenannt, zu Ehren des US-amerikanischen Präsidenten, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker proklamiert hatte. Die Kommunisten machten aus dem Bahnhof den Hauptbahnhof; bei dieser Bezeichnung ist es auch nach ihrem Sturz geblieben. Doch eine Gedenktafel unterhalb der original erhaltenen Kuppelhalle erinnert seit der Samtenen Revolution wiederum an Präsident Wilson. Der Wiener Kopfbahnhof hingegen hat seinen ursprünglichen Namen behalten, auch nachdem das alte Gebäude abgerissen und der Bahnhof in ein modernes Bürogebäude integriert worden war. Im Fahrplan 2004/05 scheint sogar die ganze Bahnstrecke bis zur Grenze bei Gmünd erstmals wieder als FranzJosefs-Bahn auf. 1 Allerdings verkehren schon seit Jahren sämtliche Schnellzüge zwischen Wien und Prag auf der erheblich längeren, doch lukrativeren Strecke über Brünn; bis heute ist die Strecke über Gmünd nicht durchgehend elektrifiziert. In zweifacher Weise illustriert so die Franz-Josefs-Bahn das Verhältnis von Österreichern und Tschechen in der jüngeren Vergangenheit: durch divergierende Rückgriffe auf die Vergangenheit und durch geringes Interesse am Ausbau der Kommunikation. Diese Untersuchung basiert im Wesentlichen auf einer Durchsicht sämtlicher im Schuljahr 2004/05 in Österreich approbierten Schulbücher, einschließlich der Lehrerbehelfe, für die Hauptschulen im Fach „Geschichte und Sozialkunde" im Hinblick auf alles, was die Tschechen und das Gebiet der heutigen Tschechischen Republik betrifft. 2 Mit einer einzigen Ausnahme 3 sind die Schulbücher auch für den Unterricht an Allgemeinbildenden Höheren Schulen zugelassen. Die Schulbücher belegen zweierlei: was der Staat für wissenswert hält und was Schülerinnen und Schüler in Österreich vorgesetzt bekommen. Schon die hier untersuchten Schulbücher zeigen, dass das Verhältnis von Österreichern und Tschechen auf Grund wechselnder politischer Akzentsetzungen Stichworte Temelin und Benes-Dekrete - Schwankungen unterliegt. Auch ist es klar, dass Familientraditionen, persönliche Erfahrungen und der Konsum von Medienberichten die hier vorgelegten Ergebnisse modifizieren. Doch deckt sich

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Die Tschechen

der Befund über weite Strecken mit den Beobachtungen anderer und mit persönlichen Erfahrungen des Autors. Einleitend sollen an Hand einer kritischen Durchsicht der Schulbücher wesentliche Ereignisse der tschechischen Geschichte beleuchtet werden. Im Mittelpunkt des Interesses steht das tschechische Volk, nicht die Geschichte der böhmischen Länder, die über Jahrhunderte hinweg auch von Deutschen bewohnt waren. Bewusst soll die österreichische Sicht der Dinge mit der tschechischen konfrontiert und andererseits die Engführung vermieden werden, die Tschechen überwiegend als Antipoden der Sudetendeutschen zu betrachten. 4 Leitendes Erkenntnisinteresse ist, wie weit die Tschechen von den Österreichern in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen werden. Auf die Ereignisse folgen die eigentlichen „Lieux de mémoire" und fünf Persönlichkeiten, die in den Schulbüchern markant hervortreten und den österreichischen Blickwinkel facettenreich dokumentieren. Abschließend werden zusammenfassende Betrachtungen über „Vertrautheit und Fremdheit" sowie über „Vereinfachungen" und „Zuspitzungen" im Hinblick auf die Tschechen angestellt.

Ereignisse Schulbücher

- Befund

Böhmen und Mähren treten in den Schulbüchern zunächst nicht in Verbindung mit Slawen und Tschechen in Erscheinung, sondern mit den dort siedelnden Germanen und Baiern. Der erste namentlich genannte Tscheche ist der heilige Wenzel. Einen peripheren Zusammenhang mit Österreich stellt die Expansion der Babenberger her. In Gestalt König Ottokars II. tritt Böhmen unübersehbar auf den Plan. Sämtliche Schulbücher widmen sich detailliert dem Aufstieg und Niedergang des Premysliden. Alle Schulbücher beschreiben die Schlacht auf dem Marchfeld, in der Ottokar gegen seinen Widersacher Rudolf von Habsburg fällt. Mehrere Schulbücher erwähnen die Gründung der Prager Universität, die jener ihres Wiener Pendants voranging. Danach folgt mit Jan Hus die einzige Persönlichkeit, der in den Schulbüchern ähnlich breiter Raum eingeräumt wird wie Ottokar II. Eindringlich schildern die Schulbücher in Wort und Bild die Lehren, die Verurteilung und schließlich die Verbrennung des Reformators. Die Böhmisch-Ungarische Hochzeit von 1515 und der 1526 nach der Schlacht von Mohács eingetretene Erbfolgefall, der den Aufstieg Habsburgs zur Großmacht zur Folge hatte, werden in allen Schulbüchern, unterstützt von Ahnentafeln und Illustrationen, festgehalten. Das nächste markante Ereignis ist der Prager Fenstersturz von 1618. Die Vorgeschichte wie die Folgen werden unterschiedlich genau erörtert; festgehal-

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ten werden generell der Konflikt der Stände mit dem König und Kaiser sowie die konfessionellen Hintergründe. Nur zwei Schulbücher erwähnen die Wahl des „Winterkönigs". Die Niederlage der Aufständischen wird von fünf Schulbüchern, das Strafgericht von vier, die Konfiskation der Adelsgüter von drei, der Landesverweis der Protestanten nur von zwei Lehrbehelfen festgehalten. Äußerst spärlich sind die Informationen über das 18. Jahrhundert, doch vier Schulbücher lassen Joseph II. die „Furche von Slawikowitz" ziehen. Das erste Ereignis auf dem Boden der böhmischen Länder im 19. Jahrhundert ist eine Schlacht, in der die Tschechen nur Statisten sind: die Dreikaiserschlacht von Austerlitz 1805. Auch auf dem Wiener Kongress sind die Tschechen keine Akteure. Im Sturmjahr 1848 weisen nur vier von acht Schulbüchern auf den A u f stand in Prag und dessen blutige Niederschlagung hin. Der Slawenkongress kommt nur im Serviceteil eines einzigen Schulbuchs zur Sprache.5 Ebenfalls nur in einem einzigen Schulbuch werden die nationalen Forderungen an Hand eines fiktiven Interviews mit Originalantworten Frantisek Palackys ausführlich besprochen. Dort wird auch festgehalten, dass die nie in Kraft getretene „Verfassung in Österreich 1848/49" „von Vertretern aller in Österreich lebenden Völker beschlossen wurde". 6 Der Tagungsort Kremsier wird in keinem Schulbuch erwähnt. Das nächste Großereignis, das allgemein Beachtung findet, ist die Schlacht bei Königgrätz, die vor allem durch den nachfolgenden Ausgleich mit Ungarn Auswirkungen auf die böhmischen Länder zeitigt. Das Ausbleiben eines Ausgleichs auch mit Böhmen äußert sich insbesondere in den Tumulten rund um die Badenischen Sprachenverordnungen, die in allen Schulbüchern ausführlich besprochen und suggestiv illustriert werden. Allgemein wird der Nationalismus als eine der Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bezeichnet. Wilsons 14 Punkte, die Desertion auch tschechischer Truppenteile, das Völkermanifest Kaiser Karls und die Ausrufung unabhängiger Staaten auf dem Gebiet der Donaumonarchie finden sich in so gut wie allen Schulbüchern wieder. Das Ringen um die neuen Grenzen stellt jedoch alle anderen Aspekte des Umbruchs von 1918 in den Schatten. Danach verschwinden die Nachfolgestaaten der Monarchie bis zum Aufstieg Hitlers fast vollkommen von der Bildfläche. Das Münchner Abkommen vom September 1938, in dem die Zerschlagung der Tschechoslowakei beschlossen wurde, wird von allen Schulbüchern fokussiert. In einem Schulbuch scheint auf einer Landkarte der Anschluss von Böhmerwald an Oberdonau und Deutsch-Südmähren an Niederdonau auf.7 Die Unterdrückung der Slawen wird zumeist nur pauschal festgehalten. Die Wiederrichtung der Tschechoslowakei ist für die Schulbücher kaum ein Thema. Die Vertreibung der Sudetendeutschen wird teils völlig übergangen, teils ist sie in eine allgemeine Darstellung der Fluchtbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg integriert, in einem Fall jedoch wird sie exzessiv her-

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vorgestrichen. 8 Die Benes-Dekrete werden in drei Schulbüchern beim Namen genannt, in zweien davon auch im Zusammenhang mit ihrer Thematisierung in der österreichischen Innenpolitik im Jahre 2002. Die Machtergreifung der Kommunisten 1948 wird von den Schulbüchern pauschal für alle betroffenen Länder abgehandelt, nur eines wählt die Tschechoslowakei als Fallbeispiel und schildert den Ablauf der Ereignisse minutiös als Machtkampf zwischen Präsident Benesch (sie) und Ministerpräsident Gottwald. 9 Die Entstehung des Comecon wird von einem einzigen Schulbuch berichtet, die des Warschauer Pakts von dreien. In einem Schulbuch werden Militärmanöver in Südböhmen abgebildet, ein anderes hält fest, dass die Tschechoslowakei nicht am Marshallplan teilnehmen durfte. Der „Prager Frühling" des Jahres 1968 wird von sämtlichen Schulbüchern erwähnt, durchwegs eingebettet zwischen den Ungarn-Aufstand von 1956 und den Aufstand der Solidarnosc in Polen 1981. Fotos von Panzern in den Prager Straßen unterstreichen die Dramatik der Ereignisse. Auf dem Weg zur Wende des Jahres 1989 erwähnen sieben Schulbücher die Charta 77, in der die Reformwünsche deponiert wurden. Der Umsturz von 1989 wird mit einer Ausnahme von allen Schulbüchern besprochen, doch nur in dreien mit dem in Tschechien üblichen Ausdruck „Samtene Revolution" versehen. Mit zwei Ausnahmen wird Vaclav Havel als Anführer der Demokratiebewegung und erster Präsident der Republik nach der Befreiung vorgestellt und auch mehrfach abgebildet. Nach 1989 wird nur mehr der Trennung von Tschechien und der Slowakei im Jahr 1993 besonderes Augenmerk geschenkt. Die ausführliche Darstellung in einem Schulbuch wurde in der Neubearbeitung drastisch gekürzt, die Protagonisten Václav Klaus und Vladimir Meciar werden nicht mehr beim Namen genannt. 10 Der teils bevorstehende, teils vollzogene Beitritt zur NATO wird von fünf, jener zur EU von sieben Schulbüchern festgehalten.

Schulbücher

-

Analyse

Hier soll vor allem auf die Diskrepanzen zwischen der österreichischen und der tschechischen Sicht der tschechischen Geschichte hingewiesen werden. Besonderes Augenmerk soll den Bezeichnungen von Ereignissen gewidmet werden, da diese für die Kommunikation zwischen Österreichern und Tschechen von Bedeutung sind. Den Defiziten in den Schulbüchern dürften weitgehende Defizite im Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung entsprechen. Das Großmährische Reich des 9. Jahrhunderts, das von Tschechen wie Slowaken als Vorläufer ihrer nationalen Staatlichkeit angesehen wird, findet in keinem Schulbuch Erwähnung. Die Kulturleistung der Slawenapostel Zyrill und Method wird in einem einzigen Schulbuch gewürdigt, ein Hinweis auf ihr Wirken im Großmährischen Reich unterbleibt jedoch auch hier."

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Die Erhebung des Herzogtums Böhmen in den Rang eines Königreichs ist in den Schulbüchern nur aus der abgeänderten Bezeichnung auf den Landkarten zu erschließen. Völlig fehlt Karl IV., mit dem Prag zur Residenz eines römischen Kaisers aufrückte und der im Bewusstsein der Tschechen fest verankert ist; die von ihm gegründete Universität scheint nirgends als Karlsuniversität auf. Mit Jan Hus tritt zum ersten Mal ein deklarierter Tscheche und mit den Hussiten treten zum ersten Mal die Tschechen als Volk in Erscheinung, nachdem bisher nur allgemein von Böhmen die Rede gewesen ist. Der in Tschechien wegen seiner Visionen eines friedlichen Europa bis heute beliebte „Volkskönig" Georg von Podiebrad bleibt namentlich unerwähnt. Der habsburgische Blickwinkel dominiert wie schon bei König Ottokar auch bei der Erörterung der Böhmisch-Ungarischen Hochzeit von 1526. Charakteristisch sind Überschriften wie „Habsburg auf dem Weg zur Weltmacht" und „Die Entwicklung der Habsburgermonarchie"; mehrfach wird der Untertitel „Du, glückliches Österreich, heirate" bemüht. Dass die Sternstunde Österreichs in den Augen der Tschechen den Beginn ihres Niedergangs markiert, wird nicht reflektiert. Erstaunlich ist die Darstellung der für die tschechische Nation traumatischen Ereignisse von 1618: Kein einziges Schulbuch nennt die Schlacht am Weißen Berg beim Namen, die in der Sichtweise der Nationalbewegung immerhin die tschechische Geschichte in eine Zeit vorher und eine nachher geteilt hat. Dass der Brüderbischof und Pädagoge Jan Amos Komensky, der nach der Schlacht am Weißen Berg durch halb Europa umherirrte, in keinem Schulbuch erwähnt wird, verwundert schon nicht mehr. Bezüglich des kaiserlichen Generalissimus im Dreißigjährigen Krieg wird ausnahmslos wie in Schillers Drama die Namensform „Wallenstein" verwendet, während in Tschechien heute ebenso ausnahmslos Valdstejn (Waldstein) geläufig ist. Nach Wallenstein tritt auch in den Schulbüchern das ein, was die Tschechen „Temno", die Finsternis, nennen. Für zwei Jahrhunderte verschwinden die Tschechen als Gestalter ihrer Geschichte von der Bildfläche. Zwar werden die zentralisierenden Maßnahmen Karls VI., Maria Theresias und Josephs II. in ihrer Problematik erkannt, doch Widerstand gegen sie wird nur Ungarn und den österreichischen Niederlanden explizit zugeschrieben. Zwei für den Blickwinkel der Schulbücher typische Zitate seien hier angeführt. „Zeitreise 2" urteilt unter der Überschrift „Maria Theresia - erfolgreiche Reformen": „Zentrale neue Regierungsstellen [...] bedeuteten eine Modernisierung des Staats."12 Und „Geschichte live 3" schreibt über die „Heeresreform": „Ziel der Heeresreform Maria Theresias war es, dass alle Offiziere des riesigen Reiches eine verbesserte Ausbildung bekamen. Dies beinhaltete auch, dass sie die Soldaten in einer Sprache, und zwar in Deutsch, in einheitlichen Uniformen und mit einheitlicher Bewaffnung kommandierten." 13 Nimmt man hinzu, dass das zuletzt zitierte Schulbuch Maria Theresia „Mutter der Donaumonarchie" nennt, seine Aus-

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sagen also emotionell unterfüttert, kommt man den Denkmechanismen, die das Verständnis der Österreicher für tschechische Angelegenheiten bis heute blockieren, sehr nahe: Im auf den Staat bezogenen Denken der Deutschösterreicher haben Einsprüche von Nationalitäten oder anderen Sondergruppen wenig Platz. Die kriegerischen Ereignisse im Böhmen des 18. Jahrhunderts sind im Bewusstsein der Österreicher heute nicht mehr präsent; der Erste Schlesische Krieg wird von einem einzigen Schulbuch erwähnt, der Siebenjährige von gar keinem; den Namen der Kolingasse (nach einer siegreichen Schlacht gegen Preußen) weiß kaum mehr ein Wiener zu deuten. Defizite für die napoleonische Zeit und den Vormärz betreffen das Erstarken des Nationalbewusstseins, wie es etwa durch die Spracherneuerer Josef Dobrovsky und Josef Jungmann vorangetrieben wurde. Bei der Erörterung der Revolution von 1848 macht sich in den Schulbüchern die Forcierung der Sozialkunde und politischen Bildung auf Kosten der allgemeinen Geschichte bemerkbar. Da die nationale Frage im Österreich von heute, abgesehen von der Volksgruppenproblematik vor allem in Kärnten und von deutschnationalen Restelementen in der Bundespolitik, keine Rolle spielt, bewirkt die Gegenwartsbezogenheit der Schulbücher eine Marginalisierung der nationalen Thematik. Mit wenigen Ausnahmen, die die Gleichrangigkeit der liberalen und der nationalen Forderungen betonen, wird der Schwerpunkt auf erstere gelegt, konkret auf Verfassung, Meinungs- und Pressefreiheit sowie Bauernbefreiung. Durchwegs halten die Schulbücher fest, dass der Ausgleich mit Ungarn 1867 die anderen Völker benachteiligt hat, doch geschieht dies mit nur einer Ausnahme 14 in kursorischer Weise. Die grundlegende Umgestaltung der tschechischen Gesellschaft wird nirgends thematisiert, die wirtschaftliche Bedeutung Böhmens und Mährens nicht nach Nationalitäten spezifiziert und der kulturelle Aufschwung sowie der hohe Politisierungsgrad der Tschechen nur von einem einzigen Schulbuch 15 gewürdigt. Das Manko an Hintergrundinformationen äußert sich später in pauschalen Abwertungen etwa über die Nachfolgestaaten von 1918: „Viele Politiker, die nun an der Spitze der neuen Staaten standen, verfügten über wenig oder gar keine Erfahrung." 16 Der Zerfall des Habsburgerreiches wird von den Schulbüchern als traumatisches Erlebnis wiedergegeben. Schon Wilsons 14 Punkte werden vor allem unter dem Aspekt behandelt, dass sie auf Österreich nicht angewendet wurden. Landkarten illustrieren augenfällig, welchen Forderungen Österreichs im Friedensvertrag von Saint-Germain nicht stattgegeben wurde, wobei etwa Brünn stets als deutsche Stadt aufscheint, und die Schüler werden in Übungen angehalten, sich die nicht zugesprochenen Gebiete einzuprägen. Mit Nachdruck wird darauf hingewiesen, dass durch die neuen Grenzziehungen neue Minderheitenprobleme entstanden. Die Aufbruchsstimmung, die zumal in Prag herrschte, bleibt österreichischen Schülerinnen und Schülern durchwegs verborgen. Bis 1938 tritt die CSR ein einziges Mal in einem Schulbuch in Erscheinung - als

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Unterstützerin des Republikanischen Schutzbundes. 17 Das Desinteresse auch an den anderen Nachbarstaaten mit Ausnahme von Deutschland und Italien ist auffällig; es scheint geradezu eine Mitteleuropa-Phobie zu herrschen. Dem Münchner Abkommen wird viel Platz eingeräumt, doch machen nicht alle Schulbücher deutlich, dass über die Tschechoslowakei ohne deren Einbeziehung entschieden wurde. Kein einziges Schulbuch weist auch darauf hin, dass die Besetzung des Sudetenlandes durch Hitler-Deutschland die Aussiedlung der dort lebenden Tschechen zur Folge hatte. Generell wird das Münchner Abkommen als Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg zwischen der Besetzung Österreichs und dem Überfall auf Polen präsentiert. Der temporäre Sonderweg der Slowakei findet geringe Beachtung. Stimmen die Schulbücher in der Darstellung des Jahres 1918 völlig überein und begnügen sich im Hinblick auf die Loslösung der Tschechen vom Reichsverband mit der bloßen Kenntnisnahme, so divergieren sie in puncto Vertreibung der Sudetendeutschen 1945/46 stark. Während für drei Schulbücher die Vertreibung von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg generell kein Thema ist und für eines nur allgemein ohne Nennung einzelner Länder, nennen fünf Schulbücher die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei ausdrücklich. Unter diesen fünf Schulbüchern sticht die Neubearbeitung von „einst und heute 4" hervor, die dem Thema der Vertreibung in Koppelung mit den jugoslawischen AVNOJ-Dekreten volle vier Seiten widmet 18 - mit weitem Abstand die ausführlichste Berichterstattung über ein Thema mit tschechischem Bezug aus allen drei Jahrgängen der hier behandelten Schulbücher. Schon die ältere, im Berichtsjahr ebenfalls noch approbierte Fassung fällt mit Formulierungen auf wie „nach der deutschen Kapitulation rücksichtslos" und „wie Hunde aus ihrer Heimat (Tschechoslowakei) vertrieben", vor allem aber mit der nur eine Antwort zulassenden Frage: „Wie siehst du das brutale Vorgehen gegen die Deutschen?" Die Neufassung unterstreicht das Flüchtlingselend durch Hinweise auf Vergewaltigungen, Aushungerung und Folterung und erörtert ausführlich die Frage von Vergeltung und Kollektivschuld. Im Zusammenhang damit erwähnt „einst und heute 4" zwar als einziges Schulbuch die Auslöschung des Dorfes Lidice und zeigt auch Verständnis für den tschechischen Widerstand, doch schon die Formulierung „Die tschechischen Nachbarn waren zwar von Krieg verschont geblieben" greift ein weitverbreitetes Vorurteil auf, das die Aussöhnung mit den Tschechen erschwert. Die Stoßrichtung der Neubearbeitung ist unmissverständlich, dass Österreich vor dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union „auf ein Schuldeinbekenntnis der Tschechen und das Widerrufen der Benes-Dekrete bestehen sollte", wie eine weitere rhetorische Frage suggeriert. Von einem Schuldbekenntnis der Deutschen und Österreicher ist kaum wo die Rede. Nach der nur en passant erwähnten Machtergreifung der Kommunisten 1948 wird der „Prager Frühling" 1968 von allen neun Schulbüchern für die

Die Tschechen

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8. Schulstufe umso einprägsamer dargestellt. Fünf Schulbücher erwähnen die Gallionsfigur Alexander Dubéek. Mehr noch als der Ungarn-Aufstand von 1956 wird der „Prager Frühling" beziehungsweise dessen Niederschlagung unter dem Aspekt der österreichischen Innenpolitik betrachtet: Trotz ÖVP-Alleinregierung wurden wichtige Entscheidungen von allen Parteien gemeinsam getroffen, das Bundesheer bewährte sich an den Grenzen, Österreich kam seinen Verpflichtungen als Asylland nach. Erstaunlich starken Eindruck hat auf die Schulbuchautorinnen die Charta 77 gemacht. Zeitgenossenschaft dürfte hier wie auch bei der „Samtenen Revolution" von 1989 eine Rolle spielen. Die Erinnerung an Jan Pallach (sie), der sich 1969 auf dem Prager Wenzelsplatz verbrannt hat, scheint hingegen bereits verblasst zu sein, der Student wird nur einmal erwähnt. 19

Personen Ottokar

II.

Der Böhmenkönig wird in den Schulbüchern als Steigbügelhalter der Habsburger betrachtet und seine Regentschaft in Österreich trotz ausführlicher Darstellung auch der Verdienste letztlich als Episode aufgefasst. In keinem Fall wird Ottokar II. in den Rahmen der böhmischen Geschichte gestellt. Dass der Böhmenkönig, der in seiner Heimat auch nicht annähernd jene Beachtung genießt, die ihm in Österreich zuteil wird, im Bewusstsein der Österreicher so stark verankert ist, muss neben der Geschichtsschreibung gewiss Franz Grillparzers Drama zugeschrieben werden. In einem der Schulbücher scheint „König Ottokars Glück und Ende" als Untertitel unter dem bezeichnenden Haupttitel „Die Habsburger - ,Haus Österreich'" sogar auf. 20 Grillparzers Drama wird in Österreich aus patriotischen Anlässen vor allem wegen des „Lobspruchs auf Österreich" aufgeführt - so zur Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters 1955 und, in Kooperation mit den Salzburger Festspielen, auch im „Gedankenjahr" fünfzig Jahre danach - , transportiert aber zugleich Kenntnisse und Klischees über die böhmische Geschichte und die Tschechen, die nicht zu unterschätzen sind. Dies gilt auch dann, wenn die Schauplätze in den Inszenierungen kaum mehr kenntlich sind und das Drama tunlichst aller historischen Bezüge entkleidet wird. Auch in den Schulbüchern tritt „der energische Mann" 21 als fähiger Herrscher auf, der aber zu hoch hinaus will. Die Fokussierung auf die Psychologie verstärkt das Stereotyp des Tschechen, der in die Schranken zu weisen ist. Das Relief am Grillparzer-Denkmal im Wiener Volksgarten, das den knienden Ottokar zeigt, wie ihm Rudolf erhobenen Hauptes das Lehen von Böhmen und Mähren aufs Neue verleiht, hält zwischen Hofburg und Parlament die Demütigung in Stein gemeißelt fest. Die Schulbücher sind immerhin bemüht, für Ottokar II.

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Fairness einzufordern und auch die „zweifelhaften Methoden" Rudolfs ins Visier zu nehmen. 22

Der habsburgische Blickwinkel: König Ottokar kniet vor König Rudolf. Relief am Grillparzer-Denkmal im Wiener Volksgarten

Beachtenswert sind österreichische Initiativen nach 1989, im Gedenken an den Böhmenkönig das Gemeinsame hervorzustreichen. Hainburg an der Donau etwa gedachte im Jahr 2002 der Heirat Ottokars II. mit Margarethe von Österreich, die in der Stadt vor 750 Jahren stattgefunden hatte. Ein wissenschaftlicher Vortrag, eine Ausstellung im Stadtmuseum sowie eine szenische Lesung aus einem Ottokar-Stück von Erna Frank machten in der festlich beflaggten Stadt auf die besondere Beziehung des Königs zu ihr aufmerksam. 23 In Dürnkrut wurde 2003 von der Musikhauptschule gemeinsam mit Jugendlichen aus der slowakischen Partnergemeinde Senica ein Musical „Ottokar" aufgeführt, das den Böhmenkönig als selbstkritischen Herrscher zeigt, dem an seiner Bahre auch König Rudolf Anerkennung zollt. Ottokar-Wein, Ottokar-Kipferln sowie Ottokar-Leibchen mit rotem Aufdruck sollten die Erinnerung an Ottokar II. beleben. Am Schlachtort erinnert ein Gedenkstein an das Jahr 1278.24 Jan Hus Erscheint Ottokar II. in den österreichischen Schulbüchern als Wegbereiter der Habsburger, so Jan Hus als Vorläufer der deutschen und Schweizer Reformatoren. Nur ein einziges von insgesamt neun Schulbüchern führt unter seinen Forderungen eine nationale konkret an - die „freie Predigt des Wortes Gottes auch

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in der tschechischen Landessprache" - und vermerkt, dass die Lehren von Hus vor allem „bei der tschechischsprachigen Bevölkerung Böhmens auf begeisterte Zustimmung" stießen.25 Einige Schulbücher sprechen allgemein von „nationalen Ideen", etwa „weil in Böhmen Tschechen und Deutsch-Böhmen einander feindlich gegenüber standen", 26 oder nennen Hus zumindest einen „tschechischen Geistlichen". Andere jedoch erwähnen die nationalen Anliegen, die in der Hus-Rezeption der Tschechen seit Langem im Vordergrund stehen, mit keinem Wort. Angesichts dieses Befundes verwundert es nicht, dass der in Tschechien bis heute sprichwörtliche Wortbruch Kaiser Sigismunds, der Hus zum Konzil in Konstanz freies Geleit zugesichert hatte, nur in einem einzigen Schulbuch Erwähnung findet. 27 Auch der Kelch als Symbol der tschechischen Reformation ist den Schulbuchautorinnen kaum eine Erwähnung wert. So günstig Jan Hus persönlich beurteilt wird, so ungünstig fällt das Urteil über seine Anhänger aus. Sie „fallen in die Nachbarländer ein", zumal „der Norden Österreichs hatte unter den Hussitenkriegen zu leiden". 28 Nur ausnahmsweise wird die Spaltung der Aufständischen in Radikale und Gemäßigte, ihr Kampf gegeneinander und schließlich der Sieg der Gemäßigten referiert. Die Aktualisierung des Hussitismus durch den Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert spiegelt sich in einem Aufruf des tschechischen Exil-Generals Ingr an das tschechische Volk von 1944, der in einem Schulbuch abgedruckt ist: „Wenn unser Tag kommt, dann wird die ganze Nation den alten Kampfruf der Hussiten anwenden: ,Schlagt sie, tötet sie, lasst keinen am Leben.' Jeder sollte sich nach der geeigneten Waffe umsehen, um die Deutschen zu treffen." 29 Im Jahr 1998 hat Papst Johannes Paul II. auf dem Wiener Heldenplatz den Österreicher Jakob Kern selig gesprochen. Kern war nach dem Ersten Weltkrieg in das Prämonstratenserstift Geras eingetreten, um für einen Ordensbruder des Stiftes Strahov Sühne zu leisten, der sich der neu gegründeten Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche angeschlossen hatte. 30 Ein Patriarch dieser Kirche, Josef Spak, war am 2. April 2000 zu Gast in dem Weinviertier Ort Würnitz bei der Aufführung eines Theaterstücks, das die Hussitenkriege vor den Toren Wiens zum Inhalt hatte und die Erinnerung an sie zum Anlass einer völkerverbindenden und interkonfessionellen Initiative nahm. 31 Die Stadt Retz, in der die Hussiten 1.000 Menschen niedergemetzelt hatten,32 setzt seit 2005 bei einem neuen Sommerfestival auch einen grenzüberschreitenden Schwerpunkt und lud zur Eröffnung Bundespräsident Heinz Fischer und Altpräsident Václav Havel ein, aus Havels Werken zu lesen.33

Frantisek

Palacky

Frantisek Palacky wird von österreichischen Politikern gern als Kronzeuge angerufen, wenn es gilt, die gute Nachbarschaft, ja Partnerschaft mit den Tschechen zu beschwören. Zitiert wird dabei stets der „Absagebrief", in dem der His-

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toriker die Gründe darlegt, warum die Tschechen an der Deutschen Nationalversammlung, am Paulskirchen-Parlament in Frankfurt, nicht teilnehmen können. Der prägnante Schlüsselsatz, der auch in einem Schulbuch zitiert wird, lautet: „Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen." Zeitloser formuliert und dadurch auch zur Förderung des österreichischen Patriotismus geeignet ist der ebenfalls zitierte Satz: „Österreich ist ein Staat, dessen Erhaltung eine hohe und wichtige Angelegenheit nicht meines Volkes allein, sondern ganz Europas ist und sein muss." 34 Ausgeblendet wird in der österreichischen Palacky-Rezeption hingegen die Enttäuschung, die den Politiker und die von ihm angeführten Alttschechen befiel, als die unter ihrer Mitwirkung ausgehandelte Kremsierer Verfassung, die den Nationalitäten der Monarchie weitgehende Gleichberechtigung beschert hätte, niemals in Kraft trat und als die Tschechen nach dem Ausgleich von 1867 bis zum Ende der Monarchie mit den Ungarn staatsrechtlich niemals gleichziehen konnten. Und ausgeblendet wird vor allem, dass die heute von kaum einem Tschechen in Zweifel gezogene Trennung der böhmischen Länder von Österreich im Jahr 1918 in Überwindung der Konzeption Palackys erfolgt ist. Die Tschechen assoziieren mit Palacky ein ganz anderes, zutiefst skeptisches Diktum aus seinem Mund, das österreichischen Politikern kaum je über die Lippen kommt: „Wir waren vor Österreich da, wir werden auch nach ihm da sein."

Václav

Havel

Kein tschechischer Politiker ist in Österreich jemals so populär geworden wie Václav Havel. Davon legen auch die Schulbücher Zeugnis ab. Sie feiern den Schriftsteller als Gründer der Bürgerrechtsbewegung Charta 77, der von den Kommunisten mehrmals eingesperrt und dann 1989 mit ihren Stimmen zum Staatsoberhaupt gewählt wurde. Zusammen mit dem Polen Lech Walesa symbolisiert Havel den erfolgreichen Widerstand gegen die marxistische Diktatur in Osteuropa. Seine Versöhnungsgesten gegenüber den vertriebenen Sudetendeutschen machen ihn zum positiven Gegenbild seines Amtsvorgängers Edvard Benes, und sein durchaus nicht von allen Tschechen goutiertes Agieren in den Niederungen der tschechischen Innenpolitik wie auch seine erfolglosen Versuche, den Zerfall der Tschechoslowakei aufzuhalten, trüben sein Ansehen in Österreich nicht. Was in Österreich selten gesehen wird, ist Havels tiefe Verwurzelung in den Idealen jener Ersten Tschechoslowakischen Republik, die in den Schulbüchern so auffällig übergangen und unausgesprochen auf die Unterdrückung der deutschen Mitbürger reduziert wird. Als Spross einer der angesehensten, wohlhabendsten und gebildetsten Familien des Landes verkörpert Havel jenes Tschechentum, dessen gesellschaftlicher Aufstieg in der untergehenden Donau-

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monarchie mit so großem Missmut verfolgt und in Österreich bis heute nicht in seiner ganzen Dimension wahrgenommen wurde. Václav Havel ist durchaus ein Humanist, der der ganzen Welt gehört, aber er ist auch ein unverwechselbar tschechischer Humanist.

Fritz

Muliar

Jaroslav Haseks „Abenteuer des braven Soldaten Schwejk" haben einen Nationalhelden ganz besonderer Art geschaffen, der in seiner Heimat bis heute kontrovers diskutiert wird. Taugt er als Vor- oder ist er nicht eher ein Zerrbild? Kein Zweifel herrscht hingegen an dem beißenden Spott, den der tschechisch geschriebene Svejk über die Donaumonarchie ergießt. Er wird im historischen Kontext der sich anbahnenden staatlichen Emanzipation der Tschechen gese-

Der Österreicher prägt das Bild der Tschechen: Fritz Muliar als braver Soldat Schwejk

In Österreich erscheint der brave Soldat als einer, der sich über seine Vorgesetzten lustig macht, aber auch immer ein Schlupfloch findet, um sich aus einem Schlamassel wieder herauszuwinden. Der deutsch geschriebene Schwejk hat etwas von Roda Roda an sich, von den Soldatengeschichten der „Muskete",

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er ist ein doch irgendwie domestizierter Anarchist. Erstaunlich ist das Bedürfnis der Österreicher (und auch der Tschechen), die Kunstfigur immer wieder leibhaftig auftreten zu sehen. Der Verfilmungen und Dramatisierungen ist kein Ende. In Österreich und weithin auch in Deutschland wird Schwejk mit Fritz Muliar identifiziert, der den braven Soldaten in nicht weniger als 13 Folgen einer Fernsehserie verkörpert hat, und bedenkt man, wie sehr Schwejk mit dem Tschechen schlechthin gleichgesetzt wird, vielleicht mehr als Ottokar, Hus, Palacky und Havel zusammengenommen, so ist kaum zu ermessen, wie weit der österreichische Schauspieler das Bild des typischen Tschechen in Österreich seit 1970 mitgeprägt hat. Und die Österreicher sind bass erstaunt, wenn sie erfahren, dass die Tschechen mit dem Namen Fritz Muliar nichts anfangen können und bei Schwejk automatisch an ihren Rudolf Hrusinsky denken ,.. 35

Orte In einer Umfrage für das Projekt „Memoria Austriae" im Jahr 1998 wurde auch der Bezug der Österreicher und Österreicherinnen zu verschiedenen Ländern erhoben. 36 Die Frage lautete: „Einige frühere österreichische Gebiete/Städte liegen heute außerhalb Österreichs. Gibt es solche Gebiete oder Städte, die Sie persönlich mit Österreich verbinden?" Nach Ländern geordnet ergaben die Prozentsätze für Italien 52%, für Ungarn 24%, keine Gebiete/Städte 17%, Tschechien 16%, Slowenien 9%, Kroatien 4%, die Slowakei und andere Angaben je 3 %, Deutschland 2 % sowie Rumänien 1 %. Keine Angaben machten 17 % der Befragten. Die Ergebnisse überraschen summa summarum nicht: Ist das massive Votum für Italien durch die Verbundenheit Österreichs mit Südtirol bedingt, so bestätigt der Vorrang Ungarns vor Tschechien den Befund aus der hier vorgelegten Untersuchung der Schulbücher. Die Bedeutung der Schulbildung und des Geschichtsunterrichts wird durch die Umfrage deutlich unterstrichen: Einen Bezug zu Tschechien stellten 13% der Befragten mit Volks- und Hauptschulbildung her, 14% mit Berufs- und Fachschule, 21 % mit Matura, aber 33% mit Hochschulabschluss. Dieses Ergebnis spiegelt sich auch in der Gliederung nach sozialen Schichten wider: Je 16% der A- und B-Schicht sowie 18% in der Cund D-Schicht stehen nur 9% in der Ε-Schicht gegenüber. Keine großen Überraschungen birgt die Aufgliederung nach Bundesländern: Tschechien assoziieren mit Österreich 30% der Befragten in Wien, 21 % in Niederösterreich, 19% in Oberösterreich, 14% in Salzburg, 10% in Kärnten, 9 % im Burgenland, je 4 % in der Steiermark und in Vorarlberg sowie 3 % in Tirol. Den Ausschlag gibt offensichtlich die geografische und im Fall Wiens wohl auch die demografische Nähe. Die Sonderstellung der Bundeshauptstadt lässt sich auch aus der Aufstellung nach Ortsgröße ablesen: Denken an Tsche-

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chien 9% der Österreicher, die in Orten mit bis zu 50.000 Einwohnern leben, und ähnliche 12% in Orten bis zu 5.000, so sind es in der einzigen Millionenstadt des Landes 21 %. Was die kleinen Orte anbelangt, deckt sich dieser Befund mit dem Ergebnis, dass von allen Berufsgruppen die Landwirte mit weitem Abstand den höchsten Wert des persönlichen Bezugs zu Tschechien aufweisen (32%, gefolgt von den Arbeitern mit 20 und den Pensionisten mit 19%). Die topografischen Kenntnisse der Österreicher haben im 20. Jahrhundert mehrmals gravierende Änderungen und im Hinblick auf das heutige Tschechien eine kontinuierliche Reduktion erfahren. Mit dem Zerfall der Donaumonarchie und der nachfolgenden wirtschaftlichen Depression endete abrupt der Zustrom von Tschechen und Deutschen aus den böhmischen Ländern nach Wien. Mit der Vertreibung der Sudetendeutschen verschwanden vor allem Nord- und Westböhmen aus dem Bewusstsein der Österreicher, das Sudetenland im engeren Sinn kann heute wohl nur von einer Minderheit der Österreicher lokalisiert werden. Die Kollektivierung und Verstaatlichung der Betriebe sowie die Eingliederung der Tschechoslowakei in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe kappten die letzten noch bestehenden Wirtschaftsbeziehungen; der Eiserne Vorhang schließlich unterbrach alle Nachbarschaftskontakte und machte das Land mit Ausnahme von Prag auch touristisch zur Terra incognita. Wie sehr die Ortskenntnisse geschrumpft sind und trotz Grenzöffnung noch weiter schrumpfen, dokumentiert sogar ein Schulbuch: Dort wurde bei der Neubearbeitung im Jahr 2002 Olmütz in „Ölmütz" umbenannt und der Vermerk „in der heutigen Slowakei" hinzugefügt. 37 Orte in Tschechien sind für die Österreicher stärker mit Geschichte befrachtet als solche in anderen Ländern. Dabei tritt ein gravierendes Problem der Nomenklatur zutage, da historische Ereignisse weiterhin mit deutschen Ortsnamen tradiert werden. So wird dem Schlachtort Austerlitz nur in einem von fünf Schulbüchern, die das Ereignis erwähnen, der tschechische Name Slavkov u Brna hinzugefügt; 38 von den sieben Schulbüchern, die die Schlacht bei Königgrätz anführen, führt kein einziges die tschechische Bezeichnung an (Hradec Králové). Letzteres gilt auch für Karlsbad, Olmütz, Kremsier und Nikolsburg. Dadurch kommt es zu einer Parallelgeografie: einer historischen, die im Geschichtsatlas überlebt, und einer von heute, die die Straßenkarten prägt. Zur Deckung kommen die deutschen und tschechischen Bezeichnungen am ehesten bei größeren Orten in Reichweite der österreichischen Grenze: Brünn wird nach wie vor mit Brno identifiziert, Znaim mit Znojmo, Budweis mit Ceské Budëjovice. Hingegen wird Breclav trotz Grenznähe nicht mehr als Lundenburg erinnert - der Ort wurde nach der Wende von 1989 als Einkaufsparadies ohne seine deutsche Vorgeschichte neu entdeckt. Geradezu eine Mythisierung der Topografie bewirkt die literarische und kunsthistorische Brille, mit der bestimmte Landstriche im heutigen Tschechien von Österreichern betrachtet werden. Das betrifft vor allem „Stifters Böhmerwald", „Schieies Krumau" und „Kafkas Prag". Wie sehr diese Bilder verfestigt

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sind, zeigt etwa Walter M. Weiss, der in seinem Tschechien-Reiseführer von 2005 in die „Kunststadt Krumau" mit den Worten einführt: „Was Kafka für Prag ist Egon Schiele für Krumau." 39 Dass diese Klischees seit der Samtenen Revolution auch von tschechischer Seite bedient werden, vertieft den Graben zwischen dem fiktiven und dem realen Bild, das die Österreicher von Tschechien und von den Tschechen haben, noch zusätzlich. Darüber hinaus haben die Tschechen ihre eigenen Klischees, die österreichischen Touristen freilich zumeist verborgen bleiben. Tschechische Kinder etwa träumen vom „Tal der Großmutter" [Babiccíno údolí], dem durch einen Film noch stilisierten Schauplatz von Bozena Nemcovás klassischem Roman „Großmutter" [Babicka] in Nordböhmen. Die Entmaterialisierung der Topografie auf die Spitze treibt Böhmen als reiner Mythos, wie ihn etwa Ingeborg Bachmann in ihrem an eine Wendung aus Shakespeares „Wintermärchen" anknüpfenden Gedicht „Böhmen liegt am Meer" entwickelt. Da wird Böhmen eine Metapher für das „Zugrundegehen", zur Chiffre für ein Niemandsland, das „eines schönen Tags ans Meer begnadigt" wird. 40 Die Landkarte Tschechiens in den Köpfen von Tschechen und Österreichern unterscheidet sich in vielen Bereichen. In der Geschichte beginnt die Differenz schon mit der Landnahme: Jeder Tscheche kennt zumindest dem Namen nach den Berg Rip nördlich von Prag, auf dem Stammvater Cech das Land in Besitz genommen haben soll. Von dort wurde der Grundstein des Nationaltheaters nach Prag gebracht, und zumindest in scherzhafter Rede ist der sagenhafte Urahn auf dem hoch aufragenden Hügel bis heute im Sprachgebrauch präsent; in ausländischen Reiseführern sucht man ihn zumeist vergebens. In Wien kaum bekannt sind auch die Ausgrabungen aus der Zeit des Großmährischen Reiches, obwohl Mikulcice und Pohansko von Wien aus in einem Halbtagsausflug erreichbar sind. Aus dem Mittelalter sei von den Lieux de mémoire ein Schlachtort der Hussitenkriege erwähnt: Lipany ist den Tschechen bis heute ein Synonym für verhängnisvolle Uneinigkeit. Ein historisches Panorama, das für die Landesausstellung 1891 errichtet wurde, erinnert in Prag an das Ereignis bis heute, Gedenktafeln am Obelisken am Schlachtort selbst zeigen auf, wie das Gedenken immer wieder wachgehalten wurde. Der Reiseführer von Walter M. Weiss erwähnt nur die Schlacht von Kolin, die wenige Kilometer von Lipany entfernt stattgefunden hat, und bildet das dortige Schlachtendenkmal ab.41 Im tschechischen Autoatlas wiederum scheint das Denkmalsymbol nur bei Lipany auf.42 Aus der jüngeren Geschichte seien zwei Orte herausgegriffen, die mit den beiden Staatsgründern Masaryk und Renner verbunden sind. Das Schloss Lány westlich von Prag hatte als Sommerresidenz des ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik etwa jenen Stellenwert, den einst die Kaiservilla in Ischl als Sommersitz Kaiser Franz Josefs gehabt hatte, und steht zum Unter-

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schied von letzterer bis heute dem jeweiligen Staatsoberhaupt zur Verfügung. Václav Havel hat den Ort durch die Wiederbelebung der „Gespräche aus Lány", wie sie einst Masaryk mit Karel Capek geführt hatte, erneut im Bewusstsein seiner Landsleute verankert. In Österreich hingegen ist der Ort kaum bekannt, obwohl der hier im Jahr 1921 geschlossene Vertrag den bis heute gültigen Grenzverlauf mit der damaligen Tschechoslowakei fixierte, und die Namensgleichheit im Deutschen mit Lana in Südtirol stiftet weitere Verwirrung. Untertannowitz wiederum, ein Ortsname, der als Geburtsort von Karl Renner sogar auf einer erklärenden Straßentafel an der Wiener Ringstraße vermerkt ist, dürfte den meisten Tschechen auch in seiner tschechischen Form Dolni Dunajovice fremd sein. Durch das im April 2005 im Beisein der Präsidenten Václav Klaus und Heinz Fischer eröffnete Österreichisch-Tschechische Dialogzentrum, das an Stelle des erst nach 1989 abgerissenen Geburtshauses errichtet wurde, mag sich dies freilich ändern. 43 Völlig ausgeklammert bleiben im österreichischen Bewusstsein Orte, die außerhalb Tschechiens liegen, in der Geschichte der Tschechen aber einen mitunter beträchtlichen Referenzwert besitzen. Genannt seien Saloniki als Herkunftsort der Slawenapostel Zyrill und Method; Amsterdam und Naarden als Verbannungs- und Sterbeort Jan Ámos Komenskys; Moskau als Ziel nationaler Wallfahrten im 19. Jahrhundert und kommunistischer Politiker im 20.; Schlachtorte des Ersten Weltkriegs wie Zborov, an denen die in Tschechien bis heute gefeierten Legionen tschechischer Freiwilliger gegen die Donaumonarchie kämpften; Pittsburgh mit dem Abkommen, in dem sich Tschechen und Slowaken auf die Gründung einer gemeinsamen Republik einigten; der Duklapass als Schauplatz des antifaschistischen Slowakischen Volksaufstands 1944 und Kaschau als Synonym für die Wiedererrichtung der Tschechoslowakei 1945. Nur Konstanz als Ort der Verbrennung von Jan Hus und München als Ort des Abkommens, mit dem die Zerschlagung der Tschechoslowakei beschlossen wurde, werden in den österreichischen Schulbüchern in angemessener Weise gewürdigt. Eklatant sind die geografischen Bewusstseinsunterschiede in puncto Umweltschutz: Weiß jeder Tscheche, jede Tschechin um die katastrophalen Lebensbedingungen in den Kohlenrevieren Nordwestböhmens Bescheid, so kreist der Diskurs in Österreich fast ausschließlich um die Atomkraftwerke Temelin und Dukovany. Dass die Meinungen in Österreich und Tschechien so heftig aneinandergeraten konnten, hängt völlig losgelöst von der Sachfrage pro oder contra Kernenergie mit der in Österreich weithin fehlenden Kenntnis der realen Umweltprobleme, aber auch der mentalen Grundbefindlichkeit der Tschechen zusammen. Den tschechischen Atomkraftwerken mangelnde technische Standards vorzuwerfen, berührt das seit dem 19. Jahrhundert aufgebaute tschechische Selbstverständnis als einer nicht nur gesellschaftlich-politisch, sondern auch technologisch fortschrittlichen Nation. Zugleich weckt es die nie erloschene

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Erinnerung an Österreich als Lehr- und Zuchtmeister, der seine Schüler und Schützlinge noch bevormundet, wenn diese längst flügge geworden sind.

Am Konflikt um das Atomkraftwerk Temelin wird das geringe Verständnis der Österreicher für tschechische Verhaltensweisen offenbar

Blinde Flecken auf der geistigen Landkarte betreffen auch die Industriestandorte: Ist die florierende Autoindustrie in Mladá Boleslav auch in Österreich bekannt, so stehen die Probleme im Mährisch-Schlesischen Kreis rund um Ostrau nur Wirtschaftskreisen deutlich vor Augen. Bei Kurorten denken Österreicher nur an die „kaiserlichen" Karlsbad, Marienbad und Franzensbad und kaum je an die „republikanischen" Podiebrad und Luhacovice. Im kirchlichen Bereich beschränkt sich die Kenntnis der Wallfahrtsorte auf die grenznahen Dobrá voda [Gutwasser], Vránov [Frain] undTasovice [Tasswitz], den Geburtsort des Wiener Stadtpatrons Klemens Maria Hofbauer; die großen Wallfahrtsorte der Heilige Berg bei Pribram in Böhmen, der Svaty Kopeyek bei Olmütz und der Svaty Hostyn, aber auch das mit dem heiligen Method verbundene Velehrad in Mähren - sind in Österreich selbst in kirchlichen Kreisen weitgehend unbekannt. Zum Abschluss der Erörterung der faktischen Orte der Erinnerung sei ein Blick auf Prag geworfen. In der Aufzählung der Hauptsehenswürdigkeiten Hradschin, Veitsdom, Karlsbrücke, Altstädter Ring und Wenzelsplatz stimmen tschechische und deutschsprachige Reiseführer überein, doch schon bei deren Charakterisierung beginnen die Nuancierungen. So erwähnt Walter M. Weiss am Hradschin zwar, dass im Goldenen Gässchen kurzfristig Franz Kafka Quartier genommen hat, 44 nicht jedoch, dass die Burg Sitz des Präsidenten der Re-

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publik ist. Das Ständetheater ist für ihn nur der Uraufführungsort von Mozarts „Don Giovanni" und „Clemenza di Tito", 45 während es für die Tschechen auch der Uraufführungsort ihrer Nationalhymne ist. Das Nationaltheater, das für die Tschechen ein ganz besonderes Identifikationsobjekt ist („Národ sobë", „Das Volk sich selbst", steht über dem Bühnenprospekt), wird nur gestreift, der Name der ihm gegenüberliegenden Slaweninsel, auf der 1848 der Slawenkongress tagte, wird nicht erklärt. 46 Beachtlich ist immerhin der Hinweis auf das Nationaldenkmal auf dem Vitkov-Hügel und auf den Weißen Berg unter den „Attraktionen abseits des Mainstreams". Und jedenfalls hält Weiss keinen Besucher der Stadt davon ab, auch deren tschechische Komponente bewusst wahrzunehmen, wie dies etwa Detlev Arens im DuMont-Reiseführer „Prag" von 1991 tat, indem er über die Ausstellung im Lustschloss Stern [Hvezda] urteilte: „Sie ehrt das Werk des Schriftstellers Alois Jirásek (1851-1930) und des Malers Mikolás Ales (1851— 1913). Bei allem Respekt vor ihrem Schaffen bleibt festzuhalten, dass eine solche Gedenkstätte die kunsthistorische Bedeutung des Schlosses selbst eher herabsetzt." 47 Mag man Jiráseks historische Romane und AleSs Sgraffiti und Buchillustrationen künstlerisch auch gering schätzen, so sind sie doch repräsentativ für den tschechischen Nationalismus. Von der Beschäftigung mit ihnen abzuraten, gleicht einem Affront.

Vertrautheit und Fremdheit Ein wesentlicher Aspekt des Verhältnisses der Österreicher zu den Tschechen ist die Präsenz von Tschechen im eigenen Land, konkret in der einstigen Reichshaupt- und Residenzstadt und heutigen Bundeshauptstadt Wien.48 Diese Präsenz unterscheidet sich gravierend von der Präsenz anderer Volksgruppen. Während etwa die Madjaren und Polen in Wien vornehmlich durch ihre gesellschaftliche Elite vertreten waren, aber nie einen bedeutenden Bevölkerungsanteil stellten, und während umgekehrt die zugewanderten Juden zwar zahlenmäßig den Tschechen vergleichbar waren, aber der politischen Repräsentanz entbehrten, umfassten die Tschechen zur Zeit ihrer stärksten Zuwanderung zwischen 1848 und 1918 alle gesellschaftlichen Klassen, was bis heute nachwirkt. So werden Angehörige des böhmischen Adels nach wie vor als solche wahrgenommen. Sie stehen auch in der Republik an exponierten Stellen der österreichischen Gesellschaft und sind durch ihre Geschichts- und oft auch Sprachkenntnisse, mehr noch aber durch ihre übernationale Grundeinstellung zur Vermittlung zwischen den beiden Völkern prädestiniert. Erwähnt seien hier nur Kardinal Christoph Schönborn, der 1945 in Böhmen geborene Erzbischof von Wien; Kar(e)l Schwarzenberg, Kanzler von Präsident Václav Havel und seit 2004 Abgeordneter zum Tschechischen Senat; sowie die Journalistin Barbara

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Coudenhove-Kalergi, der tiefschürfende und zugleich allgemein verständliche Analysen des österreichisch-tschechischen Verhältnisses zu verdanken sind.49 Die Tätigkeit tschechischer Politiker im Reichsrat kennzeichnete die parlamentarische Endphase der Donaumonarchie. An erster Stelle zu nennen ist der „Befreier-Präsident" Tomás G. Masaryk, der in Wien schon studiert hatte. Deklariert tschechische oder auch national neutrale böhmische Beamte in der ministeriellen Bürokratie boten die Basis für tschechisches Lobbying. Als Beispiel für tschechische Unternehmer sei der Architekt Josef Hlávka genannt, der in Wien als Baumeister durch Errichtung so prominenter Gebäude wie der Hofoper und des Akademischen Gymnasiums zu großem Reichtum gelangte und später als Mäzen bei der Errichtung der Böhmischen Akademie der Wissenschaften, Künste und Literatur Pate stand.50 Ist der Beitrag der Tschechen zur Politik, Wirtschaft und Kultur Österreichs heute eher in Tschechien bekannt, so ist das Wissen um die Anwesenheit tschechischer Handwerker und Arbeiter auch in Wien nach wie vor Gemeingut. Sprichwörtlich ist das Wiener Telefonbuch, das sogar in einem Schulbuch als Beleg zitiert wird;51 Georg Kreisler hat einen „Telefonbuchblues" geschrieben, der in einem Refrain aus tschechischen Familiennamen kulminiert. Ein Blick in das Telefonbuch zeigt neben archaischen Schreibweisen viele Facetten der Eindeutschung, und nur wenige Namensschreibungen folgen der aktuellen tschechischen Orthographie. Von den assimilierten Tschechen zu unterscheiden ist die tschechische Volksgruppe, deren Existenz den Wienern theoretisch zwar ebenfalls noch bekannt ist, die ihnen aber im Alltag kaum mehr begegnet. Auf Grund der wechselvollen Zeitläufte im 20. Jahrhundert umfasst die nunmehr auch staatlich anerkannte Volksgruppe unterschiedlichste Grade der Mitgliedschaft von harten Kernen bis zu peripherer Zugehörigkeit. 52 Wie weit die Integration gehen kann und welche Probleme sie aufwirft, sei am Beispiel von Leo Slezak aufgezeigt. Der 1946 verstorbene Heldentenor gilt in Wien noch heute als Inbegriff des tschechischen Sängers, ja des Tschechen überhaupt. Seine humorvollen Bücher haben zu seinem Ruhm ebenso beigetragen wie seine zweite Karriere als Filmschauspieler, wobei in Kritiken von „Geschichten aus dem Wienerwald" gerühmt wurde, wie überzeugend er einen Heurigensänger darstelle. 53 In Tschechien hingegen ist Slezaks Name kaum bekannt: Während ihm das Österreich-Lexikon von 2004 ein Foto und 17 Textzeilen widmet, 54 sucht man ihn im tschechischen „Who is who" vergeblich 55 der Wagnersänger gilt als Sympathisant der Deutschen und als Renegat schlechthin. Umgekehrt sind Österreicher verblüfft, wenn sie in Tschechien mit Erna Destinnová konfrontiert werden. Die 1924 verstorbene Sängerin genießt in ihrer Heimat wegen ihres dezidiert antiösterreichischen Engagements im Ersten Weltkrieg bis heute einen legendären Ruf. 56 Nach dem Abklingen des Nationalismus stellt die Integration von Tschechen in die österreichische Gesellschaft kein Problem mehr dar; sie ist nicht

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mehr Gegenstand des gesellschaftlichen und politischen Diskurses. Tschechen haben in der Zweiten Republik Eingang in angesehene Institutionen gefunden: So leitete Jaromir Oulehla die Spanische Reitschule, Pavel Kohout war Dramaturg des Burgtheaters und Jiri Grusa leitet seit April 2005 die Diplomatische Akademie. Die beiden Letztgenannten können als die wichtigsten Mittler zwischen den beiden Völkern nach dem Zweiten Weltkrieg von tschechischer Seite bezeichnet werden. 57 In der Apperzeption der Tschechen in Wien hat sich seit dem Ende der Habsburgermonarchie ein fundamentaler Wandel vollzogen: Waren es seinerzeit die „Ziegelböhm", die Schneider und Tischler gewesen, die massenhaft und aus rein wirtschaftlichen Gründen nach Wien gezogen waren, so kamen in der Zweiten Republik vor allem höher qualifizierte Tschechen ins Land, die kaum daran interessiert waren, als Tschechen Flagge zu zeigen oder gar Wien zu tschechisieren, wie dies in der Luegerzeit unterstellt worden war. Die Volksgruppe hatte durch einen zweimaligen Exodus gerade nationalbewusster Mitglieder ab 1918 und ab 1945 einen Aderlass erlitten, und viele Tschechen hatten sich mittlerweile, teils durch Gewöhnung, teils unter dem Germanisierungsdruck ihrer Umgebung, assimiliert.

Fehlanzeige Masaryk: Der „Befreier-Präsident" mit tschechoslowakischen Legionären in den USA 1918

Eine merkwürdige Folge dieser Entwicklung ist, dass die Tschechen von den Österreichern in einem gewissen Sinn als ein Volk von gestern wahrgenommen werden. So präsent sie vor 1918 gewesen waren, so sehr schwanden sie mit dem Zerfall der Monarchie aus dem Blickfeld. Die Schulbücher legen beredtes

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Zeugnis davon ab, wie sehr der Eiserne Vorhang im Bewusstsein schon damals niederging: Die von vielen Tschechen als Goldenes Zeitalter erlebte Erste Tschechoslowakische Republik wird völlig ausgeblendet, nicht ein einziges Schulbuch nennt den Namen des Staatsgründers Masaryk, und das nächste von allen Schulbüchern referierte Ereignis aus der Geschichte der Tschechoslowakischen Republik ist deren Zerschlagung im Herbst 1938. Die Abschottung zur Zeit des Kommunismus und die weitgehend abgeschlossene Integration machte die einst verachteten und gefürchteten Tschechen schließlich zum Gegenstand der Nostalgie, wofür die von Heinz Conrads in der Sendung „Was gibt es Neues?" präsentierten Lieder die besten Belege darstellen. „Das ist die alte Polka! Auch sie war einmal jung und schön" heißt es in dem Lied „Beim Swoboda"; 58 „Zeit bleibt nicht steh'n" philosophiert Meister Vibiral in der „Tiktak-Polka", die eigentlich die Zeitlosigkeit anpreist. 59 „Wie Böhmen noch bei Öst'reich war" stellt das Nonplusultra der Nostalgie dar und fasst die Klischees zusammen: Da „hat sich mein Vater g'holt aus Brünn a echte Wienerin"; darauf folgt die böhmische Köchin: „keine hat gemacht wie sie die Skubanky"; darauf der problemlose Austausch zwischen Tschechen und Österreichern: „Er hat ihr wieder beigebracht, wie man a Banfleisch macht. A bisserl Wien, a bisserl Brünn, da liegt a gute Mischung drin, entstanden bin zum Schluss dann i, aus diesem Potpourri!" „Wenn Böhmen auch und Mähren nicht mehr zu uns gehören" spricht die Affinität zu Mähren und das Besitzdenken der Österreicher an; und zu guter Letzt wird an die einst geöffneten Grenzen erinnert: „so denken trotzdem viele Leut' noch an die Zeit, wie noch ganz Leitomischl beim Zauner war in Ischl und halbert Wien in Prag beim Katholikentag." 60 Die erst nach der Entstehung all dieser Lieder einsetzenden Migrationsströme aus Jugoslawien sowie aus dessen Nachfolgestaaten und mehr noch jene aus der Türkei verstärken die Betrachtung der Tschechen als Repräsentanten eines abgeschlossenen Geschichtskapitels. Nach 1989 treten auch die Slowaken, die zur Zeit der Monarchie wegen ihrer Zugehörigkeit zum Königreich Ungarn nach Budapest tendierten, in Wien verstärkt auf den Plan, wenngleich auf Grund der geografischen Nähe vielfach nur als Pendler. Tschechische Ausdrücke wie „Schezko jedno" (Alles eins), mit denen Heinz Conrads in den 1960er-Jahren noch punkten konnte, werden heute kaum mehr verstanden. 61 Die böhmischen Mehlspeisen werden am heimischen Herd kaum mehr zubereitet und im Gasthaus kaum mehr aufgetischt, und wenn österreichische Touristen in der Tschechischen Republik auf der Speisekarte vergeblich nach Powidltatschkerln Ausschau halten, stellen sie fest, dass ihr Bild von den Tschechen auch bei diesen selbst verblasst ist: Die so wohlschmeckenden böhmischen Mehlspeisen sind eine Reminiszenz an eine Zeit, da man sich kein Fleisch leisten konnte und die Tschechen untergeordnete Tätigkeiten bei deutschen Herren verrichten mussten. 62 Im Übrigen ist Hermann Leopoldis berühmtes Lied „Powidltatschkerln" frei von Nostalgie und spiegelt vielmehr die triste

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Ernährungssituation in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. 63 Der Haute Cuisine wurden die böhmischen Mehlspeisen niemals zugerechnet. 64

Vereinfachungen Die Tschechen werden von den Österreichern als eigenständiges Volk wahrgenommen. Ein banales Indiz dafür ist das Böhmakeln, das eindeutig den Tschechen zugeordnet wird. Nur die Ungarn werden von den Nachbarn im Donauraum ebenso eindeutig am Akzent erkannt und können auch imitiert werden, während die „Jugoslawen" in einen Topf geworfen und die Polen zwar erkannt, aber nicht nachgeahmt werden können. So wie sich kein Volk über Österreich für so informiert hält wie die Tschechen, hält sich wahrscheinlich keines über Tschechien für so informiert wie die Österreicher. Doch dürfte der Meinungsforscher Peter Ulram Recht haben, wenn er meint, dass zum Unterschied von der österreichischen Selbsteinschätzung die Tschechen faktisch weitaus mehr über Österreich wissen als umgekehrt. 65 Während die Urangst der Tschechen jene vor dem einen großen deutschen Volk ist, das man nur allzu gut kennt, ist die Urangst der Österreicher jene vor einer Vielzahl von Völkern, die einem letztlich allesamt fremd sind. Auch für diese These ist die Sprache das naheliegendste Indiz: Während deutsche Sprachkenntnisse bei den Tschechen lange Zeit obligatorisch waren, hat die Kenntnis slawischer Sprachen im Gebiet der heutigen Republik Österreich auch zur Zeit der Donaumonarchie niemals jenes Niveau erreicht, das die Deutschkenntnisse der Tschechen noch angesichts der Konkurrenz durch das Englische seit 1989 haben. Und sprechen immerhin noch etliche Österreicher eine einzelne Sprache der Nachbarvölker, so dürfte es kaum jemanden geben, der die tschechische, slowakische, ungarische, slowenische, friulanische und italienische gleichermaßen beherrscht. Ein natürlicher Reflex auf die natürlichen Gegebenheiten ist für Österreicher die Vereinfachung. So kommt es, dass die Tschechen, die auf der einen Seite durchaus als unverwechselbare Entität wahrgenommen werden, auf der anderen im Lauf der Geschichte unter zahlreichen Oberbegriffen verschwunden sind. Der Kampf um die Emanzipation von solchen Pauschalisierungen wiederum ist eine Konstante tschechischen Verhaltens und wirkt auf das Tschechenbild der Österreicher zurück. Daher sollen hier einige dieser Subsummierungen angeführt werden; deren Kenntnis stellt einen der Schlüssel zum Verhältnis von Österreichern und Tschechen dar. Für die Zusammenstellung sind die Schulbücher für die Hauptschulen und die Unterstufe der Allgemeinbildenden Höheren Schulen, die nicht so ins Detail gehen können wie jene für die Oberstufe, abermals eine Fundgrube. Fast alle Schulbücher erwähnen die in der Völkerwanderung erfolgte Besiedlung Österreichs auch durch Slawen, wobei unklar bleibt, ob jene, die in

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Österreichs Norden durchzogen oder sesshaft wurden, als Vorläufer der Tschechen anzusprechen wären. Das Großmährische Reich, dessen Zentren in unmittelbarer Nähe der heutigen österreichischen Staatsgrenze lagen, wird nirgends angesprochen und kann allenfalls unter dem Vermerk „Slawische Staaten entstehen" in einem der Schulbücher mitgedacht werden. 66 Nach der Errichtung des Herzogtums und später des Königreichs Böhmen findet sich dieses als eines der „Kurfürstentümer" des „Heiligen Römischen Reiches" wieder, das überdies vielfach als eines „deutscher Nation" apostrophiert wird. Dass Böhmen dabei eine Führungsrolle einnimmt, die jedoch auch zum Widerspruch reizt, wird an König Ottokar II. sichtbar. Man spricht von nun an bis 1918 von den „böhmischen Ländern" oder, in Analogie zu den Ländern der ungarischen Stephanskrone, von den „Ländern der Wenzelskrone", worunter Böhmen, Mähren und Schlesien, lange Zeit aber auch Ober- und Unterlausitz zu verstehen sind. Böhmen und Mähren nehmen durch die deutsche Zuwanderung in die Randgebiete und in die Städte den Charakter zweisprachiger Länder an. Die damit einsetzenden Ambivalenzen im Umgang mit der nationalen und geografischen Zuordnung lassen sich sehr gut am Beispiel der Karlsuniversität festmachen. Von den Schulbüchern etwa ordnen zwei die Prager Universität „Mitteleuropa" zu, eines dem „deutschen Sprachraum" und eines im Begleitheft dem „deutschen Reich". Dort wird übrigens im selben Atemzug Krakau als älteste Universität Osteuropas bezeichnet, Prag also nicht Osteuropa zugerechnet. 67 Mit dem Auftreten von Jan Hus und den nachfolgenden Hussitenkriegen wird die Nationalität zum politischen Thema. Zugleich werden die Tschechen zu Vorreitern der Reformation, wenn auch nicht zu deren Erfindern: Zumindest ein Schulbuch erwähnt als Ideenbringer für Hus den Engländer John Wiclif. 68 Als eines der gleichberechtigten „Länder des Donauraums" tritt Böhmen unangefochten zuletzt 1515 in Erscheinung, als die Bezeichnung „BöhmischUngarische Hochzeit" sogar einen Vorrang vor Ungarn andeutet. Doch schon als der böhmisch-ungarische Thronerbe 1526 in der Schlacht bei Mohács fällt und der Erbfall zugunsten der Habsburger eintritt, wird meist nur mehr vom gefallenen „Ungarnkönig" gesprochen. Für drei Jahrhunderte werden es im Donauraum primär die Ungarn sein, die sich gegen die Vorherrschaft Österreichs zur Wehr setzen. Nach einem Aufbäumen zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs, als der letzte gewählte böhmische König in die Flucht geschlagen wird, wird das Land unter dem Begriff der „Habsburgermonarchie" subsummiert. Die Pestsäule auf dem Wiener Graben räumt Böhmen, wenngleich auf der Rückseite, in Analogie zur Heiligen Dreifaltigkeit neben dem Haus Österreich und Ungarn noch einen ebenbürtigen Rang ein. Doch zunehmend verschwinden Böhmen und Prag von den Landkarten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind die Tschechen bloß „eines der Völker", die gegen die Wiener Zentralisierungsmaßnahmen murren, und es sind zunächst Ungarn und die österreichischen Niederlande, die ihren Unmut

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auch formulieren. Noch im Vormärz, als der Nationalismus bei den Tschechen feste Konturen annimmt, sind es „die Ungarn, aber auch slawische Völker", welche die innere Selbstverwaltung, später die Unabhängigkeit fordern. 69 Mit der Errichtung des Kaisertums Österreich im Jahr 1804 wird ein bereits vorhandener Sprachgebrauch kodifiziert; 114 Jahre lang firmieren die böhmischen Länder nun unter der Marke „Österreich", so sehr deren Geltungsbereich auch schwankt. Dass die Tschechen beim Slawenkongress 1848 und auch auf dem Kremsierer Reichstag eine führende Rolle spielen, geht angesichts der raschen Niederschlagung des Prager Aufstands und der späteren Auflösung des Reichstags in den Schulbüchern unter. Böhmen bleibt in der Revolutionsdarstellung der Schulbücher nur eine Episode, während der ungleich stärker eskalierende Aufstand der Ungarn markant illustriert und mit Lajos Kossuth einprägsam personifiziert wird. Für die Tschechen bleibt es bei der Statistenrolle, und nachdem Österreich und damit auch die böhmischen Länder aus dem „Deutschen Bund" ausgeschieden sind, wird der Nachrang Böhmens im Ausgleich von 1867 festgeschrieben. Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien sind nunmehr drei der „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" auf einer Ebene mit Galizien, Tirol oder der Steiermark. Der Staatsname „österreichisch-ungarische Monarchie" und die in ihm artikulierte Auffassung der Habsburgermonarchie als einer „Doppelmonarchie" prägt die Vorstellungen der Österreicher von den Verhältnissen im Donauraum bis heute nachhaltig und wird auch auf die Zeit vor 1867 zurückprojiziert. So schreibt ein Schulbuch, den Sprachgebrauch des Ausgleichs anwendend: „Kaiser Franz II. legte die Krone des nunmehr praktisch zerfallenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nieder und trug fortan die Titel , Kaiser von Österreich' und ,König von Ungarn'"; 70 die ältere Fassung desselben Schulbuches tituliert sogar den Vater Maria Theresias, Karl VI., als „Erzherzog von Österreich und König von Ungarn, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches", also unter Auslassung des Königs von Böhmen. 71 Auch im umgangssprachlichen Ausdruck „Zisleithanien" kommt die Fixierung auf „Österreich" und „Ungarn" zum Ausdruck (die Leitha war die Grenzlinie zwischen den beiden Teilen des Gesamtstaats). Künstlerisch fand die Rangordnung des „Dualismus" ihren Niederschlag unter anderem in der 1874 uraufgeführten „Fledermaus" von Johann Strauß: In der originalen Ballettmusik für das Finale des zweiten Aktes folgt auf Musikstücke im spanischen, schottischen und russischen Stil eine böhmische Polka - das letzte Wort aber hat Ungarn. 72 Sinnfällig wird die Zurücksetzung der Tschechen in der Weigerung Kaiser Franz Josefs, sich nach der Krönung zum König von Ungarn auch zum König von Böhmen krönen zu lassen. Die Erinnerung an diesen Bruch eines Versprechens ist in Tschechien bis heute lebendig. Der Kaiser wird dort als „alter Procházka" persifliert (eine Zeitung zeigte den Kaiser auf einer Moldaubrücke

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mit der Legende „Procházka na moste", was wörtlich mit „Spaziergang auf der Brücke" zu übersetzen ist und auf den Kaiser umgemünzt wurde), und es berührt merkwürdig, wenn im Audioguide des 2004 in der Wiener Hofburg eröffneten „Sisi Museums" unreflektiert auch in der tschechischen Version ein Kaisermythos kultiviert wird, der den Tschechen mit Ausnahme katholisch-konservativer Kreise fremd ist. Berufen sich die Tschechen in der Habsburgermonarchie einerseits auf das historische böhmische Staatsrecht, um die von den Deutschen mit Zähnen und Klauen verteidigte Aufteilung ihres Siedlungsgebiets in drei Kronländer zu überwinden, so setzen sie andererseits auf eine Umgestaltung der Donaumonarchie nach nationalen Kriterien. „Austroslawismus" (die Gemeinschaft der Slawen im Habsburgerreich) und „Panslawismus" (die Gemeinschaft aller Slawen mit oder ohne Russen) sind die Schlagworte, die ihre Bestrebungen kennzeichnen. Eine spezielle Thematik stellt das Verhältnis von Tschechen in der westlichen und Slowaken in der östlichen Reichshälfte dar; von „Tschechoslawen" ist die Rede und später von „Tschechoslowaken". Erst mit der Trennung im Jahr 1993 wird es für die Österreicher langsam klar, dass es sich um zwei doch verschiedene Völker handelt. 73 Nie jedoch werden Tschechen für Slowaken, sondern immer nur Slowaken für Tschechen gehalten, so etwa Alexander Dubcek in einem der Schulbücher. 74 Im Jahr 1918 fanden sich Tschechen und Slowaken in den Augen der Österreicher in einem „Nachfolgestaat" zusammen; mit Rumänien und Jugoslawien bildete die Tschechoslowakei die „Kleine Entente". Das „Nachbarvolk" lebt nun in einem von sieben, seit 1993 in acht „Nachbarländern" der Republik Österreich. In den Jahren 1938 und 1939 werden die Tschechen „eines der Opfer von Hitlers Aggression": wieder nicht das erste und auch nicht das letzte. Unter den „Völkern, die Widerstand leisten", stehen sie nach dem Befund der österreichischen Schulbücher nicht an vorderster Stelle, die Ermordung des Reichsprotektor-Stellvertreters Reinhard Heydrich und die nachfolgenden Vergeltungsmaßnahmen sind mit einer einzigen Ausnahme keine Nennung wert. 75 Der tschechische Landesteil wird zum „Protektorat Böhmen und Mähren", eine bewusste Rückgängigmachung von 1918, als sich die Tschechen in den Staatsnamen eingebracht hatten. In der Umgangssprache bürgert sich die „Tschechei" ein und bis heute nicht wieder völlig aus, obwohl das Wort bei den Tschechen die Erinnerung an ihre dunkelsten Jahre wachruft. Auch die von den Nationalsozialisten geprägte Bezeichnung „Böhmen und Mähren" wirkt in Österreich in nicht zu unterschätzender Weise bis heute nach, wo sich noch kaum herumgesprochen hat, dass es Mähren schon seit der Ersten Tschechoslowakischen Republik formal nicht mehr gibt. Der in Wien und Niederösterreich wie sonst nirgendwo gepflegte und von Persönlichkeiten wie Bundeskanzler Bruno Kreisky genährte Mythos Mähren äußert sich am deutlichsten in der Überschätzung des Mährischen Ausgleichs von 1905 durch

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österreichische Sonntagsredner sowie im Klischee der versöhnlichen Mährer und dickköpfigen Böhmen in der Bevölkerung. Unterschiede in der Mentalität und ein mährischer Landespatriotismus sind auch nach der aktuellen Aufteilung der einstigen Markgrafschaft in einen Südmährischen, einen Olmiitzer, einen Zliner und einen Mährisch-Schlesischen Kreis vorhanden; in der katholischen Kirche hat sich Mähren unversehrt in Gestalt der Olmützer Kirchenprovinz erhalten; und die Kommunistische Partei der Tschechischen Republik nennt sich jetzt in der Hoffnung auf Wählerstimmen von Prag im Stich gelassener Mährer Kommunistische Partei von Böhmen und Mähren (KSCM). Doch die geringe Beteiligung der Bürger an den Wahlen zu den Kreisparlamenten und zum Senat, der zweiten Kammer des Prager Parlaments, sowie das Absacken der mährischen Autonomiebewegung, die nach der Samtenen Revolution kurzfristig von sich reden machte, in die Bedeutungslosigkeit zeigt auf, dass der mährische Landespatriotismus nicht jene Dimension hat, die ihm in Österreich zugeschrieben wird. Zumindest wird in Österreich übersehen, dass es zwar nach wie vor ein mährisches Selbstbewusstsein, aber kein vergleichbares böhmisches gibt, das sich von Mähren abgrenzen wollte. Föderalismus gilt nationalbewussten Tschechen seit ihrer nationalen Wiedergeburt als Instrument des habsburgischen „Divide et impera" und wird als archaisches Relikt einer unaufgeklärten Zeit aufgefasst. Stellt sich die überwiegende Mehrheit der Tschechen Europa als losen Bund selbstbewusster Vaterländer vor, so sieht sie dafür geradezu als Voraussetzung an, dass sie im eigenen Land fest zusammenhalten. Die unterschiedliche Bewertung des Föderalismus bei Tschechen und Österreichern ist einer der kaum je ausgesprochenen Gründe für die Kommunikationsprobleme zwischen den beiden Nationen. 1945 gehört die Tschechoslowakei zu den „Siegermächten", aber auch zu einem jener Staaten, die ihre Deutschen vertreiben. 1948 wird sie zu einem der „Vasallenstaaten" Russlands, zu einem Land des „Ostblocks" (wiewohl Prag weit westlich von Wien liegt), sie wird zu einem Mitgliedsstaat des „Warschauer Pakts" und des „Comecon" und wird vier Jahrzehnte lang immer nur mitgemeint, wobei die Sowjetunion das Sagen hat. Unter jenen Ländern, die gegen die Bevormundung protestieren, findet sich die nunmehrige CS SR abermals im Windschatten Ungarns, auch im Wendejahr 1989 wird der Eiserne Vorhang zuerst an der ungarischen und erst später an der tschechoslowakischen Grenze durchschnitten. Zum „Reformland" mutiert, wird die Tschechische Republik zuerst zum Beitrittskandidaten, dann zum Mitglied von „NATO" und „Europäischer Union". Gelegentlich trifft sich ihr Präsident mit den Amtskollegen von Polen, der Slowakei und Ungarn, um den Geist der „Visegrád-Staaten" zu beschwören, und als nächstes steht der Beitritt zur „Schengenzone" und zum „Euroklub" an.

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Zuspitzungen Es ist schon beim Josephinismus und bei der Revolution von 1848 angeklungen, wie sehr die Österreicher dazu neigen, ihre Nachbarvölker über einen Kamm zu scheren und dies als eine aufgeklärte und humane Haltung zu rechtfertigen. Im vorangegangenen Kapitel wurde aufgezeigt, wie sehr umgekehrt gerade die Tschechen als ebenfalls der Aufklärung und dem Humanismus verpflichtetes Volk immer wieder darunter leiden, über diesen einen Kamm geschoren zu werden. In den Schlussbetrachtungen dieser Untersuchung sollen die Eigenständigkeit der Tschechen und der Umgang der Österreicher mit ihr ausdrücklich thematisiert werden. Eine zentrale Rolle im nationalen Selbstbewusstsein der Tschechen nimmt die Sprache ein. Gerade dieses Kriterium ist den Österreichern jedoch suspekt. Sie neigen zu einem utilitaristischen Verständnis von Sprache, das sich freilich leicht mit hegemonialen Interessen verbindet. Tief blicken lässt etwa, was ein Schulbuch über die Französische Revolution schreibt: „Vorbildlich waren auch die Bestrebungen, die Schulbildung zu verbessern [...] Besonderen Wert legte man auf die Pflege einer einheitlichen Sprache: Bis zur Revolution wurden in Frankreich viele verschiedene regionale Sprachen und Dialekte gesprochen. Fortan lernten die Kinder an den Schulen Französisch, die Sprache der Politik und der gebildeten Kreise; damit sollte in Zukunft jeder am politischen Leben teilnehmen können." 76 Auf Österreich übertragen heißt dies: Es ist im Interesse der anderen Völker die deutsche Sprache zu erlernen, weil sie ihnen den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht. Tschechisch und Slowakisch sind „regionale Sprachen und Dialekte". Tschechisch wurde von den Österreichern in der jüngeren Geschichte immer nur als Sprache der Untergebenen erlebt; die gebildeten Tschechen sprachen ja fehlerfreies Hochdeutsch. Die Geringschätzung des „Bedientenvolks" zeigt sich noch in der Bewertung des Wiener Dialekts: Die auf tschechischen Einfluss zurückgehende Zusammenziehung des „ei" zu einem „ä" und des „au" zu einem „o" gilt als Inbegriff des Proletarischen, das zu überwinden ist. Der Kult alles Deutschen im Dritten Reich wiederum hat den Österreichern das bis dahin unangefochtene Bekenntnis auch zur deutschen Sprache verleidet; man wollte sich von allem Deutschen distanzieren. Der schon zuvor stark analytische Zugang zur Sprache verstärkte sich weiter, etwa bei Elfriede Jelinek, der österreichischen Nobelpreisträgerin mit dem tschechischen Namen. Welch ein Unterschied in der Sprachbehandlung etwa Jaroslav Seiferts, des tschechischen Nobelpreisträgers mit deutschem Namen ! Ein weiterer Angelpunkt im Selbstverständnis der Tschechen ist ihr positives Verhältnis zur Geschichte. Kommt die österreichische Bundesverfassung ohne jede historische Bezugnahme aus, so beruft sich die tschechische in ihrer Präambel auf die „Treue zu allen guten Traditionen der Staatlichkeit der böhmischen Krone in fernen Zeiten und der Staatlichkeit der Tschechoslowakei". 77

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Findet die Republik Österreich des Jahres 2005 mit einem einzigen Nationalfeiertag mit geschichtlichem Bezug das Auslangen, so haben in der Tschechischen Republik nicht weniger als fünf Feiertage eine zumindest indirekt nationale Konnotation: der 8. Mai erinnert an die Befreiung 1945, der 5. Juli an die Slawenapostel Zyrill und Method, der 6. Juli an die Verbrennung von Jan Hus, der 28. September an den Landespatron Herzog Wenzel und der 28. Oktober als der eigentliche Nationalfeiertag an die Ausrufung der Unabhängigkeit - von Österreich - im Jahr 1918.78 Ein österreichisches Schulbuch fasst die österreichischen Bedenken gegenüber einer solchen Instrumentalisierung der Geschichte prägnant zusammen: „Die Vorstellung von Nationen ist eine Schöpfung der Neuzeit. Dennoch versuchten die Nationalisten, die Entstehung ihrer Nation möglichst weit in die Vergangenheit zu legen. Sagen und Legenden wurden erfunden, um einen scheinbar ewigen Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet zu erheben. Damit sollten die Gewalttaten, die im Namen des Nationalismus verübt wurden, gerechtfertigt werden." 79 Dieses Zitat, das von einer in der Geschichtsforschung heute unbestrittenen Prämisse ausgeht, nennt das eigentliche Reizwort und illustriert auch gleich die Schwierigkeiten mit seiner Handhabung: den Nationalismus. Die österreichischen Vorbehalte gegen diesen Begriff speisen sich aus mehreren Quellen. Interpretiert man den Nationalismus als Sprachnationalismus, so wirkt in Österreich noch immer das Gefühl der Bedrohung des Vielvölkerstaats und damit einstiger Größe durch Partikularismus und Separatismus nach. Exemplarisch bringt dies abermals ein Schulbuch zum Ausdruck: „Unser kleines Österreich war einst das mächtigste Land Europas. Spanien gehörte einmal ebenso zum österreichischen Herrscherhaus wie die Niederlande, Böhmen, Ungarn, ja sogar Mexiko. Im 19. Jahrhundert lebten in der österreichischen Monarchie zwölf verschiedene Völker und Volksgruppen. Leider führten die Konflikte zwischen den Nationalitäten zu schweren Auseinandersetzungen und Kriegen."80 Der Anteil der Österreicher an den Gräueln des Dritten Reiches wiederum führte zu einer Abwertung alles Nationalen aus genau gegenläufigen Gründen: aus Erkenntnis von Schuld. Zugleich spielte, noch einmal gegenläufig, auch das Motiv der Verdrängung eine Rolle: Man wollte alles Nationale ein für alle Mal hinter sich lassen. Dass man sich damit der Chance begab, die noch längst nicht bewältigten Traumata des Zerfalls der Donaumonarchie aufzuarbeiten, wurde nicht bemerkt, ja die Beschäftigung mit allem Früheren wurde durch die Fixierung auf das Dritte Reich überlagert. Die Gewichtung der Themen in den Schulbüchern legt von der Monopolisierung Hitler-Deutschlands und MussoliniItaliens auf Kosten der anderen Nachbarländer ein beredtes Zeugnis ab; dabei wäre gerade ein stärkeres Eingehen auf die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie ein Beitrag zur antifaschistischen Aufklärung, mit unmittelbarer Nutzanwendung etwa in der Debatte um Temelin und die BeneS-Dekrete. Und noch eine dritte, rezente Erfahrung prägt die im Schuljahr 2004/05 zugelassenen Schulbücher: Der Zerfall des sowjetischen Imperiums und vor

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allem Jugoslawiens weckt in Österreich Erinnerungen an den Zerfall der Donaumonarchie und wird daher mit großer Skepsis betrachtet. Das Miterleben der Kriegshandlungen und Vertreibungen in der Nachbarschaft färbt auf die Darstellung des Nationalismus bis ins 19. Jahrhundert zurück ab. Die nationale Emanzipation gerade der Tschechen erscheint so nochmals in einem schiefen Licht. Wenn dann Fotos von Vertreibungen im Jahr 1945 solchen aus dem Jugoslawienkrieg gegenübergestellt werden, verstärkt dies uralte Reflexe und blendet die Vorgeschichte aus. Zwar ist das Bemühen der Schulbücher nicht zu verkennen, zwischen verschiedenen Formen des Nationalismus zu unterscheiden, und einige gelangen dabei auch zu achtenswerten Resultaten, doch im Gedächtnis bleiben Vokabel wie „intolerant" „verheerend" und „heillos". Auch die Trennung von Tschechen und Slowaken im Jahr 1993 gerät in den Sog der jüngsten Ereignisse. So heißt es in einem Schulbuch über den Ostblock, in diesem Fall den Prager Blickwinkel übernehmend: „Auch flammt in diesen Staaten der Nationalismus unheilvoll auf und führt zu Spaltungen. 1993 löste sich die Slowakei von derTschechei (sie)." 81 Ein anderes Schulbuch stellt die CSSR zwar als „Beispiel für eine friedliche Lösung" dem „Vielvölkerstaat Jugoslawien" gegenüber, in dem „die Bombe explodiert", doch die Skepsis überwiegt auch hier: „Durch diese Trennung wurden Zehntausende zu Grenzgängern [...] Andererseits sind in den vergangenen Jahrzehnten viele Tschechen in die Slowakei übersiedelt. Erst die kommenden Jahre werden zeigen, ob sich diese friedliche Trennung zu einem dauerhaften friedlichen Nachbarschaftsverhältnis entwickeln wird können." 82 In der ebenfalls bereits in Verwendung stehenden Neubearbeitung ist die Skepsis allerdings bereits gewichen. Tschechen und Österreicher erinnern einander durch die bloße Existenz ihrer Staaten an den unterschiedlichen, ja diametral entgegengesetzten Verlauf ihrer Geschichte. Während die meisten Österreicher jedenfalls nach ihrer Läuterung im 20. Jahrhundert mit Grillparzer glauben, dass der Weg der Völker „von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität" führt, sind viele Tschechen, pointiert gesagt, im Lauf der Geschichte guten Gewissens davon ausgegangen, dass der Weg umgekehrt von der Bestialität über die Nationalität zur Humanität führt. Doch die Schicksale der beiden Völker und ihrer Staaten sind nicht in Schwarzweiß-Malerei zu fassen, vielmehr auf mannigfache Weise ineinander verschlungen und durch Inkonsequenzen gebrochen. Die Österreicher erblicken in der Tschechischen Republik einen Staat, der sich bei seiner Ausrufung 1918 auf die Sprachnation berief. Die Sprachnation war freilich in sich selbst zerklüftet, was schon im Staatsnamen Tschecho-Slowakei zum Ausdruck kam; zum Staat der Tschechen ist das Land letztlich erst 1993 geworden. Zugleich bestand die Tschechoslowakische Republik auf der territorialen Unversehrtheit der auch die Deutschen umfassenden böhmischen Länder und handelte damit dem Prinzip der Sprachnation zuwider - auf Kosten Österreichs, das die geschlossenen deutschen Siedlungsgebiete für sich rekla-

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mierte, aber nicht erhielt. Und Österreich leckt seine Wunden, wie die Schulbücher belegen, noch immer in erstaunlichem Ausmaß. Doch auch die Tschechen werden beim Anblick ihres Nachbarlands von ambivalenten Gefühlen heimgesucht. Einerseits erinnert sie die Republik Österreich an den Vielvölkerstaat, den sie im Groll hinter sich gelassen haben, und implizit auch daran, dass auch die Länder der Wenzelskrone zwei Völker umfassten. Die Republik Österreich legt zudem durch ihre bloße Existenz so wie Belgien und die Schweiz davon Zeugnis ab, dass die Sprachnation auch angesichts des europäischen Einigungsprozesses nicht das einzige vernünftige und praktikable Konzept einer Staatenbildung darstellt. Zugleich aber steht den Tschechen mehr als den Österreichern selber vor Augen, dass sich die Republik Österreich bei ihrer Ausrufung 1918 als Deutsch-Österreich konstituiert und auch als Bestandteil der Deutschen Republik deklariert hat. Für die Tschechen führt dann eine gerade Linie zur Besetzung des Sudetenlandes und zur Auslöschung ihres souveränen Staates durch das Deutsche Reich unter Führung des gebürtigen Österreichers Adolf Hitler. Österreichern und Tschechen sind also nicht geringe Aufgaben gestellt, wenn sie ihr nationales Gedächtnis erforschen, bei sich selbst und im Austausch miteinander; auch der gemeinsame Blick nach Brüssel dispensiert sie davon nicht. Da es sich im Verhältnis von Tschechen und Österreichern um eine Emanzipationsgeschichte handelt, ist aber von Österreich, trotz aller erlittenen Unbill in Saint-Germain und durch die Benes-Dekrete, mehr gefordert als von den Tschechen. 1

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Kursbuch Fahrpläne Bahn Österreich 12.12.2004 bis 10.12.2005. Hg. ÖBB Personenverkehr, Wien 2004, 496. 2. Klasse (6. Schulstufe): Michael Lemberger, Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 2 neu, Linz 5. Aufl. 2004, Serviceteil für Lehrerinnen mit Bettina Paireder. - Gerhard Huber, Wernhild Huber und Wolf Kowalski, einst und heute 2 - neu, Wien 2001. - Elisabeth Buxbaum, Franz Melichar, Irmgard Plattner und Gerhard Wanner, Erlebnis Zeitreise 1, Wien 1. Aufl. 2000. - Roland Böckle, Wolfgang Kuschnigg, Thomas Hellmuth und Manfred Tuschel, Faszination Geschichte 1, Wien 1. Aufl. 2002, Begleitheft 1. Aufl. 2003. - Helmut Hammerschmid und Wolfgang Pramper, Geschichte live 2 - Lehrplan 2000, Linz 2. Aufl. 2001, Arbeitsteil mit Petra Feichtinger. - Anton Wald, Alois Scheucher und Josef Scheipl, Zeitbilder 2 - Neubearbeitung, Wien 1. Aufl. 2000, Materialien 2004. 3. Klasse (7. Schulstufe): Michael Lemberger, Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 3 neu, Linz 3. Aufl. 2004, Serviceteil mit Bettina Paireder. - Gerhard Huber, Wernhild Huber und Wolf Kowalski, einst und heute 3 - alt, Wien 1997. - Gerhard Huber u.a., einst und heute 3 - neu, Wien 2002. - Elisabeth Buxbaum, Franz Melichar, Irmgard Plattner und Gerhard Wanner, Erlebnis Zeitreise 2, Wien 2002. - Roland Böckle, Thomas Hellmuth, Ewald Hiebl, Wolfgang Kuschnigg, Karin Tolar-Hellmuth und Manfred Tuschel, Faszination Geschichte 2, mit Begleitheft, Wien 1. Aufl. 2003. - Helmut Hammerschmid, Petra Oller und Wolfgang Pramper, Geschichte live 3. Textteil. Lehrplan 2000, Linz 3. Aufl. 2004, Serviceteil mit Petra Feichtinger. - Hannelore Tscheme und Siliva Krampl, Spuren der Zeit 3, Wien 1995. - Alois Scheucher, Anton Wald und Ulrike Ebenhoch, Zeitbilder 3 - Neubearbeitung, Wien 1. Aufl. 2002, Materialien 2004. 4. Klasse (8. Schulstufe): Michael Lemberger, Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 4 neu, Linz 2. veränd. Aufl. Jahr 2004, mit Serviceteil für Lehrerinnen. - Gerhard Huber, Wernhild

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Huber und Wolf Kowalski., einst und heute 4 - alt, Wien 1998. - Gerhard Huber, Ernst Gusenbauer und Wernhild Huber, einst und heute 4 - neu, Wien 2003. - Elisabeth Buxbaum, Franz Melichar, Irmgard Plattner und Gerhard Wanner, Erlebnis Zeitreise 3, Wien 2003. Roland Böckle, Thomas Hellmuth, Ewald Hiebl, Wolfgang Kuschnigg, Karin Tolar-Hellmuth und Manfred Tuschel, Faszination Geschichte 3, mit Begleitheft, Wien 1. Aufl. 2004. - Arbeitsgemeinschaft Geschichte und Sozialkunde (Roland Böckle, Siegfried Ferschmann, Harald Hitz, Wolfgang Kuschnigg, Margit Ried, Manfred Tuschel sowie der Jugendbuchautor Ernst E. Ekker), Geschichte kompakt 4, Wien, 2. Aufl. 1998, Nachdruck 2001. - Helmut Hammerschmid, Maria Ecker, Petra Öller und Gerlinde Steinberger, Geschichte live 4 - Lehrplan 2000, Linz 2. Aufl. 2003, mit Serviceteil. - Hannelore Tscherne und Siliva Krampl, Spuren der Zeit 4, Wien 1997 (approbiert 1991). - Ulrike Ebenhoch, Alois Scheucher und Anton Wald, Zeitbilder 4 - Neubearbeitung, Wien 1. Aufl. 2003, Materialien 2004. Duchgesehen wurden auch die im Schuljahr 2004/05 approbierten Atlanten: Hölzel-Atlas, Wien 1995, 8. Aufl. 2004. - Hölzel-Geschichtsatlas für die 6. bis 8. Schulstufe (Bestandteil sowohl des Neuen Kozenn- als auch des Holzel-Atlasses), Wien 1998, Nachdruck 2004. Neuer Kozenn-Atlas, Wien 1995, 8. Aufl. 2004. - Wilhelm Schier, bearb. von Herbert Hasenmayer, Hans Krawarik und Wilhelm Nemecek, Atlas zur allgemeinen und österreichischen Geschichte für Hauptschulen und Allgemeinbildende Höhere Schulen, Wien 1981. 3 4

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Erlebnis Zeitreise. Die Konzentration auf den Antagonismus Tschechen und Deutsche ist legitim, wird aber den Tschechen nicht ganz gerecht, so etwa das gründlich recherchierte Werk des angesehenen ORF-Journalisten Alfred Payrleitner, Österreicher und Tschechen. Alter Streit und neue Hoffnung. Mit einem Vorwort von Jiff Grusa, Wien-Köln-Weimar, 22003. Ausgewogener das kurz gefasste Büchlein des aus Prag gebürtigen Osteuropa-Korrespondenten Wolfgang Libai, Die Tschechen. Unsere eigentümlichen Nachbarn. Mit einem Nachwort von Pavel Kohout, Wien 2004. Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 3 - neu, 71. Spuren der Zeit 3, 81 f. Geschichte live 4. einst und heute 4. Spuren der Zeit 4, 84. einst und heute 4 - alt, 114; neu, 73. Zeitbilder - Neubearbeitung, 111. Zeitreise 2, 60. Geschichte live 3, 50. Spuren der Zeit 3, 110 f. einst und heute 3 - neu, 103. Geschichte kompakt 4, 4. Durch die Vergangenheit 4, 41. einst und heute 4 - neu, 58-61. Alle nachfolgenden Zitate finden sich auf diesen vier Seiten. Geschichte kompakt 4, 113. Zeitbilder 2 - Neubearbeitung, 148. Durch die Vergangenheit 2 - neu, 124. Der König wird dort beharrlich als Ottokar I. bezeichnet. Geschichte live 2, 126. Mitteilung von Frau Erna Frank, Hainburg. Programmheft und persönliche Aufzeichnungen des Autors. Durch die Vergangenheit 3 - neu, 23. Erlebnis Zeitreise 2, 84. einst und heute 2 - neu, 147. Spuren der Zeit 3, 14 und 139. Aufruf über den britischen Rundfunk am 3.11.1944; zit. nach: News Chronicle vom 4.11.1944 in: einst und heute 4 - neu, 58. Kathpress Meldung K200001827 vom 20.3.2000.

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Kathpress Meldung K200003587 vom 5.6.2000. einst und heute 3 - alt, 18. Die Presse, 12.4.2005,29. Spuren der Zeit 3, 81 f. Muliars jüngste Autobiografie, Melde gehorsamst, das ja! Meine Lebensabenteuer, Wien 2003, zeigt den Autor als salutierenden Schwejk auf dem Titelbild. Siehe auch Wolfgang Bahr, Schwejkomania, in: Furche 27, 3.7.2003, 13. Umfrage „Österreichs Lieux de mémoire" Juli/August 1998, Frage 6. Fessel-GFK Institut Wien. Nicht publiziertes Manuskript. einst und heute 3 - neu, 50. Durch die Vergangenheit 3 - neu, 71. Walter M. Weiss, Nachbarn entdecken Tschechien, Wien 2005, 63. Ingeborg Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen, hg. und komm, von Hans Höller, Frankfurt am Main 1998, 95-133. Weiss, Nachbarn, 118. Autoatlas Ceská republika/Slovenská republika, Brno 32000, Blatt 45. Die Presse, Wien, 30.4. 2005, 7. Weiss, Nachbarn, 41. Ebd., 45. Ebd., 53. Detlev Arens, Prag. Kultur und Geschichte der „Goldenen Stadt". DuMont Kunst-Reiseführer, Köln 31993, 363. Zu den Wiener Tschechen siehe u.a.: Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900; dies. Böhmisches Wien, Wien-München 1985. Z.B. Barbara Coudenhove-Kalergi, Der Traum von Prag, in: Meine Wurzeln sind anderswo. Österreichische Identitäten, hg. von Barbara Coudenhove-Kalergi, Wien 2001, 169-179. Wolfgang Bahr, Josef Hlávka. Ein tschechischer Architekt, Baumeister und Mäzen im alten Österreich, in: Österreich in Geschichte und Literatur 48 (2004), 356-374. Durch die Vergangenheit 3 - neu, 108. Doma ν cizinë/Zu Hause in der Fremde. Ausstellungskatalog Prag, Clam-Gallas-Palais 2001/ 2002, hg. von Vlasta Vales, Prag 2002; Vlasta Vales, Die Wiener Tschechen einst und jetzt/ Vídeñstí Cesi vcera i dnes, Prag 2004. Ausstellung „Alt Wien - die Stadt, die niemals war", Wien Museum im Künstlerhaus, 2005, Ausstellungskatalog Nr. 10.6.6. Österreich Lexikon Band 3, Wien 2004, 218. Kdo byl kdo ν nasich dejinách do roku 1918, Prag 1996. Bohumil Plevka, Zivot a umëni Emy Destinnové, Prag 1994. Von den zahlreichen Publikationen Jirf Grusas sei hier erwähnt: Gebrauchsanweisung für Tschechien, München 1999. Pavel Kohout hielt u.a. den Festvortrag zur Eröffnung der Ausstellung „Prag : Wien" in der Österreichischen Nationalbibliothek, 2003. Peter Herz (Worte) und Paul Tanzer (Musik), Beim Swoboda. Das ist die alte Polka, Wien 1971. Erich Meder (Worte) und Hans Lang (Musik), Zeit bleibt nicht steh'n, Wien 1961, in: Heinz Conrads singt Lieder von Hans Lang, Wien o.J. Josef Petrak (Worte) und Josef Fiedler (Musik), Wie Böhmen noch bei Öst'rreich war, in: Ich höre so gerne die Lieder aus Wien, Wien o.J. Josef Petrak (Worte) und Hans Lang (Musik), Schezko jedno, Wien 1962, in: Heinz Conrads singt Lieder von Hans Lang. Franz Maier-Bruck, Klassische Österreichische Küche. Seehamer Kochbuch, Weyarn 2004. Powidltatschkerln, Text Rudolf Skutajan, Musik Hermann Leopoldi, Wien 1949. Ein Indiz dafür ist das Fehlen der böhmischen Mehlspeisen in dem opulenten Werk von Gerhard Tötschinger, Wünschen zu speisen? Ein kulinarischer Streifzug durch die Länder der österreichischen Monarchie, München 2003.

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Peter Ulram und Svila Tributsch, Kleine Nation mit Eigenschaften. Über das Verhältnis der Österreicher zu sich selbst und zu ihren Nachbarn, Wien 2004, 13. Faszination Geschichte 1, Zeittafel. Faszination Geschichte 1, 40. Durch die Vergangenheit 3 - neu, 23. einst und heute 3 - alt, 96. einst und heute 3 - neu, 108. einst und heute 3 - alt, 50. Oswald Panagl und Fritz Schweiger, Die Fledermaus. Die wahre Geschichte einer Operette, Wien-Köln-Weimar 1999, 5 4 - 5 7 . Karl-Peter Schwarz, Tschechen und Slowaken, Der lange Weg zur friedlichen Trennung, WienZürich 1993. einst und heute 4 - neu, Lexikonteil, 136. einst und heute 4 - neu, 59. einst und heute 3 - neu, 58. Ustava Ceské republiky a listina základních práv a svobod ze dne 16. prosince 1992. Hannes Stekl, Öffentliche Gedenktage und Jubiläen in Zentraleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, in: Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, hg. Winfried Müller, Münster 2004, 177-193. Faszination Geschichte 2, 74. einst und heute 3 - neu, 7. Spuren der Zeit 4, 117. einst und heute 4 - alt, 114. einst und heute 4 - neu, 73.

Autorinnen und Autoren

Wolfgang B A H R , Dr. phil., Historiker und Publizist Siglinde B O L B E C H E R , Mag. phil., AHS-Lehrerin Emil BRIX, Dr. phil., Botschafter, Leiter der Kulturpolitischen Sektion des Bundesministeriums für auswärtige Angelegenheiten Ernst B R U C K M Ü L L E R , Univ.-Prof. am Institut f ü r Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien C é c i l e C O R D O N , Kulturpublizistin, 1 9 9 1 - 2 0 0 2 Bezirksrätin im 2. W i e n e r G e m e i n d e b e z i r k Leopoldstadt, seit 2001 Abgeordnete im Gemeinderat und Landtag der Stadt Wien Gerhard DIENES, Dr. phil., Leiter des Grazer Stadtmuseums Ernst H A N I S C H , Dr. phil., Univ. Prof. am Institut für Geschichte der Unversität Salzburg T h o m a s H E L L M U T H , Dr. phil., Univ. Ass. am Institut f ü r Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz Rober H O F F M A N N , Dr. phil., Univ. Prof am Institut für Geschichte der Unversität Salzburg Wolgang KOS, Dr. phil., Direktor des Wien M u s e u m s Karin LIEB HART, Dr. phil., Projektmitarbeiterin und Lektorin am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien Michael M I T T E R A U E R , Dr. phil., emer. Univ. Prof., Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien Hubert M O C K , Dr. phil., Leiter des Stadtarchivs Bressanone/Brixen Lukas M O R S C H E R , Dr. phil. u. Dr. jur., Leiter des Stadtarchivs Innsbruck Andreas PRIBERSKY, Dr. phil., Wissenschaftlicher Beamter am Institut f ü r Politikwissenschaften der Universität Wien Roland SILA, Mitarbeiter an der Bibliothek des Tiroler L a n d e s m u s e u m s Ferdinandeum Christian S T A D E L M A N N , Mag. phil., Kulturwissenschafter Hannes STEKL, Dr. phil., Univ.-Prof. i. R., Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien

Bildnachweis Verlag und Herausgeber haben sich bemüht, die Rechtsinhaber der Abbildungen ausfindig zu machen. In einigen Fällen konnten die Rechtsinhaber nicht oder nur ungenau ermittelt werden. Sollten dadurch Urheberrechte verletzt worden sein, wird der Verlag diese nach Anmeldung berechtigter Ansprüche entgelten. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.

48, 52, 56, 59, 64, 66: Diözesanarchiv Wien 80, 204, 209, 215, 218, 220, 349: Wien Museum 82: Media Wien 92: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Fotosammlung 114, 115, 117, 178, 388: Bildarchiv Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wien 119: Fotoatelier Gerlach, Wien 131, 249, 360: Filmarchiv Austria, Wien 143, 156: Privatbesitz Gerhard M. Dienes, Graz 150, 163: Gery Wolf, Graz 156: Casa Editrice Bonechi

S. 157: Kulturamt der Stadt Graz (aus: Geschichte der Stadt Graz, Bd. 1. Hg. von Walter Brunner Graz 2003) S. 179: Aus: Franco Coccagna, Walter Klier, Innsbruck (c) Edition Löwenzahn, www.loewenzahn.at S. 185, 188, 191, 193: Stadtarchiv/Stadtmuseum, Innsbruck S. 257: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv der Arbeiter-Zeitung, Wien S. 281, 285, 291, 293: Verlag Anton Pustet, Salzburg S. 268, 278: Salzburger Museum Carolino Augusteum S. 307: Ray Fullilove, aus: Christus - Hoffnung Europas: Wallfahrt der Völker nach Mariazell; Mitteleuropäischer Katholikentag 2004 Wien: Molden, 2004 S. 311: Bundesdenkmalamt Wien S. 323, 326: Fotostudio Kuss, Mariazell S. 356: Aus: Gerda Haller, Bilder aus dem Salzkammergut. Verlag Galerie Welz, Salzburg S. 373: Aus: Hannelore Tscherne, Sylvia Krampl, Spuren der Zeit 4. Verlag E. Dorner, Wien S. 381: Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck S. 386: Carl Pospesch S. 388, 401: Privatbesitz Hannes Stekl, Wien S. 400: G. Alberti, Bozen S. 412: Foto: Leila Hadj-Habdou, Wien S. 415: Aus: Manfried Rauchensteiner, Die Neutralität auf dem Prüfstand 1981. Österreichischer Bundesverlag, Wien S. 419: Landesgendarmeriekommando Burgenland S. 450: Foto: Gottfried Bahr, Wien S. 453: ORF, Wien S. 458: Foto Votova, Wien S. 461: ÖNB Bildarchiv, Wien