BASICS Neurologie [6 ed.] 3437422022, 9783437422027

Gut: umfassender Einblick über die gesamte Bandbreite der Neurologie - von Grundlagen der Diagnostik über die wichtigste

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BASICS Neurologie [6 ed.]
 3437422022, 9783437422027

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BASICS Neurologie 6. AUFLAGE

Marija Pinto

Inhaltsverzeichnis

Copyright Elsevier GmbH, Hackerbrücke 6, 80335 München, Deutschland Wir freuen uns über Ihr Feedback und Ihre Anregungen an . ISBN eISBN

978-3-437-42202-7 978-3-437-09771-3

Alle Rechte vorbehalten 6. Auflage 2019 © Elsevier GmbH Deutschland Wichtiger Hinweis für den Benutzer Ärzte / Praktiker und Forscher müssen sich bei der Bewertung und Anwendung aller hier beschriebenen Informationen, Methoden, Wirkstoffe oder Experimente stets auf ihre eigenen Erfahrungen und Kenntnisse verlassen. Bedingt durch den schnellen Wissenszuwachs insbesondere in den medizinischen Wissenschaften sollte eine unabhängige Überprüfung von Diagnosen und Arzneimitteldosierungen erfolgen. Im größtmöglichen Umfang des Gesetzes wird von Elsevier, den Autoren, Redakteuren oder Beitragenden keinerlei Haftung in Bezug auf die Übersetzung oder für jegliche Verletzung und / oder Schäden an Personen oder Eigentum, im Rahmen von Produkthaftung, Fahrlässigkeit oder anderweitig, übernommen. Dies gilt gleichermaßen für jegliche Anwendung oder Bedienung der in diesem Werk aufgeführten Methoden, Produkte, Anweisungen oder Konzepte. Für die Vollständigkeit und Auswahl der aufgeführten Medikamente übernimmt der Verlag keine Gewähr. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden in der Regel besonders kenntlich gemacht (®). Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann jedoch nicht automatisch geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. 19

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Für Copyright in Bezug auf das verwendete Bildmaterial siehe Abbildungsnachweis. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Um den Textfluss nicht zu stören, wurde bei Patienten und Berufsbezeichnungen die grammatikalisch maskuline Form gewählt. Selbstverständlich sind in diesen Fällen immer alle Geschlechter gemeint. Planung: Inga Schickerling Gestaltungskonzept: Waltraud Hofbauer, Andrea Mogwitz, Rainald Schwarz Projektmanagement: Elisabeth Märtz, Dr. Nikola Schmidt Redaktion: Dr. Nikola Schmidt, Berlin Herstellung: Elisabeth Märtz, Waltraud Hofbauer, München Satz: Thomson Digital, Noida, Indien Druck und Bindung: Drukarnia Dimograf, Bielsko-Biała, Polen Umschlaggestaltung: Waltraud Hofbauer; SpieszDesign, Neu-Ulm Titelfotografie: © pirke, (Skalpell); © by-studio, (Pillen); © tom, (Stethoskop) Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter

Vorwort Vorwort zur 6. Auflage Liebe Leserinnen und Leser, In der aktuellen Ausgabe des BASICS habe ich mich bemüht durch inhaltliche Änderungen, Ergänzungen von Krankheitsbildern und Umstrukturierungen ein besseres Verständnis für das Fachgebiet zu vermitteln. Hierbei fanden erneut Anregungen von Leserinnen und Lesern Beachtung, mit dem Ziel relevante Themen studiumsnah weiter zu entwickeln. Ich hoffe, das BASICS ist Ihnen ein hilfreicher Begleiter während des Studiums und weckt das Interesse, sich in die Neurologie zu vertiefen. Natürlich freue ich mich in Zukunft weiterhin über möglichst zahlreiche Anregungen, Rückmeldungen und Wünsche von Leserinnen und Lesern, die bei der Überarbeitung des Buches berücksichtigt werden. Ich danke Frau Schickerling im Lektorat bei Elsevier / Urban & Fischer und Frau Dr. Schmidt für die erneut stützende, stets freundliche und gute Zusammenarbeit. München, im Sommer 2019 Marija Cardoso Caldas Pinto

Vorwort zur 1. Auflage Liebe Studentinnen und Studenten! Die Neurologie ist ohne Frage eines der größten Fachgebiete in der Medizin, das dem Studenten im Laufe seiner Ausbildung begegnet. Für viele wirkt es aufgrund der Komplexität und Vielschichtigkeit der zahlreichen Syndrome und Krankheitsbilder unübersichtlich und schwierig, der Einstieg erscheint sehr mühsam. Doch lohnt es sich für alle an der Medizin Interessierten, sich mit diesem interdisziplinären Gebiet näher zu beschäftigen. Das menschliche Nervensystem ist faszinierend. Es ermöglicht nicht nur das Agieren und Reagieren unseres Körpers in der Umwelt, sondern macht den Einzelnen in seinem Denken, seinem Handeln und seiner Persönlichkeit als Individuum aus. In Teilgebieten der Neurologie sind zahlreiche physiologische Vorgänge und viele Pathomechanismen noch immer nicht vollends aufgeklärt, manchmal nur rudimentär verstanden, was diese Fachdisziplin zu einem äußerst spannenden und sich entwickelnden Gebiet mit einem großen Potenzial für die künftige Diagnostik und Therapie macht. Dieses Buch aus der BASICS-Reihe soll durch die klare Struktur im Doppelseiten-Prinzip, den straffen inhaltlichen Rahmen und das ansprechende Layout mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen den Einstieg in die Neurologie ermöglichen. Es bietet eine gute Basis, um die neurologische Untersuchung zu erlernen, sowie einen gut verständlichen Überblick über das breite Feld der Krankheitserscheinungen. Ausmaß und Gewichtung der Informationen sind nicht immer einfach zu ermessen, und je mehr man sich in ein bestimmtes Gebiet einliest, desto geneigter ist man, Detailwissen einzubeziehen. Trotzdem habe ich versucht, ein vernünftiges Verhältnis zwischen häufig vorkommenden sowie studienrelevanten Themen und besonders selten vorkommenden Syndromen zu erreichen. Dieses Buch hat keineswegs den Anspruch, ein ausführliches Lehrbuch der Neurologie zu ersetzen. Vielmehr hilft es, sich in Kürze einen Überblick über das Fachgebiet zu verschaffen, und dient in stressigen Zeiten der Prüfungsvorbereitung als nützliches Repetitorium relevanter Themen. Meinen herzlichen Dank möchte ich Frau Dr. Johanna Anneser für die inhaltliche Überarbeitung dieses Buches sowie Monika Krzovska und Katharina Nikolajek für ihre Hilfe und Unterstützung aussprechen. Ebenso möchte ich mich an dieser Stelle bei unserer Redakteurin Dagmar Reiche sowie den verantwortlichen Mitarbeiterinnen vom Elsevier Urban & Fischer Verlag Willi Haas und Nathalie Blanck für ihre hilfreiche und geduldige Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches bedanken. Ich hoffe, dass dieses Buch eine Hilfe ist und beim Lesen Spaß bereitet. Über Kritik und zahlreiche Anregungen freue ich mich und bitte jede Leserin und jeden Leser, diese dem Verlag mitzuteilen. München, im Herbst 2005 Marija Krzovska

Abkürzungsverzeichnis A., Aa. Arteria, Arteriae ACA Arteria carotis anterior ACE Angiotensin Converting Enzyme ACH Acetylcholin ACI Arteria cerebri interna ACM Arteria cerebri media ACP Arteria cerebri posterior ACTH adrenokortikotropes Hormon ADEM akute disseminierte Enzephalomyelitis ADH antidiuretisches Enzym AEP akustisch evozierte Potenziale AION anteriore ischämische Optikusneuropathie Ak Antikörper ALS amyotrophe Lateralsklerose ANA antinukleäre Antikörper ANCA anti-neutrophile zytoplasmatische Antikörper ant. anterior aPTT aktivierte, partielle Thromboplastinzeit ARAS aufsteigendes retikuläres aktivierendes System art. arteriell asc. ascendens ASR Achillessehnenreflex ASS Acetylsalicylsäure AT 1 , AT 2 Angiotensinrezeptoren AT III Antithrombin III aut. autosomal AV atrioventrikulär BB Blutbild BMI Body-Mass-Index BNP brain natriuretic peptide BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit BWS Brustwirbelsäule Ca 2+ Kalzium-Ion CADASIL zerebrale autosomal-dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie CCT kraniales Computertomogramm, -grafie CFS chronisches Fatigue-Syndrom chrom. chromosomal CJD Creutzfeldt-Jakob-Krankheit CK Kreatinkinase CK-MB Kreatinkinase vom Herzmuskeltyp Cl − Chlorid cMRT kraniale Magnetresonanztomografie CMV Zytomegalievirus CO 2 Kohlendioxid COX Cyclooxygenase CRP C-reaktives Protein CT Computertomogramm, -grafie CTS Karpaltunnelsyndrom d Tag (lat. dies) DD Differenzialdiagnose(n) d. F. der Fälle desc. descendens DMD Muskeldystrophie Typ Duchenne dom. dominant DSA digitale Subtraktionsangiografie E Ernährungszustand EBV Epstein-Barr-Virus ECHO-Virus enteric cytopathogenic human orphan virus ED Encephaolomyelitis disseminata = MS

EEG Elektroenzephalogramm, -grafie EKG Elektrokardiogramm, -grafie EMG Elektromyogramm, -grafie ENG Elektroneurografie EOG Elektrookulogramm, -grafie FNV Finger-Nase-Versuch FR Formatio reticularis FSH follikelstimulierendes Hormon FSME Frühsommer-Meningoenzephalitis FTD frontotemporale Demenz g Gramm GABA γ-Amino-n-Buttersäure γ-GT Gammaglutamyltransferase GBS Guillain-Barré-Syndrom GCS Glasgow Coma Scale GI-Trakt Gastrointestinaltrakt GOT Glutamat-Oxalacetat-Transaminase GPT Glutamat-Pyruvat-Transaminase h Stunde H Hertz Hb Hämoglobin HDL High-Density-Lipoprotein HE Hounsfield-Einheit HF Herzfrequenz HHL Hypophysenhinterlappen HIT heparininduzierte Thrombozytopenie HIV human immundeficiency virus Hkt Hämatokrit HLA-B27 Human-Leukocyte-Antigen der Klasse I, assoziiert mit bestimmten Erkrankungen HMSN hereditäre motorische und sensible Neuropathien HN Hirnnerv(en) HSP hereditäre spastische Spinalparalyse HSV Herpes-simplex-Virus HUS hämolytisch-urämisches Syndrom HVL Hypophysenvorderlappen HW Halbwertszeit HWI Harnwegsinfekt HWK Halswirbelkörper HWS Halswirbelsäule i. a. intraarteriell IE Internationale Einheiten Ig Immunglobulin i. m. intramuskulär inf. inferior INO internukleäre Ophthalmoplegie INR International Normalized Ratio i. v. intravenös J Jahr, Joule K + Kalium-Ion / kg pro Kilogramm KG Körpergewicht KHK koronare Herzkrankheit KHV Knie-Hacke-Versuch KI Kontraindikation(en) KM Kontrastmittel KÖF Körperoberfläche Krea Kreatinin l Liter LDH Laktatdehydrogenase LDL Low-Density-Lipoprotein LH luteotropes Hormon Lig. Ligamentum Lj. Lebensjahr LWK Lendenwirbelkörper LWS Lendenwirbelsäule LZ-EKG Langzeit-Elektrokardiogramm M., Mm. Musculus, Musculi MAP Muskelaktionspotenzial

MELAS Mitochondriale Enzephalomyopathie, Laktat-Azidose und Schlaganfall MEP motorisch evozierte Potenziale MER Muskeleigenreflexe MERRF myoclonic epilepsy with ragged red fiber Mg 2+ Magnesium MHC Haupthistokompatibilitätskomplex min Minute(n) ml Milliliter MLF Fasciculus longitudinalis medialis mm Millimeter mmHg Millimeter Quecksilbersäule MMN multifokale motorische Neuropathie MMST Mini-Mental-Status-Test MRF rostrale mesenzephale Formatio MRT Magnetresonanztomografie, -gramm ms Millisekunde(n) MS Multiple Sklerose MSA Multisystematrophie MSAP Muskelsummenaktionspotenzial MSH Melanotropin N., Nn. Nervus, Nervi Ncl., Ncll. Nucleus, Nuclei NLG Nervenleitgeschwindigkeit NNO Neuritis nervi optici NNR Nebennierenrinde NSAR nichtsteroidale Antirheumatika NW Nebenwirkungen NYHA New York Heart Association o. B. ohne (pathologischen) Befund OKB oligoklonale Banden OKN optokinetischer Nystagmus OKR optokinetischer Reflex OP Operation P Druck p. a. posterior-anterior pAVK periphere arterielle Verschlusskrankheit pCO 2 Kohlendioxidpartialdruck PCR Polymerase-Kettenreaktion PET Positronenemissionstomografie p. m. Punctum maximum PML progressive multifokale Leukenzephalopathie PNET primitive neuroektodermale Tumoren PNP Polyneuropathie PNS peripheres Nervensystem p. o. per os post. posterior PPRF paramediane pontine Formatio reticularis Prim- primär PRIND prolongiertes reversibles ischämisches neurologisches Defizit PRL Prolaktin PROMM proximale myotone Myopathie PSO progressive supranukleäre Ophthalmoplegie PSR Patellarsehnenreflex PTT partielle Thrombinzeit PVL periventrikuläreLeukomalazie R., Rr. Ramus, Rami rez. rezessiv RF Rheumafaktor Rö. Röntgen RPR Radiusperiostreflex RR Blutdruck nach Riva-Rocci rtPA rekombinierter Gewebs-Plasminogenaktivator s Sekunde(n) SAB Subarachnoidalblutung SAE subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie s. c. subkutan sek. sekundär SEP somatosensibel evozierte Potenziale

SHT Schädel-Hirn-Trauma SIADH Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion s. l. sublingual SLE systemischer Lupus erythematodes SMA spinale Muskelatrophie SO 2 Sauerstoffsättigung SPECT single-photon emission tomography -gram SSEP somatosensorisch evozierte Potenziale SSPE subakut sklerosierende Panenzephalitis STH Somatotropin sup. superior Syn. Synonym T 3 Triiodthyronin T 4 Thyroxin Tbl. Tablette TBC Tuberkulose TCD transkranielle Doppler-Sonografie TEE transösophageale Echokardiografie TIA transitorische ischämische Attacke TNF Tumor-Nekrose-Faktor t-PA Alteplase TPHA Treponema-pallidum-Hämagglutination Tr. Tractus TRH thyreotropin-releasing hormon TSH thyreoideastimulierendes Hormon TSR Trizepssehnenreflex TXA 2 Thromboxan A 2 U internationale Einheit UKG Ultraschall-Kardiografie V., Vv. Vena, Venae VEP visuell evozierte Potenziale VHF Vorhofflimmern VOR vestibulookulärer Reflex VZV Varicella-Zoster-Virus W Watt WHO World Health Organisation Z. n. Zustand nach ZNS Zentralnervensystem I, II, III, Hirnnerven I – XII IV, V, VI, VII, VIII, IX, X, XI, XII

Allgemeiner Teil

Grundlagen

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Anatomie und Physiologie des ZNS Das Nervensystem ist das komplizierteste Organ des Körpers, das sich aus einem Netzwerk vieler unterschiedlicher Teilsysteme zusammensetzt und dem Menschen die Integration und Kommunikation mit seiner Umwelt ermöglicht. Unterschieden werden das zentrale Nervensystem, welches das Gehirn und das Rückenmark (→ ) umfasst, und das periphere Nervensystem, welches sich von den Vorderhornzellen im Rückenmark mittels unzähliger Nerven in den Körper ausbreitet. Die Hirnnerven werden ebenfalls dem peripheren System zugeordnet. Eine weitere Einteilung erfolgt in somatisches und vegetatives Nervensystem. Das Erstgenannte steuert die Willkürbewegungen und dient mithilfe der Sensibilität der bewussten Wahrnehmung des Körpers. Das vegetative (autonome, viszerale) Nervensystem setzt sich aus dem Sympathikus und dem Parasympathikus zusammen und kontrolliert die unwillkürliche, unbewusste Funktion der inneren Organe. Im folgenden Abschnitt wird eine grobe Gliederung des Gehirns mit einem Überblick über seine Funktionen dargestellt.

Medulla oblongata und Pons Das Rückenmark geht ohne scharfe Begrenzung in die Medulla oblongata über, der sich weiter kranial der Wulst quer verlaufender Fasern des Pons (Brücke) anschließt. Diese beiden Strukturen und das kranial angrenzende Mittelhirn werden als Hirnstamm bezeichnet. Medulla oblongata und Pons bilden den Boden des vierten Ventrikels (Rautengrube) und werden mit dem Cerebellum zum Rhombencephalon zusammengefasst. In Medulla oblongata und Pons finden sich eine Vielzahl von Nervenkernen, wobei die Kerne der Hirnnerven V – XII den größten Anteil ausmachen. Sie sind über verschiedene Bahnen mit weiteren Zentren komplex verschaltet.

Medulla oblongata In dorsaler Ansicht (→ ) erkennt man die beiden Tubercula gracile und cuneatus, welche die Kerne der Hinterstrangbahnen (epikritische Sensibilität, → ) enthalten. Auf der ventralen Seite (→ ) erkennt man jeweils paramedian die beiden Pyramiden, die durch Fasern der kortikospinalen Bahnen gebildet werden. Knapp unterhalb der Pyramiden kann man die Kreuzung dieser motorischen Bahnen sehen. Lateral liegen die Olivenkernkomplexe als bedeutende motorische Zentren zur Koordination von Feinbewegungen. Sie erhalten afferente Fasern aus dem Motorkortex, dem Ncl. ruber (Mittelhirn) und den motorischen Rückenmarksbahnen und leiten diese Informationen über den Bewegungsapparat zum Kleinhirn weiter.

Abb. 1.1

Dorsale Ansicht des Hirnstamms [E406]

Abb. 1.2

Ventrale Ansicht des Hirnstamms und des Zwischenhirns [E520]

Pons Die ventral gelegenen Brückenkerne (= locker zusammengesetzter Komplex grauer Substanz) ähneln in ihrer Funktion den Oliven, haben jedoch eine wesentlich umfassendere Rolle in der motorischen Feinabstimmung. Sie erhalten hauptsächlich Informationen aus den Assoziationszentren des Frontallappens und bilden als mittlerer Kleinhirnstiel die quantitativ wichtigste Efferenz zum kontralateralen Kleinhirn.

Mittelhirn (Mesencephalon) Das Mittelhirn wird nach kranial und kaudal vom Zwischenhirn bzw. vom Pons begrenzt und kann von ventral nach dorsal in drei Schichten gegliedert werden: die Crura cerebri, das Tegmentum mesencephali und das Tectum mesencephali (→ ).

Abb. 1.3

Querschnitt durch das Mittelhirn im Bereich der Colliculi superiores [E520]

Die Regulation der Augenbewegungen und die Verschaltung zahlreicher optischer Reflexe erfordern ein dichtes Netz an afferenten und efferenten Nervenfasern sowie Kerngebiete, die sich über den gesamten Hirnstamm erstrecken als auch Gebiete des Cerebellums sowie des Großhirns involvieren (→ ). So werden z. B. im Pons die Augenbewegungen in horizontaler Richtung und im Mittelhirn diejenigen in vertikaler Richtung kontrolliert. Der Pupillenreflex wird in der Area pretectalis generiert. Auch die Formatio reticularis (FR) stellt ein komplexes Netz aus Kernen und Fasern dar, das den Hirnstamm durchzieht und zahlreiche Funktionen hat. Aufgaben der FR sind u. a. die Verschaltung der Hirnnervenkerne (z. B. Schlucken, Augenbewegungen) und die Kontrolle über die Atmung sowie den Kreislauf. Zudem kontrolliert die FR das Brechzentrum in der Medulla oblongata und nimmt durch das aufsteigende retikuläre aktivierende System (ARAS), das über den Thalamus die Großhirnrinde generell aktivieren kann, entscheidenden Einfluss auf den Schlaf-wachRhythmus sowie auf den Aufmerksamkeitsgrad. Über extrapyramidale Bahnen reguliert dieses System auch den Muskeltonus von Rumpf und proximalen Extremitäten.

Crura cerebri (Hirnschenkel) Die Hirnschenkel werden durch die efferenten Faserbündel der Pyramidenbahn, der kortikonukleären und der kortikopontinen Bahn gebildet.

Tegmentum mesencephali (Mittelhirnhaube) Dorsal im Anschluss an die Hirnschenkel findet sich das Kerngebiet der Substantia nigra, deren melaninreiche Perikarya sich gut sichtbar schwarz darstellen. Sie nimmt eine zentrale Rolle für die Bewegungsinitiation und den Bewegungsantrieb ein. Sie erhält Afferenzen aus dem Motorkortex und dem Striatum. Ebenfalls auf das Striatum wirkt sie efferent hemmend durch den Transmitter Dopamin (Mesostriatales System). Diesem System wird Bedeutung bei der Minus-Symptomatik bei Morbus Parkinson zugesprochen. Im Tegmentum liegen des Weiteren die Hirnnervenkerne des III. und IV. Hirnnervs sowie der Ncl. ruber, der eine zentrale Schaltstelle der Motorik über Verbindungen zum Kleinhirn sowie durch eine direkt in das Rückenmark ziehende extrapyramidale Bahn darstellt.

Tectum mesencephali (Mittelhirndach mit Vierhügelplatte) Die oberen = vorderen Hügel ( Colliculi superiores, → ) spielen für die reflektorischen Augenbewegungen (z. B. Sakkaden), Augenschutzreflexe und die Abstimmung von Kopf- und Augenstellung bei Orientierungsbewegungen eine wichtige Rolle. Die unteren = hinteren Hügel (Colliculi inferiores) (→ ) sind Teil der Hörbahn. Der IV. Hirnnerv, dessen Kern auf Höhe der Colliculi inferiores liegt, tritt als einziger Hirnnerv auf der dorsalen Hirnstammseite aus.

Zwischenhirn (Diencephalon) An das Zwischenhirn grenzen kaudal das Mittelhirn und rostral sowie dorsal das Großhirn. Entwicklungsgeschichtlich unterscheidet man vier Anteile: Epithalamus, Thalamus, Hypothalamus und Subthalamus.

Epithalamus Dieser Teil besteht u. a. aus der Epiphyse (Zirbeldrüse), die das für den zirkadianen Rhythmus wichtige Hormon Melatonin produziert. Eine Verbindung zwischen Epiphyse und Thalamus erfolgt über die Habenulakerne (Schaltstelle für olfaktorische Impulse). Daneben zählt auch die A r e a pretectalis (Pupillenreflex) zum Diencephalon.

Thalamus Der Thalamus stellt eine große Ansammlung einzelner Kerne dar. Fast alle sensiblen und sensorischen Fasern (nicht die olfaktorische Bahn) und auch motorische Leitungen, die zur Großhirnrinde ziehen, projizieren zunächst in den Thalamus, um hier verschaltet und integrativ verarbeitet zu werden. Der Thalamus wird auch als das „Tor zum Bewusstsein“ bezeichnet, da ihm eine Art Filterfunktion zugesprochen wird, mit der die Weiterleitung von unwichtigen Informationen zum Großhirn verhindert und somit eine Reizüberflutung vermieden werden soll.

Hypothalamus Strukturell kann man die Corpora mamillaria, den Hypophysenstiel (Infundibulum) und die Neurohypophyse (Hypophysenhinterlappen, HHL) als direkte Fortsetzung des Hypothalamus gut voneinander abgrenzen. Der Hypothalamus besteht aus einer Vielzahl von Kernen, die als oberstes Steuerzentrum verschiedener vegetativer und endokriner Systeme fungieren (z. B. Flüssigkeitshaushalt, Kreislauf, Nahrungsaufnahme, Körpertemperatur etc.). Außerdem steuert er die endokrine Sekretionstätigkeit der Hypophyse (Hirnanhangsdrüse). Diese besteht aus der Neurohypophyse sowie aus der Adenohypophyse (Hypophysenvorderlappen, HVL), die sich dem HHL anlegt und histologisch kein Gehirnteil, sondern vielmehr eine Drüse ist. Über Releasing-Hormone reguliert der Hypothalamus die Sekretion der HVL-Hormone (ACTH, FSH, LH, TSH, STH, PRL und MSH). Auch die Ausschüttung der im Hypothalamus

gebildeten und im HHL gespeicherten Hormone Oxytocin und Adiuretin (Vasopressin) unterliegt seiner direkten Steuerung über Nervenimpulse.

Subthalamus Entwicklungsgeschichtlich gehören die Kerne Ncl. subthalamicus und Globus pallidus zum Diencephalon, werden aber unter funktionellem Aspekt den Basalganglien zugeordnet.

Kleinhirn (Cerebellum) Das Cerebellum ist das wichtigste und oberste Kontrollzentrum für die Koordination und Feinabstimmung von Bewegungen. Es liegt der Medulla oblongata und dem Pons von dorsal auf und ist mit dem Hirnstamm über drei Kleinhirnstiele (Pedunculi cerebellares superior, medius und inferior) verbunden. Das Tentorium cerebelli, eine Duraduplikatur, überspannt das Kleinhirn und separiert es so vom Großhirn. Die gesamte Oberfläche ist gefurcht. Man erkennt eine Gliederung in den Vermis (Wurm), dem sich zu beiden Seiten die Hemisphären anschließen (→ ). Kaudal des Wurms in der Ansicht von vorn findet man den Lobus flocculonodularis und auch die beiden Kleinhirntonsillen beidseits des Vermis.

Abb. 1.4

Ansicht des Kleinhirns von oben (a) und von vorn (b) [E533]

Aufbau Histologisch unterscheidet man in der Kleinhirnrinde drei Schichten: Körnerzellschicht (Stratum granulosum, die einzigen exzitatorischen Neurone), Purkinje-Zellschicht (Stratum purkinjense, die einzigen efferenten Neurone) und Molekularschicht (Stratum moleculare). Im Mark jeder Hemisphäre erkennt man die vier Kleinhirnkerne: Ncl. dentatus, Ncl. emboliformis, Ncl. globosus und Ncl. fastigii.

Funktion Bezüglich der Funktion des Cerebellums kann man eine topografisch geordnete Aufgabenverteilung erkennen. Es werden folgende Teile unterschieden:

Spinocerebellum Es besteht aus dem Vermis und dem unmittelbar anschließenden Bereich der Hemisphären und erhält den Hauptteil seiner Fasern aus dem Rückenmark. Hauptsächlich koordiniert es die Bewegung der proximalen Extremitätenmuskulatur und den Muskeltonus. Es erhält zum größten Teil propriozeptive Informationen aus dem Rückenmark, die verarbeitet und über den Ncl. ruber und die Formatio reticularis zurück zum Rückenmark geleitet werden.

Vestibulocerebellum Dieser Teil umfasst Flocculus und Nodulus und bezieht den größten Teil seiner Afferenzen aus dem Vestibularapparat, v. a. aus den Vestibulariskernen, und kontrolliert über efferente Fasern die Okulomotorik zur Blickstabilisierung, die Sprachmotorik sowie indirekt die Gang- und Standstabilisierung. Bei Störungen im Bereich des medialen Anteils des Kleinhirns (Spino- und Vestibulocerebellum) kommt es zu Gang- und Standataxie, Fallneigung, Nystagmus und z. T. zur Unterdrückung des vestibulookulären Reflexes.

Pontocerebellum Dieser Teil des Gehirns wird durch die beiden Hemisphären repräsentiert und erhält Projektionen v. a. aus dem Großhirn und den Brückenkernen. Er ist für die motorische Modulation und Feinkoordination von „Bewegungsentwürfen“ zuständig, die er über kortikopontine Bahnen aus dem Großhirn erhält. Nach Überarbeitung des Bewegungsablaufs wird dieser zum Thalamus und von dort zum Motorkortex zurückprojiziert und schließlich durch die Pyramidenbahn zu den Ausführungsorganen geleitet. Läsionen der Hemisphären zeigen sich klinisch als hypermetrische Bewegungen, Dysdiadochokinese, Intentionstremor und skandierende Sprache.

Großhirn (Telencephalon) Die beiden Großhirnhemisphären sind über den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden. Dieser besteht aus einer Ansammlung quer verlaufender Fasern, die das Dach der Seitenventrikel bilden und fast alle Bereiche des Großhirns miteinander in Verbindung setzen. Bei der Ansicht von außen kann man vier Großhirnlappen erkennen (→ ), die mithilfe von Furchungen und Windungen ihre Oberfläche vergrößern. Klappt man den seitlich gelegenen Temporallappen und Teile des Frontallappens auseinander, sieht man auf die Inselrinde, die sich keinem der Lappen zuordnen lässt.

Abb. 1.5

Ansicht des Gehirns von lateral [E406]

Entwicklungsgeschichtlich kann man im Großhirn alte von neuen Bereichen unterscheiden. Der Paleokortex ist der älteste Abschnitt. Daraufhin entwickelten sich das Striatum, der Archikortex und anschließend der Neokortex als der neueste und größte Teil des Gehirns.

Paleokortex Die Strukturen des Paleokortex bilden das Riechhirn und umfassen Bulbus olfactorius, Tractus olfactorius und Tuberculum olfactorium mit angrenzenden Kortexarealen. Daneben werden Teile des Corpus amygdaloideum (→ ), das dem limbischen System zugeordnet wird, ebenfalls vom Paleokortex gebildet. Die Fasern der Riechschleimhaut (Fila olfactoria) enden im Bulbus olfactorius und werden über den Tractus olfactorius der Riechrinde im Bereich der Substantia perforata anterior (→ ) zugeleitet. Von diesem olfaktorischen Kortex aus wird die Riechempfindung zu verschiedenen vegetativen Zentren und über den Thalamus zu Bereichen des Neokortex geleitet, die im Sinne von sekundären Rindenfeldern die Information interpretieren. Das Corpus amygdaloideum (Mandelkern, Amygdala) besteht aus mehreren Kernen und unterhält intensive Faserbeziehungen zum Rest des limbischen Systems. Es kontrolliert die vegetativen Funktionen des Hypothalamus, nimmt Einfluss auf sexuelle Funktionen, spielt eine wichtige Rolle bei der Initiation emotional ausgelöster Reaktionen und ist an der Speicherung emotional betonter Gedächtnisinhalte maßgeblich beteiligt.

Abb. 1.6

Lage des Hippocampus in den Hemisphären [G182]

Abb. 1.7

Strukturen des Riechhirns. Basale Ansicht des Großhirns. [E386]

Archikortex

Archikortex Der Großteil des Archikortex besteht aus dem Hippocampus. Der Gyrus parahippocampalis und Teile des Gyrus cinguli werden ihm ebenfalls zugerechnet. Der Hippocampus und der Fornix, der als Faserbündel der hippokampalen Efferenzen aufzufassen ist, bilden eine bogenförmige Struktur zu den Mamillarkörpern (Pes hippocampi – Fornix – Corpora mamillaria) und liegen zum Großteil im Temporallappen. Der Hippocampus bildet die mediale Wand des Seitenventrikelunterhorns, und der Fornix überspannt dachförmig den dritten Ventrikel (→ ). Als wichtiger Teil des limbischen Systems nimmt der Hippocampus eine entscheidende Rolle bei Lernvorgängen ein und beeinflusst zudem Bewusstsein, Motivation, Affektverhalten und Aggression. Der Gyrus parahippocampalis moduliert und leitet Impulse aus dem Riechhirn, dem Neokortex (motorische Informationen) und dem Corpus amygdaloideum an den Hippocampus. Der Hippocampus stellt zusammen mit dem Gyrus cinguli die bedeutendsten Strukturen des limbischen Systems dar. Durch seine intensiven Faserverbindungen zum Hypothalamus beeinflusst der Gyrus cinguli vegetative Funktionen (z. B. Nahrungsaufnahme). Eine bedeutende Rolle spielt er zudem in der Regulation des psychomotorischen und lokomotorischen Antriebs.

Neokortex Der Neokortex nimmt bei Menschen beinahe die gesamte Großhirnoberfläche ein und steuert eine Vielzahl intellektueller Leistungen. Im folgenden Abschnitt werden die wichtigsten Aufgaben des Neokortex entsprechend den vier Großhirnlappen dargestellt. Funktionell gliedert man den Neokortex in Primär-, Sekundär- und Assoziationsfelder: • Die Sinnesbahnen enden zunächst in den Primärfeldern (z. B. Gyrus postcentralis, Sehrinde), wo die Sinneseindrücke ohne Interpretation ins Bewusstsein gelangen. Das Primärfeld des efferenten motorischen Systems ist der Gyrus precentralis. • Die Sekundärfelder liegen i. d. R. direkt neben den Primärfeldern und sind für die erste Informationsverarbeitung der Sinnesreize, die aus dem primären Rindenfeld nachgeschaltet werden, verantwortlich. Im motorischen System dienen die vorgeschalteten sekundären Felder der Bewegungsvorbereitung und Modulation der absteigenden Bahnen. • Die Assoziationsfelder sind afferent und efferent eng mit den Primär- und Sekundärfeldern wie auch anderen Hirnregionen verschaltet, können aber nicht einem bestimmten Primärfeld zugeordnet werden. Sie dienen der komplexen Informationsverarbeitung.

Frontallappen Dieser Abschnitt wird durch den Sulcus centralis vom Parietallappen und durch den Sulcus lateralis vom Temporallappen getrennt. Teil des Frontallappens ist der Gyrus precentralis ( Motorkortex, → ), der als Ursprungsort der Willkürmotorik gilt. Nach dem langen Verarbeitungsprozess eines Bewegungsentwurfs werden die Impulse vom Motorkortex, dessen Efferenzen als Pyramidenbahn zusammengefasst werden, an die Hirnnervenkerne und das Rückenmark weitergeleitet. Überwiegend werden die distalen Extremitätenmuskeln innerviert. Der Gyrus precentralis hat eine somatotopische Gliederung, wobei feinmotorisch beanspruchte Körperteile (z. B. Zunge, Hand) auf einem verhältnismäßig großen Areal des Kortex repräsentiert werden. Der supplementär- und der prämotorische Kortex dienen zum einen der Vorbereitung von Bewegungen, die dem Motorkortex zugeleitet werden, zum anderen steuern diese Bereiche die extrapyramidale Motorik. Das frontale Augenfeld liegt dem prämotorischen Kortex an und ist für die willkürlichen horizontalen Augenbewegungen jeweils zur kontralateralen Seite zuständig. Das Broca-Sprachzentrum findet sich im Bereich des Gyrus frontalis inferior (i. d. R. einseitig auf der dominanten Hemisphäre) und hat als motorisches Sprachzentrum die Sprachbildung durch Koordination der für die Sprache notwendigen Muskeln zur Aufgabe. Alle Bereiche vor dem prämotorischen Kortex werden als präfrontale Rinde zusammengefasst, der Bedeutung in der Persönlichkeitsbildung (psychische und geistige Leistungen) und für das Kurzzeitgedächtnis zugesprochen wird.

Abb. 1.8 Gliederung des Frontallappens. 1: Gyrus precentralis, 2: prämotorischer und supplementär-motorischer Kortex, 3: frontales Augenfeld, 4: Broca-Sprachzentrum, 5: präfrontaler Kortex. [L141]

Parietallappen Der Parietallappen schließt sich dem Frontallappen an und wird durch den Sulcus lateralis und den Sulcus parietooccipitalis von Temporal- und Okzipitallappen abgegrenzt. Dem Sulcus centralis kaudal anliegend findet sich der Gyrus postcentralis ( primär sensible Rinde, → ), wo die sensiblen Wahrnehmungen der Haut interpretationsfrei ins Bewusstsein gelangen. Ähnlich wie beim Motorkortex liegt auch hier eine somatotopische Gliederung vor. Den empfangenen Reizen wird erst in der sekundären somatosensiblen Rinde nach Verschaltung im primären Kortex eine Bedeutung zugeordnet. Der Gyrus angularis ist für die Zuordnung sprachlicher Begriffe zu visuellen Reizen verantwortlich und nimmt dadurch eine zentrale Rolle bei der Verschaltung von Sehund Hörbahn ein. Dieser Bereich hat Bedeutung für die Lese- und Schreibfähigkeit.

Abb. 1.9

Gliederung des Parietallappens. 1: Gyrus postcentralis, 2: sekundäre somatosensible Rinde, 3: Gyrus angularis. [L141]

Okzipitallappen Dieser Teil bildet den hintersten Abschnitt des Gehirns und ist vom Parietal- und Temporallappen nur unscharf durch die Gyri supramarginalis und angularis zu trennen. Am Okzipitalpol ist die primäre Sehrinde (Area striata, Brodmann-Areal 17) lokalisiert. Sie liegt in der Wand des Sulcus calcarinus und erstreckt sich mit ihrem Hauptanteil auf die mediale Hemisphärenseite. Sie stellt den Endpunkt der Sehbahn dar, wo die visuellen Eindrücke, dem oben beschriebenen Prinzip folgend, interpretationsfrei bewusst werden und dann in der sekundären Sehrinde eine Bedeutung zugewiesen bekommen.

Temporallappen Der laterale Hirnlappen ist durch den Sulcus lateralis und die Gyri supramarginalis und angularis von den anderen abzugrenzen. Der Sulcus lateralis enthält die Heschl-Querwindungen, welche die primäre Hörrinde darstellen. Das Erkennen und Interpretieren der Hörreize erfolgt in der sekundären Hörrinde ( Wernicke-Sprachzentrum, sensorisches Sprachzentrum), die sich lateral des Primärareals im Gyrus temporalis superior der dominanten Hirnhälfte befindet.

Basalganglien (Stammganglien) Die Basalganglien im engeren Sinn umfassen einen Kernkomplex im Marklager des Großhirns mit folgenden Kernen (→ ): • Striatum (setzt sich aus dem Ncl. caudatus und dem Putamen zusammen) • Globus pallidus (Pallidum)

Abb. 1.10

Lokalisation der Basalganglien in den Großhirnhemisphären [E549]

Ähnliche funktionelle Aufgaben haben auch die Kerngebiete Ncl. subthalamicus und Substantia nigra. Sie werden dadurch häufig den Basalganglien zugerechnet. Diese Kerne spielen über eine enge Verschaltung sowohl untereinander als auch mit anderen Zentren des Großhirns (Motorkortex, Thalamus) eine bedeutende Rolle in der zentralnervösen Steuerung von Bewegungsabläufen. Hierbei übernehmen die Basalganglien hauptsächlich die Steuerung von Kraft, Richtung, Ausmaß und Geschwindigkeit von Bewegungen. Durch die komplexen Verbindungen untereinander können alle Kerne sowohl hemmend als auch fördernd wirken.

Weitere Strukturen Im Folgenden werden Strukturen dargestellt, die zwar bereits angesprochen worden sind, bei denen es jedoch noch einiger Ergänzungen bedarf.

Limbisches System Dieses System setzt sich aus verschiedenen Strukturen zusammen, die dem Paleo- und dem Archikortex zugeordnet werden und aus funktioneller Sicht in enger Verbindung zueinander stehen. Es ist maßgeblich an der Entstehung von Emotionen, Affektverhalten, Gedächtnis und Antrieb beteiligt. Die Zentren des limbischen Systems wurden bereits in den vorausgegangenen Abschnitten dieses Kapitels dargestellt und werden im Folgenden stichpunktartig noch einmal zusammengefasst. Sie stehen untereinander in sehr enger Beziehung: • Hippocampus: Gedächtnis, Motivation, Affektverhalten, Aggression, Bewusstsein • Gyrus parahippocampalis: leitet Informationen aus dem Neokortex, aus dem Riechhirn und anderen Strukturen des limbischen Systems an den Hippocampus • Gyrus cinguli: psychomotorischer und lokomotorischer Antrieb, Regulation vegetativer Funktionen • Corpora mamillaria: Affektverhalten, Sexualfunktionen, Gedächtnis • Corpus amygdaloideum: Modulation vegetativer Funktionen des Hypothalamus, emotional betontes Gedächtnis, Initiation emotionaler Reaktionen, Beeinflussung sexueller Funktionen

Lobus insularis (Inselrinde) Die Inselrinde ist eine phylogenetisch alte Hirnstruktur und wird während der Entwicklung des Neokortex überdeckt. Drängt man die Temporal-, Parietal- und Frontallappen zur Seite, kann man auf diese Struktur blicken. Sie stellt das primäre Rindenfeld des Geschmackssinns dar. Zudem hat die Inselrinde eine große Bedeutung für die Verarbeitung viszerosensibler (Wahrnehmung von Hunger, Übelkeit etc.) und viszeromotorischer (z. B. Magensaftsekretion) Reize.

Zusammenfassung • Unter der Vielzahl an Kernkomplexen von Medulla oblongata und Pons machen die Kerne der V. – XII. Hirnnerven mit ihrer komplexen Verschaltung einen Großteil aus. Weitere markante Strukturen sind die Kerne der Hinterstrangbahnen, die Pyramiden und Oliven. • Das Mittelhirn nimmt über die Substantia nigra wichtigen Einfluss auf den Bewegungsantrieb. Ein Netz aus Nervenfasern und Kernen, das den Hirnstamm durchzieht, reguliert Augenbewegungen und optische Reflexe. Die Formatio reticularis erstreckt sich ebenfalls über den gesamten Hirnstamm und kontrolliert Atmung, Kreislauf, Brechreiz, Schlaf-wach-Rhythmus sowie Muskeltonus. • Im Zwischenhirn übernimmt der Thalamus als Ort der Umschaltung fast aller sensiblen und sensorischen Fasern eine Kontrollfunktion über den Informationsfluss zum Großhirn. Der Hypothalamus stellt das oberste Steuerzentrum einer Vielzahl vegetativer und endokriner Funktionen dar. • Den Kleinhirnabschnitten können verschiedene Funktionen zugeordnet werden. Das Spinocerebellum reguliert den Muskeltonus und koordiniert die Bewegungsabläufe der proximalen Extremitätenmuskulatur. Die Okulomotorik untersteht dem Einfluss des Vestibulocerebellums, die Feinabstimmung von Bewegungen wird vom Pontocerebellum moduliert. • Der Paleokortex ist der phylogenetisch älteste Teil des Großhirns und umfasst neben den Strukturen des Riechhirns auch Teile des Corpus amygdaloideum, das auf vegetative und sexuelle Funktionen, Emotionen und auf das Gedächtnis Einfluss nimmt. • Hippocampus und Gyrus cinguli werden dem Archikortex zugeordnet und sind außerdem die wichtigsten Strukturen des limbischen Systems, das für die Entstehung und Manifestation von Emotionen, Affektverhalten, Trieben, Gedächtnis und diversen intellektuellen Leistungen eine bedeutende Rolle spielt. • Den Basalganglien werden Kerngebiete im Marklager des Großhirns (Ncl. caudatus, Putamen, Globus pallidus) und im erweiterten Sinn auch der Ncl. subthalamicus und die Substantia nigra zugeordnet. • Die Basalganglien sind ein wichtiges Regulationszentrum der Motorik mit der Hauptaufgabe, Kraft, Richtung, Ausmaß und Geschwindigkeit von Bewegungen zu steuern. • Der Neokortex (jüngster Teil des Großhirns) nimmt fast die gesamte Großhirnoberfläche ein und lässt sich in vier Großhirnlappen mit unterschiedlichen Funktionszentren unterteilen: – Frontallappen: prämotorischer und motorischer Kortex, frontales Augenfeld, motorisches Sprachzentrum (Broca-Sprachzentrum), präfrontale Rinde (Persönlichkeitsbildung) – Parietallappen: primärer und sekundärer somatosensibler Kortex, Gyrus angularis (Lese- und Schreibfähigkeit) – Okzipitallappen: primäre und sekundäre Sehrinde – Temporallappen: primäre Hörrinde, sensorisches Sprachzentrum (Wernicke-Sprachzentrum).

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Anatomie und Physiologie des Rückenmarks Das Rückenmark liegt im Wirbelkanal, wird von Liquor umflossen und erstreckt sich beim Erwachsenen von der Austrittsstelle des ersten Spinalnervs im Foramen magnum bis etwa zum ersten Lendenwirbelkörper (beim Säugling bis L 3). Dem Rückenmark liegt die Pia mater an, gefolgt von der Arachnoidea und der Dura mater.

Anatomischer Rückenmarksquerschnitt Makroskopisch kann man eine schmetterlingsförmige graue Substanz (Perikarya) und eine umgebende weiße Substanz (Axone) unterscheiden (→ ). Aus den Vorderhörnern treten die motorischen Neurone, die sich als Vorderwurzel mit der Hinterwurzel zum Spinalnerv vereinen. Die Hinterwurzel führt sensible afferente Neurone zum Hinterhorn. Ein Seitenhorn, das insbesondere im Thorakalmark gut erkennbar ist, enthält Kernansammlungen des sympathischen und parasympathischen Nervensystems . Hierbei sind im thorakolumbalen Bereich die Neurone des Sympathikus vorzufinden und im zervikosakralen Bereich die Bahnen des Parasympathikus (im Hirnstamm finden sich parasympathische Kerne). In der weißen Substanz verlaufen die auf- und absteigenden Bahnen (→ ).

Abb. 2.1 Querschnitt des Rückenmarks. Gliederung der grauen und weißen Substanz mit den sensiblen aufsteigenden (Blau- / Lila-Töne) und motorischen absteigenden (Rot- / Gelb-Töne) Bahnen [E406]

Sensible aufsteigende Bahnen Die sensible Wahrnehmung wird je nach Qualität in verschiedene Rückenmarksbahnen geleitet. Dabei gibt es Unterschiede hinsichtlich ihrer Verschaltung.

Tractus spinothalamicus Die beiden Tr. spinothalamici laterales und Tr. spinothalamici anteriores werden mit dem Tr. spinoreticularis zum Vorderseitenstrang (anterolaterale Bahn) zusammengefasst und leiten die protopathische Sensibilität (grobe Druck- und Tastempfindung, Temperatur und Schmerz). Die Afferenzen aus den Hautrezeptoren treten in das Rückenmark ein und können ca. zwei Segmente nach kranial steigen, wo sie auf das zweite Neuron im Hinterhorn umgeschaltet werden (→ ) und anschließend zur Gegenseite kreuzen. Gemeinsam ziehen dann diese sensiblen Qualitäten als Tractus spinothalamicus zum Thalamus, wo sie auf das dritte Neuron umgeschaltet werden. Anschließend werden sie über die Capsula interna zum Gyrus postcentralis (primär sensible Großhirnrinde) des Parietallappens weitergeleitet. Die protopathische Wahrnehmung des Kopfbereichs wird durch den N. trigeminus (V) vermittelt, dessen Fasern sich dem Tractus spinothalamicus in der Medulla oblongata anschließen.

Abb. 2.2

Leitung der protopathischen Sensibilität im Tractus spinothalamicus [E406]

Hinterstrangbahnen Die epikritische Sensibilität umfasst die feine Tastempfindung, Vibration und Lageempfindung (Propriozeption), die durch Reize aus Hautrezeptoren und den Spindelorganen des Bewegungsapparats vermittelt werden. Nach Eintritt der Nervenfasern in das Rückenmark führen diese am Hinterhorn vorbei zum Hinterstrang, wo sie ungekreuzt nach kranial ziehen (→ ).

Abb. 2.3

Leitung der epikritischen Sensibilität im Hinterstrang [E406]

Der Hinterstrang setzt sich aus zwei Bahnen zusammen: Der Fasciculus gracilis führt sensible Afferenzen aus der unteren Extremität und dem distalen

Rumpf. Diesem schließt sich der Fasciculus cuneatus im oberen Thorakalmark an, der Impulse aus der oberen Extremität und dem kranialen Rumpfbereich leitet. Beide Bahnen werden in der Medulla oblongata (Ncl. gracilis, Ncl. cuneatus) auf das zweite Neuron verschaltet und kreuzen im Anschluss auf die Gegenseite. Die ebenfalls gekreuzten epikritischen Fasern des N. trigeminus legen sich den Hinterstrangbahnen an und ziehen zusammen mit diesen als Lemniscus medialis zum Thalamus. Nach einer Umschaltung auf das dritte Neuron verlaufen sie durch die Capsula interna und projizieren wie bei der protopathischen Sensibilität auch zum Gyrus postcentralis.

Kleinhirnseitenstrangbahnen Die Kleinhirnseitenstrangbahnen bestehen aus dem Tr. spinocerebellaris posterior und dem Tr. spinocerebellaris anterior, die Kerngebieten im Bereich des Hinterhorns entspringen und propriozeptive Reize über die Rumpf- und untere Extremitätenstellung zum Kleinhirn leiten. Die entsprechenden Informationen aus der oberen Extremität ziehen im Hinterstrang zum Kleinhirn. Die Axone der spinozerebellären Bahnen wechseln nur z. T. nach kontralateral im Rückenmark, wobei sie vor Eintritt ins Kleinhirn wieder auf die Seite ihrer ursprünglichen Seite zurückkreuzen. Das Kleinhirn erhält somit die Afferenzen aus der ipsilateralen Körperhälfte.

Motorische absteigende Bahnen Den größten Stellenwert für die Motorik nimmt die Pyramidenbahn (Tractus corticospinalis) ein. Daneben haben einige extrapyramidale Bahnen ebenfalls Einfluss auf den Bewegungsablauf und ermöglichen in manchen Fällen Patienten nach einer Schädigung der Pyramidenbahn, z. B. im Rahmen eines Schlaganfalls im Mediaversorgungsgebiet, eine gewisse Restbeweglichkeit.

Tractus corticospinalis (Pyramidenbahn) Die Pyramidenbahn entspringt etwa zur Hälfte dem primären Motorkortex (primär motorische Rinde des Gyrus precentralis) des Großhirns und verläuft durch die Capsula interna und das Crus cerebri zum Hirnstamm, wo ca. 70–90 % der Fasern in der Pyramide zur Gegenseite kreuzen (→ ). Diese ziehen dann als Tr. corticospinalis lateralis somatotopisch geordnet im Seitenstrang nach kaudal, wobei die Nervenfasern (nach Umschaltung auf das zweite Neuron) das Rückenmark über die Vorderwurzel verlassen und als α-Motoneurone zur Muskulatur ziehen. Diejenigen Fasern, die in der Pyramide nicht gekreuzt sind (10– 30 %), laufen als Tr. corticospinalis anterior nach unten und kreuzen vor ihrem Austritt über das Vorderhorn segmental zur Gegenseite. Der Tr. corticospinalis anterior ist nur bis ins Zervikalmark vorzufinden. Die Pyramidenbahn projiziert zu einem großen Teil zu den distalen Extremitätenmuskeln und spielt somit eine bedeutende Rolle für die Feinmotorik. Sie kann außerdem einzelne synaptisch verschaltete Prozesse auf Rückenmarksebene unterdrücken und übt somit eine Kontrollfunktion über verschiedene Reflexe aus. Auf diese Weise werden z. B. primitive Fremdreflexe inhibiert, die bei Säuglingen – deren Pyramidenbahn noch nicht ausgereift ist – noch vorhanden sind.

Abb. 2.4

Verlauf der Pyramidenbahn (Tr. corticospinales lateralis et anterior) [E406]

Extrapyramidale Bahnen Unter diesem Begriff werden alle motorischen Bahnen zusammengefasst, die nicht in der Pyramidenbahn verlaufen. Sie entspringen unterschiedlichen Zentren des Hirnstamms (z. B. Ncll. vestibulares, Ncl. ruber, Formatio reticularis). Die ins Rückenmark ziehenden Bahnen wie z. B. Tr. vestibulospinalis, Tr. rubrospinalis, Tr. reticulospinalis verlaufen teils gekreuzt, teils ungekreuzt. Sie haben zudem keine einheitliche Lokalisation, sondern sind vielmehr in der weißen Substanz des Myelons verstreut aufzufinden. Ein Großteil der extrapyramidalen Bahnen projiziert über das Vorderhorn zur Muskulatur der proximalen Extremitäten und des Rumpfes. Somit kontrollieren sie hauptsächlich aus den Schultern bzw. den Hüften kommende Bewegungen oder Ausweich- und Stabilisierungsbewegungen des Rumpfes. Diese werden als Massenbewegungen bezeichnet. Eine weitere wichtige Aufgabe besteht in der Regulierung des Muskeltonus. Die Funktionen der extrapyramidalen Motorik und der Pyramidenbahn sind eng aufeinander abgestimmt und ermöglichen zusammen gezielte Willkürbewegungen.

Zusammenfassung • Protopathische Reize treten in das Rückenmark ein, ziehen ein bis zwei Segmente nach kranial, kreuzen zur Gegenseite und leiten die Afferenzen im Vorderseitenstrang über den Thalamus zum Gyrus postcentralis. • Afferenzen der epikritischen Sensibilität verlaufen ipsilateral in den Hinterstrangbahnen und kreuzen erst in den Kernen der Medulla oblongata zur Gegenseite, bevor sie über den Thalamus zum Gyrus postcentralis projizieren. • Die Pyramidenbahn leitet für die Motorik wichtige Efferenzen und verläuft wie folgt: Gyrus precentralis – Capsula interna – Crus cerebri – Kreuzung in der Pyramide (70–90 %) – Tr. corticospinalis lateralis (gekreuzte Fasern) / Tr. corticospinalis anterior (10–30 % ungekreuzte Fasern) – Kreuzung segmental.

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Blutversorgung und Ventrikelsystem Blutversorgung des Gehirns Vier große extrakranielle Arterien versorgen das Gehirn mit Blut – die A. carotis interna dextra / sinistra sowie die A. vertebralis dextra / sinistra. Nach dem Durchtritt ins Schädelinnere bilden sie an der Schädelbasis den Circulus arteriosus Willisii (Circulus arteriosus cerebri). Dies ist ein großer Anastomosenkreis, von dem je Hemisphäre die drei großen Hirnarterien abgehen (Aa. cerebri anterior, media et posterior). Der Circulus arteriosus und die großen Arterien des Gehirns liegen im Subarachnoidalraum. Der venöse Abfluss des Gehirns nimmt nicht den gleichen Verlauf wie die arterielle Versorgung.

Extrakranielle zuführende Gefäße und Circulus arteriosus Willisii A. carotis interna Nach Teilung der A. carotis communis zieht die A. carotis interna, ohne Seitenäste abzugeben, durch den Canalis caroticus ins Schädelinnere. Intrakraniell durchläuft sie siphonförmig den Sinus cavernosus, gibt als ersten Ast die A. ophthalmica ab und zweigt sich an der Schädelbasis in die A. cerebri anterior und die A. cerebri media auf (→ ). Das Versorgungsgebiet der A. carotis interna umfasst ca. die vorderen zwei Drittel des Gehirns (Frontal- und Parietallappen, Großteil des Temporallappens, Zwischenhirn, Auge, Hypophyse).

Abb. 3.1

Arterielle Versorgung der Hirnbasis [E406]

A. vertebralis Sie ist der erste Abgang aus der A. subclavia und zieht durch die Foramina der Wirbelkörperquerfortsätze nach kranial. Sie tritt zwischen Atlas und Okzipitalknochen in den Wirbelkanal ein und verläuft durch das Foramen magnum ins Schädelinnere. Am Unterrand des Pons vereinigen sich die Aa. vertebrales (nach Abgang von Ästen zur Versorgung der Medulla oblongata und der A. inferior posterior cerebelli) beider Seiten zur unpaaren A. basilaris, die unter Abgabe zahlreicher Äste zur Versorgung von Hirnstamm und Kleinhirn median über den Pons zieht. Am Oberrand der Brücke zweigt sie sich in die beiden Aa. cerebri posteriores auf. Das Versorgungsgebiet der Aa. vertebrales umfasst somit den Hirnstamm, das Kleinhirn, den Okzipitallappen und Teile des Temporallappens (→ ).

Circulus arteriosus Willisii ( → ) Dieser Anastomosenkreis an der Schädelbasis verbindet die drei großen Hirnarterien (Aa. cerebri anterior, media et posterior) über kleine Anastomosenarterien miteinander. Hierfür sind die beiden Aa. cerebri posteriores, die aus der A. basilaris hervorgehen, über jeweils eine A. communicans posterior an die Aa. cerebri mediae angeschlossen. Auf diese Weise wird eine Verbindung zwischen dem vertebralen Kreislauf und den Aa. carotides internae geschaffen. Die ebenfalls aus der A. carotis interna hervorgehende A. cerebri anterior ist durch die A. communicans anterior mit ihrem Pendant der Gegenseite verbunden. Somit ist der Kreislauf geschlossen. Kommt es zu einer Versorgungsinsuffizienz im Gebiet einer der großen Hirnarterien, kann durch den Circulus arteriosus die Blutversorgung über die Kollateralen ggf. in diesem Bereich gesichert werden. Diese Kompensation ist i. d. R. umso besser möglich, wenn die Durchblutungsstörung (z. B. aufgrund von Stenosen) vor dem Circulus arteriosus cerebri liegt und sich langsam entwickelt.

Große Hirnarterien Die hirnversorgenden Arterien verlaufen an der Gehirnoberfläche entlang von Furchen und breiten sich von allen Seiten zentripetal in das Hirnparenchym aus. Die Durchblutung des Diencephalons und des Telencephalons wird hauptsächlich von den drei großen Hirnarterien gewährleistet: A. cerebri anterior, A. cerebri media und A. cerebri posterior. Ihnen kann ein relativ gut umschriebenes Versorgungsgebiet zugeordnet werden (→ ). Bei einem langsamen Verschluss eines der Gefäße können die Randbereiche durch die Nachbararterie kollateralisiert werden. Im Folgenden ist die arterielle Blutversorgung einiger wichtiger Strukturen aufgeführt: A. cerebri anterior Mediale Seite sowie Mantelkante des Frontal- und Parietallappens. Großteil des präfrontalen und prämotorischen Kortex (→ ), Teile der Gyrus precentralis und Gyrus postcentralis, vordere vier Fünftel des Balkens, vorderer Schenkel der Capsula interna, ventraler Teil des Caput nuclei caudati. A. cerebri media Große Teile des Frontal-, Parietal- und Temporallappens. Großteil der Basalganglien, Thalamus, Capsula interna, Inselrinde, Broca- und WernickeSprachzentrum, frontales Blickzentrum, motorischer Kortex (u. a. Kopf, Rumpf und obere Extremität), Teil des prämotorischen Kortex, primärer und sekundärer somatosensibler Kortex. A. cerebri posterior Basaler und lateraler Teil des Temporallappens und gesamter Okzipitallappen. Primäre und sekundäre Sehrinde, Thalamus, Hippocampus, Großteil des Mittelhirns, Teile des Hypothalamus.

Venöser Abfluss Das venöse Blut des Gehirns wird von einem System aus oberflächlichen Venen (Vv. cerebri superficiales), die im Subarachnoidalraum verlaufen, und aus tiefen Venen (Vv. cerebri profundae) gesammelt. Vv. cerebri superficiales Sie nehmen das Blut aus der Großhirnrinde und dem unmittelbar darunterliegenden Mark sowie aus dem Hirnstamm auf und führen es direkt in die intraduralen Sinus ab (→ ). Hierfür müssen sie durch den Spalt zwischen Arachnoidea und Dura mater ziehen (Brückenvenen). Diese Lage macht sie vulnerabel für Scherkräfte, bei denen sie leicht einreißen können (Subduralblutung).

Abb. 3.2

Intradurale Sinus [E388]

Vv. cerebri profundae Dagegen leiten diese das Blut aus den tiefen Abschnitten des Groß-, Zwischen-, Mittel- und Kleinhirns in die V. magna cerebri (V. Galeni), die anschließend in den Sinus rectus mündet. Die Sinus werden von den beiden Blättern der Dura mater gebildet und nehmen das gesamte venöse Blut des Gehirns, der Meningen und der Augenhöhlen auf. Sie leiten es in die V. jugularis interna, die es über die V. cava superior dem Herzen zuführt.

Blutversorgung des Rückenmarks Die arterielle Blutversorgung des Rückenmarks erfolgt durch drei entlang dem Rückenmark ziehende Gefäße (→ ), wobei der zervikale Abschnitt hauptsächlich durch die Aa. vertebrales versorgt wird. Aus den beiden Aa. vertebrales vereinigen sich jeweils ein Ast zur A. spinalis anterior (→ ), die in der Fissura longitudinalis anterior nach distal zieht. Sie durchblutet das Vorderhorn, einen Großteil des Vorderseitenstrangs und einen Teil des Hinterhorns. Die beiden Aa. spinales posterolaterales entstammen ebenfalls den Aa. vertebrales (genauer: Aa. inferiores posteriores cerebelli) und verlaufen auf der dorsolateralen Seite des Rückenmarks nach kaudal. Sie versorgen die verbleibenden hinteren Abschnitte des Rückenmarks. Um die segmentale Blutversorgung zu gewährleisten, erhalten sie Zuflüsse u. a. aus den Interkostal- und Lumbalarterien. Das Venensystem verläuft parallel zum arteriellen System als V. spinalis anterior und zu den Vv. spinales posteriores.

Abb. 3.3

Blutversorgung des Rückenmarks [E406]

Ventrikelsystem Das Liquorsystem des ZNS wird in einen äußeren Liquorraum, der eine Pufferfunktion zwischen Gehirn und Schädelknochen erfüllt, sowie einen inneren Liquorraum mit seinem Ventrikelsystem unterteilt. Dieses besteht aus vier Ventrikeln, die miteinander in Verbindung stehen (→ ). Die beiden Seitenventrikel liegen in den Großhirnhemisphären und sind über jeweils ein Foramen interventriculare mit dem unpaaren dritten Ventrikel im Diencephalon verbunden. Von hier aus führt der Aquaeductus mesencephali zu dem im Rhombencephalon liegenden vierten Ventrikel, der sich nach distal in den Canalis centralis des Rückenmarks fortsetzt und auch über die Foramina Luschkae und Magendii mit dem äußeren Liquorraum in Verbindung steht (→ ).

Abb. 3.4

Projektion der Ventrikel auf die Großhirnoberfläche. Ansicht von lateral [E406]

Zusammenfassung • Aus der A. carotis interna gehen die Aa. cerebri mediae und anteriores hervor, welche die vorderen zwei Drittel des Großhirns versorgen. Die Aa. vertebrales vereinigen sich zur A. basilaris, aus der die Aa. cerebri posteriores hervorgehen, welche die Okzipitallappen sowie z. T. die Temporallappen versorgen. • Der Circulus arteriosus Willisii ist ein Anastomosenkreis an der Schädelbasis zwischen den großen Hirnarterien. • Die A. spinalis anterior versorgt das Vorderhorn, den Großteil des Vorderseitenstrangs und Teile des Hinterhorns, die zwei Aa. spinales posterolaterales versorgen das übrige Rückenmark. • Der innere Liquorraum besteht aus vier Ventrikeln, die miteinander in Verbindung stehen und eine Zirkulation des Liquors in die äußeren Liquorräume und das Rückenmark ermöglichen.

Diagnostik

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Anamnese und körperliche Untersuchung Die Untersuchung des Patienten beginnt mit dem Eintreten des Patienten in den Untersuchungsraum, wobei aus dem Gesamterscheinungsbild, dem Verhalten und den Bewegungen des Patienten bereits Informationen zur Persönlichkeit und psychischen Lage sowie zu Bewegungs- oder Koordinationsstörungen gewonnen werden können. Mit zunehmender klinischer Erfahrung entwickelt jeder Untersucher ein persönliches Schema zur Erfassung und Untersuchung eines Patienten. Besonders am Anfang erschwert die fehlende Erfahrung die klinische Arbeit, sodass vieles vergessen, übersehen oder falsch interpretiert wird. Deshalb ist es besonders für Anfänger von großer Bedeutung, sich sowohl in der Anamnese als auch in der körperlichen Untersuchung ein strukturiertes Vorgehen anzueignen. Auf der Basis von Anamnese und Untersuchung sollte man sich eine Arbeitsdiagnose und mögliche Differenzialdiagnosen überlegen, die in der Anamnese durch gezielte Fragen nach bestimmten Charakteristika der Erkrankung sowie Begleiterscheinungen geprüft werden. Im nächsten Schritt ist das weitere (apparative) diagnostische Vorgehen zu planen, wobei man sich die jeweilige Aussagekraft der gewünschten Tests überlegen sollte.

Anamnese Als „Anamnese“ bezeichnet man Angaben des Patienten zu seiner Vorgeschichte, seinen aktuellen Beschwerden, familiär auftretenden Krankheiten, seiner sozialen Situation u. a. Die Erhebung der Anamnese nimmt den wichtigsten Stellenwert in der klinischen Untersuchung ein. Besonders in der Neurologie sind die Angaben des Patienten zu Art, Qualität und Zeitverlauf der Beschwerden bedeutend für die differenzialdiagnostischen Überlegungen und die einzuleitenden körperlichen und technischen Untersuchungen. Bei vielen neurologischen Krankheitsbildern kann allein aus der Anamnese eine präzise Verdachtsdiagnose gestellt werden. Um einen umfassenden Eindruck zu erhalten, kann das Patientengespräch folgendermaßen strukturiert sein: • Aktuelle Beschwerden: Symptome; Beschwerden, die den Patienten zum Arzt führen; Lokalisation • Verlauf: Symptomdauer; Beginn der Symptome (akut, subakut, schleichend); Art / Qualität der Symptome; Intensität; Auslöser; Bindung an bestimmte Situationen • Eigenanamnese: Vorerkrankungen; frühere Operationen; Systemerkrankungen (z. B. Diabetes mellitus); Unfälle, Schädel-Hirn-Trauma • Familienanamnese: familiär gehäuft auftretende Erkrankungen; familiäre Belastung bezüglich Herzinfarkt und Schlaganfall • Risikofaktoren: arterielle Hypertonie; Diabetes mellitus; Nikotin; Adipositas; Hypercholesterinämie; Hyperlipidämie; toxische Substanzen (z. B. am Arbeitsplatz) • Medikamentenanamnese: aktuelle Medikation; Kontrazeptiva; Drogen • Allergien: „Heuschnupfen“; allergisches Asthma; Penicillin; Pflaster; Nahrungsmittel • Systemanamnese: bekannte Erkrankungen / Funktionsstörungen: Schilddrüse; Herz; Lunge; Magen-Darm-Trakt; Nieren; Leber; Vegetativum (Miktion, Stuhlgang, Schlaf; Schwitzen; Appetit; Gewichtsschwankungen; Libido- und Potenzstörungen) • Sozialanamnese: Beruf; Familienstand; Versorgung (allein, Hilfe durch Familie oder Personal etc.); Wohnumgebung (z. B. Treppen) Durch eine Befragung von Bezugspersonen (Fremdanamnese), z. B. Ehepartner, Familienangehörige, Pflegepersonal oder Freunde, können häufig zusätzliche Informationen gewonnen werden. Bei mnestischen Störungen, Anfallskrankheiten und Bewusstseinsstörungen ist die Fremdanamnese unerlässlich. Bereits während des Patientengesprächs ist auf die Sprache (→ ), Bewegungen (Paresen, Hyperkinesien, Tics etc.) und Fehlhaltungen zu achten.

Körperliche Untersuchung Bei der körperlichen Untersuchung werden die in der Anamnese geschilderten Symptome und die möglichen Differenzialdiagnosen geprüft und ggf. objektiviert. Hierfür ist eine gewisse Übung erforderlich, um zum einen die Untersuchung richtig durchzuführen und zum anderen die geprüften Funktionen richtig zu interpretieren, um Normabweichungen auch als solche zu erkennen und nicht als pathologische Erscheinungen zu werten. Im Gegenzug kann es auch schwierig sein, pathologische Befunde zu erkennen, v. a. wenn die Symptome nur schwach ausgeprägt sind. Besonders am Anfang ist es eine Herausforderung, sich zudem zu überlegen, welche Abschnitte des Nervensystems durch die einzelnen Untersuchungsmethoden geprüft werden, welche Bedeutung pathologische Ergebnisse haben, und diese im Gesamtbild zu sehen. Je nach Symptom und geschilderten Beschwerden prüft der Untersucher mit fortschreitender Erfahrung nicht jede Funktion gleich intensiv, sondern richtet seine Aufmerksamkeit entsprechend aus. Generell sollte zusätzlich eine neurologische Screening-Untersuchung aller Funktionen durchgeführt werden. Diese ist ebenfalls vom Untersucher individuell abhängig. Ein Beispiel ist in → dargestellt.

Tab. 4.1

Beispiel einer neurologischen Screening-Untersuchung

Allgemeineindruck Sprache, Bewusstsein, abnorme Bewegungen Hirnnerven

Pupillenreaktion, Augenmotilität, Spontan- und Endstellnystagmus, fingerperimetrische Gesichtsfeldprüfung, Sensibilität der Gesichtshaut im Bereich der drei Trigeminusäste, Trigeminusaustrittspunkte, Mimikprüfung (Stirn runzeln, Augen zusammenkneifen, Zähne zeigen), Racheninspektion (auf Symmetrie der Rachenhinterwand achten), Zungenbewegung bei herausgestreckter Zunge

Motorik

Koordination (Gangprüfung, Romberg-Stehversuch, Zehen- und Hackenstand, Finger-Nase-Versuch); Muskeltrophik; Kraftprüfung (Mm. deltoidei, biceps, triceps, Fingerflexion und -extension, Hüftflexion und -extension, Knieflexion und -extension, Fußheber und senker, Armvorhalteversuch); Muskeltonus (Handgelenk, Ellbogen, Fußgelenk und Kniegelenk); Reflexe

Sensibilität

Grobes Berührungsempfinden, Spitz-stumpf-Diskriminierung und Vibrationssinn der distalen Extremitäten; Lagesinn (Großzehe, Daumen)

Neurologischer Status Grundsätzlich sollte immer der vollständige neurologische Status erhoben werden. Wie bei der Führung des Patientengesprächs ist auch hier ein systematisches Vorgehen sinnvoll, da so die Wahrscheinlichkeit, eine Untersuchung zu vergessen, verringert wird. Außerdem wird der Untersucher mit der Zeit routinierter, was sowohl Zeit einspart als auch bei der Dokumentation und der Erinnerung an die Befunde Erleichterung bringt. Die körperliche Untersuchung sollte auch den in der Anamnese gestellten Verdachtsdiagnosen bzw. den geschilderten Symptomen angepasst werden. Gibt der Patient beispielsweise Taubheitsgefühl in den Füßen an, so wird man die Sensibilität der unteren Extremität wesentlich detaillierter untersuchen als bei einem Patienten mit Amaurosis fugax. Außerdem kann es sinnvoll sein, die Reihenfolge der Untersuchungsschritte den vom Patienten geschilderten Beschwerden anzupassen (z. B. bei einem LumboischialgieSyndrom mit der Prüfung der Motorik und der Wirbelsäule zu beginnen). Dies weckt einerseits ein größeres Vertrauen beim Patienten („Das, was Beschwerden macht, wird untersucht.“), und man läuft – v. a. als unerfahrener Untersucher – nicht Gefahr, Untersuchungen zu vergessen („den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“). Im Laufe der Zeit entwickelt jeder Untersucher seine eigene Vorgehensweise bei der körperlichen Untersuchung und Dokumentation des neurologischen

Status. Hier ein mögliches Beispiel für eine allgemeine neurologische Untersuchung: • Grundinformationen: Alter, Geschlecht, Händigkeit, Sprache • Hirnnerven: fingerperimetrische Gesichtsfeldprüfung (II), Augenmotilität (III, IV, VI), Nystagmus, Blickfolge, Pupillen (II, III) → „PERRLA“ = pupils equally round and reactive to light and accommodation, Trigeminusdruckpunkte, Sensibilität des Gesichts in V1, V2 und V3, Mimik (Stirn runzeln, Augen zukneifen, Wangen aufblasen; breit lächeln; VII), Hörtest durch Fingerreiben (VIII), Schultern gegen Widerstand hochziehen, Kopf gegen Widerstand horizontal nach links und dann nach rechts drehen (XI); Symmetrie der Uvula beurteilen, Würgereflex auslösen (IX, X), Zunge zeigen und sie nach links und rechts bewegen (XII) • Gang / Koordination: Patient geht einige Schritte, Seiltänzergang, Romberg-Stehversuch, Zehenspitzen- und Hackenstand, Finger-Nase-Versuch, Knie-Hacke-Versuch, Diadochokinese • Motorisches System: – Inspektion: Bewegungen beim Entkleiden des Patienten beobachten, Muskeltrophik, Faszikulationen, Seitenvergleich – Muskeltonus (→ ) – Reflexe: Seitenvergleich, verbreiterte Reflexzonen, Klonus, pathologische Reflexe (→ ) – Kraft: Seitenvergleich, Schmerzen, ggf. repetitive Bewegungen, Halteversuche • Sensibles System: Berührungsempfinden, Temperatur, Propriozeption, Vibration

Internistische Untersuchung Neben der Erhebung eines neurologischen Status ist die Durchführung einer orientierenden internistischen Untersuchung von Bedeutung, da viele internistische Erkrankungen mit neurologischen Symptomen einhergehen können und erst die Betrachtung des Patienten in der Gesamtheit seiner Symptome auf den richtigen Weg zur Diagnose führen kann. So kann sich z. B. ein Patient mit schweren Bewusstseinsstörungen präsentieren, dessen Symptom auf eine schwere Elektrolytverschiebung aufgrund eines paraneoplastischen SIADH bei kleinzelligem Bronchialkarzinom zurückzuführen ist. Die Kenntnis über internistische Erkrankungen ist auch von Bedeutung, um die für die weitere Therapie des Patienten bestmögliche Entscheidung treffen zu können. In der Regel erfolgt die internistische Untersuchung bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen orientierend. Selbstverständlich ist sie bei Anzeichen einer Beteiligung von Organen und Funktionssystemen des internistischen Fachbereichs genauer durchzuführen. Zum Beispiel sollte eine sorgfältige kardiovaskuläre Untersuchung erfolgen, wenn als Ursache für die Beschwerden ein Schlaganfall oder eine TIA vermutet werden.

Zusammenfassung • Besonders zu Beginn der klinischen Arbeit ist ein strukturiertes Vorgehen bei Anamnese und körperlicher Untersuchung von großer Wichtigkeit. • Eine Fremdanamnese ist bei mnestischen Störungen, Anfallskrankheiten und Bewusstseinsstörungen unerlässlich. • Grundsätzlich sollte immer eine vollständige allgemeine neurologische Untersuchung durchgeführt werden, die je nach Symptomen und berichteten Beschwerden intensiver auf die einzelnen Funktionen abgestimmt wird. • Eine orientierende internistische Untersuchung ist auch von Bedeutung, da neurologische Symptome eine internistische Erkrankung zur Ursache haben können.

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Neuropsychologische Syndrome Die neuropsychologische Untersuchung umfasst die Beurteilung höherer integrativer Prozesse, wie die Sprachfunktion, das Wahrnehmen und Interpretieren von visuellen, akustischen und sensorischen Informationen, der zielgerichtete Ablauf von Handlungsabfolgen, auch die Beurteilung von Bewusstsein (→ ), Gedächtnis (→ ) und abstraktem Denkvermögen.

Psychischer Befund In der Anamnese kann man sich einen Eindruck von der Bewusstseinslage des Patienten, der Konzentration, der Orientierung zu Zeit, Ort und zur eigenen Person, des Gedächtnisses, des Antriebs und der Affektivität verschaffen. Die Gesamtheit dieser Informationen stellt einen orientierenden psychopathologischen Befund dar. Um die ersten Anzeichen psychischer Veränderungen zu erfassen, kann eine Fremdanamnese z. B. durch Verwandte hilfreich sein, die Auskunft über den früheren Zustand des Patienten erteilen können. Zudem kann ein psychometrisches Screening-Testverfahren wie z. B. der weitverbreitete Bedside-Test Mini-Mental-Status-Test (→ ) kognitive Defizite aufzeigen.

Sprache Die Sprachbildung erfolgt bei über 90 % der Menschen in der linken Hemisphäre, wobei die Sprachdominanz der Hemisphären von der Händigkeit der Person abhängig ist (→ ). Bei Störungen unterscheidet man die Sprechfunktionsstörungen (Dysarthrie, Dysarthrophonie) von den Sprachstörungen (Aphasie).

Tab. 5.1

Repräsentation der Sprache bei Links- und Rechtshändern

Bevölkerungsanteil

Sprachdominanz (Hemisphäre) Linke

Rechte

Beide

93 % Rechtshänder

99 %

1%



7 % Linkshänder

70 %

15 %

15 %

Dysarthrie Für den Vorgang des Sprechens ist eine Koordination der motorischen Innervation der Schlund-, Zungen-und Mundmuskulatur, der Stimmbildung und der Sprechatmung erforderlich. Es werden die Motorik von Mund und Zunge, die Lautbildung (Vokale, Konsonanten), die Phonation (Stimmhöhe, Stabilität, Qualität), der Redefluss und die Atmung (Atemfrequenzanstieg, arrhythmisches Atmen) beurteilt. Meist kommt es bei Vorliegen einer zentralen Läsion der Sprechmotorik zu einer Störung all dieser Komponenten. In → sind Formen der Dysarthrie in Abhängigkeit vom Läsionsort aufgeführt.

Tab. 5.2

Formen der Sprechstörung in Abhängigkeit vom Läsionsort

Läsionsort

Sprechstörung

Kortex der Großhirnhemisphäre

Abgehackter Rhythmus, Stimmveränderung, verwaschene Konsonanten

Kleinhirn

Skandierend, ataktisch, Störung der Wortbetonung, wechselndes Sprechtempo, verwaschene Konsonanten

Stammganglien (extrapyramidales System)

Leise Stimme (Mikrophonie), monotone oder explosive hyperkinetische Sprechweise (Makrophonie), Sprechhemmung

Supranukleär (pseudobulbär)

Raue, gepresste Stimme, monoton, langsamer Redefluss, verwaschene Konsonanten

Hirnstammläsion (bulbär)

Nasale Sprache, kloßige Sprache, verwaschene Sprache, monotone Intonation

Aphasie Unter Aphasie versteht man eine Störung der Sprache, die auf Hirnläsionen zurückzuführen ist und durch eine Veränderung der Sprachproduktion, Wortfindungsstörungen oder ein reduziertes Sprachverständnis gekennzeichnet ist. Die häufigste Ursache für die Sprachstörungen ist i. d. R. eine Durchblutungsstörung im Versorgungsgebiet der linken A. cerebri media. Mit der Aphasie geht normalerweise eine Störung des Schreibens (Agrafie) und des Lesens (Alexie) einher.

Klassifikation und Klinik Man unterscheidet vier „klassische“ aphasische Syndrome und einige Sonderformen: Sensorische Aphasie (Wernicke-Aphasie) Verlust des Verständnisses von geschriebener und gesprochener Sprache; flüssige Sprachproduktion mit wenig Inhalt und häufig ohne Sinn; Logorrhö mit Neologismen; Paragrammatismus; phonematische und semantische Paraphasien. Motorische Aphasie (Broca-Aphasie) Sprachverständnis größtenteils erhalten; langsame Spontansprache; Hemmung der Sprachproduktion (verbal, Schreiben und Lesen); Verlust der Ausdrucksfähigkeit mit Verwendung von Telegrammstil (Agrammatismus), phonematische Paraphasien, kortikale Dysarthrophonie. Globale Aphasie Broca- und Wernicke-Areal betroffen. Sprachverständnis stark eingeschränkt; keine oder kaum Sprachproduktion, Dysarthrophonie, Floskeln, Stereotypien, Echolalie, Neologismen, semantische und phonematische Paraphasien, Alexie, Agrafie. Amnestische Aphasie Läsion der weißen Substanz zwischen Broca- und Wernicke-Areal. Sprachverständnis leicht gestört, Spontansprache durch Wortfindungsstörungen gekennzeichnet; leichte Einschränkung von Lesen, Schreiben; wenige phonematische und semantische Paraphasien.

Sonderformen • Leitungsaphasie (Unterbrechung des Fasciculus arcuatus): Sprachverständnis überwiegend erhalten; Unfähigkeit nachzusprechen bei erhaltenem Benennen, flüssige Sprache mit phonematischen Paraphasien • Transkortikale sensorische Aphasie (Läsion zwischen Sprachareal und sensorischem Assoziationskortex): flüssige Sprache; Nachsprechen erhalten bei erloschenem Sprachverständnis und Unfähigkeit zu benennen; Echolalie • Transkortikale motorische Aphasie (Läsion in Broca-Region): erhaltenes Sprachverständnis, Sprachproduktion gestört, Spontansprache reduziert; Nachsprechen und Lesen erhalten; Benennen erloschen Klinisch unterteilt man die Aphasien oft in: • Flüssige Aphasie: Verständnisstörung im Vordergrund • Nichtflüssige Aphasie: Störung der Sprachproduktion im Vordergrund • Globale Aphasie: Sprachproduktion und Verständnis gestört Wichtig hierbei ist es, das Ausmaß der Sprachstörung in den Modalitäten Spontansprache, Sprachverständnis, Benennen und Nachsprechen zu beschreiben.

Diagnostik Folgende Sprachmodalitäten können als Bedside-Test geprüft werden. Spontansprache Sie kann bei der Erhebung der Anamnese beurteilt werden. Verbales Verstehen Hier wird das Verständnis von Gesprochenem geprüft, wobei der Schweregrad der Fragen ansteigt. Es wird mit einfachen geschlossenen Fragen begonnen (z. B. „Ist Ihr Name Müller?“, „Schälen Sie eine Banane, bevor Sie sie essen?“), woraufhin Aufforderungen, Dinge zu zeigen, folgen (z. B. „Zeigen Sie auf Ihre Nase!“, „Zeigen Sie auf die Quelle der Zimmerbeleuchtung!“). Am Schluss soll der Patient Aufgaben ausführen, die das Verständnis einzelner Wörter erfordert (z. B. „Zeigen Sie mit dem Stift auf den Schlüssel!“). Gleichzeitig erfasst diese Prüfung auch apraktische Störungen (s. u.). Nachsprechen und Benennen Dem Patienten werden zunächst gängige Gegenstände gezeigt (z. B. Stuhl, Tür), und im Anschluss soll er seltener verwendete Ausdrücke nennen können (z. B. Schuhabsatz, Handgelenk). Auch beim Nachsprechen werden zunächst Sätze mit häufig gebrauchten Wörtern und anschließend schwierigeren Wörtern vorgesprochen. Geschriebenes Verstehen und Schreiben Zunächst soll der Patient niedergeschriebene Sätze vorlesen und ausführen (z. B. „Schließen Sie Ihre Augen!“). Bei der Prüfung von Schreibschwierigkeiten werden erst einzelne Wörter geschrieben bis hin zu einigen Sätzen (z. B. der Grund für den Krankenhausaufenthalt).

Weitere neuropsychologische Syndrome Apraxie Bei vielen aphasischen Patienten ist auch eine Apraxie feststellbar. Es handelt sich hierbei um eine Störung, zielgerichtete, willkürliche Bewegungen oder Bewegungsabläufe durchzuführen, obwohl die motorische Funktion und Wahrnehmung intakt sind (→ ). Unwillkürliche Bewegungen sind erhalten. Die Schädigung liegt meist in der sprachdominanten linken Hemisphäre, wobei die klinische Ausprägung beidseitig ist. Häufigste Ursachen sind degenerative Erkrankungen wie z. B. Morbus Alzheimer, kortikobasale Degeneration, Lewy-Körperchen-Demenz oder ischämische Infarkte. Beim klinischen Bild kommt es zu Suchbewegungen und Fehlbewegungen.

Abb. 5.1 Orientierende Prüfung von Apraxie durch Imitation einfacher Handstellungen: In der linken Spalte ist die Demonstration durch den Untersucher gezeigt, daneben die Imitationen durch zwei Patienten mit Apraxie. [L231]

Klassifikation und Klinik Es gibt leider keine einheitliche Einteilung, vielmehr eine Vielzahl von Definitionen und definierte Sonderformen. Gängig, wenn auch umstritten, ist die Einteilung nach Liepmann, bei welcher zwischen einem fehlerhaften Entwurf der Handlung (Ideation = Bewegungsentwurf) und einer gestörten Umsetzung des Entwurfs in motorische Aktionen unterschieden wird. Ideomotorische Apraxie Es zeigt sich eine Störung der motorischen Handlungsfähigkeit, z. B. gezielte Gesten auf Aufforderung (z. B. zum Abschied winken) und die pantomimische Imitation einfacher Alltagshandlungen (z. B. die Verwendung einer Zahnbürste beim Zähneputzen) durchzuführen. Es kommt zu vertauschten, unvollständigen

Bewegungen oder zu Ersatzhandlungen. Ideatorische Apraxie Die Störung liegt in der Bildung eines Bewegungskonzepts. Hierbei kann der Patient die korrekten Einzelbewegungen von komplexeren Handlungsabläufen (z. B. die Verwendung von Zahnbürste, Zahncreme und Wasserbecher) nicht mehr in der richtigen Reihenfolge ausführen. Die Störung stellt in der Regel eine alltagsrelevante Einschränkung dar; z. B. können sich die Betroffenen nicht mehr richtig kleiden oder sich ein Glas Wasser einschenken und trinken. Sonderformen (Auswahl) • Konstruktive Apraxie: Es handelt sich um eine Störung des räumlichen Vorstellungsvermögens, z. B. Abzeichnen, Kleidung anziehen. • Sprechapraxie: Häufig in Kombination mit einer nicht-flüssigen Aphasie (Broca-Aphasie). Es liegt eine Artikulationsstörung vor (keine Dysarthrie). • Frontale Gangapraxie: Bei bifrontalen Läsionen kommt es zu einem breitbasigen unsicheren Gangbild. Die Betroffenen stolpern leicht über kleine Hindernisse oder die eigenen Füße und suchen Halt. Bei Unterstützung z. B. durch einen Rollator flüssiges Gangbild.

Agnosie Als „Agnosie“ bezeichnet man die Unfähigkeit, bei erhaltener Funktion des Sinnesorgans Sinnesreize zu erkennen. • Liegt eine visuelle Agnosie vor (Durchblutungsstörungen im Okzipitallappen), kann der Patient nicht erkennen, was er sieht. Sobald er aber den Gegenstand mit der Hand berührt, ist er in der Lage, ihn zu identifizieren. • Das Pendant dazu ist die taktile Agnosie. Der Patient erkennt einen Gegenstand nicht durch Berührung bei geschlossenen Augen, kann ihn jedoch visuell sofort einordnen.

Sonstige Formen • Als Anosognosie bezeichnet man die Unfähigkeit, neurologische Defizite (z. B. Hemiparese, kortikale Blindheit, Hemianopsie) oder andere körperliche Leiden wahrzunehmen. Dabei streitet der Betroffene die Defizite ab und überspielt die Erkrankung mit Konfabulationen. Ätiologisch scheint eine ausgedehnte rechtshemisphärische Schädigung des Parietallappens eine Rolle zu spielen. • Beim Neglect kommt es zu einer motorischen, sensiblen und sensorischen Vernachlässigung einer Körperseite bei erhaltener Wahrnehmung im Sinne einer Aufmerksamkeitsstörung. Oft ist bei parietalen Läsionen der rechten Hemisphäre ein Neglect für die linke Körperhälfte zu beobachten. Liegt ein Neglect für die linke Körperhälfte vor, wird bei simultaner beidseitiger sensorischer Stimulation, z. B. visuell oder taktil, der Reiz nur auf der gesunden rechten Seite wahrgenommen.

Zusammenfassung • Die vier klassischen Formen der Aphasie sind die Broca-Aphasie (Störung der Sprachproduktion bei erhaltenem Sprachverständnis), WernickeAphasie (Verlust des Sprachverständnisses bei erhaltener Sprachproduktion), globale Aphasie (Kombination aus Broca- und Wernicke-Aphasie) und amnestische Aphasie (erhaltenes Sprachverständnis mit Wortfindungsstörungen). • Als „Apraxie“ bezeichnet man die Unfähigkeit, zielgerichtete willkürliche Bewegungsabläufe auszuführen, obwohl die Koordination, Motorik und Sensorik erhalten sind. Unter „Agnosie“ versteht man den Verlust, bei uneingeschränkter Funktion der Sinnesorgane Sinnesreize zu erkennen.

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Geruchssinn, Pupillenreaktion, Visus (Hirnnerven I, II, III) Die ersten beiden Hirnnerven (N. olfactorius [I]und N. opticus [II]) sind Bestandteile des Hirngewebes, das in die Peripherie verlagert wurde. Die Struktur und Funktion der verbleibenden zehn Hirnnerven entspricht derjenigen des peripheren Nervensystems.

Geruchssinn Der Geruchssinn wird vom N. olfactorius vermittelt und mithilfe einer Reihe von aromatischen Stoffen (z. B. Kaffee, Mandelöl, Zimt, Asa foetida) geprüft. Hierzu wird die Geruchsprobe jeder Seite isoliert angeboten und soll vom Patienten bei geschlossenen Augen identifiziert werden. Die Stoffe Ammoniak und Essigsäure werden zur Differenzierung zwischen organischer und psychogener Anosmie verwendet. Sie reizen Fasern des N. trigeminus in der Nasenschleimhaut direkt und können bei organisch bedingter Anosmie wahrgenommen werden. Die häufigste Ursache für eine beidseitigeAnosmie sind schwere Schädel-Hirn-Traumen mit frontobasaler Kontusion. In ca. 30 % bildet sich die Anosmie zurück, wobei Residuen (Geruchsminderung und -verzerrung) bleiben können. Zu einer Beeinträchtigung der Geruchswahrnehmung kommt es u. a. auch als Nebenwirkung von Medikamenten, Nasen- und Nasennebenhöhlenentzündungen, bei Diabetes mellitus, Morbus Parkinson und frontobasalen Tumoren (z. B. Meningeom).

Pupillenreaktion Grundlagen Die Pupillenmotorik untersteht sowohl parasympathischen (Miosis) als auch sympathischen (Mydriasis) Einflüssen und soll den Lichteinfall ins Augeninnere regulieren. • Der Lichtreiz wird über den N. opticus / Tractus opticus geleitet, wobei die für den Pupillenreflex zuständigen Fasern von den Sehbahnfasern abzweigen und im Ncl. Edinger-Westphal (Ncl. accessorius n. oculomotorii) des Mittelhirns umgeschaltet werden. Doppelseitig ziehen nun efferente parasympathische Fasern (N. oculomotorius) über das Ganglion ciliare zum M. constrictor pupillae und bewirken eine Pupillenengstellung an beiden Augen. Das nicht beleuchtete Auge verengt sich aufgrund der beidseitigen Verschaltung im Mittelhirn konsensuell. • Die Pupillendilatation wird durch sympathische Efferenzen gesteuert: Diese ziehen vom Hypothalamus über Pons und Medulla oblongata ins Rückenmark, wo sie zwischen C 8 und Th 2 in den Grenzstrang übertreten und mit der A. ophthalmica zum M. dilatator pupillae gelangen. • Der Reiz zur Nahakkommodation wird über die Sehbahn zur primären, dann zur sekundären Sehrinde geleitet. Kortikale Efferenzen ziehen zum einen von hier über den Okulomotoriuskern (s. o.) zum M. constrictor pupillae, zum anderen über die Vierhügelplatte zu den parasympathischen Neuronen des M. ciliaris (Akkommodation) und auch zu Kernen des M. rectus medialis (III).

Diagnostik Zunächst werden Form und Größe der Pupillen im Seitenvergleich beurteilt. Eine geringe Größendifferenz bei unauffälliger Lichtreaktion kommt physiologisch vor. Formanomalien der Pupille sind oft angeboren, können aber auch Residuen abgelaufener Entzündungen sein (z. B. Iritis). Zur Prüfung der Pupillomotorik leuchtet der Untersucher von lateral jeweils zweimal isoliert in jedes Auge. Dabei wird zuerst die direkte Lichtreaktion, vermittelt über den afferenten Schenkel (N. opticus), und anschließend die konsensuelle Reaktion des nicht beleuchteten Auges, die durch den efferenten Schenkel (III) gesteuert wird, geprüft. Die Untersuchung der Konvergenzreaktion erfolgt, indem der Patient den Finger des Untersuchers fixiert, der in ca. 30 cm Abstand auf Augenhöhe gehalten und dann langsam in Richtung Nasenspitze des Patienten geführt wird.

Ätiologie und Klinik Die Ätiologie der Pupillenreaktionsstörungen ist vielfältig. In → sind einige neuroophthalmologische Syndrome dargestellt. Ist der N. opticus intakt, konstringieren sich beide Pupillen prompt nach Lichteinfall in ein Auge. Bei einer Teilschädigung eines N. opticus erfolgt die direkte und indirekte Lichtreaktion bei Beleuchtung des geschädigten Auges mit derselben Lichtquelle langsamer. Bewegt man diese Leuchte in rascher Folge abwechselnd von einem Auge zum anderen, dilatiert sich die Pupille des betroffenen Auges bei Lichteinfall. Dies ist darauf zurückzuführen, dass derselbe Reiz durch den geschädigten N. opticus schwächer weitergeleitet wird als über den intakten Nerv und somit beim schnellen Wechsel zum erkrankten Auge die Schwelle zur Konstriktion nicht gleich erreicht wird.

Tab. 6.1

Pupillenreaktionsstörungen

Typ / Diagnose

Pupillenreaktion Direkte Konsensuelle Begleitsymptome Reaktion Reaktion

Horner-Syndrom: Läsion der sympathischen Innervation zentral (Hirnstamm, Rückenmark) oder peripher (Grenzstrang, A. carotis), z. B. Karotisdissektion, Schlaganfall, Pancoast-Tumor, idiopathisch

Miosis, oft einseitig

Erhalten

Erhalten

Ptosis, Enophthalmus, Schweißsekretionsstörung

Pupillenstarre Argyll-Robertson (reflektorische Pupillenstarre): Hemmung des Edinger-Westphal-Kerns fällt bei Mittelhirnläsion aus, pathognonomisch für Lues (Tabes dorsalis); auch bei progressiver Paralyse; selten bei MS, Wernicke-Enzephalopathie

Miosis, meist beidseitig

Fehlt

Fehlt

Konvergenzreaktion erhalten

Holmes-Adie-Syndrom (Pupillotonie): idiopathisch, Läsion des Ganglion ciliare, gelegentlich entrundete Pupille

Mydriasis, meist einseitig

Fehlt (kaum)

Fehlt

Areflexie der unteren Extremität; verzögerte Verengung bei Konvergenz

Okulomotoriusparese (absolute Pupillenstarre): auch bei Läsion des Ganglion ciliare, z. B. durch Druck, Alkohol

Mydriasis

Fehlt

Fehlt

Konvergenz fehlt, Augenmotorikstörung bei Läsion von III

Amaurotische Pupillenstarre: Erblindung, z. B. durch vollständige Läsion des N. opticus, Netzhauterkrankung

Isokor (normal)

Fehlt

Erhalten

Konvergenz erhalten

Ponsläsion

Miosis (fixiert)

Fehlt

Fehlt

Konvergenz fehlt, stecknadelkopfgroße Pupillen

Läsion des Zwischenhirns

Miosis

Langsam

Langsam

Konvergenz vorhanden

Läsion des Mittelhirns

Mittelstellung fixiert

Fehlt

Fehlt

Konvergenz fehlt

Visus Ätiologie und Klinik Eine Minderung der Sehschärfe ist auf eine Schädigung der Retina oder des N. opticus zurückzuführen, wohingegen eine Läsion der Strukturen zwischen Chiasma opticum und Kortex mit Gesichtsfelddefekten einhergeht. Das klinische Bild der Gesichtsfelddefekte mit dem zugehörigen Lokalisationsort ist in → dargestellt. Die Ätiologie dieser Ausfälle ist vielseitig. Infarkte im Versorgungsgebiet der A. cerebri posterior können mit Gesichtsfelddefekten einhergehen. Auch ein Infarkt der A. cerebri media kann eine homonyme Hemianopsie zur Folge haben. Ein vorübergehender, plötzlich eintretender vollständiger Visusverlust auf einem Auge (Amaurosis fugax) ist als ein Warnzeichen für einen bevorstehenden Schlaganfall zu werten. Raumforderungen können alle Abschnitte der Sehbahn penetrieren (z. B. Kompression des Chiasma opticum durch ein Hypophysenadenom) und neben Entzündungen (z. B. Retrobulbärneuritis) zu progredientem Visusausfall führen.

Diagnostik • Die Sehschärfe in der Ferne wird durch Sehtafeln geprüft. • Die orientierende Erfassung des Gesichtsfelds erfolgt fingerperimetrisch. Hierzu sitzen sich Patient und Untersucher auf gleicher Augenhöhe gegenüber. Der Patient deckt ein Auge ab und fixiert mit dem anderen die Nase des Untersuchers. Nun führt der Untersucher zur Prüfung aller vier Quadranten (links oben / unten, rechts oben / unten) seinen Finger (oder einen Gegenstand) jeweils von peripher in das Gesichtsfeld des Patienten, wobei der Patient angeben soll, ab wann er diesen sieht (→ ).

Abb. 6.1

Gesichtsfeldprüfung [L141]

Fundoskopie Im Rahmen systemischer und neurologischer Erkrankungen (Hypertonie, Diabetes mellitus, Schlaganfall, Hirntumor, Multiple Sklerose etc.) treten häufig Visusstörungen auf. Sichtbare Veränderungen des Augenfundus, aber auch ein unauffälliger Fundus können diagnostisch wichtige Befunde für deren Ätiologie liefern. Somit ist die Spiegelung des Augenhintergrunds Bestandteil der neuroophthalmologischen Untersuchung und ermöglicht neben der Darstellung retinaler Strukturen und Gefäße eine objektive Beurteilung der Papilla nervi optici (II). Durchführung Im abgedunkelten Raum sitzen sich Patient und Untersucher auf gleicher Augenhöhe gegenüber. Der Patient wird gebeten, ebenfalls in Augenhöhe einen Punkt in der Ferne zu fixieren. Der Untersucher stellt in ca. 30 cm Abstand vom Patientenauge und einem Winkel von 15° lateral den roten Lichtreflex der Retina ein und nähert sich anschließend dem Auge des Patienten (→ ).

Abb. 6.2

Ausführung der Fundoskopie [L141]

Die Papille sollte in der Blickachse des Untersuchers (15° medial der Macula centralis) erscheinen (→ ). Eine Alternative zur Einstellung der Papille ist, ein Gefäß zu seinem Stamm zu verfolgen. Grundsätzlich fundoskopiert man das rechte Auge des Patienten mit dem rechten Auge und das linke Auge des Patienten mit dem linken Auge.

Abb. 6.3

Normaler Fundus [E811]

Fundoskopische Veränderungen Stauungspapille Ein Papillenödem ist i. d. R. Folge einer Hirndrucksteigerung, wobei der Umkehrschluss nicht gilt. Die Papille kann sich selbst bei erhöhtem intrakraniellen Druck unauffällig darstellen. Das Ödem entwickelt sich langsam, da sich Liquor über den Subarachnoidalraum druckbedingt perineuronal am N. opticus einlagert. Ätiologie In etwa drei Vierteln der Fälle ist die Ursache für ein Papillenödem ein Hirntumor. Daneben können Entzündungen und Liquorzirkulationsstörungen unterschiedlicher Ätiologie (Hydrozephalus, Meningitis, hypoxisches Hirnödem, Sinusvenenthrombose, Trauma etc.) zu einem Ödem führen. Auch im Rahmen einer hypertensiven Ophthalmopathie und Hyperkapnie wird dies beobachtet. Eine beidseitige Stauungspapille zählt neben Kopfschmerzen und fluktuierenden Sehstörungen zu den charakteristischen Symptomen eines Pseudotumor cerebri (idiopathische intrakranielle Hypertension). Befund Der Visus von Patienten mit Stauungspapille ist i. d. R. normal. Erst durch ein chronisches, über lange Zeit bestehendes Ödem kommt es zu einer Vergrößerung des blinden Flecks und einem peripheren Visusverlust. Fundoskopisch stellt sich die Papille unscharf begrenzt dar und wölbt sich zusammen mit den durchtretenden Gefäßen in den Augeninnenraum vor. Die Erhabenheit nimmt im Verlauf zu und es entstehen radiäre Blutungen (→ ).

Abb. 6.4 Stauungspapille in unterschiedlichen Stadien.a) Frühstadium: Stauungspapille mit Unschärfe des Papillenrands, Vergrößerung des blinden Flecks und Prominenz. b) Mittelschweres Stadium mit deutlicher Prominenz und Vergrößerung des blinden Flecks, Cotton-wool-Herden und streifenförmiger Hämorrhagie. c) Spätstadium mit ausgeprägter Prominenz. [E943]

Sehnerventzündung Spielt sich die Entzündung des N. opticus im Bereich des Nervendurchtritts durch den Bulbus (Papillitis) oder kurz dahinter ab, sind die fundoskopischen Veränderungen denjenigen der Stauungspapille sehr ähnlich. Befund • Der Discus nervi optici stellt sich unscharf begrenzt, erhaben und durch die Entzündung gerötet dar (Hyperämie). Klinisch präsentiert sich die Papillitis durch eine plötzliche Herabsetzung der Sehschärfe. • Die Retrobulbärneuritis (Neuritis nervi optici, NNO) ist bei etwa einem Drittel der Patienten mit multipler Sklerose Erstsymptom. Beschwerden sind Verschwommen-Sehen, vorübergehende Visusverschlechterung bzw. Visusverlust, Rotentsättigung und häufig retroorbitale Schmerzen oder Bulbusbewegungsschmerz. Der Augenhintergrund stellt sich unauffällig dar („Der Arzt und der Patient sehen nichts.“) und kann im späten Verlauf eine temporale Optikusatrophie mit Abblassung der Papille in diesem Bereich aufweisen.

Optikusatrophie Die Sehnerventzündung und die Stauungspapille können im Verlauf den Nerv schädigen und zu einer Optikusatrophie führen. Ätiologie Eine Atrophie des N. opticus tritt im Rahmen einer Vielzahl von Erkrankungen auf. In diesem Zusammenhang sind metabolische Störungen wie z. B. Diabetes mellitus, toxische Schädigung durch Medikamente bzw. Methylalkohol und vaskuläre Veränderungen wie Arteriosklerose, Arteriitis oder eine hypertone Kreislaufsituation zu nennen. Eine sehr spezielle Ursache der Atrophie ist das Foster-Kennedy- Syndrom, bei dem Tumoren in der vorderen Schädelgrube eine Optikusatrophie mit kontralateraler Stauungspapille verursachen können. Befund Je nach Ausmaß der Atrophie sieht man bei der Augenhintergrundspiegelung eine entsprechende Abblassung der Papille (→ ). Klinisch besteht ein Visusverlust, dessen Ausmaß nicht mit dem Grad der sichtbaren Atrophie korrelieren muss.

Abb. 6.5

Atrophie des N. opticus. Die Papille ist randunscharf, leicht erhaben und gräulich abgeblasst. [E943]

Normvarianten Bei über zwei Dritteln der Bevölkerung finden sich als Normalbefund Pulsationen der Venen auf der Papille, was als Zeichen eines normalen Hirndrucks gewertet werden kann. Die Pulsationen erlöschen bei Anstieg des intrakraniellen Drucks, können aber auch physiologischerweise fehlen. In einigen Fällen kann man fundoskopisch Veränderungen des Augenhintergrunds sehen, die als Normvarianten erkannt werden sollten. Sie sind in → schematisch dargestellt.

Abb. 6.6

Normvarianten des Augenhintergrunds [L141]

Zusammenfassung • Die häufigste Ursache für eine beidseitige Anosmie ist ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. • Über parasympathische Fasern des N. oculomotorius (aus dem Mittelhirn) erfolgt die Pupillenkonstriktion und über sympathische Bahnen des zervikalen Grenzstrangs die Pupillendilatation. Die Konvergenzreaktion wird durch kortikal verschaltete Efferenzen gesteuert. • Amaurosis fugax stellt ein Warnzeichen für einen bevorstehenden Schlaganfall dar. • Die Spiegelung des Augenhintergrunds ist wichtiger Bestandteil der neuroophthalmologischen Untersuchung. • Eine Stauungspapille ist meist Folge einer Hirndrucksteigerung. Sie weist eine unscharfe Begrenzung, Vorwölbung in den Bulbus und im Verlauf radiäre Blutungen auf. • Bei einer Retrobulbärneuritis ist der Fundus unauffällig, bei einer Papillitis stellt er sich ähnlich wie beim Papillenödem dar. • Im Gegensatz zur Stauungspapille mit meist normalem Visus geht die Papillitis mit einer plötzlichen Sehminderung einher. • Eine Atrophie des Sehnervs zeigt sich in einer Abblassung der Papille.

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Okulomotorik (Hirnnerven III, IV und VI) Augenbewegungen Der große Bewegungsumfang beider Bulbi wird durch jeweils sechs äußere Augenmuskeln gewährleistet, durch die sehr rasche und feine Bewegungen der Augen ermöglicht werden. Die Augenmuskeln werden durch drei Hirnnerven innerviert: • N. oculomotorius(III): Mm. recti superior, inferior, medialis und M. obliquus inferior, M. levator palpebrae superioris, M. ciliaris, M. sphincter pupillae • N. trochlearis(IV): M. obliquus superior • N. abducens(VI): M. rectus lateralis Die jeweilige physiologische Zugrichtung der Augenmuskeln ist in → dargestellt. Die konjugierten Bewegungen der verschiedenen Augenmuskeln beider Seiten erfordern eine komplexe Verschaltung mehrerer Zentren des Gehirns, die sich grob in drei Kategorien einteilen lassen:

Abb. 7.1

Zugrichtung der Augenmuskeln auf den Bulbus beim Geradeausblicken [E388]

Internukleäre Verbindungen zwischen den Augenmuskelkernen Jeder Augenmuskelkern ist mit jedem anderen über afferente und efferente Fasern verbunden. Dies ermöglicht exakte, gleichgerichtete Bulbusbewegungen mit übereinstimmenden Sehachsen. Präokulomotorische Zentren Sie sind den Augenmuskelkernen vorgeschaltet. Die paramediane pontine Formatio reticularis (PPRF) generiert v. a. die willkürlichen horizontalen Blickbewegungen, die rostrale mesenzephale Formatio reticularis (MRF) die vertikalen Blickbewegungen, wobei hier der Kern des Fasciculus longitudinalis medialis (MLF) eine wichtige Rolle spielt. Für die Stabilisierung des Netzhautbilds sind die Ncll. vestibulares von Bedeutung, welche die Augenbewegungen entsprechend der Kopf- und Körperposition im Raum koordinieren (vestibulookulärer Reflex, VOR). Das Puppenkopfphänomen wird durch den VOR generiert. Optische Reflexzentren Hierbei sind kortikale Sehfelder den präokulomotorischen Zentren (PPRF, MRF) vorgeschaltet, die wiederum zu optischen Reflexzentren des Hirnstamms (Colliculi superiores und Area pretectalis, → ) projizieren. Bahnen, die von der primären und sekundären Sehrinde des Okzipitallappens zu diesen Reflexzentren ziehen, sind für den optokinetischen Reflex (OKR) verantwortlich. Die Durchführung willkürlicher Augenbewegungen (horizontale Augenbewegungen und Sakkaden) wird durch das Frontalhirn gesteuert.

Untersuchung

Zur Prüfung der Augenbewegung wird der Patient aufgefordert, den Finger des Untersuchers, der in ca. 50 cm Abstand hochgehalten wird, zu fixieren. Der Finger wird langsam in allen vier Quadranten des Gesichtsfelds (horizontal, vertikal, diagonal) bewegt, wobei der Patient mit den Augen folgen soll, ohne den Kopf zu bewegen. Hierbei achtet man auf den vollen Bewegungsumfang der Bulbi, fragt nach Doppelbildern und beurteilt den Bewegungsablauf (glatt, sakkadiert). Die Sakkaden werden geprüft, indem der Untersucher beide Zeigefinger mit ca. 1 m Abstand voneinander hochhält und den Patienten bittet, abwechselnd von einem Finger zum anderen zu schauen. Zur Untersuchung der Konvergenzreaktion → .

Ätiologie und Klinik Infranukleäre Störungen Eine Läsion der Augenmuskelnerven oder von deren Kernen führt zur Achsenabweichung (paralytischer Strabismus) eines Auges mit Doppelbildern (→ ), die bei Blick in die physiologische Zugrichtung der geschädigten Muskeln am stärksten ausgeprägt sind. Bis auf die Mm. recti lateralis et medialis haben alle Augenmuskeln auch eine rotatorische Komponente, die komplex auf die Bulbusbewegungen wirkt.

Abb. 7.2

Ausfall einzelner Augenmuskelnerven [L231]

Trochlearisparese Die schräg stehenden Doppelbilder sind bei Kopfneigung zur kranken Seite am stärksten ausgeprägt (→ ); hierbei steht das paretische Auge höher (Bielschowsky-Phänomen). Klinisch auffällig beim Patienten ist eine kompensatorische Neigung und Drehung des Kopfes zur gesunden Seite (okulärer Torticollis). Lähmungen des N. oculomotorius Sie können als komplette Okulomotoriusparese und als Ophthalmoplegia interna bzw. externa unterschieden werden. Die Ursachen durch eine Pathologie im Kerngebiet, supranukleär z. B. Mittelhirn oder im peripheren Verlauf des Nervs sind sehr vielfältig. Eine Okulomotoriusparese im Rahmen einer diabetischen Ophthalmoplegie, Tumoren der Schädelbasis (Sinus cavernosus, Keilbein), Gefäßmalformationen (z. B. Aneurysma der A. communicans posterior), Hirndruck (z. B. Klivuskanten-Syndrom, Einklemmung des Hirnstamms in den Tentoriumschlitz), Blutungen sowie Entzündungen im Bereich des Hirnstamms oder

Schädelbasis (z. B. MS, virale Meningitis, SAB, Infarkte) sind nur einige Beispiele. • Opthalmoplegia interna Schädigung des parasympathischen Asts, der die glatten Augenmuskeln versorgt (M. sphincter pupillae, M. ciliaris), meist durch Kompression; Klinik: Mydrasis, lichtstarre Pupillen, evtl. Akkommodationsausfall • Opthalmoplegia externa Schädigung meist im Kerngebiet; Klinik: Diplopie und Augenbewegungsstörungen durch Ausfall der Mm. recti superior / inferior / medialis und M. obliquus inferior, Ptose (M. levator palpebrae superioris) • Komplette Okulomotoriusparese: Kombination beider Läsionen (→ ) meist aufgrund einer peripheren Nervenschädigung (z. B. Raumforderung). Die Doppelbilder verschwinden in keiner Augenposition vollständig, werden aber bei Blick des paretischen Auges nach lateral unten besser. Abduzensparese Sie ist aufgrund des langen Verlaufs des N. abducens entlang der Schädelbasis und dem Sinus cavernosus die häufigste Augenmuskellähmung. Der Blick nach lateral zur Seite der Schädigung erzeugt die ausgeprägtesten Doppelbilder.

Supranukleäre Störungen Die Störung der synchronen Augenbewegungen beruht auf einer Schädigung von weiter zentraler zu den Augenmuskelkernen gelegenen Strukturen (präokulomotorische Zentren, optische Reflexzentren). Dabei treten keine Doppelbilder auf, da die parallele Stellung beider Bulbi erhalten bleibt. Stattdessen kommt es zu einer Beeinträchtigung der synchronen Bewegung in horizontaler bzw. vertikaler Richtung. Diese Einschränkung betrifft die Willkür- und Folgebewegungen. Die gehemmte Blickrichtung der Augen kann allerdings durch passive Bewegung (Puppenkopfphänomen) kompensiert werden. Horizontale Blickparese • Ursächlich kommt zum einen eine Läsion in kortikalen Zentren in Betracht. So bewirken die Augenfelder der Frontallappen jeweils eine Augenbewegung zur kontralateralen Seite (rechter Gyrus frontalis medius generiert Blick nach links und der linke Gyrus Blickwendung nach rechts). Einer Schädigung in diesem Bereich folgt eine Déviation conjuguée (unwillkürliche tonische Bulbuswendung zur Läsion hin), die im Laufe der Zeit rückläufig sein kann. Eine Störung im Okzipitallappen geht oft mit einer Hemianopsie und sakkadierter Blickfolge einher. • Weitere Ursachen sind eine Läsion der PPRF mit einer Blickparese zum Schädigungsherd hin und erhaltenem VOR. Vertikale Blickparese Eine Schädigung im Mittelhirn (MRF) ist die Ursache dieser Lähmung, wobei am häufigsten kombinierte Blickparesen nach oben und unten zu beobachten sind. Das selten auftretende Parinaud-Syndrom (dorsales Mittelhirnsyndrom) ist gekennzeichnet durch eine Blickparese nach oben, vertikalen Blickrichtungsnystagmus, verzögerte Pupillenreaktion und evtl. Konvergenz-Retraktions-Nystagmus (Augen in Konvergenzstellung werden rasch in die Orbita gezogen und nehmen langsam wieder die Ausgangsstellung ein). Internukleäre Ophthalmoplegie (INO) Eine Läsion im MLF, der durch Verschaltung des dritten und sechsten Hirnnervs (Mm. recti medialis und lateralis) die horizontalen Augenbewegungen steuert, zeigt auf der Seite der Schädigung klinisch eine Adduktionsschwäche des Auges. Das abduzierende Auge weist einen nach lateral gerichteten Nystagmus auf. Die Konvergenzreaktion bleibt erhalten. Vaskuläre Erkrankungen und multiple Sklerose sind die häufigsten Ursachen. Zerebellär bedingte Störungen der Okulomotorik Die Augenfolgebewegung ist sakkadiert (hypo- oder hypermetrisch). Der VOR ist überschießend und durch Fixierung nicht zu unterdrücken. Des Weiteren können verschiedene Nystagmusformen auftreten (vertikal, Blickrichtungs- und Lagenystagmus), Spontannystagmus (s. u.).

Nystagmus Der Nystagmus ist eine wiederholte rhythmische Augenbewegung, die sich aus einer langsamen Augenbewegung in eine Richtung, gefolgt von einer raschen sakkadischen Gegenbewegung in die entgegengesetzte Richtung, zusammensetzt. Definitionsgemäß wird er nach der schnellen, kurzen Phase benannt. Pathologische Formen des Nystagmus sind von den physiologisch auftretenden zu unterscheiden.

Nystagmusformen Die Benennung des Nystagmus erfolgt nach dem klinischen Erscheinungsbild. Zunächst kann ein spontan bestehender Nystagmus (Spontannystagmus) von einem nach bestimmten Auslösern (z. B. Lageänderung) auftretenden unterschieden werden. Die Schlagrichtung in vertikaler, horizontaler oder rotatorischer Ebene bezüglich der Körperachse sowie bezüglich der Mittellinie nach rechts, links, oben, unten oder diagonal kann auf die Läsionsseite und den Läsionsort hinweisen. Neben dem meist vorzufindenden Rucknystagmus, der durch seine langsame Phase und schnelle Einstellbewegung gekennzeichnet ist, kann man auch einen Pendelnystagmus mit gleich schnellen sinusförmigen Bewegungen beobachten. Ein dissoziierter Nystagmus ist nicht auf beiden Augen gleichermaßen ausgeprägt, sondern auf einem Auge schwächer bzw. überhaupt nicht vorhanden.

Physiologischer Nystagmus Die physiologischen Nystagmusformen sind als pathologisch zu werten, wenn Bewegungen dissoziiert und asymmetrisch sind oder fehlen.

Vestibulärer Nystagmus Der durch den vestibulookulären Reflex (VOR) im Hirnstamm generierte Nystagmus dient dazu, bei raschen Kopfbewegungen nach Reizübermittlung aus dem vestibulären System eine stabile visuelle Wahrnehmung zu gewährleisten. Hierzu erfolgt bei Kopfwendung eine gleich große kompensatorische Augenbewegung zur Gegenseite. Langsame Augenfolgebewegungen hingegen werden durch kortikale Augenfelder (Frontal-, Temporal- und Okzipitalregion) kontrolliert. Zur Diagnostik stehen verschiedene Tests zur Verfügung: • Die Drehstuhlprüfung dient der Untersuchung des vestibulären Systems und des VOR. Dabei wird der Patient langsam auf einem Drehstuhl in eine Richtung gedreht und dann plötzlich angehalten. Der Patient empfindet Drehschwindel und unter der Frenzel-Brille erkennt man einen Nystagmus in entgegengesetzter Drehrichtung. Nach kurzer Zeit kehrt sich der Nystagmus um und erschöpft sich. • Mit der kalorischen Nystagmusprüfung werden die Bogengänge isoliert geprüft. Dabei wird der äußere Gehörgang einmal mit 30 °C kaltem Wasser (horizontaler Nystagmus vom getesteten Ohr weg) und dann mit 44 °C warmem Wasser (Nystagmus zum getesteten Ohr hin) gespült. • Der VOR kann physiologischerweise durch Fixierung eines sich gleich schnell, parallel und in gleicher Richtung bewegenden Gegenstands unterdrückt werden. Beim Nystagmus-Suppressionstest (VOR-Suppressionstest) fixiert der Patient seine mit ausgestreckten Armen hochgehaltenen Daumen und wird vom Untersucher rasch um die Körperachse erst ein Stück in die eine Richtung, dann in die andere gedreht (→ ). Kann der Nystagmus nicht unterdrückt werden, deutet dies auf eine Schädigung der vestibulären Verschaltung im Hirnstamm mit dem Kleinhirn hin. • Ein im Klinikalltag hilfreicher Test des VOR ist der Halmagyi-Kopfimpulstest. Unter Fixierung eines stationären Punktes (z. B. Nase des Untersuchers) bewegt der Untersucher den Kopf des Patienten mit beiden Händen ruckartig unerwartet ein Stück nach rechts bzw. links. Geprüft werden die horizontalen Bogengänge, wobei eine ein- oder beidseitige periphere vestibuläre Läsion festgestellt werden kann. Bei Bewegung zur Seite der Läsion führt der Patient Einstellsakkaden aus, um die Blickfixierung aufrechtzuerhalten

Abb. 7.3

Ausführung des Nystagmus-Suppressionstests [L231]

Optokinetischer Nystagmus (OKN) Dieser Reflex dient dazu, bewegte optische Reize in der Umwelt durch Augenfolgebewegung stabil auf der Netzhaut zu halten (z. B. „Eisenbahnnystagmus“). Ist die Beweglichkeit der Augenmuskeln ausgeschöpft, erfolgt eine schnelle Rückstellbewegung, um ein neues Objekt zu fixieren. Der Reflex wird durch Bahnen zwischen den Sehfeldern des Okzipitallappens und den optischen Reflexzentren des Hirnstamms (Area pretectalis), die die Kerne der Augenmuskeln ansteuern, generiert.

Andere Formen • Bei extremem Seitwärtsblick kann man einen Endstellnystagmus in Blickrichtung beobachten, der bei seitengleichem Auftreten und Sistieren nach kurzer Zeit physiologisch ist. Pathologisch ist ein nicht erschöpflicher Endstellnystagmus. • Ein kongenitaler Nystagmus ist oft ein Pendelnystagmus, der keinen akuten Krankheitswert hat. Er tritt ab dem 2. – 3. Lebensmonat auf, nimmt beim Fixationsversuch zu und bessert sich in der Nähe (Konvergenzeinstellung). Der OKN ist gestört.

Pathologischer Nystagmus Ein pathologischer Nystagmus weist auf eine Schädigung von Regionen hin, die an der Koordination der Augenbewegungen beteiligt sind. Mögliche Ursachen dieser Störung sind sehr vielfältig, wobei die Form des Nystagmus einen Hinweis auf die lädierte Struktur geben kann (→ ).

Tab. 7.1

Auswahl pathologischer Nystagmusformen

Nystagmusform

Läsionsort

Bemerkung

Blickparetischer Nystagmus (grobschlägig, unregelmäßig)

Augenmuskellähmung bei Hirnnervenausfall

Nystagmus in Funktionsrichtung des gelähmten Muskels; Doppelbilder und Strabismus paralyticus

Blickrichtungsnystagmus (grobschlägig, in Blickrichtung; bei Intoxikation richtungwechselnd)

Kleinhirn oder Hirnstamm (z. B. Ischämie, Tumor, Blutung, MS); Wernicke-Enzephalopa-thie Intoxikation (z. B. Phenytoin, Alkohol)

Bei der Untersuchung der Augenfolgebewegungen kann der Blick nicht gehalten werden, sondern weicht zur Mittellinie zurück und wird durch eine Sakkade ausgeglichen; häufig Auftreten zusammen mit Hirnnervenausfällen, Paresen, Kleinhirnsymptomen; DD: physiologischer Endstellnystagmus

Horizontalnystagmus bei peripherer vestibulärer Läsion (Labyrinth, N. vestibularis)

Neuritis vestibularis, zur gesunden Seite

Keine Höreinschränkung, Drehschwindel

Labyrinthschädigung (z. B. traumatisch), zur gesunden Seite

Drehschwindel, Übelkeit, Erbrechen, Hörminderung, Tinnitus

Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, zur betroffenen Seite

Bei schneller Kopfbewegung, Einsetzen mit zeitlicher Verzögerung, klingt bei Einhalten der Position spontan ab

Morbus Menière, zur gesunden Seite

Hypakusis, Drehschwindelanfälle, Übelkeit, Erbrechen

Spontannystagmus; meist zur gesunden Seite

Periphere akute vestibuläre Läsion (Labyrinth, N. vestibularis)

Bereits beim Geradeausblicken sichtbar; durch Frenzel-Brille wird eine Unterdrückung durch Fixation aufgehoben, sistiert innerhalb von Wochen durch zentrale Kompensationsvorgänge, Schwindel, Übelkeit

Dissoziierter Blickrichtungsnystagmus (INO)

Fasciculus longitudinalis medialis

Adduktionsschwäche ipsilateral; nach lateral gerichteter Nystagmus des abduzierenden Auges

Vertikaler Nystagmus (meist Downbeat-Nystagmus)

Übergang von Medulla oblongata und Halsmark; Vitamin-B 12 -

Häufig mit Dysarthrie, Ataxie, Arnold-Chiari-Syndrom, MS

Mangel; Kleinhirn Zentraler Lagenystagmus (richtungwechselnd)

Tumoren und Läsionen der hinteren Schädelgrube; Intoxikationen

Rotierender Spontannystagmus

Medulla oblongata

See-saw-Nystagmus (abwechselndes gleichzeitiges Pendeln eines Auges nach oben, des anderen nach unten; rotatorische Komponente)

Hirnstamm, Dienzephalon

Auftreten in Kopfhänge- und Seitenlage nur für die Dauer der Positionseinhaltung; nicht durch Fixation hemmbar

Tumoren der Sellaregion, MS, Hirnstamminfarkte, Arnold-Chiari-Syndrom

Ptosis Eine Ptosis liegt vor, wenn das Oberlid den oberen Rand der Pupille bedeckt. Mögliche Ursachen für die Ptosis werden in → aufgeführt.

Tab. 7.2

Mögliche Ursachen der Ptosis

Ätiologie

Differenzialdiagnosen

Neurogen

Okulomotoriusparese (M. levator palpebrae); Sympathikusschädigung (M. tarsalis superior), Horner-Syndrom

Neuromuskuläre Übertragung

Myasthenia gravis; Botulismus; Lambert-Eaton-Syndrom

Myogen

Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert, okulopharyngeale Muskeldystrophie

Mechanisch

Mikrophthalmie; Dehiszenz der Levatoraponeurose

Andere

Kongenital; Dissektion der A. carotis; kortikale Läsion (Ischämie, Tumor)

Zusammenfassung • Horizontale Augenbewegungen werden im Pons (PPRF) und vertikale im Mesenzephalon (MRF) generiert. • Die infranukleäre Läsion betrifft die Augenmuskelnerven oder ihre Kerne und zeigt klinisch Doppelbilder, die bei Blick in die physiologische Zugrichtung des betroffenen Muskels am stärksten ausgeprägt sind. • Bei einer Schädigung der supranukleären Zentren (präokulomotorische und optische Felder) kommt es zu einer Hemmung der synchronen Bewegung beider Bulbi in horizontaler oder vertikaler Richtung. Doppelbilder entstehen nicht. • Als „Nystagmus“ bezeichnet man unwillkürliche, wiederholte Augenbewegungen, die sich aus einer langsamen Bewegung und einer raschen Rückstellbewegung zusammensetzen. • Die Blickfeldstabilisierung erfolgt bei schnellen Kopfdrehungen durch den vestibulookulären Reflex (VOR). Langsame Augenfolgebewegungen werden durch kortikale Augenfelder des Frontal-, Temporal- und Okzipitallappens generiert. • Physiologische Nystagmusformen sind bei Seitendifferenz, Dissoziation und Abwesenheit pathologisch. • Durch die Beteiligung unterschiedlicher zentraler Strukturen an den Augenbewegungen können vielfältige Läsionen zu einem pathologischen Nystagmus führen, der sich je nach Schädigungsort klinisch unterschiedlich zeigen kann.

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Hirnnerven V und VII N. trigeminus (V) Der N. trigeminus teilt sich in seinem sensiblen Ganglion trigeminale (Ganglion Gasseri) in drei Hauptäste auf, die über separate Foramina durch den Gesichtsschädel treten (Trigeminusaustrittspunkte): • N. ophthalmicus (V1), Foramen supraorbitale • N. maxillaris (V2), Foramen infraorbitale • N. mandibularis (V3), Foramen mentale Diese Äste versorgen sensibel die Gesichtshaut, Nasen- und Mundschleimhaut, Kornea, Skleren, Konjunktiven, Nasennebenhöhlen und den Gehörgang (→ ). Motorische Äste aus V3 innervieren Kaumuskeln (Mm. masseter, temporalis, pterygoidei und Mundbodenmuskeln). Sensibel werden die vorderen zwei Drittel der Zunge durch den N. lingualis, einen Ast des N. mandibularis, innerviert. Mit dem N. mandibularis laufen auch sensorische Fasern aus den vorderen zwei Dritteln der Zunge (VII), die sich der Chorda tympani (VII) angliedern.

Abb. 8.1

Sensible Versorgung des Gesichts (peripher) [E991]

Diagnostik Sensibilität Die Prüfung des Berührungsempfindens erfolgt mit Watte oder einem Papiertuch entsprechend dem Versorgungsgebiet der drei Hauptäste (V1 – V3; → ). Eine Störung in diesem Bereich ist auf eine periphere Trigeminusläsion zurückzuführen. Bei einer zentralen Trigeminusläsion ist das Muster der Sensibilitätsstörung in konzentrischen Kreisen von etwa dem Bereich der Nasenspitze / Oberlippe ausgehend angeordnet. Dieses Muster entspricht der Anordnung sensibler Neurone in den Trigeminuskernen. Mit einem mittelstarken Druck auf die Trigeminusaustrittspunkte wird deren Schmerzhaftigkeit getestet. Ein positiver Befund kann durch eine neuralgische Überempfindlichkeit (Trigeminusneuralgie) verursacht sein, wobei heftige Schmerzattacken ausgelöst werden können. Druckschmerzen werden auch bei Meningitis oder Nasennebenhöhlenentzündung angegeben. Motorik Aus einer Läsion des motorischen Asts resultiert eine Schwäche der Kaumuskulatur, die durch Palpation des M. masseter und des M. temporalis gefühlt werden kann, während der Patient fest die Zähne zusammenbeißt. Eine einseitige Schädigung der Mundbodenmuskulatur und des M. pterygoideus zeigt sich klinisch durch eine Abweichung des Kiefers zur lädierten Seite bei Mundöffnung. Reflexe Das Berühren des Kornearands mit ausgezogener Watte löst den Kornealreflex aus, wobei es zu unmittelbarem Lidschluss und Kontraktion des M. orbicularis oculi kommt. Bei der Prüfung blickt der Patient nach oben, und die Watte wird von unten (außerhalb des Gesichtsfelds) herangeführt, damit der Lidschluss nicht bereits visuell ausgelöst wird. Der Masseterreflex wird durch einen leichten, nach unten gerichteten Schlag auf den am Kinn des Patienten aufliegenden Untersucherfinger ausgelöst (→ ). Der Mund des Patienten ist entspannt und leicht geöffnet. Als Reflexantwort erfolgt ein Kieferschluss.

Abb. 8.2

Prüfung des Masseterreflexes [L157]

Klinik Ein Ausfall des ganzen N. trigeminus ist wegen seiner frühen Aufzweigung im Ganglion trigeminale seltener als partielle Ausfälle durch Läsion einzelner Äste. Der N. ophthalmicus und der N. maxillaris werden bei Gesichtsschädelfrakturen, der N. mandibularis eher iatrogen (z. B. Zahnarzt) verletzt. Prozesse an der Schädelbasis (z. B. Tumoren, Angiom, Aneurysma) können auch Ursache einer peripheren Läsion sein. Der Kornealreflex lässt sich bei Patienten in höhergradigem Koma und bei einer ausgeprägten Fazialisparese nicht auslösen. Eine Abschwächung und ein Erlöschen des Reflexes erfolgen bereits früh bei Entzündungen und Raumforderungen an der Schädelbasis. Aufgrund der dichten anatomischen Strukturen im Hirnstamm treten zentrale Lähmungen des N. trigeminus (proximal des Ganglion trigeminale) z. B. im Rahmen eines ischämischen Insults i. d. R. kombiniert mit weiteren Hirnnervenausfällen und Symptomen auf (→ ).

N. facialis (VII) Der N. facialis besteht aus einem Fazialisteil, der motorische Fasern führt, und einem Intermediusteil mit parasympathischen und sensorischen Fasern. Beide verlassen getrennt voneinander den Hirnstamm im Kleinhirnbrückenwinkel und ziehen zusammen mit dem N. vestibulocochlearis durch den Porus acusticus internus zum Innenohr. Im Verlauf durch das Felsenbein bildet der Nerv das äußere Fazialisknie, und die sensorischen sowie parasympathischen Fasern (N. petrosus major, Chorda tympani) zweigen ab. Der motorische Teil verläuft durch das Foramen stylomastoideum, durchbohrt die Glandula parotis und innerviert die mimische Gesichtsmuskulatur. Der M. stapedius des Mittelohrs wird ebenfalls von motorischen Fasern innerviert. Die Chorda tympani versorgt sensorisch die vorderen zwei Drittel der Zunge und parasympathisch die Glandulae submandibularis und sublingualis. Die Tränendrüse erhält parasympathische Fasern durch den N. petrosus major.

Diagnostik Motorisch Geprüft wird die mimische Muskulatur (→ ), indem der Patient gebeten wird, die Stirn zu runzeln, die Augen fest zusammenzukneifen, die Nase zu rümpfen, die Wangen aufzublasen und die Zähne zu zeigen. Geachtet wird auf Asymmetrie und Paresen.

Abb. 8.3 Untersuchung von fazialisinnervierter Muskulatur. Aufforderung, die Stirn zu runzeln (a), zu lächeln (b), die Wangen aufzublasen (c), den Mund zu spitzen (d), die Zähne zu zeigen (e) und die Augen fest zusammenzukneifen (f). [L231]

Sensorisch und parasympathisch Die Geschmacksprüfung erfolgt seitengetrennt für die Qualitäten süß, salzig, sauer und bitter. Die bittere Lösung wird auf dem hinteren Drittel der Zunge wahrgenommen, das durch den N. glossopharyngeus (IX) sensorisch versorgt wird. Eine verminderte Tränensekretion kann mit dem Schirmer-Test (→ ) geprüft werden.

Klinik In Abhängigkeit von der Lokalisation der Schädigung ergeben sich unterschiedliche Symptomenkombinationen (→ ).

Abb. 8.4 Symptome bei verschiedenen Läsionsorten im Verlauf des N. facialis. A: periphere motorische Lähmung. B: Punkt A und zusätzlich Geschmacksverlust. C: Punkte A – B und zusätzlich Hyperakusis bei Ausfall des Stapediusreflexes. D: Punkte A – C und zusätzlich reduzierte Tränensekretion und reduzierte Speichelsekretion. [L157] Das Kardinalsymptom der Fazialisläsion ist die Gesichtsmuskellähmung, die sich klinisch auf der paretischen Seite mit erweiterter Lidspalte, verstrichener Stirn- und Nasolabialfalte und herabhängendem Mundwinkel zeigt. Durch eine Lähmung des M. orbicularis oculi ist ein vollständiger Lidschluss nicht möglich (Lagophthalmus). Beim Versuch, das Auge zu schließen, sieht man die physiologische Bulbusbewegung nach oben (Bell-Phänomen). Hierbei besteht die Gefahr einer Schädigung der Kornea (Austrocknung), der mit künstlichen Tränen und Abdeckung des Auges (Uhrglasverband) gegengesteuert wird. Bläst der Patient die Wangen auf, entweicht auf der paretischen Seite Luft. Durch den mangelnden Lippenschluss läuft v. a. beim Trinken Flüssigkeit aus dem Mund und die Sprache ist verwaschen. Je nach Läsionsort bestehen zusätzlich Geschmacksstörungen, Hyperakusis sowie eine Verminderung der Tränen- und Speichelsekretion. Eine diskrete Fazialisparese lässt bereits den Kornealreflex (s. o.) und den Glabellareflex (Beklopfen der Glabella bewirkt einen durch Kontraktion des M. orbicularis oculi bedingten Lidschluss; nach kurzer Zeit erschöpflich) erlöschen. Komplizierend können sich entstellende Gesichtskontrakturen, ein Hemispasmus facialis oder eine neuronale Defektheilung (gustatorische Fasern des N. intermedius wachsen in die Tränendrüse; klinisch Tränenproduktion beim Essen auf der betroffenen Seite) wie das „Symptom der Krokodilstränen“ (gustolakrimales Phänomen) bzw. Synkinesien nach Fazialislähmung (unvollständige Reinnervation führt zur Mitinnervierung von mehreren Muskelgruppen z. B. Augenschluss beim Sprechen) entwickeln. Grundsätzlich ist die periphere Fazialisparese von der zentralen Form zu unterscheiden: Periphere Fazialisparese Läsion des Ncl. nervi facialis oder des infranukleären Verlaufs; homolaterale Funktionsstörung (s. o.); möglicheUrsachen sind Entzündungen (Herpes Zoster, Meningitis, Borreliose, Mastoiditis, Otitis media etc.), Traumen (z. B. Felsenbeinfraktur), Neoplasien (Kleinhirnbrückenwinkeltumor, Meningeosis carcinomatosa, Schwannome etc.), endokrin (z. B. Diabetes mellitus) und andere (Schwangerschaft). Bei etwa 60–75 % handelt es sich um eine idiopathische Fazialisparese (Bell’s palsy), bei welcher eine Glukokortikoidtherapie (Prednisolon 2 × 25 mg über 10d, oder 60 mg über 5d, dann tägliche Reduktion um 10 mg) die Wiederherstellung der Fazialisfunktion fördert und sekundäre Komplikationen wie Synkinesien oder vegetative Dysfunktion reduziert. Zentrale Fazialisparese Läsion supranukleär des Fazialiskerns; zentrale Gesichtslähmung der kontralateralen Seite; durch die beidseitige Innervation vor dem Fazialiskern sind das Runzeln der Stirn und der Lidschluss auch auf der paretischen Seite möglich; Ätiologie: meist Schlaganfälle und Neoplasien (v. a. Metastasen). Hemispasmus facialis Klinisch zeigen sich unwillkürliche kurz-oder längerandauernde Kontraktionen der Fazialis-innervierten Muskulatur. Ursache ist meist eine arterielle Kompression des Nervs im Bereich des Austritts aus dem Hirnstamm.Eine mikrovaskuläre Dekompressionsoperation hat eine Erfolgsrate von über 80 % und führt zur langfristigen Beschwerdefreiheit. Eine symptomatische und gut verträgliche Behandlungsoption stellt die wiederholte lokale Injektion von Botulinumtoxin dar.

Zusammenfassung • Der N. trigeminus versorgt sensibel Gesichtshaut, Nasen- und Mundschleimhaut, die vorderen zwei Drittel der Zunge, Kornea, Skleren, Konjunktiven, Nasennebenhöhlen sowie Gehörgang und motorisch die Kaumuskulatur. • Im Gegensatz zur peripheren Läsion sind bei der zentralen Fazialisparese die Stirnmuskulatur und der M. orbicularis oculi durch die beidseitige Innervation pränukleär funktionsfähig. • In über drei Vierteln der Fälle ist eine periphere Fazialis-parese idiopathisch und heilt spontan. Eine Glukokortikoidtherapie fördert den Heilungsprozess und reduziert die Komplikationsrate.

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Hirnnerven VIII, IX, X, XI und XII N. vestibulocochlearis (VIII) Der N. vestibulocochlearis ist ein rein sensorischer Nerv, dessen N. cochlearis akustische Reize aus dem Corti-Organ der Schnecke und dessen N. vestibularis statische Informationen und Bewegungsreize aus den Bogengängen und Makulaorganen führt. Beide Nerven vereinigen sich zu einem Stamm, der vom Innenohr durch den Porus acusticus internus zum Hirnstamm zieht. Hier werden die Afferenzen in getrennten Kernen (Ncll. cochleares und Ncll. vestibulares) weiterverschaltet und überwiegend reflektorisch verarbeitet (Körperhaltung, Bewegung, Augenbewegung).

Diagnostik Untersucht werden Gehör sowie Vestibularapparat.

Gehör Die neurologische Prüfung des Gehörs erfolgt orientierend und zielt besonders auf die Erfassung einer Seitendifferenz ab sowie auf die Unterscheidung zwischen Mittelohrschwerhörigkeit (Schallleitungsstörung) und Innenohrschwerhörigkeit (Schallempfindungsstörung). Besteht der Verdacht auf Hypakusis, sollte ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt konsultiert werden. Flüstern Beim Zuhalten eines Ohrs sollen geflüsterte Zahlen und Wörter nachgesprochen werden. Einseitige Hörminderung kann auf raumfordernde Prozesse im Kleinhirnbrückenwinkel (oft Beteiligung von V und VII), Trauma oder ein Neurinom zurückzuführen sein. Ist die Schwerhörigkeit beidseits, kommen z. B. entzündliche Vorgänge wie Meningitis, eine toxische Schädigung oder eine Meningeosis carcinomatosa ursächlich infrage. Rinne-Versuch Eine vibrierende Stimmgabel wird auf das Mastoid gesetzt, wobei über die Knochenleitung ein Ton wahrgenommen wird. Hört der Patient den Ton nicht mehr, hält man die Stimmgabel vor das Ohr. Physiologisch ist wieder ein Ton für etwa eine halbe Minute wahrnehmbar, da Schallwellen beim Gesunden über Luft besser als über Knochen geleitet werden. Somit entspricht eine unauffällige Schallleitung einem positiven Rinne-Versuch. Hört der Patient den Ton vor dem äußeren Gehörgang verkürzt oder gar nicht (Rinne-negativ), liegt eine Schallleitungsstörung vor (z. B. durch Fremdkörper, Otitis media, Cholesteatom). Weber-Versuch Der Untersucher setzt eine schwingende Stimmgabel auf den Scheitel des Patienten, der physiologisch einen Ton über Knochenleitung auf beiden Ohren gleich laut hört. Liegt eine Schallleitungsschwerhörigkeit vor, lateralisiert der Ton in das kranke Ohr. Bei einer Schallempfindungsstörung (z. B. Akustikusneurinom, Morbus Menière, traumatische Cochleaschädigung, medikamentös) hört der Patient den Ton im gesunden Ohr lauter.

Vestibularapparat Das Leitsymptom einer Läsion des Vestibularorgans ist ein gerichteter systematischer Schwindel als Ausdruck einer Gleichgewichtsstörung, der von den Patienten als Dreh-, Schwank- oder Liftschwindel empfunden wird. Nichtvestibulärer Schwindel ist nicht richtungsbestimmt und kann vom Patienten häufig schwer beschrieben werden. Bei einer peripheren Läsion sind Schwindel und Begleitsymptome stärker ausgeprägt als bei einer zentralen Störung (Ncl. vestibulares). Mit dem Schwindel geht bei einer Labyrinthschädigung ein pathologischer Nystagmus einher (außer bei der beidseitigen Vestibulopathie). Die Untersuchung und Klinik des vestibulären Nystagmus werden in → dargestellt. Das Gleichgewicht wird durch einige Geh- und Stehproben getestet (Auswahl an Tests s. u.), wobei bei einem einseitigen Vestibularisausfall eine Abweichung bzw. Fallneigung zur lädierten Seite besteht. Die Gleichgewichtsstörung kann auch auf eine Kleinhirnläsion zurückzuführen sein. Romberg-Stehversuch Der Patient steht für ca. 20 s mit nach vorn ausgestreckten Armen, geschlossenen Beinen und nach oben gewendeten Handinnenflächen. Unterberger-Tretversuch Die Aufgabe lautet, mit geschlossenen Augen 50 Schritte auf einer Stelle mit Anheben der Knie zu treten. Pathologisch ist eine gerichtete Drehung um mehr als 45°. Blindgang Der Patient fixiert den Untersucher in einiger Entfernung und soll dann mit geschlossenen Augen auf ihn zugehen.

Klinik Bei einem plötzlichen Ausfall eines Labyrinths (z. B. Neuritis vestibularis, Felsenbeinquerfraktur) treten Übelkeit, Schwindel mit Fallneigung zur erkrankten Seite und ein horizontaler Spontannystagmus zur gesunden Seite auf. Im Laufe der Zeit bilden sich die Symptome durch eine zentrale Kompensation mittels der Impulse aus der gesunden Seite zurück. Dieser Kompensationsmechanismus greift bei chronischer Vestibularorganläsion, bevor sich Symptome zeigen. Ein beidseitiger Ausfall führt zu Unsicherheit und Gleichgewichtsstörungen, v. a. bei Dunkelheit (visuelle Kontrolle fehlt) und weichem Untergrund (Positionsmeldungen nicht eindeutig). In Bewegung können die Augen nicht fixieren, sodass sich z. B. beim Gehen die Umgebung mit bewegt.

N. glossopharyngeus, N. vagus (IX, X) Der N. glossopharyngeus und der N. vagus sind gemischte Nerven, die Pharynx und Larynx innervieren (→ ).

Tab. 9.1

Innervation des N. glossopharyngeus und N. vagus

Fasertyp

N. glossopharyngeus

N. vagus

Motorisch

Schlund- und Gaumensegelmuskulatur

Schlund-, Gaumen- und Kehlkopfmuskulatur

Sensibel

Hinteres Drittel der Zunge, Naso- und oberer Pharynx, Tuba auditiva, Mechano- und Chemorezeptoren des Glomus caroticum

Kehlkopf, äußerer Gehörgang, Teil der Ohrmuschel, Dura der hinteren Schädelgrube, sensible Afferenzen aus dem Bereich von Lungen, Ösophagus, Bauchorgane

Sensorisch

Hinteres Drittel der Zunge



Parasympathisch

Glandula parotis

Organe des Brust- und Bauchraums

Diagnostik und Klinik Eine Inspektion des Gaumens und der Rachenhinterwand gibt Auskunft über die motorische Funktion beider Nerven. Hierzu wird der Patient gebeten zu phonieren („AAAA“). Beurteilt wird die Hebung des Gaumensegels sowie der Rachenhinterwand. Eine einseitige Parese zeigt sich in Form einer Abweichung beider Strukturen zur gesunden Seite hin (Kulissenphänomen, → ). Sind beide Seiten gelähmt, hebt sich das Gaumensegel überhaupt nicht. Bei einer Lähmung des N. vagus sind die Uvulaabweichung und das Herabhängen des Gaumensegels ausgeprägter als bei einer Schädigung des N. glossopharyngeus.

Abb. 9.1

Kulissenphänomen bei Läsion rechts [L231]

Die Untersuchung des Würgereflexes erfolgt durch Berührung der Rachenhinterwand mit einem Holzspatel nacheinander auf beiden Seiten. Bleibt der Reflex aus, können entweder der afferente sensible Schenkel (IX) des Reflexes oder der motorische efferente Teil (X) geschädigt sein. Eine einseitige Rekurrensparese führt zu Heiserkeit (Leitsymptom der Vagusläsion), da eine Stimmritze nicht mehr geschlossen werden kann, bei beidseitigem Ausfall kommt es zur Aphonie mit Schlucklähmung. Auch eine Beteiligung des parasympathischen Systems ist möglich. Ein Ausfall der sensiblen Innervation hat eine Schluckstörung zur Folge. Die Geschmacksprüfung des hinteren Drittels der Zunge für die Qualität „bitter“ testet den sensorischen Anteil des N. glossopharyngeus.

N. accessorius (XI) Der N. accessorius ist ein rein motorischer Nerv, der seinen Ursprung v. a. im Halsmark hat. Nach Verlassen des zervikalen Rückenmarks zieht er durch das Foramen magnum in die Schädelhöhle, die er zusammen mit IX und X durch das Foramen jugulare wieder verlässt, um am lateralen Halsdreieck nach distal zu ziehen. Er versorgt den M. sternocleidomastoideus (Kopfneigung nach ipsilateral bei Gesichtswendung nach kontralateral) und den oberen Anteil des M. trapezius (Heben der Schulter, Fixieren der Skapula).

Diagnostik und Klinik Zur Untersuchung des M. sternocleidomastoideus dreht der Patient gegen Widerstand durch den Untersucher den Kopf zur Seite. Beurteilt werden das Aussehen und durch Palpation die Anspannung des Muskels. Die Prüfung des M. trapezius erfolgt, indem der Patient gegen Widerstand die Schultern anhebt. Ist der Hauptstamm des N. accessorius geschädigt, zeigen sich eine Parese des M. sternocleidomastoideus bei Kopfwendung zur kontralateralen Seite und eine leichte Schiefhaltung des Kopfes (Kopfneigung nach kontralateral und Gesichtswendung nach ipsilateral der Läsion). Außerdem bestehen eine Schwäche der Schulter- und Armhebung über die Horizontale hinaus sowie ein Abstehen der Skapula (Scapula alata). Eine Schädigung im Halsdreieck betrifft nur den M. trapezius, nicht die Funktion des M. sternocleidomastoideus.

N. hypoglossus (XII) Der N. hypoglossus ist ebenfalls ein rein motorischer Nerv, welcher der Medulla oblongata entspringt und die Schädelhöhle durch das Foramen magnum verlässt. Er zieht zwischen A. carotis interna und V. jugularis interna bis zur Zunge, die er als einziger Nerv motorisch innerviert.

Diagnostik und Klinik Zur Untersuchung wird der Patient aufgefordert, die Zunge gerade herauszustrecken und sie anschließend hin und her zu bewegen. Die Trophik und die Schnelligkeit der Bewegung werden beobachtet. Weiterhin werden Faszikulationen bei entspannter, im Mund liegender Zunge durch den leicht geöffneten Mund beurteilt. Eine periphere Schädigung des N. hypoglossus (z. B. Carotisoperation, Aneurysma, Schädelbasisfraktur) hat eine Parese und im Verlauf Faszikulationen und Atrophie auf der Seite der Schädigung zur Folge. Beim Herausstrecken der Zunge weicht diese zur Seite der Läsion ab. Der Patient berichtet über eine verwaschene Sprache und Schluckbeschwerden. Bei zentraler Läsion (kortikobulbäre Bahn) ist die Parese geringer ausgeprägt, Atrophie oder Faszikulationen fehlen. Eine beidseitige Atrophie der Zunge und erkennbare Faszikulationen deuten auf eine Bulbärparalyse (z. B. Beteiligung bei ALS, → ) hin (Neurodegeneration der motorischen Hirnnervenkerne V, VII und IX – XII). Zu unterscheiden ist die Pseudobulbärparalyse (→ ), die eine bilaterale (z. B. mikroangiopathische) Schädigung der kortikobulbären Bahnen darstellt und klinisch Schluck- und Sprechstörungen, Steigerung des Masseterreflexes, Zwangslachen und -weinen, jedoch ohne Atrophie und Faszikulationen aufweist.

Zusammenfassung

• Im Gegensatz zu einer zentralen Schädigung kann ein peripherer Vestibularisausfall durch Impulse aus der gesunden Seite kompensiert werden. • Der rein motorische N. accessorius (M. sternocleidomastoideus, oberer Teil des M. trapezius) wird nicht selten bei iatrogenen Eingriffen am Hals geschädigt. • Das Krankheitsbild der Bulbärparalyse resultiert aus einer beidseitigen Schädigung des zweiten Neurons der motorischen Hirnnerven V, VII und IX – XII und zeigt sich mit Schluck- und Sprechstörungen, Zungenatrophie und Faszikulationen.

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Muskeltonus und Muskelkraft Die klinische Untersuchung der Motorik besteht aus einer Beurteilung der Muskeltrophik, des Muskeltonus, Stand- und Gangprüfung, Feinmotorik und unwillkürliche Bewegungen. Außerdem umfasst sie die Kraftprüfung und den Reflexstatus.

Inspektion Die Untersuchung der Motorik sollte mit einer Inspektion des entkleideten Patienten beginnen. Die abnorme Haltung oder Minderbewegung einer Extremität bzw. einer Körperhälfte gibt Hinweis auf Paresen. Atrophien einzelner Muskeln oder Muskelgruppen fallen im Seitenvergleich besser auf. Zu beachten sind besonders die kleinen Handmuskeln, deren Atrophie bei peripheren Nervenläsionen bereits früh zu erkennen ist (→ ). Neben den neurogenen Atrophien führen auch Myopathien zur Massenabnahme der Muskeln. Das Verteilungsmuster der Atrophie ist meist symmetrisch und kann auf die verschiedenen Formen von Muskeldystrophie hinweisen (z. B. Gliedergürteldystrophie). Eine Hypertrophie der Muskulatur ist wesentlich seltener zu beobachten. Bei den Muskeldystrophien Typ Duchenne und Typ Becker ist die Wadenmuskulatur hypertroph (→ ). Gezielt zu achten ist auf Faszikulationen, die auf periphere Nervenläsionen und degenerative Veränderung der Vorderhornzellen und des zweiten Motoneurons (z. B. ALS) zurückzuführen sind. Tremor, Hyperkinesie und Bewegungsunruhe sprechen für eine Störung des extrapyramidal-motorischen Systems.

Tonus Der Muskeltonus wird am entspannten Patienten durch passive Bewegung des Hand-, Ellbogen-, Knie- und Hüftgelenks untersucht (→ ). Hierbei ist darauf zu achten, dass die Bewegungen nicht rhythmisch, sondern durch spontane Änderung der Richtung für den Patienten nicht vorhersehbar sind. Der Untersucher nutzt den vollen Bewegungsumfang des Gelenks aus und steigert langsam die Geschwindigkeit der Bewegung.

Abb. 10.1

Untersuchung des Muskeltonus [L141]

Im Folgenden sind verschiedene abnorme Veränderungen der Muskelspannung dargestellt. Spastik Eine Läsion der Pyramidenbahn geht in der Akutphase mit einem herabgesetzten Muskeltonus (schlaffe Parese) einher, der nach ca. 3–4 Wochen in eine spastische Tonuserhöhung übergeht. Je rascher die Bewegung bei der Untersuchung durchgeführt wird, desto stärker sind die Spastik oder der Widerstand ausgeprägt, bis sie plötzlich nach maximaler Dehnung des Muskels nachlassen („Klappmesserphänomen“). In den Armen sind die Beuger und in den Beinen die Strecker stärker von der Spastik betroffen als ihre jeweiligen Gegenspieler. Am besten ist eine Spastik in den oberen Extremitäten durch Extension im Ellbogengelenk oder durch eine abwechselnde Pronation und Supination des Unterarms fassbar. Ursache ist eine Schädigung des ersten Motoneurons (Pyramidenbahn) im Rückenmark oder im Gehirn. Rigor Der Muskeltonus beim Rigor ist durch eine gleichmäßige, wächserne, geschwindigkeitsunabhängige Steigerung in Agonisten und Antagonisten bei passiver Bewegung gekennzeichnet. Die Muskelspannung ist bereits in Ruhe erhöht. Flexoren und Extensoren sind gleichermaßen betroffen. In der klinischen Untersuchung kommt es bei passiver Bewegung häufig zu einer rhythmischen Unterbrechung des Rigors, die als „Zahnradphänomen “ bezeichnet wird (→ ). Der Rigor an der untersuchten Extremität kann verstärkt werden, indem der Patient Willkürbewegungen der kontralateralen Seite durchführt, z. B. mit der nicht untersuchten Hand Kreise in der Luft zieht oder sie abwechselnd öffnet und schließt (Froment-Manöver ). Ursache ist eine Störung des extrapyramidal-motorischen Systems (Basalganglien), wie z. B. bei Morbus Parkinson. Gegenhalten Diese Form der Muskeltonussteigerung mutet bei der Untersuchung wie ein aktiver Widerstand des Patienten gegen die Bewegungen des Untersuchers an. Ursache ist eine diffuse Störung des Frontalhirns. Hypotonus Der herabgesetzte Tonus zeigt sich durch schlaffes Mitschwingen bei passiver Bewegung. Ursachen sind schlaffe Paresen, die aus einer Schädigung des zweiten Motoneurons (Vorderhornzellen, peripher) resultieren, oder Myopathien. Kleinhirnläsionen können zu einem Muskelhypotonus führen.

Kraftprüfung Die Untersuchung der Kraft erfolgt, indem der Patient einzelne Muskeln oder Muskelgruppen gegen den Widerstand des Untersuchers anspannt. Die ausgeübte Kraft wird in fünf Graden quantifiziert (→ ).

Tab. 10.1

Quantitative Bewertung der Muskelkraft

Muskelkraft

Gradeinteilung

Normale Kraft

5

Bewegung gegen leichten Widerstand

4

Bewegung gegen die Schwerkraft

3

Bewegung nur unter Aufhebung der Schwerkraft

2

Sichtbare Muskelkontraktion ohne Bewegung

1

Keine Muskelaktivität

0

Bei der Durchführung der Kraftprüfung ist es wichtig, den zu testenden Muskel in seiner Bewegung zu isolieren, um nicht durch Aktivierung anderer Muskeln Paresen zu übersehen. Diskrete Paresen können durch eine Störung der Feinmotorik (→ ) sowie durch Vorhalteversuche erfasst werden (→ ): • Der Patient hält mit geschlossenen Augen für mindestens 20 s die Arme auf Brusthöhe und mit nach oben gerichteten Handflächen gestreckt von sich (Armvorhalteversuch) bzw. die Beine in rechtwinkliger Hüft- und Knieflexion (Beinhalteversuch). Liegt eine latente Parese vor, sinkt die jeweilige Extremität ab und / oder der paretische Arm zeigt eine Pronationstendenz. • → bis → stellen die Untersuchung der gängigen Muskeln mit ihrer zugehörigen Innervation dar (roter Pfeil = Bewegungsrichtung Patient, blauer Pfeil = Bewegungsrichtung Untersucher).

Abb. 10.2 Nachweis einer diskreten Parese durch den Vorhalteversuch: a) Der paretische Arm sinkt mit leichter Pronation ab. b) Im Beinhalteversuch sinkt der Unterschenkel auf der Seite der Parese herab. [L231]

Abb. 10.3

Untersuchung der Schulterabduktion [L141]

Abb. 10.4

Untersuchung der Ellbogenextension [L141]

Abb. 10.5

Untersuchung der Ellbogenflexion: a) M. biceps brachii; b) M. brachioradialis [L141]

Abb. 10.6

Untersuchung der Extension im Handgelenk [L141]

Abb. 10.7

Untersuchung der Fingerextension [L141]

Abb. 10.8

Untersuchung der Daumenabduktion [L141]

Abb. 10.9

Abb. 10.10

Untersuchung der langen Fingerflexoren [L141]

Untersuchung der a) Hüftflexion und b) Hüftextension [L141]

Abb. 10.11

Untersuchung der a) Knieextension und b) Knieflexion [L141]

Abb. 10.12

Untersuchung der a) Dorsalextension und der b) Plantarflexion des Fußes [L141]

Abb. 10.13

Untersuchung der a) Fußinversion und der b) Fußeversion [L141]

Abb. 10.14

Untersuchung der Großzehenextension [L141]

Abb. 10.15 Untersuchung der Schultermuskulatur: a) Extension im Ellbogen bei 90° Elevation; b) Außenrotation des Arms; c) Armabduktion; d) Armadduktion [L141]

Myoklonus Myoklonien sind plötzlich auftretende unwillkürliche Muskelkontraktionen, die oft die Extremitäten und das Gesicht betreffen. Unterschieden werden ein positiver Myoklonus mit Bewegungseffekt und eine negative Form, bei der die Zuckungen durch eine Inhibition von tonischer Muskelaktivität zustande kommen (Asterixis).

Ätiologie und Klassifikation Neben den physiologisch auftretenden Einschlafzuckungen sind Myoklonien bei verschiedenen systemischen und neurologischen Erkrankungen (z. B. Chorea Huntington, Assoziation mit verschiedenen Epilepsien, Nieren- und Leberinsuffizienz, Morbus Wilson, Koma, spongiforme Enzephalopathie etc.) zu beobachten. Es gibt zahlreiche ätiologische Faktoren und keine einheitliche Klassifikation. Die Beschreibung der Myoklonien umfasst die Lokalisation (segmental, generalisiert etc.), die Dauer und zeitliche Abfolge (rhythmisch, intermittierend etc.). Sie können spontan auftreten, aktionsinduziert sein, durch sensorische sowie sensible Reize oder reflektorisch ausgelöst werden.

Tics Tics treten als unwillkürliche, stereotyp-repetitive Muskelzuckungen meist von Kopf und Gesicht (z. B. Blinzeln, Räuspern, Grimassieren) und seltener als vokale Tics auf. Sie sind z. T. psychogen bedingt und bei Stress stärker ausgeprägt als bei Konzentration oder Ablenkung. Beim (Gilles-de-la-)Tourette-Syndrom mit unklarer Ätiologie, aber z. T. familiärer Häufung treten v. a. motorische Automatismen im Bereich von Gesicht, Hals und Schultern, aber auch vokale Tics auf. Die Entladungen sind durch Eigenkontrolle in gewissem Maß unterdrückbar oder zumindest zeitlich verschiebbar. Die Erkrankung beginnt meist in der Kindheit, fast immer aber vor dem 21. Lebensjahr.

Zusammenfassung • Die Untersuchung der Motorik umfasst eine Beurteilung des Gangbilds, der Feinmotorik, der Muskeltrophik, des Tonus, des Reflexstatus, der Ergebnisse der Kraftprüfung sowie der unwillkürlichen Bewegungen. • Der Muskeltonus wird durch passive, arrhythmische Bewegung des Hand-, Ellbogen-, Knie- und Hüftgelenks geprüft und kann auf den Läsionsort hinweisen. • Tics sind unwillkürliche, rasche, meist plötzlich auftretende Muskelbewegungen oder Lautäußerungen, die immer wieder in gleicher Weise auftreten.

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Reflexe Reflexe sind unbeeinflussbare Muskelkontraktionen als Antwort auf einen Stimulus. Sie ermöglichen eine objektive Beurteilung des peripheren sensorischen Systems, des ersten oder zweiten Motoneurons. Es werden Eigen- und Fremdreflexe unterschieden. Eigenreflexe (propriozeptive Reflexe, → ): Durch einen Schlag mit dem Reflexhammer auf die Muskelansatzsehne wird der Muskel kurzzeitig gedehnt. Dies reizt die Muskelspindeln und führt nach einer monosynaptischen Verschaltung im Rückenmark zu einer Kontraktion desselben Muskels. Reizaufnahme und -antwort werden vom selben Organ vermittelt. Muskeleigenreflexe (MER) sind nicht habituierbar.

Tab. 11.1

Die wichtigsten Muskeleigenreflexe mit der zugehörigen Nervenwurzel

MER

Durchführung

Antwort

Bizepssehnenreflex (BSR) C5/6

Schlag gegen den auf der Bizepssehne liegenden Untersucherfinger

Kontraktion des M. biceps brachii

Trizepssehnenreflex (TSR) C7/8

Am leicht angewinkelten Arm erfolgt der Schlag gegen die distale Trizepssehne.

Kontraktion des M. triceps brachii

Radiusperiostreflex (RPR) Brachioradialisreflex (BRR) C5/6

Schlag gegen den am distalen Radiusende liegenden Untersucherfinger

Leichte Beugebewegung des Unterarms und Supination

Trömner-Reflex C7/8 (→ )

Der Untersucher hält die entspannte Hand von dorsal an die Fingergrundgelenke und schlägt mit seinen Fingerspitzen die Fingerkuppen des Patienten an.

Beugung des Daumens und der Fingerendgelenke; bei Seitendifferenz und bei starker Ausprägung gilt dieser als unsicheres Pyramidenbahnzeichen

Knipsreflex C7/8 (→ )

Der Untersucher knipst mit seinem Daumen und Zeigefinger den Nagel des dritten oder vierten Patientenfingers.

Beugung des Daumens und der Fingerendgelenke; pathologisch nur bei Seitendifferenz

Adduktorenreflex L2–L4

Schlag auf die distale Adduktorensehne

Adduktion in der Hüfte

Patellarsehnenreflex (PSR) L3–L4

Bei leichter Flexion im Kniegelenk und Entspannung des M. quadriceps erfolgt der Schlag unterhalb der Patella auf die Sehne.

Kontraktion des M. quadriceps femoris mit Kniestreckung

Tibialis-posterior-Reflex (TPR) L5

Etwas dorsal unterhalb des Malleolus medialis wird die Sehne des M. tibialis posterior angeschlagen.

Inversion des Fußes; auslösbar nur bei hohem Reflexniveau

Achillessehnenreflex (ASR) S1–S2

Schlag auf die Achillessehne bei leicht abduziertem und gebeugtem Bein und leicht dorsalflektiertem Fuß

Plantarflexion des Fußes

Rossolimo-Reflex S1–S2 (→ )

Der Untersucher legt die Hand über die Zehen und Fußballen und schlägt mit dem Reflexhammer gegen den Ballen.

Plantarflexion der Zehen

Fremdreflexe (exterozeptive Reflexe, → ): Die Stimulierung von Rezeptoren der Haut löst nach einer polysynaptischen Verarbeitung auf Rückenmarksebene eine Muskelkontraktion aus. Reizort und Effektororgan sind nicht gleich. Bei wiederholter Auslösung ermüdet die Reflexantwort (Habituation).

Tab. 11.2

Fremdreflexe

Fremdreflex

Durchführung

Antwort

Bauchhautreflex Th6–Th12

Rasches Bestreichen der Bauchhaut mit einem Holzstäbchen von lateral nach medial in drei Etagen beim entspannt liegenden Patienten

Physiologisch: Kontraktion der ipsilateralen Muskulatur; Ausfall: Störung der Pyramidenbahn

Kremasterreflex L1/L2

Bestreichen der Oberschenkelinnenseite

Physiologisch: Hebung des ipsilateralen Hodens durch Kontraktion des M. cremaster; Ausfall: deutet auf Kauda- oder Konussyndrom

Analreflex S3–S5

Bestreichen der Perianalregion mit einem Holzstäbchen

Physiologisch: Kontraktion des Schließmuskels; pathologisch: nur bei Seitendifferenz

Glabellareflex (Orbicularis-oculiReflex)

Beklopfen der Glabella mit dem Finger

Physiologisch: erschöpflicher Lidschluss; pathologisch: bei extrapyramidalen Störungen nicht habituierbar

Eine Schädigung des ersten Motoneurons führt zu einer Steigerung, Störungen der Nervenwurzel, der peripheren Nerven oder des Muskels führen zu einer Abschwächung der Muskeleigenreflexe. Die Ausprägung der Reflexantwort zeigt eine große individuelle Variabilität. Als pathologisch gelten eine Seitendifferenz, verbreiterte Reflexzonen (Reflex wird nicht nur durch Schlag auf die Ansatzsehne, sondern auch in der unmittelbaren Umgebung ausgelöst), unerschöpfliche Kloni und Unterschiede zwischen

oberer und unterer Extremität. Kloni sind die Folge einer zentralen Läsion mit gesteigerter Reflexbereitschaft und beruhen auf einer raschen Abfolge von MER, die sich selbst unterhalten. Klinisch zeigen sie sich als rhythmische Zuckungen v. a. der Patella oder des Fußes nach Reizung der Patellar- bzw. Achillessehne (Ausführung s. u.).

Tests Muskeleigenreflexe Sie werden durch einen locker aus dem Handgelenk kommenden kräftigen Schlag mit dem Reflexhammer auf die Sehne oder den auf der Sehne aufliegenden eigenen Untersucherfinger ausgelöst. Der Patient soll hierbei die Muskulatur entspannen. Sind die Reflexe nicht sicher auslösbar, versucht man, sie zu bahnen oder die Muskelkontraktion zu fühlen. Die Reflexe der oberen Extremität werden gebahnt, indem der Patient im Moment des Sehnenanschlags die Zähne zusammenbeißt. Bei der Bahnung der Beinreflexe hakt der Patient die Finger ineinander (Jendrassik-Handgriff) und zieht die Arme kurz vor dem Hammerschlag auseinander (→ ).

Abb. 11.1 Untersuchung von Reflexen: a) Jendrassik-Handgriff; b) Prüfung des Trömner-Reflexes; c) Prüfung des Knipsreflexes; d) Prüfung des Fußklonus [L157]

Fremdreflexe Das Auslösen der Fremdreflexe erfolgt in den meisten Fällen durch Bestreichen der Haut mit einem Spatel. Die Reflexe sind grundsätzlich im Seitenvergleich zu beurteilen. Der Masseterreflex (→ ) wird zur orientierenden Einordnung der Reflexniveaus herangezogen. Kloni Getestet wird der Patellarklonus, indem man die Patella am gestreckten Bein des liegenden Patienten ruckartig nach kaudal verschiebt und in dieser Position

hält. Die Untersuchung des Fußklonus erfolgt bei leichter Beugung im Knie durch eine ruckartige Dorsalflexion des Fußes mit Verweilen in dieser Haltung.

Physiologische Reflexe Durch den Ausfall einzelner physiologischer Reflexe lassen sich Rückschlüsse auf die Höhe der Schädigung ziehen. Bei zerebraler oder spinaler Läsion fallen die auf das α-Motoneuron wirkenden hemmenden Einflüsse aus und es kommt zu einer Reflexsteigerung der MER. Die Fremdreflexe sind hingegen abgeschwächt oder erloschen, was durch gleichzeitiges Fehlen zentral stimulierender Einflüsse bedingt ist.

Pathologische Reflexe Die pathologischen Reflexe sind Fremdreflexe, die aufgrund einer zentralen Enthemmung durch eine Schädigung des ersten Motoneurons zustande kommen. So ist z. B. ein Vorkommen des Babinski-Zeichens, des Oppenheim- und Gordon-Reflexes ein Zeichen einer Pyramidenbahnschädigung im Gehirn oder auf Rückenmarksebene. Mit zunehmender Hirnschädigung beobachtet man ein Wiederauftreten längst erloschener und im Neugeborenen- sowie im Kleinkindalter physiologischer Reflexe. Zu diesen Primitivreflexen zählen der Greifreflex (→ ), der Palmomentalreflex (kräftiges Bestreichen des Daumenballens vom Handgelenk nach peripher führt zur einmaligen, gleichseitigen Kontraktion der Kinnmuskulatur) und der Saugreflex (Bestreichen der Mundspalte erzeugt Saug- und Schluckbewegungen).

Tab. 11.3

Pathologische Reflexe

Reflex

Durchführung

Antwort

BabinskiZeichen

Bestreichen der lateralen Fußsohle von der Ferse in einem Bogen zur Großzehe hin. Verwendet werden z. B. ein Hammergriff oder ein Spatel.

Physiologisch: Plantarflexion der Zehen; pathologisch: Dorsalflexion der Großzehe mit Plantarflexion der anderen Zehen. Eine ausbleibende Reflexantwort („stumme Sohle“) ist nur bei Seitendifferenz pathologisch.

OppenheimReflex

Bestreichen der Schienbeinvorderkante mit Daumen und Zeigefinger von proximal nach distal

GordonReflex

Pressen der Wadenmuskulatur

Schnauzreflex (Orbicularisoris-Reflex)

Beklopfen oberhalb der Mundwinkel

Physiologisch: nicht vorhanden; pathologisch: Vorwölben der Lippen bei Störung kortikopontiner Bahnen oder extrapyramidaler Erkrankungen

Greifreflex

Bestreichen der Handinnenfläche mit zwei Fingern

Physiologisch: keine Reaktion; pathologisch: Beugen der Finger bis hin zum kräftigen Festhalten bei Schädigung des Frontalhirns oder der Stammganglien

Zusammenfassung • Muskeleigenreflexe: Eine Dehnung der Muskelspindel führt über eine monosynaptische Verschaltung zur Kontraktion desselben Muskels. Nicht habituierbar. • Fremdreflexe: Reizort ist die Haut: als Reflexantwort kommt es zur Muskelkontraktion. Diese wird polysynaptisch verschaltet und ist habituierbar. • Physiologische Reflexe sind bei Seitendifferenz, Reflexsteigerung, verbreiterten Reflexzonen und Kloni als pathologisch zu werten.

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Sensibilität Die Anatomie der afferenten sensiblen Bahnen und die kortikale Verarbeitung werden im → dargestellt. Es werden fünf verschiedene Grundqualitäten (Schmerz, Temperatur, Vibration, Lagesinn und Berührung) unterschieden. Diese sind durch eine starke Verschaltung untereinander und eine integrative Verarbeitung auf zentraler Ebene, z. B. im Thalamus, bezüglich Qualität und Quantität aufeinander abgestimmt. So wird z. B. die Wahrnehmung von Temperaturen bei steigender Intensität auch als Schmerz empfunden. Aufgrund dieser anatomischen und funktionellen Verknüpfungen kommt es selten zu einem Ausfall isolierter Qualitäten. Vereinfachend werden die sensiblen Qualitäten in eine protopathische Sensibilität, deren Bahnen Schmerz, Temperatur und grobe Druck- bzw. Tastempfindung führen, und eine epikritische Sensibilität für Berührung, Vibration und Lageempfinden eingeteilt (Tr. spinothalamicus und Hinterstrang).

Untersuchung Die Untersuchung der einzelnen Empfindungsqualitäten erfolgt nacheinander und im Seitenvergleich. Vor Beginn der Prüfung ist es wichtig, dem Patienten den Test in einem gesunden Areal vorzuführen, um ihm zu zeigen, wie es sich „normal“ anfühlt. Die Prüfung der Wahrnehmungsqualität wird im betroffenen Gebiet oder distal begonnen und nach proximal durchgeführt, wobei der Patient die Augen geschlossen hält. Die Begrenzungen der Ausfälle werden genau dokumentiert.

Einzelne Empfindungsqualitäten Berührungsempfindung (Ästhesie) Es werden leichte Berührungsreize mit der Fingerkuppe oder einem Wattebausch gesetzt. Hypästhesie bezeichnet eine Herabsetzung und Anästhesie eine Aufhebung der Berührungsempfindung. Nach Beginn der Prüfung im gestörten Bereich (z. B. Dermatom, → , oder peripheres Versorgungsgebiet, → ) soll der Patient angeben, ob er die Berührung spürt und ob sie sich normal anfühlt. Bei Zweifel bezüglich der Angaben des Patienten kann der Untersucher die Richtung, aus der die Berührung auf das betroffene Areal gesetzt wird, und die Geschwindigkeit der Reizsetzung verändern. Bei Hyp- bzw. Anästhesie sollte sich die Begrenzung des pathologischen Gebiets kaum ändern.

Abb. 12.1 Sensible Innervationsgebiete der peripheren Nerven. Die sensible Versorgung des Rumpfs durch die Nn. intercostales ist identisch mit den Dermatomen von Th2 bis Th12. [L231]

Abb. 12.2

Segmentale Versorgung der Haut (Dermatome) [L231]

Vibrationsempfindung (Pallästhesie) Eine angeschlagene Stimmgabel (128 Hz) wird auf Knochenvorsprünge (z. B. Hallux, Malleolus, Hand- bzw. Fingergelenke, Dornfortsätze etc.) gesetzt. Auf der Stimmgabelskala wird die Amplitude der Schwingungen in Achteln zu dem Zeitpunkt abgelesen, an dem der Patient die Vibration nicht mehr wahrnimmt. Besteht Unklarheit, ob der Patient die Vibration tatsächlich spürt, kann die Stimmgabel nach Beenden des Schwingens auf den Knochenvorsprung platziert und der Patient gefragt werden, ob er eine Vibration wahrnehmen kann. Eine leichte Pallhypästhesie ist häufig nur in der Körperperipherie nachweisbar, wobei sie mit zunehmendem Schweregrad weiter in Richtung des Rumpfes messbar wird. Eine Verkürzung des Vibrationsempfindens um 1–2 Achtel im Alter liegt im Normbereich. Pathologisch ist immer ein Ausfall (Pallanästhesie). Lageempfindung (Propriozeption) / Bewegungsempfindung Der Untersucher bewegt einen Finger oder eine Zehe, die möglichst entspannt sein sollen, eine kurze Strecke rasch nach oben oder unten. Dabei werden die Gliedmaßen mit Daumen und Zeigefinger von lateral gefasst (→ ). Der Patient soll bei geschlossenen Augen den Positionswechsel angeben, nachdem ihm gezeigt wurde, wie sich „oben“ und „unten“ anfühlt.

Abb. 12.3

Prüfung des Lagesinns [L141]

Schmerzempfindung (Algesie) Diese Sinneswahrnehmung wird anhand eines spitzen Gegenstands, z. B. ein abgebrochenes Holzstäbchen, geprüft. Im gestörten Bereich beginnend, soll der Patient angeben, wann sich das Stäbchen „spitz“ anfühlt. Die Testung der Spitz-stumpf-Diskrimination erfolgt durch abwechselnde Reizsetzung mit dem stumpfen bzw. spitzen Teil des Stäbchens. Temperaturempfindung (Thermästhesie) Die Prüfung wird mit zwei Reagenzgläsern, die mit kaltem und mit heißem Wasser gefüllt sind, durchgeführt.

Komplexe sensible Leistungen Die sensiblen Empfindungswahrnehmungen sind auf zentraler Ebene stark mit den motorischen und zerebellären Systemen verschaltet. Dies ermöglicht neben der Wahrnehmung statischer Reize (z. B. Berührung) eine Wahrnehmung in Abhängigkeit von der Bewegung und verdeutlicht das enge Zusammenwirken von Sensorik und Motorik (sensomotorisches System). Es stellt eine wichtige Komponente für die räumliche Wahrnehmung dar. Zwei-Punkte-Diskrimination Das räumliche Auflösevermögen wird mithilfe eines Tastzirkels geprüft, mit dem man entweder nacheinander oder simultan Reize nebeneinandersetzt. Bei zentraler Sensibilitätsstörung werden sie als ein einzelner Reiz empfunden. Der Schwellenwert, d. h. der Abstand zwischen den beiden Reizen, ab welchen sie als zwei und nicht als ein Reiz wahrgenommen werden, ist erhöht. Physiologisch ist das räumliche Auflösevermögen am Rumpf nicht so hoch wie beispielsweise an den Fingerkuppen oder im Gesicht. Stereognosie Hierbei soll der Patient auf die Haut geschriebene Zahlen bzw. Buchstaben erkennen oder mit der Hand kleine Gegenstände (z. B. Münze, Schlüssel etc.) erfühlen. Sukzessivreiz

Dieselbe Stelle wird durch repetitive Stimulation (z. B. Zahlenschreiben auf dem Handrücken) gereizt. Liegt keine Wahrnehmungsstörung vor, kann der Patient die Figuren erkennen und benennen. Unter pathologischen Bedingungen können sie mit zunehmender Stimulationsdauer nicht mehr differenziert werden.

Klinik Eine periphere Nervenläsion kann je nach mitführenden Fasertypen an der Stelle der Läsion sowohl motorische, sensible als auch vegetative Störungen zur Folge haben. Erfolgt die Durchtrennung des Nervs peripher, fallen alle sensiblen Qualitäten im Versorgungsgebiet dieses Nervs aus. Zugleich sind auch sympathische Fasern aus dem Grenzstrang betroffen, was zu Störungen des autonomen Systems, z. B. Schweißsekretionsstörungen, führt. Daneben kommen motorische Ausfälle mit einer Schwächung der MER, Verminderung des Muskeltonus und Muskelatrophie im Verlauf vor. Eine radikuläre Sensibilitätsstörung zeigt sich klinisch durch segmental (Dermatome) angeordnete Ausfälle. Durch eine Erhöhung des spinalen Drucks (Bauchpresse, Husten etc.) können Reizsymptome wie z. B. Hyperpathie auftreten. Die Untersuchung des betroffenen Gebiets erfolgt am besten durch Prüfung der Schmerzempfindung, da sich die Schmerzfasern aus den benachbarten Dermatomen nicht so weit überlappen, wie dies bei der Berührungsempfindung der Fall ist. Somit kann das geschädigte Dermatom leichter bestimmt werden.

Zusammenfassung • Vor Untersuchung der einzelnen sensiblen Qualitäten wird dem Patienten im gesunden Areal vorgeführt, wie sich der Reiz (z. B. Wattebausch, Spitze des Holzstäbchens etc.) anfühlt. • Die Prüfung der Sensibilität erfolgt im Seitenvergleich. • Bei einer Läsion des peripheren Nervs fallen alle sensiblen Qualitäten wie auch die sympathische Versorgung im Versorgungsgebiet aus. Eine radikuläre Sensibilitätsstörung ist durch eine segmentale Anordnung der Sensibilitätsstörungen gekennzeichnet. • Die Bestimmung der Ausdehnung eines sensibilitätsgestörten Gebiets erfolgt am besten durch Prüfung der Schmerzempfindung.

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Gangbild, Koordination und Dyskinesien Eine gezielte Koordination mit flüssigen Bewegungsabläufen beruht auf einer geordneten Aktivierung agonistisch und antagonistisch wirkender Muskelgruppen. Die Beurteilung der Koordination, des Gangbilds, des Stands und der Zielbewegungen erfolgt unter Berücksichtigung sensorischer und motorischer Befunde. So ist bei Patienten mit einer Muskelschwäche oder einem Sensibilitätsverlust auch eine Störung in den Bewegungsabläufen an der betroffenen Extremität zu erwarten. Läsionen des Kleinhirns, der Stammganglien, der sensiblen Hinterstrangbahnen sowie der Vestibularorgane führen ebenfalls zu abnormer Koordination (→ ).

Stand- und Gangbild Untersuchung des Gangs Der Patient wird aufgefordert, einige Male auf und ab zu gehen. Beurteilt werden der flüssige Bewegungsablauf, die Haltung des Patienten, das Mitschwingen der Arme und die Bewegung der Beine (Absinken der Hüfte, Kniestreckung, Schrittlänge, Heben des Beins, Nachschleifen einer Extremität etc.). Meist kann man eine latente Gangataxie nur durch eine gezielte Untersuchung erkennen. Hierzu wird der Patient aufgefordert, auf einer gedachten Linie zu gehen und dabei jeweils mit der Ferse des einen Fußes die Zehen des anderen zu berühren (Seiltänzergang) oder den Blindgang ( → ) auszuführen. Eine sensitive Methode zur Prüfung einer möglichen Gangataxie ist der Hacken- bzw. Zehenspitzengang, wobei der Patient einige Schritte auf den Fersen bzw. Fußballen gehen soll.

Untersuchung des Stands Der Patient wird zunächst aufgefordert, sich aufrecht mit geschlossenen Füßen (Füße berühren sich nicht!) hinzustellen. Schwankt der Patient ungerichtet und verliert immer wieder das Gleichgewicht, liegt eine Standataxie vor. Eine abgewandelte Form dieser Prüfung ist der Romberg-Versuch (→ ). Besteht z. B. eine spinale Ataxie oder ein beidseitiger Labyrinthausfall, so nehmen das Schwanken und die Fallneigung mit geschlossenen Augen zu. Die Symptome können durch die visuelle Kontrolle kompensiert werden, was bei einer zerebellären Ataxie nicht möglich ist. Die Gang- und Standprüfungen sowie der Unterberger-Tretversuch (→ ) dienen auch der Feststellung einer Schädigung der Vestibularorgane.

Bewegungskoordination Feinmotorik Zur Prüfung der Feinmotorik wird der Patient gebeten, rasch alternierende Bewegungen durchzuführen. Somit wird die Fähigkeit einer schnellen abwechselnden Aktivierung der Agonisten und Antagonisten (Diadochokinese) getestet. Hierfür eignen sich die schnellstmögliche Supinations- und Pronationsbewegung der Hände (→ ). Der Bewegungsablauf ist bei dieser Untersuchung unregelmäßig gestört (Dysdiadochokinese), wenn z. B. eine Kleinhirnläsion, extrapyramidale Läsionen oder eine Parese vorliegen. Eine Tonuserhöhung der Muskulatur macht sich durch eine Verlangsamung der alternierenden Bewegungen (Bradydiadochokinese) bemerkbar.

Abb. 13.1

Prüfung der Diadochokinese [L141]

Ein sehr sensitiver klinischer Test, um eine Hemiparese aufzudecken, ist der sog. Armrolltest, bei dem der Patient beide Unterarme so schnell wie möglich umeinander rollen soll. Liegt eine einseitige Muskelschwäche vor, wird der gesunde Arm eher um den paretischen gedreht. Bei einer Schädigung des Kleinhirns zeigt sich neben einer Ataxie das unausgewogene Zusammenwirken von Agonisten und Antagonisten auch durch das pathologische „ReboundPhänomen“ ( → ). Der Patient soll gegen den Widerstand des Untersuchers den Arm im Ellbogengelenk flektieren, woraufhin der Untersucher den angespannten Arm plötzlich loslässt. Bei einer unauffälligen Reaktion federt der Unterarm zunächst in Richtung des Patienten. Die Bewegung wird aber rasch wieder abgefangen und der Unterarm kehrt in die Ausgangsposition zurück. Bei einer gestörten Kleinhirnfunktion werden die Antagonisten verspätet aktiviert und der Unterarm prallt gegen den Patienten.

Abb. 13.2

Untersuchung des „Rebound-Phänomens“ [L141]

Bei der Prüfung des Rebound-Phänomens sollte der Untersucher seine zweite Hand bereits in der Ausgangsposition der Untersuchung zwischen

Patientenarm und Patientenkörper positionieren, um einen möglichen Aufprall und somit Verletzungen verhindern zu können. Ein weiterer Test der Feinmotorik erfolgt durch Finger- oder Fußtippen. Der Patient führt so schnell wie möglich den Zeigefinger und den Daumen zusammen und wieder auseinander oder tippt im Sitzen jeweils einen Fuß durch Anheben des Knies so schnell wie möglich auf den Boden. Eine leichte Parese zeigt sich in einer verlangsamten Bewegung, extrapyramidale Störungen äußern sich ebenfalls durch eine Verlangsamung und eine immer kleiner werdende Amplitude der Bewegungen.

Zielbewegungen Bei der Durchführung der Zielbewegungen ist auf eine flüssige Bewegungsabfolge, Zielsicherheit, Ataxie und Intentionstremor zu achten. Eine häufig durchgeführte klinische Untersuchung ist der Finger-Nase-Versuch (FNV), bei dem der Patient mit geschlossenen Augen den Zeigefinger in einem weit ausholenden Bogen an die Nase führen soll. Eine Variante dieses Versuchs ist die abwechselnde Berührung der eigenen Nase und des Untersucherfingers (Augen offen), der ca. 50 cm vor den Patienten gehalten wird. Entsprechend gibt es für die untere Extremität den Knie-Hacke-Versuch (KHV). Dabei platziert der Patient im Liegen seine Ferse auf die Patella des anderen Beins und soll nun die Ferse entlang der Tibia nach distal gleiten. Hypermetrie, Dysmetrie und Intentionstremor sind Zeichen einer Funktionsstörung des Kleinhirns. Eine konstante Abweichung der Zielbewegung zur betroffenen Seite im BárányZeigeversuch weist auf eine Kleinhirnschädigung oder eine einseitige Vestibularisläsion hin. Bei diesem Test wird der Patient aufgefordert, erst mit geöffneten und dann mit geschlossenen Augen seinen Zeigefinger bei gestrecktem Arm von oben auf den vorgehaltenen Untersucherfinger zu setzen. Eine Möglichkeit, die Ausprägung des Tremors zu dokumentieren, ist, den Patienten zu bitten, eine Spirale auf ein Blatt Papier zu zeichnen, wobei der Stift mit Zeigefinger und Daumen am distalen Ende gehalten werden soll.

Dyskinesien Verschiedene Formen von Dyskinesien werden im → dargestellt. Im folgenden Abschnitt werden Untersuchung und Einteilung des Tremors etwas genauer erörtert. Eine Möglichkeit, die Tremorformen einzuteilen, ist nach Aktivierungsbedingungen. So unterscheidet man einen Ruhetremor von einem Aktionstremor. Dem Letztgenannten können ein Intentionstremor, Haltetremor, kinetischer Tremor, aufgabenspezifischer Tremor oder isometrischer Tremor (→ ) zugeordnet werden. Oft tritt bei verschiedenen Krankheitsbildern ein Tremor bei unterschiedlichen Aktivierungsbedingungen in Erscheinung. • Während der Anamnese kann bereits darauf geachtet werden, ob ein Ruhetremor vorliegt (z. B. Kopf oder locker im Schoß liegende Hände). Der Ruhetremor mit 4–6 Hz ist eines der Kardinalsymptome beim Parkinson-Syndrom. • Ein einfacher kinetischer Tremor lässt sich bei nicht zielgerichteten Willkürbewegungen während des gesamten Bewegungsablaufs gleich stark beobachten. • Im Unterschied dazu nimmt die Amplitude beim Intentionstremor mit zunehmender Annäherung an das Ziel zu. Beide Formen werden mithilfe der Zielbewegungsversuche (z. B. FNV) geprüft. Ein Intentionstremor findet sich bei Kleinhirnläsionen. Auch Medikamente, wie z. B. Lithium, können einen Intentionstremor auslösen. • Ein isometrischer Tremor tritt bei isometrischer Muskelaktivität auf, z. B. Faustschluss, Drücken gegen die Wand. • Der aufgabenspezifische Tremor erscheint ausschließlich bei hochspezialisierten Aktivitäten wie z. B. Schreiben, Instrument spielen, jedoch nicht bei anderen motorischen Aktivitäten. • Zur Untersuchung des Haltetremors wird der Patient gebeten, die Arme waagerecht vor sich auszustrecken und die Hände dorsal zu flektieren. Der physiologische Tremor ist ein hochfrequenter, feinschlägiger Haltetremor (8–20 Hz), der sich bei gesunden Personen nachweisen lässt. Verschiedene, meist reversible Ursachen (z. B. Stress, Kälte, Hyperthyreose, Hypoglykämie, Medikamente wie β-Sympathomimetika, trizyklische Antidepressiva etc.) führen zu einem verstärkten physiologischen Tremor. • Der essenzielle Tremor wird oft autosomal-dominant vererbt. Es zeigt sich ein Haltetremor, oft verbunden mit einem Aktionstremor. Nach Manifestation meist im Erwachsenenalter schreitet die Erkrankung i. d. R. langsam fort. Tremorfrequenz und Amplitude können variieren. Meist sind die Hände betroffen. Typischerweise tritt eine Besserung der Symptomatik nach Konsum kleiner Mengen Alkohol ein. Die Behandlung mit einem β-Blocker (Propranolol) oder mit Primidon ist Mittel der Wahl. • Der primäre orthostatische Tremor ist gekennzeichnet durch einen hochfrequenten nicht sichtbaren Tremor der Beinmuskeln im Stehen (14– 18Hz), dessen Ursache vermutlich im Hirnstamm lokalisiert ist. Eine subjektive Standunsicherheit mit Sturzneigung wird berichtet. Gehen ist meist weniger beeinträchtigt, Sitzen und Liegen unbeeinträchtigt. Der elektromyografische Nachweis der 14–18 Hz-Frequenz ist wegweisend.

Abb. 13.3

Untersuchung verschiedener Tremorarten [L141]

Zusammenfassung • Die Untersuchung des Stand- und Gangbilds umfasst eine „normale“ Gangprobe, Seiltänzergang, Hacken- bzw. Zehenspitzengang, Blindgang, Romberg-Versuch und Unterberger-Tretversuch. • Eine spinale Ataxie kann durch visuelle Kontrolle z. T. vollständig kompensiert werden, wobei sich die Symptome bei Behinderung des Sehens (z. B. Dunkelheit) verschlechtern. Die visuelle Kontrolle spielt dagegen bei einer zerebellären Ataxie keine Rolle.

14

Liquor und Lumbalpunktion Der Liquor diffundiert als Ultrafiltrat des Blutserums aus den Gefäßen der Plexus chorioidei. Diese befinden sich in den Ventrikeln und sind von einem Epithel überzogen, das bei der Filtration die Zusammensetzung des Liquors modifiziert und ihn dann sezerniert. Der Liquor fließt von den Seitenventrikeln und dem dritten Ventrikel über das Aquädukt in den vierten Ventrikel, wo er in den äußeren Liquorraum (Subarachnoidalraum) gelangt. Er wird über die Arachnoidalzotten im Schädel- und Wirbelsäulenbereich sowie über Gefäße und Lymphbahnen an den Spinalnervaustrittsstellen in das venöse System aufgenommen. Am Tag werden ca. 500 ml Liquor produziert. Das Volumen in den Liquorräumen beträgt 110–160 ml. Die Zusammensetzung des Liquors ist → zu entnehmen.

Tab. 14.1

Normalbefunde des Liquors

Farbe

Wasserklar

Zellzahl

< 5 Zellen / μl

Differenzialzellbild

Ca. ⅔ Lymphozyten, ca. ⅓ Monozyten

Eiweiß

Gesamteiweiß: 200–450 mg / l, Albumin: ≤ 340 mg / l, IgG: ≤ 40 mg / l, IgA: ≤ 6 mg / l, IgM: ≤ 1 mg / l

Glukose

Ca. 60 % des Blutserumwerts, 40–70 mg / dl, 2,7–4,1 mmol / l

Laktat

10–20 mg / dl

Liquordruck

< 200 mmH 2 O

Lumbalpunktion Indikationen Durch die Liquoruntersuchung können Erkrankungen des ZNS, der Meningen und der Nervenwurzeln diagnostiziert werden. Die Lumbalpunktion wird durchgeführt, wenn der Verdacht auf einen entzündlichen Prozess (z. B. Meningitis, Enzephalitis, MS, Polyradikulitis, Lyme-Borreliose, Neurolues) besteht. Auch zum Nachweis einer Subarachnoidalblutung oder eines malignen Prozesses (z. B. Meningeosis carcinomatosa, Hirntumoren mit Anschluss an das Liquorsystem) kann die Liquordiagnostik herangezogen werden. Bei einer idiopathischen intrakraniellen Hypertension (Pseudotumor cerebri) wird die Lumbalpunktion zur Diagnostik und ggf. wiederholt zur Therapie durchgeführt.

Kontraindikationen Erhöhter Hirndruck Absolute Kontraindikation bei Gefahr von Einklemmungssyndromen (z. B. Einklemmung des Hirnstamms im Foramen magnum bei Raumforderungen in der hinteren Schädelgrube). Eine Spiegelung des Augenfundus auf eine Stauungspapille hin sollte durchgeführt werden. Diese kann sich bei einer Hirndrucksteigerung nach einigen Tagen ausbilden, aber auch ausbleiben. Besteht der klinische Verdacht, wird daher die Anfertigung eines CCT oder MRT empfohlen. Blutungsneigung Eine Untersuchung der Gerinnungsparameter im venösen Blut vor der Lumbalpunktion sollte als Routine durchgeführt werden. Bei antikoagulierten Patienten (Quick 50 %, PTT 40 s) oder einer Thrombozytenkonzentration von weniger als 50 000 / μl ist die Indikation zur Liquorpunktion streng zu stellen. Eine Thrombozytenzahl unter 20 000 / μl stellt eine absolute Kontraindikation dar. Entzündung Entzündliche Prozesse im Bereich der Punktionsstelle stellen eine Kontraindikation dar.

Durchführung Das Ziel bei der Lagerung des Patienten ist zum einen die Entspannung der Rückenmuskulatur, zum anderen ein bestmöglicher Ausgleich der Lendenlordose, wobei durch ein Auseinanderweichen der Dornfortsätze ein besserer Zugang zum Rückenmarkskanal geschaffen wird. Die Lumbalpunktion kann im Liegen in Embryonalhaltung (angezogene Beine und Arme) des Patienten (→ ) oder im Sitzen, z. B. an der Bettkante, ausgeführt werden. In beiden Positionen beugt der Patient seinen Kopf und Rücken so weit wie möglich nach vorn. Die Punktionsstelle liegt i. d. R. zwischen LWK 3 / 4 oder 4 / 5 und wird durch Palpation des Zwischenwirbelraums an der Kreuzungsstelle einer geraden Verbindungslinie zwischen den Beckenkämmen mit der Wirbelsäule ermittelt. Bestehen eitrige oder tumoröse Prozesse an der lumbalen Punktionsstelle – was gegen eine Manipulation in diesem Bereich spricht – , kann auch subokzipital (zwischen Okzipitalschuppe und HWK 2) Liquor gewonnen werden. Dieser Eingriff ist mit einem höheren Komplikationsrisiko verbunden und wird nur in Ausnahmefällen unter radiologischer Kontrolle durchgeführt.

Abb. 14.1

Lagerung des Patienten zur Lumbalpunktion im Liegen [L106]

Die Punktion erfolgt unter sterilen Bedingungen nach sorgfältiger Hautdesinfektion. An der vorgesehenen Punktionsstelle in der Mittellinie wird ggf. ein Lokalanästhetikum intrakutan injiziert, wobei eine Punktion des Spinalraums unbedingt vermieden werden soll. Anschließend wird eine atraumatische Liquornadel mit Mandrin und Sprotte oder ggf. eine traumatische Punktionsnadel vorgeschoben, bis das straffe Lig. interspinale und der leichte Widerstand der Dura überwunden sind. Zieht man nun den Mandrin der Liquornadel heraus, kann der Liquor langsam abtropfen (2–3 ml pro Röhrchen). Ist der Versuch nicht erfolgreich, wird der Mandrin wieder eingeführt und weiter vorgeschoben oder in vertikaler Richtung unter kurzem Zurückziehen neu platziert. Berührt die Nadel bei der Punktion eine Wurzel, kann der Patient einen einschießenden elektrisierenden Schmerz z. B. in das Bein oder Gesäß verspüren. Hält dieser an, wird durch leichtes Zurückziehen und neues Platzieren der Nadel der Kontakt gelöst. Liquordruck und -passage werden mittels einer Lumbalpunktion im Liegen geprüft, wobei durch Anschließen eines sterilen Steigrohrs der Druck in mmH 2 O abgelesen werden kann. Durch Betätigung der Bauchpresse kommt es bei freier Liquorpassage zu einem Druckanstieg in diesem Mess-System.

Komplikationen Die häufigste Komplikation (ca. 5 % der Fälle) sind postpunktionelle Kopfschmerzen, die lageabhängig sind und sich beim Aufrichten verschlimmern und im Liegen bessern. Sie beruhen vermutlich auf einem Liquorunterdruck durch Liquorleck nach der Punktion. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten postpunktioneller Kopfschmerzen wird reduziert durch die Verwendung von atraumatischen Punktionsnadeln und bei paralleler Position des Nadelspitzenschliffs zum kraniokaudalen Verlauf der Ligamentumfasern. Weiterhin spielen u. a. das Alter (jung > alt) und der BMI (schlank > adipös) für die Häufigkeit eine Rolle. Sie können nach 1–2 Tagen auftreten, mit Übelkeit und Erbrechen einhergehen und remittieren meist spontan nach wenigen Tagen. Medikamentös kann die Einnahme von Koffein oder Theophyllin hilfreich sein. Bei Persistenz kann eine epidurale Eigenblutinjektion zum Verschluss des Lecks angewandt werden. Weitere seltene Komplikationen sind u. a. Nervenwurzelreizungen oder -verletzung, Blutung, lokale Infektion, Meningitis, Parese.

Liquoruntersuchung Aussehen Unauffälliger Liquor ist wasserklar. Eine punktionsbedingte Blutung verfärbt den Liquor meist nur in den ersten abgenommenen Proben, danach wird er im Gegensatz zu einer Blutung in den Liquorräumen (z. B. SAB; massenhaft Erythrozyten, Erythrophagen und Siderophagen im Liquor) rasch wieder klar. Nach Sedimentation der Zellen (Zentrifuge) ist der Überstand bei Blutung in den Liquorraum hämolysebedingt xanthochrom, bei punktionsbedingter Blutung klar. Weitere Ursachen für einen xanthochromen Liquor können auch ein Ikterus und eine hohe Eiweißkonzentration sein. Zellen Die Bestimmung der Zellzahl erfolgt in der Fuchs-Rosenthal-Kammer sofort nach der Punktion und spätestens innerhalb einer Stunde, wobei Erythrozyten nicht mitgezählt werden. Bei Verdacht auf eine bakterielle Meningitis, die einen trüben Liquor aufweist, sollte der direkte Erregernachweis mit einer GramFärbung versucht werden. Für eine akute bakterielle Infektion spricht auch eine Vermehrung der neutrophilen Granulozyten (oft ≥ 800 / ml). Einer Leukozytose können auch maligne Prozesse, Infektionen und systemische Entzündungen (z. B. Sarkoidose) zugrunde liegen. Ein lymphomonozytäres Zellbild findet sich bei mykotischer oder akuter viraler Meningitis oder Meningoenzephalitis, einer anbehandelten bakteriellen Meningitis, maligner Infiltration der Meningen, chronischen Entzündungen, chronischen Meningitiden, eine Enzephalitis und tuberkulöse Meningitis gehen i. d. R. mit einer Lymphozytose einher. Glukose Die Konzentration im Liquor beträgt ca. 60 % des Serumwerts. Sie ist somit abhängig von der Blutglukosekonzentration und sollte immer im Vergleich bewertet werden. Bakterielle oder mykotische Infektionen des ZNS führen zu pathologisch erniedrigten Werten im Liquor. Laktat Als Endprodukt des anaeroben Glukoseabbaus wird im ZNS Laktat produziert. Eine Erhöhung findet sich bei entzündlichen Prozessen (bakteriell, mykotisch, Meningoenzephalopathien) und nach einem Schlaganfall. Protein Die Erhöhung des Eiweißgehalts im Liquor ist krankheitsunspezifisch und kann durch eine Änderung der Permeabilität der Blut-Liquor-Schranke, vermehrte Immunglobulinproduktion außerhalb des ZNS und daraus folgende Konzentrationsangleichung im Liquor oder autochthone Immunglobulinproduktion bedingt sein. Die meisten Erkrankungen, die eine Erhöhung der Zellzahl im Liquor verursachen, bewirken auch eine Steigerung des Gesamteiweißgehalts. Entzündliche ZNS-Veränderungen führen zu einer vermehrten IgG-Produktion. Mithilfe des Delpech-Lichtblau-Quotienten

Q=

I g G [ L i q u o r ] × A l b u min [ S e r u m ] I g G [ S e r u m ] × A l b u min [ L i q u o r ]

Q=IgG[Liquor]×Alb

u min [ S e r u m ] I g G [ S e r u m ] × A l b u min [ L i q u o r ]

wird eine intrathekale IgG-Produktion (Q = > 0,7) von einer Bildung außerhalb des ZNS (Q = < 0,7) unterschieden. Auf eine Blut-Liquor-Schrankenstörung (z. B. Meningitis, Hirntumor, Liquorabflussbehinderung, Schlaganfall) weist ein hoher Albuminquotient (Liquor / Serum) hin. Das Reiber-Felgenhauer-Schema ( → ) wird zur Unterscheidung einer Blut-Liquor-Schrankenstörung und / oder intrathekalen IgG-Produktion herangezogen. Oligoklonale Banden in der Elektrophorese beruhen auf IgG-Klonen weniger B-Zellen und können im Blut und im Liquor nachgewiesen werden. Sind die Banden nur im Liquor auffindbar, ist dies ein sehr sensitives, jedoch unspezifisches Zeichen für eine Immunreaktion des ZNS (z. B. MS, Entzündung, Neoplasien).

Abb. 14.2 Liquor-Serum-Quotienten-Schema nach Reiber und Felgenhauer. A: Normalbereich; B: Schrankenstörung ohne intrathekale IgGProduktion; C: Schrankenstörung mit intrathekaler IgG-Produktion; D: intrathekale IgG-Produktion ohne Schrankenstörung; E: Werte in diesem Bereich kommen nicht vor oder beruhen auf Fehlern bei der Blutuntersuchung. [L106]

PCR Mithilfe der Polymerase-Kettenreaktion ist der direkte Nachweis eines Erregers möglich. Diese Methode wird bei schwer zu diagnostizierenden

erregerbedingten Myelo- und Enzephalopathien (z. B. M. tuberculosis, Borrelia burgdorferi , HSV) verwendet.

Zusammenfassung • Liquordiagnostik wird u. a. bei Verdacht auf entzündliche Prozesse des ZNS, Meningeosis carcinomatosa und SAB durchgeführt. • Die Punktionsstelle befindet sich auf Höhe der Beckenkämme (LWK 4/5 oder LWK 3/4). • Postpunktionelle lageabhängige Kopfschmerzen, die vermutlich auf einen Liquorunterdruck zurückzuführen sind, stellen die häufigste Komplikation dar. • Eine Erhöhung des Eiweißgehalts im Liquor beruht auf einer Permeabilitätsstörung der Blut-Liquor-Schranke, einer intrathekalen Immunglobulinproduktion oder einer vermehrten Immunglobulinsynthese außerhalb des ZNS.

15

Bildgebende Verfahren Computertomografie (CT) Die Computertomografie gehört (ebenso wie die MRT) zu den Schichtbildverfahren (Standard: 8 mm dicke transversale Aufnahmen), wodurch Weichteile und Knochenstrukturen bestimmter Körperschichten dargestellt werden können. Die Technik beruht auf der digitalen Messung von Absorptionswerten der Röntgenstrahlung. Die jeweiligen Messwerte entsprechen der unterschiedlichen Dichte verschiedener Gewebe, die in Hounsfield-Einheiten (HE) angegeben wird. Je höher die Dichte ist, desto heller erscheint die Struktur (z. B. Knochen [hyperdens, > 500 HE] = weiß, Liquor [hypodens, 10 HE] = schwarz; → ).

Abb. 15.1

Normalbefunde: a) T1-gewichtetes MRT koronar; b) T1-gewichtetes MRT sagittal; c) CCT [E283]

Ein großer Vorteil ist die digitalisierte Aufzeichnung der Messungen, wodurch eine nachträgliche Bearbeitung mit Rekonstruktionen möglich wird. Die CT ist billiger als die MRT und die häufigste momentan durchgeführte Bildgebung zur Darstellung hirnorganischer Prozesse. Besonders zur Darstellung von Knochenstrukturen ist die CT eine sehr sensible und aussagekräftige Methode. Als diagnostisches Mittel der Wahl wird sie zum Nachweis einer akuten intrakraniellen Blutung (hyperdens) herangezogen. Des Weiteren nimmt sie in der Diagnostik eines vermuteten Bandscheibenvorfalls einen wichtigen Stellenwert ein. Hirntumoren werden ab einer Größe von ca. 2 cm in mehr als 90 % der Fälle nachgewiesen. Atrophische, verkalkende und entzündliche Prozesse sind neben einem Hirnödem oder Hydrozephalus weitere Indikationen zur Durchführung einer CT. Mit der Gabe von Kontrastmittel (KM; hyperdens) erhöhen sich Sensitivität und Spezifität. So speichern z. B. frische Infarkte, Entzündungsherde und Tumoren KM und eine Schädigung der Blut-Hirn-Schranke äußert sich durch dessen Übertritt in das Hirngewebe. Eine ringförmige Speicherung ist bei einem Hirnabszess (scharf begrenzte Umrandung, → ), bei Metastasen (unregelmäßige Umrandung) und bei einem Gliom zu beobachten. Auch die Gefäße können mittels CT dargestellt werden.

Abb. 15.2

MRT-Bild eines Hirnabszesses. Nach Kontrastmittelgabe stellt sich eine ringförmige KM-Anreicherung dar. [G183]

Magnetresonanztomografie (MRT) Die Magnetresonanztomografie (Kernspintomografie, Magnetic Resonance Imaging, MRI) ist ein bildgebendes Verfahren ohne Einsatz von Röntgenstrahlen. Diese Messtechnik verwendet ein starkes Magnetfeld, um die im Raum unterschiedlich ausgerichteten Protonen von Wasserstoffkernen entsprechend gleichsinnig auszurichten. Anschließend wird ihnen in diesem Zustand mittels Radiowellen Energie zugeführt (Anregungsimpuls), was dazu führt, dass sich die Protonen nun energiereicher gegen das Magnetfeld ausrichten. Dann wird der Anregungsimpuls ausgeschaltet und die Protonen fallen in ihre ursprüngliche Position unter Abgabe der Energie zurück. Diese Energiefreisetzung wird als MRT-Signal mit einer Radiospule aufgefangen und zu einem Bildsignal umgerechnet. Die Zeit, welche die Protonen benötigen, um von der angeregten Stufe in die Ausgangsposition zurückzufallen, ist von der Gewebeart abhängig und wird als T1- bzw. T2-Relaxationszeit angegeben. Werden die Bilder nach T1 oder T2 gewichtet, erscheinen die jeweiligen Gewebestrukturen in unterschiedlichen Graustufen (→ , → ), wobei die Signalintensität neben den Relaxationszeiten auch von der Protonendichte abhängt. Die Schnittebene ist nicht an die transversale Richtung gebunden, sondern kann in jede erwünschte Richtung gelegt werden.

Tab. 15.1

Darstellung von Gewebearten im T1- bzw. T2-gewichteten MRT

Gewebe

T1

T2

Liquor

Dunkel

Hell

Hirnrinde

Dunkel

Hell

Hirnmark

Hell

Dunkel

Fett

Hell

Intermediär bis dunkel

Knochen und Verkalkungen haben eine geringe Protonendichte und erscheinen dunkel. Durch die artefaktfreie Darstellung und bessere Kontrastdiskriminierung ist die MRT der CT in der Abbildung von Weichteilen überlegen. Somit ist ihre Sensitivität zum Nachweis von Tumoren in Gehirn und Rückenmark sehr hoch und sie sollte bei klinischem Tumorverdacht, aber unauffälliger CT immer durchgeführt werden. Der Nachweis disseminierter Prozesse (z. B. MS) und eine sehr frühe Darstellung ischämischer Infarkte (bereits in den ersten 60 min) sind möglich. Neben der T1- und T2-gewichteten MRT ist auch die FLAIR-Aufnahme zu erwähnen, die sich wie ein T2-MRT darstellt mit Unterdrückung des Liquorsignals (Liquor = hypointens, dunkel). Das FLAIR-MRT ist eine sehr sensitive Methode, um entzündliche Prozesse nachzuweisen. Diese stellen sich stark hyperintens (hell) dar. Analog zur CT kann sich nach KM-Gabe (Gadolinium) eine Schädigung der Blut-Hirn-Schranke zeigen. Kontraindikationen sind implantierte Schrittmacher oder magnetische Fremdkörper im Körper.

Angiografie Die Angiografie ist der Standard zur Darstellung extra- und intrakranieller Gefäße bei Verdacht auf Strukturänderungen, wie z. B. Aneurysmen, Gefäßstenosen, Thrombosen, sowie zur Darstellung von Tumorgefäßen. In der Regel wird nach der Punktion der A. femoralis ein Katheter bis in die von der Aorta abgehenden gewünschten Gefäße vorgeschoben und ein wasserlösliches Kontrastmittel appliziert. In der konventionellen Technik wird das Angiogramm durch Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen angefertigt. Bei der digitalen Subtraktionsangiografie(DSA) führt man zunächst eine Nativaufnahme ohne Kontrastmittel durch. Nach der KM-Gabe stellen sich in der Durchleuchtung die Gefäße dar. Von den entstehenden Bildern, die sich durch den Blutfluss ständig ändern, wird die Nativaufnahme in einem digitalen Verfahren subtrahiert, sodass gleich bleibende Strukturen wie z. B. Knochen ausgelöscht werden und schließlich nur der Gefäßverlauf ohne Überlagerung zu sehen ist (→ ). Die Angiografie in CT- oder MRT-Technik ist ebenfalls möglich, wobei im MRT (kein Kontrastmitteleinsatz) der Blutfluss und nicht das Gefäßlumen selbst dargestellt wird und kleine Gefäße der Bildgebung entgehen. (Vorteil: hier keine Punktion der A. femoralis, sondern i. v. Gabe möglich!)

Abb. 15.3

Digitale Subtraktionsangiografie der A. carotis, Normalbefund [M500]

Doppler- und Duplex-Sonografie Mit der Doppler-Sonografie kann die Blutflussgeschwindigkeit in den extrakraniellen und den großen intrakraniellen Gefäßen semiquantitativ gemessen werden. Durch eine lokal begrenzte Erhöhung der Flussgeschwindigkeit bzw. durch eine Flussumkehr werden Rückschlüsse auf Stenosen gezogen. Zudem ist es im Duplex möglich, Gewebeveränderungen der Arterie (z. B. Plaque) auszumachen.

Emissionscomputertomografie Zu diesem Verfahren werden die Single-Photon-Emissions-Computertomografie (SPECT) und die Positronenemissionstomografie (PET) gezählt. Mit radioaktiv markierten Substanzen, die entweder Positronen oder Gammastrahlen emittieren und sich an Stellen ihrer Metabolisierung oder gesteigerter Durchblutung anreichern, kann die Funktionsleistung des ZNS dargestellt werden. So kann man hypo- bzw. hyperperfundierte Regionen (z. B. Ischämien, Hirntumoren, Angiome) im SPECT nach einer intravenösen Applikation z. B. von 99m Tc genauer abgrenzen, als dies makroskopisch möglich wäre. Im PET werden mithilfe von Isotopen wie 18 F-Fluordesoxyglucose (FDG) oder C 11 -Methionin Stoffwechselstörungen, beispielsweise im Rahmen epileptogener Foci (z. B. Narben), zur Differenzierung von Basalganglienerkrankungen (z. B. Morbus Parkinson, MSA) oder von demenziellen Syndromen (z. B. AlzheimerKrankheit) dargestellt.

Röntgennativdiagnostik Röntgenaufnahmen von Schädel und Wirbelsäule nehmen seit der Einführung der Schnittbildverfahren nur noch eine untergeordnete Rolle ein. Pathologische Veränderungen des Gehirns und des Rückenmarks stellen sich nur indirekt, z. B. durch pathologische Verkalkungen (Gefäße, Meningeom), dar. Indikationen zur Röntgenaufnahme des Schädels sind z. B. der Verdacht auf einen „Schrotschussschädel“ bei Plasmozytom, Aufnahme der Nasennebenhöhlen bei chronischer Sinusitis, Frakturen des Schädels können auch dargestellt werden, ein CT ist jedoch sensitiver. Die Röntgendiagnostik der Wirbelsäule wird zum Ausschluss knöcherner Veränderungen (z. B. Keilwirbel), zur Beurteilung des Dens axis und zum

Nachweis von degenerativen Veränderungen (z. B. Spondylolisthesis) durchgeführt.

Zusammenfassung • Die CT ist das häufigste durchgeführte bildgebende Verfahren zur Darstellung zerebraler oder spinaler Prozesse. • Die MRT ist der CT in der Abbildung von Weichteilen durch eine bessere Kontrastdifferenzierung überlegen. • Die SPECT wird bevorzugt in der Diagnostik von Durchblutungsstörungen, die PET zur Darstellung metabolischer Hirnfunktionen eingesetzt.

16

EEG und evozierte Potenziale Elektroenzephalografie (EEG) Mit dem EEG wird die elektrische Aktivität der Hirnrinde mittels Oberflächenelektroden von der Kopfhaut abgeleitet. Nach einem standardisierten Schema (10–20-System) werden die Elektroden an festgelegten Punkten des Schädels angebracht und nach zwei Methoden miteinander verschaltet (→ ):

Abb. 16.1

Elektrodenposition nach dem internationalen 10–20-System [L106]

Bipolare Ableitung Hierbei werden elektrische Potenzialschwankungen zwischen zwei benachbarten Elektroden gemessen. Umschriebene Herde sind mit dieser Technik genauer auszumachen und die Ableitung ist artefaktfreier. Jedoch beeinflusst der Elektrodenabstand die Kurvenform. Die Amplitude der Ausschläge hat nur bedingte Aussagekraft. Unipolare Ableitung Es wird eine Referenzelektrode festgelegt (i. d. R: Vertexelektrode), von der die Potenzialdifferenzen zu allen Elektroden derselben Seite gemessen werden. Das Ausmaß der Aktivität wird durch die Amplitudengröße repräsentiert. Die Elektrodenabstände fallen nicht sehr ins Gewicht. Diese Form der Ableitung ist artefaktreicher. Die registrierte elektrische Aktivität entspricht (ähnlich wie beim EKG) Summenpotenzialen bei Entladungen großer Neuronenverbände. Beurteilt werden die Amplitude, Frequenz, Lokalisation (Herde), die Form und spezielle Muster der EEG-Aktivität. Verschiedene physiologische EEG-Graphoelemente werden je nach Wachheitsgrad unterschieden (→ ): • α-Wellen (8–12 Hz, Amplitude 20–100 μV): wacher, entspannter Erwachsener mit geschlossenen Augen; regelmäßiger Grundrhythmus mit stärkster Ausprägung okzipital und z. T. parietotemporal. Beim Augenöffnen (Berger-Effekt, Arousal-Reaktion) oder durch geistige Tätigkeit wird die α-Aktivität blockiert und von einem β-Wellen-Muster abgelöst. • β-Wellen (13–30 Hz): wacher Erwachsener mit geöffneten Augen und bei geistiger Tätigkeit; v. a. im frontalen Bereich; kleinere Amplitude als αWellen; häufig gruppiertes oder spindelförmiges Auftreten.Unter Medikamenteneinfluss (z. B. Tranquilizer, Barbiturate) wird die β-Aktivität nicht durch Augenschluss unterbrochen; bei ca. 10 % der Bevölkerung besteht β-Dauerrhythmus. • θ-Wellen (4–7 Hz): Bei starker Müdigkeit oder im Einschlaf-stadium sind im β-Grundrhythmus langsamere Theta-Wellen eingelagert. • δ-Wellen (0,5–3 Hz): Auftreten im Tiefschlaf

Abb. 16.2

Beschreibung verschiedener EEG-Muster [L106]

Im EEG von Neugeborenen zeigen sich sehr langsame und unregelmäßige Wellen. Erst gegen Ende der Pubertät ist das EEG vollständig ausgereift.

Sonderformen Schlaf-EEG Durchführung in speziell hierfür eingerichteten Schlaflaboren, wobei neben der EEG-Ableitung im Schlaf weitere Parameter wie z. B. Augenbewegungen (EOG), Muskelaktivität (EMG), O 2 -Partialdruck, EKG u. a. aufgezeichnet werden (Polysomnografie). Langzeit-EEG Ein tragbarer Rekorder ermöglicht eine kontinuierliche Aufzeichnung des EEG. Provokationsmethoden Dazu werden in der Epilepsiediagnostik Hyperventilation, Schlafentzug und Photostimulation zum Nachweis von triggernden Herden eingesetzt. Durch eine 3–4 min andauernde Mehratmung entsteht eine respiratorische Alkalose, welche die Reizschwelle von Neuronen herabsetzt. Seitenunterschiede im EEG und Auftreten eindeutiger epilepsietypischer Potenziale werden als pathologisch bewertet. Die Photostimulation wird als Flickerlichtreizung mit einem Stroboskop in ansteigender Frequenz mit bis zu 25 Blitzen in der Sekunde durchgeführt. Hierbei können im EEG bilateral generalisierte Spikes oder Spike-WaveKomplexe entstehen, die als Hinweis auf eine familiär gehäuft auftretende Photosensibilität aufgefasst werden. Schlafentzug dient ebenfalls der Aktivierung von Herden, die im anschließenden Schlaf-EEG registriert werden können.

Indikation Besonders in der Diagnostik epileptischer Krampfanfälle (→ ) und in der Kontrolle einer medikamentösen Therapie spielt das EEG eine bedeutende Rolle. Es wird zur Beurteilung und Dokumentation von Vigilanzstörungen (z. B. nach Schädel-Hirn-Trauma), Bewusstseinsstörungen und Koma herangezogen sowie in der Hirntoddiagnostik eingesetzt. In der Schlafdiagnostik ist die EEG-Kontrolle entscheidend. Auch Anzeichen für diffuse oder umschriebene hirnorganische Prozesse wie z. B. Enzephalitis, Intoxikation, Stoffwechselstörung etc. stellen eine Indikation zur Durchführung eines EEG dar.

Auswertung Das EEG wird nach folgenden Gesichtspunkten beurteilt: Vorliegen epilepsietypischer Potenziale, besondere Muster, Grundrhythmusveränderungen kontinuierlich oder intermittierend, generalisiert oder fokal. Bei etwa einem Drittel der Patienten mit Epilepsie ist das EEG im Intervall unauffällig. Andererseits kann man bei Vorliegen epilepsietypischer Muster im EEG ohne klinische Symptome (ca. 8–10 % der Bevölkerung) nicht die Diagnose einer Epilepsie stellen. Bei Verdacht auf epileptische Anfälle sollte neben dem normalen EEG immer ein Provokations-EEG (s. o.) durchgeführt werden. Epilepsietypische Graphoelemente (→ ) sind z. B. Spikes, Spike-WaveKomplexe, Polyspike-Wave-Potenziale, Sharp Waves und eine Hypsarrhythmie (bei West-Syndrom). Eine diffuse Verlangsamung des Grundrhythmus (≤ 8 Hz) bei einem wachen Patienten ist pathologisch und findet sich je nach Ausprägung dieser Allgemeinveränderung bei Intoxikationen, Hirndrucksteigerung, Sopor, Koma, Enzephalitis u. a. Liegt ein fokaler pathologischer Prozess vor (z. B. Hirntumor), zeigen sich Dysrhythmien, eine umschriebene Verlangsamung bzw. eine Abflachung des α-Grundrhythmus über der betroffenen Hirnregion. Metabolische Entgleisungen wie z. B. bei Urämie oder einem hepatischen Koma können sich im EEG durch triphasische Wellen äußern. Ein typischer Befund bei einer Herpes-Enzephalitis sind die sog. Radermecker-Komplexe (periodische Komplexe aus steilen und langsamen Wellen) oder eine δ-Aktivität, die bereits im frühen Krankheitsstadium über dem beteiligten Temporallappen abgeleitet werden kann. Die Radermecker-Komplexe treten auch bei über 80 % der Patienten mit Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung bitemporal auf. Viele weitere Erkrankungen mit hirnorganischer Beteiligung gehen mit unspezifischen pathologischen EEG-Veränderungen einher.

Evozierte Potenziale Mithilfe der evozierten Potenziale können die Funktionen verschiedener Reizleitungsbahnen (visuell, akustisch, somatosensibel, motorisch) isoliert beurteilt und Störungen aufgedeckt werden. Visuell evozierte Potenziale (VEP) Rasche rhythmische Änderung der Lichtintensität, z. B. durch Kontrastumkehr eines Schachbrettmusters oder durch Flickerlicht, führt zu Reizung der Sehrinde. Die Stimulation und Aufzeichnung wird für jedes Auge getrennt durchgeführt und die Reizantwort mit Oberflächenelektroden okzipital registriert. Die VEP werden in der Diagnostik und Verlaufskontrolle der Retrobulbärneuritis bei MS eingesetzt. Schädigungen der gesamten Sehbahn stellen eine Indikation zur Durchführung von VEP dar. Akustisch evozierte Potenziale (AEP) Es werden akustische Reize (z. B. Klicklaute) über einen Kopfhörer in jedes Ohr einzeln gegeben. Die Ableitung der fünfgipfligen Antwortpotenziale erfolgt über dem Mastoid, wobei die Gipfel der einzelnen Abschnitte der Hörbahn zugeordnet werden können. AEP werden in der Diagnostik von Kleinhirnbrückenwinkeltumoren, Akustikusneurinom, Hirnstammprozessen, zur objektiven Hörprüfung sowie zur Differenzierung zwischen Schallleitungsund -empfindungsstörung, in der Verlaufskontrolle komatöser Patienten und in der Hirntoddiagnostik eingesetzt. Somatosensorisch evozierte Potenziale (SSP) Elektrische Reize werden auf die Haut gesetzt oder gemischte periphere Nervenstämme (z. B. N. medianus, N. tibialis) stimuliert. Der kontralaterale Gyrus postcentralis sowie die Wirbelsäule sind Ableitungsorte. SSP werden u. a. zur objektiven Prüfung von Sensibilitätsstörungen, z. B. bei Schädigung der Hinterstrangbahnen oder raumfordernden Rückenmarksprozessen, und zur Lokalisation peripherer Nervenläsionen herangezogen. Motorisch evozierte Potenziale (MEP) Mit einem elektrischen Leiter (z. B. Magnetspule) erzeugt der Untersucher durch kurzzeitigen Stromfluss ein magnetisches Feld, das wiederum Aktionspotenziale in den Nervenfasern hervorruft, die weitergeleitet werden. MEP werden bei Verdacht auf Störungen der Pyramidenbahn, Schädigung des ersten bzw. zweiten Neurons u. a. durchgeführt.

Zusammenfassung • In der Diagnostik und Therapiekontrolle epileptischer Anfälle spielt das EEG eine entscheidende Rolle. • Häufig ist das EEG bei Epilepsiepatienten im Intervall unauffällig, kann aber unter Provokation (z. B. Schlafentzug) epilepsietypische Graphoelemente (z. B. Spikes, Spike-Wave-Komplexe, Polyspike-Wave-Potenziale, Sharp Waves) zeigen. • Mit evozierten Potenzialen kann man die Reizleitung von der Peripherie zum ZNS verschiedener Systeme (visuell, akustisch, motorisch, somatosensorisch) isoliert prüfen.

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Elektroneurografie und Elektromyografie Elektroneurografie Die Elektroneurografie dient der Ableitung motorischer und sensibler Nervenleitgeschwindigkeiten (NLG), die mit Oberflächenelektroden registriert werden. Somit liegen ausgeprägte Unterschiede je nach untersuchtem Nerv und selbst in den einzelnen Abschnitten im Nervenverlauf vor. Die Untersuchung sollte demnach genau nach standardisierten Messverfahren erfolgen. Zur Beurteilung der NLG gibt es für die jeweiligen Nerven Normwerttabellen. Da die Leitungsgeschwindigkeit mit dem Alter abnimmt und auch von der Temperatur abhängig ist, sollten die gemessenen Werte mit Vorsicht bewertet werden.

Durchführung Im Prinzip wird durch eine Oberflächenelektrode ein überschwelliger Reiz gesetzt. Eine weitere Elektrode (Ableitelektrode) registriert das Eintreffen des Aktionspotenzials an ihrem Ort. Es wird die Zeitdifferenz zwischen Stimulus und Ableitung gemessen, woraus sich die NLG berechnen lässt. Außerdem wird die Amplitude der Reizantwort erfasst. Motorische NLG Der Reiz wird an mindestens zwei Stellen im Nervenverlauf gesetzt und über dem Erfolgsmuskel abgeleitet. Die Reizstärke ist dabei so zu wählen, dass alle Fasern des Nervs gleichzeitig erregt werden und somit das stärkste mögliche Muskelsummenaktionspotenzial (MSAP) mit der größtmöglichen Amplitudenhöhe abgeleitet werden kann. Sensible NLG Das sensible Nervenaktionspotenzial kann orthodrom (entsprechend der physiologischen Leitungsrichtung) und antidrom (entgegen der physiologischen Leitungsrichtung) bestimmt werden. Die Stimulusstärke muss so gewählt werden, dass sie gerade noch unter der Reizschwelle für eine motorische Antwort liegt.

Weitere Ableitungen F-Welle Setzt man einen Reiz an einen peripheren motorischen Nerv, wird das Aktionspotenzial zum einen in Richtung Muskel (orthodrom) und zum anderen in Richtung Rückenmark (antidrom) geleitet. Der eintreffende Reiz löst in der Vorderhornzelle erneut ein Aktionspotenzial aus, das wieder zum Muskel zurückgeleitet und hier mit einer Latenz zum vorangegangenen Reiz als F-Welle registriert wird. Deren Amplitude ist niedriger und in manchen Fällen gar nicht nachweisbar. Eine Verlängerung der Laufzeit deutet auf eine Leitungsstörung im Bereich des Plexus und der Wurzeln hin. Elektrophysiologische Reflexuntersuchung Der Reiz wird so an den peripheren Nerv gesetzt, dass er die afferenten Fasern reizt, aber zur Potenzialauslösung der efferenten Fasern zu schwach ist. So führt er über den Reflexbogen zu einer Muskelkontraktion, z. B. Orbicularis-oculi-Reflex oder H-Reflex (= ASR).

Auswertung Die Elektroneurografie wird zur Lokalisation und Verlaufskontrolle von peripheren Nervenläsionen herangezogen (→ ). Primär demyelinisierende Polyneuropathien weisen eine Verlangsamung der NLG und Aufsplittung des Summenaktionspotenzials (temporale Dispersion) auf. Für eine axonale Degeneration ist eine normale NLG (solange der Nerv nur inkomplett geschädigt ist) mit einer verkleinerten Amplitude und einem verbreiterten MSAP kennzeichnend. Ein langjähriger Verlauf der PNP zeigt sich in einer Verlangsamung der NLG sowie in einer Amplitudenreduktion. Bei peripherer Nervenschädigung kann auch nur die sensible NLG vermindert oder erloschen, die motorische dagegen normal sein. Liegt eine Schädigung der motorischen Wurzel vor, ist die NLG evtl. herabgesetzt, die MSAP-Amplitude verkleinert und die sensible NLG normal. Schädigungen des Plexus führen hingegen zu einer Verlangsamung der sensiblen NLG und zu einem reduzierten sensiblen Nervenaktionspotenzial. Durch Registrierung der F-Welle und der elektrophysiologischen Reflexuntersuchung können Plexusläsionen oder Wurzelschädigungen ebenfalls erfasst werden.

Abb. 17.1

Darstellung abgeleiteter Nervensummenpotenziale: a) gesunder Nerv, b) Axonschädigung, c) Demyelinisierung [L231]

Elektromyografie (EMG) Mit der Elektromyografie können neurogene und myogene Muskelveränderungen unterschieden werden.

Durchführung Die Ableitung der Muskelaktionspotenziale (MAP) erfolgt, indem eine konzentrische Nadelelektrode in den zu untersuchenden Muskel gestochen wird. Die Potenziale werden auf einem Bildschirm sichtbar gemacht sowie durch einen Lautsprecher auch akustisch dargestellt. Die elektrische Muskelaktivität wird in Ruhe, bei leichter und bei maximaler Muskelkontraktion beurteilt.

Auswertung Physiologisch (→ ) Nach dem Einstich und der Änderung der Nadeltiefe entsteht eine kurze Entladungssalve mit einigen Fibrillationen (kurzzeitige rhythmische Entladungen von bi- bzw. triphasischen Potenzialen) (→ ). Beim entspannten, ruhenden Muskel besteht keine Spontanaktivität. Unter leichter Muskelkontraktion entstehen mono- bis triphasische MAP (Phase: Durchgang durch die Nulllinie), die zu einer motorischen Einheit gehören. Diese summieren sich bei maximaler Muskelkontraktion, bei der mehrere motorische Einheiten mit verschiedener Frequenz feuern, zu einem kompletten Interferenzmuster ohne Darstellung der Grundlinie.

Abb. 17.2

EMG-Befunde bei normaler Muskelaktivität (I) sowie bei myogener (II) und neurogener (III) Muskelatrophie [L106]

Abb. 17.3

Darstellung a) eines Fibrillationspotenzials und b) einer positiven scharfen Welle [L141]

Myogene Muskelschädigung Bei einer Muskelerkrankung liegt eine wahllose Schädigung von Muskelfasern in verschiedenen motorischen Einheiten vor, wobei die Gesamtzahl der motorischen Einheiten im frühen Stadium vorerst erhalten bleibt. Die verschiedenen Myopathien unterscheiden sich in einzelnen Gesichtspunkten voneinander. Im Allgemeinen ist nur selten Spontanaktivität vorhanden. Die MAP sind verkürzt, polyphasisch (> 4) und haben eine niedrige Amplitude. Das Summenpotenzial bei maximaler Aktivierung erscheint sehr dicht mit niedriger Amplitude. Diese EMG-Befunde finden sich bei Muskeldystrophien und bei Myositiden, wobei Letztere zusätzlich Fibrillationspotenziale aufweisen. Myotonien gehen mit repetitiven Salven der einzelnen Muskelfasern (Einstich, Nadelbewegung und Kontraktion) einher, die sich mit an- oder abschwellender Frequenz und Amplitude darstellen und akustisch einem „Sturzkampfbombergeräusch“ ähneln. Eine Unterscheidung zwischen Myasthenie und Pseudomyasthenie ist möglich (→ ). Neurogene Muskelatrophie Liegt eine Nervenschädigung vor, atrophieren die Muskelfasern dieser motorischen Einheit oder werden durch Nervenaussprossung von benachbarten motorischen Einheiten mit innerviert. Die Fasern mit erhaltener Innervation hypertrophieren. Abgeleitet wird eine verlängerte Einstich- und Spontanaktivität mit Fibrillationen und Faszikulationen (unwillkürliche, plötzlich entstehende Entladung mit unregelmäßiger Frequenz und Form). Bei leichter Muskelkontraktion zeigen sich positiv scharfe Wellen, verbreiterte polyphasisch aufgesplitterte Potenziale (durch Reinnervation) und evtl. Riesenpotenziale. Das Interferenzmuster ist gelichtet mit intermittierend großen Amplituden.

Zusammenfassung • Bei vorwiegend demyelinisierenden PNP ist die NLG erniedrigt und das Summenaktionspotenzial aufgesplittet (temporale Dispersion). • Eine inkomplette axonale Nervenschädigung zeigt sich durch eine normale NLG bei verkleinerter, verbreiterter Amplitude. • Mithilfe des EMG kann man zwischen myogener und neurogener Muskelatrophie unterscheiden. • Eine verlängerte Einstichaktivität und jede Spontanaktivität im EMG, die vom entspannten, ruhenden Muskel abgeleitet wird, ist pathologisch.

Leitsymptome

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Kopfschmerzen Kopf- und Gesichtsschmerzen werden durch Reizung schmerzsensibler Strukturen, wie der großen intrakraniellen Gefäße, Teilen der Meningen, der Sinus, der Hirnnerven und extrakranieller Strukturen, hervorgerufen. Sie sind entweder Symptome spezifischer Erkrankungen oder durch Funktionseinschränkungen vasomotorischer oder neuraler Mechanismen bedingt.

Krankengeschichte Die genaue Erhebung der Anamnese ist der entscheidende Faktor zur Diagnosefindung, da die körperliche Untersuchung meist unauffällig ist. Hierbei sollte v. a. auf Folgendes eingegangen werden: • Wie lange besteht der Kopfschmerz? • In welchem Zusammenhang und wie oft treten die Schmerzen auf? • Bestehen die Schmerzen kontinuierlich oder gibt es schmerzfreie Intervalle? Wie lange halten die Schmerzen an? • Nehmen die Schmerzen an Intensität zu? Wie rasch? • Wo sind die Schmerzen (genaue Lokalisation)? • Wie ist die Schmerzqualität (stechend, dumpf, pochend, pulsierend, drückend)? • Sprechen die Schmerzen auf Analgetika an? Wie oft und wie viele Analgetika werden eingenommen? • Wie stark sind die Schmerzen auf einer Skala von 1 bis 10 (1 = keine Schmerzen, 10 = schlimmste nur vorstellbare Schmerzen)? • Gibt es Begleitsymptome (Übelkeit, Erbrechen, nasale Sekretion, neurologische Ausfälle, Fieber, Nackensteife, Sehstörungen, Bewusstlosigkeit etc.)? • Gibt es auslösende Faktoren (Trigger, z. B. Menstruation, Alkohol, Zigarettenrauch, Stress, Wetter)? • Familien-, Sozial-, Medikamenten- und Konsumanamnese, Vorerkrankungen

Untersuchung Obwohl die körperliche Untersuchung in den meisten Fällen unauffällig ist, müssen einige Parameter überprüft werden. Am Anfang sollte eine komplette internistische und neurologische Untersuchung stehen. Besondere Beachtung sollten die in → aufgeführten Gesichtspunkte finden.

Tab. 18.1

Verdachtsdiagnose und typische Symptome

Hypertonie

Blutdruckmessung, Fundoskopie

Erhöhter Hirndruck

Hirnstammsymptomatik, Bewusstseinslage, Pupillenreaktion, Augenstellung, Fundoskopie (Stauungspapillen)

Meningitis

Meningismuszeichen: Nackensteife, Kernig-, Brudzinski-, Lasègue-Zeichen, Fieber

Zur differenzialdiagnostischen Einordnung ist insbesondere bei neu auftretenden Kopfschmerzen, bei Änderung des Schmerzcharakters von bereits bekannten Kopfschmerzen, bei zusätzlicher fokal neurologischer Symptomatik oder bei untypischer Präsentation die Durchführung von Bildgebung indiziert (cMRT, cCT). Weiterhin ggf. eine Liquor- und Laboruntersuchung.

Subarachnoidalblutung (SAB) Es handelt sich um ein plötzlich auftretendes, extrem schmerzhaftes Ereignis, das z. T. mit Bewusstseinsminderung, fokalen neurologischen Ausfällen, Übelkeit, Erbrechen und Nackensteifigkeit einhergeht (→ a; weitere Einzelheiten → ).

Abb. 18.1

Ausprägung, zeitlicher Verlauf und Begleitsymptome der verschiedenen Kopfschmerzformen [L141]

Meningitis Der Kopfschmerz bei Meningitis entwickelt sich über Stunden bis Tage und ist progredient. Gleichzeitig bestehen Fieber, Nackensteifigkeit, Übelkeit und Erbrechen. Außerdem können Hautausschläge (z. B. Petechien bei Meningokokkeninfektion) und Bewusstseinseintrübungen auftreten (→ b; weitere Einzelheiten → ).

Arteriitis temporalis (Riesenzellarteriitis, Morbus Horton) Dies ist die häufigste primär systemische Vaskulitis und betrifft mittlere und große Arterien (vornehmlich extrakranielle Arterien des Kopfbereichs, A. ophthalmica, A. occipitalis, seltener die proximale Aorta oder Organe). Frauen sind häufiger betroffen (F : M 3 : 1). Das Manifestationsalter liegt bei über 50 Jahren. Es ist eine T-zellvermittelte Autoimmunerkrankung mit Assoziation zu HLA-DR4 als genetischer Faktor. Klinisches Kernsymptom bei den meisten Patienten sind starke Kopfschmerzen mit bohrendem-stechendem Charakter mit frontotemporaler Betonung, oft seitenbetont. Charakteristischerweise verstärkt sich der Schmerz bei Kauen oder Husten, sodass klassischerweise beim Kauen Pausen zum Abklingen der Schmerzen eingelegt werden müssen (Claudicatio masticatoria). Klinisch kann eine druckdolente, verhärtete A. temporalis tastbar sein (→ c). Bei einer entzündlichen Beteiligung der A. ophthalmica kann die Komplikation einer ischämischen Ophthalmopathie im schlimmsten Fall zur Erblindung führen. Es können Allgemeinsymptome wie subfebrile Temperaturen, Abgeschlagenheit, Krankheitsgefühl und Gewichtsverlust begleitend auftreten. Diese Form der Vaskulitis ist häufig mit einer Polymyalgia rheumatica assoziiert (50–70 %), was sich klinisch durch Muskel- und Gelenkschmerzen zeigt.

Diagnostik und Therapie Diagnostisch wegweisend sind eine stark erhöhte BSG (Sturzsenkung, ca. 100 mm / 1 h) und andere Entzündungsparameter im Labor sowie der Nachweis einer granulomatösen Panarteriitis mit Riesenzellen im Biopsat der A. temporalis ( Cave: oft falsch negativer Befund, je nach Erfahrung und Stelle des Biopsats!). Der Nachweis des Halozeichen (konzentrische echoarme Wandverdickung) bei Vaskulitis in der farbkodierten Doppler-Sonografie stellt eine weitere diagnostische Möglichkeit dar. Therapie der Wahl ist eine unmittelbare Kortikosteroidbehandlung (z. B. Prednisolon 1 mg / kg KG mit langsamer Reduktion unter engmaschigen BSG / CRP-Kontrollen über 4 Wochen auf 30 mg / d, dann Reduktion jede 2. Woche um 2,5 mg, im Anschluss Reduktion um 1 mg / Monat). Bei erneutem Anstieg der Entzündungswerte wieder um 10 mg mehr als bei der letzten wirksamen Dosis steigern. Falls Kortikoide nicht eingesetzt werden können, ist Methotrexat eine Alternative.

Erhöhter Hirndruck Die Kopfschmerzen bei erhöhtem Hirndruck (→ ) sind generalisiert, progredient und nehmen bei Husten und Veränderung der Körperhaltung sowie in den frühen Morgenstunden an Intensität zu (→ d). Oft treten zudem Erbrechen, Bewusstseinsstörungen und fokal neurologische Defizite auf (weitere Einzelheiten → ).

Idiopathische intrakranielle Hypertension (IIH, Pseudotumor cerebri) Es handelt sich um erhöhten intrakraniellen Liquordruck ohne Hinweis für eine Raumforderung. Die Patienten mit Pseudotumor cerebri (idiopathische intrakranielle Hypertonie) sind meist junge, adipöse Frauen. Sie klagen über meist pulsierende Kopfschmerzen bzw. retrobulbäre Schmerzen, die darüber hinaus jenen bei erhöhtem Hirndruck gleichen. Weitere Symptome wie Brechreiz, beidseitige Stauungspapillen, sich wiederholende Sehstörungen, Doppelbilder bis hin zu Gesichtsfelddefekten oder Hirnnervenparese (N. abducens) können auftreten. Der Liquordruck ist auf über 250 mmH 2 O (Norm 100– 250 mmH 2 O in liegender Position) bei unauffälliger Ventrikelgröße gesteigert. Die Ätiologie ist noch weitgehend unklar; als Risikofaktor gilt Adipositas. Als weitere Ursachen wird ein Zusammenhang mit Medikamenten diskutiert (u. a. orale Kontrazeptiva, Tetrazykline), mit einer Liquorresorptions- oder Liquorzirkulationsstörung (nach Sinusthrombose, Sinusstenose, Arnold-ChiariMalformation) oder mit einer Liquorüberproduktion. Man spricht dann von einer sekundären intrakraniellen Hypertension. Therapeutisch steht eine nachhaltige Liquordrucksenkung im Vordergrund. Längerfristig ist eine Gewichtsnormalisierung unabdingbar. Während der Zeit der Gewichtsreduktion werden Azetazolamid und Topiramat zur Modulation der Liquorproduktion eingesetzt (off-label). Bei Vorhandensein von neurologischen Defiziten wie Visusminderung sind invasivere Maßnahmen (wiederholte Lumbalpunktionen oder ein ventrikuloperitonealer Shunt) eine Option.

Spannungskopfschmerz

Spannungskopfschmerz Dies ist die häufigste Kopfschmerzform; sie zeichnet sich durch eine Prävalenz von 20–30 % aus. Es handelt sich um einen meist beidseitigen, dumpf drückenden Kopfschmerz, der Minuten bis Monate andauern kann (→ e). Die Betroffenen sind z. B. im Gegensatz zur Migräne durch ihre Schmerzen nicht in dem Ausmaß behindert, dass sie ihren alltäglichen Aufgaben nicht mehr nachgehen können. Übelkeit tritt nicht auf, leichtgradige Foto- oder Phonophobie kann begleitend vorhanden sein. Fokal neurologische Ausfälle sowie Auren fehlen.

Therapie Beim episodischen Spannungskopfschmerz sind z. B. NSAR, Metamizol und Paracetamol wirksam. Regelmäßige Entspannungsübungen und Ausdauertraining sind eine wichtige therapeutische Säule. Bei chronischem Spannungskopfschmerz sollte die Behandlung mit Analgetika vermieden werden, um nicht in einen Kreislauf analgetikainduzierter Kopfschmerzen zu gelangen. Neben den Allgemeinmaßnahmen (s. o.) wird zur medikamentösen Therapie Amitriptylin verwendet. Bei Unverträglichkeit oder Unwirksamkeit können andere Antidepressiva eingesetzt werden.

Sinusitis Die Schmerzen bei Sinusitis gehen bei Erwachsenen meist von den Stirn- und Kieferhöhlen aus und sind häufig mit Fieber und Schnupfen assoziiert. Letzteres erleichtert die Diagnose.

Therapie und Komplikationen Operative Maßnahmen (z. B. Punktion) sollten erst nach Ausschöpfen der konservativen Therapie (z. B. abschwellende Nasentropfen, Wärmebehandlung, Inhalationstherapie, Antibiotikagabe) eingesetzt werden. In manchen Fällen können lebensbedrohliche Komplikationen aufgrund der topografischen Nähe zur vorderen Schädelgrube z. B. in Form einer Meningoenzephalitis nach Keimverschleppung, Sinusvenenthrombose, Thrombophlebitis bzw. Abszessbildung im Epidural-, Subduralraum oder als Hirnabszess entstehen. Weitere mögliche Komplikationen sind Ostitis, Osteomyelitis und orbitale Beteiligung (Orbitaödem, Orbitaphlegmone). Treten Kopfschmerzen > 15-mal / Monat für die Dauer von 3 Monaten auf, spricht man von chronischen Kopfschmerzen.

Migräne Migränekopfschmerzen als eine der häufigsten Kopfschmerzformen sind periodisch auftretende, häufig einseitige, aber auch holocephale oder die Seiten wechselnde, pochend-pulsierende Schmerzattacken von 4–72 h Dauer. Typische Begleitsymptome sind Übelkeit, Erbrechen und weitere vegetative Symptome (z. B. Augentränen). Die Schmerzen beginnen meist morgens; Licht- und Geräuschempfindlichkeit sind typisch. Oft können Auslöser, z. B. Schlafmangel, Menstruation, Alkohol, Wetterwechsel etc., angegeben werden. Die Schmerzen werden als sehr beeinträchtigend beschrieben und verstärken sich bei Bewegung, sodass Alltagsaufgaben häufig nicht verrichtet werden können. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer (→ f).

Einteilung Man unterscheidet mehrere Formen: Migräne ohne Aura Sie ist die häufigste Form, unter der über 80 % der Patienten leiden. Es treten die oben beschriebenen typischen Kopfschmerzen und Begleitsymptome auf. Migräne mit Aura Dabei entstehen innerhalb von ca. 10–20 min neurologische Ausfallerscheinungen wie z. B. Sehstörungen, Flimmerskotome, Sensibilitätsausfälle, Sprachstörungen, Lähmungen etc., die bis zu 1 h andauern können. Diesen folgen dann die Kopfschmerzen. Eine Migräne mit prolongierter Aura, die bis zu 1 Woche anhalten kann, wird auch als „komplizierte Migräne“ bezeichnet. In vereinzelten Fällen folgen den neurologischen Ausfällen keine Kopfschmerzen („Migraine sans Migraine“). Sonderformen Bei der menstruellen Migräne treten die Kopfschmerzattacken ausschließlich in einem Zeitfenster von 2 Tagen vor bis 3 Tage nach dem Einsetzen der Blutung in mind. 2 von 3 Zyklen auf. Seltene Sonderformen sind die Basilarismigräne, die besonders im Kindes- und Jugendalter auftritt und neben den Kopfschmerzen auch Hirnstammsymptome (z. B. Bewusstseinseintrübung, Hörstörungen, beidseitige Parästhesie, Ataxie etc.) aufweist. Eine weitere Variante ist die retinale Migräne mit innerhalb von 1 h vollständig reversiblen Visusstörungen (z. B. Visusverlust, Skotome, Flimmern) eines Auges, wobei der Kopfschmerz wie bei Migräne ohne Aura während oder bis spätestens 1h nach Sistieren der Augensymptome einsetzt. Als Status migraenosus bezeichnet man eine >72 h anhaltende, erheblich beeinträchtigende für den Patienten typisch verlaufende Migräneattacke ohne Aura. Selten ist auch ein migränöser Infarkt, wobei während einer Migräne mit Aura die Aurasymtomatik >1h persistiert mit bildgebendem Nachweis eines ischämischen Korrelats.

Therapie Bei leichten und mittelgradigen Migräneattacken werden als Mittel der ersten Wahl Analgetika wie ASS, Ibuprofen und andere nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) empfohlen. Bei unzureichender Wirksamkeit bzw. Kontraindikationen gegen NSAR können weitere Analgetika wie Paracetamol oder Metamizol wirksam sein. Bei mittelschweren bis schweren Kopfschmerzattacken und fehlendem Ansprechen auf die oben genannten Analgetika zeigen Triptane (5-HT 1 B / 1 D -Agonisten) eine gute Wirksamkeit. Diese wirken aber nicht in der Auraphase, sondern erst in der Kopfschmerzphase und lindern die Begleiterscheinungen mit Übelkeit und Erbrechen. Bei unzureichender Monotherapie ist auch eine Kombination aus Triptanen und NSAR möglich. In schweren, sehr lang andauernden Attacken kann eine Behandlung mit Ergotaminen sinnvoll sein, die gut analgetisch wirksam sind, aber ein hohes Nebenwirkungspotenzial aufweisen. Die charakteristischen Begleitsymptome mit Übelkeit und Erbrechen sollten begleitend mit darmmotilitätsfördernden Mitteln wie Metoclopramid und Domperidon behandelt werden. Ergänzend zur Akuttherapie werden Allgemeinmaßnahmen wie Ruhe und Reizabschirmung (abgedunkelter, ruhiger Raum) empfohlen. Eine medikamentöse Prophylaxe (Ziel: Reduktion der Anfallshäufigkeit um > 50 %) ist bei hohem Leidensdruck, unzureichendem Ansprechen auf die Akuttherapie bzw. starken Nebenwirkungen, mehr als 3 Attacken / Monat, häufiger Attackendauer von >72h, neurologischen Defiziten und Gefahr von medikamenteninduziertem Kopfschmerz bei Medikationseinnahme an >10 d / Monat indiziert. Je nach Nebenwirkungsprofil und Begleiterkrankungen können β-Blocker (Metoprolol, Propanolol), Flunarizin (Kalziumantagonist), Valproinsäure, Amitriptylin und Onabotulinumtoxin A eingesetzt werden.Letztgenanntes und Topiramat werden zur Behandlung der chronischen Migräne (mindestens 15 d / Monat über mindestens 3 Monate, kein Medikamentenübergebrauch) angewandt.Als Medikation der zweiten Wahl kommen beispielsweise Acetylsalicylsäure, Mg + , Vitamin B 2 oder Coenzym Q10 infrage. Begleitend sollen stets nicht medikamentöse Maßnahmen wie z. B. Verhaltenstherapie (Biofeedback, Entspannungsverfahren), regelmäßiger Ausdauersport, Stressbewältigungsstrategien durchgeführt werden.

Zervikogener Kopfschmerz Ursache ist eine Erkrankung der HWS wie z. B. Entwicklungsstörungen, rheumatoide Arthritis, Morbus Bechterew. Die vorherrschende Schmerzqualität ist dumpf bohrend oder stechend mit Ausstrahlung von okzipital nach frontal. Der fluktuierende Dauerschmerz ist seitenkonstant und nimmt bei Kopfbewegungen und Bauchpresse zu. Zur Diagnosestellung ist es wichtig, den Schmerz durch Hals-Kopf-Bewegung oder Druck im Hals-Nacken-Bereich reproduzieren zu können. Behandlungsoptionen sind physikalische Therapie sowie vorübergehend NSAR.

Clusterkopfschmerz (Bing-Horton-Syndrom)

Die Prävalenz liegt bei etwa 0,1–1 %. Männer sind 3-mal häufiger betroffen als Frauen. Das Erkrankungsalter liegt meist bei 20–40 Jahren. Es handelt sich um streng unilaterale, stets die gleiche Seite betreffende orbitale bzw. retroorbitale Anfälle von unerträglichem brennendem oder bohrendem Schmerzcharakter. Die Dauer einer Episode kann von 15–190 min variieren. Begleitend treten ipsilateral Tränen- und Nasenfluss, Hautrötung, konjunktivale Injektion oder / und ein einseitiges Horner-Syndrom auf. Während dieser Anfälle sind die Patienten charakteristischerweise sehr unruhig und laufen auf und ab. Ebenfalls kennzeichnend ist eine nach zeitlichen Mustern (Cluster) einsetzende Häufung der Schmerzanfälle, in manchen Fällen auch zur selben Uhrzeit auftretend. Eine jahreszeitliche Bindung der Kopfschmerzen (z. B. nur im Frühling und Herbst) ist auch möglich. Differenzialdiagnostisch muss ein Glaukomanfall ausgeschlossen werden. Als attackenauslösend gelten Nitrate, Alkohol und Aufenthalte im Gebirge (→ g).

Therapie Zur Behandlung des Anfalls sollte Sauerstoffzufuhr über einige Minuten erfolgen. Alternativ kann eine Behandlung mit Sumatriptan s. c. (erste Wahl) oder Lidocain-Nasenspray (zweite Wahl) versucht werden. Prophylaktisch können Verapamil, Kortikoide oder als zweite Wahl Lithium bzw. Topiramat verabreicht werden.

Analgetikainduzierter Kopfschmerz Definitionsgemäß wird eine Analgetikaeinnahme an mehr als 11–14 Tagen im Monat (abhängig von der Substanzklasse) bei chronischen Kopfschmerzen (oft Migräne oder Spannungskopfschmerz) als Ursache festgesetzt. Der Schmerzcharakter ist klassischerweise ein bereits am Morgen einsetzender, dumpf drückender Dauerkopfschmerz über den ganzen Kopf. Grundsätzlich kann diese Form bei Einnahme aller Analgetika entstehen und aufrechterhalten werden, wobei Triptane und Mutterkornalkaloide mehr gefährdend erscheinen. Eine Sonderform stellen die durch Nitrate und Verapamil hervorgerufenen akuten Kopfschmerzen dar. Therapeutisch ist ein Analgetikaentzug Mittel der Wahl, wobei während des Entzugs der Beginn einer Prophylaxe des zugrunde liegenden Kopfschmerzes (z. B. Migräne) empfohlen wird.

Trigeminusneuralgie Hierbei handelt es sich um oberflächliche, einseitige, blitzartig einschießende, brennende Gesichtsschmerzen meist im Bereich von V2 und V3. Diese Attacken dauern Sekunden bis wenige Minuten an und können bis zu 200-mal täglich auftreten. Typischerweise werden sie durch Bewegungen wie Mimik, Sprechen, Kauen oder Berührungen getriggert. Nicht immer sind während des Anfalls ticartige Zuckungen (Tic douloureux) der mimischen Muskulatur zu beobachten. Unterschieden wird eine symptomatische Form, deren Ursache in ca. 70 % eine Reizung des N. trigeminus durch ein kreuzendes Gefäß (meist A. cerebelli superior) ist, von einer idiopathischen Neuralgie, für die ätiologisch jedoch ebenfalls ein Gefäß-Nerv-Kontakt diskutiert wird. Weitere Ursachen können strukturelle Läsionen / Raumforderungen im Bereich des Hirnstamms bzw. Brückenwinkels sein (z. B. Multiple Sklerose, Meningeom, Schwanom, ArnoldChiari-Malformation, Arteriovenöse Malformation, Aneurysma der A. communicans posterior / A. carotis interna etc.). Häufig, aber nicht zwingend können Begleiterscheinungen wie vegetative Symptome (Rötung, Speichelsekretion) auftreten (→ h).

Therapie Das Mittel der Wahl ist Carbamazepin (alternativ: Phenytoin, Baclofen, Lamotrigin, Gabapentin), in exazerbierten Schmerzattacken Phenytoin i. v. Bei Nichtansprechen auf die Analgetika oder hohem Leidensdruck können therapeutisch operative Verfahren angewandt werden (z. B. mikrovaskuläre Dekompression [nach Janetta] durch Platzierung eines Schwämmchens zwischen Gefäß und Nerv). Die Rezidivrate beträgt ca. 9 % pro Jahr. Vor allem bei älteren Patienten ist eine alternative Möglichkeit zur operativen Behandlung die Thermokoagulation des Ganglion Gasseri, wobei nach 5 Jahren eine Rezidivrate von ca. 40 % festgestellt wurde.

Atypischer Gesichtsschmerz Der atypische Gesichtsschmerz ist durch einen einseitigen, konstant bohrenden Schmerz gekennzeichnet, der oft in zeitlichem Zusammenhang mit Verletzungen oder Operationen im Gesichtsbereich auftritt. Es sind jedoch keine pathologischen Befunde zu erheben. Die Schmerzen werden als mittelstark angegeben, sind schwer lokalisierbar und überschreiten Nervenversorgungsgebiete. Vegetative oder sensible Begleitsymptomatik tritt nicht auf. Amitriptylin ist hier Mittel der Wahl.

Weitere Kopfschmerzformen • (Post)koitaler Kopfschmerz: pulsierender beidseitiger Schmerz bei und nach Geschlechtsverkehr • Anstrengungskopfschmerz: durch körperliche Anstrengung ausgelöster beidseitiger Schmerz • Kopfschmerz bei Bluthochdruck: unspezifischer, dumpfer beidseitiger Kopfschmerz. Häufig ist auch frühmorgendlicher Kopfschmerz im Bereich des Hinterkopfs. • Symptomatischer Kopfschmerz z. B. bei Augen-, Nebenhöhlen-, Ohr-, Zahn- und Kiefererkrankungen • Kopfschmerzen als Nebenwirkung von Medikamenten (z. B. Nitratkopfschmerz)

Zusammenfassung • Die Arteriitis temporalis ist eine systemische Vaskulitis mit frontotemporal betonten starken bohrenden Kopfschmerzen, häufig assoziiert mit einer Polymyalgia rheumatica. • Spannungskopfschmerzen sind durch holocephale dumpf-drückende Schmerzen ohne Verstärkung bei Routinetätigkeiten klassifiziert. • Migräne ist charakterisiert durch pochend-pulsierende, den Alltag beeinträchtigende einseitige oder holocephale Schmerzen, die mit Licht- und Geräuschempfindlichkeit einhergehen und oft vegetative Begleitsymptome aufweisen. • Bei der Trigeminusneuralgie handelt es sich um einseitige, blitzartige, einschießende Schmerzen im Versorgungsgebiet der Trigeminusäste, die bewegungs- oder berührungstriggerbar sind und oft vegetative Begleiterscheinungen aufweisen.

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Bewusstseinsstörungen und Koma Bewusstseinsstörungen und Koma gehören zu den häufigsten und gravierendsten medizinischen Notfällen. Ein intaktes Bewusstsein basiert auf dem reibungslosen Ablauf der Funktionen von Hirnstamm und Kortex. Es lassen sich quantitative und qualitative Bewusstseinsstörungen unterscheiden.

Formen Qualitative Bewusstseinsstörungen Hierbei liegt eine Störung des Bewusstseinsinhalts vor (z. B. Desorientiertheit, Agitiertheit, Apathie, Denkstörungen oder Halluzinationen). Quantitative Bewusstseinsstörung Diese bezieht sich auf eine Störung der Wachheit (Vigilanz) und kann wie folgt graduell eingestuft werden. • Benommenheit: Es besteht eine Verlangsamung beim Handeln und beim Denken bei wachem Patienten. • Somnolenz: Der Patient ist im schläfrigen Zustand, durch äußere Reize aber leicht erweckbar. Optische Reize, wie z. B. das schnelle Heranführen der Hand an ein Auge des Patienten, lösen den Lidschlussreflex aus. • Sopor: Der Patient ist nur durch stärkste äußere Reize erweckbar. Spontane Bewegungen sind nicht erhalten. Auf akustische Reize erfolgt kurzzeitig eine Orientierungsreaktion. Schmerzreize werden durch adäquate Abwehrbewegungen beantwortet. • Koma: In einem leichteren Komastadium reagiert der Patient nicht auf optische oder akustische Reize, jedoch auf Schmerzreize mit undifferenzierten Abwehrbewegungen. Im tieferen Komastadium zeigt der Patient keine Reaktion auf optische und akustische Reize und ist selbst durch starke Schmerzreize nicht mehr erweckbar.

Ätiologie Die Ursachen sind vielfältig. So können z. B. Hirninfarkte sowie Raumforderungen mit Einklemmungen oder Hypoxie zu zerebralen Läsionen mit Bewusstseinseinschränkungen führen, aber auch zerebrale Schäden durch Traumen, Blutungen oder infektiös-entzündliche bzw. autoimmun vermittelte Enzephalitiden. Zu einem großen Prozentsatz sind Intoxikationen für Bewusstseinsstörungen verantwortlich. So muss man immer auch differenzialdiagnostisch an Alkohol, Medikamente und Drogenabusus (v. a. Heroin, Morphium) denken. Häufig sind Bewusstseinsstörungen metabolischer Genese, wie Hyper- oder Hypoglykämie bei Diabetes mellitus, hepatisches, urämisches oder thyreotoxisches Koma oder eine Addison-Krise. Bewusstseinsstörungen treten auch während oder nach einem epileptischen Anfall oder im Status epilepticus auf, aber auch psychiatrische Erkrankungen wie Katatonie bei Schizophrenie können zugrunde liegen.

Klinik Die Klinik hängt auch von der Art und der Lokalisation der Läsion ab. Fallen die Hirnstammreflexe aus, ist dies ein Zeichen für ein höhergradiges Komastadium mit direkter oder indirekter Hirnstammschädigung. Zu den Hirnstammreflexen zählen der Hustenreflex, der Würgereflex, der Kornealreflex und der vestibulookuläre Reflex (VOR, Puppenkopfphänomen; passive horizontale und vertikale Kopfdrehung bewirkt gegenläufige Bulbusbewegungen zur Blickstabilisierung). Ein wichtiges Kriterium sind auch Pupillenweite und -reaktion, die je nach Komatiefe starr oder deren Reaktionen träge sind. Aber auch pathologische Augenstellungen und -bewegungen zeigen sich bei Bewusstseinsstörungen. So kann man divergente Bulbi, „Skew-Deviation“ (Augen stehen vertikal nicht auf gleicher Höhe) bei Hirnstammläsion, „schwimmende Bulbi“ (d. h. spontane Hin-und-her-Bewegungen der Bulbi), spontane Vertikalbewegungen, Blickwendungen und Nystagmusformen beobachten. Bei der differenzialdiagnostischen Einordnung können vegetative, neurologische und sonstige Begleiterscheinungen nützlich sein. Im Folgenden sind einige Beispiele aufgeführt: Apallisches Syndrom (Dezerebrationssyndrom, Wachkoma, permanent vegetative state) Entsteht durch eine funktionelle Entkoppelung des geschädigten Großhirns vom intakten Hirnstamm. Mögliche Ursachen können z. B. eine bilaterale mesenzephale Läsion, eine diffuse hypoxische Hirnschädigung des Kortex, eine Einklemmung oder ein Schädel-Hirn-Trauma sein. Hierbei werden die zerebralen Afferenzen und Efferenzen funktionell unterbrochen. Klinisch ist charakteristischerweise der Tag-Nacht-Rhythmus erhalten und die Patienten sind aus dem Schlaf erweckbar. Das Syndrom ist durch das Fehlen von verbaler Äußerung oder gezielter Handlung gekennzeichnet. Die Augen der Patienten können geöffnet oder geschlossen sein. Es besteht ein starrer Blick ohne Fixierung auf Ansprache oder optische Reize. Der Muskeltonus ist erhöht. Häufig treten orale Automatismen auf; die Primitivreflexe (z. B. Saugreflex) sind oft erhalten. Die Prognose ist im Allgemeinen schlecht. Die Patienten sterben an Komplikationen (z. B. Pneumonie, Thrombosen) nach durchschnittlich 2–5 Jahren. Besteht dieser Zustand ohne Zeichen von Rückbildungstendenz über mindestens 6 Monate bei nicht-traumatischer Ursache und über 12 Monate bei traumatischer Ursache, wird das Syndrom als permanent vegetativ state bezeichnet. Locked-in-Syndrom Durch eine bilaterale Läsion im Bereich der ventralen Pons (z. B. zerebrale Ischämie durch eine Basilaristhrombose) kommt es zu einer Unterbrechung zerebraler Afferenzen und Efferenzen. Nach meist anfänglichem Koma erlangt der Patient das Bewusstsein wieder. Klinisch bleiben jedoch eine Anarthrie sowie Ausfall von verschiedenen Hirnnervenfunktionen und eine Tetraplegie fortbestehen. Die Betroffenen können sich ihrer Umgebung ausschließlich durch vertikale Augenbewegungen (Mittelhirn) und durch Blinzeln mitteilen. Die Sensibilität sowie Sehen, Riechen und Hören sind i. d. R. nicht betroffen. Hypoglykämisches Koma Entstehung plötzlich, Blässe, feuchte Haut, normale Atmung, Tremor, hypertone Muskulatur, Hunger, evtl. epileptischer Krampfanfall. Hyperglykämisches (ketoazidotisches) Koma Entstehung langsam über Tage, vermehrtes Durstgefühl, trockene Haut. Schwitzen; Aceton- bzw. obstartiger Geruch; Kußmaul-Atmung, Oligo-, Anurie, hypotone Muskulatur (nie Krämpfe). Thyreotoxisches Koma Stadium I: psychomotorische Unruhe, Tachykardie (> 150 / min), Fieber > 41 °C, Erbrechen, Durchfall, Schwitzen, Muskelschwäche; Stadium II: Desorientiertheit, Somnolenz; Stadium III: evtl. NNR-Insuffizienz, Kreislaufversagen. Hepatisches Koma Ikterus; leberartiger Geruch; Kußmaul-Atmung. Urämisches Koma Braune Haut; harnartiger Geruch.

Drogen- bzw. medikamenteninduziertes Koma Morphinintoxikation: Cheyne-Stokes-Atmung, Miosis; Alkoholintoxikation: Mydriasis. Herniation Obere vs. untere Einklemmung: Cheyne-Stokes-Atmung; Mydriasis oder Anisokorie; eingeschränkte oder erloschene Pupillenreaktion (→ ).

Diagnostik Bei der Fremdanamnese sollte nach schleichendem oder plötzlichem Beginn, Vorerkrankungen, Medikamenten, Alkohol, Drogen und psychischen Auffälligkeiten gefragt werden. Die körperliche Untersuchung sollte besonders im Hinblick auf Einstichstellen, Kopfverletzungen oder Zeichen eines epileptischen Anfalls (Zungenbiss, Urin- oder Stuhlabgang) vorgenommen werden. Eine grundlegende Methode zur Klassifizierung der Bewusstseinsstörung erfolgt nach der Glasgow Coma Scale (GCS, → ). Sie stellt eine schnelle und einfache Methode dar, den Zustand eines Patienten einzuschätzen. Zudem ist ihre Bewertung international standardisiert, sodass eine Übergabe an weiterbehandelnde Personen einfach und unmissverständlich ist.

Tab. 19.1

Glasgow Coma Scale und ihre Bewertung [F210-010]

Augen öffnen

Verbale Reaktion

Motorische Reaktion auf Schmerzreize

Spontan

4

Auf Ansprache

3

Auf Schmerzreiz

2

Keine Reaktion

1

Orientiert

5

Desorientiert

4

Unzusammenhängende Wörter

3

Unverständliche Worte

2

Keine verbale Reaktion

1

Befolgt Aufforderung

6

Gezielte Schmerzabwehr

5

Massenbewegungen

4

Beugesynergien

3

Strecksynergien

2

Keine Reaktion

1

Durch Addition der Punkte lässt sich der Grad der Komatiefe beurteilen: Coma-Scale

Zustand des Patienten

Grad

6–8

Pupillomotorik intakt, gezielte Schmerzabwehr

I

5–6

Ungerichtete Schmerzabwehr, divergente Bulbi

II

4

Keine Abwehr, Pupillenreaktion verzögert, Muskeltonus erhöht

III

3

Muskeltonus schlaff, Pupille weit und reaktionslos, keine Schmerzreaktion

IV

Für die weitere Diagnostik spielen v. a. CCT und MRT eine wichtige Rolle, um Blutungen, Ischämien, Hirndrucksteigerungen, Tumoren oder Frakturen auszuschließen. Eine Liquorpunktion sollte bei Verdacht auf Entzündungen durchgeführt werden. Ein EEG zur Suche nach Herdbefunden oder Anfallskorrelaten und eine Angiografie zum Ausschluss eines Aneurysmas oder einer Thrombose können ergänzend eingesetzt werden. Die Labordiagnostik sollte Blutgase, Blutglukose, Elektrolyte, Nieren- und Leberwerte sowie Ammoniak umfassen. So können sich Hinweise auf Hypo- oder Hyperglykämie, Elektrolytentgleisungen, Nieren- oder Leberinsuffizienz ergeben.

Therapie Es sollte für intensive Überwachung und Monitoring sowie für optimale Einstellung der Vitalparameter gesorgt sein. Des Weiteren sollten der Urinabfluss mittels eines Urethralkatheters gewährleistet, die Atemwege freigehalten und ggf. eine Intubation durchgeführt werden. Zudem sind regelmäßige Laborkontrollen sinnvoll. Bei unklarem Koma sollte gemäß der großen Prävalenz von Diabetes mellitus immer an die Kontrolle des Blutzuckers gedacht werden. Wird ein Alkoholabusus vermutet, ist die Gabe von Thiamin zur Prophylaxe einer Wernicke-Enzephalopathie indiziert. Bei Überdosen mit bestimmten Substanzen sollte das jeweilige Antidot verabreicht werden (bei Opiaten Naloxon, bei Benzodiazepinen Flumazenil). Zeigen sich Zeichen einer Hirndrucksteigerung, kann eine Behandlung mit Mannitol, Dexamethason und Hyperventilation erfolgen. Im Fall eines Status epilepticus sollte eine Anfallsunterbrechung mit Benzodiazepinen, Phenytoin oder Valproat versucht werden. Sind die Patienten an Meningitis oder Enzephalitis erkrankt, sollte eine Behandlung mit Antibiotika / Virostatika nicht hinausgezögert werden.

Bewusstseinsverlust Die häufigsten Gründe für einen plötzlichen Bewusstseinsverlust sind Synkopen und Krampfanfälle. Da der Begriff „Bewusstseinsverlust“ von Patienten z. T. für Symptome wie Gedächtnisverlust, Verwirrtheit, Bewusstseinseintrübung etc. verwendet wird, ist es wichtig, genau zu erfragen, was gemeint ist.

Anamnese und körperliche Untersuchung Die Anamnese ist für die Diagnostik eines Bewusstseinsverlusts maßgebend. Wichtig ist bei der Befragung des Patienten, ob Vorerkrankungen (Epilepsie, kardiale Erkrankungen, Diabetes etc.) bekannt sind. Außerdem sollte der genaue Ablauf des „Blackouts“ exploriert werden. Zudem sollten auch Fremdanamnesen von Personen erfolgen, die das Geschehen beobachteten. Bei der allgemeinen körperlichen Untersuchung sollte neben dem Neurostatus besonders das Herz beachtet werden.

Diagnostik Die weiterführende Diagnostik hängt stark von den in der Anamnese gewonnenen Informationen ab. Haben sich in der Befragung Hinweise auf eine kardiale

Ursache ergeben, sind Untersuchungen wie 24-Stunden-EKG, UKG und der Kipptischversuch indiziert. Bei Verdacht auf ein epileptisches Geschehen sollte eine genaue Abklärung durch EEG, CT oder MRT erfolgen. Auch sollte immer eine Blutzuckermessung durchgeführt werden. Die häufigsten Ursachen sind Synkopen und generalisierte Krampfanfälle. Deren Differenzierung ist aus therapeutischer, diagnostischer und prognostischer Sicht von Bedeutung. Der genaue Ablauf der klinischen Präsentation kann häufig weiterhelfen (→ ).

Abb. 19.1

Vergleich des klinischen Ablaufs einer Synkope und eines generalisierten Krampfanfalls [L141]

Synkope Eine Synkope ist definiert als kurzzeitiger, reversibler Bewusstseinsverlust, verursacht durch eine passagere zerebrale Minderperfusion. Zum Teil (vasovagaler, orthostatischer Bewusstseinsverlust) gehen einer Synkope bestimmte Symptome (Prodromi) wie Schwitzen, Schwindel, Sehstörungen, „Schwarzwerden vor den Augen“ etc. voraus. Im weiteren Verlauf wird der Patient blass und fällt – üblicherweise schlaff – zu Boden. Eventuell treten auch klonische motorische Entäußerungen der Gesichtsmuskulatur oder Extremitäten sowie Urininkontinenz auf (konvulsive Synkope). Diagnostisch werden ein Schellong-Test, ggf. ein Kipptischversuch sowie die kardiale Diagnostik durchgeführt.

Ätiologie, Klinik und Therapie Orthostatische Hypotonie Die Synkope tritt v. a. nach dem Aufstehen aus liegender oder sitzender Position auf. Hierbei versackt Blut in den Beinen und der Blutdruck fällt zunächst ab. Die sympathische Gegenregulation mit Vasokonstriktion in der Peripherie zur Blutdruckstabilisierung reicht nicht aus, um das Gehirn ausreichend zu perfundieren, und der Patient stürzt nach dem Bewusstseinsverlust zu Boden. Dieser Zustand hält meist ca. 5–30 s an und bildet sich spontan zurück. Unterstützend können die Beine hochgelagert und andere allgemeine Maßnahmen zur Kreislaufanregung (z. B. Betätigung der Muskelpumpe vor dem Aufstehen) durchgeführt werden. Vasovagale Synkope In Situationen gesteigerter Sympathikusaktivität und gleichzeitig verminderten venösen Rückstroms kommt es zu einer Reizung kardialer Mechanorezeptoren im vermindert gefüllten Herzen. Dies löst eine paradoxe Vagusaktivierung mit Bradykardie, Vasodilatation und Blutdruckabfall aus. Das autonome

Nervensystem ist nicht geschädigt. Die Betroffenen synkopieren bei emotionaler Erregung oder in Stresssituationen, in einem Viertel der Fälle besteht eine psychische Störung (Depression, Angstneurose). Auch hier werden oben genannte Allgemeinmaßnahmen sowie eine Therapie der zugrunde liegenden psychischen Störung, in schweren Fällen evtl. β-Blocker oder Theophyllin therapeutisch eingesetzt. Sonderformen der vasovagalen Synkope sind die Miktionssynkope (v. a. bei Männern) und die Hustensynkope, beide verursacht durch eine intrathorakale Druckerhöhung mit reflektorischer Vagusreizung beim Pressen. Dem Bewusstseinsverlust bei einem Valsalva-Manöver liegt derselbe reflektorische Mechanismus zugrunde. Hyperventilation Diese verursacht Hypokapnie und kann damit eine Synkope hervorrufen. Karotissinussyndrom Infolge eines hypersensitiven Karotissinus durch Kopfbewegungen oder Druck auf den Hals mit Reizung der Barorezeptoren in der Karotisgabel kommt es zu einer reflektorischen Vaguswirkung, die zu einer AV-Blockierung bis hin zur Asystolie führen kann. Therapiert wird diese Form der Synkope durch Schrittmacherimplantation. Kardiale Funktionsstörungen Sie sind die häufigsten Ursachen einer Synkope. So handelt es sich bei einem Adams-Stokes-Anfall um eine plötzlich auftretende drastische Abnahme der Herzleistung infolge von brady- oder tachykarden Herzrhythmusstörungen. Die bradykarde Form wird meist durch einen AV-Block oder andere kardiale Ursachen ausgelöst und durch Schrittmacherimplantation therapiert, während die tachykarde Form durch eine kurzzeitige Tachykardie entsteht und antiarrhythmisch behandelt wird. Synkopen sind auch ein Hauptsymptom der Aortenklappenstenose, neben Schwindel, Atemnot und pektanginösen Beschwerden. Therapie der Wahl ist der operative Klappenersatz. Ähnlich verhält es sich bei der Aortenklappeninsuffizienz, die bei höhergradiger Insuffizienz durch Atemnot, eine große Blutdruckamplitude und Pulsationen gekennzeichnet ist.

Generalisierter epileptischer Anfall Generalisierte epileptische Anfälle sind eine weitere Differenzialdiagnose des plötzlichen Bewusstseinsverlusts (→ ).

Absencen Absencen gehören zu den generalisierten Krampfanfällen und treten v. a. bei Kindern im Grundschulalter auf. Die betroffenen Kinder sind i. d. R. körperlich altersgemäß entwickelt. Im Anfall kommt es zum plötzlichen Innehalten der Aktivität meist für einige Sekunden und anschließendem Fortsetzen der Aktivität. Klinisch sind ein abwesender Blick, z. T. Nestelbewegungen oder myoklonische Augen- und Mundwinkelbewegungen erkennbar. Die Anfälle können bis zu 100-mal pro Tag auftreten. Meist sistieren die Anfälle in der Pubertät. Ein Teil geht in Grand-mal-Anfälle über (→ ).

Komplex-fokale Anfälle Die häufigste Form dieser Anfälle ist die Temporallappenepilepsie, die durch einen trüben Blick, eine Bewusstseinseintrübung, orale Automatismen und Grimassieren imponiert. Dem eigentlichen Anfall geht häufig eine epigastrische Aura voraus (→ ).

Transitorische ischämische Attacke (TIA) Aufgrund einer zerebralen Minderperfusion (z. B. Blutdruckabfall bei Gefäßstenosen) treten passagere neurologische Defizite auf. In diesem Rahmen kann es auch zu Bewusstseinsstörungen bis selten hin zum Bewusstseinsverlust bei Durchblutungsstörungen im hinteren Kreislauf kommen. Per definitionem müssen sich alle Symptome innerhalb von 24 h vollständig zurückbilden (→ ).

Transiente globale Amnesie (TGA) Bei der TGA besteht eine qualitative Bewusstseinsstörung ätiologisch nicht eindeutig geklärter Genese. Diskutiert wird eine vorübergehende Beeinträchtigung im Bereich des Hippocampus durch Durchblutungsstörungen. Klinisch äußert sich diese Erkrankung in einer plötzlich einsetzenden Beeinträchtigung, neue Informationen ins Gedächtnis aufzunehmen (Einspeicherstörung). Die Patienten sind wach, wirken auf ihre Angehörigen häufig verwirrt und ratlos. Dieselben Fragen werden wiederholt, häufig besteht eine Desorientierung zu Zeit und Situation. Die Betroffenen sind jedoch i. d. R. fähig, komplexe Fertigkeiten wie z. B. Auto fahren, Kochen, mit dem Hund spazieren gehen etc. auszuführen. Die TGA kann bis zu 24 h andauern und bildet sich vollständig wieder zurück. Meist besteht eine amnestische Lücke für diese Zeit. Ein Rezidiv ist selten.

Migräne Migräne (→ ) kann mit verschiedenen neurologischen Ausfällen einhergehen. Bei der seltenen Form der Basilarismigräne können auch Bewusstseinstrübungen auftreten. Die migränetypischen Kopfschmerzen können diagnostisch wegweisend sein.

Weitere Ursachen für einen plötzlichen Bewusstseinsverlust Hypoglykämie Ein Blutzuckerwert von weniger als 40 mg / dl führt bei den Betroffenen neben vegetativen Symptomen wie Schwitzen, Blässe und Heißhunger zu Schwindel, Krampfanfällen, Bewusstseinseintrübung bis hin zum Bewusstseinsverlust. Ein unmittelbares Anheben des Blutzuckerspiegels steht therapeutisch im Vordergrund. Narkolepsie mit Kataplexie (weitere Formen: Narkolepsie ohne Kataplexie, sekundäre Narkolepsie z. B. Läsion Hypothalamus, oberer Hirnstamm) Zentrale Hypersomnie, die einhergeht mit Tagesschläfrigkeit, Kataplexie (plötzlicher Tonusverlust der gesamten Muskulatur mit Areflexie bei starken Gefühlsregungen wie z. B. Lachen, Erschrecken, Wut), gestörter Nachtschlaf, Schlaflähmung, hypnagoge Halluzinationen, automatisches Verhalten. Apparativ zeigen sich oft eine verkürzte Einschlaflatenz und verfrüht REM-Schlaf im Multiple-Sleep-Latency-Test, Hypocretinmangel (Orexinmangel) im Liquor, Assoziation mit HLADRB1 1501, HLADQB1 0602. Symptomatisch werden gegen die Tagesschläfrigkeit Stimulanzien wie z. B. Modafinil, Methylphenidat und gegen Kataplexie, Schlaflähmung und hypnagoge Halluzinationen Natrium-Oxybat oder Antidepressiva (z. B. Sertralin, Amitriptylin) eingesetzt. Intrazerebrale Drucksteigerungen Beispielsweise durch eine Subarachnoidalblutung oder einen Hydrozephalus. Sie können ebenfalls zu einem plötzlichen Bewusstseinsverlust mit Kollaps führen. Psychogene Anfälle Diese sind schwierig abzugrenzen von oben genannten Differenzialdiagnosen. Üblicherweise sind die Anfälle länger. Sie können aus unkoordiniertem Fuchteln und Strampeln, Opisthotonus und Zu-Boden-Sinken bestehen. Ein psychogener Anfall beinhaltet keinen eigentlichen Bewusstseinsverlust, das Bewusstsein bleibt während des Anfalls erhalten.

Zusammenfassung • Bei Bewusstseinsstörungen werden grob qualitative (Störung des Bewusstseinsinhalts) und quantitative (Störung der Vigilanz) Bewusstseinsstörungen unterschieden.

• Die Glasgow Coma Scale ist eine einfache und schnelle Methode, den Schweregrad der Bewusstseinsstörung eines Patienten zu erfassen und eindeutig zu dokumentieren. • Bei unklarem Koma immer an die Kontrolle des Blutzuckers denken. • Der Begriff „Bewusstseinsverlust“ wird vom Patienten für verschiedene Situationen (z. B. Verwirrtheit, Bewusstseinstrübung) verwendet. • Es sollte eine Fremdanamnese erhoben werden. • Die häufigsten Ursachen für einen plötzlichen Bewusstseinsverlust sind Synkopen kardialer Genese und Krampfanfälle.

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Schwindel Unter „Schwindel“ versteht man Scheinbewegungen, die durch gegensätzliche Informationen der Sinnesorgane ausgelöst werden. Schwindel ist ein Symptom, das physiologisch auftreten kann, aber auch bei zentralen, vestibulären oder psychogenen Störungen vorkommt.

Formen Unterschieden werden folgende Formen des Schwindels: • Drehschwindel : Hier besteht die Wahrnehmung, dass sich der Raum stets um einen dreht („Karussellfahren“). • Schwankschwindel : Der Patient fühlt sich „wie auf einem Boot“ mit schwankendem Boden. Der Schwindel kann als Dauerschwindel, unabhängig von der Körperposition, als Attackenschwindel oder auch als Lage- oder Lagerungsschwindel auftreten: • Lagerungsschwindel : bei Kopfbewegungen oder Änderungen der Körperachse • Lageschwindel : nur in bestimmter Körper- oder Kopfposition auftretend Für 70 % der Schwindelsymptome sind ursächlich vier Erkrankungen verantwortlich: der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel, die Neuritis vestibularis, der Morbus Menière und der phobische Schwindel. Die Schwindelerkrankungen können zudem in vestibuläre und nichtvestibuläre Schwindelformen unterteilt werden.

Diagnostik Eine genaue Anamneseerhebung spielt eine maßgebliche Rolle in der Diagnostik von Schwindelerkrankungen. Wichtig sind besonders folgende Fragen: Welche Form des Schwindels liegt vor? Wie lange dauert er an? Ist es eine Attacke oder ein Dauerschwindel? Gibt es Auslöser (z. B. bestimmte Positionen des Kopfes, bestimmte Situationen)? Treten Begleitsymptome auf (Tinnitus, Hypakusis, Sehstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Nystagmus, Ataxie, Dysarthrie, Bewusstseinsstörungen etc.)? Bestehen Begleiterkrankungen (Infekte, kardiale Erkrankungen, Hyper- oder Hypotonie, Epilepsie, Migräne)? Auch eine genaue Medikamentenanamnese ist von großer Bedeutung (Antikonvulsiva, Antiarrhythmika, Antihypertensiva). Neben der genauen neurologischen und internistischen körperlichen Untersuchung sollten auch eine Nystagmus-, eine Vestibularis- und eine Hörprüfung erfolgen (→ und → ). Zur weiteren Abklärung neurologischer oder zentraler Ursachen können Untersuchungen wie CT, MRT, EEG, ENG, evozierte Potenziale oder eine Doppler-Sonografie der hirnzuführenden Gefäße eingesetzt werden. Ebenfalls sollten internistische Erkrankungen durch Untersuchungen wie EKG oder Schellong-Test ausgeschlossen werden.

Vestibuläre Schwindelformen Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel Diese häufigste peripher-vestibuläre Schwindelform imponiert klinisch durch einen Sekunden bis Minuten andauernden Drehschwindel mit Übelkeit, Erbrechen und Oszillopsien (Scheinbewegungen, wenn Objekte nicht in der Fovea fixiert werden können und ständig Korrekturbewegungen ausgeführt werden). Am häufigsten ist der posteriore Bogengang betroffen. Zur Diagnostik erfolgt eine Lagerung auf beide Seiten mit jeweils zur Gegenseite gedrehtem Kopf um 45°. Bei Lagerung des Patienten zum betroffenen Ohr setzt nach einer Latenz von wenigen Sekunden ein zum betroffenen Ohr rotierender, stirnwärts schlagender, erschöpflicher Nystagmus mit Crescendo-Decrescendo-Charakter ein. Als Auslöser des benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels wird eine Lageänderung des Körpers beschrieben. Ursache dieser Erkrankung ist eine Kanalolithiasis, d. h. Steinchen, die sich aus den Makulaorganen gelöst haben und im posterioren Bogengang bei Bewegung die Sinneszellen reizen. Zur Behandlung eignet sich das Lagerungstraining nach Semont (→ ). Der Patient sitzt dazu auf der Kante einer ebenen Liege. Er dreht den Kopf um 45° horizontal zur gesunden Seite, anschließend wird der Oberkörper in dieser Position rasch seitlich auf die kranke Seite gelagert. Diese Haltung wird gehalten, bis der Schwindel vergeht, bevor der Patient schnell in unveränderter Stellung auf die andere Seite der Liege gelagert wird. Nach Verbleib in dieser Stellung für > 60 s, richtet sich der Patient wieder in die sitzende Position auf. Täglich jeweils drei Durchgänge bei 3-facher Wiederholung führen i. d. R. nach ca. 2 Wochen zur Beschwerdefreiheit. Bei therapierefraktären Verläufen ist die Lagerungstechnik zu überprüfen.

Abb. 20.1

Lagerungstraining bei benignem paroxysmalem Lagerungsschwindel [L106]

Neuritis vestibularis Bei der Neuritis vestibularis geben die Patienten anamnestisch einen Dauerdrehschwindel mit Übelkeit, Erbrechen und Oszillopsien ohne Hörstörung an. Der periphere, einseitige Vestibularisausfall führt zu einem Spontannystagmus mit rotatorischer Komponente und Schwindel zur gesunden sowie einer Fallneigung zur erkrankten Seite. Der Erkrankungsgipfel liegt um das 50. Lebensjahr. Ein möglicher ätiologischer Zusammenhang mit einer viralen Infektion wird diskutiert. Durch zentrale Kompensation erfolgt nach ca. 2 Wochen eine Spontanbesserung. Therapeutisch erfolgen die Gabe von Glukokortikoiden sowie Übungen für Gleichgewicht und Balance zur Unterstützung der zentralvestibulären Kompensation. Zur symptomatischen Behandlung der Übelkeit sind Antivertiginosa (z. B. Dimenhydrinat) indiziert.

Morbus Menière Beim Morbus Menière wird ein Hydrops der Endolymphe im Labyrinth angenommen, bei dem es vermutlich durch Risse in der Membran des Saccus endolymphaticus zum Einstrom kaliumreicher Endolymphe in die Perilymphe und zu Resorptionsstörungen kommt. Ein Erkrankungsgipfel besteht zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr. Klinisch zeigen sich mehrere Minuten bis mehrere Stunden anhaltende Attacken mit einem andauernden Drehschwindel, Tinnitus, Druckgefühl und eine Innenohrschwerhörigkeit für tiefe Frequenzen auf dem betroffenen Ohr. Außerdem treten Begleitsymptome wie Übelkeit, Erbrechen, Fallneigung und Blässe auf. Es zeigt sich ein horizontal rotierender Nystagmus, der zum gesunden Ohr schlägt, jedoch am Anfang der Attacke auch vorübergehend zum betroffenen Ohr schlagen kann. Im Verlauf zeigt sich die Schwerhörigkeit auch zwischen den Attacken progredient und persistiert. Typisch ist ein plötzlicher Beginn der Attacken, gefolgt von einem langsamen Abklingen (5–10 Jahre) in über 80 % der Fälle. Bei der Untersuchung sind ein positives Recruitment und eine thermische Unerregbarkeit des betroffenen Ohrs charakteristisch. Während der Attacken findet eine symptomatische Therapie mit Antivertiginosa (z. B. Dimenhydrinat) statt. Eine Intervallbehandlung erfolgt mit Betahistin, das die Attacken und die Schwerhörigkeit im Verlauf zu mindern scheint. Bei schweren Verläufen kann ggf. eine transtympanale Injektion von Gentamicin (vestibulotoxisch) indiziert sein, mit dem Ziel, den Vestibularapparat auszuschalten. Durch den jahrelangen Leidensdruck kann auch eine psychotherapeutische Betreuung unterstützen.

Vestibularisparoxysmie Hierbei handelt es sich um ein Krankheitsbild, das auf einer Kompression des N. vestibularis mit partieller Demyelinisierung durch ein Gefäß beruht. Die Patienten klagen über einen Sekunden bis Minuten anhaltenden Drehschwindel, der 20- bis 30-mal pro Tag meist ohne Auslöser auftreten kann. Während der Attacke besteht ein rotierender Spontannystagmus. Carbamazepin ist das Mittel der Wahl.

Bilaterale Vestibulopathie Eine bilaterale Vestibulopathie geht mit einer Störung des vestibulookulären Reflexes (VOR) (dieser stabilisiert das Bild auf der Retina bei der eigenen Bewegung) einher. Daraus resultiert ein bewegungsabhängiger Schwankschwindel mit Gangunsicherheit besonders im Dunkeln und auf unebenem Grund. Außerdem kommt es zu Oszillopsien beim Gehen sowie raschen Kopf- und Körperwendungen. Die körperliche Untersuchung zeigt einen beidseits pathologischen Kopf-Impuls-Drehtest (Halmagyi-Test). Hierbei wird der Patient aufgefordert, die Nase des Untersuchers zu fixieren, während dieser den Kopf des Patienten mit beiden Händen ruckartig ein Stück nach rechts bzw. links bewegt. Als pathologisch wird das Folgen der Augen bei Bewegung mit der Unfähigkeit, den Fixpunkt zu halten, angesehen, sodass Refixationssakkaden erkennbar sind. Im Romberg-Stehversuch (→ ) bestehen eine ungerichtete Fallneigung und ein breitbasiges, unsicheres Gangbild. Ätiologisch kommen infektiöse, toxische, degenerative, autoimmunologische und idiopathische Ursachen infrage. Als Therapieoptionen stehen Sanierung der Grundkrankheit und Gleichgewichtstraining im Vordergrund.

Weitere vestibuläre Schwindelformen Bei der Perilymphfistel, die traumatisch, tumorös, entzündlich oder postoperativ bedingt sein kann, kommt es zu Lagerungsschwindel mit Tinnitus und Hörstörungen. Die Symptome werden durch Pressen verstärkt. Bleibt eine Spontanheilung durch Bettruhe und Laxanzien aus, kann eine operative Therapie erwogen werden. Das Akustikusneurinom führt erst im späteren Stadium zu einem Dauerdrehschwindel. Zu Beginn stehen Hörstörungen im Vordergrund. Die Basilarismigräne kann neben einem Attackenschwindel weitere fokal-neurologische Symptome wie Sehstörungen und Ataxie aufweisen.

Nichtvestibuläre Schwindelformen

Nichtvestibuläre Schwindelformen Phobischer Schwankschwindel Diese Schwindelform imponiert durch subjektive Gang- und Standunsicherheit. Die Patienten empfinden einen großen Leidensdruck. Zum phobischen Schwindel kommt es häufig bei großem Stress, auf Brücken, in engen Räumen und großen Plätzen. Er führt schnell zu Konditionierung und Vermeidungsverhalten. Die Betroffenen haben gehäuft eine organische vestibuläre Erkrankung durchgemacht (z. B. Neuritis vestibularis). Zur Behandlung ist eine verhaltenstherapeutische Desensibilisierung Mittel der Wahl.

Visueller Schwindel Beim visuellen Schwindel kommt es aufgrund von Störungen der Augenfunktion (z. B. Augenmuskelparesen, Brechungsanomalien etc.) zu einem Schwankschwindel mit Gang- und Standdefekten. Physiotherapeutische Maßnahmen zur Übung der Haltungsreflexe sind indiziert.

Medikamentennebenwirkungen Zahlreiche Pharmaka zählen Schwindelformen zu ihren Nebenwirkungen, z. B. Antikonvulsiva, Antiemetika, Hypnotika, Anticholinergika, Aminoglykoside, Muskelrelaxanzien u. a.

Zusammenfassung • Formen des Schwindels sind Dreh-, Schwank-, Lagerungs- und Lageschwindel und können je nach Lokalisation der Läsion in vestibulär und nichtvestibulär eingeteilt werden. • Die häufigste Form ist der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel, dem ursächlich eine Kanalolithiasis zugrunde liegt und der sich als starker Sekunden bis Minuten andauernder Drehschwindel mit Übelkeit und Erbrechen bei Kopf- / Körperbewegung darstellt. • Eine Neuritis vestibularis zeigt sich mit Dauerdrehschwindel und Nystagmus zur gesunden Seite hin mit Übelkeit und Erbrechen, ohne Ohrgeräusche, die sich i. d. R. durch zentrale Kompensation nach ca. 2 Wochen spontan bessert. • Die Menière-Erkrankung tritt in Attacken auf und weist klinisch eine Trias aus Drehschwindel (Minuten bis Stunden), Tinnitus und Innenohrschwerhörigkeit auf.

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Sehstörungen Sehstörungen sind krankhafte Veränderungen der optischen Wahrnehmung, die vorübergehend oder dauerhaft sein können. Klinisch zeigen sie sich in Form von verminderter Sehschärfe bis hin zur Blindheit, Gesichtsfeldeinschränkungen, Doppelbildern, Augenflimmern, Störung des Farbsehens u. a.Für die Patienten bedeuten Sehstörungen meist eine erhebliche Einschränkung in der Lebensqualität, oft Probleme im privaten Alltag und im Arbeitsleben. Zudem können visuelle Störungen Ausdruck einer gravierenden Grunderkrankung, etwa eines Tumors, Multipler Sklerose oder eines Schlaganfalls, sein (→ ). Die Art der Sehstörung hängt von der Lokalisation der Schädigung ab.

Tab. 21.1

Differenzialdiagnosen der Sehstörung

Läsionsort

Erkrankung

N. opticus

Kompression durch Tumoren, Tumoren des N. opticus, Infektionen, Toxine, anteriore ischämische Opticus-Neuropathie (AION), entzündliche Erkrankungen

Chiasma opticum

Hypophysentumor, Kraniopharyngeom, Infektionen, sonstige Tumoren

Tractus opticus

Tumoren, Ischämie, entzündliche Erkrankungen, Blutung

Radiatio optica

Ischämien (durch Verschluss der A. cerebri media), posteriores reversibles Enzephalopathie-Syndrom (PRES), Tumoren, Blutungen, Raumforderungen, entzündliche Erkrankungen

Visueller Kortex (Okzipitallappen)

Ischämien (durch Verschluss der A. cerebri posterior), Tumoren, Blutung, posteriores reversibles EnzephalopathieSyndrom (PRES)

Eine Minderung der Sehschärfe, z. B. mit Verschwommensehen, deutet auf eine retinale Läsion oder eine Störung des N. opticus hin, wohingegen Störungen der Sehbahn peripher des Chiasma opticum eine unauffällige Pupillenreaktion und Sehschärfe zeigen. Sind Strukturen der Sehbahn zwischen dem Chiasma opticum und dem Kortex geschädigt, treten Gesichtsfeldausfälle auf, die je nach Schädigungsort ein typisches klinisches Bild zeigen können (→ ).

Abb. 21.1

Gesichtsfelddefekte in Abhängigkeit vom Lokalisationsort der Sehbahnläsion [E388]

Monokuläre Sehstörungen Ist nur ein Auge von den Sehstörungen betroffen, liegt diesem Befund eine Schädigung von Strukturen des betroffenen Auges selbst oder des N. opticus vor dem Chiasma opticum zugrunde.

Akute monokuläre Sehstörungen Amaurosis fugax

Eine Verminderung des Blutflusses in der Zentralarterie, z. B. durch eine Stenose der A. carotis interna, Herzrhythmusstörungen, eine Insuffizienz der kardialen Pumpleistung oder starke Blutdruckschwankungen bei Gefäßstenosen, kann vorübergehend eine Ischämie der Retina erzeugen. Dies äußert sich in einer akut auftretenden, ca. 5–15 min anhaltenden einseitigen Blindheit und wird als Amaurosis fugax bezeichnet. Begleitsymptome können weitere TIAtypische Beschwerden sein (→ ). Bei der Untersuchung findet man zwischen den Episoden einen unauffälligen Augenbefund. Eine Doppler-Untersuchung der Karotiden sollte erfolgen. Eine Amaurosis fugax kann ein Warnhinweis auf einen drohenden Schlaganfall sein. Zentralarterienverschluss Ein ischämischer Infarkt der Retina mit Sehverlust auf der betroffenen Seite ist die nächste schwerwiegende Steigerung der Amaurosis fugax. Die Ursache hierfür ist häufig ein thromboembolischer Verschluss der A. centralis retinae. Glaukomanfall Hierbei handelt es sich um eine Notfallsituation durch einen plötzlichen intraokulären Druckanstieg, z. B. aufgrund einer Verlegung der Kammerwasserabflusswege. Die Patienten haben heftige orbitale Schmerzen und Sehstörungen. Das Auge ist stark gerötet und die Bindehaut geschwollen (Chemosis). Typischerweise reagiert die Pupille des betroffenen Auges träge auf Licht und ist entrundet. Die Patienten geben z. T. das Sehen farbiger Ringe um Lichtquellen an. Eine rasche augenärztliche Intervention ist erforderlich. Neuritis nervi optici (Retrobulbärneuritis) Die Optikusneuritis imponiert durch eine innerhalb von Tagen auftretende Visusminderung häufig mit Bulbusbewegungsschmerzen, die sich im Verlauf spontan bessern und vollständig zurückbilden kann. Zunächst zeigt sich ein unauffälliger Fundus („Patient sieht nichts, Arzt sieht nichts“), nach einigen Wochen allerdings wird häufig eine temporale Abblassung der Papille beobachtet. Sie ist häufig Erstsymptom einer Multiplen Sklerose (→ ). Differenzialdiagnostisch muss auch an eine anteriore ischämische Optikusneuropathie, an ein Glaukom und ein Optikusscheidengangliom gedacht werden. Retinale Migräne Kennzeichnend für diese Sonderform der Migräne sind plötzlich einsetzende monokuläre Visusstörungen wie Blindheit, Flimmern oder Skotome. Diese bilden sich innerhalb 1 h vollständig zurück, wobei die migränetypischen Kopfschmerzen während oder bis spätestens 1h nach Sistieren der Visusstörungen einsetzen. Betroffen sind oft jüngere Personen. Pseudotumor cerebri Bei diesem Krankheitsbild, das v. a. junge, adipöse Frauen betrifft, kommt es zu Kopfschmerzen, Stauungspapille und Sehstörungen in Form von transienter Verdunkelung für wenige Sekunden sowie zu Doppelbildern. Trauma Verletzungen der ophthalmologischen Strukturen (z. B. Ablatio der Retina nach einer stumpfen Bulbuskontusion, penetrierende Verletzungen mit konsekutiver Entzündung) können ebenfalls zu einem ein- oder beidseitigen Visusverlust führen. Anteriore ischämische Opticus-Neuropathie (AION) Wegen atherosklerotisch bedingter Minderperfusion des Sehnervs kommt es zu einer Visusminderung mit sektorförmigen Gesichtsfeldausfällen bis hin zum Visusverlust. Die Sehstörungen entwickeln sich in Minuten bis Tagen. Bei der Fundoskopie zeigen sich ein Papillenödem und retinale Blutungen. Die AION kann monokulär oder binokulär auftreten. Sind die Betroffenen älter als 65 Jahre, muss eine Arteriitis temporalis ausgeschlossen werden. Diese zeigt neben der Visusminderung aufgrund der AION eine verhärtete A. temporalis mit Kopfschmerzen v. a. beim Kauen, Gewichtsverlust und subfebrile Temperaturen. Die Arteriitis temporalis muss rasch durch hoch dosierte Kortikosteroide behandelt werden, um einem vollständigen Visusverlust vorzubeugen.

Progrediente monokuläre Sehstörungen Eine der häufigsten Ursachen für eine langsam progrediente Visusminderung ist die senile Makuladegeneration. Auch eine diabetische oder hypertensive Retinopathie, ein chronisches Weitwinkelglaukom oder eine Leukodystrophie führen zu Sehstörungen. Eine langsame Visusminderung entwickelt sich ebenfalls bei einer Kompression des Sehnervs durch einen Tumor oder durch chronische Hirndrucksteigerung. Diese Schädigungen können auch beidseitig auftreten.

Binokuläre Sehstörungen Akute binokuläre Sehstörungen Jede Schädigung, die zu einer einseitigen Visusminderung führt, kann auch zu beidseitigen Sehstörungen führen. Bei einer Schädigung der Sehrinde, z. B. durch eine Basilarisinsuffizienz, kann es zu beidseitigen, akuten Sehstörungen („kortikale Blindheit“, Gesichtsfeldausfälle) kommen. Auch traumatisch bedingte Defekte oder die durch die AION hervorgerufenen Läsionen des Sehnervs können beidseitig auftreten und die entsprechenden Sehstörungen verursachen. Eine beidseitige Visusminderung zeigt sich auch bei Krankheitsbildern wie der hereditären Optikusneuropathie, einem bilateralen N.-opticusInfarkt oder beidseitigen intraokulären Erkrankungen wie Uveitis.

Progrediente binokuläre Sehstörungen Durch sekundäre Schädigung des Sehnervs im Rahmen systemischer Störungen wie Vitamin-B 12 - oder Folsäuremangel, Tabakamblyopie, Infektionen (z. B. Tbc) oder Toxine (z. B. Methylalkohol) können sich progrediente binokuläre Sehstörungen entwickeln. Degenerative Läsionen der retinalen Strukturen bei Retinitis pigmentosa führen zu den typischen peripheren, konzentrischen Gesichtsfeldeinschränkungen und Nachtblindheit. Langsam progressiv bilden sich auch die Sehstörungen bei retrochiasmalen Tumoren in Form von Hemianopsien und Quadrantenanopsien aus. Schädigungen im Bereich des Chiasmas sind typischerweise durch ein Hypophysenadenom verursacht (→ ). Hier kommt es neben der charakteristischen bitemporalen Hemianopsie je nach Art des Tumors zu endokrinen Begleitsymptomen wie Potenzstörungen, Amenorrhö etc. Weitere Ursachen einer Chiasmaläsion sind Meningeome, Kraniopharyngeome, Infektionen oder Aneurysmen.

Abb. 21.2

MRT-Bild eines Hypophysenadenoms bei einem Patienten mit bitemporaler Hemianopsie [E428]

Sonstige Sehstörungen Die Agnosie beschreibt die Unfähigkeit, bei normaler Sehkraft gezeigte Objekte zu erkennen und zu benennen. Die Patienten können die Dinge allerdings durch Betasten identifizieren. Dieser Erkrankung liegt eine bilaterale Sehrindenläsion zugrunde. Bei Sehstörungen mit unauffälligen Untersuchungsbefunden und psychischen Auffälligkeiten des Patienten muss differenzialdiagnostisch an eine psychogene Sehstörung gedacht werden. Auch Störungen der Augenmotorik durch Paresen der Augenmuskeln führen zu Sehstörungen, v. a. in Form von Doppelbildern.

Zusammenfassung • Eine Schädigung des Auges oder des N. opticus bis zum Chiasma opticum geht mit einer Minderung der Sehschärfe einher. • Bei einer Läsion der Sehbahn zwischen Chiasma opticum und Kortex kommt es zu Gesichtsfeldausfällen, deren klinisches Bild auf den Schädigungsort hindeuten kann. Sehschärfe und Pupillenreaktion sind unauffällig. • Eine Einteilung kann in monokuläre und binokuläre Sehstörungen erfolgen. Akute monokuläre Visusstörungen sind häufig auf Ischämien zurückzuführen. Progrediente monokuläre Defekte im Verlauf mit binokulärer Beteiligung haben oft intraokuläre Erkrankungen (z. B. senile Makuladegeneration, diabetische Retinopathie) als Ursache.

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Sensibilitätsstörungen Sensibilitätsstörungen gehören zu den häufigsten neurologischen Symptomen, die bei 8 % der Bevölkerung auftreten. Unter dem Begriff werden Auffälligkeiten in der Gefühlswahrnehmung zusammengefasst (→ ).

Tab. 22.1

Symptombeschreibungen und mögliche Ursachen der Sensibilitätsstörungen

Symptom

Symptombeschreibung

Ursachen

Parästhesien

Ameisenlaufen, Prickeln, Kribbeln u. Ä.

Vor allem bei Schädigung peripherer Nerven, deren Wurzeln und bei Hinterstrangläsionen

Dysästhesien

Die Missempfindungen werden als quälend empfunden.

Schädigung zentraler Sensibilitätszentren, Rückenmarksbahnen und Polyneuropathien

Hyperästhesie

Gesteigerte Empfindlichkeit auf Berührungsreize

Periphere Nervenläsionen

Hypästhesie

Herabgesetzte Empfindlichkeit auf Berührungsreize

Schädigung zentraler Sensibilitätszentren, Rückenmarksbahnen

Hyperalgesie

Verstärkte Schmerzwahrnehmung auf adäquate Reize

Periphere Nervenläsionen

Allodynie

Verstärkte Schmerzempfindung auf inadäquate Reize

Meist bei inkompletter Nervendurchtrennung (peripher), aber auch bei Thalamusläsionen (zentral)

Hyperpathie

Berührungs-/Schmerzreize führen zu unangenehmen, lang andauernden Empfindungen.

Häufig bei Thalamusläsionen, Teilschädigung peripherer sensibler Nerven oder auch bei Narbenbildung

Nackenbeugezeichen Max. Kopfbeugung → den Rücken entlang, in die Extremitäten (Lhermitte) fahrende elektrisierende Dysästhesien

Bei MS, Halsmarktumor oder zervikalem Bandscheibenvorfall

Astereognosie

Komplexe zentrale Störung im Sensibilitätsareal z. B. bei Schlaganfall

Unterscheidung von Objekten durch Ertasten nicht möglich

Die Sensibilität wird unterteilt in die protopathischen und die epikritischen Gefühlswahrnehmungen: • Die Fasern der protopathischen Qualitäten (grobe Berührung, Temperatur, Schmerz) kreuzen im Rückenmark und werden in der Vorderseitenstrangbahn (Tractus spinothalamicus anterolateralis) zum Thalamus und dann weiter zur Hirnrinde geleitet. • Hingegen werden die epikritischen Modalitäten (Lage = Propriozeption, Vibration, Druck, Diskrimination, Tastempfindung, Berührung) ungekreuzt über die Hinterstrangbahnen (Fasciculus gracilis und Fasciculus cuneatus) zur Medulla oblongata geführt, wo sie kreuzen und dann weiter über den Thalamus zum Kortex ziehen (→ ). So ergeben sich je nach Lokalisation der Läsionen die entsprechenden Auffälligkeiten und Ausfälle in der Gefühlswahrnehmung distal der Schädigung (→ ). Liegt eine isolierte Erkrankung der Muskeln, der neuromuskulären Verbindung oder der Vorderhornzellen vor, kommt es nicht zu sensiblen Ausfällen. Zeigt sich ein isolierter Ausfall der protopathischen Modalitäten bei erhaltenen epikritischen Qualitäten, wird dies „dissoziierte Sensibilitätsstörung“ genannt.

Abb. 22.1

Sensibilitätsstörungen bei unterschiedlichen Läsionen [L141, L231]

Ätiologie und Klinik Periphere Läsionen • Durch die Läsion eines peripheren Nervs (Kompression, Durchtrennung, entzündliche Erkrankungen, Toxine, Diabetes mellitus) fallen alle sensiblen Modalitäten in seinem Versorgungsbereich aus. • Werden mehrere Nerven (Polyneuropathiesyndrom) in ihrem distalen Abschnitt geschädigt, kann ein handschuh- oder strumpfförmiges Verteilungsmuster entstehen. • Tritt ein Defekt der radikulären Strukturen ein, führt dies zu segmental angeordneten Ausfällen entsprechend den jeweiligen Dermatomen (→ ).

Rückenmarksläsionen Querschnittslähmung Unterschieden wird eine komplette von einer inkompletten Querschnittslähmung. Die häufigste Ursache ist ein Trauma. Klinisch resultiert aus der Unterbrechung der Rückenmarksbahnen eine Kombination verschiedener Symptome. Bei einer kompletten Querschnittslähmung verliert der Patient sämtliche Gefühlsqualitäten distal der Läsion, wobei die Analgesie und die Anästhesie meist 1–2 Segmente unterhalb des Querschnitts beginnen können (→ ). Halbseitige Rückenmarksläsion (Brown-Séquard-Syndrom) In der reinen Form Ausfall der epikritischen Modalitäten auf der geschädigten Seite, kontralateral liegt eine dissoziierte Sensibilitätsstörung mit Hypalgesie und Thermhypästhesie bei erhaltener Berührungsempfindlichkeit, Vibration und Propriozeption vor, die meist 1–2 Segmente unterhalb des Querschnitts beginnen. Auf der ipsilateralen Seite besteht distal der Läsion eine zentrale Lähmung (→ ). Weitere Erkrankungen, die zu dissoziierten Sensibilitätsstörungen führen können, sind z. B. die Syringomyelie (zentrale Höhlenbildung kongenital, neoplastisch, posttraumatisch oder postentzündlich verursacht), ein Herd bei Multipler Skerose oder ein Wallenberg-Syndrom. Zentrale Rückenmarksschädigung (zentromedulläres Syndrom) Sonderform des inkompletten Querschnittsyndroms. Häufig durch eine intramedulläre Raumforderung wie z. B. eine Syringomyelie mit Erweiterung des Zentralkanals verursacht. Aufgrund der Läsion der kreuzenden protopathischen Fasern kommt es segmental zu einer dissoziierten Sensibilitätsstörung beidseits.

A.-spinalis-anterior-Syndrom Ursache sind Durchblutungsstörungen der A. spinalis anterior, welche die vorderen ⅔ des Rückenmarks versorgt. Zahlreiche Pathomechanismen können zugrunde liegen: z. B. Kompression durch einen Bandscheibenvorfall oder Tumor, Arteriosklerose, Vaskulitis, Aortenaneurysma (v. a. thorakal), Aortendissektion, Thrombembolie etc. Hierdurch kommt es zu einem Ausfall der Vorderseitenstrangbahnen unter Aussparung der Hinterstrangbahnen. Klinisch zeigt sich eine beidseitige Parese kaudal der Läsion, eine Blasen- und Mastdarmstörung und eine dissoziierte Sensibilitätsstörung. Läsion der Hinterstrangbahnen Ausfall der epikritischen, nicht aber der protopathischen Qualitäten. Diese Sensibilitätsstörungen sind charakteristisch für die funikuläre Myelose (bei VitaminB 1 2 - oder Folsäuremangel), beim A.-spinalis-posterior-Syndrom (Verschluss der A. spinalis posterior, versorgt die hinteren Anteile des Rückenmarks) oder bei Tabes dorsalis (entzündliche Degeneration der Hinterstränge bei Lues). Wichtige Differenzialdiagnose der Sensibilitätsstörungen ist die Multiple Sklerose, die durch Läsionen in unterschiedlichen Bereichen des zentralen Nervensystems ein heterogenes Bild an Sensibilitätsstörungen aufweisen kann.

Gehirnläsionen Läsionen können durch Raumforderungen wie Tumoren, Abszesse, Blutungen, Ischämien oder Entzündungen entstehen. Hirnstammläsion Nach Kreuzung der epikritischen Fasern in der Medulla oblongata verursachen Läsionen im Hirnstamm mit Verletzung der entsprechenden Bahnen eine epikritische und protopathische Sensibilitätsstörung ipsilateral im Bereich des Kopfes und kontralateral distal des Halses. Begleitend treten meist Hirnnervenausfälle und motorische Störungen wie Paresen und Ataxie auf. Thalamusläsion Eine Schädigung des Thalamus führt zu einem kontralateralen Sensibilitätsausfall aller Qualitäten sowie häufig zu komplexen zentralen Schmerzsymptomen. So kann sich z. B. eine Hyperästhesie bei ausgefallenen übrigen Qualitäten entwickeln. Zu nennen ist auch der Thalamusschmerz, ein therapieresistenter, oft stechender, brennender Schmerz, der sich bis zu Wochen nach der Läsion entwickeln kann. Auch hier sind die sensiblen Symptome nicht isoliert vorhanden, sondern kommen oft in Kombination mit Ataxie, einer leichten Hemiparese, Choreoathetose und evtl. Hemianopsie vor. Auch eine dystone Bewegungsstörung kann zur sog. Thalamushand führen (Fingerbeugung in den Grundgelenken mit Überstreckung der Interphalangealgelenke). Somatosensorischer Kortex Eine Schädigung im Bereich des primär sensiblen Kortex (Gyrus postcentralis) oder der sensiblen Assoziationsareale führt zum Ausfall von Vibration, Druck, Temperatur, Berührung und z. T. Schmerz auf der kontralateralen Körperseite.

Nicht organisch bedingte Gefühlsstörungen Sie lassen sich i. d. R. keinem peripheren oder radikulären Innervationsgebiet zuordnen. Häufig wird eine streng median begrenzte Hemihypästhesie angegeben. Zentrale Läsionen führen zu paramedian begrenzten Ausfällen, da sich die Innervationsgebiete der Nerven überlappen.

Untersuchung und Diagnostik Anamnestisch sind Fragen nach Dauer, Ort und Art der Störung wichtig, da v. a. der Ort der Sensibilitätsstörung Hinweise auf die Lokalisation der Läsion gibt. Die klinische Untersuchung ist hierbei von ausschlaggebender Bedeutung, wobei eine möglichst genaue Eingrenzung des betroffenen Areals angestrebt werden sollte (→ ). Zu beachten sind Narben, Schwellungen oder Hauterscheinungen, die Hinweis für eine lokale Störung der Sensibilität sind. Oft wird auch eine leichte Parese (z. B. Extremität, Fazialisparese) vom Patienten als Taubheitsgefühl empfunden. Ein Verlust der Propriozeption wird eher als Ungeschicklichkeit, Instabilität und als Engegefühl um die Extremität empfunden. Bei kortikalen Läsionen stehen Ungeschicklichkeit und Funktionsverlust mehr im Vordergrund als der Sensibilitätsverlust. Auch die Zeitspanne bis zur Manifestation kann Hinweise auf die mögliche Ätiologie geben. Therapeutisch steht die Behandlung der zugrunde liegenden Ursache im Vordergrund. Durch ergänzende apparative und labortechnische Diagnostik können mögliche auslösende Erkrankungen wie Ischämien, Raumforderungen, Blutungen oder Entzündungen erkannt bzw. ausgeschlossen werden.

Zusammenfassung • Sensibilitätsstörungen sind häufige und sehr unterschiedlich imponierende Symptome. • Sensibilität wird unterteilt in epikritische und protopathische Sensibilität. • Als dissoziierte Sensibilitätsstörung bezeichnet man einen isolierten Ausfall der protopathischen Wahrnehmung bei erhaltenen epikritischen Qualitäten. • Der Ort der Sensibilitätsstörung gibt Hinweise auf Art und Lokalisation der Läsion. • Therapeutisch steht die Behandlung der Grunderkrankung im Vordergrund.

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Muskelschwäche Schwäche und Lähmungen sind häufige Symptome in der Medizin, die auf zahlreiche Erkrankungen des ZNS oder des PNS zurückzuführen sein können (→ ).

Abb. 23.1

Durch die Verteilung der motorischen Störungen kann auf den Ort der Läsion geschlossen werden. [L141, L231]

Am Beginn des motorischen Systems steht der Motorkortex mit dem ersten motorischen Neuron. Die absteigenden Fasern des ersten motorischen Neurons empfangen Afferenzen aus dem Thalamus, den Basalganglien und dem Cerebellum (→ ). Die Versorgung der motorischen Hirnnervenkerne erfolgt über den Tractus corticonuclearis, der bilateral an den Hirnnervenkernen endet. Das erste Motoneuron beginnt in der motorischen Rinde, verläuft als Pyramidenbahn durch das Gehirn und steigt als Tractus corticospinalis im Vorderstrang des Rückenmarks herab. Im Vorderhorn erfolgt die Umschaltung auf das zweite Motoneuron, das als motorischer Spinalnerv zu den neuromuskulären Endplatten zieht, wo Nervenimpulse auf die Muskulatur übertragen werden. Störungen auf den unterschiedlichen Ebenen der motorischen Bahnen führen zu Auffälligkeiten im Muskeltonus, der Reflexe, der Muskelmasse (→ und → ) und der Kraft (→ ). Allerdings können auch nicht neurologische Ursachen eine Schwäche oder Lähmungen bedingen.

Tab. 23.1

Veränderungen der Motorik entsprechend dem Läsionsort

Ort der Läsion

Muskeltonus

Reflexe

Muskeltrophik

1. Motoneuron

Spastisch gesteigert (bei akuter Läsion zunächst schlaff)

Gesteigert, pathologische Reflexe

Normal

2. Motoneuron

Normal oder erniedrigt

Abgeschwächt

Atrophie, Faszikulationen

Neuromuskuläre Endplatte

Normal

Normal oder abgeschwächt

Normal

Muskulatur

Normal oder erniedrigt

Normal oder abgeschwächt

Atrophie

Ätiologie Die Ursachen für Schwäche und Lähmungen sind zahlreich (→ ). Zu den häufigsten zählen Schlaganfälle, Raumforderungen (Tumor, Blutungen, Abszesse), Traumen und entzündliche Erkrankungen.

Tab. 23.2

Ätiologie von Muskelschwäche und Paresen

Lokalisation

Mögliche Ursachen

Zentrale Schädigung

Schlaganfall, MS, Trauma, Blutungen, Tumoren, Abszesse

Schädigung auf Rückenmarksebene

MS, Trauma, Bandscheibenvorfall, Blutung, Tumor, Infektionen (z. B. Polio), spinale Muskelatrophie, spastische Spinalparalyse

Schädigung der neuromuskulären Endplatte

Myasthenia gravis, Lambert-Eaton-Syndrom

Muskuläre Schädigung

Muskeldystrophien, Myotonien, Trauma

Neuropathie

Toxisch, metabolisch, autoimmun, paraneoplastisch, traumatisch

Nicht neurologisch

Psychogen, orthopädische Erkrankungen

Klinik Läsionen des ersten Motoneurons Schädigungen von Kortex, Hirnstamm oder Rückenmark Läsionen in diesen Bereichen führen zu einer Schädigung des ersten Motoneurons mit den daraus folgenden klinischen Zeichen (→ ). Defekte im Bereich vor der Kreuzung der Fasern in der Pyramide im Hirnstamm führen zu kontralateralen Paresen. Es lassen sich positive Pyramidenbahnzeichen (z. B. StrümpellZeichen, Oppenheim-Zeichen, Babinski-Zeichen) auf der geschädigten Seite auslösen. Hierbei handelt es sich entwicklungsgeschichtlich um frühe, unreife Reflexe, die im Laufe der normalen Entwicklung gehemmt werden. Läsionen im Rückenmark zeigen häufiger bilaterale Ausfälle unterhalb der Läsion. Häufig sind bei Rückenmarksverletzungen auch die sensiblen Bahnen betroffen. Spastische Spinalparalyse (hereditäre spastische Spinalparalyse, HSP) Diese Erkrankung wird heterogen vererbt (→ ) und ist auf eine Degeneration der Pyramidenbahn zurückzuführen. Die Symptomatik manifestiert sich in der zweiten Lebensdekade zunächst beinbetont mit einer progredienten spastischen Tonuserhöhung der Beine und greift häufig erst nach einigen Jahren auch auf die obere Extremität über. Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) Die ALS (→ ) ist charakterisiert durch eine Degeneration des ersten und zweiten Motoneurons mit den entsprechenden motorischen Ausfällen (→ ). Klinisch zeigen sich langsam-progrediente, asymmetrische Paresen. Die ALS manifestiert sich häufiger an den Extremitäten, jedoch ist auch eine bulbäre Primärmanifestation möglich. Das sensible System ist nicht bzw. selten und dann nur gering betroffen. Syringomyelie Die Syringomyelie wird den Entwicklungsstörungen des Gehirns und des Rückenmarks zugeordnet. Sie kann aber auch nach einem Trauma, einem Tumor oder einer Entzündung entstehen. Dabei kommt es zu flüssigkeitsgefüllten Höhlenbildungen in der grauen Substanz des Rückenmarks. Eine Schädigung des motorischen Systems ist daher je nach Lage der Syrinx nicht immer vorzufinden und manifestiert sich häufig erst in einem späten Krankheitsstadium. Auf Ebene der Läsion können dann periphere schlaffe, atrophische Paresen auftreten. Unterhalb der Schädigung kann es aufgrund einer Läsion der Pyramidenbahn zu einer spastischen Parese kommen.

Läsionen des zweiten Motoneurons Schäden im Bereich des zweiten Motoneurons (Vorderhornzellen, periphere Nerven) können degenerativ (z. B. SMA), metabolisch-toxisch (z. B. Diabetes mellitus) oder traumatisch bedingt sein. Spinale Muskelatrophie (SMA) Die spinale Muskelatrophie (→ ) ist ätiologisch auf einen genetischen Defekt (SMN1, SMN2) zurückzuführen, infolgedessen es zu einer Degeneration des zweiten Motoneurons kommt. Es werden vier Typen sowie Sonderformen unterschieden – Typ I: infantile Form (Werdnig-Hoffmann), Typ II: intermediäre Form, Typ III: juvenile Form (Kugelberg-Welander), Typ IV: adulte Form – , wobei je nach Ausmaß des Gendefekts und des damit verbundenen Funktionsdefizits des SMN-Proteins die Schwere des Verlaufs differiert. Das klinische Bild sind meist proximale beinbetonte, symmetrische Paresen und Atrophien. Bulbärparalyse Bei einer Läsion der motorischen Hirnnervenkerne V, VII, IX – XII spricht man von einer Bulbärparalyse (→ ). Die Patienten fallen durch Dysarthrie, Dysphagie, sichtbare Faszikulationen der Zunge und eine beidseitige Fazialisparese auf.

Tab. 23.3

Bulbär- und Pseudobulbärparalyse

Bulbärparalyse

Pseudobulbärparalyse

Läsion der motorischen Hirnnervenkerne, Läsion des zweiten Motoneurons

Läsion supranukleär im Bereich des Hirnstamms oder der kortikobulbären Fasern, Läsion des ersten Motoneurons

Klinik: Atrophien, Dysarthrie, Dysphagie, Faszikulationen (an der Zunge sichtbar), Faszialisparese

Klinik: verlangsamte Zungenbewegungen, Spastik der Extremitäten, Dysarthrie, Dysphagie, keine Atrophien, keine Faszikulationen, pathologisches Lachen und Weinen

Poliomyelitis anterior Bei der spinalen Kinderlähmung kann es nach einer Infektion mit einem Enterovirus zur Ganglienzelldegeneration im Vorderhornbereich kommen. Klinisch zeigen sich neben Allgemeinsymptomen wie Fieber, Abgeschlagenheit, Kopf- und Gliederschmerzen asymmetrische schlaffe Paresen bevorzugt an den proximalen Extremitäten. Ebenso imponieren Zeichen einer lymphozytären Meningitis. Die Krankheit ist meldepflichtig bei Verdacht, Erkrankung und Tod.

Läsionen der neuromuskulären Endplatte Die Myasthenia gravis pseudoparalytica gehört ebenso wie das Lambert-Eaton- Syndrom zum Formenkreis der myasthenen Syndrome (→ ). Sie sind durch eine zunehmende Schwäche bei repetitiver Muskelkontraktion gekennzeichnet. Dabei sind der Muskeltonus, die Muskelmasse und die Sensibilität unauffällig. Die Muskeleigenreflexe sind beim Lambert-Eaton-Syndrom i. d. R. abgeschwächt, bei der Myasthenia gravis erhalten.

Läsionen der Muskulatur Die Ätiologie von Myopathien ist heterogen (hereditär z. B. myotone Dystrophie, Muskeldystrophie, Kanalerkrankungen; entzündlich z. B. Polymyositis, Dermatomyositis; metabolisch z. B. Glykogenose, Lipidspeichererkrankung; toxisch z. B. Steroide, Alkohol; endokrin z. B. Hypothyreose; → ). Klinisch charakteristisch sind meist proximal betonte Paresen, Atrophie erhaltene Sensibilität, normale oder abgeschwächte Reflexe und z. T. Muskelschmerzen.

Nicht neurologische Schwäche

Nicht neurologische Schwäche Muskelschwäche kann sich aus orthopädischen Erkrankungen (z. B. Arthrose) oder Fehlstellungen entwickeln. Schmerzen jeglicher Art können bei der klinischen Untersuchung Paresen vortäuschen.

Zusammenfassung • Das erste Motoneuron hat seinen Ursprung im Motorkortex, zieht als Pyramidenbahn durch das Gehirn und als Tr. corticospinalis lateralis und Tr. corticospinalis anterior das Rückenmark hinunter. Die Umschaltung auf das zweite Motoneuron, das als peripherer Nerv zu den Muskeln zieht, erfolgt in der Vorderhornzelle des Rückenmarks. • Zeichen von Läsionen des ersten Motoneurons sind spastische Parese, gesteigerte Muskeleigenreflexe, keine Atrophien, Pyramidenbahnzeichen. • Zeichen von Läsionen des zweiten Motoneurons sind schlaffe Parese, abgeschwächte/erloschene Reflexe, Atrophien, Faszikulationen.

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Gangstörungen und Ungeschicklichkeit Gangstörungen Gehen ist ein komplizierter Prozess und hängt von folgenden Faktoren ab: einem intakten Skelettsystem, Muskelkraft, Gleichgewichtssinn, Propriozeption und Koordination. Zu Gangstörungen kann es bereits kommen, wenn bei einem dieser Faktoren eine Fehlfunktion vorliegt.

Anamnese und Diagnostik Neben der allgemeinen Anamneseerhebung sollte besonderer Wert auf folgende Punkte gelegt werden: Wie lange liegt die Gangstörung vor? Trat sie plötzlich ein oder wurde das Gehen allmählich schlechter? Wie weit und wie schnell ist das Gehen möglich? Kam es zu Stürzen? Bestehen Schmerzen in einem oder beiden Beinen oder in der Lendenwirbelsäule? Treten diese Schmerzen nur beim Gehen auf oder sind sie auch in Ruhe vorhanden? Es ist nicht nur eine neurologische Untersuchung notwendig, sondern es muss auch besonders auf Fehlstellungen, Atrophien und Hautveränderungen geachtet werden. Ein wichtiger Bestandteil der Diagnostik symmetrischer und asymmetrischer Gangstörungen ist die genaue Ganganalyse.

Ganganalyse und Klinik Asymmetrische Gangstörung In der Regel führt eine einseitige Tonusveränderung oder eine Halbseitenschwäche zu einem asymmetrischen Gangbild. Auch Gangstörungen orthopädischer oder anderer nicht neurologischer Genese sind meist asymmetrisch. Sie können bei der Anamnese und genauen körperlichen Untersuchung erkannt werden. • Die Symptomatik (Rigor, Tremor, Akinese) bei einem Parkinson-Syndrom ist in den meisten Fällen nicht seitengleich ausgeprägt, was sich klinisch als ein Hemi-Parkinson-Gang darstellen kann. Es handelt sich dabei um einen zögerlichen, steifen Gang, wobei der Arm der betroffenen Seite weniger mitschwingt und der Oberkörper häufig zur Seite geneigt ist. • Der hemispastische Wernicke-Mann-Gang ist charakterisiert durch ein steifes Bein mit supiniertem Fuß, dessen lateraler Rand am Boden schleift. Beim Gehen wird das Spielbein um das Standbein geschwungen (Zirkumduktion). Der Arm ist flektiert und proniert und schwingt nicht mit. Dieser Gangstörung liegen zerebrale Ischämien, Blutungen und Tumoren zugrunde. Aber auch spinale Raumforderungen oder entzündliche Erkrankungen können Ursachen einer Wernicke-Mann-Gangstörung sein. • Auch bei einer einseitigen Schwäche eines peripheren Nervs kann es zu einer Gangstörung kommen. So führt z. B. eine Läsion des N. peronaeus profundus zum „Steppergang “. Hierbei wird das Knie beim Laufen stärker angehoben, damit die hängende Fußspitze nicht am Boden schleift. Beim Auftreten gibt es ein aufklatschendes Geräusch.

Symmetrische Gangstörungen • Die zerebellär-ataktische Gangstörung ist charakterisiert durch eine breitbasige, unregelmäßige Schrittfolge mit Standunsicherheit und Schwanken (s. u.). • Der sensibel-ataktische Typ einer Gangstörung beruht auf einer fehlenden oder mangelhaften Rückmeldung sensibler Bahnen (Vibrations- und Lageempfinden) an das ZNS und wird als „spinale Ataxie“ bezeichnet. Zu den wichtigsten Ursachen zählen Polyneuropathie, Multiple Sklerose, Vitamin-B 12 -Mangel und die Friedreich-Ataxie. Es kommt zu unterschiedlicher Schrittlänge, wobei die Beine ungleichmäßig angehoben werden. Charakteristisch ist, dass die Gangunsicherheit bei fehlender visueller Fixierung z. B. im Dunkeln oder bei geschlossenen Augen stärker ausgeprägt ist, wobei sie durch Fixierung der Umwelt mit den Augen eine Besserung erfährt oder komplett kompensiert werden kann.

Sonderformen • Die Gehstörung beim Morbus Parkinson zeichnet sich durch einen kleinschrittigen Gang aus. Außerdem laufen die Patienten mit vornübergeneigtem Oberkörper und angewinkelten Armen, die beim Gehen kaum mitschwingen (→ ). • Auch zerebrovaskuläre Erkrankungen können Gangstörungen hervorrufen. Im Rahmen der subkortikalen vaskulären Enzephalopathie (SVE) / Morbus Binswanger kommt es je nach Lokalisation des Gewebeuntergangs zu Paresen. Charakteristisch sind ein breitbasiges ataktisches Gangbild sowie weitere Symptome, wie fokale neurologische Defizite, Benommenheitsgefühl, Harninkontinenz, kognitive Defizite / vaskuläre Demenz. • Unter dem sog. Watschel - oder Trendelenburg-Gang versteht man eine Störung, die durch eine Schwäche der Mm. glutei medius und minimus, z. B. bei einer Wurzelläsion L5 (auch Fußheberschwäche), Schädigung des N. gluteus superior, Hüftdysplasie oder Muskeldystrophien entsteht. Hierbei kann durch eine Lähmung der Glutealmuskeln das Becken nicht am Standbein fixiert werden und sinkt beim Laufen zur Gegenseite ab (→ ). Außerdem kippt der Oberkörper auf der gelähmten Seite nach außen, um dem Schwungbein auf der Gegenseite ausreichend Spielraum zu geben. • Bei Normaldruckhydrozephalus imponiert ein breitbasiger, kurzschrittiger und am Boden haftender, schlurfender Gang mit zögerlichem und unterbrochenem Muster. Der Seiltänzergang ist nicht möglich. Die Haltung ist steif. Diese Form wird auch als „frontale Gangstörung“ bezeichnet. Typisch ist die Trias aus Gangstörung, Harninkontinenz und demenziellem Syndrom. • Das klassische Gangmuster bei Tabes dorsalis wird der Gruppe der spinalen Ataxien zugeordnet. Um diese auszugleichen, werden beim Gehen die Knie hoch angehoben. • Eine beidseitige Spastik der Beine führt zum sog. Scherengang , der durch eine Zirkumduktion beider Beine entsteht. • Weitere außergewöhnliche Gangstörungen können bei verschiedenen Erkrankungen auftreten. Bei choreatischen Störungen (→ ) kann ein dystoner Gang vorliegen, bei dem der langsame, unsichere Gang durch choreatische, dystone Bewegungen überlagert wird. Derartige Zeichen können auch bei der Wilson-Krankheit auftreten. Die Kombination von orthopädischen und neurologischen Erkrankungen kann zu sehr bizarren Gangstörungen führen.

Abb. 24.1

Darstellung eines positiven Trendelenburg-Zeichens rechts [E404]

Ungeschicklichkeit Eine Störung der Bewegungsabläufe an oberer bzw. unterer Extremität fällt dem Patienten häufig zunächst einmal durch Ungeschicklichkeit auf. Diese kann aber bereits das erste Symptom einer Muskelschwäche, einer Läsion der sensiblen Projektionen zum Gehirn oder hirnorganischer Erkrankungen, die mit Bradykinesie bzw. Koordinationsstörungen einhergehen, sein.

Kleinhirnsyndrome Gangstörungen, Ungeschicklichkeit, Intentionstremor, Dysarthrie, Augenbewegungsstörungen und Koordinationsschwierigkeiten sind die Leitsymptome bei einem Kleinhirnsyndrom (→ ).

Ätiologie Zu den Ursachen einer Kleinhirnschädigung zählen u. a. Intoxikationen mit Alkohol oder Antikonvulsiva, Atrophien bei chronischem Alkoholabusus, entzündliche Erkrankungen wie multiple Sklerose, genetische Defekte, wie z. B. autosomal-dominante zerebelläre Ataxie, idiopathische zerebelläre Atrophie und Schlaganfälle. Außerdem können Tumoren, Traumen und Blutungen Ursache einer zerebellären Störung sein.

Klinik Schädigung der Kleinhirnhemisphäre Auf der homolateralen Seite wird eine Ataxie der Extremitäten bei den Ziel- und Zeigeversuchen beobachtet (Hypo- bzw. Hypermetrie). Dies äußert sich auch in einer ataktischen Gangunsicherheit der betroffenen Extremität. Des Weiteren findet man einen Intentionstremor, eine Störung der Feinmotorik (Dysdiadochokinese), einen herabgesetzten Muskeltonus sowie Dysarthrie (skandierende Sprache, → ).

Schädigung des Kleinhirnwurms Die Bewegungsstörung ist hierbei eher stammnah betont. Die feinmotorische Prüfung der distalen Extremitäten ist nicht so stark beeinträchtigt. Zu beobachten ist eine Rumpfataxie, die sich durch Schwanken und Fallneigung präsentiert und dem Patienten das freie Sitzen erschwert bzw. unmöglich macht. Des Weiteren können ein Nystagmus, eine Sakkaden-Blickfolge-Störung und eine Muskelhypotonie festgestellt werden.

Zusammenfassung • Asymmetrische Gangstörungen: z. B. Hemi-Parkinson-Gang, Wernicke-Mann-Gang, Ausfall einzelner peripherer Nerven (z. B. Steppergang), oft orthopädische Erkrankungen. • Symmetrische Gangstörungen: z. B. zerebelläre Ataxie, spinale Ataxie, beidseitige Spastik der unteren Extremität. • Bei einer Läsion der Kleinhirnhemisphären beobachtet man eine Extremitätenataxie mit Intentionstremor und Gangunsicherheit sowie Muskelhypotonie, Dysarthrie und eine Feinmotorikstörung. • Die Schädigung des Kleinhirnwurms zeigt sich in einer Rumpfataxie, Nystagmus und Muskelhypotonie, jedoch einer geringeren Beeinträchtigung der Feinmotorik.

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Hirndruckerhöhung Der Hirndruck beschreibt den intrakraniellen Druck ( intracranial pressure)), ICP), der innerhalb des knöchernen Schädels besteht. Der Referenzbereich für einen Erwachsenen in horizontaler Position liegt bei unter 15 mmHg. Der ICP unterliegt Spitzen, die beim Husten bis zu 100 mmHg erreichen können. Durch dieses geschlossene System aus knöchernem Schädel und kaum komprimierbarem Hirnparenchym führen bereits geringe Volumenzunahmen zu einem Anstieg des intrakraniellen Drucks. Eine invasive Messung des ICP ist über eine Bohrlochtrepanation durch Einlegen einer epiduralen Messsonde, durch Einführen eines Katheters in einen Seitenventrikel oder durch Messung im Parenchym möglich. Die Indikation zur invasiven Hirndruckmessung wird zur Therapieführung, Entscheidung über operative Interventionen (z. B. Hemikraniektomie) bei kritisch kranken Patienten gestellt, bei welchen eine klinische Beurteilung aufgrund von Sedierung oder komatösem Zustand nicht möglich ist. Eine Hirndruckerhöhung stellt einen neurologischen Notfall dar, der innerhalb von Stunden bis Tagen zum Tod führen kann. Eine lumbale Liquorpunktion ist bei Verdacht auf eine akute Hirndrucksteigerung kontraindiziert.

Ätiologie und Pathogenese Pathologische Bedingungen des Hirnparenchyms, des Liquorsystems oder der Blutversorgung, die eine intrakranielle Volumenzunahme bedingen, führen zu einem intrakraniellen Druckanstieg. Im Folgenden sind häufige Ursachen aufgeführt: • Intrakranielle Raumforderungen: Tumoren, Blutungen • Liquorabflussstörungen: Verschlusshydrozephalus, hypersekretorischer oder aresorptiver Hydrozephalus • Erhöhter venöser Abflusswiderstand (z. B. Jugularvenenobstruktion, Sinusvenenthrombose) • Hirnödem: vasogenes Hirnödem (primäre Störung der Blut-Hirn-Schranke durch Auflockerung der Tight Junctions) im Rahmen eines Traumas, in Umgebung von Raumforderungen (z. B. Tumor, Metastasen, Abszess) oder entzündlich (z. B. Vaskulitis, Enzephalitis); zytotoxisches Hirnödem (primäre Störung des zellulären Stoffwechsels) etwa nach Ischämie (z. B. Schlaganfall, Sinusvenenthrombose, Blutdruckabfall), Urämie, Medikamenteneinnahme (bestimmte Antibiotika, Kontrazeptiva etc.) und Toxinen (z. B. Insektizide). Zytotoxisches und vasogenes Hirnödem können sich im Sinne eines Circulus vitiosus gegenseitig unterhalten. • Andere: Pseudotumor cerebri (→ ), Hyperkapnie Eine Steigerung des Hirndrucks unterschiedlichster Ätiologie schränkt die Blut- und Liquorzirkulation ein, was über einen eingeschränkten Abtransport von Stoffwechselmetaboliten eine Vasodilatation bewirkt. Durch einen zentral ausgelösten Anstieg des peripheren Blutdrucks, die autoregulatorische Gefäßkonstriktion und die gesteigerte CO 2 -Abatmung wird versucht, eine ausreichende Durchblutung aufrechtzuerhalten. Die O 2 -Minderversorgung und der sinkende pH-Wert stören den Zellstoffwechsel und bewirken einen vermehrten Wassereinstrom in die Zellen. Bei anhaltender Minderperfusion und zunehmend saurem Milieu kann diese Gegenregulation nicht mehr aufrechterhalten werden und es kommt zu einer Vasodilatation mit Gefäßschrankenstörung (extrazelluläre Ödembildung). Das erhöhte intrazerebrale Volumen und das Ödem führen ihrerseits zu einer Volumenzunahme mit konsekutiver Hirndruckzunahme. Es entsteht ein Kreislauf, der letale Folgen haben kann. Wenn der Hirndruck den systemischen Blutdruck übersteigt, kommt es zum Sistieren der Durchblutung. Auch eine Herniation (s. u.) mit Schädigung der vegetativen Funktionen ist möglich.

Klinik Akute Drucksteigerung Anfangs zeigen sich je nach Lokalisation der ursächlichen Läsion fokal neurologische Symptome oder auch ein epileptischer Anfall. Je nach Geschwindigkeit und Ausmaß des ICP-Anstiegs kann dies letztendlich zu einer Verlagerung und Kompression des Hirnparenchyms führen und schließlich in einer Einklemmung (s. u.) mit letalen Folgen enden. Ein typischer Verlauf beginnt mit Kopfschmerzen, Übelkeit, Nüchternerbrechen („im Schwall“), Desorientierung, Nackensteife und psychomotorischer Verlangsamung. Mit Fortschreiten der Druckerhöhung kommt es zu verstärkten Bewusstseinsstörungen mit Massenbewegungen und ungezielter Schmerzabwehr. Des Weiteren können eine Bulbusdivergenz („schwimmende Bulbi“) und im Verlauf eine Störung der Atemtätigkeit mit zunehmendem Ausfall von Hirnstammreflexen (Würgereflex, okulozephaler, vestibulookulärer und Kornealreflex) auftreten. Schließlich fallen die Patienten ins Koma mit pathologischer Motorik (frühe Phase: Beuge- und Strecksynergismen; Spätphase: keine bzw. vereinzelt pathologische motorische Reaktionen, kaum Spontanbewegungen), Pupillenstörungen (frühe Phase: Anisokorie, verzögerte Lichtreaktion; Spätphase: weite, lichtstarre Pupillen) und krankhaftem Atemmuster (frühe Phase: Tachypnoe, Cheyne-Stokes-Atmung; Spätphase: Maschinenatmung, Schnappatmung, Atemstillstand). Chronische Drucksteigerung Neben Kopfschmerzen, die beim Pressen und beim Lagewechsel zunehmen und mit Übelkeit und Nüchternerbrechen im Schwall verbunden sind, dominiert eine ausgeprägte Antriebs- und Orientierungsstörung. Außerdem kann eine chronische Druckerhöhung verschiedene Symptome an den Augen wie Doppelbilder oder eine Stauungspapille zur Folge haben. Sensible und motorische fokale epileptische Anfälle und schmerzhafte Nervenaustrittspunkte treten ebenfalls gehäuft bei der chronischen Druckerhöhung auf. Bewusstseinsstörungen sind möglich.

Komplikationen Eine große Gefahr der Hirndrucksteigerung liegt in der oberen und unteren Einklemmung, bei der es durch einen nicht mehr kompensierbaren intrakraniellen Druckanstieg zu einer Massenverschiebung von Hirngewebe mit Einklemmung im Tentoriumschlitz bzw. Foramen occipitale magnum kommt. Beide Formen führen ohne Behandlung zum Hirntod. Obere Herniation (transtentorielle Herniation) Man kann eine symmetrische Einklemmung bei diffuser intrakranieller Volumenzunahme von einer asymmetrischen, z. B. bei umschriebener einseitiger Raumforderung, unterscheiden (→ ). Es kommt zu einer Quetschung von mediobasalen Temporallappenanteilen in den Tentoriumschlitz.

Abb. 25.1

Untere und obere Einklemmung [L141]

Bei der asymmetrischen Form ist die Symptomatik zunächst einseitig: Schädigung des N. oculomotorius mit initialer Reizmiosis und schließlich einseitiger lichtstarrer Mydriasis (innere Okulomotoriuslähmung); im Verlauf dann vollständige Okulomotoriuslähmung. Druck auf die Pyramidenbahn im Pedunculus cerebri führt zur Hemi- bzw. Tetraparese. Bei der symmetrischen Form kommt es bereits früh zu Vigilanz- und Verhaltensveränderungen, Orientierungslosigkeit und Eintrübung bis hin zum dienzephalen und später mesenzephalen Syndrom (→ ).

Tab. 25.1

Hirnstammsyndrome

Syndrom

Untersuchung der Augen und Hirnstammreflexe

Weitere Symptome

Dienzephales Syndrom (Spätphase)

Miosis mit prompter Lichtreaktion; Korneal-, Würge- und vestibulookulärer Reflex erhalten; okulozephaler Reflex enthemmt

Sopor, Beugung der Arme und Streckung der Beine auf Schmerzreiz; Cheyne-Stokes-Atmung; Babinski positiv

Mesenzephales Syndrom

Mittelweite Pupillen; oft anisokor, entrundet; träger oder fehlender Lichtreflex; Korneal- und Würgereflex erhalten; okulozephaler und vestibulookulärer Reflex diskonjugiert

Komatös; Strecksynergien; Opisthotonus; Babinski positiv; Maschinenatmung; Hypertonie, Hyperthermie; Tachykardie

Pontines Syndrom

Mittelweite, oft entrundete, lichtstarre Pupillen; Würgereflex erhalten; Kornealreflex erschöpflich; okulozephaler und vestibulookulärer Reflex fehlen

Komatös; leichte Streckung der Extremitäten auf Schmerzreiz; Atmung regelmäßig oder ataktisch; Hyperthermie, Tachykardie

Bulbärsyndrom

Weite, entrundete, lichtstarre Pupillen; Divergenzstellung der Bulbi; fehlende Hirnstammreflexe

Komatös, keine Reaktion auf Schmerzreiz; Cluster- oder Schnappatmung; Atemstillstand; Hypothermie, Hypotonie, Rhythmusstörungen

Untere Herniation Diese Form ist seltener. Raumforderungen in der hinteren Schädelgrube (z. B. nach Kleinhirnischämie durch Ödembildung) führen zu einer Einklemmung von Kleinhirnteilen in den Tentoriumschlitz von unten oder zu einer Quetschung der Kleinhirntonsillen in das Foramen occipitale magnum. Hierbei kommt es zu einer Schädigung des Pons und im Verlauf des Bulbärhirns (→ ).

Diagnostik Bei Verdacht auf eine Hirndruckerhöhung ist eine ständige Kontrolle der Bewusstseinslage, Hirnstammsymptome, Pupillenreaktion, Augenbewegungen und des Augenhintergrunds notwendig und von prognostischer Bedeutung. Im MRT oder CT zeichnet sich der erhöhte Hirndruck durch folgende Punkte aus: verstrichene Sulci, evtl. Mittellinienverlagerung, eingeengte Seitenventrikel, volumenverkleinerte basale Zisterne, eine Atrophie des Dorsum sellae bei chronischem Verlauf und eine Verlagerung des Hirnstamms nach kaudal. Eine Hirndruckmessung kann ebenfalls indiziert sein.

Therapie Als Basistherapie werden Allgemeinmaßnahmen durchgeführt, wie Oberkörperhochlagerung (ca. 15–30°), Kontrolle der Temperatur und Atmung mit Sicherung eines ausreichenden pO 2 , Ausgleich von Elektrolytentgleisungen, Kontrolle von Glukose, Kreatinin und Harnstoff, medikamentöse Regulierung des arteriellen Mitteldrucks, Gewährleistung des venösen Abflusses und Kontrolle, um einen erhöhten zerebralen Stoffwechsel zu unterbinden. Die Erhaltung eines ausreichenden zerebralen Perfusionsdrucks wird angestrebt. Glukokortikoide werden zur Abschwellung eingesetzt. Weitere Maßnahmen sind eine durch Hyperventilation erzeugte Hypokapnie mit folglicher Vasokonstriktion, osmotherapeutisch wirksame Mittel wie Mannit, Sorbit und Glyzerin bei Anstieg des intrakraniellen Drucks. Bei starker raumfordernder Wirkung mit Einklemmungsgefahr (Hirndruck > 40 mmHg) kann eine rasche Druckentlastung durch eine Hemikraniektomie indiziert sein. Bei ausgedehnter Ischämie im Mediaversorgungsgebiet (maligner Mediainfarkt) kann eine prophylaktische Hemikraniektomie innerhalb von 2 Tagen nach Symptombeginn erwogen werden. Zur Hypothermie werden Daten erhoben.

Zusammenfassung

• Der Normwert des Hirndrucks eines Erwachsenen in horizontaler Position liegt bei unter 15 mmHg. • Bei Verdacht auf Hirndrucksteigerung sind ständige Kontrollen von Vigilanz, Blutdruck, Herzfrequenz, Pupillomotorik und Augenhintergrund erforderlich und von großem prognostischem Wert. Eine Bildgebung ist notwendig. • Eine obere Herniation entsteht durch Einklemmung von Temporallappenteilen in den Tentoriumschlitz, die untere Herniation durch Quetschung von Kleinhirnteilen in das Foramen occipitale magnum.

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Verwirrtheit und Delir Unter Verwirrtheit versteht man im Allgemeinen ein inadäquates Verhalten mit einer Aufmerksamkeitsstörung, Desorientiertheit zu Zeit, Ort und Person. Zudem können psychomotorische Unruhe, Angst und Denkstörungen begleitend auftreten. Kommt es zusätzlich zu Bewusstseinsveränderungen, wird von einem Delir gesprochen. Diese Symptome werden oft dem Oberbegriff „Organisches Psychosyndrom“ untergeordnet, der eine Vielzahl hirnorganisch bedingter, meist reversibler Symptome unterschiedlicher Ursachen zusammenfasst. Bei bis zu 20 % der stationären und bei bis zu 50 % der über 65-jährigen stationären Patienten treten Verwirrung und Delir auf.

Ätiologie Unterschiedliche Ursachen können zur Ausbildung einer Verwirrtheit oder eines Delirs führen (→ ). Hierbei sind Patienten mit einer Vorschädigung des Gehirns z. B. im Rahmen einer neurologischen Erkrankung (z. B. Demenz, Parkinson) oder systemischen Erkankung (z. B. Niereninsuffizienz, Herzinsuffizienz) grundsätzlich stärker gefährdet. Ein Delir wird mit steigendem Alter und nachlassenden geistigen Fähigkeiten wahrscheinlicher. Nach einer Operation kommt es häufig bei den älteren Patienten zu deliranter Symptomatik. Nahezu jede Medikamentengruppe kann als Nebenwirkung ein Delir auslösen, insbesondere Anticholinergika, Beruhigungsmittel, Narkosemittel oder die Einnahme von mehreren Medikamenten (Polypharmazie).

Tab. 26.1

Ursachen für Verwirrtheit und Delir (Auswahl)

Systemisch

• Metabolisch (Elektrolytentgleisungen, Hypo-/Hyperglykämie, Hypothyreose, Leberversagen, Urämie, Anämie etc.) • Toxisch (Alkohol und Alkoholentzug, Benzodiazepin-Entzug, Psychopharmaka, Antikonvulsiva, Drogen, Narkosen) • Infektiös (Sepsis, Pneumonie, Harnwegsinfektion) • Exsikkose • Fieber

Hirnorganisch

• Infektiös (Meningitis, Enzephalitis) • Epilepsie (postikataler Zustand) • Immunologisch (z. B. Lupus erythematodes) • Contusio cerebri • Hirndrucksteigerung • Subduralblutung • Posthypoxisch • Demenz

Vaskulär

Schlaganfall; intrakranielle Blutung (z. B. Subarachnoidalblutung)

Delir Unter Delir versteht man ein akut einsetzendes organisch bedingtes Psychosyndrom, das prinzipiell reversibel ist. Der Verlauf kann jedoch potenziell lebensbedrohlich sein. Zur Diagnosestellung eines Delirs ist der Nachweis einer zugrunde liegenden organischen Ursache erforderlich.

Klinik Ein Delir entwickelt sich akut bis subakut innerhalb von Stunden bis Tagen. Die Symptomatik ist sehr variabel und unterliegt typischerweise deutlichen tageszeitlichen Fluktuationen, wobei oft eine nächtliche Betonung der Symptome vorliegen kann. Kennzeichnend sind eine Bewusstseinsstörung (Somnolenz bis hin zu Koma) und kognitive Störungen wie eine Störung der Aufmerksamkeit, der Auffassung, des Gedächtnisses, der Orientierung, der Sprache (z. B. Konfabulation) sowie der Psychomotorik und des Schlafes (gestörter Schlaf-wach-Rhythmus). Häufig sind auch vegetative (Hypertonie, Tachykardie, Fieber, Hyperhidrosis) und psychotische Symptome (erhöhte Suggestibilität, Halluzinationen, Wahn).Es wird zwischen einer hyperaktiven (psychomotorische Unruhe mit Agitiertheit mit raschem gepresstem Sprechen, häufig Halluzinationen, Angst, Ärger, aggressivem Verhalten, Weglauftendenz, Euphorie, Rastlosigkeit)und einer hypoaktiven Form (passiv, lethargisch, mit verlangsamten Bewegungen, apathisch, vor sich hinstarrend, kaum Spontanaktivität) unterschieden, wobei oft Mischformen vorliegen bzw. die klinische Symptomatik zwischen den beiden Formen wechselt.

Differenzialdiagnosen Wichtige Differenzialdiagnosen sind eine zerebrale Ischämie z. B. mit Aphasie, Schizophrenie und Demenz (→ ). Diese sollten immer in der Diagnostik mit berücksichtigt werden.

Tab. 26.2

Differenzialdiagnose Delir, Schizophrenie, Demenz Delir

Schizophrenie

Demenz

Beginn

Akut

Akut

Langsam

Bewusstsein

Eingeschränkt

Normal

Normal

Psychomotorik

Wechselnd

Wechselnd

Normal bis wechselnd (in Abhängigkeit von der Grunderkrankung)

Halluzinationen

Oft visuell

Oft akustisch

Keine

Sprache

Inkohärent

Normal bis inkohärent

Wortfindungsstörungen

Besonderheiten

Koordinationsprobleme, vegetative Störungen

Meist über mehrere Jahre dauerndes Prodromalstadium

Progredienter Verlauf (in Abhängigkeit von Grunderkrankung)

Außerdem sollten eine Wernicke-Enzephalopathie und ein Korsakow-Syndrom abgeklärt werden (siehe unten). Zur Bewertung des mentalen Zustands der Patienten gibt es verschiedene Tests. Der am häufigsten eingesetzte Screening-Test in der Klinik zur Erfassung von Demenzen ist der Mini-Mental-Status-Test (MMST; → ). Erreicht der Patient von den 30 möglichen Punkten weniger als 23, besteht der Verdacht auf eine demenzielle Entwicklung (→ ).

Tab. 26.3

Mini-Mental-Status-Test nach Folstein (Auszug) [X314] Fragen

1.

Zeitliche Orientierung

Welches Datum haben wir?

2.

Merkfähigkeit

Hören Sie mir aufmerksam zu. Ich werde jetzt drei Worte sagen. Wenn ich mit dem Sprechen fertig bin, werden Sie diese Worte wiederholen. Sind Sie bereit? Hier sind die Worte … APFEL [Pause], LAMPE [Pause], TISCH [Pause]. Wiederholen Sie jetzt diese Worte. [Bis zu 5-mal wiederholen. Punkte jedoch nur für den ersten Versuch vergeben.]

3.

Sprachliche Benennung

Was ist das? [Auf einen Bleistift oder Kugelschreiber deuten.]

4.

Lesen

Bitte lesen Sie dies durch und tun Sie, wozu Sie aufgefordert werden. [Dem Patienten/der Patientin die Worte auf dem Stimulusvordruck zeigen.]: „Schließen Sie Ihre Augen.“

Abgedruckt mit freundlicher Sondergenehmigung des Verlages Psychological Assessment Resources, Inc., 16204 North Florida Avenue, Lutz, Florida 33549. Aus „Mini Mental State Examination“ von Marshal Folstein und Susan Folstein. Copyright 1975, 1998, 2001 von Mini Mental LLC, Inc. 2001 publiziert von Psychological Assessment Resources, Inc. Die weitere Verbreitung ohne die Genehmigung PAR, Inc. ist verboten. MMSE kann bei PAR, Inc. erworben werden unter der Telefonnummer (813) 968– 3003.

Diagnostik Das Erheben der Anamnese kann sich aufgrund des kognitiven Zustands des Patienten als äußerst schwierig gestalten. Daher sollte eine Fremdanamnese angestrebt werden. Beginn, Vorerkrankungen (wie Diabetes mellitus, Epilepsie, Parkinson und kardiale Diagnosen), Alkoholkonsum, Traumata und Medikamente sind für die Anamnese von großer Bedeutung. Des Weiteren sollte der Zustand der mentalen Funktionen des Patienten vor der Verwirrtheit eruiert werden. Bei der allgemeinen Untersuchung ist auf Folgendes zu achten: Zeichen einer Sympathikusaktivierung (Tachykardie, Hyperhidrosis, Hypertonie etc.), Verletzungen als Hinweis für ein SHToder innere Verletzungen, Zungenbiss oder Urinabgang als Hinweis für einen epileptischen Anfall, Infektion, Meningismus oder andere neurologische Defizite als Hinweis auf eine weitere akute Erkrankung wie Meningitis, Zeichen von Mangelernährung, Schlaganfall oder Parkinson. Daneben ist eine umfassende Labordiagnostik (Blutbild, Leber-, Pankreas- und Nierenwerte, CK, Gerinnung, Elektrolyte, CRP / BSG, Blutzucker) erforderlich. Im Rahmen differenzialdiagnostischer Überlegungen erfolgt die weitere Labordiagnostik (z. B. Vitamine, Hormone, Drogendiagnostik etc.) bzw. ergänzende Zusatzdiagnostik mittels EKG, Röntgen-Thorax, zerebraler Bildgebung, Liquor, EEG, Blutkulturen etc. Bei der neurologischen körperlichen Untersuchung kann sich je nach Delirursache z. B. eine Polyneuropathie, Ataxie oder Hinweise für eine vorbestehende neurologische Erkrankung wie Parkinson oder Epilepsie zeigen.

Therapie Neben spezieller Therapie der Ursache sind auch Allgemeinmaßnahmen von Bedeutung. Diese beinhalten eine optimierte Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr, eine optimale Einstellung laborchemischer und metabolischer Parameter (Blutzucker, Elektrolyte, O 2 -Sättigung) sowie psychologische Unterstützung. Die Patienten sollten sich in einer ruhigen, ihnen vertrauten Umgebung befinden. Die Gabe von Medikamenten sollte auf ein Minimum reduziert werden. Die Gabe von Neuroleptika, z. B. Haloperidol oder sedierenden Medikamenten (z. B. Benzodiazepinen), kann hilfreich sein.

Alkoholdelir Ein Alkoholdelir (Synonym: Delirium tremens) erleiden bis zu 15 % der Alkoholkranken. Es kann sowohl bei einem plötzlichen Entzug als auch bei einem Abfall des Alkoholserumspiegels und selten auch bei einem übermäßigen Alkoholkonsum bei chronisch Alkoholkranken entstehen. Im Spontanverlauf bildet sich die Symptomatik im Durchschnitt nach 5–7 Tagen wieder zurück. Die Letalität beträgt unbehandelt etwa zwischen 20 und 30 % und kann unter optimaler Therapie auf 2 % gesenkt werden.

Klinik Klinisch weisen die Patienten eine quantitative und qualitative Bewusstseinsstörung, autonome und psychische Symptome und kognitive Defizite in unterschiedlicher Ausprägung auf. Patienten mit ausgeprägten Entzugssymptomen (Prädelir) zeigen leichtere vegetative Symptome wie Tachykardie, Hypertonie, Hyperhidrosis, Tremor, Kopfschmerzen, daneben können auch Ängstlichkeit, Reizbarkeit, depressive Verstimmung auftreten. Epileptische Entzugsanfälle sind in dieser Phase häufiger. Bildet sich das Vollbild eines Delirs aus, treten Bewusstseinsstörungen auf mit Vigilanzminderung (bis hin zum Koma), Desorientiertheit, Gedächtnisstörungen, psychomotorische Unruhe, Schlafstörungen, psychotische Symptome wie optische Halluzinationen (z. B. Mäuse), eine erhöhte Suggestibilität (z. B. trinken von einem imaginären Glas). Daneben kommt es zu vegetativen Entgleisungen mit Fieber (bis 38,5 °C), Tachykardie, Hypertonie, Hyperventilation, vermehrter Transpiration, vermehrter Schreckhaftigkeit, Angstzuständen, Euphorie etc.

Therapie Die Therapie erfolgt unter stationären (bei schwerem Verlauf intensivmedizinischen) Bedingungen mit dem Ziel einer leichten Sedierung und Behandlung der psychotischen sowie Dämpfung der vegetativen Symptomatik. Ein früher Behandlungsbeginn ist für den Krankheitsverlauf entscheidend. Zur Prävention einer Wernicke-Enzephalopathie erfolgt eine möglichst baldige Gabe von Vitamin B 1 p. o. oder i. v. Je nach Schweregrad des Delirs sollte die medikamentöse Therapie angepasst werden. Bei leichten Verläufen kann eine Monotherapie mit Benzodiazepinen oder Clomethiazol ausreichen, die bei schweren Verläufen mit einem Neuroleptikum (z. B. Haloperidol) ergänzt werden kann. Bei ausgeprägter vegetativer Symptomatik kann der Einsatz von Clonidin oder β-Blockern und zur Prophylaxe von Krampfanfällen die Gabe von Carbamazepin erwogen werden. Aufgrund von häufigem Magnesiummangel und Kaliummangel sollte zusätzlich eine Substitution erfolgen. Der Ausgleich einer Hyponatriämie sollte aufgrund der Gefahr einer zentralen pontinen Myelinolyse (osmotische Demyelinisierung) langsam erfolgen.

Wernicke-Enzephalopathie Als Folge eines Vitamin-B 1 -Mangels (Thiamin) kommt es zu Nervenzellnekrosen mit symmetrischen, zum Teil hämorrhagischen Läsionen der Corpora mamillaria, des Thalamus und Hypothalamus und weiterer Strukturen des Mittelhirns (CMRT: typisch symmetrische hyperintense Kontrastmittelaufnehmende Läsionen in T2-Gewichtung). Häufigste Ursache des Thiamin-Mangels ist Alkoholismus. Weitere sind Mangelernährung oder chronische Erkrankungen (z. B. Hämodialyse-Patienten). Zu beachten ist die Gefahr einer iatrogen induzierten Wernicke-Enzephalopathie durch intravenöse Glukosegabe bei Patienten mit Thiamin-Mangel, z. B. Intensivstation.

Klinik Typisch ist eine Trias aus Verwirrtheit mit Bewusstseinsstörung, Augenbewegungsstörung (Augenmuskellähmungen, Nystagmus, Blickparesen, Ptose) und Gang- / Standataxie. Das Vollbild der klinischen Ausprägung zeigt sich nur selten, sodass die Erkrankung oft übersehen wird.Weiterhin können eine Polyneuropathie, Hypothermie oder kardiovaskuläre Symptome (Herzinsuffizienz, Tachykardie, Hypotonie etc.) auftreten. Das Korsakoff-Syndrom stellt ein Residualsyndrom nach abgelaufener Wernicke-Enzephalopathie dar. Klinisch zeigen sich diffuse kognitive Defizite, meist schwere Gedächtnisstörungen (amnestisches Syndrom) mit anfangs Konfabulationsneigung. Eine Vigilanzstörung liegt nicht mehr vor. In der Untersuchung zeigen sich in der Regel noch ein Blickrichtungsnystagmus und eine Gangataxie. Wird eine Wernicke-Enzephalopathie rasch behandelt, kann sich die Symptomatik bei etwa der Hälfte der Betroffenen innerhalb 1 Jahres teils oder vollständig zurückbilden.

Therapie Die Behandlung besteht in einer frühestmöglichen Substitution von Thiamin, zunächst parenteral über einige Tage (z. B. 200 mg / d), wobei bereits auf Verdacht hin ein Therapieversuch erfolgen sollte.

Zusammenfassung • Als Delir bezeichnet man ein organisch bedingtes akutes Auftreten einer Bewusstseinsstörung mit Defiziten der Aufmerksamkeit, Orientierung, Wahrnehmung, Psychomotorik und des Schlafes. • Ein Delir kann sich sowohl mit hyperaktiver Symptomatik (Agitiertheit, Aggressivität, Halluzinationen, vegetative Symptomatik etc.) als auch mit hypoaktiver Symptomatik (Apathie, Lethargie, Starren, Denkstörung etc.) präsentieren. • Aufgrund einer hohen Letalität des unbehandelten Alkoholdelirs erfolgt die Therapie unter stationären Bedingungen. Die Substitution von Vitamin B 1 und Magnesium sollte frühestmöglich beginnen. • Klinisch zeigt sich eine Wernicke-Enzephalopathie typischerweise durch eine akute Verwirrtheit mit Bewusstseinsstörung, Augenbewegungsstörung und Gang-/Standataxie als Folge eines Thiamin-Mangels. Aufgrund des schweren Verlaufs sollte eine Thiamin-Substitution bereits auf Verdacht erfolgen.

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Demenz Durch den Anstieg der Lebenserwartung gewinnen Demenzsyndrome in der Klinik und volkswirtschaftlich immer mehr an Bedeutung. Bei den 60-Jährigen beläuft sich der Anteil der dementen Patienten auf ca. 1 %. Ab diesem Alter verdoppelt sich die Prävalenz alle 5 Jahre. Von den über 85-Jährigen sind ca. 25 % betroffen. Demenz ist ein progredienter, meist irreversibler, organisch bedingter Verlust früher erworbener intellektueller Fähigkeiten bei erhaltenem Bewusstsein.

Ätiologie Den Hauptanteil der Demenzen stellt mit ca. 60 % der Fälle die Alzheimer-Krankheit, die der Gruppe der neurodegenerativen Erkrankungen zugeordnet wird. Der Hauptrisikofaktor für die Entstehung einer Alzheimer-Demenz ist das Alter (ca. 2% genetisch vererbt). Es zeigte sich, dass ein Polymorphismus im Gen für das Apolipoprotein E mit dem Allel ApoE 4 einen genetischen Risikofaktor darstellt. Die zweithäufigste Demenzform ist die vaskuläre Demenz mit einem Anteil von etwa 15 %. Auch Mischdemenzen mit einer neurodegenerativen und vaskulären Komponente sind sehr häufig. Weitere Demenzformen, wie z. B. die Lewy-Body- oder die frontotemporale Demenz, haben einen weiteren Anteil von ca. 15 %. Einen Anteil von ca. 10 % haben die sekundären Demenzen, bei denen die demenzielle Entwicklung ein Symptom einer anderen zugrunde liegenden Erkrankung ist (→ ).

Tab. 27.1

Beispiele für sekundäre Demenzen

Ätiologie/Pathologie

Beispiel

Demenz bei Systemerkrankungen

Parkinson-Demenz, ALS-Demenz-Komplex, Morbus Wilson, Morbus Huntington, progressive supranukleäre Blickparese, Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung

Infektbedingte Demenz

Neurosyphilis, postenzephalitisch, Morbus Whipple

Metabolische Demenz

Vitamin-B 12 -Mangel, Hypothyreose, Lipidspeicherkrankheiten, Urämie, hepatische Enzephalopathie

Toxische Demenz

Alkoholkonsum (Wernicke-Korsakow-Syndrom)

Autoimmunbedingte Demenz

Multiple Sklerose, Vaskulitiden

Andere

Depression (Pseudodemenz), Schädel-Hirn-Trauma, Tumoren

Formen und Pathogenese → gibt einen Überblick über die morphologischen Veränderungen bei Demenzformen.

Tab. 27.2

Morphologische Veränderungen bei Demenzformen

AlzheimerDemenz

Kortikale Demenz mit anfangs betonter Atrophie des Temporal- und Parietallappens, im Verlauf auch Atrophie des Frontallappens (→ ) und Bildung extrazellulär abgelagerter Plaques aus Amyloid-β-Protein; intrazellulär: Akkumulation von Neurofibrillen, die aus phosphorylierten Metaboliten des Tau-Proteins bestehen

Lewy-BodyDemenz

Lewy-Bodies (eosinophile Einschlusskörperchen, bestehend aus Ubiquitin und α-Synuclein-Einlagerungen) im Kortex und im Hirnstamm. Auftreten von Amyloidplaques und Neurofibrillen ist möglich.

Vaskuläre Demenz

Infarktherde in Kortex oder Marklager; mikroangiopathische subkortikale Demenz (Morbus Binswanger)

Frontotemporale Demenz

Neuronenverlust im Frontal- und Temporallappen ohne Alzheimer-typische Veränderungen; z. T. familiär, z. T. Mutationen im TauProtein-Gen, Fälle mit und ohne Pick-Einschlusskörper; Überlappungen zu hypokinetisch-rigiden Syndromen (z. B. PSP, kortikobasale Degeneration) oder zur Motoneuronerkrankung möglich (FTD-ALS-Komplex)

Morbus Pick

Pick-Einschlusskörper (zytoplasmatische Einschlusskörperchen), Pick-Zellen (ballonierte Nervenzellen)

Abb. 27.1

Generalisierte Hirnrindenatrophie bei Morbus Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium [M823]

Klinik Die Leitsymptome der Demenz im Allgemeinen beinhalten eine Abnahme der Gedächtnisleistung und der intellektuellen Fähigkeiten sowie eine Abflachung des Affekts. Die Symptome müssen für mindestens 6 Monate bestehen, wobei ein Delir ausgeschlossen sein muss. Eine diagnostische Einordnung nach klinischen Kriterien ist aufgrund der Symptomvielfalt und Überlappung der Demenzformen untereinander sowie mit anderen Erkrankungen oft schwierig. Morbus Alzheimer Prävalenz ist mit dem Alter stark zunehmend (65–69 Jahre ca. 1,5 %, >90 Jahre ca. 40 %). Zu Beginn bestehen v. a. Kurzzeitgedächtnisstörungen, räumliche und zeitliche Orientierungsstörungen, Schwierigkeiten bei komplexeren Tätigkeiten, Aufmerksamkeitsstörungen, häufig begleitende Depression und abnehmende Kompetenz für Alltagstätigkeiten bei zunächst erhaltener Persönlichkeitsstruktur und sozialem Verhalten.Im langsam-progredienten Verlauf ergeben sich immer mehr Einschränkungen der Selbstständigkeit mit Schwierigkeiten bei der Verrichtung von Alltagsaufgaben (Einkaufen, Haushalt, Bankgeschäfte etc.), ein zunehmender sozialer Rückzug, Sprachstörungen (z. B. Wortfindungsstörungen), Störung der visuell-räumlichen Verarbeitung (z. B. Abzeichnen von einfachen geometrischen Figuren gestört), Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus und Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Depression, Aggression, abendlich betonte Verwirrtheitszustände). Im Verlauf treten auch psychiatrische Symptome in wechselnder Ausprägung und Reihenfolge auf (Depression, paranoid wahnhafte Störung, Angst, Agitiertheit, Wandertrieb [Poriomanie], wahnhafte Verkennung u. a.). Im späteren Stadium kommt es zum Verlust der Alltagskompetenz, zu massivsten Kurz- und Mittelzeitgedächtnisstörungen (z. B. wird die eigene Wohnung nicht mehr erkannt, die Patienten leben in der Vergangenheit), Sprachzerfall, Inkontinenz und ausgeprägten Verhaltensstörungen(Trugwahrnehmungen, Misstrauen, innere Unruhe) bis zur vollständigen Pflegebedürftigkeit. Charakteristisch sind auch neurologische Ausfälle, die zu Gangstörungen, Myoklonien, Rigor, Krampfanfällen und Pyramidenbahnzeichen führen können. Lange Zeit erhalten bleibt die Persönlichkeit, eine unauffällige Psychomotorik, Vigilanz und emotionale Reaktionen im sozialen Kontakt („gute Fassade“). Der Verlauf ist langsam progredient und verläuft nach ca. 6–8 Jahren nach Diagnosestellung letal. Vaskuläre Demenz Ursachen sind kortikale, subkortikale oder Marklagerinfarkte bzw. Minderdurchblutung unterschiedlicher Pathophysiologie (mikroangiopathisch, kardiogen, entzündlich, erblich etc.). Neben multiplen Infarkten können einzelne größere oder auch strategische Infarkte mit kleinem Volumen (z. B. Thalamus, Hippocampus, frontales Marklager) zur Ausbildung der Demenz führen. Ein plötzliches Einsetzen von Symptomen, z. B. Konzentrationsschwäche oder Apathie mit langsamer kognitiver Verschlechterung, können Hinweise für eine vaskuläre Demenz sein. Hier sind fokale neurologische und psychische Zeichen, je nach Lokalisation der Defekte, zu beobachten. Lewy-Körperchen-Demenz (LKD) Definitionsgemäß tritt die kognitive Symptomatik gleichzeitig oder vor der Parkinson-Symptomatik auf (→ ). Im Vordergrund steht zu Beginn der Erkrankung oft eine Störung der Aufmerksamkeit, der visuell-räumlichen Fähigkeiten und der exekutiven Funktionen und weniger die Gedächtniseinschränkung, die im langsam progredienten Verlauf zunehmend betroffen ist. Weitere klinische Hauptmerkmale sind ausgeprägte Schwankungen der Vigilanz und Aufmerksamkeit und detaillierte visuelle Halluzinationen. Darüber hinaus können Stürze, Synkopen, Wahnvorstellungen und eine ausgeprägte autonome Dysregulation auftreten. Charakteristisch ist eine ausgeprägte Überempfindlichkeit auf klassische Neuroleptika (Gefahr: malignes neuroleptisches Syndrom), die kontraindiziert sind. Die Parkinson-Symptomatik ist wenig L-Dopa responsiv. Frontotemporale Demenz (FTD) Dieser Begriff fasst eine Gruppe von Demenzsyndromen zusammen, die mit einer Atrophie des Frontal- und Temporallappens einhergehen. Häufigkeitsgipfel in der 6. Lebensdekade. Charakteristisch sind Persönlichkeitsveränderungen, Störungen im sozialen Umgang mit Distanzlosigkeit und Auffälligkeiten im

Verhalten (geringes Aufmerksamkeitsvermögen, Hyperoralität, Inflexibilität, Aggressivität etc.). Aber auch Bewegungsverarmung, Antriebslosigkeit und Mutismus sind möglich. Die Sprache ist gekennzeichnet durch stereotype Schlagwörter, Perseverationen und Echolalie. Die räumliche Orientierung bleibt lange erhalten. Zur Gruppe der FTD zählt auch der Morbus Pick, der durch die Pick-Körperchen sowie Abnormitäten in der Sprechweise gekennzeichnet ist. Parkinson-Erkrankung mit Demenz Schwierig ist eine Abgrenzung der Bradyphrenie von einem demenziellen Syndrom. Bei ca. 15 % der Parkinson-Patienten entwickelt sich (per definitionem nach mindestens 1 Jahr bestehender Parkinson-Symptomatik) ein langsam progredienter Abbau der kognitiven Fähigkeiten. Spongiforme Enzephalopathien Sehr seltene Erkrankung, bei der es durch eine Konformationsänderung des natürlich vorkommenden Prionproteins zu einer unlöslichen funktionslosen βFaltblattstruktur zu Neuronenverlust, Amyloidbildung, Gliose und spongiösen Degeneration kortikal und subkortikal kommt. Bekannt ist v. a. die CreutzfeldtJakob-Erkrankung, (ca. 85 % sporadisch, ca. 10–15 % autosomal-dominant).Klinisch zeigen sich initial depressive Symptomatik, Appetitlosigkeit mit Gewichtsverlust, Schlafstörungen und Erschöpfung, die zu einem rasch progredienten dementiellen Abbau, Myoklonien, zerebellären und extrapyramidalen Störungen, Pyramidenbahnzeichen und visuellen Störungen bis hin zu akinetischem Mutismus und Dekortikationszeichen führen. Der Verlauf ist im Mittel nach ca. 6–12 Monaten letal. Diagnostisch hat die Bestimmung von 14-3-3-Protein im Liquor eine über 90 %ige Spezifität und Sensitivität.Zu den familiären Formen der Prionerkrankungen gehört das sehr seltene autosomal-dominant vererbte Gerstmann-Sträussler-Syndrom (GSS). Anfangs kommt es zu zerebellären Ausfällen (Stand-und Gangataxie), im Verlauf zu Pyramidenbahnzeichen, Augenbewegungsstörung, Dysarthrie, Zeichen des 2.Motoneurons bei Vorderhornzellbefall und spätem dementiellen Abbau. Eine weitere familiäre Prionerkrankung ist die familiäre fatale Insomnie (FFI) (autosomal-dominant), die neben Gedächtnisstörungen, Myoklonien, Ataxie, Dysarthrie über Schlaflosigkeit zu vegetativen Syndromen mit Todesfolge führt. Depressive Pseudodemenz Die Herabsetzung der kognitiven Leistungsfähigkeitbei meist schwerer Depressionen beruht v. a. auf Antriebsminderung, psychomotorischer Verlangsamung und Konzentrationsschwäche. Die empfundenen Defizite werden oft stark beklagt (Morbus Alzheimer: Überspielen der Defizite, „Fassade“), wobei im Alltag in der Regel keine ausgeprägten Fehlleistungen auftreten. Die Orientierung und visuell konstruktiven Fähigkeiten sind erhalten. Die Symptomatik ist nach Behandlung der Depression reversibel. Sonstige Demenzen Frontobasale Tumoren können zur Ausprägung demenzieller Symptome führen. Die charakteristische Befundkonstellation, die bei einem Normaldruckhydrozephalus erhoben werden Übersatz sich anfangs oft durch eine Aufmerksamkeitsstörung mit im Verlauf zunehmendem Verlust der kognitiven Fähigkeiten.

Diagnostik Die Diagnose stützt sich auf die Gesamtheit der klinischen und technischen Befunde nach Ausschluss möglicher Differenzialdiagnosen. Neben einer ausführlichen Eigen- und Fremdanamnese (auch Medikamenten- und Suchtanamnese) mit körperlicher Untersuchung eignet sich der Mini-Mental-Status-Test (→ ) als einfacher Bedside-Screening-Test zur orientierenden Untersuchung verschiedener kognitiver Domänen. Ein weiterer beliebter Screening-Test ist der Uhrentest nach Schulmann, der die visokonstruktiven Fähigkeiten sowie zielgerichtetes, problemlösendes Vorgehen prüft. Hierbei wird der Patient aufgefordert, eine Uhr mit Ziffern und Zeigern mit vorgegebener Uhrzeit (z. B. 10 nach 11) zu zeichnen. Vergeben werden Schulnoten (1 = sehr gut bis 6 = ungenügend) nach einem Auswertungsschema, wobei eine Note ≥ 3 als auffällig gilt. Zur diagnostischen Einordnung von kognitiven Defiziten ist jedoch eine ausführliche neuropsychologische Untersuchung unerlässlich. Zum Ausschluss einer behandelbaren sekundären Demenz werden folgende Parameter untersucht: Blutbild, Vitamin-B 12 - und Folsäurespiegel, Schilddrüsen-, Leber- und Nierenwerte, Elektrolyte, CRP / BSG sowie Lues- und Borrelienserologie, ggf. weitere spezifische Untersuchungen. Ergänzend sollten bildgebende Verfahren wie MRT, ggf. FDG-PET und EEG eingesetzt werden. Zum weiteren Ausschluss symptomatischer Ursachen kann ergänzend eine Liquorpunktion durchgeführt werden. Die Bestimmung der Neurodegenerationsmarker β-Amyloid 1–42 und Tau-Gesamtprotein oder Phospho-Tau im Liquor kann zur Abgrenzung der Alzheimer-Demenz im Frühstadium (β-Amyloid 1–42 erniedrigt, TauProtein erhöht) von Gesunden oder von anderen Demenzformen hilfreich sein.

Therapie Bei den sekundären, reversiblen Demenzen (z. B. Hypothyreose) steht die Sanierung des Grundleidens im Vordergrund. Eine kausale Therapie ist bei den primären Demenzen nicht möglich. Bei der Alzheimer-Demenz versucht man mit Antidementiva sowie kognitiver Stimulation (z. B. Gedächtnisübungen, Aktivierung von Altgedächtnis, Kommunikation) den progredienten Prozess zu verlangsamen. Acetylcholinesterasehemmer und ein NMDA-Antagonist werden medikamentös eingesetzt (leichte / mittelgradige Demenz: Donepezil, Rivastigmin, Galantamin; schwere Demenz: Memantin). Generell sollten weitere Medikamente aufgrund von Interaktionen, delirauslösender Wirkung und kognitiver Verschlechterung möglichst gemieden bzw. in geringer Dosierung eingesetzt werden (z. B. Anticholinergika). Symptomatisch können Aggressivität und Unruhe mit Neuroleptika (z. B. Risperidon), Depressionen mit Antidepressiva (z. B. Sertralin) und Inkontinenz mit Blasentraining behandelt werden. Des Weiteren sollte die pflegerische Versorgung durch soziale Unterstützung gewährleistet werden. Therapeutisch steht bei vaskulären Demenzen die Prävention durch Kontrolle von Risikofaktoren für zerebrovaskuläre Erkrankungen und Behandlung der vaskulären Grunderkrankung im Vordergrund.

Zusammenfassung • Demenz ist ein organisch bedingter Verlust erworbener intellektueller Fähigkeiten. • Eine klinische Unterscheidung der Demenzformen ist schwierig, da die Symptome im Verlauf variieren. Häufig treten Mischformen auf. • Mit einem Anteil von ca. 60 % der Fälle ist Morbus Alzheimer die häufigste Demenzform. • Eine häufige behandelbare sekundäre dementielle Entwicklung tritt bei Hypothyreose auf.

Spezieller Teil

Vaskuläre Erkrankungen und Verletzungen des ZNS

28

Schlaganfall Der Begriff „Schlaganfall“(zerebraler Insult; Hirninfarkt, engl. stroke) umfasst ein heterogenes Krankheitsbild unterschiedlicher Genese und bezeichnet im Allgemeinen eine meist akut einsetzende neurologische Herdsymptomatik, die in ca. 80 % aufgrund einer unzureichenden Durchblutung durch einen Gefäßverschluss oder eine Gefäßstenose zustande kommt In den westlichen Industrieländern stellt dieser ischämische Hirninfarkt die dritthäufigste Todesursache dar. Hierbei steigt das Risiko mit zunehmendem Alter: 45–54 Jahre → 200 / 100 000 / Jahr, 65– 74 Jahre → 1 000 / 100 000 / Jahr, > 80 Jahre →3 000 / 100 000 / Jahr.

Physiologie und Pathophysiologie Das Gehirn eines erwachsenen Menschen macht mit seinen ca. 1,5 kg nur etwa 2 % des Gesamtkörpergewichts aus, wird aber mit rund 15 % des Herzminutenvolumens versorgt. Es erhält ca. 20 % des Gesamtsauerstoffbedarfs und ca. 60 % des Gesamtglukoseumsatzes eines ruhenden Menschen. Außer nach längeren Hungerperioden (Ketonkörper) ist Glukose der einzige Energielieferant. Um diese aufwendige Versorgung des Hirngewebes aufrechtzuerhalten, unterliegt die zerebrale Durchblutung verschiedenen Regulationsmechanismen: Autoregulation der Hirngefäße Ziel ist, eine konstante Hirndurchblutung aufrechtzuerhalten; Perfusionsdruck zwischen 70 und 140 mmHg bietet optimale Funktionsbedingungen; bei Blutdruckanstieg Vasokonstriktion – bei Blutdruckabfall Vasodilatation der Hirngefäße (Bayliss-Effekt). Metabolische Einflussfaktoren Partial-druckänderungen der Blutgase üben Wirkung auf die Gefäßweite aus; Dilatation bei pCO 2 -Erhöhung und pO 2 -Erniedrigung – Konstriktion bei pCO 2 -Erniedrigung und pO 2 -Erhöhung. Autonomes Nervensystem Unter physiologischen Bedingungen hat es so gut wie keinen Einfluss auf intrazerebrale Gefäße; Hauptfunktion ist die Regulation der Blutversorgung bei plötzlichen intravasalen Druckänderungen; Sympathikus und Parasympathikus greifen an den proximalen Arterien an und konstringieren bzw. dilatieren bei schnellem Blutdruckanstieg bzw. -abfall. Pro Minute werden 100 g Hirngewebe mit etwa 60 ml Blut versorgt. Sinkt die Durchblutung auf unter 30 % der Normalversorgung, kommt es zur relativen Ischämie in dem betroffenen Bereich, die sich zwar durch Ausfall neurologischer Funktionen bemerkbar macht, die aber zunächst noch reversibel sind. Die vollständige Erholung des Gewebes ist bei baldiger Normalisierung der Perfusion möglich, sinkt jedoch, je länger die Unterversorgung anhält. Fällt nun die Durchblutung eines Areals auf unter 15 % des physiologischen Werts ab, werden die Nervenzellen infolge einer totalen Ischämie im Kerngebiet der Infarktzone irreversibel geschädigt. Durch eine im Randbereich noch vorhandene gewisse Residualdurchblutung kommt es hier vorerst noch nicht zu einem endgültigen Gewebeverlust. Dieser Übergangsbereich zwischen bereits ischämisch infarziertem und noch erholungsfähigem Gewebe wird Penumbra genannt und ist das Ziel therapeutischer Ansätze. Wird die gesamte Blutzufuhr zum Gehirn unterbrochen, kommt es bereits nach ungefähr 10–15 s zur Bewusstlosigkeit. Der Funktionsverlust des Gehirns liegt im Bereich einer 10-minütigen kompletten Zirkulationsunterbrechung.

Klassifikation Wie bereits erwähnt, steht „Schlaganfall“ als Oberbegriff für eine Gruppe von Hirnschädigungen unterschiedlicher Ätiologie, Pathogenese, Klinik und Prognose. Hieraus leiten sich die Möglichkeiten einer Unterteilung der Hirninfarkte ab

Einteilung nach ätiologischen Faktoren In etwa 80–85 % der Fälle ist eine Ischämie aufgrund eines Gefäßverschlusses die Ursache für einen Schlaganfall, in den anderen Fällen eine intrakranielle Blutung. Die folgende Übersicht benennt einige wichtige Ursachen für einen Schlaganfall. Ischämischer Infarkt • Makroangiopathie der supraaortalenextra- und intrakraniellen Gefäße Pathomechanismus sind meist arterio-arterielle Embolien, seltener Lumeneinengungen mit hämodynamischen Grenzzoneninfarkten bis hin zu vollständigen Verschlüssen auf dem Boden von arteriosklerotischen Veränderungen (Risikofaktoren für Arteriosklerose zeigt → ), Entzündungen (Vaskulitis z. B. Arteriitis cranialis, Takayasu-Arteriitis) oder Dissektionen (z. B. bei Bindegewebsstörung [Marfan-Syndrom], fibromuskulärer Dysplasie). • Mikroangiopathie: Pathomechanismus sind lokale Verschlüsse auf dem Boden von z. B. arteriosklerotischen Gefäßwandveränderungen, Entzündungen (Vaskulitis z. B.primäreVaskulitis des ZNS [PACNS], Panarteriitis nodosa) oder Amyloidangiopathie. • Kardiogene Embolie: Gefäßverschluss durch einen kardialen Embolus z. B.bei absoluter Arrhythmie bei Vorhofflimmern, Mitral- und Aortenklappenvitien, Endokarditis, Ventrikelaneurysma oder als paradoxe Embolie bei z. B. Vorhof-septumdefekt bzw. persistierendem Foramen ovale und dem Vorliegen einer tiefen Beinvenenthrombose • Gerinnungsstörungen: z. B. genetisch bedingt (FaktorV-Mutation, Antithrombin III-Mangel etc.), entzündlich (Sepsis), autoimmun vermittelt, paraneoplastisch, hämatologisch (Leukämie, Polycythaemia vera etc.). • Weitere: CADASIL-Syndrom (zerebrale autosomal-dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie

Tab. 28.1

Erhöhung des Risikos für einen Hirninfarkt bei atherogenen Faktoren

Risikofaktoren der Atherombildung

Relative Risikoerhöhung für einen Hirninfarkt

Hypertonus

6

Diabetes mellitus

3

Zigarettenrauchen

3

Hyperlipidämie und Hypercholesterinämie (Serum-HDL ↓)

2 (bei Patienten unter 50 Jahren)

Familiäre Belastung

Unklar

Alkoholismus

2 (v. a. bei jungen Patienten)

Östrogenhaltige Kontrazeptiva

2–3

Hämorrhagischer Infarkt

• Hypertensive Massenblutungen: 80 % der Patienten mit hämorrhagischem Infarkt: Einriss von kleinen Arterien aufgrund von Wandschwäche nach jahrelanger Hyalinisierung bei Hypertonie; Bluteintritt in das Hirnparenchym; am häufigsten im Bereich der Basalganglien (loco typico), weiterhin auch Lobärblutungen und infratentorielle Blutungen möglich • Subarachnoidalblutung: 5 % aller Schlaganfälle: meist spontan durch Aneurysmaruptur an der Hirnbasis; das Blut breitet sich im Subarachnoidalraum aus (→ ). • Sinusvenenthrombose: Unterschieden werden septische (Otitis media, Meningitis, Sinusitis, Entzündungen im Mittelgesicht, Endokarditis etc.) und aseptische (idiopathisch, orale Kontrazeptiva, postpartal, Schwangerschaft, Gerinnungsstörungen z. B. Faktor V-Leiden-Mutation, Kollagenosen etc.) Sinusvenenthrombosen, wobei Frauen häufiger betroffen sind. Durch die venöse Abflussstörung kann es zu einem Druckanstieg mit lokalem oder generalisiertem Hirnödem und Stauungsblutungen in das Hirnparenchym oder in die Ventrikel kommen. • Traumatisch: meist nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma, häufig in Verbindung mit einem epi- bzw. subduralen Hämatom (→ ) • Zerebrale Amyloidangiopathie: Durch Amyloidablagerungen in kleinen Hirnarterien und konsekutiver Wandschwäche / Aneurysmenbildung entstehen sowohl lakunäre Blutungen als auch lakunäre ischämische Läsionen des Marklagers bei Gefäßverschlüssen (Leukenzephalopathie). • Gerinnungsstörungen: hämatologische Erkrankungen, antikoagulierte Patienten (z. B. Vitamin-K-assoziierte Blutungen) • Weitere: Gefäßmissbildungen wie z. B. arteriovenöse Angiome; seltener auch intrazerebrale Aneurysmen; hämorrhagische Diathese; sekundäre Einblutung in einen ischämischen Hirninfarkt oder in eine Metastase, Vaskulitis, spontane intrazerebrale Blutungen (kryptogen: Ursache vermutet, jedoch nach heutigem Kenntnisstand nicht einzuordnen idiopathisch: keine mögliche bekannte Ursache)

Einteilung nach betroffenen Regionen und Gefäßen Eine grobe Lokalisation des betroffenen Gebiets liefert zunächst die radiologisch-morphologische Unterscheidung zwischen dem vorderen Hirnkreislauf (= Versorgungsgebiet der aus der A. carotis interna kommenden Gefäße: A. ophthalmica, A. chorioidea anterior, A. cerebri anterior sowie A. cerebri media) und dem hinteren Hirnkreislauf (= vertebrobasiläres Versorgungsgebiet und A. cerebri posterior).

Einteilung nach Infarktausdehnung und Lokalisation Infarkte können durch makro- oder mikroangiopathische Veränderungen verursacht werden. Durch eine Mikroangiopathie verursachte Infarkte können sich als kleine, intrazerebrale Ischämiegebiete darstellen und betreffen i. d. R. nicht kollateralisierende Arterien. Auch Blutungen entstehen meist durch Angiopathien infolge von Hypertonie oder Arteriosklerose. Makroangiopathie • Territorialinfarkt: Dabei handelt es sich um einen thrombotischen oder embolischen Verschluss des Hauptstamms oder von Abgängen der A. cerebri media, A. cerebri anterior oder A. cerebri posterior. Das Infarktareal erstreckt sich über das gesamte Versorgungsgebiet der jeweiligen Hirnarterie (→ ) und stellt sich oft als keilförmiger flächiger Infarkt dar. Ursache ist oft ein Gefäßverschluss durch kardiogene Emboli, durch das Loslösen frischen thrombotischen Materials auf ulzerierenden Plaques der extrakraniellen Gefäße (v. a. A. carotis interna und A. vertebralis) oder durch einen Verschluss einer vorbestehenden Stenose. • Endstrominfarkt: Durch eine hämodynamisch wirksame Störung des Blutflusses wie z. B. bei einer extrakraniellen Stenose (A. carotis communis, A. carotis interna) kommt es zu einem Abfall des Perfusionsdrucks im Endstromgebiet der langen Markarterien ohne Kollateralen. Hieraus resultiert zunächst eine Ischämie der „letzten Wiese“ und schließlich ein Endstrominfarkt meist im subkortikalen oder periventrikulären Marklager (→ ). • Grenzzoneninfarkt: Zu dieser Infarktform kann es nach zunächst ausreichender Kollateralisierung bei extra- oder intrakraniellen Stenosen durch einen systemischen Blutdruckabfall kommen. Er liegt zwischen den Versorgungsgebieten zweier Hirnarterien und wird daher als „Wasserscheideninfarkt“ bezeichnet (→ ).

Abb. 28.1 Schematische Darstellung von CCT-Befunden ischämischer Hirnschäden unterschiedlicher Genese und Gefäßterritorien: 1), 2) typische Läsionen bei Mikroangiopathie; 3) hämodynamisch verursachter subkortikaler Hirninfarkt; 4) Grenzlinieninfarkte; 5) bilaterale Stammgangliennekrose nach globaler Hypoxämie; 6) diffuse Marklagerschädigung [L106]

Mikroangiopathie • Lakunärer Infarkt: Durch jahrelangen hyalinen Umbau der Gefäßwände kleiner Endarterien und Arteriolen bei entsprechendem kardiovaskulärem Risikoprofil (arterieller Hypertonus, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Nikotin, positive Familienanamnese) kommt es zu einer Lumeneinengung und zunehmenden Einschränkung der Gefäßautoregulation bis hin zu deren Verlust. Die dabei entstehenden ischämischen Läsionen treten meist multipel in den Stammganglien und im Marklager auf und haben einen Durchmesser von bis zu 1,5 cm. • Subkortikale vaskuläre Enzephalopathie (Morbus Binswanger, SVE): Auch hier gehen arteriosklerotische Umbauvorgänge ursächlich den multilakunären Infarkten im Bereich des Marklagers, der Stammganglien und des Hirnstamms voraus.

Einteilung nach der zeitlichen Rückbildung der Symptomatik Man unterscheidet eine transiente ischämische Attacke (TIA) von dem selten vorzufindenden progredienten Infarkt ( engl. progressive stroke) und dem kompletten Infarkt ( engl. complete stroke); (→ ).

Tab. 28.2

Einteilung von stenosebedingten zerebralen Durchblutungsstörungen nach zeitlichem Verlauf und Klinik

Stadieneinteilung

Klinik

I

Asymptomatische Stenose

II

Transitorische ischämische Attacke (TIA)

Vollständige Rückbildung der neurologischen Symptome innerhalb von 24 h

III Progredienter Infarkt

Neurologische Ausfälle nehmen über Stunden hinweg diskontinuierlich, langsam zu; nur teilweise reversibel.

IV

Schlagartiges Auftreten der neurologischen Defizite; bildet sich nicht zurück und verläuft nicht progredient.

Zerebraler ischämischer Infarkt

Klinik Ein Merkmal des Schlaganfalls ist die schnelle Ausprägung der neurologischen Defizite, die sich charakteristischerweise plötzlich innerhalb von wenigen Minuten entwickeln. Im Gegensatz dazu zeigen sich die neurologischen Ausfälle z. B. auf dem Boden entzündlicher Prozesse (z. B. Multiple Sklerose) i. d. R. über Tage bis Wochen hinweg progredient, diejenigen von tumorösen Raumforderungen können eine Progredienz über mehrere Wochen und Monate aufweisen. Für eine standardisierte Erfassung der Schlaganfallsymptomatik wird klinisch die NIHSS (National Institute of Health Stroke Scale) herangezogen ( → , → ). Sie dient der Erfassung der Schwere des Schlaganfalls und der Früherkennung sowie Verlaufsbeobachtung auf Basis der neurologischen

Befunderhebung (je höher die Punktzahl, desto ausgedehnter das Infarktareal z. B. Verdacht auf proximalen Gefäßverschluss NIHSS ≥ 6, maximal 42 Punkte). Zudem wird sie für Therapieentscheidungen unterstützend herangezogen. Obwohl Blutungen eher mit Kopfschmerzen einhergehen, kann zwischen einer Blutung und einem Infarkt klinisch nicht unterschieden werden! Zur Abgrenzung ist eine kraniale Bildgebung mittels cMRT oder cCT erforderlich.

Ischämischer Hirninfarkt Die klinischen Symptome resultieren aus dem geschädigten Areal, was wiederum dem Versorgungsgebiet eines Gefäßes zugeordnet werden kann (→ ). In der Praxis ist die Symptomatik jedoch oft nicht so eindeutig. Im Folgenden sind die klinischen Manifestationen der wichtigsten Gefäßsyndrome dargestellt.

Abb. 28.2

Übersicht über klinische Symptome, die für die Infarktlokalisation hinweisgebend sein können [L141]

Vorderer Hirnkreislauf • A. carotis interna (ACI) Wird die Durchblutung über den Circulus Willisii durch die kontralaterale ACI nicht gewährleistet, können ausgedehnte Infarkte im Bereich der vorderen zwei Drittel einer Hemisphäre einschließlich der Basalganglien entstehen (→ ).

– Ipsilateral: konjugierte Blickwendung zur Läsionsseite („Der Patient schaut sich die Bescherung an“) – Kontralateral: hochgradige brachiofazial betonte Hemiparese mit Ausfall der Sensibilität, homonyme Hemianopsie – Sonstiges: Cave: maligner Infarkt mit möglicher Bewusstseinsstörung durch Ödementwicklung! Läsion in der dominanten Hemisphäre: Aphasie (→ ), Läsion rechtshemisphärisch: Hemineglekt nach kontralateral • A. cerebri anterior (ACA) seltene Lokalisation: ca. 5 % – Kontralateral: beinbetonte, überwiegend motorische Hemiparese; teils mit Sensibilitätsstörungen – Sonstiges: oft Harninkontinenz; gelegentlich Antriebsstörung, Entschlussunfähigkeit und Apathie, transkortikale motorische Aphasie • A. cerebri media (ACM) beim thromboembolischen Infarkt am häufigsten betroffen, je nach Ausdehnung bis hin zum malignen Mediainfarkt (siehe ACI) – Kontralateral: brachiofazial betonte Hemisymptomatik mit motorischen und sensiblen Ausfällen; im Verlauf entwickelt der Patient ein charakteristisches Gangbild mit Zirkumduktion des spastisch gestreckten Beins mit leichter Supination und Plantarflexion des Fußes bei gebeugtem, etwas proniertem, adduziertem Unterarm (Wernicke-Mann-Typ); homonyme Hemianopsie oder Quadrantenanopsie; Blickdeviation zur betroffenen Hirnseite, oft zu Beginn horizontale Blickparese. – Sonstiges: Läsion der dominanten Hemisphäre: Broca- oder Wernicke-Aphasie, Agrafie und Apraxie; Läsion der nicht dominanten Hemisphäre: Raumorientierungsstörung, Anosognosie; Neglect für die kontralaterale Raumhälfte (rechtsseitiger Infarkt) • A. chorioidea anterior homonyme Hemianopsie; sensible Hemisymptomatik (seltener motorisch) • A. ophthalmica : Amaurosis fugax bis hin zum Retinainfarkt

Abb. 28.3

Versorgungsgebiet der zerebralen Arterien [M495]

Hinterer Kreislauf • A. cerebri posterior (ACP) kontralateral: Hemianopsie oder Quadrantenanopsie; Hemihypästhesie; Läsion des Thalamus: Hyperpathie (brennender Dauerschmerz), Allodynie, Störungen der Tiefensensibilität, choreatische Bewegungsunruhe, Intentionstremor, Ausbildung der „Thalamushand“ (Flexion des Handgelenks und der Fingergrundgelenke bei Streckung der Fingermittel- und -endgelenke), flüssige Aphasie bei Läsion der dominanten Hemisphäre • A. basilaris und A. vertebralis Ein Verschluss führt zu unterschiedlich schweren Hirnstamm- und Kleinhirnsyndromen. – Ein Verschluss des Basilarishauptstamms erzeugt einen ausgedehnten Hirnstamminfarkt mit Bewusstseinsstörung bis hin zum Koma, Schwindel, Erbrechen, Kopf- und Nackenschmerzen, Verwirrtheit, gelegentlich initiale Hemi- oder Tetraparese, Dysphagie, Dysarthrie, Störungen der Pupillo- und Okulomotorik, Hirnnervenausfälle, Ocular bobbing, bei beidseitigem Infarkt des ventralen Pons: Lockedin-Syndrom (→ ). – Bei ca. 60 % der Patienten treten vor einer Basilaristhrombose Vorzeichen im Sinne von TIAs (Dysarthrie, Schwindel, Synkopen etc.) auf.

– Im Hirnstamm führen bereits kleine lakunäre Infarkte zu weitreichenden Ausfällen. Infolge einer Versorgungsunterbrechung der kleinen Äste der A. basilaris werden beim Hirnstamminfarkt dicht beieinanderliegende Kerngebiete und Bahnen geschädigt (→ ). – Einige dieser gekreuzten Hirnstammsyndrome (Alternans-Syndrome) sind in → zusammengefasst. Für die Symptomverteilung bei Hirnstamminfarkten gilt grundsätzlich: ipsilateral → Hirnnervenausfälle, kontralateral → motorische und / oder sensible Halbseitensymptome. • Kleinhirninfarkte: Aufgrund der gemeinsamen Gefäßversorgung treten bestimmte Kleinhirninfarkte zusammen mit Hirnstamminfarkten auf. Zu den Kleinhirnsymptomen zählen Allgemeinsymptome wie Schwindel, Übelkeit, Kopfschmerzen, zunehmende Bewusstseinsstörung durch Ödembildung und Druck auf den Hirnstamm / Liquorzirkulationsstörung, ataktische Bewegungsstörungen, Intentionstremor, Dysmetrie und Nystagmus. Aufgrund der mehrfachen Kreuzungen der zerebellären Bahnen ist die Seitlokalisation nicht eindeutig. Die Ausfälle sind bei einseitigen Kleinhirnläsionen meist ipsilateral.

Tab. 28.3

Gekreuzte Hirnstammsyndrome

Name

Ipsilaterale Symptome

Kontralaterale Symptome

Läsionsort

Wallenberg

N. V, X, XI, XII, Horner-Syndrom, Hemiataxie

Dissoziierte Empfindungsstörung

Dorsolaterale Medulla oblongata (A. cerebelli inf. post.)

Weber

N. III

Hemiparese

Mittelhirnfuß

MillardGubler

N. VII

Motorische Hemiparese

Brücke

Intrakranielle Blutung Etwa 65 % der intrazerebralen Blutungen sind im Bereich der Stammganglien lokalisiert (loco typico). Zum Teil äußert sich ein hämorrhagischer Infarkt neben den fokal neurologischen Defiziten mit begleitenden Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Bewusstseinsstörungen (je nach Lokalisation bzw. Einbruch in das Verntrikelsystem). Entsprechend der Ausdehnung und Lokalisation der Blutung können sich – wie beim ischämischen Infarkt – unterschiedliche neurologische Ausfälle zeigen, z. B. ein Hemisyndrom, Hirnstammsyndrome; thalamische Symptome (halbseitige brennende Schmerzen, Temperaturregulationsstörung).

Differenzialdiagnose Die klinische Symptomatik des hypoglykämischen Schocks ist vielfältig und umfasst u. a. Somnolenz bis hin zum Koma, epileptische Anfälle und gelegentlich auch fokale neurologische Ausfälle. Eine hypertensive Enzephalopathie ist eine schwere Komplikation einer hypertensiven Krise oder von langjährigem Hypertonus, wobei es bei Blutdruckwerten > 200 / 120 mmHg zu einem Funktionsverlust der Gefäßautoregulation zerebral kommt. Es folgt eine Störung der Blut-Hirn-Schranke mit Ödembildung. Klinisch kann diese z. B. mit Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen, epileptischen Anfällen und neurologischen Herdsymptomen einhergehen. Des Weiteren ist differenzialdiagnostisch an Migräne oder einen fokalen epileptischen Anfall mit postiktaler Parese (ToddLähmung) zu denken. Raumfordernde Prozesse wie Tumoren und Abszesse können sich klinisch ebenfalls mit plötzlichen neurologischen Ausfällen manifestieren.

Diagnostik Die Differenzierung zwischen Ischämie und Blutung und die Klärung der jeweiligen Ursache sind entscheidend für die Einschätzung möglicher zu erwartender Verschlechterung, die Akuttherapie und Einleitung der Sekundärprophylaxe. Bei Einsetzen der Symptomatik ist eine unverzügliche Einleitung von Diagnostik entscheidend, da insbesondere in den ersten Stunden nach Symptombeginn Zeit ein wichtiger therapielimitierender Faktor ist.

Ist es ein Schlaganfall? Welche Art von Infarkt ist es? Eine Anamnese des Patienten oder der Angehörigen über das Einsetzen der Symptomatik, eventuelle Auslöser, die arteriosklerotischen Risikofaktoren, kardiale Vorerkrankungen oder bereits vorausgegangene transitorisch-ischämische Attacken geben richtungweisende Informationen. Eine Unterscheidung zwischen einer intrazerebralen Blutung und eines ischämischen Schlaganfalls sollte so rasch wie möglich mittels Bildgebung getroffen werden, da insbesondere in der Akutphase das therapeutische Prozedere unterschiedlich ist. Durch das Ausmaß der neurologischen Defizite bei der initialen klinischen Untersuchung können Rückschlüsse auf mögliche Lokalisationen und Ausmaß des Hirnparenchymschadens geschlossen werden. Die notfallmäßige Basisdiagnostik umfasst neben Kontrolle und Sicherung der Vitalparameter die schnellstmögliche Durchführung einer Bildgebung mittels CT (CCT) oder kranialer MRT (cMRT). Zu beachten ist, dass ein frischer ischämischer Insult in der CCT sich erst nach mehreren Stunden (bei manchen Patienten bereits nach 2 h, i. d. R. nach etwa 4–6 h) anhand sog. Ischämiefrühzeichen (schlechtere Mark-Rinden-Abgrenzung bzw. Abgrenzung der Basalganglien vermindert, beginnende Hypodensität von Hirnparenchym, hyperdenses Mediazeichen) zeigt und sich erst nach > 8 h als scharf begrenzte Zone demarkiert. Eine Parenchymblutung wird unmittelbar bei Auftreten in der CT sichtbar. Anhand der CT- und der MR-Angiografie lassen sich Verschlüsse der großen extra- und intrakraniellen Gefäße darstellen. Die cMRT ist das sensitivste Verfahren, eine Ischämie frühzeitig nachzuweisen, und sollte, falls möglich, dem CCT vorgezogen werden. Das CCT ist zum Nachweis von kleinen Blutungen dem cMRT überlegen. Die Darstellung der intra- und extrakraniellen Gefäße durch die Doppler- bzw. Duplexsonografie kann Verschlüsse oder Stenosen zeigen, Plaques als Emboliequelle nachweisen und Auskunft über die Strömungsverhältnisse (Kollateralisierung) geben. Die Durchführung wird innerhalb von 24 h nach Symptombeginn empfohlen, ebenso eine möglichst baldige transthorakale- oder transösophageale Echokardiografie und ein 24-Stunden-EKG zum Nachweis einer kardialen Emboliequelle. Eine weitere nichtinvasive Methode zur Darstellung der Gefäße stellt die MR-Angiografie oder CT-Angiografie dar. Eine konventionelle (Katheter-) Angiografie ist nur in besonderen Fällen z. B. bei SAB bei unklarer Blutungsquelle und vor invasiven Maßnahmen indiziert. Zur notfallmäßigen Basisdiagnostik gehören weiterhin ein EKG zum Ausschluss eines Myokardinfarkts bzw. von Herzrhythmusstörungen und ein Basislabor (Blutbild, Gerinnung, Kreatinin, Blutzucker, CRP, GPT und TSH). Eine sorgfältige Medikamentenanamnese bezüglich der Einnahme von Antikoagulanzien ist essenziell, da seit der Verfügbarkeit von nicht-Vitamin-K-abhängigen oralen Antikoagulanzien (NOAK) ggf. eine erweiterte LaborGerinnungsdiagnostik erforderlich ist. Bei Nachweis einer intrazerebralen Blutung kann die Lokalisation ein Hinweis für die Ätiologie sein. Bei atypischer Lokalisation (hypertensive Blutung, loco typico liegt im Bereich der Basalganglien), jüngeren Patienten ohne Hypertonus oder SAB sollte eine weiterführende Gefäßdiagnostik (z. B. Angiografie, CT / MR-Venografie) durchgeführt werden, mit Frage nach z. B. Aneurysma, Thrombose oder Gefäßmalformation.

Warum ereignete sich der Schlaganfall? Gibt es Faktoren, die ihn verschlimmern? Die weiteren einzuleitenden Untersuchungen (→ ) richten sich nach dem klinischen Gesamtbild. Um die Prognose zu verbessern, müssen systemische metabolische Entgleisungen schnell korrigiert werden. Die wiederholte Kontrolle von Blutgasen, Vitalparametern, Darm- und Blasenfunktion, Körpertemperatur, Blutzucker und Laborwerten (z. B. Elektrolyte, Hämatokrit, Gerinnung, Leber- und Nierenwerte) ist von großer Bedeutung.

Tab. 28.4

Auswahl an Untersuchungen zur Ursachenabklärung eines ischämischen Infarkts

Mögliche Infarktätiologie Untersuchungen Kardiovaskuläre Risikofaktoren

Blutdruck, Blutzucker, Blutfettwerte (Triglyzeride, Cholesterin), Nikotinkonsum, Familienanamnese

Mögliche Emboliequellen

Transthorakale (TTE) oder transösophageale (TEE) Echokardiografie, EKG, 24-Stunden-EKG, Blutkulturen, intra- und extrakraniale Gefäße (Doppler, Angiogramm)

Hyperkoagulabilität

Blutbild, Leberfunktion, Gerinnungsfaktorenbestimmung (z. B. Proteine C und S), Tumorscreening, Zelldeformitäten (z. B. Sichelzellanämie)

Entzündliche Gefäßerkrankung

Blutsenkungsgeschwindigkeit, ANCA, Antikardiolipin-Antikörper, Arterienbiopsie (z. B. A. temporalis), Syphilisserologie

Therapie Die Therapieempfehlungen unterliegen – je nach aktuellem Forschungsstand – immer wieder Veränderungen. Deshalb werden im Folgenden lediglich die Grundzüge der Behandlung dargestellt. Die Therapie dient der Verminderung der Mortalität sowie der Minimierung des Infarktgebiets und somit der Schadensbegrenzung durch den Erhalt potenziell funktionsfähigen Gewebes in der Penumbra. Sie soll Komplikationen abwenden (→ ), eine bestmögliche Rehabilitationsbasis schaffen und einem Rezidiv entgegenwirken. Die Therapie soll auf einer Stroke Unit erfolgen. Raumfordernde akute Blutungen oder ausgedehnte ischämische Infarkte bedürfen evtl. einer neurochirurgischen Intervention.

Tab. 28.5

Komplikationen eines Schlaganfalls

Zeit

Mögliche Komplikationen

Akute Komplikation

Sekundäre Einblutung z. B. durch Blutverdünnung; intrakranieller Druckanstieg durch raumforderndes zytotoxisches Ödem; Pneumonie nach Aspiration, epileptischer Krampfanfall

Subakute und chronische Komplikationen

Epileptische Krampfanfälle; Folgen der Immobilisation (z. B. tiefe Beinvenenthrombose, Lungenembolie, Dekubitus, Harnwegsinfekt, Obstipation); Schlaganfallrezidiv (Risiko im ersten Jahr: 10–15 %); Depression; soziale Isolation

Akuttherapie Der Patient wird mit leicht angehobenem Oberkörper (30°) gelagert und bei Erbrechen in Seitenlage gedreht. Vital bedrohliche Begleiterkrankungen wie Herzrhythmusstörungen oder eine dekompensierte Herzinsuffizienz müssen behandelt werden. Wichtig ist die Sicherung der Substrat- und O 2 -Versorgung – das Einstellen von Kreislauf und Atmung, Wasser- und Elektrolythaushalt, Körpertemperatur und Blutparametern auf physiologische Werte. • Bei frischen ischämischen Infarkten (nicht mehr als 4,5 h zurückliegender Symptombeginn, Ausschluss Blutung) ist eine rekanalisierende Therapie durch eine systemische Lyse mit Gewebeplasminogen-Aktivator intravenös (rtPA, 0,9 mg / kg Körpergewicht, maximal 90 mg, 10 % der Gesamtdosis als Bolus zu Beginn und den Rest über 60 min Infusion) anzustreben. Als Individualentscheidung nach erweiterter Bildgebung mit Darstellung von hypoxiebedrohtem Gewebe ist in Einzelfällen auch ein Zeitfenster von 4,5–6 h ausreichend. Indikationen sind ein frischer ischämischer Infarkt mit anhaltendem neurologischem Defizit, eine stabile Hirnstammsymptomatik oder eine Basilaristhrombose (hier auch als Individualentscheidung jenseits des Lysezeitfensters einsetzbar). Zu den Kontraindikationen → . Die Indikation zu einer intraarteriellen Lyse mittels Katheter, der über die Leiste bis in die intrakraniellen Arterien eingeführt wird, besteht in folgenden Fällen: – Patienten mit akutem Verschluss der A. basilaris sollen mit einer intraarteriellen Rekanalisation behandelt werden, bei Indikation zusammen mit einer systemischen Lyse, die Empfehlung bezüglich eines maximalen Zeitfensters bleibt noch zu erforschen. – Akuter Verschluss der großen Arterien des vorderen Kreislaufs sowie schwere klinischer Symptomatik und innerhalb von 6 h nach Symptombeginn bei der Leistenpunktion. Bei Indikation sollen die Patienten vorab eine systemische Lysetherapie innerhalb des 4,5-hZeitfensters erhalten. – Verschluss der A. centralis retinae mit akuter Erblindung – Patienten mit radiologischen Zeichen für ein großes Infarktareal, wenn in erweiterter Bildgebung noch zu rettendes Gewebe erkennbar ist – Patienten mit hohem Alter als Individualentscheidung • Eine optimale Blutzuckereinstellung zur Vermeidung hyperglykämischer Toxizität • Um der Infarktausweitung entgegenzuwirken, muss ein ausreichender Perfusionsdruck sichergestellt werden: Unbedingt zu vermeiden sind plötzliche Blutdruckabfälle bzw. Blutdruckschwankungen in den hyper- und hypotonen Bereich. Der Blutdruck sollte in der Akutphase bei Hypertonikern 180 mmHg systolisch und bei Nichthypertonikern 160–180 mmHg systolisch nicht unterschreiten. Ein vital bedrohlicher hypertensiver Notfall (Angina pectoris, hypertensive Krise, akutes Lungenödem) oder wiederholte Blutdruckwerte über 220 systolisch und / oder 120–140 mmHg diastolisch stellen eine Indikation zur behutsamen Blutdrucksenkung dar. Erst nach 2–3 Tagen sollte eine Normalisierung des Blutdrucks begonnen werden. • Ein zytotoxisches Hirnödem beginnt sich ca. 24–72 h nach dem Schlaganfall zu entwickeln und kann je nach Größe des Infarktareals zu lebensbedrohlicher Hirndruckerhöhung führen. Therapeutische Option ist eine konservative Behandlung des Hirndrucks (→ ). Bei Patienten bis 60 Jahre senkte in Studien eine chirurgische Dekompressionsbehandlung (Hemikraniektomie) innerhalb von 48 h die Mortalität und erhöhte die Wahrscheinlichkeit für eine geringere Behinderung. • Zur Thromboseprophylaxe wird niedermolekulares Heparin s. c. verabreicht. • Bei akuten intrazerebralen Blutungen wird eine Senkung des Blutdrucks auf Werte unter 140 mmHg systolisch in den ersten Tagen nach dem Akutereignis angestrebt. Dies kann zu einer kleineren Blutvolumenmenge im betroffenen Areal führen. • Das Outcome von akuten intrazerebralen Blutungen, die unter Antikoagulanzien auftreten (Vitamin-K-Antagonisten, Heparin), sind schlechter als bei ICB ohne Gerinnungsstörung. Daher wird eine rasche Antagonisierung mit Gabe von Prothrombin i. v. bei Antikoagulation mit Heparin bzw. Vitamin K i. v. in Kombination mit i. v. Gabe von Fresh Frozen Plasma (FFP) oder Prothrombin-Komplex-Konzentrat (PPSB) bei Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten angestrebt. • Eine chirurgische Hämatomevakuation bei spontaner ICB sollte individuell erwogen werden.

Tab. 28.6

Kontraindikationen zur systemischen Lysetherapie

Absolute Kontraindikationen

Zeitfenster > 4,5 h; Demarkierung des Infarkts (CCT: Hypodensität des Marklagers, Isodensität der Stammganglien, cMRT Demarkierung FLAIR-/T2-Wichtung); Zeitpunkt des Symptombeginns nicht bekannt, NIHS-Score > 25; eigenanamnestisch zerebrale, gastrointestinale oder urologische Blutung, RR > 185/110 mmHg; schweres Schädel-HirnTrauma in den letzten 3 Monaten; orale Antikoagulation INR > 1,7, Blutzucker > 400 mg/dl, Thrombopenie < 100 000/mm 3

Relative Kontraindikationen:Mögliches Risiko soll gegen den zu erwartenden Nutzen abgewogen werden.

Geringer Schweregrad des Schlaganfalls, Diabetiker mit Infarkt in der Anamnese, rückläufige Symptome, Schlaganfall oder größerer chirurgischer Eingriff oder epileptischer Anfall in den letzten 3 Wochen; Therapie mit Ticlopidin/Clopidogrel, Therapie mit einem direkten Thrombininhibitor oder direktem Faktor-Xa-Inhibitor, wenn sensitive Gerinnungstests (dilutierte Thrombinzeit, Faktor-Xa-Bestimmung) im Normbereich liegen oder die letzte Einnahme mehr als 48h zurückliegt bei normaler Nierenfunktion

Langzeittherapie und Prophylaxe Siehe Punkt Prävention von zerebralen Ischämien in → . Bei kontraindizierter Revaskularisierungstherapie senkt eine frühestmöglich begonnene Thrombozytenaggregation mit ASS 100 mg, nach Ausschluss einer Blutung und fehlender Indikation zur oralen Antikoagulation, nachweisbar die Sterblichkeit. Bei Indikation zur oralen Antikoagulation (z. B. Vorhofflimmern) werden Vitamin-K-Antagonisten (Marcumar®) oder alternativ die neue Gruppe der direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK, neue orale Antikoagulanzien [NOAK]) eingesetzt. Hierzu zählen z. B. der direkte Faktor-IIa-Hemmer (Thrombininhibitor) Dabigatran oder die direkten Faktor-Xa-Hemmer Apixaban bzw. Rivaroxaban ( Cave: Einschränkung der Nierenfunktion, je nach Ausmaß Dosisanpassung oder mögliche Kontraindikation!). Langfristig ist eine Kontrolle der arteriosklerotischen Risikofaktoren anzustreben (Blutdrucksenkung, Blutzuckereinstellung). Zur Gefäßprotektion wird zudem eine Behandlung mit einem Statin empfohlen. Möglichst baldige Mobilisierung und Rehabilitation sind anzustreben.

Komplikationen In → sind einige mögliche Komplikationen dargestellt.

Prognose Faktoren wie das Lebensalter des Patienten, vorbestehende Erkrankungen (KHK), Ausdehnung des Infarktgebiets etc. nehmen direkten Einfluss auf den Verlauf. Etwa ein Drittel kann so weit wieder rehabilitiert werden, dass eine geregelte Berufstätigkeit aufgenommen werden kann. Etwa ein weiteres Drittel der Patienten bleibt pflegebedürftig. Der Schlaganfall stellt die dritthäufigste Todesursache dar. Bei etwa 25 % der Patienten tritt innerhalb von 5 Jahren ein weiterer Schlaganfall auf.

Zusammenfassung • Die Einteilung des Schlaganfalls kann nach ätiologischen Kriterien (ischämischer Hirninfarkt, intrazerebrale Blutung), radiologischmorphologischen Kriterien (vorderer Kreislauf bzw. hinterer Kreislauf), Infarktausdehnung und Lokalisation (Makro-, Mikroangiopathie) und nach der zeitlichen Rückbildung der Symptomatik (Stadien I–IV) erfolgen. • Klinik: Schlaganfall der – ACA: kontralaterale beinbetonte, vorwiegend motorische Hemiparese – ACM: kontralaterale brachiofazial betonte sensomotorische Hemiparese mit späterer Ausbildung des Wernicke-Mann-Gangbilds, bei Schädigung der dominanten Hemisphäre: Aphasie – ACP: homonyme Hemianopsie zur Gegenseite, kontralaterale Hemihypästhesie – basilaris: Vigilanzminderung, Schwindel, Übelkeit, Kopfschmerzen, Störung der Pupillo- und Okulomotorik, Hirnnervenausfälle, Hemi/Tetraparese – Vertebrobasiläres Stromgebiet (Äste): gekreuzte Hirnstammsyndrome, Kleinhirnsyndrome • Diagnostik: Zur Unterscheidung zwischen einem ischämischen Infarkt und einer intrakraniellen Blutung sollte schnellstmöglich eine kraniale Bildgebung durchgeführt werden. Die Ursache eines ischämischen Infarkts soll zur weiteren Therapieplanung schnellstmöglich geklärt werden. • Therapie: Die Penumbra ist das Ziel therapeutischer Ansätze. Akuttherapie: Sicherung der Vitalparameter, Einstellung der Körpertemperatur und Blutwerte sowie des Blutzuckers. Durchführung einer systemischen Lyse nach Ausschluss von Kontraindikationen (ggf. intraarterielle Lysetherapie einleiten), Sicherung eines ausreichenden Perfusionsdrucks durch zurückhaltende Blutdrucksenkung; Sekundärprophylaxe mit Thrombozytenaggregationshemmern und Behandlung eines Hirnödems. Gegebenenfalls neurochirurgische Intervention.

29

Transitorische ischämische Attacke und Prävention zerebraler Ischämien Transitorische ischämische Attacke (TIA) Als „transitorische (transiente) ischämische Attacke (TIA)“ bezeichnet man ein plötzlich einsetzendes vorübergehendes Auftreten von neurologischen Defiziten auf dem Boden einer passageren Minderperfusion, die sich nach einigen Minuten bis max. 24 h vollständig zurückbilden. Bildet sich die Symptomatik nach Ablauf von 24 h nicht zurück, so besteht entsprechend dieser Definition ein ischämischer Schlaganfall. Eine TIA ist somit als „Vorwarnung“ vor einem bevorstehenden Schlaganfall aufzufassen. Ein großer Teil der Patienten mit einer TIA erleidet in den kommenden 5 Jahren einen Schlaganfall, wobei in den ersten 3 Tagen nach der TIA das Risiko am größten erscheint. Durch die Weiterentwicklung der Genauigkeit in bildgebenden Verfahren können zwischenzeitlich selbst bei vollständiger Rückbildung der TIA-Symptome entsprechend der Definition z. T. kleine Ischämien nachgewiesen werden. So werden sich in der Zukunft womöglich Änderungen der TIA-Definition ergeben. Für das diagnostische Vorgehen ist eine TIA einem Schlaganfall gleichzusetzen und entsprechend umfangreiche Diagnostik durchzuführen. Ursachen für eine TIA entsprechen meist denjenigen des Schlaganfalls. Auch hinsichtlich der Diagnostik und Behandlung der TIA entspricht das Vorgehen weitgehend demjenigen beim Schlaganfall.

Klinik Transitorische ischämische Attacken neigen zu Rezidiven, wobei sowohl die klinische Symptomatik als auch die Persistenz der Funktionsstörung bis zur Vollremission von Mal zu Mal variieren können. Das Krankheitsbild stellt sich i. d. R. innerhalb von Sekunden bis Minuten ein und bietet eine große Vielfalt an Erscheinungsformen. Durch diese Symptome kann man Schlüsse auf die Lokalisation des minderdurchbluteten Areals im Karotisstromgebiet (vorderer Hirnkreislauf) oder im vertebrobasilären Stromgebiet (hinterer Hirnkreislauf) ziehen (→ ).

Symptome im Karotisstromgebiet • Amaurosis fugax: flüchtiger Sehverlust auf einem Auge; charakteristisches Symptom • Sprachstörungen wie z. B. Aphasie, Dyslexie oder Dysgrafie • Sensible, motorische oder gemischte Hemisymptomatik

Symptome im vertebrobasilären Stromgebiet • Homonyme Hemianopsie, Quadrantenausfälle • Ataxie • Hirnstammzeichen: Verschwommensehen, Diplopie, Nystagmus, Drehschwindel, plötzliche Bewusstseinsstörungen, Dysphagie; Dysarthrie • Bilaterale Paresen oder Sensibilitätsausfälle; Hemisymptomatik

Symptome im Karotis- oder im vertebrobasilären Stromgebiet • Einseitige Muskelschwäche des Gesichts, des Arms oder Beins, isoliert oder in Kombination mit anderen Symptomen • Einseitiger Sensibilitätsausfall im Gesicht, am Arm oder am Bein, isoliert oder in Kombination mit anderen Symptomen Oft ist die anamnestische Erhebung der Symptome nicht möglich, da sich die Patienten nicht mehr genau daran erinnern können und sich die Funktionsstörungen vollständig zurückbilden. Der vordere Hirnkreislauf ist am häufigsten betroffen. Bewusstseinsstörungen oder ein Bewusstseinsverlust sind eher selten. Aus diesem Grund sollten bei Auftreten eines dieser Symptome weitere Differenzialdiagnosen ins Auge gefasst werden.

Differenzialdiagnosen Ischämischer Insult (Minor Stroke, → ) Die Symptomatik bildet sich vollständig wieder zurück, in der Bildgebung (cMRT) Nachweis der Ischämie. Fokaler epileptischer Anfall Die Symptome halten nur Sekunden bis Minuten an; bei Rezidiven ist der Ablauf sehr stereotyp. Migräne Wird i. d. R. begleitet von Kopfschmerzen; die neurologischen Funktionsstörungen entwickeln sich langsamer (etwa 30 min). Intrakranielle Raumforderung Die Symptomatik weist gewöhnlich einen progredienten Verlauf auf; gelegentlich auch intermittierende Ausfallerscheinungen (z. B. durch Einblutung in einen Tumor oder epileptische Anfälle). Metabolische Entgleisung Eine Hypoglykämie kann beispielsweise vorübergehende neurologische Störungen verursachen. Periphere Nervenschädigung Sie kann intermittierende Sensibilitätsstörungen (z. B. Karpaltunnelsyndrom) hervorrufen.

Diagnostik Die Diagnostik richtet sich überwiegend nach derjenigen beim Schlaganfall. So ist die Suche nach einer arteriosklerotischen Gefäßeinengung (→ ) oder einer möglichen Emboliequelle von Bedeutung. Anamnestisch werden die Risikofaktoren für eine Arteriosklerose überprüft. Herzrhythmusstörungen, ein offenes Foramen ovale und Klappenvitien sind auszuschließen. Durch eine Doppler- oder Duplexsonografie der extra- und intrakraniellen Gefäße können Stenosen oder atherosklerotische Veränderungen ausgemacht werden. Hämatologische Erkrankungen (z. B. Sichelzellanämie, Leukämie), Vaskulitiden und Stoffwechselstörungen, die mit einer Thrombophilie einhergehen, sind zu berücksichtigen. Zerebrale Bildgebung (cMRT / CCT) sollte erfolgen, um ggf. eine Blutung, einen ischämischen Insult oder einen Tumor auszuschließen. Ein EEG könnte auf eine fokale Epilepsie hinweisen. Anhand der Messung von Blutdruckunterschieden an beiden Armen ist unter Beachtung der klinischen Symptome ein Subclavian-Steal-Syndrom in Betracht zu ziehen.

Abb. 29.1 In der Angiografie zeigt sich kurz nach Abgang der A. carotis interna eine kurzstreckige hochgradige Stenose (dicker Pfeil). Im Verlauf der A. carotis externa scheint sich ebenfalls eine Stenose darzustellen. CC: A. carotis communis, EC: A. carotis externa, IC: A. carotis interna. [E283] Diese und weiterführende Untersuchungen wie z. B. die MR-Angiografie oder die digitale Subtraktionsangiografie (DSA) sind der Fragestellung und individuellen Indikation des Patienten anzupassen.

Prävention von zerebralen Ischämien Patienten mit durchlebter TIA sind als Hochrisikopatienten für das Auftreten eines Schlaganfalls einzustufen. Hierbei besteht das höchste Insultrisiko in den ersten Tagen nach Auftreten der Symptome. Bei etwa einem Fünftel der ca. 250 000 Betroffenen, die pro Jahr in Deutschland einen Schlaganfall erleiden, handelt es sich um ein Rezidiv. So nimmt das rasche Aufdecken einer möglichen Ursache und Einleiten entsprechender sekundärprophylaktischer Maßnahmen eine wichtige Rolle ein, um das Risiko für weitere Schlaganfälle zu minimieren.

Sekundärprävention Behandlung von Risikofaktoren Allein durch die dauerhafte Normalisierung eines erhöhten Blutdrucks lässt sich das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, deutlich herabsetzen. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit und Wichtigkeit, möglichst alle Risikofaktoren für die Entstehung und Progredienz der Arteriosklerose zu beseitigen.

Thrombozytenfunktionshemmer Für ASS wurde eine signifikante Risikoreduktion für ischämische Insulte, Rezidivschlaganfälle (15 %),TIA, vaskulären Tod und Myokardinfarkt bei arteriosklerotischer Angiopathie und Ausschluss eines kardioembolischen Schlaganfalls nachgewiesen. Die Sekundärprophylaxe mit ASS soll innerhalb der ersten 48 h, nach Ausschluss eines hämorrhagischen Infarkts und bei Verdacht auf einen ischämischen Schlaganfall erfolgen. Empfohlen wird eine dauerhafte Einnahme der Prophylaxe. Diese protektive Wirkung und die preisgünstige Verfügbarkeit machen ASS zum Standardmedikament in der Prophylaxe. Die Tagesdosis beträgt 100 mg. Bei Patienten nach einem ischämischen Schlaganfall oder TIA können ASS + Dipyridamol oder Clopidogrel alternativ eingesetzt werden. Sollte es unter der Sekundärprophylaxe mit Thrombozytenfunktionshemmern zu erneuten Schlaganfällen kommen, ist die Ätiologie des Schlaganfalls erneut zu prüfen. Orale Antikoagulation Bei Patienten mit kardioemboligenem Schlaganfall (Vorhofflimmern) stellt die orale Antikoagulation eine effektive Sekundärprophylaxe für das Auftreten eines Rezidivschlaganfalls (Risikoreduktion von 70 %) dar. Vitamin-K-Antagonisten (Marcumar®, Ziel-INR 2–3) oder die neue Gruppe der direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) wie z. B. Dabigatran, Apixaban oder Rivaroxaban werden eingesetzt. Eine antikoagulatorische Therapie birgt jedoch auch Risiken (v. a. Blutung) und muss für jeden Patienten individuell gegenüber dem Nutzen abgewogen werden. Statine Der Einsatz von Statinen zur Sekundärprophylaxe reduziert das relative Risiko für einen Schlaganfall, Myokardinfarkt und vaskulären Tod um ca. 20 %. Empfohlen wird eine Senkung des LDL-Cholesterinwerts auf 60 min und resultiert aus einer schweren Schädigung der Hirnsubstanz durch z. B. Blutung, Entwicklung eines Hirnödems mit Gefahr der Einklemmung. Aufgrund der Schwere der Verletzung sind ständige Kontrollen des intrakraniellen Drucks und ggf. Maßnahmen zur Hirndrucksenkung erforderlich (→ ).

Intrakranielle Hämatome Epidurales Hämatom Durch eine Kalottenfraktur oder eine Prellung des Schädels ohne Fraktur im temporoparietalen Bereich kann es zu einer Verletzung der A. meningea media und ihrer Äste kommen. Die Blutung breitet sich zwischen Schädelknochen und Dura mater aus und führt nach dem Trauma rasch zur Bewusstlosigkeit des Patienten. In ca. 35 % der Fälle zeigt sich ein typischer Verlauf mit initialem Bewusstseinsverlust, anschließendem wachem „freiem Intervall“ (Minuten bis 10 h) und letztendlich erneutem Eintrüben bis zum Koma. Weitere Symptome können eine meist ipsilaterale Pupillenerweiterung, eine kontralaterale Hemiparese, Hirndruckanstieg bis zu lebensgefährlichen Einklemmungssyndromen und evtl. ein epileptischer Krampfanfall sein. Die diagnostische Methode der Wahl ist eine schnellstmögliche CCT, in der sich das Hämatom als hyperdenser, bikonvexer Bereich darstellt und sich scharf vom umliegenden Gewebe abgrenzen lässt (→ ). Therapeutisch sollte die Indikation zur operativen Entlastung geprüft werden. Etwa ein Viertel der Fälle verläuft letal.

Abb. 31.2 Epidurales Hämatom im CCT. Rechts unterhalb der Kalotte das hyperdense, konvex das Parenchym verdrängende Hämatom (Pfeil);darüber ein subgaleales Hämatom (Pfeilspitze) [E483]

Subdurales Hämatom Zu einem subduralen Hämatom kommt es bei Einriss der Brückenvenen oder eines Sinus. Das Blut breitet sich zwischen Dura und Arachnoidea aus. Ein akuter Verlauf (innerhalb von 72 h) kann Folge eines schweren SHT mit ausgedehnten Gewebeschäden sein. Dagegen kann ein chronisches subdurales Hämatom (Auftreten klinischer Zeichen nach bis zu 3 Wochen) nach Bagatelltraumata entstehen. Die akute Form kann klinisch dem epiduralen Hämatom sehr ähnlich sein: z. B. mit Bewusstseinsverlust (allerdings ohne freies Intervall), ipsilateraler Pupillenerweiterung, kontralateraler Hemiparese und ggf. Einklemmungssymptomen. Die chronische Form verläuft meist sehr langsam progredient mit zunehmenden Kopfschmerzen, psychischen Veränderungen (Apathie, Aufmerksamkeitsstörung, Verwirrtheit), Hemiparese, Stauungspapille bis hin zu Störungen der autonomen Hirnstammfunktionen. Zur Diagnosefindung wird ein CCT angefertigt, in dem sich das Hämatom akut als hyperdense, nach einigen Tagen zunehmend isodens und hypodens werdende, mondsichelförmige Raumforderung zwischen Schädelknochen und Gehirn zeigt (→ ). Therapeutisch sollte die Indikation für einen operativen Eingriff evaluiert werden, wobei beim chronischen Prozess die Anlage von Bohrlöchern mit Drainage meist ausreicht.

Abb. 31.3

Subdurales Hämatom im CCT (s. Pfeile) [E483]

Intrazerebrales Hämatom Eine intrazerebrale Blutung aufgrund eines SHT ist meist oberflächlich im frontotemporalen Bereich lokalisiert und entsteht durch Gefäßverletzung im Prellungsgebiet. Klinisch zeigen sich je nach Lokalisation entsprechende fokal neurologische Defizite. Die Therapie besteht in Hirndrucksenkung, ggf. mit operativer Entlastung. Ist ein operativer Eingriff nötig, beträgt die Letalität ca. 50 %.

Zusammenfassung • Beim SHT können primäre Hirnschäden als Coup- und Contrecoup-Verletzungen und sekundäre Substanzschäden durch posttraumatische Hirndrucksteigerung entstehen. • Als „Commotio cerebri“ wird ein kurzfristiger Hirnfunktionsverlust mit vollständiger Reversibilität bezeichnet. Bei einer Compressio cerebri kommt es zur Verletzung der Hirnsubstanz mit oft bleibenden Schäden. • Das Epiduralhämatom entsteht durch Einriss der A. meningea media und kann klinisch durch ein kurz dauerndes Erwachen des Patienten aus seiner Bewusstlosigkeit vor erneuter Eintrübung imponieren. • Beim subduralen Hämatom besteht eine Verletzung der Brückenvenen. Es kann durch ein Bagatelltrauma verursacht sein.

Tumoren des ZNS

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Hirntumoren Als primäre Hirntumoren fasst man alle gut- und bösartigen Neoplasien zusammen, die von der Gehirnsubstanz oder den umgebenden Hirnhäuten entstehen. Hierbei kann man neuroepitheliale Tumoren (Astrozytome, Glioblastom, Oligodendrogliom, Ependymom, embryonale Tumoren, Pinealistumor etc) Tumoren der Meningen und der Sellaregion (Hypophysenadenom, Kraniopharyngeom etc.) sowie Keimzelltumoren unterscheiden. Daneben gibt es Tumoren an peripheren intrakraniellen Nerven, ZNS-Lymphomeund Metastasen.Die jährliche Inzidenz der primären Hirntumoren beträgt ca. 17 / 100 000 Einwohner. Unter allen malignen Erkrankungen machen sie einen Anteil von ca. 2 % aus. Es gibt zwei Altersgipfel für das Auftreten von primären Hirntumoren (25–35 und 50–65 Jahre), wobei einige Tumorarten bevorzugt in speziellen Altersgruppen anzutreffen sind. Den prozentualen Anteil der einzelnen Arten stellt → dar. Metastasen sind weit häufiger als primäre Tumoren. Angaben zur Häufigkeit der Metastasen unter der Gesamtheit der ZNS-Neoplasien sind jedoch widersprüchlich. Im Folgenden werden zunächst allgemeine Gesichtspunkte dargestellt und im Anschluss einige Tumorarten genauer besprochen.

Abb. 32.1

Prozentualer Anteil verschiedener Tumorarten im Verhältnis zur Gesamtheit aller primären Hirntumoren [L141]

Klinik Die klinischen Symptome sind vielfältig und hängen von der Lokalisation (→ ) und der Wachstumsgeschwindigkeit der Neoplasie ab. Während maligne Tumoren i. d. R. rasch nach Erkrankungsbeginn klinische Symptome aufweisen, können benigne, langsam wachsende Tumoren mehrere Jahre symptomlos sein oder mit schleichend zunehmender Symptomatik einhergehen, bevor sie diagnostiziert werden. • Psychopathologische Veränderungen wie z. B. Verlangsamung, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sind oft die erste Manifestation eines Hirntumors. Bei Kindern trifft dies in mehr als der Hälfte der Fälle zu. • Im Verlauf der Erkrankung werden von bis zu 60 % der Betroffenen Kopfschmerzen beklagt, die jedoch selten das Leitsymptom darstellen. Es sind i. d. R. unspezifische Schmerzen, die morgens am stärksten ausgeprägt sind und sich nach dem Aufstehen bessern. • Verstärkt sich der Kopfschmerz beim Bücken sowie beim Valsalva-Manöver und treten auch Übelkeit und frühmorgendliches Erbrechen im Schwall hinzu, muss an erhöhten Hirndruck gedacht werden. Weitere Zeichen hierfür sind Störung der Vigilanz und Pupillomotorik sowie eine ein- oder beidseitige Stauungspapille. Das Endstadium stellt eine Einklemmung durch nicht mehr kontrollierbaren Druckanstieg dar (→ ). • Epileptische Anfälle sind in etwa einem Drittel der Fälle das Initialsymptom und treten bei mehr als der Hälfte der Patienten im Verlauf auf. Die Anfallsform und die neurologischen Ausfälle weisen auf die Lokalisation des Tumors hin (s. u.).

Tab. 32.1

Symptome in Abhängigkeit von der Tumorlokalisation

Frontallappen

Affektstörung, Antriebsstörung, Enthemmung, epileptische Anfälle, v. a. einfach-fokale Anfälle, motorische Aphasie, Riechstörungen

Temporallappen Kognitive Störungen, Aphasie (amnestisch oder Typ Wernicke), generalisierte oder komplex-fokale Anfälle, Ängstlichkeit, Depression, psychische Labilität Parietallappen

Sensibles oder motorisches Mono- und Hemisyndrom, neuropsychologische Störungen (Apraxie, amnestische Aphasie), fokale Anfälle (z. B. motorischer oder sensibler Jackson-Anfall), untere Quadrantenanopsie; psychische Veränderungen treten nicht auf

Okzipitallappen

Homonyme Hemianopsie, zerebrale Anfälle

Stammganglien

Extrapyramidal-motorische Störungen (→ ), depressive Verstimmung

Hirnstamm

Bewusstseinsstörungen, Verschlusshydrozephalus, Hirnnervenausfälle, Hemi- oder Tetraparese, Ataxie

Kleinhirn

Ataxie, Hirndruckzeichen

Tritt ein epileptischer Anfall erstmals im Erwachsenenalter auf, sollte immer ein Hirntumor als Ursache in Betracht gezogen werden.

Differenzialdiagnose In Betracht kommen unterschiedliche raumfordernde Prozesse. Der Nachweis einer intrakraniellen Blutung im CT schließt einen Tumor nicht aus, der ebenfalls einbluten kann. Die Tumordarstellung ist durch das ausgetretene Blut in manchen Fällen erschwert. Entzündlich bedingte Raumforderungen wie Abszesse, Enzephalitiden, parasitäre Zysten (z. B. Echinokokkose, Zystizerkose), Tuberkulome etc. gehen i. d. R. mit allgemeinen Entzündungszeichen (z. B. Leukozytenerhöhung, BSG-Erhöhung, Fieber) in Blut und Liquor einher. Bei akut eintretender Symptomatik ist an einen Schlaganfall zu denken (→ ). Tumoren des Schädelknochens und der Weichteile wie Osteom, Fibrom, Epidermoid, Angiom etc. sind ebenfalls differenzialdiagnostisch zu beachten und durch Bildgebung und evtl. Biopsie einzuordnen. Als Ausschlussdiagnose kommt ein Pseudotumor cerebri ( → ) in Betracht, der sich durch Hirndruckzeichen (Trias: Kopfschmerzen, meist beidseitige Stauungspapillen und Sehstörungen) bei fehlender intrakranieller Raumforderung, unauffälliger Größe des Ventrikelsystems und unauffälligem Liquorbefund kennzeichnet; der Liquordruck nimmt Werte von über 250 mmH 2 O an. Im CCT findet man in manchen Fällen das Phänomen der leeren Sella (empty sella sign).

Diagnostik Bildgebende Verfahren nehmen einen wichtigen Stellenwert in der Diagnostik ein. Das sensitivste Verfahren zur Darstellung der Tumorausdehnung und Beziehung zu umliegenden Strukturen ist das MRT (nativ und mit Kontrastmittel). Das CT (mit Kontrastmittel) kann für die Artdifferenzierung von Nutzen sein. Es können u. a. Verkalkungen des Tumors als Hinweis auf ein langsames Wachstum dargestellt werden. Der Liquorbefund zeigt oft eine Eiweißerhöhung und wird v. a. bei Verdacht auf Meningeosis carcinomatosa und Meningeosis leucaemica auf Tumorzellen hin untersucht ( Cave: erhöhter Hirndruck!). Eine Biopsie unter CT- oder MRT-Führung ist erforderlich, falls keine operative Therapie vorgesehen ist, sondern eine Chemotherapie oder eine Radiotherapie. Ist der Tumor gut zugänglich, wird eine Komplettresektion anstatt einer Biopsie angestrebt. Bei Unklarheit, ob eine Neoplasie vorliegt, ist eine Biopsie indiziert. Die Gradeinteilung der Hirntumoren entsprechend WHO-Richtlinien versucht, histologische und zytologische Kriterien mit dem biologischen Verhalten des Tumors (z. B. Metastasierungsneigung, raumfordernde Wirkung, Kompression umgebender Strukturen etc.) zu korrelieren und somit eine Einschätzung des Verlaufs zu ermöglichen (→ ). Generalisierte prognostische Aussagen für die Tumorarten sind jedoch schwierig, da z. B. auch als benigne klassifizierte Tumoren inoperabel und strategisch ungünstig lokalisiert sein können. Für die präoperative Planung ist die Darstellung der tumorversorgenden Gefäße mittels Angiografie von Bedeutung.

Tab. 32.2

Gradeinteilung der Hirntumoren

Grad nach WHO Tumoren (Auswahl) I Benigne

Pilozytisches Astrozytom (Astrozytom I), Meningeom, Neurinom (Schwannom), Hypophysenadenom, Kraniopharyngeom, Plexuspapillom, Hämangioblastom, Teratom

II Semibenigne

Astrozytom II, Oligodendrogliom, Pineozytom, Ependymom

III Semimaligne

Anaplastisches Astrozytom (Astrozytom III), anaplastisches Oligodendrogliom, anaplastisches Ependymom, anaplastisches Meningeom, Germinom, Fibrosarkom

IV Maligne

Glioblastom (Astrozytom IV), Pineoblastom, Medulloblastom, primäres malignes Lymphom

Therapie Anzustreben ist die Totalresektion des Tumors, was oft aufgrund der Lokalisation und Dignität nicht möglich ist. In bestimmten Fällen ist eine Teilresektion sinnvoll. In Abhängigkeit von der Tumorart kommt eine postoperative Chemo- oder Strahlentherapie in Betracht. Einige Tumorerkrankungen wie z. B. die Meningeosis carcinomatosa sprechen auf eine primäre Chemotherapie an. Gewöhnlich geht mit malignen Hirntumoren ein Ödem einher, dessen Behandlung und somit auch Senkung des intrakraniellen Drucks mit Kortikosteroiden und erforderlichenfalls durch Anlage eines Shunts erfolgt. Die Indikation für eine antikonvulsive Therapie sollte geprüft werden. Regelmäßige Verlaufskontrollen sind bei benignen Tumoren und bei malignen in entsprechenden Abständen indiziert.

Hirnmetastasen Bei etwa einem Viertel der Patienten mit einem extrakraniellen Tumor bilden sich im Verlauf Hirnmetastasen. Die Zellstreuung des Primärtumors erfolgt meist hämatogen in das Hirnparenchym oder in die Meningen (Meningeosis carcinomatosa). Der Primärtumor ist bei Männern am häufigsten ein Bronchialkarzinom und bei Frauen ein Mammakarzinom. Die weitere Rangfolge ohne Geschlechtertrennung lautet gastrointestinale Tumoren, malignes Melanom, Tumoren des Urogenitaltrakts. Bei ca. 10 % ist kein Primärtumor auffindbar. Metastasen des Hirnparenchyms Etwa 40 % treten solitär in Erscheinung. Die Suche nach dem Primärtumor ist für das weitere Vorgehen von Bedeutung. Meist bildet sich früh ein ausgeprägtes perifokales Ödem, das mit Kortikosteroiden behandelt wird. Ein operatives Vorgehen ist kritisch zu erwägen und i. d. R. bei solitären Herden indiziert. Eine Ganzhirnbestrahlung ist eine Möglichkeit, die bei multiplen Metastasen erwogen wird. Die Prognose bei Auftreten von Hirnmetastasen unter maximaler Therapie ist sehr ungünstig. Meningeosis carcinomatosa/leucaemica Es handelt sich um eine metastatische Ausbreitung von Tumorzellen im Liquorsystem, meistens in einer späteren Krankheitsphase. Die Manifestation erfolgt meist durch Übelkeit, Erbrechen, polyradikuläre Symptome, Liquorabflussstörung, Hirnnervenausfälle, Meningismus und rasch progrediente

Bewusstseinstrübung. Bis auf wenige Ausnahmen erfolgt ein palliativ-therapeutisches Vorgehen (z. B. intrathekale Gabe von Methotrexat, Antikonvulsiva). Die mittlere Überlebenszeit ohne Therapie beträgt wenige Wochen.

Tumorarten (Auswahl) Astrozytome Astrozytome sind Tumoren des neuroepithelialen Gewebes (Gliome) und gehören zu den am häufigsten auftretenden Hirntumoren. Entsprechend den histologischen Kriterien entwickeln sich vermutlich Oligodendrogliome zu Astrozytomen und dann zu Glioblastomen. Mischformen gibt es auch.

Klinik und Therapie Die pilozytischen Astrozytome (WHO-Grad I) sind die häufigsten Gliome des Kindes- und Jugendalters (v. a. 5. – 15. Lebensjahr) und gewöhnlich in den Kleinhirnhemisphären, im Wurm und selten auch im Pons oder am N. opticus vorzufinden. Sie manifestieren sich meist durch eine zerebelläre Rumpf- und Extremitätenataxie, Nystagmus, Kopfschmerzen und Erbrechen. Durch Verlegung des IV. Ventrikels kann es rasch zum Verschlusshydrozephalus kommen. Ein Befall des Pons ist nicht operabel, bei einer Kleinhirnlokalisation kann die Erkrankung durch Radikaloperation geheilt werden. Das pilozytische Astrozytom ist unter den Gliomen das einzige, das geheilt werden kann. Das Astrozytom WHO-Grad II manifestiert sich hauptsächlich zwischen dem 30. und 45. Lebensjahr und wächst langsam infiltrierend besonders im Bereich der frontalen und frontotemporalen Großhirnhemisphären. Typische klinische Erstsymptome sind fokale Epilepsien, die häufig generalisieren, sowie psychische Veränderungen. Nach vollständiger Resektion ist die Prognose gut. Rezidive können nach Jahren auftreten und zeigen nicht selten ein aggressiveres Wachstum (Grad III – IV).

Glioblastom Das Glioblastom (Astrozytom WHO-Grad IV) ist das häufigste maligne Gliom des Erwachsenen (v. a. 40. – 55. Lebensjahr) und wächst schnell infiltrierend meist im Marklager der Großhirnhemisphären (→ ). Vom Balken ausgehend, kann es in beide Hemisphären hineinwachsen (Schmetterlingsgliom). Der Tumor ist gut vaskularisiert und bietet makroskopisch das sog. bunte Bild mit Blutungen, Nekrosen, Thrombosen und arteriovenösen Anastomosen (Glioblastoma multiforme).

Abb. 32.2

Glioblastom im CCT nach Gabe von Kontrastmittel (KM). Typisch ist die KM-Anreicherung in girlandenartigen Strukturen. [R276]

Klinik und Therapie Nach den Erstsymptomen (meist Kopfschmerzen, psychische Veränderungen) folgen häufig rasch fokal-neurologische Ausfälle (z. B. progrediente Parese, epileptischer Krampfanfall, Aphasie etc.). Hirndruckzeichen zeigen sich aufgrund des ausgeprägten Begleitödems meist rasch. Durch Einblutung in den Tumor können Symptome schlaganfallartig auftreten. Selbst nach einer Operation und zytostatischen Therapie ist die Prognose mit einer mittleren Überlebenszeit von 10–12 Monaten infaust. Häufig führt ein Status epilepticus zum Tod.

Oligodendrogliom Oligodendrogliome (WHO-Grad II) sind langsam, meist im Frontalhirnbereich wachsende, relativ gut differenzierte Tumoren, die zu Verkalkungen neigen und ein geringes perifokales Ödem ausbilden.

Klinik und Therapie Der klinische Verlauf ist entsprechend langsam progredient und manifestiert sich meist durch einen epileptischen Anfall. Dieses Symptom zeigen im Verlauf drei Viertel der Patienten. Die operative Resektion ist anzustreben, aber durch das infiltrative Wachstum oft nicht möglich. Etwa die Hälfte der Patienten entwickelt in den ersten 5 Jahren ein Rezidiv.

Hypophysenadenom

Ursprung der Hypophysentumoren ist meist der Hypophysenvorderlappen (HVL, Adenohypophyse). Es werden hormonaktive Tumoren mit Hypersekretion von hormoninaktiven Neoplasien unterschieden. Die Letztgenannten stören durch ihr verdrängendes Wachstum entweder den gesunden Anteil des HVL in der Hormonfreisetzung oder komprimieren umliegende Strukturen (z. B. Chiasma opticum).

Klinik hormonproduzierender Adenome • GH-Produktion, 15–20 %: präpubertär Riesenwuchs, nach der Pubertät Akromegalie • ACTH-Produktion; 5–10 %: Cushing-Syndrom • Prolaktinom (Prolaktinproduktion; 45–50 %): Bei der Frau entstehen eine sekundäre Amenorrhö, Galaktorrhö, anovulatorische Zyklen. Beim Mann kommt es zu Libido- und Potenzverlust.

Klinik nicht hormonproduzierender Adenome • HVL-Insuffizienz durch Kompression: Die Hormonsekretion fällt in folgender zeitlicher Reihenfolge aus: Gonadotropine, TSH und ACTH → sekundärer Hypogonadismus, Hypothyreose, Muskelschwäche, blasses Hautkolorit, Adynamie etc. • Kompression von Chiasma opticum und N. opticus: bitemporale Hemianopsie, bitemporale obere Quadrantenanopsie, Visusminderung

Therapie Raumfordernde Hypophysenadenome werden transsphenoidal operativ entfernt. Hormonaktive, nicht raumfordernde Tumoren werden medikamentös therapiert. Postoperativ ist an eine Hormonsubstitution zu denken.

Meningeom Meningeome (meist WHO-Grad I in > 90 % der Fälle; Grade II und III möglich) gehören mit ca. 20 % zu den häufigsten primären Hirntumoren und stammen von den Endothelzellen der Arachnoidea ab. 90 % der Meningeome wachsen intrakraniell, die übrigen 10 % spinal (sehr selten auch ektopes Wachstum). Frauen sind häufiger betroffen. Das mittlere Erkrankungsalter liegt im 5. Lebensjahrzehnt. Typischerweise liegen sie breitbasig der Dura an, sind gut vaskularisiert, wachsen sehr langsam verdrängend und lagern konzentrisch (zwiebelschalenartig) Kalk ab (Psammonkörper). Röntgenstrahlung scheint ätiologisch einen Risikofaktor darzustellen.

Klinik und Therapie Meningeome sind gelegentlich Zufallsbefunde und werden typischerweise erst nach jahrelangem Verlauf symptomatisch (z. B. epileptische Anfälle, Kopfschmerzen, fokal neurologische Defizite). Häufige Lokalisationen sind Falx, Konvexität und Sinus sagittalis (→ ). Seltener findet man Keilbeinmeningeome (Sehstörungen, Exophthalmus und Okulomotorius- sowie Trochlearisparesen) und Olfaktoriusmeningeome (Hyposmie, Optikusatrophie). Je nach Parenchymkompression des Tumors im frontalen, parietalen, temporalen oder okzipitalen Bereich treten unterschiedliche Symptome auf. Eine parasagittale Lokalisation im mittleren Drittel kann mit einer Paraparese der Beine und einer Blasenstörung (Mantelkantensyndrom) einhergehen. Charakteristisch ist eine homogene Kontrastmittelanreicherung.

Abb. 32.3

Im MRT (T1-Wichtung) stellt sich ein kontrastmittelaufnehmendes Meningeom mit raumfordernder Wirkung dar. [E355]

Die Heilung durch eine Totalresektion ist möglich und somit Therapie der Wahl. Alternativ kann eine Radiatio oder eine Radiochirurgie (Gamma Knife) durchgeführt werden. Ist eine Totalresektion nicht möglich, kann eine postoperative Bestrahlung das erneute Wachstum hemmen. Bei älteren Patienten reicht eine regelmäßige Verlaufskontrolle des Tumors oft aus. Nach Resektion kommt es bei ca. einem Fünftel der Patienten zum Rezidiv nach 10 Jahren. Bei mehreren Meningeomen ist differenzialdiagnostisch an eine Neurofibromatose Typ II zu denken.

Neurinom (Schwannom) Diese von den Schwann-Zellen ausgehenden benignen, langsam, verdrängend wachsenden peripheren Tumoren (WHO-Grad I) können peripher, viszeral, intraspinal und intrakraniell auftreten.Intrakraniell wachsen sie v. a. am vestibulären Anteil des N. vestibulocochlearis (Akustikusneurinom, Kleinhirnbrückenwinkeltumor) . Intraspinale Schwannome entstehen meist an den sensorischen Wurzeln und peripher meist im Bereich von Kopf-, Halsund Beugeseiten der Extremitäten. Bilaterale Akustikusneurinome treten bei Neurofibromatose Typ2 auf.

Klinik, Diagnostik und Therapie Erstsymptom ist meist eine schmerzlose Schwellung. Je nach Lokalisation entstehen neurologische Symptome, bei intraspinalem Wachstum auch radikuläre Schmerzen und Querschnittsymptome.

Das Akustikusneurinom manifestiert sich durch langsam progrediente Symptome wie z. B. eine einseitige Hypakusis, Tinnitus, unspezifischen Schwindel, Fallneigung zur erkrankten Seite und Nystagmus. Die zunehmende Größe des Neurinoms verursacht im Verlauf Störungen anderer Strukturen im Kleinhirnbrückenwinkel. Zunächst sind der N. facialis und der N. trigeminus betroffen. Später verursacht die Kleinhirn- und Hirnstammkompression eine zerebelläre Ataxie sowie Pyramidenbahnzeichen. Durch die raumfordernde Wirkung sind häufig Hirndruckzeichen zu finden. Im CT reichert das Akustikusneurinom Kontrastmittel an. Eine Darstellung des Tumors intrakanalikulär im MRT sichert die Diagnose. Histologisch typisch sind spindelförmige Schwann-Zellen mit länglichen palisadenartig aufgereihten Zellkernen. Die Prognose ist bei einer vollständigen Entfernung sehr gut. Je nach Größe des Tumors bleiben u. U. Funktionen, die bereits Schaden genommen haben, irreversibel gestört.

Weitere Tumorarten Das Kraniopharyngeom WHO-Grad I leitet sich von Resten der Rathke-Tasche ab (Ausbuchtung des Ektoderms, aus der im Verlauf der embryonalen Entwicklung die Adenohypophyse hervorgeht) und ist i. d. R. intra- und suprasellär vorzufinden, was zu einer Sekretionsstörung der Hypophysenhormone führt. Das Wachstum ist primär verdrängend. Vor der Pubertät zeigt sich klinisch Minderwuchs und nach der Pubertät sind v. a. Diabetes insipidus, seltener Hypothyreose, Fettsucht und Hypogonadismus Folgen des Tumors. Pinealistumoren sind selten und in allen vier Malignitätsgraden anzutreffen. Sie manifestieren sich typischerweise durch Augenbewegungsstörungen (vertikale Blickparese, Augenmuskellähmungen, Perinaud-Syndrom), wobei im späteren Verlauf Pyramidenbahnzeichen, Kleinhirnsyndrome sowie Hirnstammsyndrome hinzukommen können. Ependymome und Plexuspapillome werden häufig durch einen erhöhten Hirndruck aufgrund von Liquorzirkulationsstörungen symptomatisch. Ebenfalls durch Hirndruckzeichen und einen Okklusionshydrozephalus manifestiert sich das Medulloblastom (Grad IV), das sich bevorzugt im Bereich des IV. Ventrikels entwickelt. Betroffen sind Kinder und junge Erwachsene. Die Prognose ist für diese Tumorart schlecht.

Zusammenfassung • Im Erwachsenenalter sind Metastasen weitaus häufiger als primäre Hirntumoren. • Bei Diagnosestellung sind die häufigsten Symptome neurologische Ausfälle, psychopathologische Veränderungen, epileptische Anfälle und Kopfschmerzen. Ein Hirndruckanstieg tritt bei über zwei Drittel der Fälle im Verlauf auf. • Die Art der fokal-neurologischen sowie der epileptischen Anfälle gibt Hinweise auf die Lokalisation des Tumors. • Die Gradeinteilung nach WHO der Hirntumoren korreliert histologischen Befund und biologisches Verhalten des Tumors mit dem klinischen Verlauf. • Die häufigsten Primärtumoren bei Hirnmetastasen sind bei Männern das Bronchialkarzinom und bei Frauen das Mammakarzinom. • Die häufigsten Tumorarten sind die Astrozytome, wobei das heilbare pilozytische Astrozytom ein Tumor des Kindes- und Jugendalters ist und sich das Astrozytom Grad II oft im Erwachsenenalter entwickelt und zu Rezidiven neigt. • Im Erwachsenenalter ist der am häufigsten vorkommende maligne Tumor das Glioblastom (Grad IV), dessen Verlauf sich schnell progredient mit frühem Hirndruckanstieg und infauster Prognose darstellt. • Ein Hypophysenadenom kann sich endokrinologisch durch Hormonsekretionsstörungen oder neurologisch durch Druck auf die Sehbahn manifestieren. • Meningeome und Neurinome wachsen langsam verdrängend, wobei die Meningeome von der Arachnoidea ausgehend je nach ihrer Lokalisation Symptome zeigen und die Neurinome sich durch Störung des betroffenen Nervs manifestieren.

Anfallskrankheiten

33

Epilepsie Ein epileptischer Anfall ist Folge einer abnormen zentralen Erregungsbildung und -ausbreitung. Die anfallsweise auftretenden motorischen, sensorischen, sensiblen, psychischen oder vegetativen Symptome werden durch eine zeitlich begrenzte synchronisierte Entladung zerebraler Neurone bedingt. Diese Entladungen bleiben entweder auf eine bestimmte Hirnregion einer Hemisphäre begrenzt (fokal), breiten sich von einem Fokus auf beide Hemisphären aus (sekundär generalisiert) oder entstehen primär generalisiert (beide Hemisphären betreffend). Bei 5 % der Bevölkerung tritt einmal im Leben ein epileptischer Anfall auf, wobei 10 % im EEG eine erhöhte Krampfbereitschaft aufweisen. Ein zerebraler Krampfanfall, der durch bestimmte Faktoren (Gelegenheiten) provoziert wird, wird als „Gelegenheitsanfall“ (z. B. Fieberkrampf, metabolische oder toxische Ursache, Eklampsie etc.) bezeichnet. Die Epilepsie ist durch chronisch-rezidivierende Krämpfe gekennzeichnet und hat in Europa und Nordamerika eine Prävalenz von 600 / 100 000 Einwohner. Die Inzidenz beträgt 40– 60 / 100 000 Einwohner jährlich und manifestiert sich in mehr als zwei Dritteln der Fälle vor dem 20. Lebensjahr.

Pathogenese Der genaue Entstehungsvorgang zerebraler Krampfanfälle ist nicht vollständig geklärt. Die Depolarisationsbereitschaft der Nervenzellen wird durch unterschiedliche Faktoren gesteigert: z. B. eine Änderung der Ionenkonzentrationen (z. B. freies Kalzium ↓), Ungleichgewicht exzitatorischer und inhibitorischer Transmitter, Hirntumoren, Entzündungsreaktionen, strategisches Narbengewebe, Ödem, Hyperthermie, Alkalose, Hypoxie, Hypoglykämie, Medikamenten- und Alkoholentzug. Nach elektrischer Stimulation leicht erregbarer Hirnstrukturen (z. B. Elektrokrampftherapie) können Nervenzellen ein epileptogenes Verhalten entwickeln. In manchen Fällen ist es möglich, Krämpfe oder EEG-Veränderungen durch Lichtblitze sowie spezielle akustische und sensible Reize zu provozieren.

Ätiologie Die Internationale Liga gegen Epilepsie hat eine neue Terminologie / Klassifikation der epileptischen Syndrome vorgeschlagen (Akt Neurol 2010). Es werden weiterhin drei ätiologische Kategorien der epileptischen Anfälle unterschieden, wobei der Begriff „symptomatische“ Epilepsie durch „strukturell-metabolisch“, „kryptogen“ durch „unbekannt“ und „idiopathisch“ durch „genetisch“ ersetzt wird: Strukturell-metabolische Epilepsien Die Ursache der Anfälle ist auf morphologisch nachweisbare Veränderungen der Hirnstruktur zurückzuführen. Dies sind u. a. intrauterine Entwicklungsstörungen, perinatale Hirnschädigung, Narben (z. B. postischämisch, SAE), Gefäßfehlbildungen, Tumoren, Blutungen, SHT, toxische (Alkoholentzugsanfall), atrophische oder entzündliche Veränderungen (fokal oder als Enzephalitis). Als weitere Ursache kommen auch metabolische Veränderungen bei Stoffwechselerkrankungen (z. B. Phenylketonurie, Hypoglykämie) infrage. Unbekannte Epilepsien Dieser Gruppe werden Anfallsformen zugeordnet, die eine (noch) nicht nachweisbare Ursache haben. Genetische Epilepsien Ätiologisch steht eine nachgewiesene oder mögliche genetische Veranlagung im Vordergrund. In mehr als der Hälfte aller Epilepsien ist die Ätiologie unbekannt.

Klassifikation Da das Krankheitsbild der Epilepsie sehr komplex ist, müssen bei der Einteilung verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. Dazu gehören neben dem Anfallstyp z. B. auch Ätiologie, Auslöser, Ort des Geschehens, Manifestationsalter, Schweregrad der Anfälle, Chronizität, Beziehungen zum Tagesrhythmus und Prognose. Entsprechend der Klassifikation der Internationalen Liga gegen Epilepsie ist eine gebräuchliche Einteilung der epileptischen Krampfanfälle die nach klinischen Kriterien (→ ). Die Klassifizierung wird durch die Videoüberwachung mit EEG-Ableitung erleichtert.

Tab. 33.1 Einteilung der epileptischen Anfallsformen (ohne Sonderformen) nach Klassifikationsempfehlung der Internationalen Liga gegen Epilepsie Anfallstyp

Erscheinungsform

Generalisierte Anfälle

Tonisch, klonisch, tonisch-klonisch, myoklonisch (myoklonisch, myoklonisch-atonisch, myoklonischtonisch), atonisch (astatisch), Absencen (typisch, atypisch, myoklonische Absence, Lidmyoklonien mit Absence)

Fokale Anfälle Beschreibungsmerkmale in Abhängigkeit von der Beeinträchtigung während des Anfalls a) Ohne Einschränkung des Bewusstseins oder der Aufmerksamkeit

• Mit beobachtbaren motorischen oder autonomen Komponenten (≙ einfach fokaler Anfall) • Mit nur subjektiven sensiblen / sensorischen oder psychischen Phänomenen

b) Mit Einschränkung des Bewusstseins oder der Aufmerksamkeit (komplex-fokaler Anfall)

• Dyskognitiv

c) Mit Entwicklung zu einem bilateralen, konvulsiven Anfall

• Tonische, klonische oder tonisch-klonische Komponenten (≙ sekundär-generalisierter Anfall)

d) Unbekannt

• Epileptische Spasmen

Es gibt Epilepsieformen, die weder isoliert den generalisierten noch den fokalen Anfällen zuordenbar sind, da sie Merkmale beider Klassifikationen aufweisen können. Zu diesen Sonderformen gehören u. a. das Aphasie-Epilepsie-Syndrom (Landau-Kleffner-Syndrom) und die Rolando-Epilepsie. Rolando-Epilepsie Benigne Partialepilepsie des Kindesalters: familiäre Häufung in ca. 30–40 % der Fälle mit einem Manifestationsalter zwischen dem 3. und 12. Lj.; Anteil von 10–25 % aller Epilepsien im Kleinkindalter. Charakteristisch sind im Schlaf auftretende Symptome mit sensiblen Erscheinungen, Speichelfluss, Sprechhemmung und hemifazialen Kloni, die generalisieren können. Im Anfall zeigt das EEG Spikes oder Sharp Waves über der Zentrotemporalregion. Diese Anfallsform sistiert i. d. R. innerhalb von 2 Jahren spontan. Aphasie-Epilepsie-Syndrom

Unklare Ätiologie; Manifestation zwischen dem 3. – 7. Lj. mit neu auftretender Aphasie sowie fokalen oder generalisierten tonisch-klonischen Anfällen meist aus dem Schlaf heraus. Unauffälliges Wach-EEG, aber pathologische Veränderungen im Schlaf-EEG. Bis zur Pubertät sistieren die Anfälle; die Prognose für die Sprachstörungen ist ungünstig.

Diagnostik Im Mittelpunkt der Diagnostik steht die genaue Erhebung der Krankengeschichte durch den Patienten selbst und fremdanamnestisch durch eine Person, die einen Anfall beobachten konnte. Neben dem detaillierten Ablauf der Symptome sind folgende Gesichtspunkte zu beachten: Bewusstseinslage des Patienten, Aura, Urin- bzw. Stuhlabgang, Blickwendung („vom Herd weg“), Verletzungen (Zungenbiss, Schürfwunden u. a.), postiktuale Reorientierungsstörung, Müdigkeit, Dauer des Anfalls, Familienanamnese, Gehirnerkrankungen und Lebensführung (Alkohol, Medikamente, Schlafgewohnheiten etc.). Besteht der Verdacht auf epileptische Anfälle, ist anhand von Zusatzuntersuchungen eine strukturell-metabolische Ursache von genetischen und unbekannten Epilepsien abzugrenzen.Insbesondere bei einem erstmaligen epileptischen Anfall im Erwachsenenalter sollte an eine strukturell-metabolische Ursache gedacht werden. Zur Grunddiagnostik bei Verdacht auf einen epileptischen Anfall gehören eine kraniale Bildgebung (cMRT nativ und mit Kontrastmittelgabe), ein EEG, eine Laboruntersuchung und ggf. eine Lumbalpunktion. Je nach Befunden und möglichen Differenzialdiagnosen werden weitere spezifischere Untersuchungen durchgeführt. EEG Da im Intervall das EEG in den meisten Fällen unauffällig ist, werden Provokationsmethoden (Hyperventilation, Schlafentzug, Fotostimulation) angewendet, um ein epilepsiespezifisches Aktivitätsmuster nachweisen zu können. Neben dem Schlaf-EEG kann ein Langzeit-EEG abgeleitet werden, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, einen Anfall aufzuzeichnen. Durch eine simultane Videodokumentation sind einzelne Sequenzen besser zu beurteilen und die Art des Anfalls besser zu klassifizieren. Bildgebung Morphologische Veränderungen des Gehirns (z. B. Ischämie, Tumor, Zyste, Atrophie, Narben) lassen sich durch ein CCT oder MRT nachweisen. Durch eine Angiografie können Gefäßfehlbildungen ausgeschlossen werden. Die SPECT / PET ermöglicht durch die Darstellung von Durchblutungsveränderungen bzw. Stoffwechselunterschieden des Hirnparenchyms eine genaue Herdlokalisation. Labor Bei etwa einem Fünftel der Fälle mit tonisch-klonischen Anfällen kommt es postiktal zu einem Anstieg der CK und ggf. des Prolaktinspiegels.

Therapie Ist die Diagnose eines epileptischen Anfalls gestellt, muss das weitere Vorgehen entschieden werden. Eine kausale Therapie steht im Vordergrund, falls der Anfall auf eine behandelbare Ursache zurückzuführen ist. Da nicht jeder epileptische Anfall eine Behandlung erfordert (z. B. Gelegenheitsanfall mit bekanntem und vermeidbarem Auslöser, einmaliger Anfall mit unauffälligem Ruhe-EEG, nach neurochirurgischen Eingriffen ohne vorbestehende Epilepsie), ist die Indikation für eine medikamentöse Therapie in jedem Fall individuell zu überlegen und wird auch von persönlichen Faktoren (z. B. Lebensumstände) beeinflusst. Eine medikamentöse Therapie (→ ) ist bei einer vitalen Gefährdung des Patienten oder aus sozialen Gründen (Beruf, Fahrerlaubnis) indiziert. Weiterhin besteht eine Indikation bei zwei unprovozierten Anfällen. Die Therapie sollte auch bei einem oder mehreren Spontananfällen begonnen werden, wenn der Patient im Ruhe-EEG epilepsietypische Potenziale aufweist. Prinzipiell ist eine Monotherapie anzustreben. Bei Nachlassen der Wirksamkeit sollte zunächst auf ein anderes Medikament umgestellt und bei Wirkungslosigkeit über eine Kombinationstherapie nachgedacht werden. Besteht über 2–3 Jahre Anfallsfreiheit mit unauffälligem Ruhe-EEG, kann bei geringem Rezidivrisiko eine vorsichtige stufenweise Reduktion der Medikamente mit Absetzversuch über 6–12 Monate überlegt werden.

Tab. 33.2

Medikamentöse antiepileptische Behandlung

Anfallsform

Medikation 1. Wahl

2. Wahl

Tonisch-klonische Anfälle (Grand-Mal)

VPA, TPM, LTG, PB

LVT ZSD

Absencen

VPA, ESM, TPM, LTG

LVT

Myoklonische Anfälle

VPA

LTG, PB

Einfache und komplexe fokale Anfälle

CBZ, VPA, LTG, TPM

LVT, OXC, GBP, TGB

CBZ: Carbamazepin, ESM: Ethosuximid, GBP: Gabapentin, LTG: Lamotrigin, LVT: Levetiracetam, OXC: Oxcarbazepin, PB: Phenobarbital, PHT: Phenytoin, TBG: Tiagabin, TPM: Topiramat, VPA: Valproinsäure, ZSD: Zonisamid

Ein chirurgischer Eingriff ist zu überlegen bei einer erwiesenen Pharmakoresistenz von mindestens zwei Antikonvulsiva in maximal verträglicher Dosis, wenn sich ein Fokus lokalisieren lässt oder aufseiten des Patienten durch seine Anfälle ein großer Leidensdruck besteht. Hierbei kommt die Implantation eines Vagusstimulators bei Unwirksamkeit der Chemotherapeutika und bei Inoperabilität infrage. Bei nachgewiesenem operablem Fokus und nach Abwägen des operativen Risikos ist die Fokusresektion eine weitere Option. In jedem Fall sollte der Patient hinsichtlich einer ausgewogenen Lebensführung beraten werden. Neben vielen anderen Faktoren spielen beispielsweise ein regelmäßiger Schlaf-wach-Rhythmus, das Meiden von Auslösesituationen (wie z. B. Diskobesuch) und Alkoholabstinenz eine große Rolle. Ist die Einnahme zusätzlicher Medikamente angezeigt (z. B. Kontrazeptiva, Antibiotika, Impfungen etc.), muss eine mögliche Interaktion mit den Antikonvulsiva beachtet werden. Den Betroffenen wird die Führung eines Anfallskalenders empfohlen, um Auslöser herauszufinden und den Serumspiegel der Chemotherapie im tageszeitlichen Verlauf besser einstellen zu können. Auch an eine genetische Beratung sollte gedacht werden, da etwa 4 % der Kinder mit einem betroffenen Elternteil ebenfalls epileptische Anfälle aufweisen. Dieses Risiko steigt auf 25 %, wenn beide Elternteile an epileptischen Anfällen leiden.

Generalisierte Epilepsien Generalisierte Epilepsien sind das Ergebnis primärer oder sekundär generalisierter pathologischer Entladungen beider Hemisphären und gehen mit Veränderungen des Muskeltonus sowie Bewusstseinsstörungen einher.

Generalisierte tonisch-klonische Anfälle („Grand-Mal“) Die Grand-Mal-Epilepsie ist mit ca. einem Drittel aller Epilepsien die häufigste Form. Bei einem weiteren Drittel gehen andere Anfallsformen in ein „GrandMal“ über. Man versucht, diesen Begriff durch genauere klinische Anfallsbeschreibungen zu ersetzen (z. B. nur tonisch-generalisierter Anfall).

Ätiologie Nach dem tageszeitlichen Muster des Auftretens der generalisierten tonisch-klonischen Anfälle können Rückschlüsse auf die Ursache gezogen werden (→ ).

Tab. 33.3

Ätiologische Zuordnung generalisierter tonisch-klonischer Anfälle in Abhängigkeit vom tageszeitlichen Auftreten

Auftreten (Häufigkeit)

Ätiologie

Prognose

Schlaf-Grand-Mal-Epilepsie (45 %): während des Schlafs – kurz nach dem Einschlafen oder beim Aufwachen

Ca. 25 % symptomatisch, genetische Belastung ist selten

• Medikamentöse Therapie:50 % anfallsfrei • Nach Absetzen:30 % Rezidiv

Aufwach-Grand-Mal-Epilepsie (33 %): in den ersten 2 h nach dem Aufwachen

Ca. 90 % familiäre Disposition, 10 % symptomatisch; Hauptmanifestationsalter zwischen 10. und 25. Lj.

• Medikamentöse Therapie:70–80 % anfallsfrei • Nach Absetzen:0 % Rezidiv

DiffuseGrand-Mal-Epilepsie (22 %): keine tageszeitliche Bindung

Ca. 50 % symptomatisch

• Medikamentöse Therapie:50 % anfallsfrei • Nach Absetzen:30 % Rezidiv

Klinik In etwa 15 % der Fälle geht dem tonisch-klonischen Anfall eine Aura voraus (z. B. epigastrisch, olfaktorisch, Derealisationserlebnisse [déjà vu, jamais vu], sensorisch, sensibel etc.), deren Symptome ein Hinweis auf die ursprüngliche Hirnregion sein können (genau genommen also ein fokaler Anfall mit sekundärer Generalisation). In den meisten Fällen setzt die tonische Phase (ca. 20–30 s) plötzlich ein (manchmal mit „Initialschrei“). Der Patient stürzt zu Boden, ist nicht mehr kontaktfähig, die Atmung setzt aus (Patient wird zyanotisch) und die Muskulatur beginnt, sich zu verkrampfen. Die Augen können geöffnet sein, die Pupillen sind mydriatisch und lichtstarr, der Kopf sowie die Bulbi sind leicht zur Seite gewendet und die Arme werden gebeugt und ggf. eleviert. Die Patienten sind tachykard mit Blutdruckanstieg, schwitzen vermehrt, die Bronchialsekretion ist gesteigert, die Muskelreflexe sind erloschen und das Babinski-Zeichen ist oft positiv. Vor Beginn der klonischen Phase werden die Arme gesenkt und die Hände flektiert. Die klonische Phase (30–50 s) ist durch rhythmische Zuckungen des ganzen Körpers gekennzeichnet. Ein vermehrter Speichelfluss ist möglich, sodass es zu Schaumbildung vor dem Mund kommen kann, der bei Zungenbiss blutig ist. In einem Drittel der Fälle wird Urin und seltener Stuhl abgesetzt. Postiktal kann der Patient nach einer ca. 2-minütigen komatösen Phase mit vorübergehenden Orientierungsstörungen aufwachen oder direkt einen „Terminalschlaf“ anschließen. Die vegetativen Symptome normalisieren sich. Für die Zeit des Anfalls besteht charakteristischerweise eine Amnesie.

Diagnostik und Therapie Selbst im anfallsfreien Intervall kann z. T. das charakteristische Muster von spikesandwaves in allen Ableitungen des EEG gesehen werden. Das Mittel der Wahl für die medikamentöse Behandlung ist Valproat (→ ).

Generalisierte Epilepsien und altersgebundene Syndrome Generalisierte Epilepsien manifestieren sich i. d. R. vor dem 20. Lj. und werden oft im weiteren Verlauf zusätzlich von generalisierten tonisch-klonischen Anfällen begleitet. Eine Auswahl der altersgebundenen Syndrome ist in → dargestellt.

Tab. 33.4

Altersgebundene generalisierte Epilepsien

Syndrom / Manifestationsalter

Klinik

Therapie und Prognose

Absence (Petit-MalEpilepsie, Pyknolepsie, FriedmannSyndrom), 6. – 10. Lj.

Zum Teil genetische Veränderung im GABA-Rezeptor • Bis zu 100-mal / Tag, Bewusstseinsstörung, starrer Blick, Innehalten der Tätigkeit, Petit-MalAutomatismen (z. B. nestelnde Bewegungen, Mundund Zungenbewegungen, Blinzeln), Amnesie EEG: 3 / s spike and waves

Valproat (Ethosuximid). Anfallsfreiheit in der Pubertät bei mehr als der Hälfte der Betroffenen, ein Teil geht in Grand-MalEpilepsie über.

West-Syndrom (BlitzNick-SalaamKrämpfe = BNS), ce:br/> 3. – 8. Monat

65 % symptomatisch, in Serien auftretend • Blitzkrampf: plötzliche Myoklonie mit Elevation von Armen und Beinen, Kopf- und Rumpfbeugung • Nickkrampf: Zuckungen mit Kopfbeugung dauern ≤ 1 s • Salaam-Spasmus: bei Ausweiten der Zuckungen tonischer Beugekrampf mit Kreuzen der Arme vor der Brust EEG: interiktal Hypsarrhythmien

Valproat, Vigabatrin (ACTH). Schlechte Prognose, ca. 25 % sterben vor dem 3. Lj., ca. 25 % unter Therapie anfallsfrei, mit zunehmendem Alter Übergang in andere Anfallsarten, z. B. Lennox-Gastaut-Syndrom, geistige Retardierung.

Lennox-GastautSyndrom (myoklonischastatische Epilepsie), 2. – 8. Lj.

In der Regel symptomatisch, 25 % dem West-Syndrom folgend, einzeln oder in Serie auftretend, mehrere Anfallsformen: • Generalisierte Myoklonien mit Sturz oder • Begrenzte Myoklonien, z. B. Nickanfall, Blinzelanfall • Häufig in Kombination mit tonischen oder tonischklonischen Anfällen EEG: 2 / s „slow spike and waves“

Valproat. Schlechte Prognose, ca. 50 % therapieresistent, ca. 55 % entwickeln einen Status epilepticus.

Impulsiv-Petit-MalEpilepsie (juvenile myoklonische Epilepsie, Janz-Syndrom), 12. – 18. Lj.

In 25 % der Fälle genetische Disposition, Rest idiopathisch • Isoliert oder in Salven auftretende Myoklonien v. a. der Arme (seltener der Beine) mit Fallenlassen / Wegschleudern von Gegenständen, meist morgens oder nach Schlafentzug, kein Bewusstseinsverlust • Häufig in Kombination mit generalisierten tonischklonischen Anfällen EEG: generalisierte Polyspike-Wave-Muster, auch im interiktalen EEG möglich

Valproat. Zirka 75 % anfallsfrei bei medikamentöser Behandlung; nach Absetzen fast immer Rezidiv.

Fokale Anfälle Fokale Anfälle ohne Bewusstseinsstörung (einfach fokale Anfälle) Häufig generalisieren diese Anfallsformen sekundär. Im Erwachsenenalter auftretende einfach-fokale Anfälle sind meist symptomatisch (z. B. Hirntumoren). Man unterscheidet folgende Formen: Motorische Anfälle Je nach kortikaler Beteiligung treten rhythmische oder unregelmäßige klonische, myoklonische oder tonische Symptome an einer umschriebenen Region (Hand, Arm, Bein, Gesicht etc.) auf. Breiten sich die motorischen und / oder sensiblen, sensorischen Symptome von der betroffenen Region auf die Körperhälfte aus, spricht man von march of convulsion, der für den Jackson-Anfall charakteristisch ist. Beim Versivanfall wendet der Patient in einer tonischklonischen bzw. tonischen Bewegung den Kopf und Rumpf und hebt in einigen Fällen den krampfenden Arm, wobei der zweite Arm adduziert wird (Fechterstellung). Sensible Anfälle Die Patienten beschreiben Missempfindungen wie Kribbeln, Schmerzen, Stechen, die lokal auftreten oder sich ausbreiten (sensibler Jackson-Anfall). Sensorische Anfälle In Abhängigkeit vom betroffenen Hirnbereich sind visuelle (Farben), akustische (Pfeifen), olfaktorische oder gustatorische Symptome möglich. Vegetative Anfälle Oft berichten die Patienten von Empfindungen im Bereich des Magens oder Herzens (z. B. Wärme, Druck), die sich ausweiten können. Begleitet werden diese von Tachykardie, Pupillenerweiterung, Schwitzen etc. Psychische Symptome Dazu gehören Aphasie, dysmnestische Symptome, kognitive Störungen, affektive Symptome, Illusionen und Halluzinationen. Unter Therapie erreichen bis zu 75 % der Patienten Anfallsfreiheit.

Fokale Anfälle mit Bewusstseinsstörung (komplex-fokale Anfälle) Diese sind ätiologisch sehr oft mit Veränderungen im Temporallappen und im limbischen System verbunden. Dem Anfall geht häufig eine Aura voraus (z. B. epigastrisch, déjà vu, jamais vu), die von einer Vigilanzstörung gefolgt wird. Häufig sind Automatismen wie z. B. Schmatzen, Lecken, Grimassieren, Gehen zu beobachten. Es können auch vegetative Symptome (Speichelfluss, Tachykardie, Schwitzen u. a.) auftreten. Sprachstörungen zeigen sich bei Beteiligung der dominanten Hemisphäre. Iktal sieht man im EEG oft generalisierte rhythmische ɛ-Wellen (4–7 / s). Zwischen den Anfällen kommen fokale Dysrhythmien vor. Etwa ein Drittel der Patienten wird unter Therapie anfallsfrei.

Status epilepticus Alle Anfallsformen können in einen Status epilepticus übergehen! Dieser liegt vor, wenn generalisiert tonisch-klonische Anfälle länger als 5 min andauern oder nonkonvulsive fokale Anfälle oder Absencen länger als 20 min anhalten. Auch eine Serie einzelner Krampfanfälle, bei denen der Patient nicht interiktal erwacht und die im EEG nicht vollständig sistieren, erfüllt die Kriterien für einen Status epilepticus. Eine Form des Status epilepticus aus der Gruppe der einfach-fokalen Epilepsien ist die Epilepsia partialis continua Kojewnikow, gekennzeichnet durch einen Stunden bis Monate andauernden fokalmotorischen

Anfall meist der distalen Extremitäten bei ungestörtem Bewusstsein. Alternierende Bewusstseinslage und Automatismen treten bei einem Status komplexfokaler Epilepsien auf. Neben der hohen Letalität ist eine Azidose mit Rhabdomyolyse und daraus resultierendem sekundären Nierenversagen eine gefürchtete Komplikation. Zur Therapie des Status epilepticus → . Der Grand-Mal-Status stellt einen Notfall dar mit der Gefahr einer anoxischen Hirnschädigung.

Zusammenfassung • Die Einteilung der Epilepsien erfolgt nach klinischen Kriterien: generalisiert, fokale Anfälle mit Bewusstseinsstörung / ohne Bewusstseinsstörung oder Entwicklung zu einem bilateralen konvulsiven Anfall und Anfälle unbekannter Klassifikation. • In der Diagnostik spielt die Ableitung eines EEG eine wichtige Rolle, daneben der Ablauf der auftretenden Anfallssymptome und klinische Zeichen wie z. B. postiktale Orientierungsstörung bzw. Müdigkeit, Zungenbiss, Urin- oder Stuhlabgang. • Ist eine medikamentöse antikonvulsive Therapie indiziert, wird eine Monotherapie angestrebt. • Die häufigste Anfallsform sind generalisierte tonisch-klonische Anfälle. • Jede Anfallsform kann sich zu einem Status epilepticus entwickeln, wobei der Grand-Mal-Status einen lebensbedrohlichen Notfall darstellt.

Degenerative Prozesse des ZNS

34

Extrapyramidale Bewegungsstörungen Neben dem Parkinson-Syndrom (→ ) gibt es weitere extrapyramidale Bewegungsstörungen, deren Diagnose oft aufgrund des klinischen Erscheinungsbilds gestellt wird. Anatomisch umfasst das extrapyramidal-motorische System im engeren Sinn Globus pallidus, Putamen, Ncl. caudatus, Ncl. subthalamicus, Ncl. ruber und Substantia nigra (Stammganglien). Bei einer Störung dieser Kerngebiete oder deren Projektionen zum Kortex, Thalamus und Hirnstamm kommt es zur Fehlsteuerung tonischer oder phasischer Muskelkontraktionen. Symptome: Rigor, Tremor, Akinese, Dystonie, Chorea, Ballismus und Athetose.

Hypokinese / Akinese Die Hypokinese ist durch eine Bewegungsarmut bis hin zum Verlust (Akinese) von automatisierten Bewegungsabläufen wie z. B. dem Lidschlag, der Gesichtsmimik (Maskengesicht) oder dem Mitschwingen der Arme beim Gehen gekennzeichnet. Die Motorik des Kranken ist verlangsamt (Bradykinese). Im Verlauf kann eine Starthemmung entstehen. So benötigt der Betroffene mehrere Anläufe, um sich von einem Stuhl erheben zu können, Treppensteigen, Losgehen und Stehenbleiben fallen ihm mit der Zeit immer schwerer. Die Bewegungsarmut wirkt sich auch auf die Stimme und Sprache in Form einer Dysphonie und Dysarthrie aus. Ein weiteres Charakteristikum der motorischen Hemmung ist die Mikrografie (zum Zeilenende hin abnehmende Schriftgröße). Pathophysiologisch werden diese Symptome auf eine gesteigerte Aktivität im Ncl. subthalamicus zurückgeführt.

Rigor Dieser erhöhte Muskeltonus weist einen gleich bleibend wächsernen Widerstand auf („Bleirohr“). Die Tonuserhöhung ist in jeder Gelenkstellung und in jedem Drehmoment gleich. Bei einer passiven Bewegung z. B. des Radiokarpalgelenks spürt man die unregelmäßig auftretenden kurzen Widerstände, welche die Bewegung sakkadiert erscheinen lassen (→ ).

Abb. 34.1

Darstellung des Muskeltonus bei Zahnradphänomen und Spastik [L231]

Die Tonuserhöhung des Rigors ist unabhängig von der Geschwindigkeit der passiven Bewegung, wohingegen bei einer spastischen Tonuserhöhung das Klappmesserphänomen bei schneller passiver Bewegung am besten zu untersuchen ist.

Tremor Der Tremor bezeichnet unwillkürliche, rhythmische Bewegungen antagonistisch wirkender Muskeln. Man unterscheidet einen Ruhetremor und einen Aktionstremor, wobei der Letztgenannte weiter unterschieden werden kann in einen Intentionstremor, Haltetremor, kinetischen Tremor, aufgabenspezifischen Tremor oder isometrischen Tremor. Die Pathophysiologie des Tremors ist erst unvollständig geklärt. Vermutet werden rhythmische Entladungen im Bereich der unteren Olive und im Thalamus (→ ).

Chorea Choreatische Hyperkinesien sind unwillkürliche, unregelmäßige, blitzartig einschießende und meist distal betonte Bewegungsabläufe. Verschiedene Muskelgruppen sind rasch aufeinanderfolgend und unsystematisch betroffen. Auch eine Beeinträchtigung von Sprechen und Schlucken sowie Grimassieren sind möglich. Meist geht die Bewegungsstörung mit einem niedrigen Muskeltonus einher. Patienten neigen anfangs dazu, die unkontrollierten Bewegungen in Verlegenheitsgesten zu wandeln. Die Bewegungsunruhe kann so zunehmen, dass das Gehen unmöglich wird. Im Schlaf treten die Symptome nicht auf.

Dagegen werden sie durch körperliche und psychische Beanspruchung, Müdigkeit sowie durch den Versuch, die Bewegungen zu unterdrücken, verstärkt. Pathophysiologisch liegt dem choreatischen Syndrom ein Neuronenverlust v. a. im Striatum zugrunde, wodurch aufgrund eines Verlusts GABAerger Neurone der Thalamus enthemmt wird. Mögliche Ursachen sind strukturelle Läsionen der Basalganglien, medikamenteninduziert (z. B. Parkinson-Medikation, Dopaminrezeptorantagonisten), hereditär (z. B. Chorea Huntington), autoimmun (z. B. systemische Autoimmunkrankheiten wie Lupus erythematodes), infektiös / postinfektiös (z. B. HIV-Enzephalopathie), paraneoplastisch oder metabolisch (z. B. Zuckerstoffwechselstörung). Die Chorea Huntington (älterer Name: Veitstanz) ist eine autosomal-dominant vererbte, progressiv verlaufende Erkrankung mit einer zunehmenden choreatischen und im Verlauf zunehmend dystonen Bewegungsstörung, psychischen Störungen (Depression, Apathie, Impulsivität, Aggression, Psychose) und Demenzentwicklung. Die psychischen Symptome gehen den körperlichen voraus. Die Bewegungsstörungen beginnen i. d. R. an den distalen Extremitäten und im Kopf-Gesichtsbereich (Grimassieren, Dysphagie, Dysarthrie) und breiten sich nach proximal aus. Die Krankheit beruht auf einem Gendefekt auf Chromosom 4 (Trinukleotid-Repeat-Erkrankung des Basentriplets CAG), der zur Bildung des fehlerhaften Proteins Huntingtin mit Ablagerungen und toxischer Wirkung führt. Betroffen ist das Putamen. Manifestationsalter ist meist zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr. Die Patienten versterben ca. 15 Jahre nach Symptombeginn, meist durch eine Aspirationspneumonie und Ateminsuffizienz. Eine genetische Diagnostik darf nur nach genetischer Beratung durch einen qualifizierten Arzt und Erlaubnis des Betroffenen durchgeführt werden. Eine weitere Form der choreatischen Hyperkinesien ist die v. a. bei Jugendlichen (5. – 13. Lebensjahr) auftretende Chorea minor (Chorea Sydenham). Sie fußt auf einer autoimmunen Reaktion nach akutem rheumatischem Fieber (β-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A) und betrifft v. a. die Gesichts-, Schlund- und Handmuskulatur. Die Bewegungen sind unwillkürlich, arrhythmisch-zuckend und gehen oft mit Verhaltensauffälligkeiten z. B. Ängstlichkeit, affektiver Labilität und Antriebsarmut einher. Meist bilden sich die Symptome unter Therapie mit Penicillin nach einigen Wochen zurück. Selten bleiben leichte neurologische oder psychomotorische Störungen zurück.

Ballismus Bei dieser Form der Hyperkinesen treten spontane, blitzartig schleudernde, weit ausfahrende und wuchtige Bewegungen (Jaktationen) der Gliedmaßen auf. Diese sind proximal betont und meist nur einseitig ausgeprägt (Hemiballismus). Als Auslöser werden akustische Signale und auch milde Stressfaktoren beobachtet. Diese Bewegungsstörung beruht auf einer Schädigung des kontralateralen Ncl. subthalamicus sowie seiner Bahnen zum Thalamus.

Dystonie Der Begriff bezeichnet unwillkürliche, länger anhaltende Kontraktionen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen. Diese Störung läuft nach sich wiederholenden Bewegungsmustern ab und bewirkt die Einnahme verkrampfter, abnormer und oft auch schmerzhafter Extremitäten- und Rumpfstellungen. Die Dystonien werden in fokale, segmentale und generalisierte Formen untergliedert.

Generalisierte Dystonien Zu den generalisierten Dystonien zählen die Torsionsdystonien, die als primäre Störung autosomal-dominant vererbt werden und durch eine langsam rotierende Bewegung von Kopf, Rumpf und Extremitäten charakterisiert sind. Im späteren Verlauf kann die Hyperkinese in eine rigorartige Fixierung der Fehlstellung übergehen. Die L-Dopa-sensitive Dystonie (Segawa-Syndrom) wird autosomal-rezessiv vererbt und manifestiert sich charakteristischerweise bei jungen Mädchen an den Beinen, was zu Störungen des Gangs führt. Der Morbus Wilson (hepatolentikuläre Degeneration) ist eine autosomal-rezessiv vererbte Störung des Kupferstoffwechsels, wobei Kupfer in den verschiedenen Organsystemen z. B. Leber, Basalganglien und Hornhaut des Auges (Kayser-FleischerKornealring) abgelagert wird. Die klinische Manifestation richtet sich nach bevorzugtem Organbefall. Neurologische Symptome sind dystone Hyperkinesien, aber auch choreatische, athetotische sowie akinetisch-rigide Bewegungsstörungen. Mit einer lebenslangen kupferarmen Diät und Steigerung der Kupferausscheidung mit D-Penicillamin werden auch milde Verläufe beobachtet.

Fokale Dystonien Die fokalen Formen sind wesentlich häufiger als die generalisierten Dystonien und beschränken sich auf bestimmte Körperregionen. Die Kontraktion des M. orbicularis oculi beim Blepharospasmus ist nicht beeinflussbar und zeigt sich klinisch durch unterschiedlich lange andauerndes Zukneifen der Augen. Der Kopf- und Halsbereich ist sehr häufig von dystonen Bewegungsstörungen betroffen. So sind z. B. bei der oromandibulären Dystonie die periorale Muskulatur sowie die Kau-, Zungen- und Schlundmuskulatur betroffen. Das Meige-Syndrom bezeichnet eine Kombination aus Blepharospasmus und oromandibulärer Dystonie. Beim Torticollis spasmodicus (spasticus) wird der Kopf v. a. durch Kontraktionen des M. sternocleidomastoideus sowie benachbarter Hals- und Nackenmuskulatur zur Seite und nach hinten gezogen. Dies ist meist schmerzhaft, tritt unwillkürlich auf und kann durch leichtes Gegenhalten verhindert werden. Oft werden fokale Dystonien durch bestimmte Bewegungen provoziert, z. B. der Schreibkrampf. A u c h medikamentös induzierte (z. B. Neuroleptika, Metoclopramid) fokale Dystonien sind möglich. Meist ist eine Ursache nicht fassbar. Therapeutisch kann oft symptomatisch Botulinumtoxin eingesetzt werden.

Athetose Die Athetose ist eine besondere Art der dystonen Bewegungsstörung, die oft mit choreatischen Bewegungsformen oder spastischen Paresen einhergeht. Die Bewegung ist distal betont und läuft unwillkürlich, langsam, geschraubt und wurmförmig ab. Hierbei sind in erster Linie die Hände, des Weiteren auch die Füße betroffen. Charakteristisch ist eine bizarre Stellung der Hände mit einer ausgeprägten Beugung und Überstreckung der Gelenke (→ ). Die zugrunde liegende Pathologie beruht auf degenerativen Veränderungen im Ncl. caudatus, Putamen und Pallidum.

Abb. 34.2

Bewegungsstörung der Hand bei Athetose [L231]

Restless-legs-Syndrom Das Restless-legs-Syndrom (RLS) zählt zu den hyperkinetischen extrapyramidalen Bewegungsstörungen und zu den schlafbezogenen Bewegungsstörungen. Klinisch charakteristisch ist ein ausgeprägter Bewegungsdrang der Beine und selten auch der Arme mit qualvollen Missempfindungen (Kribbelparästhesien, ziehende Missempfindungen, Unruhe bis hin zu krampfartigen und schmerzhaften Missempfindungen in der Tiefe der Beine), der in Situationen von Ruhe und Entspannung (z. B. langes Sitzen) auftritt. Bewegung, Muskelanspannen bzw. Dehnung der Beine führen für die Dauer der Aktivität zur Besserung bzw. Sistieren der Symptomatik. Die unterschiedlich stark ausgeprägten Symptome treten v. a. abends und nachts auf, sodass es bei schweren Ausprägungen zu Schlafstörungen mit Tagesmüdigkeit und Leistungseinschränkung kommt. Die Diagnose unterstützend sind der Nachweis von periodischen Beinbewegungen im Schlaf, seltener auch im wachen Zustand, sowie eine wesentliche Besserung durch versuchsweise Gabe von L-Dopa. Aufgrund des guten Ansprechens auf dopaminerge Medikation wird pathophysiologisch eine Störung des zentralen dopaminergen Systems vermutet. Unterschieden werden ein idiopathisches RLS, bei dem sich häufig eine positive Familienanamnese findet, und ein sekundäres RLS. Letzteres tritt mit verschiedenen Erkrankungen assoziiert auf (Eisenmangel, Schwangerschaft, Niereninsuffizienz, Parkinson-Syndrome, Multiple Sklerose, Depression, Angststörung, Arthritis u. a.). Eine medikamentöse Therapie ist abhängig vom Leidensdruck. L-Dopa bzw. Dopaminagonisten (Pramipexol, Ropinirol, Rotigotin) sind Mittel der Wahl. Als mögliche NW der dopaminergen Therapie ist eine Augmentation (Verstärkung der Symptome, Ausweitung auf z. B. Arme oder im zeitlichen Verlauf) beschrieben.

Zusammenfassung • Extrapyramidale Bewegungsstörungen beruhen auf einer Dysfunktion der Stammganglien oder einer Störung ihrer Projektionen zum Kortex, Thalamus und Hirnstamm. • Choreatische Bewegungen sind blitzartig einschießend, unsystematisch ablaufend und meist distal betont. Bewegungen beim Ballismus sind wuchtig, schleudernd, weit ausfahrend und proximal betont. • Fokale Dystonien sind häufiger als generalisierte und wurden für fast alle Muskelgruppen beschrieben.

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Parkinson-Syndrome Eine Störung der dopaminergen und cholinergen Systeme im Bereich der Basalganglien führt zu den typischen Leitsymptomen von Parkinson-Syndromen: Tremor, Rigor, Bradykinese/Akinese und posturale Instabilität. Entsprechend der aktuellen Definition von Parkinson-Syndromen wird das Vorliegen des Kardinalsymptoms Bradykinese/Akinese in Kombination mit mindestens einem weiteren der Leitsymptome gefordert. Unterschieden werden das idiopathische Parkinson-Syndrom (IPS) (Synonym: Morbus Parkinson, primäres Parkinson-Syndrom) von den symptomatischen Parkinson-Syndromen.

Idiopathisches Parkinson-Syndrom (IPS) Ätiologie und Epidemiologie Mit zunehmendem Alter steigt die Prävalenz: Bei 55-Jährigen liegt sie bei ca. 1%, bei 75-Jährigen bereits bei ca. 3 %. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei etwa 60 Jahren. Die Krankheitsdauer von Diagnosestellung bis zum Tod beträgt im Durchschnitt etwa 15 Jahre. Die Ätiologie bleibt letztendlich nicht geklärt. Diskutiert werden gewisse genetische Prädispositionen sowie Umweltfaktoren. Ähnlich wie bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen scheint das Alter ein Hauptrisikofaktor zu sein.

Pathogenese Das idiopathische Parkinson-Syndrom wird den neurodegenerativen Erkrankungen zugeordnet. Hierbei kommt es durch fortschreitenden Untergang der melaninhaltigen Zellen in der Pars compacta der Substantia nigra zu einem Dopaminmangel. Auch noradrenerge, serotonerge und cholinerge Systeme scheinen mitbetroffen zu sein, wenn auch in einem geringen Ausmaß. Erste klinische Symptome zeigen sich, wenn mehr als 50 % der Zellen zugrunde gegangen sind. Die Degeneration der dopaminergen Zellen führt zum einen zu einem Ungleichgewicht zwischen dem dopaminergen und cholinergen System, mit Überwiegen des cholinergen Systems. Es entsteht auch ein relativer Überschuss des Neurotransmitters Glutamat. Neuropathologisch ist das Vorliegen von LewyKörperchen charakteristisch, deren Hauptbestandteil Aggregate des Proteins α-Synuclein darstellen.

Klinik Die Symptomatik tritt beim idiopathischen Parkinson-Syndrom i. d. R. mit einseitiger Betonung in Erscheinung und bleibt im Krankheitsverlauf asymmetrisch. Entsprechend der initial im Vordergrund stehenden Symptomatik werden folgende klinische Verlaufsformen unterschieden: • Akinetisch-rigider-Typ: im Vordergrund stehende Hypokinesie • Tremordominanz-Typ: Tremor als ausgeprägtestes Merkmal • Äquivalenz-Typ: Ausprägung sowohl von Rigor als auch von Tremor Eine mögliche Stadieneinteilung des Krankheitsverlaufs nach Hoehn und Yahr ist in → aufgeführt.

Tab. 35.1

Stadieneinteilung des Morbus Parkinson (nach Hoehn und Yahr)

Stadium I

Einseitiger Befall

Stadium II

Beidseitiger Befall

Stadium III

Zusätzlich posturale Instabilität

Stadium IV

Patient braucht Unterstützung in der täglichen Routine.

Stadium V

Pflegebedürftig, häufig rollstuhlpflichtig

Akinese / Bradykinese Bezeichnet wird eine allgemeine Bewegungsverlangsamung mit Bewegungsverarmung und eine verminderte Bewegungsamplitude (Hypokinese). Bei allen Bewegungsabläufen macht sie sich bemerkbar. Häufig fällt dem Patienten sehr früh im Krankheitsverlauf eine Mikrografie auf. Zunehmend reduziert sich die Spontanmotorik; weiterhin zeigen sich eine Hypomimie (Maskengesicht), Hypophonie, seltenerer Lidschlag, vermindertes Mitschwingen der Arme, eine Verkürzung der Schrittlänge. Durch selteneres und verzögertes Schlucken entsteht eine vermeintliche Speichelüberproduktion (Pseudohypersalivation). Aufgrund erschwerter Rumpfbeweglichkeit fällt den Patienten das Umdrehen im Bett schwer. Die Geschicklichkeit der Hände lässt nach. Im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf kann es zu kurzzeitigem „Einfrieren“ der Bewegung kommen (Freezing-Phänomen). Bei der klinischen Untersuchung soll der Patient Zeigefinger und Daumen in großer Amplitude repetitiv und so schnell, wie es möglich ist, aneinander- und wieder auseinanderführen (Fingertapping). Bei Vorliegen einer hypokinetisch-rigiden Symptomatik lassen sich neben einer Verlangsamung eine Verkleinerung der Amplitude und eine Störung des flüssigen Bewegungsablaufs ausmachen. Im fortgeschrittenen Stadium kann der Patient die Finger kaum auseinanderführen. Der entsprechende Versuch erfolgt an der unteren Extremität, indem der Patient im Sitzen repetitiv unter Anheben des Knies mit dem Fuß auf den Boden tippt (Fußtapping). Die Amplitude sollte beibehalten werden. Eine weitere Möglichkeit der Prüfung ist, den Patienten aufzufordern, so schnell wie möglich einmal mit der Handfläche und dann mit den Handrücken die unbewegte Handfläche der anderen Hand zu berühren (schnell alternierende Bewegung). Neben der Verlangsamung gelingt die Handwendung zunehmend schlechter, der Patient gerät ins Stocken.

Tremor Er ist in ca. 70 % der Fälle das Erstsymptom der Erkrankung. Klassischerweise stellt er sich als Ruhetremor mit stereotypem „Pillendrehen“ oder „Münzenzählen“ dar (Frequenz von 4–6 / s). Emotionale Regung oder Anspannung führt zu einer deutlichen Zunahme des Tremors. Die Prüfung erfolgt durch Beobachtung in Ruhe (z. B. beim Gehen) oder bei diskretem Tremor, durch einen Versuch mittels Kopfrechnen und somit konsekutiver kognitiver Anspannung, diesen zu verstärken. Zur Darstellung und Dokumentation des Tremors wird der Patient aufgefordert, eine gleichmäßige Spirale zu zeichnen. Dabei soll er den Stift mit Zeigefinger und Daumen halten und sich nicht aufstützen. Bei etwa einem Viertel der Patienten tritt kein Tremor auf.

Rigor Kennzeichnend ist eine gleichmäßige, fortwährende, unwillkürliche Tonuserhöhung der gesamten quergestreiften Muskulatur, die sich bei passiver Bewegung in einem wächsernen Widerstand äußert (Zahnradphänomen). Die Tonuserhöhung ist auch in Ruhe vorhanden und nicht von Bewegung und Geschwindigkeit abhängig (→ ). Klinisch führt sie zur klassischen vornübergebeugten Oberkörperhaltung und leicht gebeugten Ellbogengelenken (→ ). Der Patient empfindet ein Steifheitsgefühl.

Abb. 35.1

Körperhaltung bei Morbus Parkinson:a) mittleres Stadium;b) Endstadium [L190]

Posturale Instabilität Patienten mit Parkinson-Symptomen verlieren frühzeitig die Fähigkeit, Auslenkungen der vertikalen Körperachse auszugleichen und das Gleichgewicht zu halten. Stellt sich der Untersucher hinter den stehenden Patienten und lenkt diesen plötzlich zu sich nach hinten aus, beginnt der Patient zu straucheln und kann sich nur schwer wieder fangen bzw. droht zu stürzen, falls er nicht durch den Untersucher aufgefangen wird. Cave: Der Untersucher muss stabil stehen, um einen Sturz des Patienten auffangen zu können!

Nicht motorische Symptome des idiopathischen Parkinson-Syndroms Eine Mitbeeinträchtigung des vegetativen Systems tritt meist bereits früh in Erscheinung. Oft können ein Verlust des Riechvermögens (fällt dem Patienten i. d. R. nicht auf), Erektionsstörungen oder eine Obstipationsneigung den motorischen Symptomen vorausgehen. Den Patienten stark belasten können im Verlauf auftretende Blasenentleerungsstörungen, eine Dranginkontinenz, Hypotonie, Hyperhidrosis oder seborrhoische Dermatitis („Salbengesicht“). Nicht selten wird durch den Lebenspartner ein gestörter Nachtschlaf mit nächtlichem lauten Sprechen oder Schreien einhergehend mit motorischer Unruhe im Rahmen einer REM-Schlaf-Verhaltensstörung berichtet. Der Patient selbst kann sich an diese Ereignisse nicht erinnern. Weiterhin kann eine Temperaturregulationsstörung zu einer verminderten Hitzetoleranz führen. In Zusammenhang mit der Erkrankung stehen auch psychische Veränderungen. So nehmen Depression, Demenz (frontotemporaler Typ, Parkinson-Demenz-Komplex) und Bradyphrenie einen hohen Stellenwert ein. Auch psychotische Symptome (Wahnvorstellungen, Halluzinationen) oder Angststörungen können auftreten, die durch die Medikation häufig getriggert oder verstärkt werden. Zudem können sensorische Symptome wie z. B. Dysästhesien oder Schmerzen die motorischen Parkinson-Symptome begleiten.

Diagnostik Die Diagnose eines Parkinson-Syndroms stellt sich durch das Vorhandensein von Bradykinese und zusätzlich eines der folgenden Leitsymptome: Rigor, Tremor oder posturale Instabilität. Die nächsten diagnostischen Schritte sollen der Zuordnung zu einem idiopathischen, sekundären, atypischen oder familiären Parkinson-Syndrom dienen bzw. weitere Differenzialdiagnosen ausschließen. Hierzu sollte eine ausführliche Anamnese erhoben werden und Bildgebung (cCT/cMRT) sowie Labordiagnostik herangezogen werden. Ein positives Ergebnis im Dopamin- oder im Apomorphin-Test, d. h. eine eindeutige Verbesserung der Symptomatik nach Gabe dopaminerger Medikation, deutet auf das Vorliegen eines idiopathischen Parkinson-Syndroms hin.

Differenzialdiagnosen Hinsichtlich der Differenzialdiagnosen sind natürlich die sekundären und atypischen Parkinson-Syndrome von Bedeutung. Eine weitere häufigere Differenzialdiagnose ist der Normaldruckhydrozephalus. Da bei ca. 75 % der Patienten mit IPS ein Tremor auftritt und insbesondere beim tremordominanten Typ als Frühsymptom sowie im Verlauf im Vordergrund steht, ist der essenzielle Tremor differenzialdiagnostisch zu beachten. Bei akinetischem Syndrom mit im Vordergrund stehender Demenz ist auch an die Alzheimer-Demenz, Lewy-Körperchen-Demenz, an eine Multiinfarktdemenz oder Creutzfeldt-JakobErkrankung zu denken. Nuklearmedizinische Untersuchungsmethoden können bei klinisch unklaren Fällen bei der Abgrenzung der Krankheitsentitäten wertvolle Zusatzinformationen liefern, um so früh wie möglich eine korrekte Diagnose zu stellen. So wird zum Beispiel die Darstellung der präsynaptischen Dopamintransporter mittels SPECT (DAT-SPECT / FP-CIT-SPECT / DAT Scan) zur Differenzierung zwischen Patienten mit Parkinson-Tremor und anderen Tremor-Syndromen(z. B. essenzieller Tremor, psychogene, vaskuläre, medikamentös bedingte Störung) herangezogen. Anhand der myokardialen 1 2 3 MIBGSPECT ist eine frühe Differenzierung zwischen Patienten mit IPS und MSA möglich. Zur Differenzierung zwischen IP Sund den atypischen Parkinson Syndromen PSP, CBD und MSA kann die bildliche Darstellung des Glukosemetabolismus mittels FDG-PET (18-Fluoro-Deoxyglucose PET) in der Frühphase der Erkrankung hilfreich sein. Da es sich bei beiden Methoden um aufwendige nuklearmedizinische Untersuchungen handelt, sollte die Indikation unter Beachtung des Risiko-Nutzen-Aspekts individuell eng gestellt werden.

Sekundäre Parkinson-Syndrome Zu den häufigsten Ursachen gehört eine zerebrale Mikroangiopathie, die als vaskuläres Parkinson-Syndrom bezeichnet wird. Im Vordergrund steht eine breitbasige, leicht schlurfende Gangstörung ggf. mit Starthemmung oder auch Falltendenz. Die Arme sind im Vergleich zu den Beinen i. d. R. weniger ausgeprägt betroffen mit z. B. leichtgradiger Bradykinesie und Rigor. Ruhetremor tritt typischerweise nicht auf. Diese Symptome werden auch als Lowerbody-Parkinson-Syndrom bezeichnet und sprechen i. d. R. schlecht auf L-Dopa an. Häufig sind auch medikamentös induzierte Parkinson-Syndrome (z. B. klassische Neuroleptika; Kalziumantagonisten wie Flunarizin bzw. Cinnarizin; Metoclopramid; Lithium; Valproinsäure), was als Parkinsonoid bezeichnet wird. Weitere Ursachen der sekundären Parkinson-Syndrome können Schädel-Hirn-Traumen, Tumoren (Kompression der Basalganglienregion), Stoffwechselerkrankungen (z. B. Morbus Wilson, Morbus Fahr, Hypoparathyreoidismus), Intoxikationen (z. B. CO, Mangan, H 2 S) und Enzephalitiden (z. B.

AIDS-Enzephalopathie, Fleckfieberenzephalitis, Economo-Enzephalitis) sein. Klinisch steht bei den Kardinalsymptomen die Akinese im Vordergrund. Die Patienten sind weniger von Rigor und selten von Tremor betroffen. Zusätzlich können typische Symptome der Grunderkrankung auftreten, z. B. hirnorganische Psychosyndrome bei entzündlicher Genese, Bewusstseinsstörungen bei Intoxikationen, choreatische oder athetotische Bewegungsstörungen bei Morbus Fahr oder Flapping-Tremor bei Morbus Wilson. Zur Ursachenabklärung empfiehlt sich eine Labordiagnostik sowie eine Bildgebung und ggf. eine Liquordiagnostik.

Familiäres Parkinson-Syndrom Wie bereits erwähnt, scheint eine genetische Prädisposition eine gewisse Rolle bei der Entstehung des idiopathischen Parkinson-Syndroms zu spielen. Bei ca. 15 % der Patienten mit IPS gibt es weitere Erkrankte in der Familie. Davon zu unterscheiden sind die selten auftretenden autosomal-dominant oder autosomalrezessiv vererbten Parkinson-Erkrankungen. Inzwischen wurden etwa 13 Genorte beschrieben (PARK 1–13) und unter diesen 6 Gene (LRRK2, UCH-L1, PINK1, DJ-1, Parkin, SNCA) identifiziert, die kausal in Zusammenhang mit der Entstehung des Parkinson-Syndroms gebracht werden konnten.

Atypische Parkinson-Syndrome Als atypische Parkinson-Syndrome („Parkinson-Plus-Syndrome“) werden Multisystemerkrankungen bezeichnet, die neben einem akinetisch-rigiden Syndrom weitere neurologische oder neuropsychologische Pathologien aufweisen. Im Unterschied zum idiopathischen Parkinson-Syndrom sprechen die Symptome i. d. R. nicht gut auf L-Dopa oder Dopaminagonisten an. Die Ätiologie und Pathogenese dieser neurodegenerativen Erkrankungen sind weitgehend ungeklärt. Die meisten atypischen Parkinson-Syndrome sind im Vergleich zum IPS rascher progredient. Die Diagnosen basieren auf dem klinischen Verlauf und Ausschluss möglicher Differenzialdiagnosen. Eine Sicherung der Diagnose ist i. d. R. erst post mortem pathohistologisch möglich. Zu den atypischen ParkinsonSyndromen werden folgende Erkrankungen gezählt:

Multisystematrophie (MSA) Man unterscheidet einen zerebellären Typ (olivopontozerebelläre Atrophie; MSA-C) und einen Parkinson-Typ (striatonigrale Degeneration; MSA-P) oder Mischformen. Bereits früh im Verlauf besteht eine ausgeprägte Störung des autonomen Nervensystems (orthostatische Dysregulation, Blasenentleerungsstörung, gesteigerte Miktionsfrequenz, Inkontinenz, Mastdarmstörung, Erektionsstörung). Neben der Parkinson-Symptomatik sind weitere zentrale Systeme betroffen, mit folglich klinischem Nachweis von zerebellärer Symptomatik, Pyramidenbahnzeichen, Auftreten von Dysphagie, Dysarthrie oder Okulomotorikstörungen (hypometrische Sakkaden, Blickhebungs- oder Blicksenkungsschwäche). Etwa ein Drittel der Patienten spricht zu Beginn der Erkrankung auf L-Dopa an (bis 1.000 mg / d), was sich i. d. R. im Verlauf legt. Eine rasche Progredienz führt bei etwa der Hälfte der Patienten zur erheblichen Behinderung mit Mobilitätsverlust / Rollstuhlpflicht nach 5–8 Jahren Krankheitsdauer. Im cMRT sind eine zerebelläre Atrophie, ein cross bun sign in der Pons oder ein hyperdenser Ncl. lentiformis (Putamen und Globus pallidus) in der DWI-gewichteten Sequenz typische Merkmale.

Kortikobasale Degeneration (CBD) Klinisch weisen die Patienten typischerweise eine deutliche Seitenasymmetrie der hypokinetisch-rigiden Symptomatik auf. Im Verlauf wird als klassisches Bild der stärker betroffene Arm in Flexionshaltung am Körper gehalten. Ein Gefühl der Fremdheit des Arms mit evtl. unwillkürlichen Bewegungen der Hand tritt auf („Alien-limb-Phänomen“). Weitere Hauptmerkmale sind eine ausgeprägte Apraxie, Auftreten von Stimulus-sensitivem Myoklonus, Pyramidenbahnzeichen mit sich entwickelnden Paresen und eine Sprachstörung. Im Verlauf entwickelt sich ein demenzielles Syndrom. Im cMRT achtet man auf eine einseitig betonte Atrophie parietal. Auf L-Dopa spricht die Symptomatik schlecht an.

Progressive supranukleäre Ophthalmoplegie (PSP, Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom) Das hypokinetisch-rigide Syndrom ist typischerweise symmetrisch und axial betont. Ein Frühsymptom der Erkrankung ist eine ausgeprägte Haltungsinstabilität mit häufigen Stürzen (oft nach hinten). Im Verlauf der Erkrankung kommt es zur Ausbildung einer vertikalen Blickparese nach oben. Weitere Merkmale sind ein demenzielles Syndrom, Retrokollis, Dysarthrie und Dysphagie. Typische Veränderungen im cMRT sind eine Atrophie des Mittelhirns („Kolibri [Hummingbird]-Zeichen“) und Atrophie der Mittelhirnschenkel („Mickey-Mouse-Zeichen“). In der Literatur wird ein häufig in Zusammenhang mit PSP auftretendes klinisches Zeichen beschrieben: das auffällige Applauszeichen. Hierbei wird der Patient aufgefordert, 3-mal in die Hände zu klatschen. Betroffenen gelingt es oft nicht, nach 3-maligem Applaudieren aufzuhören, und sie klatschen häufiger.

Lewy-Körperchen-Demenz (LKD) (Lewy-Body-Demenz; LBD) Als willkürlich festgelegte Abgrenzung von der Parkinson-Erkrankung mit Demenz wird das zeitliche Auftreten der Parkinson-Symptome und der demenziellen Entwicklung herangezogen. Bei der LKD tritt die kognitive Einschränkung gleichzeitig oder vor Manifestation der Parkinson-Symptomatik ein. Bei der Parkinson-Erkrankung mit Demenz sollen definitionsgemäß die Parkinson-Symptome mindestens 1 Jahr bestehen, bevor die demenzielle Entwicklung in Erscheinung tritt. Weitere Symptome sind ausgeprägte Fluktuationen der Wachheit und Aufmerksamkeit, Vigilanzstörungen und visuelle Halluzinationen (→ ).

Subtypen der spinozerebellären Atrophien Bisher wurden ca. 25 Subtypen dieser autosomal-dominant vererbten Gruppe beschrieben. Die klinischen Erscheinungsbilder sind sehr heterogen. Bei einigen sind neben einer progredienten Ataxie extrapyramidale Symptome ein Charakteristikum.

Therapie der Parkinson-Syndrome Die Therapie basiert zum einen auf einer medikamentösen Behandlung und zum anderen auf regelmäßiger körperlicher Aktivität mit regelmäßiger physiotherapeutischer Behandlung. Es sollte ein Normalgewicht angestrebt werden. Wichtig ist auch eine sorgfältige Aufklärung des Patienten und des sozialen Umfelds über die Chronizität und den möglichen Verlauf der Erkrankung. In diesem zunehmende können auch Selbsthilfegruppen erwähnt und empfohlen werden. Im Verlauf der Erkrankung wird die medikamentöse Einstellung der Symptome durch das sich verkleinernde optimale therapeutische Fenster, durch Medikamentennebenwirkungen, Nachlassen der Medikamentenwirkung und zunehmende Affektion anderer zentraler Systeme schwieriger und aufwendiger. Im Verlauf wirken sich On-off-Phänomene durch einen schnellen Wechsel von Akinese, Freezing-Symptomatik (Bewegungsunfähigkeit) und Hyperkinese belastend aus (→ ). Die im Verlauf nachlassende Wirkung von L-Dopa äußert sich oftmals als End-of-Dose-Akinese (durch Absinken des Plasmaspiegels oft nachts, z. T. mit schweren Dystonien). Es kann aber auch durch einen passageren Überschuss zu einer choreatischen Hyperkinesie kommen (Peak-DoseDyskinesie). Die Behandlung ist symptomatisch mit dem Ziel, die Lebensqualität des Patienten so lange wie möglich zu erhalten und die Behinderung im Alltag so gering wie möglich zu halten. Folgende Medikamente stehen zur Behandlung zur Verfügung: L-Dopa, Dopaminagonisten, Amantadin, MAOHemmer, Anticholinergika, COMT-Hemmer (→ ). Prinzipiell wirken alle Medikamente hauptsächlich gegen Akinese und Rigor, bis auf die Anticholinergika, die vorwiegend den Tremor therapieren.

Abb. 35.2 Der therapeutische Effekt von L-Dopa in verschiedenen Stadien der Erkrankung:a) im Frühstadium; b) bei fortgeschrittener Erkrankung – es kommt zum End-of-Dose-Phänomen und zur Peak-Dose-Dyskinesie; c) Therapiewechsel beim Patienten von b), der die Symptomatik verbessert [L141]

Tab. 35.2

Wirkung auf Akinese, Tremor und Rigor sowie Wirkmechanismus der Antiparkinsonmittel

Medikamentengruppe Wirkstoff

Akinese Rigor Tremor Wirkmechanismus

L-Dopa + Benserazid + Carbidopa

L-Dopa+ Benserazid L-Dopa + Carbidopa®

++ + +++

++ ++

++

Vorstufe des Dopamins, die im präsynaptischen Neuron in Dopamin decarboxyliert wird

Dopaminagonisten

z. B. Pramipexol, Ropirinol, Piribedil, Rotigotin, Cabergolin Lisurid, Apomorphin

++

+/ ++

+

Stimulation der Dopaminrezeptoren

NMDA- Antagonist

Amantadin

++

+/ ++

+

Fördert die Dopaminfreisetzung und hemmt die Dopaminwiederaufnahme

MAO-B-Hemmer

Rasagilin, Selegilin

++

+/ ++

+

Hemmung des Dopaminabbaus

Anticholinergika

Biperiden

(+)

+

++

Hemmung cholinerger Neurone

COMT-Hemmer

Entacapon, Tolcapon

++

+/ ++

+

Verminderter Dopaminabbau

L-Dopa (Levodopa) Dabei handelt es sich um die wirksamste Einzelsubstanz mit jedoch teils erheblichen Nebenwirkungen (NW) im Krankheitsverlauf. Diese treten im Durchschnitt 5 Jahre nach Behandlungsbeginn auf. Es sollte auf eine einschleichende Dosierung geachtet werden. Zu den vegetativen Nebenwirkungen zählen Übelkeit, Erbrechen, Hypotonie, ggf. mit reflektorischer Tachykardie. Motorische NW zeigen sich v. a. in der Langzeittherapie, so scheint L-Dopa zur Entstehung von Dykinesien beizutragen. Zu erwähnen sind außerdem die psychischen NW wie Unruhe, Verwirrtheit bis hin zu Psychosen. Um eine wirksame Konzentration im Gehirn zu erreichen, wird L-Dopa zusammen mit Decarboxylasehemmern wie Benserazid und Carbidopa verabreicht, welche die Umwandlung der L-Dopa-Vorstufe in die wirksame Substanz Dopamin in der Peripherie verhindern, somit die Passage der Blut-Hirn-Schranke ermöglichen und peripher die NW senken. Durch Dopaminantagonisten (wie Metoclopramid oder Neuroleptika), Antihypertensiva (wie Methyldopa) oder Vitamin B 6 kann die Wirkung von L-Dopa abgeschwächt werden. Auf Dopaminantagonisten sollte aufgrund der Gefahr der Verstärkung der Parkinson-Symptomatik bis hin zur Krise verzichtet werden.

Dopaminagonisten Unterschieden werden Ergot-Derivate und Non-Ergot-Derivate. Unter Behandlung mit Ergot-Dopaminagonisten wurde das Auftreten von schweren Herzklappenfibrosen beobachtet, sodass diese nicht mehr als „First-line-Therapie“ eingesetzt werden. Die Wirkdauer ist länger als L-Dopa. Als Monotherapie oder in Kombination mit L-Dopa kommt es aufgrund des L-Dopa-sparenden Effekts zu einer Besserung der L-Dopa-assoziierten Wirkfluktuationen und seltenerem Auftreten von Dyskinesien im Verlauf. Häufige NW sind Übelkeit, orthostatische Kreislaufdysregulation, Beinödeme, Tagesmüdigkeit, Psychosen und Impulskontrollstörungen (Spielsucht, Kaufsucht, Hypersexualismus, pathologisches Essverhalten).

Amantadin NMDA-Rezeptor-Antagonist, zudem Steigerung der Dopaminfreisetzung und Hemmung der Dopamin-Wiederaufnahme in die präsynaptische Zelle. Sowohl als Monotherapie als auch in Kombination mit anderen Medikamenten einsetzbar. Die bewegungsfördernde und antriebssteigernde Wirkung tritt schnell ein, der Wirkverlust jedoch ebenfalls. Amantadin reduziert L-Dopa-assoziierte Dyskinesien. Das ehemalige Grippemedikament ist Mittel der ersten Wahl bei der akinetischen Krise. Zu den häufigsten NW zählen u. a. Übelkeit, Mundtrockenheit, Erbrechen, Blasenentleerungsstörung, Ödeme, Schwindel, Schlafstörung.

MAO-B-Hemmer (Monoaminooxidase-B-Hemmer) Die Indikation besteht in der Behandlung von motorischen Fluktuationen, insbesondere im frühen Krankheitsverlauf. Studien weisen darauf hin, dass Rasagilin möglicherweise den Krankheitsverlauf positiv beeinflusst, was jedoch bisher nicht belegt werden konnte.

COMT-Hemmer (Catechol-O-Methyltransferase Hemmer) Durch eine Reduktion des L-Dopa-Abbaus wird die Wirksamkeit von L-Dopa verlängert, COMT-Hemmer werden nur zur Kombinationstherapie mit L-Dopa angewendet und sind zur Therapie von Wirkfluktuationen zugelassen. Als NW können verstärkte Symptome der L-Dopa-NW auftreten und Diarrhöen (mit Latenz von bis zu mehreren Monaten). Aufgrund von potenzieller schwerer Hepatotoxitität sind anfangs engmaschige Leberwertkontrollen nötig.

Anticholinergika Sie hemmen exzitatorische cholinerge Neurone, um dem relativen cholinergen Überschuss bei Dopaminmangel entgegenzuwirken. Einen guten Nutzen zeigen Anticholinergika bei der Therapie des Tremors. Die peripheren Nebenwirkungen sind Mundtrockenheit, Akkommodations- und Miktionsstörungen, Obstipation und Tachykardie. Zentralnervös können Erregung, Halluzinationen, psychotische Zustände und Verschlimmerung einer Demenz auftreten.

L-Dopa-Infusionspumpe (Duodopa-Pumpe) Die Therapie ist für das fortgeschrittene Stadium mit schweren, medikamentös nicht einzustellenden Wirkfluktuationen zugelassen. Durch eine perkutaneendoskopische Jejunostomie (PEJ) erfolgt die Anlage einer jejunalen Ernährungssonde. Hierüber wird kontinuierlich über eine angeschlossene Pumpe L-Dopa appliziert. Erreicht wird ein kontinuierlicher Medikamentenserumspiegel mit Wegfall der pulsatilen Doparezeptorstimulation.

Apomorphinpumpe Das Behandlungsprinzip und die Indikation entsprechen demjenigen der Duodopa-Pumpe. Apomorphin stellt den wirksamsten Dopinagonisten dar. Die Applikation ist ausschließlich subkutan möglich (geringe orale Bioverfügbarkeit). Hierbei wird nach Anbringen einer feinen Injektionsnadel ins Unterhautgewebe eine Pumpe für die kontinuierliche Applikation angeschlossen.

Tiefenhirnstimulation (DBS) Dies stellt eine potente Behandlungsmethode im fortgeschrittenen Stadium dar (→ ), wobei die Kernsymptome Rigor, Tremor und Akinese beeinflusst werden. Stimulationsort ist meist der Ncl. subthalamicus. Durch den Hauptvorteil einer 24-Stunden-Stimulation können Wirkfluktuationen gut behandelt werden, Medikamente eingespart und somit Medikamentennebenwirkungen deutlich reduziert werden.

Tab. 35.3

Operative Optionen in der Parkinsontherapie

Hochfrequenzstimulation durch implantierte Elektroden im Ncl. subthalamicus

Bei Therapieresistenz, gute Wirksamkeit auf Akinese, Rigor, Tremor

Stereotaktische Operation

Strenge Indikationsstellung bei schwerem Tremor

Transplantation autologer Dopamin produzierender Zellen

Noch in Erprobung, bisher kein Nachweis der Wirksamkeit

Weitere Begleiterscheinungen der Parkinson-Erkrankung sowie der Medikamentennebenwirkungen wie z. B. Sialorrhö, Durchschlafstörungen durch nächtliche Off-Phasen, medikamenteninduzierte Psychose oder Muskelschmerzen können durch eine Optimierung der medikamentösen Parkinson-Therapie

gebessert werden. Auf einige Behandlungsoptionen von häufig auftretenden Symptomen bei Parkinson-Patienten wird im Folgenden hingewiesen: • So empfiehlt sich bei Depressionen und Angsterkrankungen eine Behandlung mit SSRI. • Demenzielle Syndrome können mit Cholinesterasehemmern (Rivastigmin) behandelt werden. • Die häufig auftretenden Schlafstörungen können je nach Ursache z. B. durch sedierende Antidepressiva gemildert werden. • Bei der ebenfalls sehr häufig auftretenden orthostatischen Hypotonie können zunächst Allgemeinmaßnahmen wie ausreichende Flüssigkeitsaufnahme oder Kompressionsstrümpfe versucht werden. Medikamentös kann bei Persistenz Midodrin oder Fludrocortison hilfreich sein. Zu Beginn der Erkrankung wird bei jüngeren Patienten meist eine Monotherapie mit Dopaminagonisten bevorzugt. Ältere Patienten erhalten von Beginn an L-Dopa. Reicht die Monotherapie nicht aus, bringt eine frühzeitige Kombination von L-Dopa mit anderen Anti-Parkinson-Medikamenten Vorteile.

Komplikationen • Grundsätzlich können alle Parkinson-Medikamente eine Psychose mit Verwirrtheitszuständen, psychomotorischer Unruhe, paranoiden Gedanken, Halluzinationen, etc. auslösen. Hierbei sind ältere Patienten und Patienten mit zerebralen Vorerkrankungen wie z. B. eine Demenz häufiger betroffen. Auch eine Begleitmedikation wie z. B. Anticholinergika kann beitragen. • Die akinetische Krise stellt eine lebensbedrohliche Komplikation dar, bei der es zu einer Bewegungsunfähigkeit kommt, die sich akut oder über Tage hinweg ausbilden kann. Eine Unterbrechung der Medikation durch z. B. Nicht-Einnahme, Resorptionsstörung etc. oder andere Ereignisse wie Exsikkose, Infekte, operative Eingriffe etc. können ein Auslöser sein. Klinisch zeigen sich neben der Bewegungsunfähigkeit eine Schluck- und Sprechunfähigkeit ( Cave: Exsikkose!), häufig starkes Zittern der Hände, Bewusstseinsstörungen, Atemstörungen, Blutdruckentgleisungen und zentrales Fieber bis 40 °C. Zur medikamentösen Behandlung werden Amantadin i. v., Apomorphin (als Bolus subkutan und kontinuierliche s. c. Applikation mittels Pumpe) sowie L-Dopa über eine nasojejunale Sonde eingesetzt.

Zusammenfassung • Die Kardinalsymptome sind Rigor, Tremor und Hypo- / Akinese. Durch fortschreitenden Untergang dopaminerger Neurone in der Substantia nigra kommt es zu einem Dopaminmangel, der zur Hypo- bzw. Akinesie führt. • Neben dem idiopathischen Parkinson gibt es symptomatische Parkinson-Syndrome unterschiedlicher Genese (z. B. Trauma, Tumor, postenzephalitisch, toxisch). • Differenzialdiagnostisch sollten auch atypische Parkinson-Syndrome ausgeschlossen werden, die auf eine Degeneration zerebraler Strukturen zurückzuführen sind und meist schlecht auf eine Therapie mit L-Dopa bzw. Dopaminagonisten ansprechen. • Die Therapie ist symptomatisch. L-Dopa ist die wirksamste Einzelsubstanz und hat oft eine Vielzahl schwerwiegender Nebenwirkungen. Vegetative Nebenwirkungen sind z. B. Übelkeit, Erbrechen, Hypotonie. Nach einer Langzeittherapie können motorische Nebenwirkungen wie Dyskinesien, On-off-Phänomen, End-of-Dose-Akinese oder Freezing-Syndrom auftreten. Die Wirkung lässt nach durchschnittlich 5 Jahren nach. • Eine Tiefenhirnstimulation kann im Spätstadium der Erkrankung die Symptome deutlich bessern und Medikamente einsparen.

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Erkrankungen des Motoneurons Es lassen sich Schädigungen des ersten (motorischer Kortex, Pyramidenbahn, Tractus corticospinalis) und des zweiten Motoneurons (Vorderhorn, αMotoneuron, Hirnnervenkern mit motorischen Fasern) unterscheiden. Bei der klassischen amyotrophen Lateral-sklerose, spinalen Muskelatrophie, spastischen Spinalparalyse und Poliomyelitis anterior acuta treten keine Sensibilitätsstörungen auf!

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS, myatrophische Lateralsklerose, Lou Gehrig’s disease, Motor-Neuron-Disease, MND) hat eine Prävalenz von ca. 5–7 / 100 000 Einwohner. Männer erkranken öfter als Frauen im Verhältnis von 3 : 2. Im Alter zwischen 50 und 60 Jahren findet sich ein Häufigkeitsgipfel. Nach neuerem wissenschaftlichen Stand wurden neben der klassischen ALS mit einer ausschließlichen Affektion des motorischen Nervensystems, Überlappungssyndrome insbesondere zur Frontotemporalen Demenz (FTD) anerkannt (ALS-FTD-Komplex). Etwa 5 % der ALS-Patienten entwickeln eine FTD.

Pathogenese Die ALS ist durch eine Funktionsstörung des ersten und zweiten Motoneurons charakterisiert. Die Ätiopathogenese ist ungeklärt, wobei es einige Hypothesen gibt, wonach Umweltfaktoren, multigenetische oder auch multifaktorielle Gegebenheiten ursächlich in Betracht kommen. Zirka 10 % der familiär gehäuft auftretenden ALS-Betroffenen tragen eine Mutation im Cu / Zn-Superoxid-Dismutase-Gen auf Chromosom 21q22. Eine Mutation im C9ORF72-Gen weist eine unvollständige Penetranz auf und wird als Ursache für ca. 20 % der familiären und ca. 10 % der sporadischen ALS angesehen. Weitere Genmutationen wurden auf dem FUS- und TDP43-Gen identifiziert.

Klinik Kortikospinale Bahnen, Vorderhornzellen und α-Motoneurone degenerieren progredient, was sich i. d. R. durch eine asymmetrische Muskelschwäche der distalen Extremitätenmuskulatur manifestiert (Fußheberparese, Leistungseinschränkung der Hand). Bulbäre Symptome wie verwaschene Sprache und Schluckstörungen (progressive Bulbärparalyse) können ebenfalls die ersten Zeichen der ALS sein. Die Innervierung der Augenmuskeln ist nicht gestört. Im Verlauf kommt es zu den in → dargestellten Symptomen. Das Fortschreiten der Erkrankung verläuft konstant und führt zu Lähmungen des Körpers, zum Aufheben der Sprech- und Schluckfähigkeit sowie zur Insuffizienz der Atemmuskulatur. Eine daraus entstehende Aspirationspneumonie oder stetig ansteigende CO 2 -Blutkonzentration führt zum Tod. Die kognitiven Fähigkeiten der Patienten bleiben bei der klassischen ALS unbeeinflusst. Bei ca. 5–10 % entwickelt sich eine Frontotemporale Demenz. Typischerweise ist das sensible System nicht betroffen, wobei eine Hypästhesie in bis zu 10 % berichtet wird.

Tab. 36.1 Betroffene Region

Symptome bei Schädigung des ersten bzw. zweiten Motoneurons Zeichen des ersten Motoneurons

Zeichen des zweiten Motoneurons

Pseudobulbär Spastische Tonuserhöhung, Zwangsgähnen, gesteigerte MER (z. B. / bulbär Masseter), pathologisches Lachen und Weinen

Schwäche und Atrophie der Gesichts- und Zungenmuskulatur, Faszikulationen, Dysphagie, Dysarthrie, Dysphonie

Rückenmark

Schwäche und Atrophie der Muskulatur, Faszikulationen

Spastische Tonuserhöhung, gesteigerte MER, erhaltene Reflexe bei atrophischen Paresen, Muskelkloni, pathologische Reflexe, z. B. BabinskiZeichen

Diagnostik Die ALS ist eine Ausschlussdiagnose. Durch die klinische Präsentation ist mithilfe der El-Escorial-Kriterien eine Wahrscheinlichkeitsbestimmung für das Vorliegen der ALS möglich. Diese erfolgt auf der Basis von Symptomenkombinationen in den unterschiedlichen Regionen des Körpers. Durch das EMG können noch vor der klinischen Manifestation generalisierte neurogene Veränderungen festgestellt werden (→ ). Die motorische NLG ist ggf. minimal reduziert und die sensible i. d. R. unauffällig.

Differenzialdiagnose Radiologisch müssen eine zervikale Myelopathie (z. B. Bandscheibenvorfall), eine Anomalie des kraniozervikalen Übergangs oder zerebrale Pathologien abgegrenzt werden. Des Weiteren sind entzündlich-infektiöse Erkrankungen wie Neurolues (TPHA-Test), Lyme-Borreliose (AK-Nachweis), HIV-Infektion, chronische Radikulopathie und Poliomyelitis (Liquor, EMG, Muskelbiopsie) zu beachten. Eine spinale Muskelatrophie, eine hereditäre spastische Spinalparalyse, eine primäre Lateralsklerose (isolierte Degeneration des ersten Motoneurons), ein Kennedy-Syndrom (hereditäre Bulbärparalyse, Degeneration der bulbären und spinalen Motoneurone) und die multifokale motorische Neuropathie (→ ) sind in Betracht zu ziehen.

Therapie und Prognose Bei fehlender kausaler Therapie steht die symptomatische Behandlung im Vordergrund. Wichtig sind eine ausführliche Aufklärung und enge Betreuung von Patient und Angehörigen. Physiotherapie soll Restfunktionen erhalten und Immobilisationsfolgen wie z. B. Kontrakturen entgegenwirken. In der Ergotherapie sollen Übungen zum Einsatz von Restfunktionen im Alltag trainiert werden. Die nichtinvasive Maskenbeatmung dient der Respirationserleichterung und der Behandlung von Zeichen der Hypoventilation (Störung des Nachtschlafs, Tagesmüdigkeit, Kopfschmerz). Logopädie und technische Hilfsmittel (z. B. Kommunikator) erleichtern ebenfalls die Alltagsbewältigung. Eine frühzeitige PEG-Anlage soll die ausreichende Nahrungsaufnahme ermöglichen. Die Behandlung mit dem Glutamatantagonisten Riluzol bewirkte entsprechend der Studienlage in einem Beobachtungszeitraum von 2 Jahren eine durchschnittliche Lebensverlängerung um 3 Monate. Die Krankheitsdauer ist sehr variabel. Etwa 50 % der Patienten sterben nach durchschnittlich 3–4 Jahren, wobei selten auch Verläufe von über 10 Jahren beobachtet wurden.

Spinale Muskelatrophie (SMA) Die spinale Muskelatrophie (nukleäre Atrophie) beruht auf einer Degeneration des zweiten Motoneurons (→ ). Neben den genetisch vererbten Formen des Kindes- und Jugendalters gibt es auch sporadisch auftretende Erwachsenenarten (→ ).

Tab. 36.2

Klassifikation der progressiven spinalen Muskelatrophien

Form

Charakteristik

Verlauf

Autosomal-rezessive Formen mit 5q-Mutation (proximale Formen)

Typ I: infantile spinale Muskelatrophie (WerdnigHoffmann; autosomal-rezessiv)

Konnatal bis ca. 6 Monate, floppy infant (allgemein hypotone Muskulatur) Beckengürtel betont

• Tod vor dem 3. Lj. • Sitzen wird nicht erlernt

Typ II: intermediäre Form

Säuglinge und Kleinkinder (7–18 Monate)

• Sitzen ohne Hilfsmittel möglich • Freies Gehen nicht möglich

Typ III: juvenile spinale Muskelatrophie (Kugelberg-Welander; meist autosomal-rezessiv)

Kinder und Jugendliche (5.–15. Lj.) Beckengürtel, Trendelenburg-Gang, positives Gower-Zeichen

• Geringe Progredienz • Selten auf Rollstuhl angewiesen

Typ IV: adulte Form

Nach dem 18. Lj. Beckengürtel, Schultergürtel

• Normale Lebenserwartung • Selten bulbäre Symptome

Bulbospinale Muskelatrophie (Kennedy-Syndrom)

Erwachsene (3. – 4. Lebensdekade)

• Langsam-progredienter Verlauf • Meist Gesicht, bulbäre und proximale Extremitätenmuskulatur betroffen • Häufig Gynäkomastie, Impotenz und Hodenatrophie

Distale SMA

Kindes- und Erwachsenenalter Ca. 10 % der SMAs

• Langsam-progredienter Verlauf

Fokale segmentale SMA: Muskelatrophie Duchenne-Aran (sporadisch)

Erwachsene (20. – 40. Lj.) Asymmetrisch von Handmuskeln nach proximal

• Geringe Progredienz • Selbst nach einem Verlauf von 20 Jahren noch arbeitsfähig

Fokale segmentale SMA: Muskelatrophie VulpianBernhard

Erwachsene (20. – 30. Lj.) Schultergürtel und Beckengürtel

• Langsame Progredienz

Weitere proximale Formen

Sonderformen

Klinik und Diagnostik Klinisch zeigen sich Symptome des zweiten Motoneurons (→ ). Sensible Störungen bestehen nicht. Diagnostisch stehen das klinische Bild und der Mutationsnachweis im Vordergrund; gelegentlich ist die Serumkreatinkinase (CK) erhöht. Bewegung soll die gesunden Muskelfasern stärken.

Spastische Spinalparalyse (hereditäre spastische Spinalparalyse, HSP) Spastische Spinalparalysen sind eine heterogene Gruppe erblicher Erkrankungen (heterogener Erbmodus, mehr als 23 Genmutationen bekannt). In einem Viertel der Fälle handelt es sich um ein sporadisches Auftreten. Man unterscheidet reine von komplizierten spastischen Spinalparalysen, wobei die reine Form auf eine progrediente Degeneration der spinalen Pyramidenbahn beruht und bei der komplizierten Form zusätzlich andere Systeme (z. B. Hinterstränge, spinozerebelläre Bahnen, mentale Retardierung) mit betroffen sind. Kennzeichnend für die Erkrankung ist eine langsam-progrediente Paraspastik der Beine, die zu einem zirkumduzierenden Gangbild mit Adduktorenspastik und Kontrakturen im Verlauf führt. Die ersten Symptome zeigen sich häufig bereits im Jugendalter. Differenzialdiagnosen und Therapie entsprechen denjenigen der ALS.

Poliomyelitis anterior acuta Aufgrund der Einführung der Polio-Schluckimpfung in den Industrieländern, ist die spinale Kinderlähmung heute v. a. in den Ländern der Dritten Welt anzutreffen. In ca. 1 % der Infektionsfälle verläuft die Erkrankung mit neurologischer Beteiligung, bei ca. 95 % bleibt die Infektion klinisch inapparent.

Klinik Entzündlich befallen sind die Vorderhornzellen, motorische Hirnnerven und Großhirnrinde. Auf ein katarrhalisches, febriles Vorstadium mit Erbrechen und Diarrhö und ein symptomfreies Intervall folgen nach etwa 9–14 Tagen erneut hohes Fieber, Kopfschmerzen, Meningismus, Adynamie und Areflexie. Nach weiteren 2–5 Tagen entstehen progrediente, asymmetrische schlaffe Paresen der Extremitäten (oft proximale Becken- und Schultermuskulatur). Eine Fazialislähmung und Paresen der bulbär innervierten (X, XI, XII) Muskeln mit Kreislauf- und Atemstörungen werden ebenfalls beobachtet und haben eine Letalität von bis zu 50 %.

Diagnostik und Therapie Die Diagnose wird durch Anzüchtung des Virus aus Liquor oder Stuhl bzw. durch einen Titeranstieg im Serum gestellt. Die Behandlung erfolgt unter Isolierung (6 Wochen) symptomatisch (Bettruhe, Beatmung etc.) und mit Immunglobulinen. Die Rückbildung der Paresen ist häufig nicht vollständig. Selten nehmen die Paresen Jahre später chronisch oder schubförmig zu (Post-Poliomyelitis-Syndrom ).

Zusammenfassung • Die klassische amyotrophe Lateralsklerose ist gekennzeichnet durch eine isolierte progrediente Degeneration des ersten und zweiten Motoneurons ohne Sensibilitätsstörungen. • Hereditäre spastische Spinalparalysen beruhen auf einer progredienten Degeneration des ersten Motoneurons mit einer spastischen Tonuserhöhung der Beine als Frühsymptom. • In 1 % der Fälle manifestiert sich die Poliomyelitis anterior acuta mit Befall der Vorderhörner, der motorischen Hirnnerven und des Großhirnkortex. Ein Post- Poliomyelitis-Syndrom ist nach Jahren möglich.

Multiple Sklerose

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Multiple Sklerose Die Multiple Sklerose (MS, Syn. Encephalomyelitis disseminata, ED) ist eine entzündlich-demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems, deren Diagnosestellung nach den McDonald-Kriterien entsprechend klinischer Symptomatik, räumlicher und zeitlicher Dissemination des bildgebenden Befunds sowie ggf. Liquordiagnostik erfolgt (→ ).

Epidemiologie In der Bundesrepublik Deutschland beträgt die Prävalenz ca. 60 / 100 000 Einwohner und die jährliche Neuerkrankungsrate beläuft sich auf etwa 3 / 100 000 Einwohner. Die Häufigkeit der MS steigt mit zunehmendem räumlichen Abstand zum Äquator an. Davon unabhängig gibt es regionale Unterschiede. So ist z. B. in Japan, Sibirien und dem asiatischen Raum die Prävalenz sehr gering. Migrationsstudien zeigten eine Anpassung des Erkrankungsrisikos an das Gastland bei Migration vor der Pubertät und eine Beibehaltung des MS-Risikos des Ursprungslandes, wenn dies nach der Pubertät verlassen wurde. Das weibliche Geschlecht ist im Verhältnis von 3 : 2 häufiger betroffen. Die Erkrankungshäufigkeit gipfelt zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr und ist bei unter 15- und über 60-Jährigen sehr selten.

Ätiologie Es ist keine einzelne Ursache bekannt; vielmehr wird eine multifaktoriell bedingte Autoimmunreaktion gegen Myeloprotein diskutiert. Hier scheinen Umweltfaktoren der jeweiligen geografischen Region ebenso eine Rolle zu spielen wie eine vermutete Exposition gegenüber einem unbekannten Agens (z. B. Virus) vor der Pubertät, das mit einer Latenz von ca. 15–20 Jahren zur Manifestation der MS führt. Eine zusätzliche genetische Komponente ist nach Untersuchungen der Histokompatibilitätsfaktoren von MS-Kranken und Normalbevölkerung sowie nach Studien an eineiigen Zwillingen mit dieser Erkrankung in Zusammenhang zu bringen. HLA-DR2, HLA-Dw2, HLA-A3 und HLA-B7 scheinen auch assoziiert zu sein.

Pathogenese Derzeit wird folgender Entstehungsmechanismus der Multiplen Sklerose angenommen: In der Blutbahn werden T-Lymphozyten unspezifisch (z. B. durch einen Infekt) aktiviert und überwinden aktiv die Blut-Hirn-Schranke. Sie binden sich an bestimmte Antigene auf perivaskulären Mikrogliazellen, die noch nicht identifiziert sind und vermutlich Myelinantigene oder virale Superantigene darstellen. Hier lösen sie eine Entzündungsreaktion aus, wodurch weitere Immunzellen (B-Lymphozyten, Makrophagen) angelockt werden. Die Folge ist eine unspezifische Demyelinisierung, die sich als stecknadelkopf- bis eurostückgroßer Herd zeigt. Dieser ist makroskopisch zunächst weich, rötlich bis grau geschwollen und imponiert später durch Gliawucherung als harte graue Plaque (Sklerose). Histologisch werden die Axone nicht direkt geschädigt, degenerieren vielmehr sekundär. So zeigt sich der ZNS-Befall (post mortem) oft wesentlich schwerer, als dies aufgrund der klinischen Symptome zu erwarten wäre. Häufig findet sich ein Nebeneinander von frischen, kontrastmittelanreichernden und alten Herden, die im MRT nicht mehr anreichern. Prädilektionsstellen der Plaques sind das periventrikuläre Marklager, der Sehnerv, Balken, Hirnstamm, Kleinhirn und Rückenmark.

Klinik Symptome Die MS zeigt je nach Lokalisation der Herde im ZNS eine große Breite an klinischen Symptomen. In → sind häufige Symptome im zeitlichen Verlauf der Erkrankung aufgeführt.

Tab. 37.1

Häufigkeitsverteilung von Symptomen bei Multipler Sklerose

Symptom

Anfangsstadium

Im Verlauf

Zentrale Paresen

45 %

85 %

Sensibilitätsstörungen

42 %

85–90 %

Neuritis nervi optici

33 %

65 %

Zerebelläre Symptome

23 %

75 %

Augenmotilitätsstörungen

15 %

70 %

Zentrale Paresen Mono-, Hemi-, Tetraparesen, gesteigerte MER, abgeschwächte oder fehlende Bauchhautreflexe, Pyramidenbahnzeichen (z. B. Babinski oft früh einseitig positiv), oft asymmetrische Para- oder Tetraspastik (Spätsymptom). Sensibilitätsstörungen Vorübergehende oder anhaltende Schmerzen und Missempfindungen an Händen / Füßen, die anfangs meist asymmetrisch, später symmetrisch, einseitig und querschnittsartig sein können, Störungen des Vibrations- und Lagesinns. Hirnnervenbeteiligung Meist einseitige und i. d. R. reversible Retrobulbärneuritis (innerhalb weniger Tage: Verschwommensehen, Farbsehstörung, vorübergehende Blindheit, Orbitaschmerzen; nach Wochen: Abblassung der Papille; → ), Augenmotilitätsstörungen mit Doppelbildern bei Beteiligung der Hirnnervenkerne III, IV und VI; selten tritt eine Fazialisparese oder Trigeminusneuralgie auf.

Abb. 37.1

Retrobulbärneuritis mit einseitiger Abblassung der Papille und sonst unauffälligem Augenfundus [E305]

Hirnstamm- und zerebelläre Symptome Dysdiadochokinese, pathologisches Rebound-Phänomen, skandierende Blickrichtungsnystagmus, spastisch-ataktisches Gangbild (Spätsymptom).

Sprache,

Gleichgewichtsstörungen,

internukleäre

Ophthalmoplegie,

Rückenmarksbeteiligung Nackenbeugezeichen / Lhermitte-Zeichen (Auftreten von elektrisierenden Missempfindungen entlang der Wirbelsäule und an den Armen beim Beugen des Nackens), Miktionsstörungen bis hin zur Inkontinenz, Sexualfunktionsstörungen. Psychische Veränderungen Depression, psychomotorische Verlangsamung, affektive Störung, Konzentrationsschwäche, Fatigue-Syndrom, kognitive Störung (Spätsymptome). Manche Symptomenkombinationen werden oft im Verlauf der MS beobachtet. So kann man im Anfangsstadium häufig eine Paraspastik, temporale Papillenabblassung und erloschene Bauchhautreflexe (Marburg-Trias ) sehen. Das Nackenbeugezeichen (Lhermitte-Zeichen; Beugen des Kopfes mit dem Kinn zur Brust löst ein elektrisierendes Missempfinden in den Rumpf und / oder Extremitäten aus), Augenmotilitätsstörungen und eine Retrobulbärneuritis sind ebenfalls Frühsymptome. Die Charcot-Trias mit Nystagmus, Intentionstremor und skandierender Sprache ist dagegen seltener. Charakteristisch ist das Uthoff-Phänomen , das eine Verschlechterung der Symptome bei Anstieg der Körpertemperatur (z. B. Fieber, heißes Bad, körperliche Anstrengung) beschreibt. Dies ist auf schlechtere Reizleitungsbedingungen der Nerven bei Temperaturerhöhung zurückzuführen.

Verlauf Exogene Faktoren wie z. B. Ernährung, Arbeit, Traumen oder Temperatur scheinen keinen Einfluss auf eine mögliche Erkrankung an MS oder deren Verlaufsform zu nehmen. Es werden folgende Arten unterschieden (→ ):

Abb. 37.2 Verlaufsformen der Multiplen Sklerose: a) schubförmig remittierend; b) sekundär progredient; c) primär progredient; d) schubförmig progredient [L141]

Schubförmig Die aufgetretenen Symptome bilden sich entweder vollständig zurück (schubförmig remittierend) oder es bleibt nach den Schüben eine gewisse Restsymptomatik bestehen (schubförmig progredient). Zwischen den Schüben liegen Zeitspannen von Wochen bis Jahren. Dies ist die häufigste Manifestationsform der MS. Sekundär progredient Die Erkrankung nimmt anfangs einen schubförmig remittierenden Verlauf, z. B. mehrere Jahre lang, und geht dann in eine progrediente Verlaufsform über. Die progrediente Phase kann weiterhin von Schüben überlagert sein. Nach langjährigem Krankheitsverlauf, ca. 10 Jahre, geht die schubförmig verlaufende MS bei ca. der Hälfte der Betroffenen in die sekundär progrediente Form über. Primär progredient Die aufgetretenen Symptome bilden sich nicht mehr zurück. Unter dieser primär chronisch progredienten Form unterscheidet man den Verlauf ohne Schübe und denjenigen mit Schüben. Bei der Letztgenannten verstärken sich bei jedem weiteren Schub die bestehenden Symptome oder es treten neue hinzu. Dies ist die seltenste Manifestationsform und oft bei spätem Krankheitsbeginn zu beobachten.

Diagnostik Die Diagnose der Multiplen Sklerose beruht auf einem charakteristischen klinischen Verlauf sowie ergänzend erhobenen Befunden unter Ausschluss möglicher Differenzialdiagnosen. Im Jahr 2001 wurden die McDonald-Diagnosekriterien veröffentlicht, die der Bildgebung durch MRT eine bedeutende Rolle in der Diagnostik einräumten. Eine internationale Expertengruppe revidierte 2010 diese Diagnosekriterien zum zweiten Mal mit dem Ziel einer vereinfachten und früheren Diagnosestellung. Insbesondere wurden die Kriterien der zeitlichen und räumlichen Dissemination im MRT vereinfacht (→ ).

Tab. 37.2

Diagnosekriterien nach den revidierten McDonald-Kriterien 2010 [F696-005]

Klinische Präsentation

Obligate Zusatzkriterien

≥ 2 Schübe und objektivierbarer klinischer Befund von ≥ 2 Läsionen oder objektivierbarer klinischer Befund einer Läsion sowie ein weiterer anamestisch berichteter Schub in der Vergangenheit

Keine

≥ 2 Schübe und objektivierbarer klinischer Befund von 1 Läsion

Räumliche Dissemination im MRT oder Auftreten eines weiteren Schubs korrespondierend zu einer anderen Hirnregion

1 Schub und objektivierbarer klinischer Befund von 2 Läsionen

Zeitliche Dissemination im MRT oder Auftreten eines weiteren Schubs

1 Schub und objektivierbarer klinischer Befund von 1 Läsion (klinisch isoliertes Syndrom)

Räumliche Dissemination im MRT oder Auftreten eines weiteren Schubs korrespondierend zu einer anderen Hirnregion oder zeitliche Dissemination im MRT oder Auftreten eines weiteren Schubs

Primär chronisch progredienter Verlauf

Kontinuierliche klinische Progression über 1 Jahr (retrospektiv / prospektiv bestimmt) und zusätzlich zwei der folgenden drei Kriterien: • Nachweis der räumlichen Dissemination (bei ≥ 1 Läsion in T2 in einem MStypischen Hirnareal (periventrikulär, juxtakortikal oder infratentoriell) • Nachweis von räumlicher Dissemination im Rückenmark bei ≥ 2 Läsionen in T2 im Rückenmark) • Positiver Liquorbefund (positive OKB oder erhöhter IgG-Index im Liquor).

≥ 1 Läsion in T2 in mindestens zwei der folgenden vier ZNS-Regionen: 1. periventrikulär, 2. juxtakortikal, 3. infratentoriell, 4. Rückenmark a) Eine neue Läsion in T2 und / oder eine / mehrere kontrastmittelaufnehmende Läsion(en) im Vergleich zu einer früheren MRT, ungeachtet in welchem Zeitabstand die MRT stattgefunden haben. b) Gleichzeitiges Vorhandensein von asymptomatischen kontrastmittelaufnehmenden und nicht kontrastmittelaufnehmenden Läsionen im MRT ungeachtet des Zeitpunkts der Bildgebung Schub = vom Patienten berichtete oder objektivierbare klinische Symptomatik (aktuell vorhanden oder in der Vergangenheit stattgehabt), die typisch ist für einen akuten demyelinisierenden ZNS-Prozess, Symptomdauer > 24 h, nicht durch Änderung der Körpertemperatur (Uthoff-Phänomen) oder im Rahmen von Infektionen erklärbar. Bevor die Diagnose einer MS gestellt werden kann, soll mindestens ein Schub sich objektivierbar in der neurologischen Untersuchung bestätigen lassen oder mit der Lokalisation einer Läsion im MRT vereinbar sein oder berichtete Visusstörungen durch auffällige VEPs bestätigt werden. Keine weiteren Untersuchungen sind erforderlich. Es sollte keine bessere Erklärung für die klinische Präsentation und die objektiven Befunde geben, bevor die Diagnose der MS gestellt werden kann.

Liquor Die Bestimmung von intrathekaler IgG-Bildung (oligoklonale Banden = OKB) ist eine sehr sensitive Methode zum Nachweis eines chronisch-enzündlichen ZNS-Prozesses. Dieser Parameter ist bei MS-Patienten anfangs in über drei Vierteln der Fälle und im Verlauf bei mehr als 90 % positiv. Beim primär chronischen Verlauf finden sich im Liquor oft keine OKB und in bildgebenden Verfahren sind seltener Herde nachweisbar. Eine Erhöhung der Lymphozytenzahl (lymphozytäre Pleozytose) zeigt sich häufig im Schub. Das Gesamteiweiß ist normal oder leicht erhöht (bis 0,8 g / l). In den meisten Fällen (75–90 %) ist die MRZ-Reaktion, ein Nachweis von intrathekalen AK gegen Masern, Röteln und Varicella-Zoster-Viren, ebenfalls positiv. Bildgebende Verfahren Das MRT ist bei Verdacht auf MS die Methode der Wahl und stellt mit einer Sensitivität von mehr als 90 % frische und alte Entmarkungsherde dar (→ , → ). Liegt eine aktive Entzündung vor, reichern die Herde Kontrastmittel an. Das CCT hat eine Sensitivität von etwa 50 %.

Abb. 37.3

Entmarkungsherde bei MS. Sagittalschnitt im T2-gewichteten MRT. [M510]

Abb. 37.4 Periventrikuläre Entmarkungsherde bei MS (Pfeile): a) T1-gewichtetes MRT mit Gabe von Kontrastmittel; z. T. reichern die Herde Kontrastmittel an (Pfeilspitzen); b) T2-gewichtetes MRT [E483]

Die Darstellung von Herden im MRT ist allein noch kein Beweis für MS! Elektrophysiologische Untersuchung Die Untersuchung evozierter Potenziale zeigt objektiv pathologische Veränderungen in Systemen, die klinisch symptomatisch oder asymptomatisch sind. Visuell evozierte Potenziale haben selbst nach abgeheilter Optikusneuritis in den meisten Fällen verlängerte Latenzen. Des Weiteren ist auch die Bestimmung von somatosensibel, motorisch und akustisch evozierten Potenzialen zur Diagnosefindung sinnvoll.

Differenzialdiagnose Das Spektrum der differenzialdiagnostischen Überlegungen ist breit gefächert – im Folgenden werden einige wichtige dargestellt: • Eine Sehnervkompression präsentiert sich zwar mit langsamen, progredienten Symptomen, sollte aber bei Verdacht auf eine Optikusneuritis durch ein MRT ausgeschlossen werden. • Plötzlich einsetzende spinale Zeichen sollten an eine Rückenmarkskompression denken lassen, wohingegen man bei langsam voranschreitender Klinik seltenere Myelopathien wie z. B. die funikuläre Spinalerkrankung (unauffälliger Liquor, kein schubweiser Verlauf, Serum-Vitamin-B 12 Mangel) oder Tumoren in Erwägung zieht. • Neuroborreliose und Neurolues gleichen in ihrem klinischen Bild einem Chamäleon und können durch Liquor- und Serumuntersuchungen ausgeschlossen werden. • Der schubförmig remittierende Verlauf kann durch entzündliche Erkrankungen wie z. B. den systemischen Lupus erythematodes (Erhöhung von CRP und BSG; ANA; neurologisches Leitsymptom sind zerebrale Krämpfe), Morbus Behçet (Aphthen der Mund- und Genitalschleimhaut, Iritis und Erythema nodosum) oder der Sarkoidose (Röntgen-Thorax, ACE im Liquor, Belastungsdyspnoe, Fieber und Husten) imitiert werden.

Therapie Eine kausale Therapie ist nicht möglich. Die zurzeit verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten versuchen, die Immunreaktion und den Entzündungsprozess zu beeinflussen, um die auftretende Symptomatik möglichst vollständig zurückzubilden und weiteren Schüben vorzubeugen. Es wird eine Vielzahl von Studien durchgeführt, nach deren Ergebnissen die Therapieempfehlungen laufend modifiziert werden. Schubtherapie Glukokortikoide sind im akuten Schub oder im Initialstadium der MS das Mittel der ersten Wahl. Sie wirken sich positiv auf die Schubintensität und Schubdauer aus. Ein akuter Schub wird mit 500–1.000 mg Methylprednisolon i. v. täglich über 5 Tage und anschließend mit 100 mg Prednison p. o. täglich über 2 Wochen in absteigender Dosierung behandelt (Pulstherapie). Bei unzureichender Wirkung der Kortikosteroid-Pulstherapie nach 2 Wochen kann ggf. eine zweite Pulstherapie durchgeführt und bei erneut ausbleibender Wirkung eine Plasmapherese diskutiert werden. Verlaufsmodifizierende Behandlung der schubförmig verlaufenden MS (Basistherapie) Interferon-β (INFβ) und Glatirameracetat sind immunmodulatorisch wirksam und nach Studienergebnissen bei schubförmigem und schubförmig progredientem Verlauf indiziert. Sie verringern die Schubrate um ca. 25–30 % und reduzieren das Volumen aktiver Herde im MRT bei unterschiedlichen Nebenwirkungen. Festzuhalten ist, dass die oben erwähnten Medikamente Einfluss auf die Schubrate und Schubhäufigkeit nehmen, aber den Krankheitsverlauf anscheinend nicht beeinflussen. Natalizumab, ein humanisierter Antikörper, wirkt dem Übertritt der Entzündungszellen ins Gewebe entgegen und erreichte in Studien eine bis zu 60-prozentige Reduktion der Krankheitsschübe sowie eine Reduktion der Behinderungsprogression. Zugelassen ist das Präparat für schubförmige Verlaufsform mit hoher Krankheitsaktivität. Das früher häufig eingesetzte Azathioprin stellt durch die Entwicklung der anderen Basistherapeutika ein Reservepräparat dar und wird z. B. bei Interferon-β-Unverträglichkeit eingesetzt. Mitoxantron moduliert den Krankheitsverlauf durch hemmende Wirkung auf entzündungsaktivierende Prozesse der Zellen (z. B. Deaktivierung von Makrophagen, Apoptoseinduktor für B-Zellen) und ist für die Basistherapie der rasch progredienten schubförmigen MS sowie der sekundär chronisch progredienten Form zugelassen. Eine Reduktion der Schubrate, eine Verminderung der

Krankheitsprogression und ein positiver Einfluss auf die MRT-Verlaufsparameter wurden nachgewiesen. Bei anhaltender bzw. progredienter Krankheitsaktivität kann ein Umstellungsversuch von einem dieser Basistherapeutika auf ein anderes Präparat mit unterschiedlichem Wirkmechanismus erfolgen. Bei der primär chronisch progredienten Verlaufsform ist bisher keine sicher wirksame Immuntherapie bekannt. Bei rascher Progredienz der Symptomatik kann ein Therapieversuch mit einer Kortikosteroid-Pulstherapie alle 3 Monate oder mit Mitoxantron diskutiert werden. Symptomatisch und konservativ Neben der Immunmodulation spielt die begleitende symptomatische Therapie zur Verbesserung der Lebensqualität, Erhaltung der körperlichen Funktionen und Beibehaltung der Integration im sozialen Umfeld eine wichtige Rolle. Die Physiotherapie stellt eine Grundlage zur Erhaltung der Mobilität und Beweglichkeit dar. Langfristiges Ziel ist es, durch Erlernen des Umgangs mit Hilfsmitteln und kompensatoriche Bewegungen die Selbstständigkeit des Patienten so gut wie möglich zu bewahren. Ergänzend werden zur symptomatischen Behandlung Medikamente eingesetzt, z. B. zur Spastiktherapie die Gabe zentral wirkender Muskelrelaxanzien (z. B. Baclofen), bei Schmerzen Membranstabilisatoren (Gabapentin), Antidepressiva etc. Daneben wird eine ausgewogene Lebensführung mit ausreichend Schlaf, frühzeitiger Behandlung von Infekten, Vermeiden von Überanstrengung etc. empfohlen. Frühzeitig sollte mit dem Blasentraining begonnen werden, da eine Blasen- und Mastdarmstörung eine häufige Komplikation darstellt.

Prognose Die Prognose ist bei der chronisch progredienten Form schlechter als beim schubförmigen Verlauf, der bei der Hälfte der Betroffenen durchschnittlich nach 10 Jahren chronifiziert. Etwa in 30 % der Fälle ist die Erkrankung primär chronisch. Bei positivem Liquorbefund, pathologischen VEP oder bei einer Retrobulbärneuritis als Erstsymptom tritt eine spätere klinische Manifestation der MS bei mehr als der Hälfte der Patienten ein. Neben einem sehr rasch voranschreitenden malignen Verlauf mit frühzeitig einsetzender Invalidität bei ca. 5 % der Patienten gibt es in etwa einem Viertel der Fälle auch eine benigne Form, die mit keiner schweren Behinderung einhergeht. Für die verschiedenen Symptome gibt es unterschiedliche Remissionstendenzen, wobei ein Auftreten psychischer Veränderungen und zerebellärer Zeichen sich schlechter zurückbildet als eine Optikusneuritis oder Parästhesien. Zur Einstufung des Behinderungsgrads und Verlaufsdokumentation wird die Expanded Disabilitiy Status Scale (EDSS) im klinischen Alltag herangezogen.

Weitere demyelinisierende Erkrankungen Die folgenden Erkrankungen sind sehr selten und werden als Sonderformen der MS aufgefasst. Meist haben sie einen schnellen Verlauf und sind oft bei Kindern und Jugendlichen zu beobachten. Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) Sie tritt plötzlich postinfektiös (z. B. Influenza, Masern, Röteln, Pocken), nach Gabe von Tetanusantitoxin oder nach einer Impfung (z. B. Tollwut, Pocken) auf. Häufige Symptome sind Fieber, Bewusstseinstrübung, Nackensteife, epileptische Anfälle, Hemi-, Para-, Tetraplegie, Sensibilitätsstörungen, Hirnstammsymptome etc. Therapiert wird mit hoch dosierten Glukokortikoiden. Bei fehlendem Ansprechen kann eine Plasmapherese, intravenöse Immunglobulingabe bzw. Immunsuppression mit Cyclophosphamid angewandt werden. Jedoch ist der Verlauf in einem Fünftel der Fälle letal. Neuromyelitis optica (NMO, Devic-Syndrom) Sie verläuft mit fulminanten Schüben und geht mit einer akuten bis subakuten beidseitigen Optikusneuritis und Querschnittsmyelitis (Läsion im Rückenmark über mindestens drei Wirbelkörpersegmente) ohne Hirnbeteiligung einher. Unbehandelt verläuft sie bei bis zur Hälfte der Betroffenen letal. Diagnostisch ist bei über zwei Dritteln der Patienten der Nachweis von Aquaporin-4-Antikörpern (AQP4-AK, NMO-IgG) im Serum möglich. Frauen sind im Verhältnis von 9 : 1 häufiger betroffen. Entzündliche diffuse Sklerose (Schilder- Krankheit) Sie stellt sich mit großen symmetrischen Entmarkungsherden in Hemisphären, Hirnstamm und Rückenmark dar. Meist sind es Kinder, die an Sprachstörungen, Visusverfall, Taubheit, Hemi-, Tetraplegie, Demenz und epileptischen Anfällen leiden. Die Prognose ist infaust. Konzentrische Sklerose (Baló-Krankheit) Diese weist ein ähnliches klinisches Bild auf. Das MRT zeigt konzentrische, schalenförmig angeordnete Herde im Marklager beider Hemisphären.

Zusammenfassung • Prädilektionsstellen der sklerotischen Plaques sind das periventrikuläre Marklager, der Sehnerv, Balken, Hirnstamm, Kleinhirn und Rückenmark. • Die auftretenden Symptome sind multifokal, wobei die häufigsten klinischen Befunde spastische Paresen, Sensibilitätsstörungen und eine meist einseitige Optikusneuritis sind. • Die schubförmig remittierende Form der Multiplen Sklerose stellt den häufigsten Initialverlauf dar. • Die Diagnostik der MS umfasst folgende Untersuchungen: Liquor (oligoklonale Banden, lymphozytäre Pleozytose, normales / leicht erhöhtes Gesamteiweiß, positive MRZ-Reaktion), MRT (frische und alte Herde), Elektrophysiologie (VEP, SSEP, MEP, AEP). • Glukokortikoide sind im akuten Schub das Mittel der ersten Wahl; bei schubförmigem Verlauf wirken sich Immunmodulatoren wie β-Interferon und Glatirameracetat positiv bezüglich Schubrate und Schubintensität aus.

Entzündliche Prozesse des ZNS

38

Infektionen des ZNS Die Blut-Hirn-Schranke stellt für das ZNS eine Schutzbarriere vor Infektionen dar, die meist durch Bakterien und Viren verursacht werden. Seltenere Erreger sind Spirochäten, Parasiten und Pilze. Durch verbesserte Hygienebedingungen, Therapie und Impfprophylaxe ist die Inzidenz von Meningitiden und Enzephalitiden (ca. 10–15 / 100 000 Einwohner), Myelitiden und Abszessen in Europa zurückgegangen.

Meningitis Akute bakterielle Meningitis Diese stellt eine lebensbedrohliche Erkrankung dar, die unmittelbares Handeln erfordert. Eine Schwächung des Immunsystems (z. B. bei Diabetes mellitus, Splenektomie, Dialysepflicht, Immunsuppression, Alkoholabusus, HIV-Infektion, Drogenmissbrauch etc.) begünstigt die Infektion der Hirnhäute. Nicht selten ist neben den weichen Häuten (Leptomeningen) auch die Oberfläche des Gehirns von der Entzündung betroffen (Meningoenzephalitis). Der Erreger kann hämatogen (z. B. im Rahmen eines Infekts im Nasen-Rachen-Raum, über den Magen-Darm-Trakt), neurogen, per continuitatem (z. B. Otitis media, Sinusitis, Zahnwurzelentzündung) oder durch direkten Kontakt (offenes SHT, iatrogene Eingriffe, Shunt) zum Gehirn gelangen. Das erwartete Erregerspektrum ist altersabhängig (→ ) . Listeria monocytogenes als Erreger der Meningitis bei Erwachsenen ist unter Immunkompetenten sehr selten, spielt jedoch bei Immungeschwächten, Neugeborenen, Senioren sowie Schwangeren und deren ungeborenen Kindern eine Rolle. Die Infektion erfolgt über kontaminierte Lebensmittel (Fleisch, Gemüse, Rohmilchprodukte, Fisch).

Tab. 38.1

Altersabhängige Erreger und kalkulierte Initialtherapie der bakteriellen Meningitis

Alter

Erreger

Kalkulierte Therapie

Neugeborene

E. coli, Enterobacter, Klebsiellen, Gruppe-B-Streptokokken, Listeria monocytogenes

Cefotaxim + Ampicillin (bei Listerienverdacht + Gentamicin)

Kleinkinder (1 Monat bis 6. Lj.), Jugendliche, Erwachsene

Haemophilus influenzae Meningokokken, Pneumokokken

Cefotaxim oder Ceftriaxon (ggf. + Gentamicin)

Erwachsene ≥ 65. Lj.

Pneumokokken, Meningokokken; Listerien

Ceftriaxon + Ampicillin (ggf. + Gentamicin)

Posttraumatische oder postoperative Meningitis

Staphylococcus aureus, Staphylococcus epidermidis, Pseudomonas aeruginosa, gramnegative Stäbchen

Vancomycin + Meropenem (alternativ: Vancomycin + Ceftazidim)

Klinik und Differenzialdiagnose In der Regel beginnen bakterielle Meningitiden plötzlich mit Krankheitsgefühl, intensiven Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, hohem Fieber (bis 40 °C), Licht- und Geräuschempfindlichkeit und Somnolenz. Bei älteren Patienten, Immungeschwächten und Kindern kann die Temperaturerhöhung fehlen. Ein typischer klinischer Befund ist die Nackensteifigkeit als Zeichen für Meningismus (→ ). Bei entzündlicher Mitbeteiligung des Hirnparenchyms (Meningoenzephalitis) kommt es zur Bewusstseinsstörung. Epileptische Anfälle können auftreten. Bei schweren Verläufen kann es zu Paresen mit positiven Pyramidenbahnzeichen (z. B. Babinski-Reflex), Sensibilitätsausfällen Opisthotonus (Reklination des Kopfes, Überstreckung des Rumpfes, Flexion der Beine) und Hirnnervenausfällen kommen. Kinder zeigen häufig initial eine motorische Unruhe und Trinkschwäche als Hauptsymptom. Im Verlauf kann die Fontanelle gespannt sein.

Tab. 38.2

Zeichen einer meningealen Reizung (Meningismus)

Nackensteifigkeit

Patient hemmt schmerzbedingt die passive Beugung des Kopfes.

Kernig-Zeichen

Patient in Rückenlage; Knie und Hüfte gebeugt. Passive Streckung des Kniegelenks bewirkt starke Schmerzen im Lumbalbereich.

Brudzinski-Zeichen

Passive Beugung des Kopfes bewirkt Hüft- und Knieflexion zur Entlastung der Rückenschmerzen.

Lasègue-Zeichen

Patient in Rückenlage. Schmerzbedingt hemmt der Patient die passive Elevation des gestreckten Beins.

Etwa die Hälfte der Patienten entwickelt im Verlauf Komplikationen. Mögliche Komplikationen sind u. a. ein Hirnödem, Hydrozephalus, Mikroabszesse, Hirnvenenthrombose, zerebrale Arteriitis, Vasospasmus, septischer Schock, SIADH, Myelitis. Differenzialdiagnostisch ist an eine SAB, lymphozytäre Meningitiden und eine metabolisch verursachte meningeale Reizung (z. B. Leberversagen) zu denken.

Diagnostik In der klinischen Untersuchung zeigen sich gewöhnlich positive Zeichen einer meningealen Reizung (→ ). Stellt sich der Verdacht auf Meningitis, sollte nach Ausschluss einer Hirndrucksteigerung (z. B. Fundoskopie, CCT) so bald wie möglich eine Lumbalpunktion mit zytologischer Diagnostik durchgeführt werden ( → ). Zusätzlich sind auch Blutkulturen anzulegen. Im Blutbild sind die Entzündungsparameter erhöht und es zeigt sich oft eine Leukozytose mit Linksverschiebung. Die bildgebenden Untersuchungen wie z. B. CCT, MRT, Rö-Thorax, Rö-Schädel etc. dienen der Suche nach dem Erregerherd, der Darstellung von pathologischen ZNS-Veränderungen (z. B. Hirnödem, Ventrikulitis, Abszess, Hydrozephalus) und der Differenzialdiagnostik.

Tab. 38.3

Liquorbefunde bei verschiedenen Formen der Meningitis

Liquorbefund

Akute bakterielle Meningitis

Akute lymphozytäre Meningitis

Tuberkulöse Meningitis

Lokalisation

Haubenmeningitis oder diffus

Diffus, meist Meningoenzephalitis

Hirnbasismeningitis

Zellbild

v. a. Granulozyten > 10 000 / 3 Zellen / μl

Lymphozyten ≤ 5 000 / 3 Zellen / μl

Lymphozyten ≤ 500 / 3 Zellen / μl

Eiweiß

↑↑

Normal bis leicht erhöht

↑ Spinngewebsgerinnsel

Glukose

↓↓

Normal



Laktat

↑↑

Normal

↑↑

Therapie und Prognose Die akute bakterielle Meningitis erfordert sofortiges Handeln unter Beachtung der hygienischen Vorschriften (ggf. Isolation, Prophylaxe etc.). Unmittelbar nach Liquorentnahme und Anlage von Blutkulturen wird entsprechend Alter und möglichem Keimspektrum Dexamethason gegeben sowie eine kalkulierte intravenöse Antibiotikatherapie begonnen, bei gesunden Erwachsenen und älteren Patienten z. B. Cephalosporin der 3. Generation und Ampicillin. Nach Erregerisolierung wird diese dem Antibiogramm angepasst. Ein möglicher Erregerherd muss saniert werden. Der Verlauf ist von der Abwehrlage des Patienten abhängig und weist eine Letalität von bis zu 40 % auf. Die Pneumokokkenmeningitis hat beim Erwachsenen eine schlechtere Prognose als die Meningokokkenmeningitis. Bei Neugeborenen ist die Letalität sehr hoch (ca. 50 %), besonders bei Entzündungen durch Coli-Bakterien. Bei Verdacht auf eine Meningitis muss unverzüglich nach Liquorpunktion und Blutkulturentnahme die Gabe von Dexamethason erfolgen und mit einer kalkulierten Antibiotikatherapie begonnen werden, da die Zeitspanne bis zum Therapiebeginn prognostische Auswirkungen hat.

Besondere Formen Meningokokkenmeningitis (Neisseria meningitidis) Sporadisches Auftreten; Übertragung durch Tröpfchen; oft Exanthem mit Petechien; Endotoxinschock mit Verbrauchskoagulopathie, hämorrhagischen Nekrosen der Nebennierenrinden und hämorrhagischem Exanthem möglich (Waterhouse-Friderichsen-Syndrom). Bei engen Kontaktpersonen Antibiotikaprophylaxe mit Rifampicin, Ceftriaxon oder Ciprofloxacin empfohlen. Meldepflichtig sind Krankheitsverdacht, Erkrankung oder Tod an Meningokokkenmeningitis oder -sepsis. Pneumokokkenmeningitis (Streptococcus pneumoniae) Auftreten oft bei Patienten mit chronischen Erkrankungen und Alkoholabusus; bei schwacher leukozytärer Abwehrfunktion gelegentlich foudroyante apurulente bakterielle Meningitis.

Akute lymphozytäre Meningitis Die Ursache der akuten lymphozytären (aseptischen) Meningitis sind in erster Linie Viren und seltener andere Erreger. Die virale Meningitis ist häufiger als die bakterielle. Weltweit haben die Enteroviren (wie z. B. Coxsackie-, Polio-, ECHO-Virus) mit ca. 35 % den größten Anteil an den Virusmeningitiden, gefolgt von den Mumpsviren. Weitere häufige Erreger sind Arboviren, Adenoviren, HIV, EBV, HSV-2 u. a. Die ZNS-Beteiligung bei Tuberkulose oder Sarkoidose zeigt sich ebenfalls durch eine lymphozytäre Pleozytose, verläuft allerdings eher chronisch. Auch eine anbehandelte bakterielle Meningitis kann sich so präsentieren, bevor sie bei inadäquater Behandlung erneut durchbrechen kann. Die Viren gelangen meist hämatogen, seltener auch neurogen in das ZNS.

Klinik Der Krankheitsverlauf hängt von dem jeweiligen Virus ab, ist jedoch i. d. R. blander als bei der akuten bakteriellen Meningitis. Nicht selten werden auch zweiphasige Verläufe beobachtet, die sich aus einer grippalen und einer meningitischen Phase zusammensetzen. Der Meningismus ist oft nur leicht ausgeprägt. Es zeigen sich starke Kopfschmerzen, leichtes Fieber, Allgemeinsymptome wie Müdigkeit und Muskelschmerzen sowie Empfindlichkeit gegenüber Licht und äußeren Reizen. Eine Bewusstseinsstörung oder fokal neurologische Defizite treten bei einer Meningitis nicht auf.

Diagnostik Die charakteristischen Liquorbefunde der akuten lymphozytären Meningitis sind in → aufgeführt. Als Zeichen einer spezifischen Immunreaktion ist im Liquor außerdem eine oligoklonale IgG-Produktion auszumachen. In weniger als der Hälfte der Fälle kann ein Erreger in Liquor, Blut und Abstrich nachgewiesen werden. Differenzialdiagnostisch sind u. a. eine bakterielle Meningitis oder eine Reizung der Hirnhäute aufgrund einer Entzündung von benachbarten Strukturen (z. B. Otitis media, Sinusitis) zu beachten.

Therapie In der Regel ist die Behandlung symptomatisch. Der spontane Verlauf ist vom einzelnen Virus abhängig, aber in der großen Mehrzahl günstig. Es ist wichtig, die Diagnose einer viralen Meningitis so sicher wie möglich zu stellen, um Behandlungsmöglichkeiten von anderen Erkrankungen nicht zu versäumen. Sind die Befunde nicht eindeutig und besteht der Verdacht auf eine bakteriell bedingte Meningitis, sollte eine antibiotische Therapie eingeleitet werden.

Tuberkulöse Meningitis Die tuberkulöse Meningitis wird der Gruppe der chronischen Meningitiden zugeordnet. Der Verlauf ist sehr langsam progredient und häufig fluktuierend. Außer bei einer Infektion durch Mycobacterium tuberculosis kommt diese chronische Form der Meningitis bei Sarkoidose, Meningeosis carcinomatosa, Pilzinfektionen (z. B. Cryptococcus neoformans ) und Protozoen (z. B. Toxoplasma gondii ) vor.

Klinik Nach hämatogener Streuung des Mykobakteriums kommt es zu einer lymphozytären Entzündungsreaktion der Hirnbasis, der basalen Zisternen, der Gefäße und des Rückenmarks. Das Exsudat ist makroskopisch grüngrau. In der Regel setzen die Symptome schleichend ein. Es zeigt sich oft ein Prodromalstadium mit allgemeinem Krankheitsgefühl, B-Symptomatik (Fieberschübe, Nachtschweiß, Gewichtsabnahme) und Kopfschmerzen. Frühzeitig fallen psychische Veränderungen auf. Nach etwa 1–3 Wochen folgt das meningitische Stadium mit einer zunehmenden Bewusstseinseintrübung. Fokale ischämische Infarkte (Vaskulitis) und epileptische Anfälle kommen vor. Die Entzündungsreaktion an der Hirnbasis kann zu Hirnnervenparesen (v. a. III, IV und VII) sowie Liquorabflussstörungen mit Hirndrucksteigerung und Entstehung eines Hydrocephalus occlusus führen.

Diagnostik Die Untersuchung des Liquors ( Cave: Hirndruck!) ist von entscheidender Bedeutung (→ ). Der Erregernachweis erfolgt durch eine Färbung nach ZiehlNeelsen und evtl. PCR. Im EEG liegen oft allgemeine oder herdförmige Veränderungen vor. Im CT sieht man ggf. eine Erweiterung der inneren Liquorräume mit Kontrastmittelanreicherung der basalen Zisternen, im MRT ist häufig eine Verdickung der basalen Meningen zu beobachten.

Therapie Bei typischer Befundkonstellation wird aufgrund der schlechten Prognose (nach Liquorentnahme) die Behandlung mit einer Viererkombination

(= Standardantibiotika) aus Isoniazid (INH), Rifampicin (RMP), Pyrazinamid (PZA) und Ethambutol (EMB; alternativ Streptomycin) begonnen. Bezüglich der Therapiedauer werden vier Antibiotika für 2 Monate und dann zwei Tuberkulostatika (INH, RMP) für 10 Monate empfohlen. Bei einem Fünftel der Patienten ist der Verlauf trotz Therapie letal.

Enzephalitis Die Entzündung des Hirnparenchyms kann durch einen direkten Erregerbefall, meist durch eine hämatogene Streuung des Virus, oder durch neuronalen Transport, zustande kommen. Hiervon unterschieden wird die post- oder parainfektiöse Enzephalitis, die aufgrund einer Autoimmunreaktion nach einer abgelaufenen Infektion anderer Organe entsteht. Die exakte Abgrenzung gegenüber der lymphozytären Meningitis ist häufig nicht gegeben, da viele Viren, welche die Meningen befallen, auch eine Entzündung des Hirnparenchyms verursachen (Meningoenzephalitis ) . Hier sind die bereits bei der lymphozytären Meningitis aufgeführten Erreger sowie das Herpes-simplex-Virus Typ I, FSME-Virus, HIV, VZV und Rhabdoviren zu nennen, die vorwiegend enzephalitische Symptome verursachen können.

Klinik Der Verlauf kann zweiphasig sein, häufig treten die Symptome aber aus voller Gesundheit heraus auf. Zum klinischen Bild der lymphozytären Meningitis (Allgemeinsymptome, leichtes Fieber, Kopfschmerzen) treten zentralnervöse Störungen wie Bewusstseinstrübung, Persönlichkeitsveränderung, fokale neurologische Ausfälle und epileptische Anfälle hinzu.

Diagnostik Pathologische Veränderungen im Liquor sind in den ersten Tagen häufig eine Pleozytose (< 1.000 Zellen / μl) und ein wenig erhöhtes Laktat sowie Gesamtprotein. Das EEG ist zum Krankheitsbeginn oft pathologisch. Der Erregernachweis wird mittels PCR oder Antikörpernachweis geführt. Ein sich früh entwickelndes Hirnödem kann sich im MRT zeigen. Als Differenzialdiagnosen sind ein Schlaganfall, eine Sinusvenenthrombose, ADEM, Intoxikationen (z. B. Salicylate) und Tumoren auszuschließen.

Therapie Die Behandlung erfolgt symptomatisch (z. B. Hirnödem, Hydrozephalus, epileptische Anfälle, Temperaturentgleisung, Atemstörung, Flüssigkeits- und Elektrolytausgleich etc.) unter intensivmedizinischer Überwachung. Bei Verdacht auf eine Enzephalitis durch Herpesviren (HSV, VZV) sollte so schnell wie möglich Aciclovir verabreicht werden. Die Prophylaxe durch Impfung steht bei einigen Viren (FSME, Polio, Masern, Mumps, Röteln) im Vordergrund.

Besondere Formen Herpes-simplex-Enzephalitis Hoher Durchseuchungsgrad der Bevölkerung v. a. mit HSV-1; neuronale Virusausbreitung in das ZNS; eine hämorrhagisch-nekrotisierende Entzündung entsteht im Bereich des basalen Frontal- und Temporallappens; die Entzündung weitet sich auch auf die Gegenseite aus. Neben meningitischen Symptomen zeigen sich fokale Anfälle mit oder ohne Generalisation, Wernicke-Aphasie, Geruchs- und Geschmacksstörungen u. a. Diagnostisch beweisend ist der Virusnachweis durch PCR bei Beginn der Erkrankung. Von großer Bedeutung ist das EEG, das früh Allgemeinveränderungen und oft einen Delta-Herdbefund in der Temporalregion zeigt sowie die MRT mit pathologischen Veränderungen temperobasal. Früher Therapiebeginn mit Aciclovir (bereits bei Verdacht) ist prognostisch entscheidend. Frühsommer-Meningoenzephalitis Durch Zecken übertragene (Flavivirus) Meningoenzephalitis; endemisch in Österreich, Süd- und Mitteldeutschland; zweiphasiger Krankheitsverlauf (s. o.). Verlauf häufig subklinisch; neurologische Residuen in ca. 5–10 %; Letalität: ca. 1–2 % der Fälle. Nach Krankheitsmanifestation keine spezielle Therapie; in den ersten 48 h passive Immunisierung möglich; Impfprophylaxe in Endemiegebieten. Tollwut (Syn. Rabies, Lyssa) Übertragung des Rabiesvirus (Rhabdoviridae) auf den Menschen durch Biss eines infizierten Tieres; Ausbreitung der Viren in Körper und ZNS entlang der Nervenfasern. Prodromalstadium: Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schmerzen und Parästhesien um die Bissstelle; Exzitationsstadium: motorische Unruhe, Hydrophobie, Schlundkrämpfe, Speichelfluss, Angst, Schwitzen; paralytisches Stadium: aufsteigende Lähmungen, zentrale Atem- und Kreislauflähmung. Bei Krankheitsausbruch ist keine Therapie mehr möglich; unmittelbar nach dem Biss eines verdächtigen Tieres kann die Erkrankung durch aktive und passive Immunisierung verhindert werden.

Hirnabszess Hirnabszesse sind sehr selten und hauptsächlich durch Strepto- und Staphylokokken verursacht. Prädisponierend wirken Abwehrschwäche oder angeborene Herzfehler.

Klinik und Diagnostik Die Latenz bis zur klinischen Manifestation ist unterschiedlich und kann Monate bis hin zu Jahre dauern. Die Betroffenen zeigen häufig progrediente Kopfschmerzen (70–75 %), Fieber, Erbrechen, fokale neurologische Ausfälle, Vigilanzstörungen und Hirndruckzeichen, die durch ein unterschiedlich stark ausgeprägtes Begleitödem entstehen. Diagnostisch steht die Bildgebung im Vordergrund. Im CCT und MRT stellt sich der Abszess als hypodense Struktur mit der kontrastmittelaufnehmenden Kapsel ringförmig (Kapsel fehlt oft in der Frühphase) dar (→ ).

Abb. 38.1 Hirnabszess. T1-gewichtete MRT-Aufnahme mit typischer kontrastmittelaufnehmender ringförmiger Struktur und zentraler hypointenser Einschmelzung. [M443]

Therapie Therapeutisch wird meist eine operative Abszessentfernung zusammen mit einer Antibiotikatherapie durchgeführt. Eine Abszesspunktion bei günstiger Lokalisation sollte zur Erregerisolation möglichst vor Beginn der Antibiose erfolgen, ebenso die Anlage von Blutkulturen. Die Identifikation eines möglichen Streufokus ist für den Verlauf bedeutsam. Bei fehlendem Erregernachweis bzw. Inoperabilität wird eine hoch dosierte breite Antibiotikatherapie mit Cephalosporinen der 3. Generation, Metronidazol und Vancomycin empfohlen. Differenzialdiagnostisch sind Metastasen sowie maligne Hirntumoren mit zentraler Nekrose z. B. Glioblastom zu beachten.

Slow-Virus-Erkrankungen

Slow-Virus-Erkrankungen Slow-Virus-Erkrankungen sind Infektionskrankheiten, die nach einer langen Inkubationszeit (Monate bis Jahre) einen progredienten, nicht mehr aufzuhaltenden Verlauf nehmen. Neben der SSPE (s. u.) ist die progressive Rubella-Panenzephalitis (PRP) (Reaktivierung von Röteln-Virus) eine Slow-VirusErkrankung. Der klinische Verlauf ist bei beiden ähnlich.

Subakut sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) Die SSPE ist eine Erkrankung des Kindesalters (Altersgipfel zwischen dem 9. und 11. Lj.) und manifestiert sich bei Kindern, die vor dem 2. Lebensjahr eine Maserninfektion durchgemacht haben. Sie beruht auf der Reaktivierung des persistierenden Masernvirus.

Klinik Die Erkrankung setzt langsam progredient mit psychischen Veränderungen ein. Später treten extrapyramidale Bewegungsstörungen, akustisch evozierte Myoklonien, epileptische Anfälle, Spastik und neurologische Herdsymptome bis hin zum Koma mit Todesfolge auf. Dieser Verlauf umfasst eine Zeitspanne bis zu 1 Jahr.

Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJD) Die CJD (Syn. humane spongiforme Enzephalopathie) ist eine neurodegenerative Krankheit, die vermutlich auf einer „Infektion“ durch ein Polypeptid beruht, das als „Prion“ (proteinaceous infectious agent) bezeichnet wird. Der Infektionsweg ist noch nicht geklärt. Es werden eine sporadische, eine familiäre und eine iatrogene Form unterschieden. Die Inzidenz beträgt 1 / 1 000 000 Einwohner pro Jahr. Das pathologische Prion lagert sich an das physiologische, in Nervenzellmembranen vorkommende Prionprotein an und verändert dessen Konfiguration. Es kann so nicht mehr abgebaut werden und kumuliert, bis die Zelle untergeht. Morphologisch zeigt sich eine spongiöse Degeneration der grauen Substanz.

Klinik Die Patienten berichten zunächst von Schlafstörungen, Ermüdbarkeit und Inappetenz, die von einem rasch fortschreitenden demenziellen Prozess begleitet werden. Es kommen Visusstörungen, Dysarthrie, Tremor, Pyramidenbahnzeichen, choreoathetotische Hyperkinesien, Gangstörungen mit Fallneigung und Myoklonien hinzu. Innerhalb von 1 Jahr tritt der Tod ein. Im EEG finden sich typischerweise bilateral synchrone, rhythmische, triphasische Sharp-waveKomplexe (Radermecker-Komplexe; → ).

Abb. 38.2

Charakteristischer Radermecker-Komplex bei Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung [L141]

Infektionen durch Spirochäten Neuroborreliose Die Lyme-Borreliose wird durch die von Zecken (Ixodes ricinus) übertragene Spirochäte Borrelia burgdorferi verursacht. Das klinische Bild ist durch einen Befall verschiedener Systeme (ZNS, Herz und Kreislauf, Gelenke, Haut u. a.) sehr variabel: Primärstadium (Tage bis Wochen) Das charakteristische Erythema chronicum migrans, eine rötliche, makulopapulöse Effloreszenz mit ringförmiger Ausbreitung und zentraler Abblassung, tritt bei 25 % der Patienten auf. Bei systemischer Manifestation kann es zu grippeähnlichen Symptomen (Fieber, Kopfschmerz, Arthralgien etc.) mit generalisierter Lymphknotenschwellung kommen. Sekundärstadium (Wochen bis Monate) Neben der systemischen Beteiligung treten neurologische Symptome auf. Die Polyradikuloneuritis Bannwarth geht mit einer lymphozytären Meningitis, sehr starken radikulären Schmerzen sowie peripheren Paresen und Hirnnervenausfällen (v. a. VII) einher. Eine bilaterale Fazialisparese ist für die Neuroborreliose typisch. Tertiärstadium (nach > 12 Monaten) Eine chronisch-progrediente Enzephalomyelitis

zeigt

sich

mit

spastischen

Paresen,

Hirnnervenausfällen,

fokalen

epileptischen

Krämpfen,

Querschnittsmyelitiden u. a. Daneben ist die Acrodermatitis atrophicans Herxheimer charakteristisch. Diagnostisch ist die serologische Untersuchung des Liquors von Bedeutung. Es zeigen sich Entzündungszeichen (z. B. lymphozytäre Pleozytose, Eiweißerhöhung), ein positiver Borrelientiter, ein IgG-Titer-Anstieg oder IgM. Das erste Stadium wird mit Doxycyclin behandelt, in den anderen Stadien werden Penicillin G oder Cephalosporine gegeben. Die Existenz eines Post-Borreliose-Syndroms (Post-Lyme-Disease-Syndrom) mit unspezifischer Symptomatik, z. B. chronische Müdigkeit, diffuse Schmerzen ohne Ansprechen auf antibiotische Therapie, wird kontrovers diskutiert.

Neurolues (Syn: Neurosyphilis) Der Erreger Treponema pallidum wird sexuell übertragen. Der Befall der unterschiedlichen Organe bietet eine vielfältige klinische Präsentation. Im Folgenden wird die neurologische Manifestation der Lues dargestellt, die sich nach hämatogener Streuung der Treponemen ab dem zweiten Stadium nach ca. 2 Monaten einstellen kann. Primärstadium Klinisch zeigen sich eine ulzerierende Papel am Infektionsort und eine Schwellung der regionalen Lymphknoten. Sekundärstadium In einem Drittel der Fälle ist durch eine Reizung der Hirnhäute die frühluetische Meningitis (Basalmeningitis) zu beobachten. Der Verlauf ist meist symptomarm und geht selten mit Ausfällen der Hirnnerven II, III, VI und VIII einher. Tertiärstadium > 2 Jahre: Granulomatöse Entzündungen (Gummen) der Meningen und Gefäße von Hirn und Rückenmark stehen im Vordergrund, eine Meningitis im Bereich der Hirnbasis mit fluktuierenden Hirnnervenausfällen kann entstehen. Entzündungsbedingte Polyradikulopathie oder ischämische Infarkte des Hirnparenchyms und Rückenmarks als Folge der Vaskulitis sind weitere zerebrovaskuläre Symptome. Quartärstadium Nach 5–20 Jahren: Dieses Stadium ist letztendlich durch eine entzündliche Mitbeteiligung von Hirnparenchym und Rückenmark gekennzeichnet: 1. Progressive Paralyse: chronische Enzephalitis des Frontallappens mit Demenz, Dysarthrie, Pyramidenbahnzeichen, Pupillenstarre Argyll-Robertson (fehlende direkte und indirekte Lichtreaktion bei erhaltener Konvergenzreaktion; pathognomonisch) und epileptischen Anfällen 2. Tabes dorsalis: chronische Degeneration der Hinterstränge sowie Hinterwurzeln mit anfallsartigen lanzinierenden Schmerzen, Sensibilitätsstörungen, sensibler Ataxie, Erlöschen der MER und Pupillenstarre Argyll-Robertson Diagnostisch werden serologische Tests durchgeführt (→ ). Außerdem zeigt sich im Liquor die entzündliche Reaktion (lymphozytäre Pleozytose, Eiweißerhöhung, oligoklonale Banden). Eine Hochdosistherapie mit Penicillin G i. v. über 2 Wochen ist die Behandlung der Wahl in jedem Stadium. Als Therapie der zweiten Wahl wird Ceftriaxon empfohlen. Bei Therapiebeginn bis zum Sekundärstadium ist die Prognose gut. In den späteren Stadien können Residualsymptome verbleiben, aber das Fortschreiten der Krankheit wird verhindert.

Tab. 38.4

Serologische Untersuchungen von Serum und Liquor bei Verdacht auf Lues

TPHA-Test

Suchtest

FTA-ABS-Test

Bestätigung eines stattgefundenen Kontakts mit Treponema pallidum

VDRL-Test (Kardiolipin-Test)

Zeichen der Krankheitsaktivität (nicht treponemenspezifisch)

19-S-IgM-FTA-ABS-Test

Treponemenspezifisches Zeichen einer frischen oder floriden Infektion

Herpes Zoster Der Herpes Zoster ist die häufigste entzündliche Erkrankung des peripheren Nervensystems. Die Erstinfektion mit dem Varicella-Zoster-Virus (Herpesviridae) erfolgt meist im Kindesalter aerogen und zeigt sich klinisch als Windpocken. Das Virus persistiert in den Spinalganglien und wird nach einer Zweitinfektion oder bei Abwehrschwäche reaktiviert. Die Erkrankung beginnt mit einem allgemeinen Krankheitsgefühl und brennenden Schmerzen eines Hautareals, das nach ca. 3 Tagen meist einseitig typische dermatomabhängige bläschenförmige Effloreszenzen (→ ) und Neuralgien aufweist. Die Bläschen sind kontagiös, bis sie verschorfen und abfallen. Bei älteren Menschen können die Zoster-Schmerzen mehrere Jahre lang persistieren und sind schwer medikamentös zu behandeln. Der Befall eines thorakalen Segments (Gürtelrose) ist am häufigsten. Beim Zoster ophthalmicus können im Versorgungsgebiet des 1. Trigeminusasts neben der Haut auch die Konjunktiven, die Hornhaut oder der Sehnerv entzündlich beteiligt sein. Über den N. intermedius (VII) können beim Zoster oticus das Ohr (Trommelfell, Ohrmuschel) und angrenzende Bereiche befallen sein. Die Therapie besteht in der Gabe von Aciclovir i. v. und evtl. Kortikosteroiden gegen die Zosterneuralgie.

Abb. 38.3

Herpes Zoster [E384]

Infektionen bei Immunsuppression Die Schwächung des Abwehrsystems führt zu Erkrankungen mit opportunistischen Keimen (z. B. CMV-Enzephalitis) sowie zu Pilzinfektionen (z. B. Kryptokokkose). Durch die Immunsuppression sind die klinischen Zeichen der Inflammation häufig vermindert und erschweren somit die Diagnosestellung.

HIV-Infektion Das HIV (human immunodeficiency virus) wird durch Geschlechtsverkehr oder direkten Kontakt mit infiziertem Blut übertragen. Die Abwehrschwäche verursacht dieses Retrovirus durch eine Störung der Funktion von Zellen mit dem CD4-Oberflächenantigen (z. B. T-Helferzellen, Makrophagen, Monozyten). Die ZNS-Beteiligung kann zu jedem Zeitpunkt nach der Infektion auftreten und ist sehr vielgestaltig. Die akute Infektion verläuft gewöhnlich symptomlos oder mononukleoseähnlich. Der weitere Krankheitsverlauf ist unterschiedlich. Die Infektion kann über mehrere Jahre stumm oder mit extraneuronalen Symptomen einhergehen. Etwa ein Fünftel der HIV-positiven Patienten entwickeln einen AIDS-DemenzKomplex – eine subakute bis chronische Enzephalopathie, die mit einer progredienten Demenz, psychischer Veränderung, Paresen, Myoklonien und Rückenmarksbeteiligung einhergehen kann. Weitere Manifestationsarten können eine chronisch lymphozytäre Meningitis oder eine periphere Neuropathie wie z. B. Mononeuritis multiplex oder Guillain-Barré-Syndrom sein. Auch intrakranielle Raumforderungen, zerebrovaskuläre Störungen und opportunistische Infektionen kommen vor. Die im Folgenden dargestellten Infektionskrankheiten treten ebenfalls bei HIV-Infektion und AIDS auf.

Toxoplasmose Der Parasit Toxoplasma gondii kann durch Lebensmittel, die mit Katzenkot verunreinigt sind, auf den Menschen übertragen werden. Bei einer Erstinfektion während der Schwangerschaft kann es zu Aborten, Totgeburten, Hydrozephalus, Chorioretinitis und intrazerebralen Verkalkungen des Kindes kommen. Erfolgt die Infektion postnatal, verläuft sie bei Immunkompetenten i. d. R. symptomlos. Bei abwehrgeschwächten Patienten entstehen entzündliche Reaktionen in Gehirn, Herz- und Skelettmuskulatur und anderen Organen. Eine diffuse Enzephalitis bzw. eine Meningoenzephalitis mit multifokalen Entzündungsherden des ZNS führen zu Bewusstseinstrübung, Kopfschmerzen, epileptischen Anfällen, fokalen neurologischen Ausfällen u. a. Die Diagnose kann durch serologische Untersuchungen und im CCT (hypodense Raumforderungen mit ringförmiger Kontrastmittelaufnahme, → ) gesichert werden. Symptomatische Infektionen und Erstinfektionen von Schwangeren werden mit einer Kombination aus Pyrimethamin mit Sulfadiazin oder Clindamycin therapiert.

Abb. 38.4

Toxoplasmose bei HIV: a) Älterer, bereits demarkierter Herd. b) Durch die Kontrastmittelgabe stellen sich frische Herde dar. [E483]

Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) Bei der PML handelt es sich um eine durch das JC-Virus hervorgerufene Erkrankung, die nahezu ausschließlich bei Immunsupprimierten auftritt. Das zur Familie der Polyomaviren gehörende JC-Virus verursacht eine Degeneration der Myelinscheiden (Oligodendrozyten) des zentralen Nervensystems. Die Demyelinisierungsherde stellen sich in der cMRT bihemisphärisch, typischerweise im Verlauf flächig konfluierend dar. Die Symptomatik richtet sich nach der Lokalisation der Herde. Die Patienten sind häufig verwirrt, werden zunehmend dement und weisen fokal neurologische Defizite, wie z. B. Sehstörungen, zerebelläre Ataxie, extrapyramidal motorische Störungen, Aphasie etc. auf. Die Diagnose erfolgt durch Nachweis von Virus-DNA im Liquor (PCR) oder nach einer Hirnbiopsie. Eine wirksame medikamentöse Therapie ist nicht bekannt. Allgemeinmaßnahmen sowie eine Stärkung des Immunsystems stehen im Vordergrund. Die Prognose ist schlecht. Die PML verläuft i. d. R. rasch progredient meist mit letalem Ausgang innerhalb von 1–2 Jahren.

Weitere opportunistische Infektionen Systemische Pilzinfektionen wie z. B. die durch Cryptococcus neoformans (Hefe) verursachte Meningoenzephalitis wird mit einer Kombination aus Amphotericin B und Flucytosin therapiert. Eine klinische Manifestation des Zytomegalievirus (CMV) äußert sich durch eine diffuse Entzündung von ZNS, Gastrointestinaltrakt, Lunge und Leber, wobei die Prognose einer manifesten Erkrankung trotz einer Therapie schlecht ist.

Zusammenfassung • Die bakterielle Meningitis stellt einen medizinischen Notfall dar. • Eine bakterielle Meningitis verläuft meist akut mit starken Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, Übelkeit, Erbrechen, hohem Fieber und Lichtempfindlichkeit. Unmittelbar nach der Liquorpunktion ist eine kalkulierte Antibiotikatherapie zu beginnen. • Die akute lymphozytäre Meningitis beruht hauptsächlich auf einer Infektion durch Viren (v. a. Enteroviren) und hat i. d. R. einen weniger schweren Verlauf als die bakterielle Meningitis. • Die tuberkulöse Meningitis verläuft chronisch mit einem Prodromalstadium (Allgemein- und B-Symptomatik) und einem meningitischen Stadium. • Bei Verdacht auf eine tuberkulöse Meningitis wird nach Lumbalpunktion die Therapie mit einer Viererkombination von Tuberkulostatika begonnen. • Die Symptome einer Enzephalitis setzen meist aus voller Gesundheit heraus ein. Neben meningitischen Symptomen bestehen auch fokal neurologische Symptome und eine Bewusstseinsstörung. • Bei einer Enzephalitis ist das EEG bereits im Anfangsstadium pathologisch. • Aufgrund systemischer Erregerstreuung bieten die Neuroborreliose und die Neurolues ein sehr vielfältiges klinisches Bild mit neurologischer Manifestation ab dem zweiten Stadium. • Die häufigste Entzündung des peripheren Nervensystems ist der Herpes Zoster. • Die neurologische Beteiligung bei einer HIV-Infektion kann unterschiedliche Strukturen des Nervensystems betreffen.

Pathologie des Rückenmarks und Peripheren Nervensystems

39

Spinale Syndrome Eine traumatische Schädigung des Rückenmarks ist bei Jugendlichen die häufigste Ursache für eine Wirbelsäulenerkrankung. Die Mehrzahl der Rückenmarkserkrankungen geht eher mit radikulären Schmerzen (→ ) als mit spinalen Syndromen einher.

Klinik Das klinische Bild einer Rückenmarksläsion wird zum einen von der Segmenthöhe der Schädigung, zum anderen vom Ausmaß der betroffenen auf- und absteigenden Bahnen bestimmt. Die Symptome manifestieren sich kaudal der Läsion.

Läsion einzelner Rückenmarksbahnen Pyramidenbahnläsion Tractus corticospinalis lateralis und anterior: z. B. spastische Spinalparalyse, primäre Lateralsklerose; Bild einer spastischen Parese unterhalb der Läsion mit Minderung der Kraft und Feinmotorik, Steigerung der Muskeleigenreflexe (MER), verbreiterte Reflexzonen, Kloni und Pyramidenbahnzeichen (Babinski-, Gordon-, Oppenheim- und Strümpell-Zeichen). Oft einhergehend mit Blasen-, Mastdarm- und Potenzstörungen. Hinterstrangläsion Funiculus posterior, Tractus spinobulbaris: z. B. Tabes dorsalis, funikuläre Myelose; sensible Ataxie (Stand- und Gangunsicherheit, positiver RombergStehversuch, Lhermitte-Zeichen positiv = bei Nackenbeugung Elektrisieren entlang dem Rücken), unterhalb der Läsion Beeinträchtigung von Lagesinn und Vibrationsempfinden, Berührungsempfindlichkeit, außerdem Störung der Zwei-Punkt-Diskrimination.

Spezielle Syndrome Querschnittssyndrom Schädigung des Rückenmarks oder der Cauda equina, deren häufigste Ursache ein Trauma ist (→ ). Weitere Ursachen sind u. a. Entzündungen (z. B. Multiple Sklerose, Myelitis), spinale Ischämie oder Blutung, spinale Tumoren oder ein Bandscheibenvorfall. Aus der Unterbrechung der Rückenmarksbahnen resultiert eine Kombination verschiedener Symptome, wobei eine komplette von einer inkompletten Querschnittslähmung unterschieden wird. Klinisch zeigen sich Paresen / Plegie, Muskeltonusveränderungen, Sensibilitätsstörungen und / oder vegetative Störungen. Beim Querschnittssyndrom oberhalb von HWK 4 kann eine Atemlähmung auftreten. Nach der akuten Phase (spinaler Schock) über Wochen bis Monate mit schlaffen Lähmungen, Areflexie, Sensibilitätsausfall unterhalb des betroffenen Segments, Kontrollverlust über Blase und Mastdarm sowie vegetativer Dysregulation (z. B. Kreislaufstörung, Anhidrose) folgt ein chronisches Stadium mit u. a. spastischer Muskeltonuserhöhung, gesteigerten MER, positiven Pyramidenbahnzeichen (z. B. Babinski), Sensibilitätsstörungen und autonomer spinaler Regulation (z. B. reflektorische Blasen- und Darmentleerung), die Muskel- und Gelenkkontrakturen fördert. Brown-Séquard-Syndrom Es ist in seiner reinen Form ein sehr selten vorkommendes Syndrom, bei dem die Verletzung des Rückenmarks halbseitig ist (z. B. als Folge eines Abszesses) (→ ). Inkomplette Halbseitenläsionen sind weitaus häufiger. Symptomatisch liegen ipsilateral unterhalb der Läsion eine spastische Parese und Ausfall der Tiefensensibilität und des Vibrationssinns vor. Kontralateral sind Schmerz- und Temperatursinn aufgehoben (dissoziierte Sensibilitätsstörung). Zentromedulläres Syndrom Die Läsion ist im Bereich des Zentralkanals lokalisiert und erzeugt eine beidseitige segmentale dissoziierte Sensibilitätsstörung (beidseitig ausgefallener Schmerz- und Temperatursinn bei beidseits erhaltener Berührungsempfindung und Tiefensensibilität) (→ ). Es entwickelt sich distal der Läsion eine spastische Parese mit Miktionsstörungen. Auf Läsionshöhe besteht beim Querschnittssyndrom, beim Brown-Séquard-Syndrom und beim zentromedullären Syndrom eine schlaffe, atrophische Parese mit abgeschwächten MER. Konus-Syndrom Eine Schädigung des am weitesten kaudal liegenden Teils des Rückenmarks (Conus medullaris) auf Höhe von ca. LWK 1 / 2 betrifft die Nervenwurzeln S3 – S5 und führt meist zum Bild einer peripher-neurogenen beidseitigen Störung. Ursachen können z. B. eine Kompression durch Bandscheibenvorfälle oder einen Tumor sein, im Rahmen einer Spina bifida oder Tethered-cord-Syndrom auftreten. Klinisch zeigt sich typischerweise eine „Reithosenanästhesie“ (symmetrische Sensibilitätsstörung, Innenseite der Oberschenkel, Genital-und Anusregion), eine Stuhl- und Harninkontinenz, Ausfall des Analreflexes sowie eine Störung der Sexualfunktion. Eine Parese besteht typischerweise nicht. Ein isoliertes Vorkommen ist sehr selten. Meist ist die Cauda equina des Rückenmarks beteiligt (Konus-Kauda-Syndrom). Kauda-Syndrom ( → ) Zugrunde liegt eine Schädigung von Nervenwurzeln im Wirbelkanal unterhalb von LWK 3. Ausgedehnte Bandscheibenvorfälle sind die häufigste Ursache für diese Läsion der Cauda equina. Es gibt viele weitere Ursachen, z. B. ein Trauma, Metastasen, Druckschädigung durch Spondylose, Abszesse, Infektionen (Borrelien, HIV, Tuberkulose, VZVu. a.), paraneoplastisch sowie autoimmun entzündlich. Es zeigt sich klinisch i. d. R. ein asymmetrisches Symptombild mit schlaffen Paresen an den Beinen, abgeschwächten oder erloschenen MER (peripher neurogene Störung), eine Urin-und Darmentleerungsstörung (Verhalt oder auch Inkontinenz), Sexualfunktionsstörung, radikuläre Sensibilitätsstörung an den Beinen und ggf. Rückenschmerzen mit radikulärer Ausstrahlung. Ein wichtiges Warnsymptom ist Harnverhalt und sollte unmittelbar zur Vorstellung beim Arzt bei der Notaufnahme führen.

Pathomechanismen Traumatische Rückenmarksläsionen Lassen sich analog zum SHT (→ ) in eine Commotio, Contusio oder Compressio spinalis gliedern, die unterschiedlich stark ausgeprägte Querschnittssymptome zeigen. Gefäßbedingte Störungen Durchblutungsstörungen, Thrombose, Malformation oder Kompression der A. spinalis anterior schädigen das Rückenmark ischämisch (Arteria-spinalisanterior-Syndrom) (→ ). Die Segmente Th8 – Th11 sind am häufigsten betroffen. Bei einem akuten Verschluss setzt die Symptomatik schlagartig bilateral unterhalb der Läsion oder segmental ein und entspricht der des akuten Querschnittssyndroms. Da die Hinterstrangbahnen nicht betroffen sind, bleiben allerdings Berührungs- und Tiefensensibilität erhalten. Häufig treten auf Höhe der Läsion gürtelförmige Schmerzen und Parästhesien auf. Verläuft die ischämische Rückenmarksschädigung z. B. aufgrund von Durchblutungsstörungen chronisch, können Prodromi wie die Claudicatio intermittens spinalis oder

radikuläre Parästhesien bzw. Paresen den Infarkt lange Zeit vorher ankündigen. Entzündung oder Infektion des Rückenmarks Diese sog. „Myelitis“ beruht auf unterschiedlichsten ätiopathogenetischen Mechanismen. Sehr häufig tritt eine Myelitis im Rahmen einer chronischentzündlichen ZNS-Erkrankung (z. B. Multiple Sklerose) auf. Selten können weitere autoimmunologische Prozesse (z. B. SLE, Sjörgren-Syndrom) Ursache sein. Unterschiedliche Viren, z. B. Masern, Mumps und die Viren der Herpesgruppe, können eine akute Myelitis verursachen. Rückenmarkstumoren Man unterteilt sie in extramedulläre (Metastasen, Neurinome, Meningeome) und intramedulläre (Ependymom, Astrozytom). Am häufigsten sind Metastasen z. B. eines Primärkarzinoms der Mamma, Bronchien oder Prostata, die in den Spinalkanal einwachsen. Maligne Neoplasien manifestieren sich neben neurologischen Ausfällen häufig durch Schmerzen, wohingegen benigne Tumoren häufig schmerzlos sind und durch die langsam-progrediente neurologische Symptomatik auffallen. Degenerative Veränderungen der Bandscheiben Sie können je nach Lokalisation und Ausdehnung unterschiedlich starke Schmerzen und spinale Symptome hervorrufen (→ ). Des Weiteren spielen eine Schwächung des Bandapparats und eine Spondylolisthesis eine Rolle. Syringomyelie Sie wird zu den dysrhaphischen Erkrankungen gezählt und ist durch zentrale, flüssigkeitsgefüllte Höhlenbildung (→ ) charakterisiert. Diese Höhlen (Syrinx) erstrecken sich meist über mehrere Segmente und können bis in die Medulla oblongata reichen (Syringobulbie). Neben der kongenitalen Syringomyelie gibt es auch die sekundäre Form, bei der sich die Höhlen z. B. nach einem Trauma oder einer Entzündung ausbilden. Prädilektionsstellen sind das Zervikal- und das Thorakalmark. Je nach Lage und Ausdehnung der Syrinx zeigen sich unterschiedliche klinische Symptome (z. B. starke brennende oder dumpfe Schmerzen im Bereich von Kopf, Schulter, Nacken oder Extremitäten, Sensibilitätsstörungen, Paresen, Muskelkrämpfe, Inkontinenz von Blase und Darm, Dysphagie, Dysarthrie etc.). Therapeutisch stehen die Ursachenbehandlung und Symptomlinderung (z. B. Schmerztherapie, Physiotherapie) im Vordergrund. In manchen Fällen ist zur Dekompression von umliegendem Gewebe eine operative Abflussmöglichkeit (Shunt) sinnvoll. Oft ist das Ziel hierbei eine Symptommilderung, und bereits aufgetretene motorische und sensible Ausfälle sind i. d. R. nicht reversibel.

Abb. 39.1

Thorakale Höhlenbildung bei Syringomyelie im MRT (Pfeilspitze) [G184]

Funikuläre Myelose

Die Folge eines chronischen Vitamin-B 12 -Mangels gehört zu den Entmarkungskrankheiten, wobei nach Untergang der Myelinscheiden eine Degeneration der Hinterstränge und der Kleinhirnseitenstrangbahnen folgt. Betroffen ist insbesondere der Hals-Brust-Bereich des Rückenmarks mit Affektion v. a. der unteren Extremitäten. Dies äußert sich anfangs in brennenden Parästhesien und Schmerzen besonders an den Füßen (evtl. auch Händen), die sich im Verlauf ausbreiten. Eine Störung der Berührungsempfindung, des Vibrationssinns und Lagesinns führt zur sensiblen Ataxie mit Gangunsicherheit und im Verlauf leichten Paresen bei abgeschwächten MER. Im Spätstadium entwickelt sich durch Beteiligung der Pyramidenbahn eine spastische Parese (gesteigerte Muskeleigenreflexe, positive Pyramidenbahnzeichen). Hirnnerven sind selten betroffen. Weitere Symptome sind Zungenbrennen und Zungenatrophie (Hunter-Glossitis), Libidound Potenzstörungen bei Männern sowie psychische Störungen (Reizbarkeit, Depression, Abgeschlagenheit, Konzentrationsstörungen, Delir etc.). Daneben bestehen auch gastrointestinale Störungen (z. B. atrophische Gastritis, Magenschmerzen, Diarrhö, Obstipation, mukokutane Ulzera). Diagnostisch ist eine hyperchrome megaloblastäre Anämie (später Indikator des Vitamin-B 1 2 -Mangels) wegweisend. Im cMRT zeigt sich in der T2-Wichtung eine hyperintense Signalanhebung der Hinterstränge und des subkortikalen periventrikulären Marklagers. Laborchemisch ist ein erniedrigter Serumspiegel von HoloTranscobalamin ein sehr früher Marker des beginnenden Vitamin-B 1 2 -Mangels. Weiterer Blutmarker ist neben einem erniedrigten Vitamin-B 1 2 -Spiegel im Serum ein erhöhter Spiegel von Methylmalonsäure oder Homocystein. Therapeutisch ist initial wegen der Unabhängigkeit von einer enteralen Resorption eine parenterale intramuskuläre Vitamin-B 1 2 -Substitution notwendig, je nach Ursache auch dauerhaft. Wichtig ist bei Behandlungsbeginn eine Kombination mit Folsäure. Prognostisch ist eine möglichst frühe Diagnose und Substitution entscheidend. Die sensiblen Defizite bilden sich schneller zurück als die motorischen, wobei bei ca. der Hälfte der Betroffenen Residualsymptome bleiben. Friedreich-Ataxie Ein autosomal-rezessiv vererbter Defekt an Chromosom 9 führt zu einer Degeneration der Hinterstränge und der spinozerebellären Bahnen unter Beteiligung der Pyramidenbahn. Die Erkrankung manifestiert sich bereits im Kindes- und Jugendalter durch eine progrediente Gangataxie und Parästhesien. Im Verlauf entwickeln sich die charakteristische Hohlfußdeformität mit Krallenstellung der Zehen, eine zerebelläre Ataxie, Abschwächung der MER und Muskelatrophien.

Diagnostik Besteht der Verdacht auf eine Rückenmarksschädigung, ist ein schnelles diagnostisches Vorgehen dringend erforderlich, um ggf. eine rasche chirurgische Dekompression und Einleitung einer adäquaten Therapie vorzunehmen. Bei vielen Differenzialdiagnosen ist ein frühestmöglicher Therapiebeginn für den Verlauf entscheidend. Neben einer symptomorientierten Anamnese, der Labordiagnostik und neurologischen Untersuchung ist die MRT (evtl. mit Kontrastmittelgabe) zur Darstellung vermuteter Weichteilläsionen unverzichtbar. Bei Verdacht auf knöcherne Läsionen ist eine CT vorzuziehen.

Therapie Treten neue oder rasch progrediente Symptome einer spinalen Schädigung auf, stellt dies eine Notfallsituation dar. Die Rückbildungsfähigkeit bereits eingetretener funktioneller Ausfälle hängt oft stark mit der Zeitspanne bis zum Einsetzen der adäquaten Therapie ab. Jede Wirbelsäulenverletzung ist primär als instabil anzusehen. Der Patient sollte so wenig wie möglich bewegt und die Wirbelsäule sollte stabilisiert werden. Die Akuttherapie einer Querschnittssymptomatik erfolgt auf einer Intensivstation. So bald wie möglich schließen sich das Training bestimmter Funktionen und die Rehabilitation an.

Zusammenfassung • Die Frühphase des spinalen Schocks ist gekennzeichnet durch schlaffe Paresen, erloschene Muskeleigenreflexe, Blasen- und Mastdarmstörung sowie Sensibilitätsausfall unterhalb des Läsionsorts. In der Spätphase zeigen sich ein spastisches Bild, gesteigerte Muskeleigenreflexe, pathologische Reflexe, Sensibilitätsstörungen und spinale Automatismen. • Das Konus-Syndrom umfasst im Gegensatz zum Kauda-Syndrom keine Beinparese. • Zur Diagnostik gehören Anamnese, neurologische Untersuchung, Labor und MRT (evtl. mit Kontrastmittelgabe) und CT bei Verdacht auf knöcherne Läsionen. • Neu eingetretene oder rasch progrediente Symptome einer spinalen Läsion sind eine Notfallsituation.

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Spinale Wurzelkompressionssyndrome Spinale Wurzelkompressionssyndrome (radikuläre Syndrome) entstehen durch Schädigung des aus dem Rückenmark austretenden Spinalnervs und sind charakterisiert durch Schmerzen und Sensibilitätsstörungen in dem zugehörigen Dermatom. Je nach Ausmaß der Verletzung treten Reflexabschwächung und Muskellähmung hinzu. Kommt es zu einer raschen Schmerzminderung, deutet dies entweder auf eine Entlastung der Nervenwurzel oder auf einen Wurzeltod hin.

Ätiologie Die Verletzung des Spinalnervs kommt in erster Linie durch dessen Kompression bei raumfordernden Prozessen zustande. Einige Ursachen für monoradikuläre Ausfälle sind Wirbelkörperfrakturen oder ein HWS-Schleudertrauma mit traumatischer Wurzelschädigung, Entzündungen wie z. B. Herpes Zoster, Neoplasien (z. B. Metastasen, Neurinome, Meningeome) oder Nervenirritationen im Rahmen degenerativer Prozesse des Knochen-BandscheibenBandsystems der Wirbelsäule (z. B. Spondylarthrose, Arthritiden aus dem rheumatischen Formenkreis, Spinalkanalstenose). Zu den Letztgenannten zählen auch die Bandscheibenvorfälle (Syn. Diskushernien), die mit einer Inzidenz von 150 / 100 000 Einwohnern die weitaus häufigste Ursache der Radikulopathie darstellen.

Polyradikulopathie Sie bezieht mehr als eine Wurzel ein und stellt eher ein Zeichen für eine ausgedehnte Entzündung der Spinalnerven (z. B. Guillain-Barré-Syndrom, Neuroborreliose), eine Entzündung der Meningen oder maligne Vorgänge des Liquors (Carcinomatosis spinalis) dar als für einen raumfordernden Prozess.

Klinik Das klinische Bild ausgewählter Wurzelschäden mit der dermatombezogenen typischen Schmerzausstrahlung und Sensibilitätsstörung sowie Parese und evtl. Atrophie des Kennmuskels wird in → erläutert.

Tab. 40.1

Zervikale und lumbale Nervenwurzelsyndrome

Betroffene Sensibilitätsstörungen und Nervenwurzel Schmerzen

Schmerzen

Paresen / Atrophien

Funktionsausfall bzw. Reflexabschwächung / Schwäche ausfall

C5

Bereich des M. deltoideus

Ausstrahlung Oberarmaußenseite und zwischen die Schulterblätter

M. deltoideus M. biceps brachii

Abduktion im Schultergelenk zwischen 30° und 90° Armbeugung

Bizepssehnenreflex (BSR)

C6

Radialseite des Unterarms

Lateraler Oberarm, Ausstrahlung bis in Daumen

M. biceps brachii M. brachioradialis

Armbeugung

Bizepssehnenreflex (BSR)

C7

Streifenförmig Dorsalseite des Unterarms bis Mittelfinger und angrenzende halbe Finger

Dorsaler Ober- und Unterarm

M. triceps brachii

Unterarmstreckung

Trizepssehnenreflex (TSR)

C8

Ulnarseite des Unterarms, bis in kleinen Finger und halben Ringfinger

Medialer Ober- und Unterarm

Kleine Handmuskeln, insbesondere Muskeln des Hypothenars

Abduktion des kleinen Fingers

Trizepssehnenreflex (TSR), Trömner

L3

Vom Gesäß quer über die Oberschenkelvorderseite zur medialen Knieseite

Oberschenkelvorderseite Positives umgekehrtes Lasègue-Zeichen

M. quadriceps femoris Häufig Adduktoren

Streckung im Kniegelenk Adduktion im Hüftgelenk

Patellarsehnenreflex (PSR) Adduktorenreflex

L4

Von der lateralen Oberschenkelvorderseite über die Patella zur Unterschenkelbeinkante

Oberschenkelvorderseite Positives umgekehrtes Lasègue-Zeichen

M. quadriceps femoris M. tibialis anterior

Streckung im Kniegelenk Heben des Fußes

Patellarsehnenreflex (PSR)

L5

Vom Gesäß über Außenseite des Oberschenkels, Schienbeinkante und Fußrücken bis in Großzehe

Oberschenkel- und Unterschenkelaußenseite bis in Fußgelenk Positives Lasègue-Zeichen

M. extensor hallucis longus Mm. tibialis anterior und posterior Mm. glutei medius und minimus

Heben der Großzehe und des Fußes Supination Hüftabduktion

Tibialis-posteriorReflex (TPR)

S1

Vom dorsalen Oberschenkel über den dorsolateralen Unterschenkel zur Fußaußenseite

Dorsaler Unterschenkel Positives Lasègue-Zeichen

Mm. peronei M. triceps surae M. gluteus maximus Ischiokrurale Muskulatur (z. B. M. biceps femoris)

Heben des Fußaußenrands Senken des Fußes Hüftstreckung Beugung im Knie

Achillessehnenreflex (ASR)

Häufige Formen

Bandscheibenvorfall Berufe mit vorwiegend sitzender Tätigkeit, Übergewicht, Spondylolisthesis, Spinalkanalenge und vorausgegangene Schwangerschaft sind prädisponierende Faktoren für Bandscheibenvorfälle. Zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr besteht ein Häufigkeitsgipfel. Es sind mehr Männer als Frauen betroffen.

Pathogenese Durch eine fortwährende Abnahme des Wassergehalts der Zwischenwirbelkörper kommt es mit zunehmendem Alter zu progredienten degenerativen Prozessen, die zu einem Elastizitätsverlust der Bandscheiben führen. Es entstehen Risse im Anulus fibrosus, dem knorpeligen Faserring, der den weichen gallertigen Kern (Nucleus pulposus) umgibt. In diese Risse wölbt sich der Nucleus pulposus besonders bei Druck (z. B. Heben schwerer Lasten) vor und drängt sie auseinander. Bleibt die äußere Begrenzung des Anulus bestehen, so spricht man von einer „Protrusio“ (Vorwölbung), bei Durchbrechen des Faserrings von einem „Prolaps“ (Vorfall). Es können sich auch Teile der Bandscheibe abspalten, die als „Sequester“ bezeichnet werden.

Klinik Bandscheibenvorfälle sind im lumbosakralen Wirbelsäulenbereich etwa 10-mal häufiger als im zervikalen Bereich und sehr selten thorakal lokalisiert. Man kann mediolaterale und laterale Bandscheibenvorfälle (Gewebe tritt zur Seite aus) von medialen Bandscheibenvorfällen (Gewebe tritt in die Mitte des Wirbelsäulenkanals aus) unterscheiden. Mediale Bandscheibenvorfälle reizen eher die Wurzel, die auf gleicher Höhe abgeht (z. B. LWK5 / SWK1 S1), laterale Bandscheibenvorfälle reizen eher die Wurzel, die ein Segment darüber abgeht (z. B. LWK5 / SWK1 L5). Die hauptsächlich betroffenen Wurzeln sind C6, C7, L5 und S1 (→ ). Eine Auslösesituation, z. B. eine abrupte Bewegung, ist häufig.

Abb. 40.1

Topografie von Bandscheibenvorfällen [L106]

Druckerhöhung z. B. durch Pressen oder Husten verstärkt die Symptome. Zervikale Diskushernie Eine Wurzelirritation aufgrund von Degeneration im Sinne einer Spondylarthose tritt hier öfter auf als eine akute traumatisch bedingte Wurzelschädigung wie bei der lumbalen Lokalisation. Ein medialer Vorfall (→ ) kann das Rückenmark komprimieren und spinale Symptome (Symptome einer Hinterstrangläsion, spastische Parese etc.) hervorrufen (→ ). Ein mediolateraler Vorfall kann akut Nacken- und einseitige Armschmerzen aufweisen, die sich nach Stunden bis Tagen ins Versorgungsgebiet der geschädigten Wurzel verlagern können. Hinzu kommen je nach Verletzungsgrad neurologische Störungen wie Sensibilitätsausfälle, Paresen, Reflexabschwächung und evtl. Muskelatrophien. Zusätzlich sind Muskelverspannung und Bewegungseinschränkung nachweisbar. Lumbale Diskushernie Oft bestehen lange Zeit vor der akuten Manifestation Kreuzschmerzen. Die Symptomatik der einzelnen topografischen Prolapsvarianten gleicht derjenigen bei zervikalen Vorfällen. Das Cauda-equina-Syndrom (→ ) wird von ausgedehnten medialen Vorfällen verursacht und zeigt zunächst plötzlich einsetzende starke Schmerzen an der medialen Seite beider Beine und Füße („Reithosenareal“), dann eine Linderung mit anschließenden Blasen- und Mastdarmstörungen. Hinzu kommen beidseitige schlaffe Paresen, Hypästhesien und Fußsenkerschwächen. Das Cauda-equina-Syndrom ist ein neurologischer Notfall. Es muss innerhalb weniger Stunden operativ versorgt werden, da sonst irreparable Schäden drohen.

Diagnostik

Die Anamnese sowie die Pathologie an den Dermatomen und den Kennmuskeln weisen auf die wahrscheinliche Lokalisation der lädierten Wurzeln hin. Ein weiterer Hinweis für eine Radikulopathie ist die Empfindlichkeit auf Dehnungsreize (positives Lasègue-Zeichen), Klopfschmerz über dem Wirbelsäulenabschnitt und Schonhaltung. Diagnosesicherung erfolgt durch ein CT oder MRT.

Differenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch müssen periphere Nervenläsionen, Plexusschäden, Arthrose der Intervertebralgelenke, eine Spinalkanalstenose, Herzinfarkt und rheumatische Erkrankungen erwogen werden.

Therapie Bei zervikalenVorfällen führt nach Ausschluss einer operativen Indikation i. d. R. eine konservative Therapie zum Erfolg. Diese besteht in Wärmebehandlung, vorübergehender Immobilisation, dann Krankengymnastik zur Kräftigung der paravertebralen Muskulatur, Haltungstraining, vorsichtiger Traktion, Analgetika, Antiphlogistika, Muskelrelaxanzien und Vermeiden von wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten. Eine Rückenmarkskompression stellt einen Notfall dar und muss so schnell wie möglich operativ versorgt werden.Wenn Beschwerden trotz suffizienter Therapie fortbestehen, ist die Indikation zur operativen Behandlung zu überprüfen. Die lumbale Diskushernie wird ebenfalls bevorzugt konservativ therapiert. Für die OP-Indikationen gelten die gleichen Voraussetzungen. Die Rückenmarkskompression stellt eine absolute OP-Indikation dar.

Claudicatio intermittens spinalis Eine lumbale Spinalkanalstenose, die anlagebedingt ist, durch degenerative Knochenveränderungen (z. B. der Facettengelenke, der Foramina intervertebralia), Bandscheibenvorfälle oder einer Kombination von verschiedenen Ursachen zustande kommt, führt zu intermittierenden radikulären Schmerzen in aufrechter Körperhaltung beim Gehen, insbesondere beim Treppabsteigen oder Bergabgehen. Die Schmerzen strahlen lumboischialgieform in die Beine aus und treten lageabhängig mit Besserung bei Kyphosierung (vornüberbeugen, setzen) der Wirbelsäule und Verschlechterung bei Hyperlordosierung (Rückwärtsneigung) auf. Oft zeigen sich auch intermittierende sensible Störungen (Kribbelparästhesien).

Zusammenfassung • Bei Wurzelschädigung resultieren dermatombezogene Schmerzen und Sensibilitätsausfälle sowie Parese und später Atrophie des Kennmuskels. • Die lumbalen Wurzeln L5 / S1 sind viel häufiger betroffen als die zervikalen C6 / C7. • Eine Rückenmarkskompression (z. B. spinale Symptome, Cauda-equina-Syndrom) stellt einen Notfall dar, der einen unmittelbaren neurochirurgischen Eingriff erfordert.

41

Polyneuropathien „Polyneuropathien“ (PNP, Syn. periphere Neuropathie) ist ein Überbegriff für Erkrankungen der peripheren Nerven, wobei i. d. R. meist mehrere Nerven gleichzeitig betroffen sind oder kurz hintereinander erkranken.

Ätiologie / Klassifikation In unseren Breiten sind Diabetes mellitus (30 %) und Alkoholabusus (25 %) bei Weitem die häufigsten Ursachen der PNP. Die Einteilung der unterschiedlichen Formen der PNP in größere Gruppen z. B. nach ätiologischen, klinischen, histologischen oder pathogenetischen Faktoren ist aufgrund der zahlreichen Formen schwierig. Eine Klassifizierung nach ätiologischen Kriterien ist in → dargestellt. Bei Einteilung der PNP nach dem klinischen Verteilungsmuster kann man folgende Formen unterscheiden: • Distale symmetrische PNP (z. B. diabetische PNP) • Schwerpunktpolyneuropathie (z. B. Plexusaffektion, Affektion proximaler Muskelgruppen) • Mononeuritis multiplex (z. B. Vaskulitis)

Tab. 41.1

Ätiologische Einteilung der Polyneuropathie

Ätiologie

Beispiele

Stoffwechselstörungen

Diabetes mellitus, Urämie, Hypothyreose, Gicht

Infektionskrankheiten

Borreliose, HIV-Infektion, Botulismus, Diphtherie, Lepra, CMV-Infektion, Herpes Zoster, Parotitis

Hereditäre PNP

Hereditäre motorische und sensible Neuropathien (HMSN), Porphyrie, Amyloidose

Intoxikation

Alkohol, Medikamente (Gold, Isoniazid, Chloroquin, Amiodaron, Cisplatin, Vincristin, Metronidazol), industrielle Noxen (Blei, Arsen, Äthylenoxid, Thallium, Lösungsmittel)

Malnutrition / Malabsorption

Vitamin B 12 , Folsäure, Intrinsic Factor; Vitamin B 1 , B 2

Paraneoplastische PNP

Plasmozytom, kleinzelliges Bronchialkarzinom, Leukämien, Lymphom

Systemerkrankungen

Kollagenosen (SLE), Vaskulitiden (Panarteriitis nodosa), Sarkoidose, rheumatoide Arthritis

Eine Klassifikation nach dem primär bevorzugten Befall des Myelins oder des Axons ist möglich. Mittels Elektromyografie bzw. Elektroneurografie kann eine Unterscheidung getroffen werden. Primär demyelinisierende Form Durch den segmentalen Verlust der Myelinscheiden (z. B. Guillain-Barré-Syndrom, Dyslipoproteinämie, Diphtherie) wird die saltatorische Erregungsleitung gestört, was sich elektroneurografisch mit einer stark verminderten NLG, aufgesplitteten verminderten Amplituden und verlängerten F-Wellen-Latenzen darstellt. Prinzipiell ist eine Remyelinisierung möglich. Primär axonale Degeneration Eine direkte Schädigung des Axons ergibt sich aus unterschiedlichen Einflüssen, wie z. B. toxisch (Medikamente), metabolisch (Diabetes mellitus), entzündlich (Panarteriitis nodosa), genetisch (HMSN) oder traumatisch. Dies führt zur Degeneration des Axons von distal nach proximal. Bei Durchtrennung des Axons kommt es zu einem Untergang des distalen Anteils (Waller-Degeneration) und Zurückbleiben eines Narbenneuroms. In manchen Fällen kann sich das Axon mit der Myelinscheide als Leitschiene regenerieren. Die Elektroneurografie zeigt eine verminderte Amplitude. Die NLG kann unauffällig sein. Mischform Primär kommt es zu einer Schädigung des Myelins wie auch des Axons. Zum Beispiel bei vaskulärer Nervenläsion (Vasa nervorum) können durch eine Unterbrechung der Blutversorgung des Nervs beide Strukturen gleichermaßen geschädigt werden. Die Vasa nervorum werden beispielsweise im Rahmen des Diabetes mellitus, einer Vaskulitis oder einer Kollagenose verlegt. Es sind keine Potenziale ableitbar. Im späten Krankheitsstadium sind i. d. R. beide Strukturen betroffen.

Klinik Allgemein Die Symptome sind am häufigsten distal symmetrisch verteilt, wobei die Beine stärker betroffen sind als die Arme. Der Verlauf ist meist langsam über Monate progredient, wobei es auch subakut bzw. akut verlaufende Formen gibt. Durch eine Schädigung motorischer, sensibler und vegetativer Nervenfasern zeigt sich klinisch meist eine Kombination aus schlaffen Paresen, Sensibilitätsstörungen und vegetativen Störungen. In der Regel sind die Paresen nicht vollständig ausgeprägt, lassen sich keinem Innervationsgebiet eines peripheren Nervs oder einer Nervenwurzel zuordnen und weisen eine Abschwächung der Muskeleigenreflexe der geschädigten Muskulatur auf. Das Verteilungsmuster der Sensibilitätsstörungen ist häufig handschuh- bzw. strumpfförmig mit Beeinträchtigung des Berührungsempfindens, der Temperatur- und Schmerzempfindung. Die Patienten berichten über Parästhesien mit Kribbeln, Ameisenlaufen und Pelzigkeit. Ein Frühzeichen ist eine Störung des Vibrationsempfindens. Häufig kommt es zu Missempfindungen mit ziehenden oder brennenden Schmerzen (Burning-feet-Syndrom, z. B. bei Urämie, Vitaminmangel, Kollagenosen, Diabetes, Alkoholabusus), strumpfförmig bzw. handschuhförmig begrenzt. Diese Schmerzen können insbesondere nachts den Schlaf stören. Die Dysfunktion der vegetativen Innervation führt durch eine vasomotorische Störung zu Zyanose und Ulzerationen. Darüber hinaus zeigt sich eine Hypohidrose; im Verlauf kommen trophische Hautveränderungen mit Verlust der Sekundärbehaarung und der Hautpigmentierung sowie schlecht heilende Wunden hinzu. Bei speziellen Formen der PNP kann es zur Beteiligung der gastrointestinalen und kardialen vegetativen Innervation kommen.

Spezifische Verteilungsmuster Je nach schädigender Einwirkung werden Verteilungsmuster der Ausfälle beeinflusst (→ ), wobei eine einzige Ursache auch verschiedene Befallsmuster haben kann.

Abb. 41.1

Klinisches Bild der neurologischen Ausfälle bei unterschiedlichen Schädigungsursachen [L143, L231]

Distale symmetrische Neuropathie Dies ist die häufigste Form mit Betonung der unteren Extremität, früher Vibrationsempfindungsstörung und strumpf- oder handschuhförmigen Sensibilitätsausfällen. Sie kommt z. B. bei Diabetes mellitus, Urämie und Alkoholabusus vor. Tritt eine motorische Komponente hinzu, ist besonders auch an hereditäre Ursachen (HMSN), Porphyrie oder bestimmte Noxen (z. B. Gold, Chloroquin) zu denken. Mononeuropathien Damit werden Schädigungen eines einzelnen Nervs bezeichnet (→ ). Mononeuritis multiplex Diese Schädigungsform ist selten und betrifft mehrere nicht benachbarte Nerven, was zu einem asymmetrischen Befallsmuster führt. Die Ausfälle können bestimmten Nerven zugeordnet werden. Ätiologisch kommt sie bei Diabetes mellitus, Autoimmunerkrankungen (z. B. Sjögren-Syndrom, rheumatoide Arthritis, Lupus erythematodes), paraneoplastisch, Ischämie der Vasa nervorum oder Infektionen (z. B. Neuroborreliose, Herpes Zoster) vor. Multifokale motorische Neuropathie (MMN) Autoimmunerkrankung mit häufigem Nachweis von Antikörpern gegen Gangliosid (GM1) des Myelins motorischer Nerven (sensible und vegetative Nervenfasern nicht betroffen). Asymmetrischer Befall; häufig mit Betonung der Arme zu Beginn; i. d. R. keine Beteiligung der Hirnnerven. Anfangs ist eine Manifestation durch eine Mononeuropathie (N. ulnaris, N. medianus) möglich. Im Verlauf von Monaten bis Jahren kommt es zu progredienten asymmetrischen Paresen mit Muskelkrämpfen, Ausfall der Muskeleigenreflexe und im Verlauf zu deutlichen Atrophien. Therapeutisch kann häufig durch die Gabe von Immunglobulinen i. v. ein Fortschreiten der Erkrankung verhindert werden.

Diagnostik Die Diagnosestellung stützt sich zu einem großen Teil auf die Anamnese und klinische Untersuchung (Inspektion, Prüfung von Temperatur, Schmerz, Berührung, Reflexe, Kraftprüfung). Durch die Ableitung der Nervenleitgeschwindigkeit sensibel und motorisch wird zwischen axonalen und demyelinisierenden Läsionen unterschieden. Eine ausführliche Labordiagnostik ist ebenfalls nötig. Untersucht werden Entzündungsparameter, Blutzucker, Elektrolyte, Leber- und Nierenretentionswerte, Rheumafaktoren, ANA, ANCA, Vitamin-B 12 - und Folsäurespiegel, Ak gegen Borrelien, TPHA-Test und bei Verdacht Prüfung toxischer Substanzen (Medikamente, Blei, Quecksilber etc.).

Differenzialdiagnosen Bei rasch-progredienten Lähmungserscheinungen an den Armen und Beinen als Symptome des Guillain-Barré-Syndroms muss differenzialdiagnostisch an spinale Prozesse (Raumforderung, Ischämie, Querschnittsmyelitis), entzündliche Prozesse (virale Infektionen, z. B. HSV; bakterielle Infektionen, z. B. Diphtherie), akute Myopathie, Myasthenia gravis und Rückenmarksläsion gedacht werden. Bei Paresen ohne Sensibilitätsstörungen ist an eine Pathologie des Motoneurons (→ ) zu denken.

Therapie Die Therapie konzentriert sich auf die Behandlung der Grunderkrankung und die symptomatische Linderung der Beschwerden. Zur Behandlung neuropathischer Schmerzen wird eine Basismedikation eingesetzt, etwa Antidepressiva (z. B. Amitriptylin), Membranstabilisatoren (z. B. Carbamazepin), weitere Antikonvulsiva (z. B. Gabapentin) oder Opioide (z. B. Tramadol). Die im Folgenden dargestellten Syndrome sind eine Auswahl der mit einer peripheren Neuropathie einhergehenden Krankheitsbilder (weitere assoziierte Erkrankungen → ).

Demyelinisierende Polyneuropathien Guillain-Barré-Syndrom (GBS) Das (Landry-)Guillain-Barré-Syndrom hat eine Inzidenz von 1–2 / 100 000 Einwohner pro Jahr mit leichtem Überwiegen des männlichen Geschlechts. Es sind

zwei Häufigkeitsgipfel erkennbar: in der Mitte der 2. Dekade und der 5. Dekade.

Pathogenese Es handelt sich um ein immunologisch bedingtes entzündliches Krankheitsbild der Spinalwurzeln und peripheren Nerven nicht ganz geklärter Ursache. Ein Zusammenhang mit Infekten der oberen Atemwege und des Gastrointestinaltrakts wird beobachtet. In mehr als 60 % der Patienten konnten ein erhöhter Antikörpertiter gegen Campylobacter jejuni , GM1-Antikörper, GD1-Antikörper und Antikörper gegen Zytomegalievirus nachgewiesen werden.

Klinik Man unterscheidet die akute, häufig postinfektiös auftretende Verlaufsform von der chronischen idiopathischen Form. Diese beiden bieten eine sehr ähnliche Symptomatik, unterscheiden sich aber neben ihrem zeitlichen Verlauf auch in der jeweiligen Prognose. Das schnell durchlebte Krankheitsbild heilt in ca. 70 % der Fälle vollständig aus, wohingegen sich die über Wochen und Monate entwickelten Symptome nur selten ganz zurückbilden. Initial können uncharakteristische Kreuzschmerzen und strumpf- bzw. handschuhförmige symmetrische Parästhesien auftreten. Meist entwickeln sich rasch symmetrische distal betonte Paresen, die sich über die Rumpfmuskulatur und die obere Extremität nach kranial ausweiten können und zu Hirnnervenausfällen führen können (Landry-Paralyse). Die Reflexe sind nicht auslösbar. Es können sensible Reiz- und Ausfallerscheinungen auftreten, bei 90 % der Patienten Schmerzen. Bei etwa einem Viertel der Patienten mit akuter Progredienz wird eine Beatmung notwendig. Oft ist das vegetative System mit betroffen (Tachybzw. Bradykardie, Blutdruckschwankungen, Temperaturregulationsstörung etc.). Durch Lagerung des Patienten oder Manipulationen im Mundraum kann ein Herz-Kreislauf-Stillstand eintreten. Ein diagnostisches Charakteristikum ist die zytalbuminäre Dissoziation im Liquorbefund – Eiweißerhöhung ohne Zellzahlerhöhung. Das Miller-Fisher-Syndrom ist eine Sonderform des Guillain-Barré-Syndroms mit der Trias Ophthalmoplegie, Areflexie und sensible Ataxie.

Therapie Die betroffenen Patienten sind engmaschig intensivmedizinisch zu überwachen. Bei respiratorischer Insuffizienz sollte frühzeitig eine Beatmung erfolgen, ggf. auch eine Langzeitbeatmung und Tracheostomie. Der Einsatz eines passageren Herzschrittmachers wird frühzeitig empfohlen (absolute Indikation bei pathologischer Sinusbradykardie, Bradyarrhythmia absoluta, AV-Block II° und III°, bifaszikulärer Block). Hinsichtlich der Therapie gibt es derzeit folgende Empfehlungen: Eine Plasmapherese ist einer Therapie mit Immunglobulinen nicht überlegen, wobei die Immunglobulintherapie mit weniger Komplikationen verbunden ist. Eine Kombination aus beiden zeigt keinen Vorteil. Kortikosteroide zeigen in Studien keine Wirkung auf die Krankheit und werden als Therapiemöglichkeit nicht empfohlen. Intravenös verabreichte Immunglobuline sind für Patienten bei noch progredientem Verlauf der Erkrankung, bei einer Einschränkung der Gehstrecke auf wenige Meter, bei früher Beeinträchtigung der Atmung oder bei nicht mehr als 2 Wochen (vermutlich ebenfalls 4 Wochen) zurückliegendem Einsetzen der Symptomatik indiziert. Die Indikation zur Plasmapherese besteht bei Unverträglichkeit oder Kontraindikation der Immunglobulintherapie. Diskutiert wird eine jährliche Grippeimpfung für Patienten mit hohem Risiko für Komplikationen bei Influenzainfektion und bei bereits durchlebtem GBS.

Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) Bei der CIDP handelt es sich um eine autoimmunvermittelte, demyelinisierende und remyelinisierende Erkrankung, die v. a. große Nervenfasern betrifft.Zur diagnostischen Abgrenzung vom GBS muss sich die Symptomatik langsam über mindestens 8 Wochen entwickeln (Verläufe: Monate bis Jahre). Eine Assoziation der CIDP mit anderen Erkrankungen wird häufig beobachtet. Es besteht ein gehäuftesVorkommen bei Diabetes mellitus, aber auch z. B. bei rheumatologischen Erkrankungen (systemischer Lupus erythematodes), hämatologischen und malignen Erkrankungen (Plasmozytom, Paraproteinämien, Lymphom)oder HIV-Infektion.

Klinik Klinisch gibt es unterschiedliche Formen mit progredientem symmetrischem Verlauf. Die Paresen sind häufig von distal nach proximal aufsteigend, jedoch kann auch eine vorwiegend proximale Beteiligung vorkommen. Es zeigen sich schlaffe Paresen mit abgeschwächten bis erloschenen Reflexen und unterschiedlicher Mitbeteiligung des sensiblen Systems. Häufig werden Parästhesien an Armen und Beinen angegeben. Auch eine Hirnnervenbeteiligung ist möglich. Zudem können folgende Varianten der CIDP unterschieden werden: • Sensorische CIDP: überwiegend sensible Symptome oder eine ataktische Neuropathie; elektrophysiologisch auch Nachweis einer Beteiligung motorischer Nerven • Multifokale erworbene demyelinisierende sensorische und motorische Neuropathie (MADSAM, Lewis-Sumner-Syndrom): klinisch asymmetrisches Auftreten von Paresen und Sensibilitätsstörungen (Hypästhesie, Dysästhesie etc.); charakteristisch sind multifokale Leitungsblöcke in Elektrophysiologie; Therapie mit Immunglobulinen i. v. wirksam. • CIDP mit zusätzlich monoklonaler IgM-Gammopathie und Nachweis von Antikörpern gegen Myelin-Glykoprotein (MAG-AK) • CIDP mit monoklonaler Gammopathie unbestimmter Signifikanz (MGUS) • Axonale Varianten: chronisch progredient oder relapsierend; gutes Ansprechen auf Glukokortikoide

Therapie Therapeutisch ist eine längere medikamentöse Therapie erforderlich. Glukokortikoide haben eine positive Wirkung bei CIDP (weniger bei IgM-Gammopathie mit MAG-AK und MADSAM). Je nach Krankheitsausprägung werden Plasmapherese oder i. v. Immunglobulingaben eingesetzt sowie Immunsuppressiva zur Langzeitbehandlung (z. B. Cyclophosphamid, Methotrexat, Rituximab).

Axonal betonte Polyneuropathien Diabetische Polyneuropathie Mit einem Anteil von 30 % an den peripheren Neuropathien stellt der Diabetes mellitus deren häufigste Ursache dar. Die Entwicklung einer Polyneuropathie ist abhängig vom Alter des Patienten, von der Dauer der Erkrankung und von der Qualität der Stoffwechseleinstellung. Nach einer Krankheitsdauer von 10 Jahren hat die Hälfte der Diabetespatienten eine Neuropathie!

Pathogenese Es besteht noch nicht vollends Klarheit über die Entstehung der PNP. Zum einen werden im Rahmen der diabetischen Angiopathie die Vasa nervorum geschädigt, woraus die Unterversorgung des Nervs resultiert. Zum anderen spielt auch die schlechte Stoffwechsellage direkt eine Rolle bei der mangelhaften Energieversorgung. Hinzu kommt, dass schlecht abbaubare, nervenschädigende Stoffwechselprodukte anfallen, die den Nerv angreifen. Die Degeneration des Axons steht morphologisch im Vordergrund, wobei ihr oft der Myelinscheidenverlust vorausgeht.

Klinik Die PNP hat vielfältige klinische Erscheinungsformen, die meist die untere Extremität stärker betreffen als die obere: Periphere symmetrische sensomotorische PNP Zirka 60–80 % der Patienten: Leitsymptome sind beinbetonte strumpfförmige Sensibilitätsausfälle und vegetative Reizerscheinungen (Burning-feet-Syndrom). Der ASR ist bereits früh nicht mehr auslösbar. Später kommen motorische Ausfälle mit Paresen und Atrophien dazu.

Asymmetrische proximale PNP Zirka 15–20 % der Patienten: Es zeigt sich das Bild einer Mononeuritis multiplex, häufig ist der N. femoralis betroffen. Symptome sind Hüftschmerzen, ipsilaterale Reflexabschwächung der proximalen Muskulatur, nachts verstärkte Schmerzen und rasche Atrophie des M. quadriceps. Autonome PNP Die Beteiligung des vegetativen Nervensystems ist fast immer gegeben. Je nach betroffenem System entstehen die Symptome, z. B. Hypohidrosis, livide Hautfarbe, Arrhythmie, Myokard-ischämie, Gastroparese, Diarrhö, Blasenatonie. Hirnnervenbeteiligung Diese tritt bei generalisierten PNP oder als einzige Nervenschädigung auf. N. oculomotorius, N. trochlearis und N. abducens sind am häufigsten geschädigt.

Therapie Die Entstehung bzw. das Fortschreiten der PNP können durch eine strenge Einstellung des Stoffwechsels verzögert, jedoch nicht völlig verhindert werden.

Alkoholische Polyneuropathie Dies ist die zweithäufigste Ursache (ca. 25 %) der PNP. Chronischer Alkoholabusus wirkt indirekt über Mangelernährung (Vitamin B 1 ) und direkt über den Alkohol selbst oder dessen Abbauprodukte (Acetaldehyd) neurotoxisch. Als Pathomechanismus steht beim chronischen Verlauf eine Demyelinisierung, beim akuten Verlauf (Vollbild nach wenigen Wochen) eine axonale Schädigung im Vordergrund. Starke Schmerzen an den Beinen und Muskelkrämpfe sind wichtige Symptome. Später können ausgeprägte Paresen, z. B. der Fußheber, entstehen. Das klinische Bild ähnelt dem der diabetischen Neuropathie: distal betonte symmetrische Sensibilitätsausfälle, abgeschwächte MER, trophische Störungen etc.

Hereditäre Polyneuropathie Die hereditäre motorische und sensorische Polyneuropathie (HMSN) ist sehr selten und untergliedert sich in sieben Untergruppen. Die ersten vier sind in → näher charakterisiert.

Tab. 41.2

Übersicht über die Gruppen 1–4 der hereditären motorischen und sensiblen Neuropathie (HMSN) HMSN 1 (Charcot-Marie-Tooth-Krankheit)

HMSN 2

HMSN 3

HMSN 4 (Refsum-Syndrom)

Autosomal-dominant oder X-chromosomal

Autosomal-dominant oder -rezessiv

Autosomalrezessiv

Autosomal- rezessiv

Manifestationsalter 5–25 Jahre chronisch progredient

20–40 Jahre langsam progredient

≤ 10 Jahre rasch progredient

Jugend und Adoleszenz

NLG

Stark verzögert

Normal bis verzögert

Stark verzögert

Stark verzögert

Pathomechanismus

Demyelinisierung Zwiebelschalenform

Axonale Degeneration

Demyelinisierung

Störung des Phytansäurestoffwechsels

Klinik

Früh Hohlfußbildung, später distal symmetrisch sensomotor. PNP, Paresen, Wadenatrophie („Storchenbeine“), verdickte Nervenstränge, auch obere Extremität

Sensomotorische PNP und Paresen auch asymmetrisch, v. a. untere Extremität

Parese an Armen und Beinen, stark verdickte Nervenstränge

Nachtblindheit, Katarakt, Nystagmus, zerebelläre Ataxie, PNP; Anosmie, Innenohrschwerhörigkeit

Erbgang

Critical-illness-Polyneuropathie (CIP) Die CIP tritt in Zusammenhang mit schweren intensivpflichtigen Erkrankungen mit Beatmung (insbesondere bei schwerer Sepsis und Multiorganversagen) auf. Es handelt sich hierbei um eine symmetrische distal betonte axonale Polyneuropathie der motorischen Nervenfasern, wobei sensible Nerven nicht vollständig ausgespart sind. Eine Beatmungszeit von 2 Wochen führt in ca. 60–70 % der Fälle zum Entstehen einer CIP. Als Pathomechanismus werden körpereigene Entzündungsreaktionen des Immunsystems diskutiert. Es zeigen sich distal betonte schlaffe Paresen (Critical-illness-Myopathie [CIM]) mit Muskelatrophie und abgeschwächten MER. Klinisch auffällig wird die Erkrankung i. d. R. durch eine erschwerte Entwöhnung von der Beatmungsmaschine bei Beteiligung der Atemmuskulatur mit anschließender elektrophysiologischer Untersuchung. Die Therapie besteht neben Behandlung der Grunderkrankung aus konservativen stützenden Maßnahmen mit Atemtherapie, Physio- und Ergotherapie. Der Spontanverlauf ist selbstlimitierend mit oft vollständiger Rückbildung der Symptome, je nach Schwere der Ausprägung.

Malnutritive Polyneuropathie Diese Formen gehen gewöhnlich mit dem distalen symmetrischen sensomotorischen Befallsmuster Vitaminmangelsyndrome ist die Alkoholkrankheit. Zudem sind sie in Entwicklungsländern verbreitet.

Tab. 41.3

einher

(→ ). Die Hauptursache der

Auswahl an Vitaminmangelsyndromen

Mangel

Erkrankung

Klinik

Vitamin B 12

Funikuläre Myelose

Degeneration der Hinterstränge, der Seitenstränge und im Verlauf der Pyramidenbahn, schmerzhafte Parästhesien, später spastische Paresen, spinale Ataxie, Zungenbrennen, psychische Störung (z. B. Delir, Depression)

Beriberi, WernickeKorsakowSyndrom

Diplopie (Augenmuskellähmungen), Gangataxie, Antriebsminderung, Merkfähigkeitsstörung, Desorientiertheit

(Thiamin)

Vitamin B 3

Pellagra

Trias: Demenz, Diarrhö, Dermatitis

(Cobalamin) Vitamin B 1

(Nikotinsäure, Syn. Niacin)

Zusammenfassung • Diabetes mellitus und Alkoholabusus sind die häufigsten Ursachen für eine Polyneuropathie.

• Die Nerven werden durch Demyelinisierung, direkte axonale Läsion oder durch Unterbrechung der Blutversorgung geschädigt. • Die PNP beginnt am häufigsten mit einer Störung des Vibrationsempfindens. • Die Patienten klagen über Kribbeln, Ameisenlaufen, Burning-feet-Syndrom, strumpf- und sockenförmige Sensibilitätsausfälle, vegetative und motorische Störungen. Diese neurologischen Ausfälle können je nach Ursache auch atypische Verteilungsmuster haben. • Das Guillain-Barré-Syndrom ist durch rasch von distal nach proximal aufsteigende Paresen der Beine und Arme unter Beteiligung von Atemmuskulatur und Hirnnerven charakterisiert. Durch die Beteiligung des vegetativen Systems besteht Lebensgefahr. • Bei Diabetes mellitus zeigt die PNP unterschiedliche Verteilungsmuster. Das periphere symmetrische sensomotorische Bild ist häufiger als die proximale asymmetrische Variante oder die Mononeuritis multiplex. Das vegetative Nervensystem ist fast immer beteiligt. Hirnnervenausfälle sind sehr selten. • Die HMSN beruhen auf degenerativen Veränderungen der peripheren Nerven. Klinisch stellen sie sich als chronisch-progrediente symmetrische Polyneuropathie mit Paresen und Muskelatrophie dar.

42

Mononeuropathien Die Schädigung eines einzelnen peripheren Nervs erfolgt meist mechanisch durch eine Schnittverletzung, Druckeinwirkung, Zerrung oder Quetschung. Daneben gibt es auch neoplastische Beeinträchtigungen einzelner Nerven.

Klassifikation Das Ausmaß der Nervenläsion kann nach Seddon eingeteilt werden: Neurapraxie Vorübergehende Nervenleitungsstörung bei erhaltener Erregbarkeit des distalen Abschnitts. Morphologisch nachweisbare Veränderungen der Struktur des Nervs sind höchstens segmentale Demyelinisierung. Axon und Nervenhüllen (Endo-, Peri- und Epineurium) sind intakt. Ursache hierfür sind i. d. R. Drucklähmungen (z. B. N. radialis im Schlaf). Gute Prognose zur vollständigen Rückbildung. Axonotmesis Nerv in Kontinuität. Unterbrechung des Axons bei erhaltenen Nervenhüllen. Nach Waller-Degeneration des distalen Abschnitts mit erloschener Erregbarkeit sprosst der proximale Nervenstumpf nach Bildung eines Wachstumskegels entlang den Nervenhüllen als Leitstruktur mit ca. 1 mm / Tag erneut aus. Ätiologisch kommen chronischer Druck oder eine Zerrung infrage. Meist vollständige Rückbildung möglich. Neurotmesis Kontinuitätsunterbrechung. Vollständige Unterbrechung des Axons und seiner Nervenhüllen mit Dehiszenz der Nervenenden. Der Verlauf entspricht zunächst dem der Axonotmesis. Allerdings kommt es aufgrund des Auseinanderweichens der beiden Stümpfe nicht zu einer Ausheilung. Diese Form kommt bei Schnittverletzungen vor.

Klinik Bei einer Durchtrennung des Nervs bildet sich am proximalen Teil ein Narbenneurom und distal der Verletzung kommt es zur Waller-Degeneration, einhergehend mit Anästhesie, schlaffer Parese und vorübergehender Analgesie. Nach ca. 10–15 Tagen können Schmerzen entstehen. Vegetative Symptome (z. B. Schweißsekretionsstörungen) und trophische Störungen (z. B. Muskelatrophie) sind ebenfalls charakteristisch. Die für die Kausalgie typischen, anfallsweise auftretenden brennenden Schmerzen, die durch taktile, selten auch optische und akustische Reize ausgelöst werden können, treten bei partieller Schädigung von Nerven mit großem Anteil vegetativer Fasern auf (z. B. N. medianus). Diese Schmerzsymptomatik bleibt oft nicht auf das vom betroffenen Nerv versorgte Hautareal beschränkt, sondern kann sich über die gesamte Extremität ausbreiten. Daher ist zur Erfassung des betroffenen Areals die Prüfung der Berührungsempfindung besser geeignet als die der Schmerzempfindung. Stehen Parästhesien (z. B. Kribbeln, Taubheitsgefühl) im Vordergrund, deutet dies auf eine chronische Druckschädigung des Nervs hin.

Häufig betroffene Nerven N. medianus (C5 – Th1) Der N. medianus verursacht je nach Läsionshöhe bestimmte klinische Symptome.

Distale Medianuslähmung Die Läsion im Bereich des Handgelenks erfolgt meist traumatisch durch Schnittverletzung, Fraktur oder Operation. Die motorische Störung umfasst eine Parese und Atrophie der Mm. abductor pollicis brevis (→ ) (Caput superficiale), opponens pollicis und lumbricales I und II. Es entstehen auch Schmerzen und Sensibilitätsausfälle an der Volarseite der ersten drei Finger, an der radialen Hälfte des vierten sowie an den entsprechenden Endgliedern auf der dorsalen Seite (→ ). Der Patient kann die Spitze des gestreckten Daumens nicht mehr zur Basis des kleinen Fingers führen. Das Flaschenzeichen ist positiv, d. h., dass beim Umgreifen einer Flasche die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger nicht mehr an den Gegenstand angepresst werden kann (→ ). Das Karpaltunnelsyndrom stellt eine Sonderform der distalen Medianuslähmung dar und wird gesondert behandelt (s. u.).

Abb. 42.1

Atrophie des M. abductor pollicis brevis [G185]

Abb. 42.2

Sensibilitätsausfälle bei Läsion des N. medianus [L190]

Abb. 42.3

Positives Flaschenzeichen der linken Hand bei Medianusparese [L106]

N.-interosseus-anterior-Syndrom (Kiloh-Nevin-Syndrom) Dies stellt eine selten auftretende isolierte Schädigung des N. interosseus anterior, eines rein motorischen Medianusasts, dar. Betroffen sind der M. pronator quadratus, der M. flexor pollicis longus und die Mm. flexores digitorum profundus (II – III), die kleinen Handmuskeln dagegen nicht. Das Kiloh-Nevin-

Syndrom entsteht z. B. durch eine Druckläsion bei eng anliegendem Gipsverband, Unterarmfraktur oder bei einem Kompartmentsyndrom. Der Patient verliert die Beugefähigkeit der Endglieder von Zeigefinger und Daumen und ist nicht mehr in der Lage, mit diesen ein „O“ zu formen.

Pronator-teres-Syndrom Die Läsion entsteht durch wiederholte Drehbewegungen und liegt etwas distal der Ellenbeuge, wo der N. medianus den M. pronator teres durchbohrt. Der M. flexor pollicis longus und der M. flexor digitorum profundus der radialen Finger sind mit betroffen, sodass klinisch eine Beugerschwäche resultiert. Es bestehen auch Ruhe- und Druckschmerz in diesem Bereich sowie Parästhesien und Schmerzen in den Fingern I – III.

Proximale Medianuslähmung Der Schädigungsort am Oberarm oder an der Ellenbeuge – noch vor dem Abgang der motorischen Äste zu den langen Hand- und Fingerbeugern – führt zusätzlich zu den bereits beschriebenen Ausfällen, zum Funktionsverlust der Mm. flexores digitorum profundus und superficialis mit leichter Ulnarstellung der Hand. Es besteht eine komplette Medianuslähmung. Ätiologisch kommen z. B. Traumen, anatomische Anomalien und Drucklähmungen infolge von Fehllagerung im Schlaf infrage. Beim Versuch, die Faust zu schließen, zeigt sich das charakteristische Bild der Schwurhand. Es können nur noch die Finger IV und V (innerviert durch N. ulnaris) sowie der Finger III in geringem Maße gebeugt werden. Des Weiteren sind die Handbeugung und die Pronation abgeschwächt.

Karpaltunnelsyndrom (CTS) Das CTS gehört zu den häufigsten peripheren Nervenkompressionssyndromen. Die Druckschädigung des Nervs unter dem Retinaculum flexorum (Lig. carpi transversum) ist damit auch die meistverbreitete Medianusläsion. Frauen (meist zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr) erkranken häufiger als Männer. Ätiologie In den meisten Fällen lässt sich keine Erkrankungsursache ausmachen. Es gibt jedoch Risikofaktoren, die die Entstehung des Karpaltunnelsyndroms fördern. Hierzu gehören z. B. folgende Prädispositionen: • Genetisch: angeborene Enge des Kanals, Anomalien von Knochen und Weichteilen • Endokrin: Diabetes mellitus, Hypothyreose, Gicht, Amyloidose, Schwangerschaft • Entzündlich: Tendovaginitis, Borreliose, TBC • Mechanisch: Fraktur, neoplastische Raumforderung, Hämatom • Rheumatisch: rheumatoide Arthritis, Sklerodermie, SLE Klinik Zu Beginn des Kompressionssyndroms werden die Patienten nachts durch Schwellungsgefühl, Kribbelparästhesien und dumpfe Schmerzen (Brachialgia paraesthetica nocturna) wach, die in Arm und Schulter ausstrahlen können. Schütteln, Reiben und Massieren bessern die Symptomatik. Morgens sind die Hände für kurze Zeit steif. Im zweiten Stadium sind die Beschwerden ausgeprägter und treten auch tagsüber, v. a. nach längerer Extension bzw. Flexion der Hand, auf. Unter Umständen finden sich bereits Gefühlsstörungen. Der Phalen-Test (1-minütige endgradige Flexion im Handgelenk löst Parästhesien aus) und das Hoffmann-Tinel-Zeichen (Beklopfen des Karpaltunnelbereichs führt zu elektrisierenden Missempfindungen) fallen positiv aus. Im dritten Stadium bestehen schließlich Dauerschmerz, Sensibilitätsverlust, trophische Störungen und eine Atrophie der Thenarmuskulatur.

N. radialis (C5 – C8) Eine Verletzung des N. radialis erfolgt sehr häufig als Druckläsion gegen den Humerus beim Schlafen auf dem Oberarm, bei Luxation des Radiusköpfchens oder bei Frakturen des Oberarms und des proximalen Unterarms.

Untere Radialislähmung Geschädigt werden der R. superficialis (z. B. durch Druck) am radialen distalen Unterarm oder der R. profundus (z. B. durch eine Fraktur). Es fallen die Daumen- und Fingerstrecker in den Grundgelenken (Mm. extensores digitorum communis II – V, Mm. extensores pollicis longus et brevis) sowie der M. abductor pollicis longus und der M. extensor carpi ulnaris aus. Die Sensibilitätsausfälle sind auf die Hand beschränkt (→ ).

Abb. 42.4

Sensibilitätsausfälle bei Läsion des N. radialis [L106]

Das Supinatorlogensyndrom ist ein Nervenkompressionssyndrom des motorischen R. profundus in seinem Verlauf durch den M. supinator. Bis auf den M. extensor carpi radialis und den M. brachioradialis sind alle distal gelegenen radialisinnervierten Muskeln gelähmt. Die Fingerstreckung ist gestört, aber es liegt keine Fallhand oder Sensibilitätsstörung vor.

Mittlere Radialislähmung Der Nerv ist auf Höhe des Oberarms z. B. bei Druck als Parkbanklähmung und Fraktur des Humerus geschädigt. Zusätzlich zu den in diesem Kapitel beschriebenen Paresen fallen die langen Handstrecker (Mm. extensor carpi radialis et ulnaris) wie auch der M. brachioradialis aus, der RPR ist abgeschwächt. Klinisch ergibt sich das charakteristische Bild der Fallhand (→ ). Die Sensibilität am Unterarm ist gestört (→ ).

Abb. 42.5

Fallhand bei Läsion des N. radialis im Bereich des Oberarms [L106]

Obere Radialislähmung Ein zusätzlicher Ausfall des M. triceps brachii mit resultierender Abschwächung des TSR deutet auf eine noch weiter proximal gelegene Läsion im Bereich der Axilla, z. B. als „Krückenläsion“, hin. Die aktive Ellbogenstreckung ist aufgehoben.

N. ulnaris (C8 – Th1) Die Lähmung des N. ulnaris gehört zu den häufigsten peripheren Nervenschädigungen.

Loge-de-Guyon-Syndrom Das Loge-de-Guyon-Syndrom bezeichnet ein Nervenkompressionssyndrom des distalen N. ulnaris, der im Bereich des ulnaren Handgelenks eine vom Os pisiforme, Os hamatum, Retinaculum flexorum und M. palmaris brevis begrenzte Engstelle unter dem Lig. carpi palmare durchtritt (Guyon-Loge). In diesem Bereich spaltet sich der Nerv in einen R. superficialis (motorisch und sensibel) und R. profundus (motorisch). Letztgenannter ist häufiger betroffen. Ursächlich ist oft ein Ganglion, eine Druckeinwirkung auf die Hohlhand bei Hyperextension im Handgelenk, wie z. B. beim Fahrradfahren, durch Krücken oder beim Arbeiten mit Werkzeug; seltener ist eine Fraktur. Die Abduktion und Opponierfähigkeit des kleinen Fingers (Mm. abducens und opponens digiti minimi) sowie die Spreizfähigkeit und das Wiederaneinanderführen aller Finger (Mm. interossei dorsales I – IV und palmares I – III) fallen aus. Durch ausgedehntere Paresen mit Ausfall der Mm. lumbricales nehmen die Finger die charakteristische Stellung der Krallenhand ein, mit einer Überstreckung in den Grundgelenken und Beugung in den Mittelund Endgliedern. Diese Haltung ist in den Fingern IV und V stärker ausgeprägt, da sie – im Gegensatz zu den übrigen mit Medianusbeteiligung – ausschließlich vom N. ulnaris innerviert werden. Durch Ausfall des M. adductor pollicis zeigt sich klinisch ein positives Froment-Zeichen. Hierbei kann der Patient nicht mehr ein Blatt Papier zwischen gestrecktem Daumen und Zeigefinger halten, ohne zusätzlich das vom Medianus innervierte Daumenendglied zu beugen (→ ). Atrophische Spatia interossea (insbesondere zwischen Daumen und Zeigefinger) fallen auf der dorsalen Handseite auf. Ist der R. superficialis ebenfalls geschädigt, entstehen zusätzlich Sensibilitätsstörungen an der ulnaren Handseite und den Fingern IV und V an der Handinnenfläche (→ ), darüber hinaus fällt auch der M. palmaris brevis aus. Betroffene Patienten berichten bei chronischer Druckschädigung oft initial von Kribbelparästhesien und Taubheitsgefühl im Bereich des kleinen Fingers und Ringfingers mit im Verlauf zunehmenden motorischen Defiziten.

Abb. 42.6

Darstellung der Krallenhand und des Froment-Zeichens bei Läsion des N. ulnaris [L106]

Abb. 42.7

Sensibilitätsausfälle bei Läsion des N. ulnaris [L190]

Sulcus-ulnaris-Syndrom (Ulnarisrinnensyndrom, Kubitaltunnelsyndrom) Aus dem medialen Faszikel des Armplexus geht der N. ulnaris hervor, der im mittleren Oberarmbereich das Septum intermusculare brachii mediale durchbricht und zum Epicondylus medialis humeri zieht, wo er im Sulcus nervi ulnaris direkt unter der Haut verläuft und nach distal zum ulnaren Handgelenk zieht. Durch die Oberflächennähe im Sulcus ulnaris am Ellbogen anfällig für Verletzungen sind chronische Druckschädigungen (z. B. Abstützen der Ellbogen), arthrotische Veränderungen, Raumforderungen (z. B. Ganglion, Lipom), Frakturen, Zugbelastung des Nervs z. B. durch Schlafen mit angewinkeltem Arm etc. Durch die Abgabe von motorischen Nervenästen im oberen Bereich des Unterarms kommt es klinisch neben der oben beschriebenen Symptomatik zu einer Beugeschwäche der Endglieder der Finger IV und V (Mm. flexores digitorum profundus) und einer Parese des M. flexor carpi ulnaris, welche die Handbeugung und ulnare Abduktion beeinträchtigt. Die Muskulatur des Hypothenars ist atrophisch. Im Bereich des mittleren Unterarms spaltet sich der sensible Nervenast R. dorsalis ab, der den ulnaren Bereich des Handrückens und die ulnaren 2 ½ Finger dorsal innerviert (→ ). Hierbei ist eine klinische Abgrenzung zum Loge-de-Guyon-Syndrom möglich, bei welchem sich i. d. R. keine sensiblen Defizite am Handrücken, sondern nur in der Handinnenfläche finden.

N. peroneus (L4 – S2) Der Verlauf des N. peroneus communis um das Fibulaköpfchen macht ihn sehr anfällig für Läsionen bei Traumen, Lagerung, Alkohol, Hockstellung, Übereinanderschlagen der Beine etc. Sein Ausfall hat eine Fuß- und Zehenheberschwäche zur Folge, die auf eine Parese der Mm. peronei (N. peroneus superficialis), Mm. extensores digitorum longus et brevis, Mm. extensores hallucis longus et brevis und M. tibialis anterior (N. peroneus profundus) beruhen. Der Patient kann nicht mehr auf den Fersen gehen. Aufgrund des herabhängenden Fußes (Spitzfuß) muss er das Bein im Knie höher anheben. Das Bild des „Steppergangs“ ist typisch. In → sind die von Sensibilitätsstörungen betroffenen Bereiche gekennzeichnet. Die Atrophie der prätibialen Muskulatur ist gut sichtbar.

Abb. 42.8

Sensibilitätsausfälle bei Läsion des N. peroneus [E989]

N. cutaneus femoris lateralis Der N. cutaneus femoris lateralis ist ein rein sensibler Nerv, der dem Plexus lumbalis entstammt und im Bereich der Spina iliaca anterior superior aus dem Becken verläuft. Er zieht dann durch das Leistenband nach distal zum lateralen Oberschenkel, den er sensibel innerviert (→ ). Durch Nervenkompression im Bereich des Leistenbands bzw. durch Druck im Nervenverlauf durch den M. obliquus externus abdominis und M. obliquus internus abdominis oder durch einen iatrogenen Eingriff kann es zu einer Schädigung mit Parästhesien und brennenden Schmerzen im Bereich des lateralen Oberschenkels kommen (Meralgia paraesthetica). Anfangs tritt die Symptomatik meist intermittierend nach längerem Stehen auf (Besserung bei Hüftbeugung, Umgekehrtes Lasègue-Zeichen positiv). Im Verlauf kommt es zunehmend zur Hyperalgesie und vegetativen Störungen (z. B. Hautausdünnung) und Hypästhesie bis hin zur Anästhesie bzw. zu residualen Missempfindungen. Risikofaktoren sind direkter Druck (z. B. zu enge Hosen, Gürtel), Schwangerschaft, Adipositas mit großem Bauchumfang, Diabetes mellitus etc. Männer sind häufiger betroffen. Bei frühzeitiger Ursachenbeseitigung ist eine Rückbildung der Symptome möglich.

Diagnostik Bei guter Kenntnis der Versorgungsgebiete der jeweiligen Nerven lässt sich die Diagnose mithilfe der klinisch-neurologischen Untersuchung (Sensibilitäts- und Kraftprüfung) gut eingrenzen. Die Anamnese soll vermeidbare Ursachen aufdecken. Zur Bestätigung und Objektivierung der Schädigung werden die Elektroneurografie und die Elektromyografie durchgeführt.

Differenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch müssen Wurzelkompressionen berücksichtigt werden, deren Abgrenzung zu den peripheren Nervenstörungen durch eine ungestörte Schweißsekretion und NLG möglich ist. Schwieriger ist die Abgrenzung zu den Kompartmentsyndromen. Bei Motoneuronerkrankungen bestehen i. d. R. keine Sensibilitätsstörungen.

Therapie Neben der konservativen Behandlung mit Physiotherapie, Hilfsmittelversorgung und Elektrotherapie und der medikamentösen Versorgung (z. B. Antiphlogistika, Analgetika) nehmen die chirurgischen Maßnahmen eine wichtige Rolle ein. Mikrochirurgisch können bei Nervendurchtrennung die Enden reanastomosiert und Engpassyndrome behandelt werden.

Zusammenfassung • Nach Ausmaß der Nervenschädigung unterscheidet man die Neurapraxie (segmentale Demyelinisierung, Axon und Nervenhüllen unverletzt), Axonotmesis (Durchtrennung des Axons, Nervenhüllen sind erhalten) und Neurotmesis (Durchtrennung von Axon und Hüllen). • Bei der distalen Medianuslähmung kommt es zu Paresen der kleinen Handmuskeln und Verlust der Opponierbarkeit des Daumens sowie zu Atrophien, Schmerzen und Sensibilitätsausfällen. Die proximale Medianusparese ist Folge eines kompletten Ausfalls des N. medianus mit dem typischen Bild der Schwurhand. Läsionen am Unterarm können in einem Nervus-interosseus-anterior-Syndrom (Pronationsschwäche, Verlust der Beugefähigkeit von Zeigefinger- und Daumenendgliedern, keine Sensibilitätsstörungen) oder Pronator-teres-Syndrom (Beugeschwäche der radialen Finger, Schmerzen und Parästhesien) resultieren. • Das Karpaltunnelsyndrom ist die häufigste Medianusläsion, die sich durch nächtliche Schmerzen und Parästhesien manifestiert. Im Verlauf tritt die Symptomatik auch am Tag auf. Im Endstadium haben die Betroffenen Dauerschmerzen, Sensibilitätsverlust und trophische Störungen. • Die Radialislähmung betrifft die Strecker der Hand und Fingergrundgelenke je nach Läsionshöhe. Das klinische Bild der Fallhand ergibt sich bei einer Schädigung im Bereich des mittleren Humerus. Weiter proximal ist zusätzlich der M. triceps brachii paretisch. Beim Supinatorlogensyndrom bestehen keine Sensibilitätsstörungen. • Eine Ulnarislähmung im Bereich der Loge-de-Guyon ist ein Nervenkompressionssyndrom, das initial zu Kribbelparästhesien im Bereich der ulnaren Handseite und bei zunehmend motorischen Defiziten im Verlauf zur Ausbildung einer „Krallenhand“ führt. Beim Sulcus-ulnaris-Syndrom kommt es klinisch im Bereich der ulnaren Hand und Finger sowohl palmar als auch dorsal zu Sensibiliätsausfällen, wohingegen beim Loge-de-GuyonSyndrom die Sensibilität am Handrücken i. d. R. unauffällig ist. • Die Lähmung des N. peroneus hat eine Fuß- und Zehenheberschwäche zur Folge mit dem typischen Steppergang.

Muskelerkrankungen

43

Erkrankungen der neuromuskulären Endplatte Ein myasthenes Syndrom ist charakterisiert durch eine abnorme Ermüdbarkeit der Muskulatur nach Belastung. Im Anfangsstadium bildet sich die Muskelschwäche nach einer Ruhepause zurück. Den myasthenen Syndromen liegt eine Störung der Reizübertragung an der neuromuskulären Endplatte zugrunde, bei der folgende Pathomechanismen infrage kommen: • Präsynaptisch: Acetylcholin (ACH) wird nicht ausreichend synthetisiert, in Vesikeln gespeichert oder in den synaptischen Spalt freigesetzt. • Synaptischer Spalt: Es liegt eine Diffusionsstörung des ACH vor. • Postsynaptisch: Die Bindung des ACH an den Rezeptor ist behindert.

Myasthenia gravis pseudoparalytica Unter den myasthenen Syndromen ist die Myasthenia gravis pseudoparalytica mit einer Inzidenz von ca. 1 / 100 000 Einwohner pro Jahr und einer weltweiten Prävalenz von ca. 80 / 100 000 Einwohner die häufigste Form. Sie betrifft Frauen häufiger als Männer (3 : 2) und kann sich in jedem Alter manifestieren. Es gibt jedoch zwei Häufigkeitsgipfel: Im Alter von 15–30 Jahren sind mehr Frauen betroffen, im Alter von 55–70 Jahren mehr Männer.

Ätiologie Die Ursache der Krankheit ist ungeklärt (genetische Disposition, Virusinfektion, Thymusveränderung), jedoch scheint der Thymus eine wichtige Rolle zu spielen. Bei mehr als 80 % der erkrankten Patienten liegt eine Veränderung des Thymus vor. Bei ca. 85 % davon ist eine Thymushyperplasie nachweisbar, bei 15 % ein Thymom. Dieses ist wiederum in ca. 35 % der Fälle maligne. Oft wurden im veränderten Thymus Myoidzellen mit Acetylcholinrezeptoren (ACHRezeptor) nachgewiesen, die eine „Fehlprägung“ von T-Lymphozyten bedingen könnten, wodurch ACH-Rezeptoren als Autoantigene erkannt würden. Die Myasthenia gravis kann auch mit Autoimmunerkrankungen wie SLE, rheumatoider Arthritis u. a. einhergehen.

Pathogenese Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der Antikörper gegen den nikotinergen ACH-Rezeptor auf der postsynaptischen Membran der motorischen Endplatte gebildet werden. Dadurch werden die Bindung von ACH an dessen Rezeptor blockiert und die postsynaptische Membran geschädigt. Der Reiz kann deshalb nicht auf den Muskel übertragen werden.

Klinik Symptome und Verlauf sind vielgestaltig, wobei sich die Muskelschwächen im Laufe des Tages oder bei wiederholt aufeinanderfolgender Betätigung stärker ausprägen und im Anfangsstadium der Krankheit bei Ruhe zurückbilden. Initial zeigt sich die Myasthenia gravis oft mit einer ein- oder beidseitigen Ptose. Es wird über Doppelbilder durch Augenmuskelschwäche, z. B. nach dem Lesen, berichtet. In bis zu einem Fünftel der Fälle bleibt eine rein okuläre Symptomatik bestehen, aber meist neigt die Myasthenia gravis zur Generalisation (→ ) innerhalb von ca. 24 Monaten nach Auftreten der okulären Symptomatik. Die amerikanische Gesellschaft für Myasthenia gravis schlug im Jahre 2000 eine modifizierte klinische Einteilung der Klassifikation nach Ossermann vor (→ ). Weitere Zeichen neben der Muskelschwäche sind das Fehlen von Atrophien sowie Faszikulationen. Im Endstadium sind die Lähmungen nicht mehr reversibel. Bei der lebensbedrohlichen myasthenen Krise kommt es durch einen plötzlichen ACH-Mangel zu akuter Zunahme der Lähmungen mit der Gefahr der Ateminsuffizienz. Auslöser können z. B. Infektionen, unzureichende Immunsuppression oder Medikamente, welche die Myasthenia gravis verschlechtern, sein (s. u.).

Tab. 43.1

Einteilung der klinischen Verlaufsformen der Myasthenia gravis nach Ossermann

Form

Klinik

I

Okuläre Form (ca. 20 % d. F.)

Ptose, Augenmuskellähmungen, Doppelbilder

II a+b

Leichte und mäßig schwere Generalisation (ca. 50 % d. F.)

Augensymptomatik und Facies myopathica, Ermüdbarkeit der Nacken- und Extremitätenmuskulatur (erst die proximale, dann zusätzlich die distale), leichte bulbäre Zeichen (Schluckstörungen, Dysarthrie, näselnde Sprache)

III

Schwere akute Generalisation Rasch progrediente Ausprägung der oben erwähnten Symptome mit Beteiligung der Atemmuskulatur (ca. 15 % d. F.)

IV

Chronische schwere Generalisation (ca. 15 % d. F.)

Stärkere Ausprägung der unter II genannten Symptome mit Atemmuskelschwäche

Tab. 43.2 Klinische Klassifikation der Myasthenia gravis entsprechend der Myasthenia gravis foundation of America (MGFA) 2000 (Neurology 2000) [F613] Klasse Klinische Merkmale I

Okuläre Symptome; darüber hinaus unauffällig Kraft

II

Leichtgradige generalisierte Schwäche; okuläre Symptome jeglichen Schweregrads möglich

III

Mäßiggradige generalisierte Schwäche; okuläre Symptome jeglichen Schweregrads möglich

IV

Schwergradige generalisierte Schwäche; okuläre Symptome jeglichen Schweregrads möglich

V

Intubationspflichtige generalisierte Schwäche

Weitere Unterteilung der Klassen II – IV in zwei Subgruppen A und B möglich

A

Vorwiegende Beteiligung der Extremitäten- und Rumpfmuskulatur, geringe Beteiligung der oropharyngealen Muskulatur

B

Vorwiegende Beteiligung der oropharyngealen Muskulatur und Atemmuskulatur, geringe oder gleichwertige Beteiligung der Extremitäten- und Rumpfmuskulatur

IVB

Notwendigkeit einer nasogastralen Ernährungssonde ohne Intubationspflicht

Diagnostik Bei repetitiver Beanspruchung der betroffenen Muskulatur tritt rasche Ermüdung ein. Diese Erscheinung wird durch den Simpson-Test erfasst, bei dem nach einem längeren (1–2 min) Blick nach oben die Ptose zunimmt. Nach i. v. Gabe eines Cholinesteraseinhibitors (z. B. Endrophoniumchlorid) tritt eine kurzzeitige (ca. 3 min) Besserung der Symptomatik ein und die Ptose geht vorübergehend zurück (Tensilon-Test). Im EMG nimmt die Amplitude der am Effektormuskel abgeleiteten Summenpotenziale nach wiederholter elektrischer Stimulation (3 Hz) eines peripheren Nervs kontinuierlich ab (→ ). In über 80 % der Fälle mit generalisierter Myasthenia gravis sind im Serum Antikörper gegen ACH-Rezeptoren nachweisbar. Bei bis zu 70 % der Patienten mit negativen ACH-Rezeptor-Antikörpern lassen sich muskelspezifische Tyrosinkinase-Antikörper (MuSK-AK) nachweisen bzw. bei paraneoplastischer Myasthenie bei Thymom oft Anti-Titin-Antikörper. In wenigen Fällen sind keine Antikörper nachweisbar (seronegative Myasthenia gravis).

Abb. 43.1

Amplitudenreduktion im EMG bei generalisierter Myasthenia gravis unter repetitiver Stimulation mit Hz [R261]

Wird die Diagnose einer Myasthenia gravis gestellt, muss der Thymus mittels CT oder MRT auf eine Hyperplasie oder einen Tumor hin untersucht werden. Beim Lambert-Eaton-Syndrom (s. u.) ist die Suche nach dem Primärtumor indiziert.

Differenzialdiagnose Das Lambert-Eaton-Syndrom (s. u.) zählt ebenfalls zu den myasthenen Syndromen und lässt sich differenzialdiagnostisch durch im EMG zunächst ansteigende Amplituden der Muskelsummenaktionspotenziale abgrenzen. Erkrankungen, die mit Augenmuskellähmungen einhergehen, wie z. B. die chronisch-progressive Ophthalmoplegie, das Kearns-Sayre-Syndrom, Miller-Fischer-Syndrom oder die okulopharyngeale Muskeldystrophie, sind nicht belastungsabhängig und haben weder einen positiven Tensilon-Test noch ACH-Rezeptor-Antikörper im Serum. Außerdem sind endokrinologische Störungen sowie Elektrolytverschiebungen (Hyper- bzw. Hypothyreose, Hyper- bzw. Hypokaliämie) zu beachten.

Therapie und Prognose In leichten Fällen wird die Myasthenia gravis symptomatisch mit einem Cholinesterasehemmer (z. B. Pyridostigmin) behandelt. Bei schwereren Verlaufsformen wird zusätzlich mit Kortikosteroiden ( Cave: vorübergehende Verschlechterung der Myasthenie nach Therapiebeginn möglich!) und evtl. Azathioprin immunsupprimiert. Durch eine Thymektomie unabhängig vom radiologischen Nachweis eines Thymoms kann eine Remission bzw. eine Verbesserung der Symptome insbesondere in den ersten 2 Jahren nach Krankheitsbeginn erreicht werden. Weitere Therapieoptionen im Falle einer Therapieresistenz, Symptomverschlechterung oder myasthenen Krise sind Plasmapherese oder Immunglobulintherapie. Die myasthene Krise stellt einen intensivüberwachungspflichtigen Notfall dar. Zahlreiche Medikamentengruppen führen zu einer Verschlechterung der myasthenen Symptomatik und können ggf. eine myasthene Krise auslösen. Daher ist vor Einsetzen eines Medikaments (z. B. Aminoglykoside, Betablocker, Barbiturate, Neuroleptika, orale Kontrazeptiva etc.) unbedingt darauf zu achten. Je höher die Verlaufsform in den Ossermann-Kriterien (→ ) beziffert ist, desto schlechter ist die Prognose.

Lambert-Eaton-Syndrom Das Lambert-Eaton-Syndrom (Syn. Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndrom [LEMS] Pseudomyasthenie) betrifft hauptsächlich Männer und ist in den meisten Fällen (50–70 %) paraneoplastisch (kleinzelliges Bronchialkarzinom), aber auch begleitend bei Autoimmunerkrankungen (z. B. Sjögren-Syndrom) anzutreffen. Antikörper gegen Kalziumkanäle an der präsynaptischen Membran stören die Freisetzung des ACH.

Klinik und Therapie

Die Pseudomyasthenie äußert sich durch Schwäche und abnorme Ermüdbarkeit der Muskeln, v. a. des Beckengürtels. Bei Muskelbelastung kommt es bei einem Teil der Patienten zu einer vorübergehenden Kraftzunahme. Neben vegetativen Symptomen (z. B. Mundtrockenheit) sind die Reflexe abgeschwächt. Im Gegensatz zur Myasthenia gravis bessert sich die Schwäche nach Pyridostigmin nicht, der Tensilon-Test ist nur schwach positiv und im EMG kommt es bei repetitiver Stimulation (20–30 Hz) zu einer vorübergehenden Amplitudenzunahme (Inkrement) der Aktionspotenziale. Okuläre Symptome fehlen i. d. R. Die meisten Patienten sprechen auf eine Therapie mit 3,4-Diamino-Pyridin an. Des Weiteren werden Kortikosteroide, Immunglobuline und die Plasmapherese eingesetzt, wobei die Prognose in Abhängigkeit von der Primärerkrankung meist ungünstig ist.

Weitere myasthene Syndrome Neugeborenen-Myasthenie Etwa 10 % der Kinder von Müttern mit Myasthenie haben in den ersten 5–8 Lebenswochen myasthene Symptome, die sich vollständig zurückbilden. Kongenitale Myasthenie Diese sehr seltene Krankheitsgruppe wird autosomal-rezessiv oder -dominant vererbt (kein autoimmunvermittelter Defekt) und spricht auf Therapien nur schlecht an. Im Kindesalter treten lebensbedrohliche Episoden von Ateminsuffizienz auf. Slow-Channel-Syndrom Eine autosomal- dominante Öffnungsstörung der Kationenkanäle an Acetylcholinrezeptoren führt zu belastungsabhängiger Muskelschwäche und Atrophie. Die bei Myasthenia gravis beschriebene Therapie ist unwirksam.

Zusammenfassung • Myasthenia gravis beruht auf einer Störung der Reizübertragung an der motorischen Endplatte infolge von Antikörpern gegen ACH-Rezeptoren, die in mehr als 80 % mit Thymusveränderungen zusammenhängen. Leitsymptom ist eine belastungsabhängige Zunahme der Muskelschwäche. Zur Diagnosestellung dienen neben der klinischen Präsentation Simpson- und Tensilon-Test, EMG und Antikörperbestimmung im Serum. Die Therapiewahl richtet sich nach dem Schweregrad. • Das Lambert-Eaton-Syndrom tritt meist paraneoplastisch auf und beruht auf einer Störung der präsynaptischen Acetylcholinfreisetzung.

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Myopathien Muskeldystrophien Die progressiven Muskeldystrophien sind genetisch determiniert und manifestieren sich meist im Kindesalter. Eine Störung des Muskelzellmembranproteins Dystrophin oder anderer Proteine, die vermutlich stabilisierend wirken, verursacht die chronisch-progrediente Skelettmuskeldegeneration mit Schwäche und Atrophie. Im Rahmen verschiedener Muskeldystrophien zeigt sich klinisch oft das Bild der Facies myopathica mit Schwund der mimischen Muskulatur, herabhängender Wangenpartie, wulstigen Lippen, verringerter Stirn- und Nasolabialfalten, geringer Ptose, emotionslos erscheinendem Gesichtsausdruck. Es bestehen weder Sensibilitätsstörungen noch Faszikulationen und die Muskeleigenreflexe bleiben so lange erhalten, wie der Muskel noch die Kraft für die Reflexantwort aufbringt. Typischerweise besteht im Muskelquerschnitt histologisch ein Nebeneinander von atrophischen und kompensatorisch hypertrophen Muskelfasern, die durch Fett- und Bindegewebe ersetzt werden (Pseudohypertrophie). Im Serum kann die Kreatinkinase (CK) je nach Typ bis auf das 300Fache erhöht sein und das EMG zeigt ein myopathisches Bild (polyphasische, niedrige Amplituden der Aktionspotenziale, dichtes Antwortmuster). Da eine kausale Therapie nicht möglich ist, stehen die symptomatische Therapie (Kontrakturprophylaxe, nicht-invasive Heimberatung, Physiotherapie etc.) und die genetische Beratung im Vordergrund.

Abb. 44.1

Gowers-Zeichen. Das Kind kann sich nur durch Abstützen am eigenen Körper aufrichten. [E694]

→ zeigt eine Auswahl verschiedener Formen der Muskeldystrophie, wobei unter diesen der Typ Duchenne mit einer Inzidenz von 1 : 3 500 am häufigsten ist.

Tab. 44.1

Charakteristika der Muskeldystrophien

Typ, Erbgang, Defekt

Klinik

Verlauf

Typ Duchenne (DMD) X-chromosomal-rezessiv Dystrophin fehlt

• Manifestation vor dem 3. Lj. mit Atrophien am Beckengürtel, die sich ausbreiten • Mühe beim Treppensteigen, Hohlkreuz mit vorstehendem Bauch und Pseudohypertrophie der Waden; im Verlauf Watschelgang (Schwäche der Hüftabduktoren, Trendelenburg-Hinken), Kontrakturen • Das Kind kann sich bereits früh nicht mehr aus dem Sitzen aufrichten, ohne sich mit den Händen am Körper hochzuhangeln (Gowers-Zeichen, → ) • Oft Organbeteiligung (Herz- und Ateminsuffizienz)

• Rasch progredient • Gehunfähigkeit zwischen dem 10. und 15. Lj. • Tod meist bis zum 40. Lj. (respiratorische Insuffizienz, Kardiomyopathie, Infekte) • Ca. 80 % sind mental retardiert, nicht progredient

Typ Becker-Kiener X-chromosomal-rezessiv Dystrophin ist reduziert

• Manifestation zwischen dem 10. und 20. Lj. • Klinisches Erscheinungsbild wie bei Typ Duchenne

• Benignes Pendant zum Typ Duchenne, 10-mal seltener • Langsamere Progredienz als bei Typ Duchenne, Manifestation zw. dem 5. und 20. Lj. • Gehunfähig nach dem 40. Lj. • Tod meist zwischen dem 40. und 50. Lj.

Emery-Dreifuss X-chromosomal-rezessiv

• Manifestation in Kindheit oder Adoleszenz • Dystrophie der Schulterpartie und des ventralen Unterschenkelbereichs • Schwere Kontrakturen und Kardiomyopathie

• Gehfähigkeit kann erhalten bleiben • Tod oft durch Herzrhythmusstörungen

Fazioskapulo-humeraler Typ autosomal-dominant

• Manifestation in Kindheit oder jungem Erwachsenenalter • Dystrophie der Gesichts-, Schultergürtel- und Unterschenkelmuskulatur • Facies myopathica,Scapulae alatae

• Gutartiger Verlauf • Lebenserwartung i. d. R. nicht wesentlich verkürzt

Okulopharyngealer Typ autosomaldominant mit GCG-RepeatVermehrung

• Manifestation zwischen dem 50. und 60. Lj. • Schluckstörungen, beidseitige Ptosis, Diplopie, evtl. proximale Muskelschwäche

• Gutartiger Verlauf

Gruppe der Gliedergürteldystrophien autosomal-rezessiv (ca. 90 %) bzw. autosomal-dominant (ca. 10 %)

• Manifestation zwischen dem 10. und 30. Lj. • Dystrophie des Beckengürtels; später Übergreifen auf den Schultergürtel

• Unterschiedliche Schweregrade

Myotonien Myotonien sind seltene erbliche Erkrankungen, deren Charakteristikum eine abnorme, die Innervation überdauernde Muskelkontraktion mit verzögerter Erschlaffung des Muskels ist. So können z. B. ein Händedruck oder die geschlossenen Augen nicht rasch wieder geöffnet werden. Beim Blick nach unten können die Oberlider zurückbleiben (Pseudo-Graefe-Zeichen, „Lid-Lag“-Phänomen). Die Extremitätenmuskulatur ist oft stärker betroffen. Die Patienten berichten über Muskelsteife. Kälte verstärkt die Symptomatik und auch Beklopfen der Muskeln mit dem Reflexhammer kann die myotone Kontraktion auslösen (z. B. andauernde Dellenbildung beim Schlag auf die Thenarmuskulatur).

Myotone Dystrophien Myotone Dystrophie Typ 1 (DM1) (Myotonia dystrophica Curschmann-Steinert) Diese Form beruht auf einem autosomal-dominant vererbten Defekt im Myotonin-Protein-Kinase-Gen mit einer repetitiven Trinukleotidsequenz (CAG) auf Chromosom 19. Von Generation zu Generation nimmt die Schwere der Erkrankung zu und tritt immer früher auf (Antizipation). Die von der Mutter übertragene kongenitaleForm ist durch Hypotonie der Muskulatur („Floppy infant“) und fehlende myotone Symptome gekennzeichnet. Überlebt das Kind die Neonatalphase, verläuft die Krankheit wie die Erwachsenenform. Bei der adultenForm, die sich zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr manifestiert, zeigen sich als Hauptsymptome eine Myotonie (v. a. der kleinen Handmuskeln), eine Linsentrübung (Katarakt) und eine progrediente Muskelschwäche und Muskelschwund mit charakteristischem Verteilungsmuster. Betroffen sind besonders die Gesichts-, Hals- und distale Extremitätenmuskulatur (Facies myopathica, Steppergang); im späteren Krankheitsstadium auch die proximale Muskulatur. Ebenfalls typisch ist die systemische Beteiligung. Hormonstörungen mit Stirnglatze, Hypogonadismus, Ovarialinsuffizienz, Diabetes mellitus und eine Innenohrschwerhörigkeit sind nicht selten. Häufig ist auch eine kardiale Beteiligung mit Herzrhythmusstörungen. Des Weiteren können eine Insulinresistenz, Tagesmüdigkeit, ein Schlaf-Apnoe-Syndrom, Dysphagie, Dysarthrie, Motilitätsstörungen des Gastrointestinaltrakts und mentale Retardierung bestehen. Im Verlauf kommt es zu Schmerzen in den Gelenken. Die Betroffenen versterben oft bei verkürzter Lebenserwartung mit ca. 50–60 Jahren an kardialen und respiratorischen Komplikationen. Macht man im EMG das charakteristische Entladungsmuster hörbar, so soll dies einem Sturzkampfbombergeräusch ähneln. Die Therapie erfolgt symptomatisch mit u. a. regelmäßiger Physiotherapie, engmaschigen Augenkontrollen und EKG-Kontrollen mit ggf. Herzschrittmacherimplantation, Hilfsmittelversorgung und ggf. Hormonsubstitution. Zur medikamentösen Behandlung der Myotonie können Mexiletin, Propafenon, Flecainid, Azetazolamid oder Carbamazepin eingesetzt werden ( Cave: Herzrhythmusstörungen!).

Myotone Dystrophie Typ 2 (DM2) (Proximale myotone Myopathie [PROMM]) Diese Form tritt seltener auf, manifestiert sich im Erwachsenenalter (meist zwischen dem 20. und 50. Lj.) und hat einen milderen Verlauf als die Myotonia dystrophica Curschmann-Steinert Es handelt sich um eine autosomal-dominant vererbte Multisystemerkrankung mit einer Repeat-Expansion von vier Basenpaaren (CCTG) auf Chromosom 3q213 im ZNF9-Gen. Eine Antizipation (s. o.) scheint nicht vorzuliegen. Neben der Myotonie zeigt sich die Muskelschwächeim Vergleich zur DM1 eher proximal betont. Typischerweise treten bei ca. einem Drittel der Patienten starke dumpfe Muskelschmerzen auf, die sich schwierig therapieren lassen. Weitere häufige Symptome sind eine Linsentrübung, Herzrhythmusstörungen, Hypogonadismus, Schilddrüsenfunktionsstörung und Diabestes mellitus. Der Verlauf ist sehr langsam progredient. Die Gehfähigkeit ist oft bis ins hohe Lebensalter sehr wenig beeinträchtigt und meist ist die Arbeitsfähigkeit erhalten. Die Symptome resultieren aus der Muskelschwäche. Die myotonen Symptome sind oft nicht therapiebedürftig. Im EMG zeigt sich ebenfalls ein „Sturzkampfbombergeräusch“. Therapeutisch werden gleiche Maßnahmen wie bei der DM1 ergriffen.

Kanalkrankheiten Unter dem Begriff „Kanalkrankheiten“ (Ionenkanalkrankheiten, Channelopathien) wird eine heterogene Gruppe von hereditären Skelettmuskelerkrankungen zusammengefasst. Genetische Mutationen führen zu defekten Ionenkanälen der Muskelzellen (Natrium, Kalium, Kalzium), was in einer Übererregbarkeit oder einer Untererregbarkeit der Muskelzellen resultiert.

Therapeutisch sollten Auslöser vermieden werden. Falls eine symptomatische Behandlung nötig ist, kommen bei Chloriderkrankungen z. B. Propafenon oder Flecainid infrage. Bei der hyperkaliämischen Paralyse werden z. B. Kohlenhydratzufuhr, Bewegung, Salbutamol, Thiaziddiuretika verordnet; bei hypokaliämischen Lähmungen werden z. B. Kaliumgabe, Vermeidung von körperlicher Anstrengung oder Kohlenhydrate eingesetzt. Depolarisierende Pharmaka (Succinylcholin, Prostigmin) können eine maligne Hyperthermie auslösen. Im Folgenden sind klinische Besonderheiten einiger Formen dargestellt.

Chloridkanalerkrankungen MyotoniacongenitaThomsen (autosoma-dominant; Manifestation: frühe Kindheit) und MyotoniacongenitaBecker (autosomal-rezessiv; Manifestation: Teenageralter): Beide Formen beruhen auf Gendefekten des muskulären Chloridkanal-1-Gens (CLCN1-Gen) auf Chromosom 7 (ca. 40 Mutationen bekannt). Durch die verminderte Leitfähigkeit im Chloridkanal kommt es zu einer vermehrten Depolarisationsneigung der Muskelzellen mit gesteigerter Kontraktilität und gestörter Erschlaffung. So kann z. B. ein Faustschluss verzögert wieder geöffnet werden. Ein Schlag mit dem Reflexhammer auf den betroffenen Muskelbauch führt zur Dellenbildung z. B. an Zunge oder Extremitäten (Perkussionsmyotonie). Es wird dadurch eine generalisierte Steife der Muskulatur empfunden, insbesondere nach längeren Ruhephasen. Eine Wiederholung der Bewegung führt zu einer Besserung der Steifigkeit (Warm-up-Phänomen). Die Betroffenen imponieren mit athletischem Habitus mit Hypertrophie der Skelettmuskulatur (oft untere Extremitäten), Spitzfußstellung. Die symptomatische Behandlung mit Membranstabilisatoren (z. B. Metilexin, Phenytoin) kann die myotone Symptomatik bessern. Die Symptomatik ändert sich im Verlauf wenig und kann langsam progredient verlaufen.

Weitere Kanalerkrankungen Paramyotonia congenita Eulenburg (Natrium-Kanal-Mutation): Durch eine stark verlangsamte Inaktivierung der Natrium-Kanäle kommt es bei Bewegung oder Kälte zu einem vermehrten Natriumeinstrom in die Zelle mit anhaltender leichter Depolarisation und Generation von spontanen Aktionspotenzialen, die zu Muskelkontraktion führen. Meist von Geburt an symptomatisch ohne Progredienz; Myotonie in Wärme nur gering oder nicht symptomatisch myotone Symptome werden durch lange Muskelarbeit oder Kälte verstärkt mit im Anschluss über mehrere Stunden anhaltender Schwäche; betroffen sind insbesondere Gesichts-, Hals- und Augenmuskeln, Schluck- und distale Extremitätenmuskeln. „Lid-lag“-Phänomen, jedoch selten Perkussionsmyotonie oder Faustschlussmyotonie, wiederholter kräftiger Augenschluss führt zu einer Verlangsamung der Lidöffnung, insbesondere nach Kühlung. Familiäre hyperkaliämische periodische Paralyse (Natrium-Kanal-Mutation): gestörte Schließung der Natriumkanäle am Ende der Depolarisation. Die myotone Symptomatik ist mild, jedoch bei Attacken verstärkt. Lähmung sind z. B. durch fehlende Kohlenhydratzufuhr, Kälte, Ruhephase nach Belastung oder Kaliumchlorid (z. B. Cola) auslösbar; das Atemvolumen kann lebensbedrohlich reduziert sein. Manifestation meist im Teenageralter. Es kommt zu Attacken mit spontaner Rückbildung, meist wenige Minuten bis zu 2 h andauernd. Im Anfall ist das Serumkalium erhöht. Prophylaxe: Anstreben von niedrigem Kaliumspiegel (z. B. Thiaziddiuretika). Eine Attackencoupierung durch Bewegung bzw. Kohlenhydratzufuhr ist gelegentlich möglich. Familiäre hypokaliämische periodische Paralyse (Kalzium-Kanal-Mutation): Ruhephase nach körperlicher Anstrengung, Insulininjektion oder kohlenhydratreiche Mahlzeiten lösen Lähmungsattacken aus. Während der Attacke besteht eine Hypokaliämie ( Cave: Herzrhythmusstörungen, Herzversagen, Atemlähmung!). Die Manifestation erfolgt meist im 2. Lebensjahrzehnt; anfangs mit großen Anfallsintervallen (mehrere Monate), die an Häufigkeit und Intensität zunehmen. Die Attacken finden häufig nachts und am frühen Morgen statt und dauern über mehrere Stunden, selten auch Tage mit langsamer Rückbildung. Häufig beginnen sie an der proximalen Extremitätenmuskulatur mit rascher Ausbreitung. Prophylaxe: salzarme Diät, Vermeidung von Auslösern, Azetazolamid, ggf. kaliumsparende Diuretika; Die Attacken werden bei leichter Schwäche durch leichte Bewegung behandelt, bei schweren Lähmungen durch Kaliumsubstitution.

Seltene Erkrankungen mit myotonen Symptomen Stiff-Person-Syndrom Autoimmunerkrankung des ZNS und der endokrinen Drüsen mit einer über Jahre langsam progredienten Tonuserhöhung der Muskulatur mit zusätzlich einschießenden schmerzhaften Spasmen, die durch Außenreize und innere Reize getriggert werden können (z. B. Bewegung, Berührung, Kälte, gesteigerte Schreckreaktion). Bei ca. 70 % werden Autoantikörper gegen Glutamatdecarboxylase (GAD-AK) nachgewiesen.Es besteht eine Assoziation mit weiteren Autoimmunkrankheiten (z. B. Diabetes mellitus Typ 1). Betroffen sind v. a. die Rückenmuskulatur und die rumpfnahe Muskulatur der Beine. Klinisch besteht eine Gangstörung mit Stürzen, Freezing, Hyperlordose, gesteigerte MER und autonomer Dysregulation (Tachykardie, vermehrtes Schwitzen, Blutdrucksteigerung). Therapeutisch werden eine Immunsuppression (Glukokortikoide, Immunglobuline, Plasmapherese) sowie Benzodiazepine oder Baclofen eingesetzt.

Neuromyotonie (Isaac-Mertens-Syndrom) Autoimmunerkrankung; auch paraneoplastisch (z. B. Bronchialkarzinom, Thymom) mit Nachweis von Autoantikörpern gegen spannungsabhängige Kaliumkanäle. Es besteht eine Übererregbarkeit peripherer motorischer Nerven mit anhaltender Muskelfaseraktivität in Ruhe, was klinisch zu Muskelkrämpfen, Faszikulationen, und Myokymien (wellenförmige Muskelanspannungen), verlangsamter Relaxation nach Willkürinnervation, abgeschwächten Reflexen und hypertropher Muskulatur führt. Oft treten auch autonome Symptome (vermehrtes Schwitzen, Tachykardie, Obstipation, etc.) auf. Eine Assoziation mit anderen Autoimmunerkrankungen ist häufig (Myasthenia gravis, Diabetes mellitus, Systemischer Lupus erythematodes etc.). Die Behandlung erfolgt symptomatisch mit Membranstabilisatoren wie z. B. Carbamazepin und Immunsuppressiva (Prednisolon, Azathioprin).

Myositiden Klinisch weisen die entzündlichen Myopathien meist einen symmetrischen Befall der Muskeln auf, deren Schwäche rasch voranschreitet und auch mit dumpfen, muskelkaterartigen Schmerzen verbunden sein kann. Zu Sensibilitätsstörungen kommt es nicht. Oft ist die Aktivität der Kreatinkinase (CK) im Serum stark erhöht.

Autoimmun bedingte Myopathien Polymyositis und Dermatomyositis Diese beiden Krankheiten gehören zur Gruppe der Kollagenosen und rufen entzündliche Veränderungen der Skelettmuskulatur hervor. Sie können die hierfür typischen Begleitsymptome haben, z. B. Arthralgien, Raynaud-Phänomen, systemische Beteiligung wie z. B. Gastrointestinaltrakt, Kardiomyopathie. Die Erkrankungen sind mit einer Inzidenz von 5 / 100 000 Einwohner eher selten und betreffen mehr Frauen. Klinik • Polymyositis: Es entwickelt sich subakut eine symmetrische, proximal betonte Muskelschwäche besonders der unteren Extremität, die sich im Verlauf nach kranial ausbreitet (Beteiligung der Nackenmuskulatur sowie Pharynx und Ösophagus) und im späten Stadium auch die distale Extremitätenmuskulatur betrifft. Die befallene Muskulatur kann druckschmerzhaft sein. • Dermatomyositis: Zusätzlich zur klinischen Erscheinungsform der Polymyositis treten Hautveränderungen auf (z. B. blauviolettes Erythem des Gesichts und der Streckseiten der Extremitäten [„Lilakrankheit“, → ] Teleangiektasien, Gesichtsödeme und Pigmentverschiebungen). In über 60 % besteht die DermatomyositisalsparaneoplastischesSyndrom.

Abb. 44.2

Symmetrisches, blauviolettes Erythem an Stirn, Wangen und Händen bei Dermatomyositis [R186]

Diagnostik und Therapie Erhöhte Entzündungsparameter (BSG, CRP) und Muskelenzyme (CK, LDH, Aldolase), ein myopathisches Muster mit Spontanaktivität im EMG und entzündliche Infiltrate in der Biopsie führen zur Diagnose. Die Behandlung erfolgt immunsuppressiv mit Kortison als Mittel der Wahl. Bei schweren Verläufen und Nichtansprechen der Kortisontherapie: Azathioprin.

Polymyalgia rheumatica Die Polymyalgia rheumatica ist ebenfalls den Kollagenosen zuzuordnen und hat eine Prävalenz von 50 – 100 / 100 000 Einwohner bei den über 70-Jährigen, wobei überwiegend Frauen erkranken. Klinik Innerhalb von Tagen setzen wandernde Schmerzen bevorzugt der stammnahen Extremitäten- und Nackenmuskulatur sowie ein Steifheitsgefühl ein. Es bestehen auch Arthralgien, Paresen und später auch durch die Inaktivität hervorgerufene Atrophien. Die Beschwerden sind in der zweiten Nachthälfte und morgens besonders stark ausgeprägt. Eine Kombination mit der Arteriitis temporalis Horton ist häufig. Bei Letztgenannter sind ein heftiger Kopfschmerz und eine verdickte, druckschmerzhafte Temporalarterie typisch. Die Gefahr des Visusverlusts besteht durch einen Zentralarterienverschluss oder eine anteriore ischämische Optikusneuropathie. Gelegentlich kann es im Rahmen einer zerebralen Vaskulitis zu einem Schlaganfall kommen. Diagnostik und Therapie Die Diagnose wird durch das klinische Bild, eine starke Erhöhung der BSG („Sturzsenkung“) und Nachweis von Riesenzellen (ca. 40 % der Fälle) in der Temporalarterienbiopsie gestellt. Die rasche Beschwerdefreiheit unter hoch dosierter Glukokortikoidgabe kann ebenfalls zur Diagnostik herangezogen werden. Ein positiver Nachweis von Rheumafaktoren und ANCA spricht für die Kollagenose.

Einschlusskörpermyositis Klinik Die Ätiologie ist noch weitestgehend unbekannt. Eine Assoziation mit autoimmun vermittelten Erkrankungen ist häufig beschrieben. Der Verlauf ist über Jahre hinweg langsam progredient und manifestiert sich meist nach dem 50 Lj. mit muskelkaterartigen Schmerzen. Das Verteilungsmuster der Paresen, die sich ausbreiten können, ist oft asymmetrisch mit häufiger Primärmanifestation an den distalen Extremitäten. Diagnostik und Therapie Das klinische Bild, die Elektromyografie mit Veränderungen wie bei der Polymyositis und die Muskelbiopsie mit den charakteristischen „Rimmed vacuoles“ in Muskelfasern sind diagnostisch wegweisend. Im Gegensatz zur Polymyositis und Dermatomyositis ist die Einschlusskörpermyositis überwiegend therapieresistent.

Erregerbedingte Myopathien Parasiten, Viren und Bakterien können eine Muskelentzündung hervorrufen (→ ). Die Behandlung erfolgt i. d. R. kausal dem Erreger angepasst.

Tab. 44.2

Erregerbedingte Myopathien

Erreger

Klinik

Parasiten ( Trichinella spiralis , Taenia solium )

Häufig asymptomatisch, Muskelschmerzen, Exantheme

Viren (ECHO-, Influenza-, Coxsackieviren)

Sehr starke Muskelschmerzen mit schmerzbedingter Atemstörung und spontaner Rückbildung der Symptome nach wenigen Tagen (Bornholmer Krankheit)

Bakterien (Staphylokokken, Borrelien, Clostridien)

Allgemeine Entzündungszeichen, Abszedierung der Muskulatur, Myositiden und Myalgien

Metabolische Myopathien Diese Störungen des Energiestoffwechsels sind sehr selten und sollten differenzialdiagnostisch bei unterschiedlicher Organbeteiligung und schwer einzuordnenden Myopathien berücksichtigt werden. Im Folgenden ist eine Auswahl metabolischer Myopathien dargestellt.

Glykogenosen Ein Enzymdefekt im Kohlenhydratstoffwechsel führt bei den autosomal-rezessiv vererbten Glykogenosen zu Glykogenablagerungen in Muskel- und Lebergewebe. Dieser Krankheitsgruppe wird z. B. die GlykogenoseII (Pompe-Krankheit, Saure-Maltase-Mangel) zugeordnet, die sich klinisch mit Muskelparesen des Schulter- und Beckengürtels, Muskelatrophie und Muskelhypotonie, Atemstörungen, Kardiomyopathie sowie Hepatomegalie darstellt. Die GlykogenoseV (McArdle-Krankheit) ist durch belastungsabhängige Muskelschmerzen und Kontrakturen bis hin zur Rhabdomyolyse bei körperlicher Betätigung gekennzeichnet.

Mitochondriale Myopathien Zu den mitochondrialen Myopathien zählt das Kearns-Sayre-Syndrom (Ophthalmoplegia plus) mit chronisch-progredienter externer Ophthalmoplegie (Ptose, Doppelbilder, retinale Degeneration) und Adams-Stokes-Anfällen. Weitere Symptome sind Demenz, fokale Epilepsie, generalisierte Muskelschwäche, Sensibilitätsstörungen, Hyporeflexie und Ataxie. Beim MELAS-Syndrom liegt eine Störung der Atmungskette vor, die bereits im Kindesalter beginnt und durch die Leitsymptome „Stroke-like episodes“, Enzephalopathie und Laktatazidose charakterisiert ist. Für das MERRF-Syndrom sind Myoklonien und generalisierte Krampfanfälle typisch.

Medikamentös-toxisch induzierte Myopathien Eine Vielzahl von Medikamenten, z. B. Betablocker, Phenytoin, Amiodaron, Levodopa, Chloroquin und Steroide, können eine Myopathie auslösen, die mit Paresen und z. T. Myalgien einhergehen kann. Statine, Barbiturate und Amphetamine können zusätzlich eine Rhabdomyolyse auslösen.

Steroidmyopathie Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Steroiddosis und dem Auftreten der Myopathie. Klinisch zeigen sich ca. 7–120 Tage nach Therapiebeginn rasch einsetzende, i. d. R. proximal betonte Paresen, wobei eine Beteiligung der Atemmuskulatur möglich ist. Mehrere Wochen nach Absetzen der Steroidtherapie ist eine Komplettremission zu erwarten.

Alkoholinduzierte Myopathie Als Pathomechanismus wird ein direkter toxischer Effekt auf die Muskulatur vermutet. Befallen ist die proximale Muskulatur. Es gibt eine akute Form mit über Stunden bis Tage entstehenden Paresen, Muskelschmerzen, Rhabdomyolyse und z. T. Schwellung der Muskulatur. Laborchemisch zeigen sich eine deutliche Erhöhung der CK und eine Erniedrigung des Kalium- und des Phosphatserumspiegels. Die chronisch verlaufende Form ist oft wenig schmerzhaft und kann Muskelatrophien aufweisen. Bei Alkoholabstinenz ist eine Besserung zu erwarten, jedoch häufig keine Remission.

Zusammenfassung • Muskeldystrophien unterscheiden sich durch den Erbmodus, die Manifestation und den Defekt der Muskelproteine, die den Verlauf der Krankheit entscheidend bestimmen. Die Muskelschwächen manifestieren sich meist stammnah und dehnen sich im Verlauf nach distal aus. • Myotonien: durch Muskelsteife / verzögerte Erschlaffung gekennzeichnet. • Myotone Dystrophie Typ 1 (Curschmann-Steinert) (autosomal-dominant): Die kongenitale Form ist durch hypotone Muskulatur, die adulte Form durch eine Kombination von generalisierten myotonen Symptomen, Schwäche der distalen Extremitätenmuskulatur und systemische Beteiligung charakterisiert. • Bei der Myotonia congenita Thomsen (autosomal-dominant) und Becker (autosomal-rezessiv) imponieren ausgeprägte myotone Reaktionen und ein athletischer Habitus. • Autoimmun bedingte Myopathien werden der Gruppe der Kollagenosen zugeordnet. Kennzeichnend sind entzündliche Muskelveränderungen, häufig Arthralgien und muskelkaterähnliche, dumpfe Schmerzen. – Polymyositis: symmetrische, proximal betonte Muskelschwäche besonders der unteren Extremität; Beteiligung von Ösophagus und Pharynx möglich – Dermatomyositis: zusätzlich zur Klinik der Polymyositis Affektion der Haut mit blauviolettem Erythem an Streckseiten der Extremitäten und Gesicht sowie Pigmentverschiebungen; in mehr als der Hälfte der Fälle als paraneoplastisches Syndrom – Polymyalgia rheumatica: charakterisiert durch wandernde Schmerzen der stammnahen Muskulatur und massive Erhöhung der BSG • Metabolische Myopathien sind bedingt durch sehr seltene Störungen des Energiestoffwechsels. – Glykogenosen, mitochondriale Myopathien: sehr selten auftretende heterogene Krankheitsbilder, die neben Muskelschwäche und Atrophie mit systemischer Beteiligung einhergehen.

Spezielle Themen

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Störungen des autonomen Nervensystems Das autonome (vegetative, viszerale) Nervensystem steuert die Funktion der glatten Muskulatur der Eingeweide und Gefäße sowie die endokrine und exokrine Funktion der Drüsen. Es passt die vegetativen Funktionen des Körpers (z. B. Kreislauf, Atmung, Verdauung, Stoffwechsel, Körpertemperatur) an entsprechende Umwelteinflüsse an und ist hierbei der bewussten Steuerung weitgehend entzogen. Das autonome Nervensystem gliedert sich in einen sympathischen und einen parasympathischen Anteil, die i. d. R. antagonistisch zueinander wirken; jedes Organ wird grundsätzlich von beiden Teilen versorgt. Der Hypothalamus ist das übergeordnete Steuerzentrum und erhält Impulse aus dem limbischen System. Sympathikus Er hat eine aktivierende, energiemobilisierende Wirkung auf die Organe und bereitet den Körper auf die Bewältigung von Aufregungs- und Stresssituationen (sog. Flucht- und Kampfsituation) vor. So kommt es am Herzen z. B. zur Steigerung der Herzfrequenz, der Erregungsleitungsgeschwindigkeit und der Kontraktionskraft. Des Weiteren bewirkt der Sympathikus eine Bronchodilatation, Pupillenerweiterung, Sphinkterkontraktion, Gefäßerweiterung in Herz und Skelettmuskulatur und Gefäßverengung in Haut und GI-Trakt, Schweiß- und Adrenalinsekretion (Nebennierenmark), Glykogen- und Triglyzeridabbau etc. Anatomisch ist das erste Neuron des sympathischen Teils im Seitenhorn des thorakalen und lumbalen Rückenmarks lokalisiert. Die Umschaltung auf das zweite Neuron erfolgt in den paravertebralen Ganglien (Grenzstrang), von wo aus die Neurone zu den Erfolgsorganen ziehen. Die Transmitter an den Synapsen sind präganglionär Acetylcholin und postganglionär Noradrenalin (in der Nebennierenrinde Adrenalin). Parasympathikus Aufgabe des Parasympathikus ist, die Körperfunktionen auf die Einsparung und den Wiederaufbau von Energien in Ruhesituationen umzustellen. Beispiele hierfür sind Senkung der Herzfrequenz und Erregungsleitungsgeschwindigkeit des Herzens, Bronchokonstriktion, Pupillenverengung, Gefäßdilatation und Motilitätssteigerung des GI-Trakts, Steigerung der Drüsensekretion (z. B. Pankreas, Speicheldrüsen). Die hierfür zuständigen Zentren sind im Hirnstamm (III, VII, IX, X) und im sakralen Rückenmark zu finden. Die vegetativen Ganglien des Parasympathikus, wo ebenfalls die Umschaltung vom ersten auf das zweite Neuron erfolgt, liegen in der Peripherie in Organnähe. Die Transmittersubstanz ist an beiden Neuronen Acetylcholin. Das autonome Nervensystem bildet meist in Organnähe eine Vielzahl von ausgedehnten Geflechten (Plexus), die sowohl aus sympathischen als auch aus parasympathischen Fasern bestehen. Die Unterscheidung zwischen Sympathikus und Parasympathikus gilt nur für die efferenten Neurone des vegetativen Nervensystems. Die afferenten Reize aus den Organen werden auf Rückenmarksebene auf das gleiche Neuron verschaltet wie die somatosensiblen Impulse der Haut. Zum Teil werden diese Impulse hier verarbeitet und als spinaler Reflexbogen zum Organ zurückgeleitet, z. T. nach zentral weitergeleitet, wo sie als somatosensibler Reiz interpretiert werden (Head-Zone). So kommt es, dass somatische Schmerzen (z. B. Schmerzen des linken Arms) von viszeralen Schmerzen (Myokard-ischämie) herrühren können.

Klinik Läsionen auf den unterschiedlichen Ebenen des Nervensystems können zu vegetativen Dysfunktionen führen (→ ). Grundsätzlich kann man bei einer Störung der hohen kortikalen Regulationszentren einen Ausfall des willkürlichen Anteils des autonomen Nervensystems beobachten. So kann z. B. nach einer hohen Hirnstammläsion u. a. auch die willkürliche Regulation der Atmung fehlen. Liegt die Schädigung auf Höhe der integrativen Zentren (z. B. Hypothalamus, Hirnstamm), die den autonomen und den willkürlichen Anteil miteinander verarbeiten, werden oft eine dysregulierte Aktivität (Cheyne-Stokes-Atmung) bzw. Dyssynergien der Endorgane (Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie der Harnblase) beobachtet.

Abb. 45.1

Verteilung des autonomen Nervensystems [L190]

Erkrankungen des vegetativen Nervensystems können sich klinisch in Form von Dysfunktionen des Darms, der Blase, Schweißsekretionsstörungen, orthostatischer Hypotonie, Horner-Syndrom und Störungen der Sexualfunktionen zeigen. Bei den Polyneuropathien (z. B. Diabetes mellitus, alkoholtoxisch) können vegetative Fasern im gesamten Körper betroffen sein. Das vegetative Nervensystem kann toxisch, z. B. durch Medikamente (z. B. Antihypertensiva), durch eine Phosphorsäureester-Vergiftung (Überwiegen des Parasympathikus: Miosis, Koliken, Krämpfe, RR-Abfall, Lähmungen, Bradykardie etc.) und durch Botulismus (Augenmuskelparesen, zunächst vermehrter, dann verminderter Speichelfluss, Tachykardie, Schlucklähmung, Magenatonie, Obstipation, Schwäche der Atemmuskulatur bis hin zur Atemlähmung) geschädigt werden. Daneben gibt es einige sehr selten vorkommende hereditäre Störungen sowie degenerative Stammganglienerkrankungen, die das autonome Nervensystem betreffen, z. B. das Shy-Drager-Syndrom, MSA oder die autosomal-rezessive familiäre Dysautonomie (Riley).

Diagnostik Am Beginn der Untersuchung steht eine genaue Anamnese, insbesondere der Sexual-, Stuhl- und Urinfunktionen. Daneben sollte auch nach Sensibilitätsstörungen im Sinne einer Polyneuropathie, nach Zeichen vegetativer Labilität (Schweißneigung, trockene Augen, Dermografismus), nach systemischen Erkrankungen (Diabetes mellitus) und auffälligen Hautveränderungen gefragt werden. Zu den klinischen Tests gehören: Schirmer-Test Hiermit wird die Tränensekretion durch Einlage eines Löschpapierstreifens an der Unterlidkante gemessen. Normal ist eine Befeuchtung des Streifens von ca. 10–20 mm nach 5 min. Als pathologisch gelten Werte unter 5 mm bzw. eine Seitendifferenz von mehr als 30 % (z. B. bei Fazialisparese). Minor-Schweißtest Dieser Test wird zur Lokalisationsdiagnostik von Schweißsekretionsstörungen durchgeführt. Hierzu wird der zu untersuchende Hautbereich bzw. der ganze Körper mit einer Iodlösung bestrichen, anschließend mit Stärkepuder bestäubt und 20 min unter einen Lichtkasten gelegt. Der Schweiß löst eine Iod-StärkeReaktion mit dunkler Verfärbung der entsprechenden Hautpartien aus. Stellen ohne Schweißbildung bleiben weiß. Erfolgt keine ausreichende Schweißbildung, kann der Test statt Erwärmung mit pharmakogen induzierter Sekretion (Pilocarpin 0,01 g s. c.) wiederholt werden. Ninhydrintest Zur Beurteilung der Schweißsekretion der distalen Extremitäten wird der Ninhydrintest durchgeführt. Man nimmt einen Abdruck der Hand oder des Fußes auf einem weißen Blatt Papier. Das Papier wird dann in eine 1-prozentige Ninhydrin-Azeton-Essig-Lösung getaucht und unter Heißluft getrocknet. Unter physiologischer Schweißbildung färbt sich der Abdruck violett. Bereiche mit Sekretionsstörung bleiben weiß. Schellong-Test Zur Prüfung der orthostatischen Funktion dient der Schellong-Test. Hiermit können sympathiko- bzw. parasympathikogene Regulationsstörungen erfasst werden. Zur Durchführung soll der Patient ca. 10 min flach auf dem Rücken liegen. Anschließend werden Blutdruck und Puls erst in liegender Position, dann

sofort nach dem raschen Aufstehen und im Folgenden nach 2, 4, 6, 8 und 10 min in ruhig stehender Position gemessen. In → ist die Interpretation der Ergebnisse kurz dargestellt.

Abb. 45.2

Bewertung der Blutdruck- und Pulsmesswerte im Schellong-Test nach dem Aufrichten aus liegender Position [M822]

Zusammenfassung • Das vegetative Nervensystem gliedert sich in einen sympathischen und einen parasympathischen Anteil und versorgt weitgehend autonom die glatte Muskulatur von Gefäßen und Organen sowie die Sekretion der Drüsen. • Eine Schädigung der vegetativen Funktion zeigt sich klinisch u. a. durch eine Miktions- und Defäkationsstörung, orthostatische Hypotonie, Störung der Sexualfunktionen und Schweißsekretion, Horner-Syndrom. • Störungen des autonomen Nervensystems können durch einfache klinische Tests (z. B. Schellong-Test, Ninhydrintest, Minor-Schweißtest) erfasst werden.

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Funktionelle Störungen Dieses Kapitel beschäftigt sich mit körperlichen Beschwerden und Symptomen, für die keine fassbare organische Ursache gefunden werden kann. Häufig werden sie auf einen psychischen Konflikt zurückgeführt, der sich in Form von körperlichen Erscheinungen äußert. In vielen Fällen ist eine Ausweitung von Symptomen einer organisch greifbaren neurologischen Erkrankung zu beobachten. In diesem Zusammenhang werden zum einen Symptome beschrieben, die sich aus somatischer Sicht nicht mit der vorhandenen Erkrankung vereinbaren lassen, zum anderen werden Beschwerden empfunden, deren Intensität sich im Verhältnis zur Läsion unverhältnismäßig stark oder schwach darstellt. Diese Störungen werden i. d. R. als „funktionell“, „psychogen“, „somatoform“ oder als „nicht organisch“ bezeichnet. Es gibt noch keine einheitliche Klassifikation und Terminologie dieser neurologischen Beschwerdebilder. Die Prävalenz funktioneller Störungen wird mit ca. 25–30 % angegeben. Etwa 10 % aller Anfallsattacken und Schwindelepisoden sind psychogen bedingt. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Symptome, wobei Schmerzen (meist wandernd, unspezifisch, generalisiert) und Schwindel zu den häufigsten Beschwerden zählen. Klinisch ist es von enormer Bedeutung, eine zugrunde liegende organische Ursache der Funktionsstörungen auszuschließen. Die zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten wie z. B. evozierte Potenziale können in manchen Fällen eine große Hilfe sein. Entscheidend ist es, in der Anamnese auf eine auslösende Konfliktsituation in der Vergangenheit sowie auf einen zeitlichen Zusammenhang des Auftretens der Symptome bzw. eines Symptomwandels und bestimmter Konfliktsituationen zu achten. Ein bisweilen beobachtetes Merkmal funktioneller Symptome ist die scheinbare Sorglosigkeit gegenüber den Ausfallerscheinungen („belle indifférence“). Erhärtet sich der Verdacht einer somatoformen Störung, kann eine Psychotherapie helfen, die Beschwerden zu bewältigen und den seelischen Konflikt aufzuarbeiten. Dies gestaltet sich in vielen Fällen nach einer jahrelangen Somatisierung und iatrogenen Fixierung der Symptome schwierig. Neben den psychosomatisch manifestierten Beschwerdebildern kommt es auch vor, dass neurologische Funktionsstörungen bewusst simuliert bzw. bereits bestehende Symptome verstärkt werden. Dahinter stehen meist finanzielle Interessen oder persönliche Vorteile für den Patienten. Im Folgenden werden einige wichtige Symptombilder dargestellt.

Psychogener Schwindel Diese Form der Somatisierung entsteht in Zusammenhang mit Angstneurosen oder Phobien als phobischer Schwankschwindel . Mit ca. 15 % ist dies die dritthäufigste Ursache für Schwindel. Der Attackenschwindel manifestiert sich oft in besonderen Belastungssituationen. Es entsteht eine rasche Konditionierung und Generalisierung, wobei der Patient Vermeidungsstrategien entwickelt. Die Attacken treten typischerweise situations- oder ortsgebunden auf. So berichten die Patienten beispielsweise von Schwindelanfällen unter großen Menschenmengen (z. B. Kaufhaus), auf Brücken oder Treppen, auf großen Plätzen oder in leeren Räumen. Die Betroffenen haben einen deutlichen Leidensdruck. Es besteht eine subjektive Gang- und Standunsicherheit, wobei die Umwelt wie auf einem Schiff mit hohem Wellengang schwankt. Diese Situation ist mit einem panikartigen Angstgefühl verbunden, das sich objektiv mit den entsprechenden vegetativen Symptomen äußert (Tachykardie, Schwitzen, Tremor).

Psychogener Anfall Funktionelle Anfallssyndrome (dissoziative Anfälle, hysterische Anfälle, Pseudoseizures) treten öfter bei Frauen auf und sind häufig Ausdruck einer als bedrohlich empfundenen Situation. Das Erscheinungsbild der psychogenen Anfälle ist vielgestaltig und kann schwer von einem epileptischen Anfall zu differenzieren sein. Bei einem großen psychogenen Anfall ist der Opisthotonus mit ventraler Flexion des Körpers zur Brücke („Arc de cercle“) charakteristisch, wobei sich die Patienten häufig auf den nach oben geschlagenen Armen, den reklinierten Kopf und den Zehenspitzen aufstützen. Man beobachtet auch häufig unkoordinierte, theatralische Zuckungen, Zittern, Strampeln, abrupte Abwendung des Kopfes, Faustschluss und bizarre Haltungen des Körpers. Hin und wieder verharren die Patienten auch reglos, schlaff, mutistisch, mit geschlossenen Augen oder starrem Blick Minuten bis Stunden in einer Stellung („Totstellreflex“). Die Patienten verletzen sich i. d. R. nicht und das EEG ist unauffällig.

Psychogene Lähmung In einigen Fällen liegt einer funktionellen Lähmung eine leichte organische Läsion zugrunde. Der Verdacht auf eine psychogene Parese stellt sich u. a. bei einer auffälligen Diskrepanz zwischen dem Ausmaß der angegebenen Lähmung und dem Fehlen einer Atrophie sowie erhaltenen Muskeleigenreflexen. In der klinisch-neurologischen Untersuchung zeigt sich der Kraftgrad inkonstant. So können die Betroffenen beispielsweise mit leicht in den Knien flektierten Beinen stehen, aber das Gehen erscheint unmöglich. Ein plötzliches Nachgeben in der Kraftprüfung oder ein fehlender Versuch, eine Bewegung auszuführen, sind charakteristisch. In der Gangprüfung führen die Patienten theatralische Bewegungen aus, um ihre Schwäche vorzuführen. Funktionelle Lähmungen deuten sich häufig durch artifizielle Mitbewegungen an. Beispiele sind eine vermehrte Atmung bzw. ein angestrengter Gesichtsausdruck bei einem schwachen Händedruck. In der Kraftprüfung kann man eine unwillkürliche Mitinnervation der vermeintlich gelähmten Seite bei der Untersuchung der Gegenseite beobachten. Während der Untersuchung sollte der Patient z. B. durch Rechenaufgaben abgelenkt werden, wobei auf eine spontane Bewegung der geschonten Extremität zu achten ist. Eine gute Möglichkeit, eine funktionelle Parese der unteren Extremität aufzuspüren, bietet der Hoover-Test. Hierbei liegt der Patient auf dem Rücken und der Untersucher legt die Ferse des paretischen Beins in seine Hand. Er fordert den Patienten auf, die Ferse des „gelähmten“ Beins in seine Hand zu drücken, und spürt i. d. R. keine Bewegung. Der Patient soll nun das „gesunde“ Bein gestreckt anheben und drückt hierbei die Ferse des „paretischen“ Beins automatisch in die Hand des Untersuchers, um die Bewegung auszuführen. Die Ableitung motorisch evozierter Potenziale ist bei psychogener Lähmung unauffällig (→ ).

Psychogene Sehstörungen Unter den funktionellen Sehstörungen kommt ein konzentrisch eingeengtes („röhrenförmiges“) Gesichtsfeld häufiger vor als ein vollständiger Sehverlust. Diese Sehstörung wird psychodynamisch als Selbstwahrnehmungsstörung interpretiert. Die Patienten mit psychogener Blindheit wirken in vielen Fällen gleichgültig in Bezug auf ihr Leiden. Stellt man die Aufgabe, die Zeigefinger vor dem Gesicht aneinanderzuführen, verfehlt der psychogen Erkrankte im Gegensatz zum organisch Blinden die Fingerspitzen grob. Bei der Untersuchung des röhrenförmig eingeengten Gesichtsfelds weitet sich dieses nicht trichterförmig mit zunehmendem Abstand, wie dies physiologisch zu erwarten wäre. Anders als bei einer organisch bedingten Blindheit ist der optokinetische Nystagmus bei funktioneller Amaurose auslösbar. Er kann allerdings auch durch Fixierung eines festen Punkts vor der Nystagmustrommel unterdrückt werden.

Chronisches Fatigue- Syndrom (CFS) Dies ist ein umstrittenes Krankheitsbild unklarer Ätiologie. Ursächlich werden vorausgegangene Infektionen (Slow-Virus, Herpesviren u. a.), psychische Funktionsstörungen, Dysfunktion des Immunsystems und eine genetische Disposition diskutiert. Das chronische Fatigue-Syndrom betrifft überwiegend Frauen und ist eine Ausschlussdiagnose. Definitionsgemäß bestehen chronische Müdigkeit, Erschöpfungsgefühl, Reduktion der Leistungsfähigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, depressive Verstimmung und Schlafstörungen über wenigstens 6 Monate, welche die Alltagsaktivitäten enorm einschränken. Eine kausale Therapie gibt es noch nicht. Zurzeit werden Behandlungen mit Immunglobulinen, Antidepressiva, Psychotherapie, Physiotherapie u. a. versucht. Die Erkrankung verläuft meist chronisch. Selten kommt es zur spontanen Genesung.

Fibromyalgie

Ähnlich wie beim chronischen Fatigue-Syndrom herrscht auch in Bezug auf die Fibromyalgie noch Unklarheit hinsichtlich der Klassifikation und Ätiologie. Frauen sind häufiger betroffen und beklagen generalisierte Muskelschmerzen, die oft mit Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen und Schlafstörungen einhergehen. Morphologisch finden sich keine pathologischen Veränderungen der Muskulatur, wobei klinisch Muskelverspannungen beobachtet werden. Die Schmerzen sind durch sog. Triggerpunkte (→ ) reproduzierbar. Die Behandlung erfolgt symptomatisch und durch Physiotherapie und Antidepressiva.

Abb. 46.1

Triggerpunkte bei Fibromyalgie [L157, L231]

Zusammenfassung • Die Prävalenz funktioneller Störungen liegt bei 25–30 %. • Anamnestisch ist der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Auftreten des Symptoms und einem bedeutenden biografischen Ereignis (Beerdigung, Unfall, Hochzeit etc.) entscheidend. • Die häufigsten somatoformen Beschwerden sind Schmerzen und Schwindel, der als phobischer Schwankschwindel i. d. R. situations- oder ortsgebunden auftritt.

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Neurologie und Psychiatrie Durch die zunehmende Verbesserung der diagnostischen Möglichkeiten im letzten Jahrhundert konnte beobachtet werden, dass primär psychiatrische Erkrankungen in vielen Fällen nicht „einfach nur seelische Störungen“ sind, sondern auch auf organischen Veränderungen beruhen können. Als Beispiel sind hier Transmitterverschiebungen bei Depressionen oder Schizophrenien zu nennen. Umgekehrt konnte aus Beobachtungen von Patienten mit Ausfällen bestimmter Hirnregionen (z. B. nach Schlaganfällen, traumatischen Hirnverletzungen), die psychische Symptome zeigten, geschlossen werden, dass ein direkter Zusammenhang zwischen neurologischer Erkrankung und psychiatrischer Symptomatik besteht (→ ). Die präziser werdende topische Zuordnung von Hirnfunktionen zu bestimmten Hirnteilen spielt dafür eine bedeutende Rolle. Zudem wurde auch bei einigen neurologischen Erkrankungen eine gehäufte Neigung zu bestimmten psychiatrischen Krankheitsbildern beschrieben, ohne dass dies durch einen gemeinsamen Pathomechanismus erklärbar wäre. In jedem Fall ist der überlappende Patientenstamm dieser beiden medizinischen Gebiete nicht zu bestreiten. Studien zeigten, dass bei nahezu der Hälfe der ambulant betreuten Patienten eine Morbidität für psychiatrische Erkrankungen besteht. In bis zu einem Drittel dieses Patientenkollektivs liegt primär eine psychiatrische Erkrankung vor. Nicht selten zeigen Patienten, bei denen neurologische Erkrankungen diagnostiziert wurden, somatisierende Tendenzen. Auch die eingesetzte medikamentöse Therapie kann als Nebenwirkung ein klinisches Erscheinungsbild aus dem jeweiligen Fachgebiet aufweisen. Es hat sich gezeigt, dass es hinsichtlich der Häufigkeit des Auftretens einiger Symptome bei organisch fassbaren und psychiatrischen Erkrankungen Unterschiede gibt. Die Symptomenkombination, die der Patient beschreibt, kann zur Diagnostik beitragen. Eine Auswahl an Symptomen ist in → aufgeführt.

Tab. 47.1

Mögliche psychiatrische Symptome bei Schädigung verschiedener Hirnbereiche

Läsionsbereiche

Häufige Symptome

Orbitofrontal

Enthemmung, Distanzlosigkeit, Hypersexualität, Schlaflosigkeit, manische Züge

Frontal / parietal

Konzentrationsschwäche, Schwierigkeiten beim Ausführen korrekter Handlungsabläufe im Alltag, Probleme beim Wechsel der Aufmerksamkeit von einer Aufgabe zur nächsten

Bilateral frontomedial

Apathie, Sprachstörungen, Gangstörungen

Tab. 47.2

Auftreten von Symptomen bei organisch und psychisch bedingten Erkrankungen

Symptom

Psychische Erkrankung

Organische Erkrankung

Visuelle Halluzinationen

Häufig (i. d. R. mit akustischen Halluzinationen)

Häufig (i. d. R. ohne akustische Halluzinationen)

Taktile Halluzinationen

Häufig (i. d. R. mit akustischen Halluzinationen)

Häufig (i. d. R. ohne akustische Halluzinationen)

Gedächtnis

Erhalten

Verschlechtert

Anfallskrankheiten

Selten

Häufig

Bewusstseinsstörung

Selten

Häufig

Psychosomatische Begleiterscheinungen bei neurologischen Erkrankungen Multiple Sklerose Die unklare Prognose der Multiplen Sklerose (→ ) und die belastenden Symptome im Schub stellen für die Betroffenen eine enorme psychische Belastung dar (s. u.). Es wurde beobachtet, dass v. a. Patienten mit einer ängstlichen Primärpersönlichkeit eher zu Somatisierungen, wie z. B. generalisierten Schmerzen, multilokulären Beschwerden oder Symptomwandel, neigen. Diese Beschwerden treten oft zwischen den Schüben auf oder überdauern den vorangegangenen Schub und persistieren, wobei sie mit dem neurologischen Befund nicht vereinbar erscheinen. Allein durch die Angst vor einer erneuten Aktivierung der Krankheit treten Missempfindungen auf oder verstärken sich bestehende Symptome wie Tremor und Gangataxie. Etwa 30 % der Schübe bei Patienten mit Multipler Sklerose zeigen neben den neurologischen Symptomen auch psychosomatisch gekennzeichnete Beschwerden. In manchen Fällen wird die Erkrankung durch persönliche Belastungs- und Krisensituationen aktiviert. Als Ursache hierfür werden psychoimmunologische Prozesse diskutiert. Borreliose Die „Lyme-Anxiety“ ist von einer Phobie vor einer Ansteckung mit Borrelien durch Zecken geprägt. Die Patienten konsultieren einen Arzt nach dem anderen und lassen sich immer wieder negative Antikörpertiter bestätigen, selbst wenn sie nie von einer Zecke gebissen wurden. Sie beschreiben eigenartige Sensationen wie z. B. ein Kriechen in den Armen oder der Blutbahn im Sinne einer Zoophobie. Nach einer behandelten symptomatischen Borrelieninfektion oder bei Vorliegen eines positiven Antikörpertiters (ohne jemals Symptome gehabt zu haben) zeigen die Betroffenen in manchen Fällen eine Somatisierungsstörung. Hierbei kommt es z. B. zu chronischen, oft wandernden Schmerzen, Sensibilitätsstörungen oder Paresen. Das Vorliegen einer Neuroborreliose und Enzephalitis wird durch negative Liquor- und Serumantikörper sowie durch ein MRT ausgeschlossen. Die Beschwerden treten meist in belastenden Lebenssituationen auf oder verstärken sich in persönlichen Konfliktsituationen.

Psychiatrische Komplikationen neurologischer Erkrankungen Eine sehr häufig vorkommende psychiatrische Komplikation bei neurologischen Erkrankungen ist die Depression , die sich angesichts der vielmals alltagseinschränkenden Symptome und des z. T. tiefen Einschnitts im Leben der Patienten einstellt. Das Auftreten einer depressiven Stimmungslage wird im Zusammenhang mit einigen bestimmten Krankheitsbildern besonders oft gesehen. Angst ist ein viel weiter verbreitetes Symptom als die Depression und sollte nicht unterschätzt werden. Meist bietet eine psychotherapeutische Betreuung große Unterstützung, damit die Patienten lernen, mit ihrer Angst umzugehen. Multiple Sklerose In etwa 3 % der Fälle wird zu Beginn der Erkrankung eine euphorische Stimmung beobachtet. Mit etwa einem Viertel der Fälle sind Depressionen die weit häufigere Komplikation. Epilepsie Unter den an Epilepsie erkrankten Patienten sind Depressionen in fast 40 % der Fälle vorzufinden. Dieser große Anteil unter der bei Erstdiagnose meist jungen

Bevölkerung wirkt sich auch auf die Bereitschaft zum Suizid aus. Das Risiko, einen Selbstmord zu begehen, ist bei Anfallskranken etwa 10- bis 15-mal größer als in der Allgemeinbevölkerung. Nach sehr vielen und schweren Anfällen können sich chronische psychische Veränderungen im Sinne einer Wesensänderung entwickeln. Die Patienten sind motorisch und psychisch verlangsamt, Gedankengänge und Handlungen sind umständlich und die Entwicklung einer Demenz ist möglich. Daneben ist die Epilepsie mit psychotischen Symptomen assoziiert, die entsprechend ihrem Auftreten in Bezug auf den Anfall gegliedert werden können. Sie treten selten auf und äußern sich z. B. in Form von Agitiertheit, Bewusstseinsveränderungen oder Aggression. Die postiktale Psychose ist nach einer Anfallsserie innerhalb einer kurzen Zeitspanne zu beobachten und sistiert innerhalb von wenigen Tagen spontan. In manchen Fällen ist eine antipsychotische Therapie notwendig. Bei nichtkonvulsiven Formen der Epilepsie kann es iktal zu psychotischen Symptomen kommen, an die sich die Patienten meist nicht mehr erinnern können. Interiktale psychotische Episoden sind auf die antiepileptische Therapie zurückzuführen oder auch bei sekundären Epilepsien aufgrund von organischen Läsionen zu beobachten. Schlaganfall Patienten mit Sprachstörungen und Paresen nach durchlebtem Schlaganfall leiden sehr oft an einer Depression („Post-Stroke-Depression“). Zum einen ist diese Symptomatik als reaktive psychische Störung auf die Krankheit zurückzuführen. Zum anderen zeigte sich, dass etwa drei Viertel der Schlaganfallpatienten bereits vor der Manifestation an depressiven Stimmungslagen litten. Die Depression als ein möglicher Risikofaktor für einen Schlaganfall wird oftmals diskutiert. Der Funktionsausfall nach einem Insult kann lokalisationsabhängig zu Persönlichkeitsveränderungen oder Störungen im Affekt führen. Einige Beispiele sind in → dargestellt. Man hat beobachtet, dass die Betroffenen bei Läsionen im linken Frontallappen häufig zur schweren Depression neigen, wohingegen Patienten mit einer Schädigung des rechten Frontallappens eher sorglos erscheinen. Morbus Parkinson Angst und Depressionen sind ähnlich wie bei Schlaganfallpatienten sehr häufig zu beobachten (bis zu 45 % der Parkinson-Kranken). Auch hier kann diese Affektstörung als reaktiv auf die Erkrankung hin interpretiert werden. Bereits vor Manifestation des Morbus Parkinson lassen sich jedoch bei vielen Patienten auffällige Wesenszüge mit depressiven Verstimmungen eruieren. Nicht selten entwickeln die Patienten nach Stürzen eine phobische Gangstörung, die als Somatisierung aufzufassen ist.

Nebenwirkungen psychiatrisch bzw. neurologisch eingesetzter Medikamente Die bei neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen verwendeten Medikamente haben meist stark ausgeprägte Nebenwirkungen, die sich als Symptome aus beiden Fachgebieten zeigen können. Oft kann die Therapie auch nach Abwägen der Alternativen aufgrund der Schwere der Primärkrankheit nicht abgesetzt werden. Fehlen nebenwirkungsärmere Präparate der gleichen Medikamentengruppe oder erzielen andere Chemotherapeutika nicht denselben Effekt, erfolgt die Behandlung der Nebenwirkungen i. d. R. symptomatisch. Eine große in der Psychiatrie eingesetzte Medikamentengruppe sind die Neuroleptika, deren Nebenwirkungsspektrum durch direktes Eingreifen an zentralen Rezeptoren (Dopaminrezeptor-Blocker) weitreichend ist: Frühdyskinesien Nach 1–7 Tagen oder nach Dosissteigerung: abnorme Bewegungen von Kopf, Hals und Schulterpartie, Zungen- und Schlundkrämpfe, Schiefhals, Blickkrämpfe. Spätdyskinesien Nach Monaten bis Jahren: z. T. irreversible Schluck-, Schmatz- und Kaubewegungen, choreatische und wurmförmige Bewegungen (Athetose). Andere Parkinsonoid (nach Wochen) mit Rigor, Tremor und Akinese; Akathisie (nach Wochen bis Monaten) als krankhafte Bewegungsunruhe v. a. der Beine; malignes neuroleptisches Syndrom (meist nach 1–14 Tagen, nach Dosissteigerung) mit stark ausgeprägtem Rigor, Akinese und hohem Fieber, Herzrhythmusstörungen, Schock, Bewusstseinsstörungen bis zum Koma.

Zusammenfassung • Etwa bei 30 % der MS-Schübe zeigen sich neben den neurologischen Symptomen auch psychosomatische Beschwerden. • Depressionen sind die am häufigsten beobachtete Komplikation bei neurologischen Erkrankungen. • In vielen Fällen liegt bei Patienten mit einem Schlaganfall oder Morbus Parkinson eine schwere Depression vor, die man oft als reaktive Störung interpretieren kann. Auffällig ist, dass ein großer Teil der Patienten bereits vor Krankheitsmanifestation unter depressiven Stimmungslagen litt. • Neurologische Symptome als Nebenwirkung von Psychopharmaka erfordern häufig eine Gratwanderung zwischen ausreichender antipsychotischer Therapie und Verminderung der unerwünschten Wirkung.

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Neurologische Notfälle In Deutschland sind etwa 15–25 % aller Notarzteinsätze auf neurologische Notfälle (→ ) zurückzuführen. Die häufigsten sind zerebrale Ischämien, epileptische Anfälle, Bewusstseinsstörungen und Schädel-Hirn-Traumen. Im Folgenden wird das initiale Vorgehen bei einer Auswahl wichtiger Notfälle im Überblick dargestellt.

Tab. 48.1

Auswahl neurologischer Notfälle

Bewusstlosigkeit, Bewusstseinsminderung Akute Lähmung (Schlaganfall, Guillain-Barré-Syndrom, myasthene Krise, Hypo- bzw. Hyperkaliämie, cholinerge Krise) Epilepsie (generalisierter Status oder fokale Krampfanfälle) Hirndruck Akute Muskeltonussteigerung (neuroleptisches Syndrom, Parkinson-Krise, Hyperthermie, Tetanus, Hypokalzämie, Hypomagnesiämie) Intrakranielle Blutung Meningitis, Enzephalitis Status migraenosus Rhabdomyolyse Zentrale pontine Myelinolyse

Schlaganfall In Deutschland erleiden ca. 150 000–200 000 Personen pro Jahr einen Schlaganfall (→ ). Im Folgenden wird die initiale Behandlung eines ischämischen Infarkts in den ersten Stunden nach dem Ereignis dargestellt. Es muss immer die Indikation zur Thrombolysetherapie evaluiert werden, die innerhalb eines Zeitfensters von 4,5 h nach Einsetzen der Symptome zugelassen ist.

Allgemeinmaßnahmen Kopfhochlagerung (ca. 20–30° erhöht); Vitalparameter- und Neurostatuskontrolle. Differenzialdiagnosen in Betracht ziehen und weitere akut lebensbedrohliche Begleiterkrankungen behandeln. Einstellung von Wasser- und Elektrolythaushalt, Blutzucker, Körpertemperatur, Atmung und Kreislauf. Im Fall einer Hypertonie gibt es derzeit keine Evidenz, dass eine antihypertensive Therapie beim akuten ischämischen Insult von Nutzen ist. Eine Blutdruckregulation wird unter folgenden Bedingungen empfohlen: • Systolischer RR > 220 mmHg und / oder diastolischer RR > 130 mmHg • Arterieller Mitteldruck > 130 mmHg, v. a. bei Patienten mit Herzinsuffizienz, akutem Myokardinfarkt, Aortendissektion, akuter Niereninsuffizienz und hepatischer Enzephalopathie. Zu beachten ist, dass der arterielle Mitteldruck nicht um mehr als 20 mmHg gesenkt werden soll.

Thrombolysetherapie Es ist von entscheidender Wichtigkeit, eine mögliche Indikation für eine intravenöse Thrombolysetherapie mit rtPA nicht zu übersehen; daher soll die Prüfung der Kontraindikationen und Indikationen so rasch wie möglich durchgeführt werden. Akute Ischämien im Basilarisgebiet werden bei Nachweis eines frischen Thrombus aufgrund der schlechten Prognose ggf. auch nach Ablauf des 4,5-Stunden-Zeitfensters als Individualentscheidung lysiert. Kontraindikationen für die intraarterielle Lyse einer Basilaristhrombose sind Koma > 3 h, Tetraplegie > 6 h, Blutung, demarkierter Infarkt, vor kurzem erfolgte Operationen, Traumen, gastrointestinale Blutungen und im MRT demarkierter Infarkt.

Diagnostik Die folgenden Untersuchungen sollten so rasch wie möglich durchgeführt werden: Schädel-MRT / CT, Labor (Blutbild, Elektrolyte, Thrombozyten, INR, aPTT, AT III, Blutgruppe, Blutzucker, Kreatinin, Harnstoff, Lebertransaminasen, Bilirubin), EKG-Monitoring (Kontrolle bzw. Ausschluss von Arrhythmien). Weitere diagnostische Maßnahmen sind entsprechend der jeweiligen Indikation durchzuführen. So ist eine notfallmäßige transthorakale oder transösophageale Echokardiografie bei Patienten mit hohem Verdacht auf kardiale Embolien (Endokarditis, intrakavitäre Thromben) indiziert. Patienten, für die eine Antikoagulation vorgesehen ist, sollten bei Verdacht auf eine Dissektion der A. carotis bzw. A. vertebralis oder nach unklarem Schädel-Hirn-Trauma eine MR-Angiografie oder eine Doppler-Untersuchung erhalten. Die Doppler-Sonografie ist als nichtinvasive Untersuchung in den meisten Fällen indiziert, z. B. zum Ausschluss einer hämodynamisch relevanten Stenose. Eine Liquorpunktion ist bei jungen Patienten (< 40 Jahre) mit unklarer Genese des Infarkts und bei positiven Meningismuszeichen bei einem unauffälligen CT angezeigt. So kann auch differenzialdiagnostisch eine SAB mit fehlenden Zeichen im CT diagnostiziert werden. Bei symptomatischen Stenosen der A. carotis interna sind entsprechend aktueller Studienlage die Therapieverfahren der Thrombendarterektomie und der endovaskulären Ballondilatation mit Stentimplantation gleichwertig und sollen individuell ausgewählt werden (→ ). Eine Vollheparinisierung ist bei extrakranieller Dissektion der A. carotis oder A. vertebralis, makroangiopathischen Infarkten nach kardialen oder arterioarteriellen Embolien indiziert. Hierbei ist die Größe des frischen Infarkts aufgrund der Einblutungsgefahr relevant. Ab welcher Infarktgröße mit einer Vollheparinisierung zugewartet werden soll, ist nicht festgelegt und bedarf einer Abwägung zwischen der Gefahr weiterer Infarkte und einer Einblutung. Unter Beachtung der genannten Therapiemöglichkeiten sollten auch unter dem Aspekt der Sekundärprophylaxe Thrombozytenfunktionshemmer so früh wie möglich eingesetzt werden. Bezüglich einer oralen Antikoagulation besteht keine Übereinstimmung zum Zeitpunkt des Therapiebeginns.

Tab. 48.2

Nutzen der Thrombendarteriektomie bei Stenose der extrakraniellen A. carotis interna

Symptomatik

Nutzen

Asymptomatischer Patient (Primärprophylaxe)

• Insgesamt geringer primärprophylaktischer Effekt • Individuelle Abschätzung in Abhängigkeit von Stenoseprogredienz • Männliches Geschlecht profitiert besser. • Patienten < 74 Jahre, Stenose 60–80 % und mit starker Hypercholesterinämie mit geringem Profitieren

Symptomatischer Patient (Sekundärprophylaxe nach stattgehabter Ischämie)

• Weibliches Geschlecht profitiert weniger gut. • Bei einer Komplikationsrate > 6 % besteht kein Nutzen der Operation. • Stenosegrad: – Stenosegrad 70–95 %: Nutzen der Operation (OP) nimmt mit zunehmendem Stenosegrad zu, OP möglichst bald nach Schlaganfallereignis. – Stenosegrad 50–70 %: Nutzen der OP gering, ebenso bei höchstgradigen und subtotalen Verschlüssen; Nutzen bei Frauen geringer, wenn die OP jenseits der 12. Woche nach dem Schlaganfall durchgeführt wird.

Schädel-Hirn-Trauma (SHT) Das Schädel-Hirn-Trauma (→ ) wird in verschiedene Schweregrade eingeteilt (→ ). Bei der Versorgung ist auf folgende Punkte zu achten: • Sicherung der Vitalfunktionen (frühzeitige Intubation), Glasgow Coma Scale, Anamnese zum Unfallhergang • Sichtbare äußere Verletzungen (präklinisch Fremdkörper in Wunde belassen, bei penetrierendem Trauma sterilen Verband anlegen; eine offene Schädelfraktur ist eine Indikation zur Notfall-OP), Anlage einer Halskrawatte, Oberkörperhochlagerung (ca. 20–30°; nicht, falls Patient im Schock) • Blutdruckkontrolle (systolischer Wert > 120 mmHg), Hirndruckzeichen wiederholt kontrollieren (→ ), Volumengabe, evtl. i. v. Gabe von Glukokortikoiden (z. B. bei SHT 3°; derzeit kontroverse Diskussion, ob sie bereits präklinisch gegeben werden sollen), Neurostatus • CCT (v. a. bei Bewusstlosigkeit), evtl. Hals-CT bzw. Ganzkörper-Trauma-CT, bei Sekretion (z. B. aus Nase oder Ohr) Liquornachweis durch Glukose- oder β-Transferrin-Bestimmung, Neurochirurg hinzuziehen, engmaschiges Monitoring • Bei einem epileptischen Anfall Benzodiazepine (z. B. Clonazepam 1–2 mg i. v. oder Diazepam 5–10 mg i. v.)

Tab. 48.3

Einteilung der Schädel-Hirn-Traumen

Schweregrad

Kriterien

SHT 1° (leicht)

• Commotio cerebri: qualitative oder quantitative Bewusstseinsstörung (→ ) < 15 min • Antero- und / oder retrograde Amnesie < 24 h • Initialer GCS 13–15 • Keine fokalneurologischen Defizite

SHT 2° (mittelschwer)

• Leichte Contusio cerebri: Bewusstseinsstörung ≤ 1 h • GCS 9–12 • Remission innerhalb von 30 Tagen

SHT 3° (schwer)

• Schwere Contusio cerebri / Compressio cerebri: Bewusstseinsstörung hält länger als 1 h an und / oder Auftreten von Hirnstammzeichen • Initialer GCS 3–8 • Restitutio mit Defektheilung

Bewusstseinsstörungen / Bewusstseinsverlust →

Allgemeinmaßnahmen Sicherung der Atmung mit großzügiger Indikation zur Intubation und kontrollierten Beatmung z. B. bei komatösen Patienten, pathologischem Atemmuster, Vitalkapazität < 1 l, Hypoxämie (pO 2 < 80 mmHg) oder akuter Hyperkapnie (pCO 2 > 45 mmHg). Kreislaufzirkulation sicherstellen. Korrektur des SäureBasen-Haushalts und der Stoffwechsellage.

Diagnostik • Neurologischer Status und allgemeine körperliche Untersuchung • Bestimmung des Blutzuckers. Bei unklarem Koma und fehlender Möglichkeit, den Blutzucker zu bestimmen, wird die Gabe von ca. 25 g Glukose als Infusion angeraten. Dies kann eine beginnende Wernicke-Enzephalopathie verschlechtern, bessert jedoch sehr schnell die Symptomatik bei Hyopoglykämie. Bei Verdacht auf Alkoholabusus sollten zusätzlich 100 mg Thiamin gegeben werden. • Weitere Labordiagnostik: Elektrolyte, arterielle Blutgase, Blutbild, Nierenwerte, Leberwerte, Gerinnung. Toxinscreening in Blut- und Urinprobe. • Apparative Diagnostik: CCT zum Ausschluss struktureller Schädigung, EEG zum Nachweis von Herden und Beurteilung der Komatiefe • Das weitere Vorgehen richtet sich nach den Befunden.

Epileptischer Anfall → Im akuten Anfall wird folgendes Vorgehen empfohlen: • Den Patienten vor Verletzungen schützen, z. B. durch Entfernen von Gegenständen aus der Reichweite; Patient nicht fixieren; Anfall beobachten; falls möglich (in nichtklonischer Phase), in stabile Seitenlage bringen; Atmung (Pulsoxymetrie) und Blutdruck kontrollieren; nichts in den Mund platzieren. • Status epilepticus: mindestens einen sicheren i. v. Zugang legen, Gabe von Thiamin i. v. bei Verdacht auf Alkoholentzugsanfall, Gabe von Glukoselösung i. v. bei Verdacht auf Hypoglykämie als mögliche zugrunde liegende Ursache – Bei einem Status generalisierter Anfälle (Lebensgefahr) nach Stufentherapie eingesetzte Substanzen (Beispiel): 1. Gabe eines Benzodiazepins Lorazepam Mittel der ersten Wahl (z. B. 0,1 mg / kg KG i. v., 2 mg / min) 2. Bei fehlendem Ansprechen von 1., Gabe von Phenytoin unter EKG und RR-Monitoring (z. B. 250–500 mg i. v., max. 50 mg / min über separaten Zugang); ggf. nach 30 min wiederholen (alternativ Valproat aufdosieren). 3. Spricht die medikamentöse Therapie unter 1. und 2. nach etwa 40 min nicht an, wird der Patient intubiert und eine

Narkose mittels Thiopental, Midazolam oder Propofol eingeleitet. – Bei einem Status fokaler Krampfanfälle empfiehlt man den Einsatz von Clonazepam (z. B. 2–4 mg i. v.) sowie eine Aufsättigung mit Phenytoin wie beim Grand-Mal-Status.

Zusammenfassung • Bei Verdacht auf ischämischen Insult ist es wichtig, eine mögliche Indikation für eine intravenöse bzw. intraarterielle Thrombolysetherapie innerhalb eines Zeitfensters von 4,5 h nicht zu verpassen. • Die schnellstmögliche Blutzuckerbestimmung ist im Fall von Bewusstseinsstörungen eine unverzichtbare Maßnahme, da Hypo- bzw. Hyperglykämien als Ursache sehr häufig sind. • Ein Status generalisierter Anfälle stellt eine Lebensgefahr dar.

Fallbeispiele

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Fall 1: Bewusstseinsverlust Fallbeschreibung Ein 46-jähriger Familienvater wird von seinem Hausarzt zur stationären diagnostischen Einordnung von Bewusstlosigkeitsepisoden in die Klinik überwiesen.Der Patient ist beruflich als Fliesenleger tätig und berichtet über plötzlich einsetzende Attacken, bei denen er kurzzeitig das Bewusstsein verliere und zu Boden stürze. Innerhalb des letzten Jahres sei der beschriebene Ablauf viermal vorgekommen. Die klinisch-neurologische Untersuchung ist unauffällig.

Was sind die häufigsten Möglichkeiten, die zu diesen Beschwerden führen können? • Epilepsie • Kardial: Adams-Stokes-Anfall, AV-Block, Sinusknotensyndrom, tachykarde Herzrhythmusstörungen, Klappenvitien (z. B. Aortenklappenstenose), Herzinfarkt • Vaskulär: orthostatische Dysregulation, vasovagale Synkope, Karotissinus-Syndrom, pressorische Synkope (z. B. Hustensynkope, Miktionssynkope, Lachschlag), transiente ischämische Attacke, Subclavian-Steal-Syndrom • Hypoglykämie • Psychogene Anfälle • Medikamente • Hypovolämie Der Patient gibt an, dass zwei dieser Bewusstseinsverluste beim Legen von Fußbodenfliesen in der letzten Woche eingetreten seien. Er habe ein allgemeines Unwohlsein verspürt, dann sei ihm plötzlich „schwarz vor den Augen geworden“. Er könne sich nur daran erinnern, dass sich Arbeitskollegen um ihn kümmerten, nachdem er die Augen wieder aufgeschlagen habe. Sie berichteten dem Patienten, dass er weniger als 30 s nicht kontaktfähig war. Ein „Zucken“ des Körpers wurde nicht beobachtet. Welche Ursache vermuten Sie? Orthostatische Dysregulation, kardiale Synkope. Welche Informationen sind für differenzialdiagnostische Überlegungen noch von Bedeutung? Zur besseren Abgrenzung gegenüber der Epilepsie ist es wichtig, nach einer Reorientierungsstörung nach dem Aufwachen, Zungenbiss sowie Urin- oder Stuhlabgang zu fragen. Dies wird vom Patienten verneint. Außerdem sind vorbestehende Herzerkrankungen, angeborene Herzanomalien und Herzrhythmusstörungen zu eruieren. Nach Angaben des Patienten ist bisher nichts bekannt. Er selbst merkt kein „Herzrasen“ oder „Herzstolpern“. Der Patient beschreibt Schwindel, den Ausbruch kalten Schweißes und Flimmern vor den Augen, nachdem er sich aus kniender Position aufgerichtet hätte. Kurz darauf sei das „Schwarzwerden“ vor den Augen aufgetreten. Die vorangegangenen Synkopen lassen sich ebenfalls auf langes Stehen und Aufrichten aus liegender bzw. kniender Position zurückführen. Wie gehen Sie diagnostisch weiter vor? Die geschilderten Symptome sind charakteristisch für vasomotorisch bedingte Synkopen. Indiziert sind ein Schellong-Test und evtl. der Kipptischversuch zur Beurteilung der orthostatischen Regulationsfähigkeit sowie eine dopplersonografische Untersuchung der Halsgefäße und der A. basilaris, um Stenosen auszuschließen, die bereits bei Blutdruckschwankungen zu Synkopen führen können. Die Verdachtsdiagnose bestätigt sich. Welche Behandlung schlagen Sie vor? Ausdauersport, Wechselbäder, kurze Bewegung der Beine beim längeren Stehen und vor dem Aufrichten des Körpers sind physikalische Maßnahmen mit guter Wirkung. In sehr schweren Fällen kann symptomatisch mit Sympathomimetika behandelt werden. Auch bei kardial und vasovagal bedingten Synkopen kann ein Streckkrampf mit wenigen klonischen Zuckungen auftreten. Dieser Krampf setzt einige Sekunden nach dem Bewusstseinsverlust ein und dauert nicht länger als 10 s (konvulsive Synkope). Das Bewusstsein wird nach kurzer Zeit wiedererlangt.

Fallbeschreibung Durch den Notarzt wird ein 56-jähriger Bürokaufmann in die Notaufnahme gebracht. Nach dem Abendessen sei er auf der Couch sitzend plötzlich nach vorne gekippt und bewusstlos gewesen. Die Ehefrau des Patienten hörte den Sturz, und als sie ins Wohnzimmer trat, sah sie, wie ihr Mann heftig atmend am ganzen Körper „verkrampfte und die Arme bewegte“. Sie rief den Notarzt, der bei Eintreffen einen schläfrigen Patienten vorfand mit seitengleich unauffällig reagierenden Pupillen und auf Aufforderung alle Extremitäten bewegend. Fragen wurden träge beantwortet. GCS 13 Punkte.

Welche Diagnose ist wahrscheinlich? Ein generalisierter tonisch-klonischer epileptischer Anfall. Während des Transports ins Krankenhaus bessert sich der Zustand des Patienten zunehmend. Er wird wacher. Welche anamnestischen Angaben weisen auf diese Diagnose hin? Der Patient sollte nach einem Zungenbiss, Urin- oder Stuhlabgang gefragt werden. Zudem nach einer vorausgegangenen Aura und, ob ähnliche Ereignisse bereits früher aufgetreten sind. Anamnestisch berichtet er, dass er ein Unwohlsein verspürt habe und zu seiner Frau gehen wollte. Das Nächste, woran er sich erinnere sei der Transport im Krankenwagen. Ein ähnliches Ereignis habe sich bisher nicht ereignet. Manchmal verspüre er „Kreislaufprobleme“ mit kurzzeitigem passagerem Schwindel, jedoch nie mit Bewusstlosigkeit. Einnässen wird durch die Ehefrau verneint. Am rechten Zungenrand ist eine frische Verletzung zu erkennen. Es lassen sich keine Krämpfe in der Kindheit eruieren. Was muss ätiologisch berücksichtigt werden und wie gehen Sie diagnostisch vor?

Bei erstmaligem Auftreten eines epileptischen Anfalls im Erwachsenenalter sollte eine organische Ursache, z. B. ein Tumor, eine Infarktnarbe oder ein Abszess, als Ursache in Betracht gezogen werden. Ein CT oder MRT kann diesbezüglich genaueren Aufschluss geben. Das CT des Patienten zeigt eine etwa 3 cm große hypodense Raumforderung rechts parietotemporal. Im MRT T1-Wichtung stellt sich die Raumforderung hypointens dar mit minimaler Kontrastmittelaufnahme ohne umgebendes Ödem. In der T2-Wichtung hyperintens. Auch das EEG weist in diesem Bereich eine Verlangsamung auf. Der Liquorabfluss ist nicht behindert, das restliche Hirnparenchym ist unauffällig. Wie gehen Sie weiter vor? Wie ist die Prognose? Die Neurochirurgie sollte hinzugezogen werden. Bei fehlendem Nachweis weiterer Raumforderungen im Körper entscheidet man sich gegen eine Biopsieentnahme, sondern zu einer offenen Operation mit Versuch der kompletten Resektion. Die Prognose ist abhängig von der histologischen Untersuchung und WHO-Einstufung. Der Patient erhält unmittelbar eine antikonvulsive Behandlung mit Valproat als Schutz vor weiteren Anfällen. Durch ein unauffälliges EEG kann die Diagnose einer Epilepsie nicht ausgeschlossen werden. Etwa ein Viertel der Epilepsiepatienten haben ein normales EEG interiktal.

Fallbeschreibung Ein 55-jähriger Bauzeichner wird von seinem niedergelassenen Neurologen ins Krankenhaus zur weiteren differenzialdiagnostischen Einordnung von wiederholten Episoden mit Bewusstlosigkeit eingewiesen. Der Patient berichtet, dass er in den vergangenen 4 Monaten 5-mal einen „Anfall“ gehabt habe. Diese Symptome seien vollkommen neu. Zuletzt sei er in der vergangenen Woche aufgrund einer allgemeinen Schwäche vom Arbeitsstuhl zu Boden gestürzt. Zuvor habe er einen Krampf im dritten und vierten Finger der rechten Hand verspürt und er habe diese Finger nicht mehr bewegen können. Dieser Krampf habe sich langsam auf den Unter- und Oberarm ausgebreitet. Der ganze Arm habe zu zucken begonnen. Der Kopf des Patienten sei nicht mehr unter seiner Kontrolle gewesen und habe sich nach links und rechts gewendet. Im Verlauf hätten beide Arme und der ganze Körper gezuckt. Daraufhin sei ihm „schwarz vor den Augen“ geworden und er habe nicht mehr sprechen können, lediglich laute Rufe von sich gegeben. Was sich in seiner Umgebung abspielte, war dem Patienten bewusst. In der Notaufnahme war er „wieder der Alte“, jedoch sehr müde. Man hatte nichts feststellen können und seine Medikation wurde wieder umgestellt. Diese Anfälle dauerten jeweils etwa 15–30 min an. Beim ersten Mal habe der Patient eine Verkrampfung in ihm aufsteigen bemerkt und habe nur noch „Schmerzlaute“ von sich geben können. Jedes Mal, wenn er versucht habe, mit seiner Frau zu sprechen oder einen Arm anzuheben, seien unkontrollierbare Zuckungen in allen Extremitäten aufgetreten. Seine Frau und Kinder seien sehr in Sorge gewesen, jedoch wurde auf seinen Wunsch hin der Notarzt nicht verständigt. Einnässen und Verletzungen werden verneint.

Welche Ursache für diese Attacken vermuten Sie? Das sich wandelnde klinische Erscheinungsbild bei den Attacken und die Dauer der einzelnen Attacken (bis zu 30 min) mit myoklonischen Entäußerungen aller Extremitäten und z. T. des gesamten Körpers bei vollem Bewusstsein des Patienten sprechen eher für eine nicht organische Ursache der Anfälle. Wie können psychogene gegen epileptische Anfälle abgegrenzt werden? Das klinische Erscheinungsbild ist vielgestaltig und kann bisweilen nur schwer von epileptischen Anfällen unterschieden werden. Psychogene Attacken treten häufig in Zusammenhang mit belastenden Situationen auf. Das Erscheinungsbild ist oft geprägt durch unkoordinierte, theatralische Bewegungen, wildes Umsich-Schlagen, „Arc de cercle“ (Überstrecken der Wirbelsäule bis zur „Brücke“, wobei sich der liegende Patient mit den Füßen und den nach oben geschlagenen Armen abstützt), Strampeln, Zittern der Glieder, Weinen, Selbstverletzung und abrupte Kopfdrehungen. Selten werden auch Einnässen, Enkopresis und Zungenbisse (oft an der Spitze) beobachtet. Die Augen sind meist fest verschlossen und werden beim Versuch, sie zu öffnen, noch fester zugekniffen. In der Regel verletzen sich die Patienten beim Sturz nicht. Charakteristisch ist v. a. der ungleichförmige Ablauf bei den einzelnen Anfällen. Bei ca. 25–30 % der Patienten mit epileptischen Anfällen werden zusätzlich psychogene Attacken festgestellt. Das EEG ist unauffällig. Unternehmen Sie noch weitere diagnostische Schritte? Der Patient sollte bezüglich seiner Familienanamnese und früheren Auftretens von Krämpfen befragt werden. Weiterhin sollte nach seelischen Belastungen gefragt werden. Hierzu gibt er an, dass er zuvor keine vergleichbaren Beschwerden hatte. Im weiteren Gespräch berichtet der Patient, es gebe häufig Streit mit seiner Frau aufgrund von familiären Angelegenheiten. Seine Tochter lege es bereits seit vielen Jahren darauf an, ihn absichtlich zu verletzen durch Gesten und Worte. Er habe das Gefühl, manchmal von seiner Familie „wie Luft“ behandelt zu werden. Auch die Kollegen scheinen ihn oft nicht ernst zu nehmen. Die Ehefrau bringt im Verlauf ein aktuelles cMRT mit Kontrastmittelgabe mit, das unauffällig ist. Im EEG ergibt sich ebenfalls ein unauffälliger Befund. Welche Behandlung schlagen Sie vor? Aufklärung des Patienten über die nicht organischen Ursache dieser Attacken und Empfehlung einer psychotherapeutischen Betreuung.

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Fall 2: Kopfschmerzen Fallbeschreibung Eine 52-jährige Hausfrau und Mutter von drei erwachsenen Kindern berichtet über seit etwa 3–4 Monaten bestehende drückende Kopfschmerzen mit zunehmender Intensität. Sie beklagt diffuse Schmerzen im gesamten Kopfbereich, die anfangs einige Stunden nach körperlicher Anstrengung einsetzen würden. Nun bestünden die Schmerzen permanent, besonders schlimm sei es morgens nach dem Aufstehen, nach Anstrengung und beim Husten. Es bestehe Müdigkeit und Abgeschlagenheit. Sie habe zuvor gelegentlich Kopfschmerzen gehabt, die allerdings höchstens einen Tag angehalten hätten. Die Patientin nimmt keine Medikamente ein und die Familienanamnese ist bezüglich Kopfschmerzen blande. Der Ehemann berichtet von einer zunehmenden Vergesslichkeit. Beim Arm- und Beinhalteversuch zeigt sich ein leichtes Absinken der linken Extremität. Es sind eine Reflexsteigerung der linken Körperhälfte gegenüber der rechten sowie ein positives Babinski-Zeichen links zu beobachten. Fundoskopisch ist keine Stauungspapille erkennbar, das Blutbild ist unauffällig. Paracetamol lindert die Schmerzen, sie sistieren aber nicht vollständig.

Wie können die Ursachen für Kopfschmerzen grob gegliedert werden? • Intrakranielle Ursachen: – Akuter Schmerzbeginn (Sekunden bis Minuten): intrazerebrale Blutung, Subarachnoidalblutung – Langsamer Schmerzbeginn (Minuten bis Tage): Enzephalitis, Meningitis, intrazerebrale Blutung, posttraumatisch – Schleichender Schmerzbeginn (Tage bis Wochen): Tumoren, Sinus-Hirnvenen-Thrombose, Subduralhämatom, intrakranieller Druckanstieg, Abszess, posttraumatisch • Extrakranielle Ursachen: – Akuter Schmerzbeginn: Dissektion, hypertensive Krise – Langsamer Schmerzbeginn: akutes Glaukom, Sinusitis – Schleichender Schmerzbeginn: Spannungskopfschmerz, chronische Sinusitis, Arteriitis temporalis, Kiefergelenksaffektionen • Andere Erkrankungen mit typischer Schmerzsymptomatik – Migräne, Trigeminusneuralgie (auch intra- oder extrakranielle Ursachen möglich), Cluster-Kopfschmerz, atypische Gesichtsneuralgie, Hustenkopfschmerz – Internistisch: Phäochromozytom, Leukämie, Stoffwechselerkrankungen – Intoxikationen, Medikamente (z. B. Ovulationshemmer) Die Feststellung, ob es sich um idiopathische oder symptomatische Kopfschmerzen handelt, ist von grundlegender Bedeutung für das weitere Vorgehen. Welche Differenzialdiagnosen kommen in Betracht? Der langsam zunehmende Kopfschmerz, der sich bei Druckänderung und Haltungswechsel verstärkt, die psychischen Veränderungen und die Hemisymptomatik sprechen für eine intrakranielle organische Ursache der Beschwerden. Es ist zunächst an neoplastische Prozesse, ein chronisches subdurales Hämatom oder einen Abszess zu denken. Welche Information kann Ihnen einen wichtigen Hinweis geben? Gefragt werden sollte nach B-Symptomatik, stattgehabten Infekten / Entzündungsreaktionen, Unfällen. Die Patientin hatte sich vor 4 Monaten beim Aufrichten aus der Hocke den Kopf stark an einer offenen Regaltüre angeschlagen. Es habe an dieser Stelle auch geblutet. Ein Arzt wurde nicht aufgesucht. Die Patienten berichten häufig nicht spontan von dem meist Wochen zurückliegenden Sturz oder Ähnlichem. Oft liegt ein Bagatelltrauma vor, oder die Patienten können sich an keinen Vorfall erinnern. Welche Untersuchung sollte bei Verdacht auf eine intrakranielle Raumforderung durchgeführt werden? Ein CCT mit Kontrastmittelgabe. Was zeigt die Aufnahme (→ )? Wofür sprechen die Befunde? Es zeigt sich eine Massenverschiebung nach links mit Kompression des rechten Seitenventrikels. Rechtsseitig stellt sich entlang der Schädelkalotte ein hyperintenses Areal dar, weiterhin auch ein intraparenchymatöser Blutungsanteil rechts. Die Befunde sprechen für ein subdurales Hämatom.

Abb. 50.1

CCT [E283]

Welche Behandlung schlagen Sie vor? Neurochirurgisch wird das subdurale Hämatom mit zwei Bohrlöchern drainiert. Die Kopfschmerzen sistieren daraufhin und die Hemisymptomatik bildet sich nach ca. 2 Wochen komplett zurück.

Fallbeschreibung Eine 34-jährige MTA berichtet über seit ca. 4 Monaten an Frequenz und Dauer zunehmenden Kopfschmerz, der nun ständig vorhanden sei. Die Patientin beschreibt einen drückenden, ziehenden Schmerz, der mittelschwer und diffus über den ganzen Kopf verteilt sei. Die Intensität schwanke, morgens sei es im Allgemeinen weniger schlimm. Übelkeit oder weitere begleitende vegetative Symptomatik träten nicht auf. Lärm verschlechtere die Symptomatik. Lichtempfindlichkeit bestehe nicht. Die Patientin klagt allerdings über Konzentrationsschwäche, gesteigertes Schlafbedürfnis und leichtere Reizbarkeit. Im Beruf sei es ihr möglich, die Aufgaben wie gewohnt zu verrichten. Auch die Versorgung ihrer Kinder (5 und 3 Jahre) bewältige sie. Die Einnahme einer Tablette Ibuprofen, Aspirin oder Paracetamol bringe ihr über einige Stunden Schmerzfreiheit. Klinisch-neurologisch sowie im Blutbild ergeben sich keine auffälligen Befunde. Die Bewegung des Kopfes ist nach rechts schmerzbedingt eingeschränkt, die Palpation der Halsmuskeln beidseits schmerzhaft. Es besteht kein Anzeichen für eine Reizung der Meningen, es sind keine Auffälligkeiten am Augenfundus zu erheben.

Welche Ursache für die Kopfschmerzen vermuten Sie? Die Symptome sprechen für Spannungskopfschmerzen. Passend ist auch die Information, dass die Symptomatik gut auf NSAR anspricht. Differenzialdiagnostisch ist auch an einen analgetikainduzierten Kopfschmerz zu denken, genauere Informationen bezüglich Häufigkeit und Menge der Analgetikaeinnahme sind einzuholen. Welche anamnestischen Informationen sind von Bedeutung? Wichtig zu erfahren ist, ob die Patientin diese Art der Kopfschmerzen bereits kennt und ob es mögliche Auslöser wie z. B. Stress gibt. Sie berichtet, seit ihrer Pubertät ab und zu ähnliche Schmerzen gehabt zu haben, die nicht länger als einen Tag dauern würden. Im Verlauf der Zeit seien diese Kopfschmerzen immer häufiger aufgetreten. In den letzten Jahren habe sie schätzungsweise an mindestens 7–10 Tagen im Monat Kopfschmerzen gleichen Charakters wie jetzt. Neu sei jedoch, dass die Häufigkeit und Dauer der Kopfschmerzen in den letzten Wochen so zugenommen habe. An bestimmte Auslöser könne sie sich nicht erinnern. Sie sei durch Familie und Beruf stets stark belastet. Es habe sich jedoch nichts geändert in letzter Zeit. Tabletten versuche sie so gut es geht zu vermeiden. Sie habe in den letzten Monaten ca. 1–3 Schmerztabletten pro Woche eingenommen. Wie kann man den Spannungskopfschmerz einteilen? Es wird ein episodischer Spannungskopfschmerz mit einer Dauer von 1 h bis zu Tagen an weniger als 180 Tagen im Jahr von einem chronischen Spannungskopfschmerz an mehr als 180 Tagen im Jahr unterschieden. Welche Behandlung schlagen Sie vor? Die Therapie erfolgt konservativ mit Entspannungsübungen, regelmäßiger körperlicher Bewegung, dem möglichen Vermeiden von Stresssituationen und Führen eines Schmerztagebuchs. Die Differenzialdiagnose des analgetikainduzierten Kopfschmerzes besteht nach wie vor, da es keine „Schwelle“ der eingenommenen Tablettenzahl oder Dauer gibt. Auf eine weitere Einnahme der bisherigen Schmerztabletten sollte verzichtet werden. Bei unerträglichen Schmerzen kann ein Behandlungsversuch mit Amitriptylin erfolgen. Gegebenenfalls ist ein stationärer Tablettenentzug notwendig.

Fallbeschreibung Eine 32-jährige Hausfrau berichtet über seit etwa 2 Wochen bestehende Kopfschmerzen. Sie kann die Kopfschmerzen nicht lokalisieren. Sie sei auf dem Bürgersteig ausgerutscht und dabei schwer gestürzt, wobei sie sich auch den Kopf angeschlagen habe. Sie habe Rückenschmerzen, mehrere Schürfwunden und Prellungen davongetragen. Die Kopfschmerzen hätten nach mehreren Tagen zunächst nur im Liegen eingesetzt und seien dann innerhalb von 1 Tag so stark geworden, dass sie es kaum schaffe, den Haushalt zu erledigen und ihr Kind zu versorgen. Die Patientin gibt rezidivierende Übelkeit, Erbrechen, Abgeschlagenheit und Konzentrationsschwäche an. Außerdem sei sie den ganzen Tag müde. Die klinisch-neurologische Untersuchung ist unauffällig. Die Augenhintergrundspiegelung zeigt eine leicht unscharf begrenzte Papille. Die Patientin erscheint kognitiv verlangsamt. Im Blutbild fallen eine leichte Leukozytose und eine Erhöhung der BSG auf. Vorbekannt ist ein Protein-C-Mangel, der nicht behandelt wird. Sie nimmt keine Medikamente ein.

Welche Differenzialdiagnosen sind zu bedenken? Differenzialdiagnostisch müssen u. a. eine intrakranielle Blutung (z. B. ein chronisch-subdurales Hämatom), eine Sinusvenenthrombose, ein Schlaganfall mit ggf. Hirndruckanstieg oder Neoplasien in Betracht gezogen werden. Wie gehen Sie diagnostisch vor? Die psychomotorische Verlangsamung, Übelkeit und Erbrechen einhergehend mit Kopfschmerzen sowie die unscharf begrenzte Papille erfordern eine dringliche Bildgebung als Notfallindikation. In diesem Fall eine CCT mit Angiografie oder eine cMRT mit Gefäßdarstellung und Kontrastmittelgabe. In der CCT (→ ) zeigt sich nach Kontrastmittelgabe eine Aussparung im hinteren Sinus sagittalis superior ( empty triangle ) sowie eine Spiegelbildung im rechten hinteren Seitenhorn als Zeichen einer Sinusvenenthrombose (vorbekannte thrombophile Neigung bei Protein-C-Mangel) mit venöser Stauungs-SAB.

Abb. 50.2

CCT [M443]

Welche Komplikationen sind gefürchtet? Häufig treten fokale oder sekundär-generalisierte epileptische Anfälle auf, die selten residual verlaufen. Etwa 5–30 % der Fälle enden letal. Vor allem bilaterale Herdsymptome sollten an eine Sinusvenenthrombose denken lassen. In bis zu der Hälfte der Fälle kommt es zu einer venösen Stauungsblutung. Meist entwickelt sich eine Erhöhung des intrakraniellen Drucks. Wie gehen Sie therapeutisch vor? Die Behandlung erfolgt zunächst stationär unter Monitoring-Bedingungen. In diesem Fall wird eine Vollheparinisierung mit folgender oraler Antikoagulation durchgeführt, die bei vorbekanntem Protein-C-Mangel auf Dauer empfohlen wird.

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Fall 3: Schwindel Fallbeschreibung Ein 49-jähriger Großhandelsverkäufer stellt sich mit plötzlich einsetzendem Schwindel vor. Er berichtet, dass sich seine Umgebung um ihn herum nach rechts drehe, er sich wie betrunken fühle und beim Gehen schwanke. Diese Situation ängstige ihn. Er habe das Bedürfnis, sich hinzulegen und den Kopf ganz still zu halten, da sich der Schwindel sonst verstärke. Außerdem verspüre er Übelkeit, woraufhin er sich oft übergeben müsse. Die Schwindelattacke dauere etwa 2–3 h an und klinge dann spontan wieder ab. Dies habe vor ca. 6 Monaten begonnen und sei seither sehr unregelmäßig und unabhängig von Auslösesituationen sowie Tageszeit aufgetreten – z. B. in einer Woche etwa 4–7 Attacken und dann wieder eine geraume Zeit beschwerdefrei. Momentan verspüre der Patient keine Symptome. Er sei bisher 3-mal gestürzt, woraufhin er sich auch nicht wieder erheben konnte. Er gibt nach der Schwindelattacke ein eigenartiges Gefühl im Kopf an, das für den Rest des Tages anhält. Vor Einsetzen der Symptome bemerke er ein dumpfes, drückendes Gefühl sowie ein Summen im linken Ohr.

Welche Differenzialdiagnosen sollten Sie beachten? • Neuritis vestibularis • Morbus Menière • Basilarismigräne • Vertebrobasiläre Insuffizienz • Kardiale Insuffizienz • Herpes Zoster oticus • Psychogener Schwindel Die klinisch-neurologische Untersuchung ergibt keinen pathologischen Befund. Otoskopisch stellen sich die Trommelfelle und der Gehörgang ebenfalls unauffällig dar. Blutdruck und Puls sind im Normbereich. Welche Diagnose vermuten Sie? Morbus Menière. Welche Informationen bestärken die Diagnose? Im Anfangsstadium besteht Symptomfreiheit zwischen den Attacken. Anamnestisch lassen sich Blässe, Schweißneigung und starkes Krankheitsgefühl eruieren. Es besteht ein horizontal rotierender Spontannystagmus zur gesunden Seite, der sich zusammen mit dem Schwindel bei Lageänderung verstärkt. Weber- und Rinne-Versuch sprechen für eine Innenohrschwerhörigkeit, die sich im Audiogramm als Hypakusis für tiefe Frequenzen sowie ein positives Recruitment darstellt. In der kalorischen Prüfung zeigt sich eine Untererregbarkeit im betroffenen Labyrinth. Skizzieren Sie den Verlauf dieser Erkrankung. Etwa 3–4 Wochen nach Einsetzen der Symptome nimmt die Intensität des Schwindels aufgrund von zentraler Kompensation ab. Mit Zunahme der Attackenhäufigkeit persistieren Hypakusis und Tinnitus. Bei bis zu 90 % der Betroffenen kommt es zur Spontanremission nach 6–10 Jahren mit einem bleibenden Hörverlust. Nach ca. 15–20 Jahren tritt in fast der Hälfte der Fälle die Menière-Krankheit auf der kontralateralen Seite auf. Welche Behandlung empfehlen Sie? Im Anfall sind Bettruhe, die Gabe durchblutungsfördernder Medikamente (z. B. HAES) sowie Antiemetika oder Sedativa empfehlenswert. Die Behandlung mit Betahistin im Verlauf kann sich günstig auswirken. Empfohlen werden eine natriumarme Diät sowie die Vermeidung von Stress und psychischer Belastung. Als weitere Behandlungsoption steht als Ultima Ratio bei fehlender Beeinflussung durch die konservative Therapie und hohem Leidensdruck ein chirurgischer Eingriff mit Ausschaltung des Vestibularorgans zur Diskussion.

Fallbeschreibung Ein 49-jähriger Einzelhandelsverkäufer wird durch den Notarzt aufgrund von plötzlich aufgetretenem Drehschwindel nach rechts bei der Morgentoilette eingewiesen. Der Patient berichtet, dass Schwindelsymptomatik bereits am Vortag kurzzeitig aufgetreten sei, die Symptomatik jedoch aktuell nicht sistiere. Er verspüre starke Übelkeit und habe bereits rezidivierend erbrochen. Eine Hörminderung oder Ohrgeräusche werden verneint. Er könne sich an keine Auslösesituation erinnern und sei bisher auch nicht gestürzt. In der klinisch-neurologischen Untersuchung zeigen sich ein rotatorischer Spontannystagmus zur rechten Seite, eine Fallneigung zur rechten Seite und eine Störung des vestibulookulären Reflexes. Das routinemäßig abgenommene Labor, Blutdruck und Puls sind unauffällig.

Welche Diagnose vermuten Sie? Eine linksseitige Neuritis vestibularis. Differenzialdiagnostisch ist auch an einen zentral-vestibulären Schwindel zu denken, wobei weitere neurologische Defizite zu erwarten wären. Welche weiteren diagnostischen Schritte testen die Funktion des Vestibularapparats? Die kalorische Prüfung. Sie zeigt eine thermische Untererregbarkeit bzw. eine fehlende Reizantwort auf der betroffenen Seite bei Neuritis vestibularis. Welcher Verlauf der Erkrankung kann erwartet werden und welche Therapie schlagen Sie vor? Im Lauf von 2–3 Wochen nach Symptombeginn klingen die Beschwerden i. d. R. ab. Es ist also eine Spontanremission zu erwarten, die durch eine Heilung der Nervenläsion und / oder durch eine zentrale Kompensation des Signalausfalls zustande kommt. Entsprechend wird eine konservative Behandlung angewandt. Sie besteht in Bettruhe, Antivertiginosa (z. B. Dimenhydrinat) und Physiotherapie zum Training der Balance. Welche Unterschiede bestehen zum beidseitigen Ausfall? Der Ausfall beider Nn. vestibulares kann zentral nicht kompensiert werden und entzieht dem Gleichgewichtssystem somit die Stabilisierung durch beide Gleichgewichtsorgane. Die Patienten beklagen eine Gangunsicherheit, die sich im Dunkeln, durch Ausschalten der visuellen Kontrolle sowie auf weichem und

unebenem Boden verstärkt. Auch der vestibulookuläre Reflex erlischt, was dazu führt, dass der Patient beim Gehen kein stabiles Bild auf die Retina projizieren kann und er somit Schwankschwindel angibt (Oszillopsien).

Schwindeltypen • Richtungsbestimmter Schwindel (vestibulärer Schwindel): – Drehschwindel: Schädigung des peripheren Anteils des Vestibularapparats, zentral vestibuläre Störung (Ncll. vestibulares), benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, Neuritis vestibularis, Morbus Menière, Akustikusneurinom, Basilarismigräne, psychogen, Schläfenlappenepilepsie – Schwankschwindel: Phobien, visuell induzierter Schwindel (z. B. Augenmuskelparesen, Brechungsanomalien, Widerspruch zwischen Propriozeption und optischem Eindruck), Schädigung der Hinterstrangbahnen, Polyneuropathie, beidseitiger Vestibularisausfall – Liftschwindel: orthostatische Störungen • Nicht richtungsbestimmter Schwindel: orthostatische Dysregulation, kardiale Insuffizienz, zentralnervöse Störung (z. B. zerebelläre und extrapyramidale Erkrankungen), Epilepsie (z. B. präiktal)

Fallbeschreibung Ein 67-jähriger ehemaliger Elektrotechniker berichtet über rezidivierende Drehschwindelattacken. Zum ersten Mal seien die Beschwerden vor 3–4 Wochen aufgetreten. Gestern habe die letzte von insgesamt sieben Attacken stattgefunden, die etwa 10 min angehalten habe und anschließend vollständig abgeklungen sei. Der Patient sei auch einige Male gestürzt, habe aber dabei nicht das Bewusstsein verloren oder „gezuckt“. Außerdem sehe er auf dem linken Auge doppelt und verschwommen. Klinisch-neurologisch ergibt sich kein auffälliger Befund. Im Routinelabor finden sich leicht erhöhte Zuckerwerte, der Blutdruck beträgt 140/85.

Was kommt differenzialdiagnostisch infrage und nach welchen Informationen müssen Sie sich noch erkundigen? Diagnostisch kommen eine TIA und eine Migräne ohne Kopfschmerz in Betracht. Ein wichtiger anamnestischer Punkt ist die Frage nach einer bereits bekannten Migräne und einer Familienanamnese bezüglich Kopfschmerzen, Herzinfarkten und Schlaganfällen. Es sollten noch einmal evtl. zusätzliche Symptome geklärt werden. Von Bedeutung sind außerdem Risikofaktoren für Gefäßerkrankungen sowie eine bekannte Vorgeschichte bezüglich Herzerkrankungen, Angina pectoris, zerebraler Insulte und ähnlicher Symptome. Der Patient ist seit etwa einem Jahr wegen erhöhten Blutdrucks in Behandlung und war bisher auch gut eingestellt. Zudem hat er 19 Pack Years Nikotinabusus sowie eine positive Familienanamnese für kardiovaskuläre Ereignisse. Die Ehefrau berichtet, dass der Patient während der Beschwerden undeutlich spreche und beim Versuch, etwas zu trinken, stark zittere. Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie und welche weiteren Untersuchungen führen Sie durch? Die Symptome des Patienten und seine Risikofaktoren sprechen für eine TIA. Die beschriebenen „Drop-Attacks“, die Sehstörungen, der Schwindel, die Ataxie der Hände und die Sprechstörung weisen auf eine Lokalisation der Ischämie im vertebrobasilären Versorgungsgebiet hin. Diagnostisch erfolgt eine cMRT mit Frage nach einer frischen stattgehabten Ischämie und zerebralen Mikroangiopathie mit Darstellung der hirnversorgenden Gefäße. Zudem eine DopplerSonografie der extra- und intrakraniellen Gefäße mit Frage nach Stenosen, darüber hinaus kardiale Diagnostik (TTE, ggf. TEE, EKG, 24-h-EKG) zum Ausschluss einer kardialen Emboliequelle. Routine-Labordiagnostik, Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren. Das Blutbild ist unauffällig. Im CCT zeigt sich das Bild einer chronischen Mikroangiopathie. Die Doppler-Untersuchung der extra- und intrakraniellen Gefäße und die Angiografie weisen eine ausgeprägte stenotische Verengung der linken A. vertebralis auf. Durch ein MRT wird eine Ischämie ausgeschlossen. Eine mögliche kardioembolische Ursache wird durch ein Langzeit-EKG und ein Herzecho ausgeschlossen. Der 24-h-EKG-Befund weist keine höhergradige Herzrhythmusstörung auf. Welche Behandlung schlagen Sie vor? Die Risikofaktoren müssen eingestellt und kontrolliert werden. Eine Antikoagulation mit ASS (bei Unverträglichkeit Clopidogrel) wird begonnen und eine ambulante Wiedervorstellung zur Verlaufskontrolle geplant. Der Neurochirurg bzw. Neuroradiologe wird hinzugezogen, um eine Stentimplantation bzw. Dilatation der A. vertebralis zu erörtern (Stents in der A. vertebralis werden eher selten eingesetzt, da die Komplikationsrate sehr hoch ist). Ausdauersport wirkt sich positiv auf das Voranschreiten der Arteriosklerose aus. Eine Basilarisinsuffizienz ist eine potenziell lebensbedrohliche Ursache von Schwindel beim älteren Menschen.

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Fall 4: Muskelschwäche Fallbeschreibung Eine 34-jährige, verheiratete Frau (mit einem Sohn im Alter von 4 Jahren) gibt eine Schwäche in den Beinen an, die sie in ihren alltäglichen Verrichtungen behindert.

Welche Ursachen können zu einer solchen Schwäche führen? • Schädigung der Pyramidenbahn (z. B. Schlaganfall, Blutung, Tumor) • Störung der Rückenmarksbahnen (z. B. Syringomyelie, Diskusprolaps) • Degeneration oder Störung des peripheren Neurons (z. B. Trauma) • Neuropathie • Guillain-Barré-Syndrom • Schäden an der neuromuskulären Endplatte (Myasthenie) • Myopathien Die Patientin berichtet, dass sie bis zur Geburt ihres Kindes völlig gesund gewesen sei. Erste Beschwerden habe sie bemerkt, als ihre Beine eines Abends auf der Treppe plötzlich nachgegeben hätten. Ein Arzt sei zunächst nicht konsultiert worden, da die Schwäche am nächsten Tag bereits verschwunden sei Im Laufe der Zeit seien diese Schwächeanfälle der Beine immer wieder aufgetreten und auch nicht mehr vollständig vergangen. Hinzu sei auch eine Schwäche in beiden Armen gekommen, sodass die Patientin ihre Arme kaum mehr über Schulterhöhe hinaus anheben könne. Die Beschwerden seien nicht schmerzhaft und von wechselnder Intensität, am ausgeprägtesten am Ende des Tages. Wenn sie sich körperlich verausgabt habe, müsse sie sich ausruhen, bis ihre Kraft wieder zurückkehre. Die Untersuchungen bei ihrem Hausarzt und einem Orthopäden ergaben keine Sensibilitätsstörungen, Muskelatrophien oder Reflexveränderungen. Die Laboruntersuchungen zeigten eine normale Schilddrüsen- und Nebennierenfunktion und auch im Normbereich liegende Elektrolytwerte, Kreatinkinase sowie Elektrophorese. Das Elektromyogramm des M. quadriceps und des M. deltoideus sowie die Nervenleitgeschwindigkeit des N. ulnaris und des N. peroneus sind unauffällig. Welche Diagnosen ziehen Sie in Betracht? Die beschriebene proximale Muskelschwäche mit verstärkter Intensität nach Belastung, Besserung nach Ruhe, ohne Veränderung der Sensibilität, der NLG und ohne Reflexanomalien spricht für eine Störung der neuromuskulären Endplatte. Myasthenia gravis pseudoparalytica und Lambert-Eaton-Syndrom sind in Betracht zu ziehen. Welche anamnestischen Angaben stützen die Diagnose? Die Myasthenie manifestiert sich oft durch Doppelbilder und Ptose. Auch Schluckstörungen und eine nasale Sprache sind sehr häufig. Die Patientin stimmt allen Symptomen zu. Abends sind die Doppelbilder am stärksten ausgeprägt. Welche klinischen Tests führen Sie durch? Im Armvorhalteversuch beginnen die Arme der Patientin nach 1 min zu zittern und langsam herabzusinken (normal > 3 min). Beim Vorhalten der Beine aus liegender Position sinken diese bereits nach 40 s herab (normal mindestens 100 s). Zur Durchführung des Simpson-Tests blickt die Patientin nach oben auf einen Punkt. Die Ptose setzt nach 1 min ein. Es kann zusätzlich der Tensilon-Test durchgeführt werden. Wie kann zwischen Myasthenia gravis und Lambert-Eaton-Syndrom differenziert werden? Pathophysiologisch liegen dem Lambert-Eaton-Syndrom Antikörper gegen präsynaptische Kalziumkanäle und der Myasthenia gravis Antikörper gegen postsynaptische Acetylcholinrezeptoren zugrunde. Im Gegensatz zur Amplitudenabnahme der Aktionspotenziale bei tetanischer Reizung (3 Hz) im EMG bei Myasthenia gravis zeigt sich beim Lambert-Eaton-Syndrom nach Reizung mit 20 Hz eine Zunahme der Amplitude um 100 %. Bei dieser Patientin kann eine Myasthenia gravis nachgewiesen werden. Welche Behandlung schlagen Sie vor? Eine ausführliche Beratung bezüglich Medikamenteneinnahme, Impfungen, Beruf, Hilfsmitteln u. a. ist notwendig. Außerdem wird eine Behandlung mit einem Acetylcholinesterasehemmer, z. B. Mestinon®, begonnen. Bei der Patientin wird aufgrund des jungen Alters eine Thymektomie in Betracht gezogen, obwohl im MRT keine Veränderungen sichtbar waren. Dieser Eingriff bietet in einem Viertel der Fälle eine vollständige Heilung, bei ca. 40 % der Patienten eine deutliche Besserung. Cave: Bei Durchführung des Tensilon-Tests auf muskarinerge Nebenwirkungen achten, z. B. Bradykardie, Ateminsuffizienz!

Fallbeschreibung Eine 54-jährige Sachbearbeiterin berichtet, im Wanderurlaub vor etwa 1 Jahr bemerkt zu haben, dass sie nicht mehr wie gewohnt mit ihrem Ehemann mithalten konnte. Ihr linkes Bein sei ihr sehr schwer erschienen. Sie sei öfter gestolpert und habe die Balance nicht sicher halten können. Diesem Ereignis sei ein Muskelzittern an beiden Schultern einige Monate vorausgegangen, das die Patientin seither an sich beobachten könne und als „Würmerlaufen unter der Haut“ beschreibt. Die Beinschwäche habe im Laufe der Zeit zugenommen, nun sei auch die linke Hand leicht betroffen. Sonst habe sie keine weiteren Beschwerden. Es bestünden keine Vorerkrankungen und Allergien, die Familienanamnese bezüglich Muskelerkrankungen ist leer. Auch Zeckenbisse werden verneint. Die körperliche Untersuchung ergibt einen unauffälligen Befund der Hirnnerven I – XI. Es sind Faszikulationen an der Zunge sichtbar. Diese finden sich auch am Rumpf. Die Thenar- und die dorsale Interossärmuskulatur der linken Hand weisen eine leichte Atrophie auf. Der Muskeltonus ist unauffällig. Es besteht eine leichte Kraftminderung bei Fingerabduktion, Extension und Flexion der linken Hand. Eine linksbetonte beidseitige Fußheberschwäche lässt sich feststellen, ebenso eine Schwäche der Knieextension links. Die Reflexe an Armen und Beinen sind sehr lebhaft auslösbar, wobei eine Seitendifferenz der unteren Extremität auszumachen ist. Babinski ist beidseits negativ, das sensible System unauffällig.

Was ist Ihre Verdachtsdiagnose? Faszikulationen, Muskelatrophie und Schwäche sind Zeichen einer Schädigung des zweiten Motoneurons. Die Seitendifferenz der Reflexe an den Beinen und die lebhaften Reflexe bei atrophischen Paresen sprechen für eine Beteiligung des ersten Motoneurons. Diese Befunde finden sich beidseits distal der bulbären Manifestation, ohne sensible Störungen. Dies spricht für die amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Welche weiteren anamnestischen Angaben sprächen dafür? Neben der langsamen Progredienz der Symptome ohne jegliche Besserung nach Manifestation sind bulbäre Symptome mit Dysphagie und Dysarthrophonie sehr häufig. Charakteristisch sind auch pathologisches Lachen und Weinen. Bis auf den klinisch voranschreitenden Verlauf werden die Symptome von der Patientin verneint. Welche Untersuchungen führen Sie durch? Die Diagnose kann durch die klinische Untersuchung mithilfe der Einteilung entsprechend den El-Escorial-Kriterien gestellt werden. Im EMG zeigen sich neurogene Veränderungen. Das MRT von Kopf und Wirbelsäule weist keine pathologischen Veränderungen auf. Ebenso sind der Liquorbefund, das Blutbild sowie die sensible NLG unauffällig. Die motorische NLG kann leicht vermindert sein. Welche Behandlung schlagen Sie vor? Eine kausale Therapie der ALS gibt es nicht. Die Erkrankung verläuft chronisch progredient mit einer durchschnittlichen Verlaufsdauer von ca. 3–5 Jahren. Unter einer Behandlung mit dem Glutamatantagonisten Riluzol wird von einer Verlängerung der Lebenserwartung berichtet. Im Vordergrund stehen die symptomatische Therapie und die psychosoziale Betreuung der Patientin und ihrer Angehörigen.

Fallbeschreibung Eine 44-jährige Einzelhandelskauffrau bemerkte gestern im Supermarkt eine Schwäche beider Beine und Parästhesien der Fußsohlen, die sie als wie „auf Nadeln gehen“ beschreibt. Sie deutete dies als allgemeine Übermüdung nach einer vor kurzem überstandenen Grippe. Sie „schleppte“ sich nach Hause, wo sie sich hinlegte. Die Schwäche in den Oberschenkeln habe im Laufe des Tages zugenommen, seit diesem Morgen könne sie kaum mehr stehen. Eine Blasen- oder Darmfunktionsstörung bemerke sie nicht. Zusätzlich verspüre sie nun ein taubes, kribbelndes Gefühl in den Fingern, jedoch keine Schwäche in den Armen. Die Temperatur ist normal, der Blutdruck mit 105/65 erniedrigt, die Herzfrequenz regelmäßig (72/min), die Atemfrequenz beträgt 16/min. Die klinische Untersuchung der Hirnnerven ist unauffällig. Es lassen sich keine Muskelatrophien feststellen. Der Muskeltonus an der unteren Extremität ist beidseits vermindert bei einer generalisierten proximal betonten Schwäche der Beine. Die MER der Beine sind selbst unter Bahnung nicht auslösbar und an den Armen seitengleich abgeschwächt. Das Babinski-Zeichen ist negativ. Bei der Prüfung der Schmerzwahrnehmung gibt die Patientin ein elektrisierendes Gefühl strumpf- bzw. sockenförmig an beiden Händen und Füßen an. Weitere Empfindungsstörungen sind nicht nachweisbar.

Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie? Das Verteilungsmuster der sensiblen und motorischen Störungen bei schlaffen Paresen mit abgeschwächten Reflexen spricht für eine Schädigung des peripheren Nervensystems. Der vorausgegangene fieberhafte Infekt, die schnelle Progredienz der Symptome und die Leitungsverzögerung der Nerven sind Hinweise auf eine postinfektiöse Erkrankung wie das Guillain-Barré-Syndrom. Welchen Verlauf kann diese Polyradikulopathie nehmen? Gefürchtet sind die rasch aufsteigenden Paresen mit Übergreifen auf die Atemmuskulatur und die daraus resultierende Atemlähmung. Es können auch vegetative Begleitsymptome wie Herz- und Kreislaufstörungen sowie eine Störung der Temperaturregulation und Blasenfunktion auftreten. Welche Untersuchungen führen Sie durch? Durch eine Messung der Vitalkapazität 3-mal täglich soll eine Dekompensation der Atmung rechtzeitig erkannt und ggf. die Beatmung der Patientin eingeleitet werden. EKG-Monitoring ist ebenfalls indiziert. Im Liquor findet man bei fast allen Patienten die typische zytalbuminäre Dissoziation spätestens nach 15–25 Tagen. Falls dieser Befund zum aktuellen Zeitpunkt negativ ausfällt, sollte die Lumbalpunktion nach ca. 2 Wochen wiederholt werden. In ca. 65 % der Fälle wird im Liquor ein erhöhter Antikörpertiter gegen Campylobacter jejuni oder Zytomegalie gefunden. Die demyelinisierende Störung zeigt sich im ENG durch eine Verlängerung der F-Wellen-Latenzen oder deren vollständiges Fehlen sowie Leitungsblöcke bei mehreren Nerven. Im EMG kann nach einigen Wochen Spontanaktivität beobachtet werden. Welche Therapie schlagen Sie vor? Die Patientin wird engmaschig überwacht und muss am vierten Tag nach stationärer Aufnahme auf die Intensivstation verlegt und beatmet werden. Sie erhält Immunglobuline i. v. und bleibt die darauf folgenden 2 Tage stabil, woraufhin man sich entscheidet, die Spontanheilung abzuwarten. Nach 4 Monaten haben sich die Symptome vollständig zurückgebildet.

Anhang

53

Tabellen und Abbildungen Tab. 53.1

Kennmuskeln

MER

Nervenwurzel

Bizepssehnenreflex (BSR)

C5 / 6

Trizepssehnenreflex (TSR)

C7 / 8

Radiusperiostreflex (RPR), Brachioradialisreflex (BRR)

C5 / 6

Trömner-Reflex

C7 / 8

Knipsreflex

C7 / 8

Adduktorenreflex

L2 – L4

Patellarsehnenreflex (PSR)

L3 – L4

Tibialis-posterior-Reflex (TPR)

L5

Achillessehnenreflex (ASR)

S1 – S2

Rossolimo-Reflex

S1 – S2

Fremdreflex

Nervenwurzel

Bauchhautreflex

Th6 – Th12

Kremasterreflex

L1 / L2

Analreflex

S3 – S5

Tab. 53.2

Normalbefunde des Liquors

Farbe

Wasserklar

Zellzahl

< 5 Zellen / μl

Differenzialzellbild

ca. 2 / 3 Lymphozyten, ca. 1 / 3 Monozyten

Eiweiß

Gesamteiweiß: 200–400 mg / l, Albumin: ≤ 340 mg / l, IgG: ≤ 40 mg / l, IgA: ≤ 6 mg / l, IgM: ≤ 1 mg / l

Glukose

ca. 60 % des Blutserumwerts, 40–70 mg / dl, 2,7–4,1 mmol / l

Laktat

10–20 mg / dl

Liquordruck

< 200 mmH 2 O

Tab. 53.3

Glasgow-Coma-Scale und ihre Bewertung

Augen öffnen

Verbale Reaktion

Motorische Reaktion auf Schmerzreize

Spontan

4

Auf Ansprache

3

Auf Schmerzreiz

2

Keine Reaktion

1

Orientiert

5

Desorientiert

4

Unzusammenhängende Wörter

3

Unverständliche Worte

2

Keine verbale Reaktion

1

Befolgt Aufforderung

6

Gezielte Schmerzabwehr

5

Massenbewegungen

4

Beugesynergien

3

Strecksynergien

2

Keine Reaktion

1

Durch Addition der Punkte lässt sich der Grad der Komatiefe beurteilen: Coma-Scale

Zustand des Patienten

Grad

6–8

Pupillomotorik intakt, gezielte Schmerzabwehr

I

5–6

ungerichtete Schmerzabwehr, divergente Bulbi

II

4

Keine Abwehr, Pupillenreaktion verzögert, Muskeltonus erhöht

III

3

Muskeltonus schlaff, Pupille weit und reaktionslos, keine Schmerzreaktion

IV

Abb. 53.1

Segmentale Versorgung der Haut (Dermatome) [L231]

54

Quellenverzeichnis Der Verweis auf die jeweilige Abbildungsquelle befindet sich bei allen Abbildungen im Werk am Ende des Legendentextes in eckigen Klammern. [E283] Mettler, F. A.: Essentials of Radiology. Elsevier / Saunders, 2. Aufl. 2004. [E305] Kanski, J. J.: Clinical ophthalmology – a synopsis. Elsevier / Butterworth / Heinemann 2004. [E355] Goldman, L. / Ausiello, D. A.: Cecil Medicine. Elsevier / Saunders, 23. Aufl. 2007. [E384] Ignatavicius, D. D. / Workman, M. L.: Medical-Surgical Nursing: Critical Thinking for Collaborative Care. Elsevier / Saunders, 5. Aufl. 2006. [E386] Seidel, H. M. et al.: Mosby’s Guide to Physical Examination. Mosby, 6. Aufl. 2006. [E388] Michael-Titus, A. T. / Revest, P. / Shortland, P.: The nervous system. Elsevier / Churchill Livingstone 2007. [E404] Herring, J. A.: Tachdijan’s Pediatric Orthopaedics. Elsevier / Saunders, 4. Aufl. 2008. [E406] Crossman A. R. / Neary D.: Neuroanatomy. Elsevier / Churchill Livingstone, 3. Aufl. 2005. [E428] Albert, D. M. et al.: Albert & Jakobiec’s Principles & Practice of Ophthalmology. Elsevier / Saunders, 3. Aufl. 2008. [E483] Liebsch, R.: Kurzlehrbuch Neurologie. Elsevier / Urban & Fischer, 2. Aufl. 2001. [E520] Lundy-Ekman, L.: Neuroscience – Fundamentals for Rehabilitation. Elsevier / Saunders, 3. Aufl. 2007. [E533] Ryan, St. / McNicholas, M. / Eustace, St. J.: Anatomy for Diagnostic Imaging. Elsevier / Saunders, 2. Aufl. 2004. [E549] Nolte, J.: The Human Brain. Elsevier / Mosby, 6. Aufl. 2009. [E694] Bertorini: Neuromuscular Case Studies. Elsevier / Butterworth-Heinemann 2008. [E811] Webb, L. A.: Manual of Eye Emergencies, Diagnosis and Management. Elsevier / Butterworth-Heinemann, 2. Aufl. 2004. [E943] Kanski, J.: Clinical Ophthalmology – A Systematic Approach. Elsevier / Butterworth-Heinemann, 6. Aufl. 2007. [E989] Magee, D. J.: Orthopedic Physical Assessment. Elsevier / Saunders, 5. Aufl. 2007. [E991] Nouri, K. / Khouri, S. L.: Techniques in Dermatologic Surgery. Elsevier / Mosby 2003. [F210-010] Teasdale G. M. et al.: Assessment of coma and impaired consciousness. A pactical scale. The Lancet, Volume 304, Issue 7872. Elsevier, 1972. [F613] Jaretzki, A. et al.: Myasthenia gravis, Recommendations for clinical research standards. Neurology, Volume 55, Issue 1: 16-23. Sanders, July 2000. [F696-005] Klotz, L. et al.: Diagnostik der Multiplen Sklerose. 2010 Revision der McDonald-Kriterien. In: Der Nervenarzt, Volume 82, Issue 10: 13021309. Springer, 2011. [G182] Kirshner, H. S.: Behavioral Neurology: Practical Science of Mind and Brain. Elsevier / Butterworth-Heinemann, 2. Aufl. 2008. [G183] Feigin, R. / Cherry, J.: Feigin & Cherry’s Textbook of Pediatric Infectious Diseases. Elsevier / Saunders, 6. Aufl. 2009. [G184] Waldman, S. D.: Pain Management. Elsevier / Saunders 2007. [G185] Loukas, M. et al.: Gray’s Anatomy Review. Elsevier / Churchill Livingston 2009. [L106] Henriette Rintelen, Velbert. [L141] Stefan Elsberger, Planegg. [L157] Susanne Adler, Lübeck. [L190] Gerda Raichle, Ulm. [L231] Stefan Dangl, München. [M443] Prof. Dr. med. Olaf Jansen, Universitätsklinikum Kiel. [M495] Prof. Dr. med. Thomas Deller, Uniklinikum Frankfurt. [M500] Prof. Dr. med. G. W. Kauffmann, Heidelberg. [M510] Dr. Andreas Leppien, Neuroradiologie Asklepios Klinik Altona, Hamburg. [M822] Dr. med. Marija Cardoso Caldas Pinto, München. [M823] Prof. Dr. Otmar Wiestler, Heidelberg. [R186] Gruber G. / Hansch A.: Kompaktatlas Blickdiagnosen. Elsevier / Urban & Fischer 2006. [R276] Dr. Michael Schirmer, Berlin. [R261] Sitzer, M. / Steinmetz, H.: Lehrbuch Neurologie. Elsevier / Urban & Fischer 2011. [X314] Folstein, M.; Folstein, S.: Mini Mental State Examination.

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Register A A.-spinalis-anterior-Syndrom, Abduzensparese, Absence-Epilepsie, Absencen, Achillessehnenreflex, Adams-Stokes-Anfall, Adduktorenreflex, Agnosie, , Akinese, , akinetische Krise, akute disseminierte Enzephalomyelitis, Algesie, Alkoholdelir, Alzheimer-Demenz, Amantadin, Amaurosis fugax, amyotrophe Lateralsklerose, , Fallbeispiel, Analreflex, Anfälle epileptische, Notfall, generalisierte tonisch-klonische, Angiografie, Anosmie, Anosognosie, Anticholinergika, Aphasie, Aphasie-Epilepsie-Syndrom, Apomorphinpumpe, Apraxie, Aquaeductus mesencephali, Archikortex, Area pretectalis, Armvorhalteversuch, Arteria basilaris, carotis interna, , cerebri anterior, , cerebri media, , cerebri posterior, , ophthalmica, vertebralis, Arteriae spinales posterolaterales, spinalis anterior, vertebrales, Arteriitis temporalis, Ästhesie, Astrozytome, Athetose, Aufwach-Grand-Mal-Epilepsie, Augenmuskelnerven, Axonotmesis,

B Babinski-Zeichen, Bahnen motorische absteigende, sensible aufsteigende, Ballismus, Baló-Krankheit, Bandscheibenvorfall, Bárány-Zeigeversuch, Basalganglien, Bauchhautreflex, benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, Bewusstseinsstörungen, , Bewusstseinsverlust, , Fallbeispiel, Bielschowsky-Phänomen, bilaterale Vestibulopathie, Bing-Horton-Syndrom, Bizepssehnenreflex, Blepharospasmus, Blickparese, Blindgang, Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe, Blutversorgung Gehirn, Rückenmark, Borreliose psychosomat. Begleiterscheinungen, Bradykinese, Broca-Aphasie, Broca-Sprachzentrum, Brown-Séquard-Syndrom, , Brückenkerne, Brudzinski-Zeichen, Bulbärparalyse, Bulbärsyndrom, C Canalis centralis, Cauda-equina-Syndrom, Cerebellum, Charcot-Marie-Tooth-Krankheit, Charcot-Trias, Chorea Huntington, Chorea minor, chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie, chronisches Fatigue-Syndrom, Circulus arteriosus Willisii, , Claudicatio intermittens spinalis, Clusterkopfschmerz, Colliculi inferiores, superiores, Commotio cerebri, Compressio cerebri, Computertomografie, COMT-Hemmer, Contusio cerebri, Corpora mamillaria, , Corpus amygdaloideum, ,

Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, Critical-illness-Polyneuropathie, Crura cerebri, D Delir, Demenz, Depression, Dermatomyositis, Devic-Syndrom, Diadochokinese, Diencephalon, dienzephales Syndrom, DOAK, , Dopaminagonisten, Doppler-Sonografie, Drehschwindel, Drehstuhlprüfung, Duodopa-Pumpe, Dysarthrie, Dyskinesien, Dystonie, E EEG Epilepsie, Eigenreflexe, Einschlusskörpermyositis, Elektroenzephalografie, Elektromyografie, Elektroneurografie, Endstellnystagmus, Endstrominfarkt, entzündliche diffuse Sklerose, Enzephalitis, Ependymom, epidurales Hämatom, Epilepsie, fokale, generalisierte, generalisierte, Fallbeispiel, Grand-Mal, Notfall, psychiatr. Komplikationen, Epiphyse, evozierte Potenziale, extrapyramidale Bewegungsstörungen, F Facies myopathica, Fallbeispiel, , , , Fasciculus cuneatus, gracilis, Fazialisparese, Feinmotorik, Fibromyalgie, Finger-Nase-Versuch, Formatio reticularis, Foster-Kennedy-Syndrom, Fremdreflexe, Friedmann-Syndrom,

Friedreich-Ataxie, Froment-Manöver, Froment-Zeichen, Frontallappen, frontotemporale Demenz, Frühsommer-Meningoenzephalitis, funikuläre Myelose, G Gangstörungen, Gehirn Anatomie, Blutversorgung, Gehirnerschütterung, Gerstmann-Sträussler-Syndrom, Geruchssinn, Gesichtsfeldprüfung, Glabellareflex, Glasgow Coma Scalee, Glaukomanfall, Glioblastom, Globus pallidus, Glykogenosen, Gordon-Reflex, Gowers-Zeichen, Grand-Mal-Epilepsie, graue Substanz, Greifreflex, Grenzzoneninfarkt, Großhirn, Guillain-Barré-Syndrom, Fallbeispiel, Gürtelrose, Gyrus angularis, cinguli, , parahippocampalis, , postcentralis, precentralis, H Habenulakerne, Hämatom epidurales, intrazerebrales, subdurales, Hemi-Parkinson-Gang, Hemispasmus facialis, Herniation, , Herpes Zoster, Herpes-simplex-Enzephalitis, Hinterhorn, Hinterstrangbahnen, Hinterstrangläsion, Hippocampus, , Hirnabszess, Hirnarterien große, Hirndruckerhöhung, Hirnmetastasen, Hirnnerv I,

II, III, , IV, V, VI, VII, VIII, IX, X, XI, XII, Hirnprellung, Hirnquetschung, Hirnschenkel, Hirnstamm, Hirnstammläsion, Hirnstammsyndrome, Hirntumoren, HIV-Infektion, Holmes-Adie-Syndrom, Hoover-Test, Horner-Syndrom, Hörrinde, Hustensynkope, Hyperventilation, Hypoglykämie, Hypokinese, Hypophyse, Hypophysenadenom, Hypophysenhinterlappen, Hypophysenstiel, Hypothalamus, Hypotonus, I idiopathische intrakranielle Hypertension, Impulsiv-Petit-Mal-Epilepsie, Infundibulum, Inselrinde, internukleäre Ophthalmoplegie, intrazerebrales Hämatom, Isaac-Mertens-Syndrom, ischämischer Infarkt, J Jackson-Anfall, Jendrassik-Handgriff, K Kalottenfraktur, Kanalkrankheiten, Karotissinussyndrom, Karpaltunnelsyndrom, Kauda-Syndrom, Kearns-Sayre-Syndrom, Kernig-Zeichen, Kiloh-Nevin-Syndrom, Klappmesserphänomen, Kleinhirn, Kleinhirninfarkte, Kleinhirnseitenstrangbahnen, Kleinhirnsyndrome,

Knie-Hacke-Versuch, Knipsreflex, Koma, Konus-Syndrom, Konvergenzreaktion, konzentrische Sklerose, Kopfschmerzen, Fallbeispiel, Korsakoff-Syndrom, Kortex prämotorischer, kortikobasale Degeneration (CBD), Kraftprüfung, Krampfanfälle, fokale, , generalisierte, , generalisierte tonisch-klonische, psychogene, Kraniopharyngeom, Kremasterreflex, Kubitaltunnelsyndrom, L Lagerungsschwindel, Lageschwindel, Lambert-Eaton-Syndrom, , Fallbeispiel, Langzeit-EEG, Lappen Frontal-, Okzipital-, Temporal-, Lasègue-Zeichen, Läsion Gehirn, Mittelhirn, Motoneuron, Rückenmark, sensible Nerven, Zwischenhirn, L-Dopa, L-Dopa-Infusionspumpe, Lennox-Gastaut-Syndrom, Lewy-Body-Demenz, , Lewy-Körperchen-Demenz, limbisches System, Liquor, Liquorbefunde, Liquorpunktion Meningitis, Liquorraum, Lobus insularis, Locked-in-Syndrom, Loge-de-Guyon-Syndrom, Lumbalpunktion, M Magnetresonanztomografie, Makroangiopathie, MAO-B-Hemmer, Marburg-Trias, Masseterreflex,

Medulla oblongata, Medulloblastom, Meige-Syndrom, MELAS-Syndrom, Meningeom, Meningeosis carcinomatosa, Meningitis, , akute lymphozytäre, tuberkulöse, Meningoenzephalitis, Meningokokkenmeningitis, MERRF-Syndrom, Mesencephalon, mesenzephales Syndrom, Migräne, , , Mikroangiopathie, Miktionssynkope, Miller-Fisher-Syndrom, Minor-Schweißtest, Mittelhirn, Mittelhirndach, Mittelhirnhaube, Mononeuritis multiplex, Mononeuropathien, , Morbus Alzheimer, Horton, Menière, Pick, Wilson, Motorkortex, Multiple Sklerose, Depression, psychosomat. Begleiterscheinungen, Multisystematrophie, Muskeldystrophien, Muskelschwäche, Muskeltonus, myasthene Syndrome, Myasthenia gravis pseudoparalytica, , Myasthenie Fallbeispiel, Myelitis, Myoklonien, Myoklonus, Myopathien, alkoholinduzierte, medikamentös-toxisch induzierte, metabolische, mitochondriale, Myositiden, Myotonia congenita Becker, congenita Thomsen, dystrophica Curschmann-Steinert, Myotonien, N N.-interosseus-anterior-Syndrom, Neglect, Neokortex, Nervus

abducens, accessorius, cutaneus femoris lateralis, facialis, glossopharyngeus, hypoglossus, medianus, oculomotorius, , olfactorius, opticus, peroneus, radialis, trigeminus, trochlearis, ulnaris, vagus, vestibulocochlearis, Neurapraxie, Neurinom, Neuritis nervi optici, vestibularis, Neuroborreliose, Neurohypophyse, neurologischer Status, Neurolues, Neuromyelitis optica, Neuromyotonie, neuropsychologische Syndrome, Neurosyphilis, Neurotmesis, Ninhydrintest, Notfälle, Nucleus ruber, subthalamicus, Nystagmus optokinetischer, pathologischer, physiologischer, vestibulärer, Nystagmusprüfung, O Okulomotoriusparese, , Okzipitallappen, Oligodendrogliom, Olivenkernkomplexe, Ophthalmoplegia externa, interna, Oppenheim-Reflex, Optikusatrophie, P Paleokortex, Pallästhesie, Papillitis, Paralyse hyperkaliämische periodische, hypokaliämische periodische, Paramyotonia congenita Eulenburg,

Parasympathikus, Parietallappen, Parkinson, Parkinson-Syndrom atypisches, familiäres, idiopathisches, psychiatr. Komplikationen, sekundäres, Therapie, Patellarsehnenreflex, Pendelnystagmus, Petit-Mal-Epilepsie, phobischer Schwankschwindel, Pinealistumoren, Plexuspapillom, Pneumokokkenmeningitis, Poliomyelitis anterior, anterior acuta, Polymyalgia rheumatica, Polymyositis, Polyneuropathien, alkoholische, axonal betonte, chronisch inflammatorische demyelinisierende, Critical illness, demyelinisierende, diabetische, hereditäre, malnutritive, Polyradikulopathie, Pons, Ponsläsion, pontines Syndrom, Pontocerebellum, Positronenemissionstomografie, Post-Borreliose-Syndrom, Post-Poliomyelitis-Syndrom, progressive multifokale Leukenzephalopathie, progressive supranukleäre Ophthalmoplegie, Pronator-teres-Syndrom, proximale myotone Myopathie, Pseudodemenz, depressive, Pseudotumor cerebri, , , psychogene Lähmung, Ptosis, Pupillenreaktion, Pupillenreaktionsstörungen, Pupillenstarre, Pupillotonie, Pyknolepsie, Pyramidenbahn, Pyramidenbahnläsion, Q Querschnittslähmung, Querschnittssyndrom, R Radiusperiostreflex, Rebound-Phänomen,

Reflex exterozeptiver, optokinetischer, pathologischer, propriozeptiver, Refsum-Syndrom, Restless-legs-Syndrom, Retrobulbärneuritis, Rhombencephalon, Riechhirn, Riesenzellarteriitis, Rigor, , , Rinde primär sensible, sekundäre somatosensible, Rinne-Versuch, Rolando-Epilepsie, Romberg-Stehversuch, Röntgendiagnostik, Rossolimo-Reflex, Rückenmark Anatomie, Blutversorgung, Rückenmarksläsionen, Rückenmarkstumoren, Rucknystagmus, S Schädelbasisfraktur, Schädelfraktur, Schädel-Hirn-Trauma (SHT), Schädel-Hirn-Trauma, Schellong-Test, Scherengang, Schilder-Krankheit, Schirmer-Test, Schlaf-EEG, Schlaf-Grand-Mal-Epilepsie, Schlaganfall, , , Post-Stroke-Depression, Schnauzreflex, Schwankschwindel, , Schwannom, Schwindel, Fallbeispiel, , psychogener, Typen, Sehnerventzündung, Sehstörungen binokuläre, monokuläre, psychogene, Seitenhorn, Sensibilitätsstörungen, Single-Photon-Emissions-Computertomografie, Sinusitis, Slow-Channel-Syndrom, Slow-Virus-Erkrankungen, Somnolenz, Sopor, Spannungskopfschmerz, Fallbeispiel,

Spastik, spastische Spinalparalyse, spinale Muskelatrophie, , spinale Syndrome, Spinalkanalstenose, Spinocerebellum, spongiforme Enzephalopathien, Spontannystagmus, Sprachzentrum, Stammganglien, Status epilepticus, Stauungspapille, Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom, Steppergang, Stereognosie, Steroidmyopathie, Stiff-Person-Syndrom, Striatum, subakut sklerosierende Panenzephalitis, Subarachnoidalblutung, , subdurales Hämatom, Substantia nigra, , Subthalamus, Sukzessivreiz, Sulcus-ulnaris-Syndrom, Supplementärkortex, Sympathikus, Synkope, Fallbeispiel, Syringomyelie, , T Tectum mesencephali, Tegmentum mesencephali, Telencephalon, Temporallappen, Temporallappenepilepsie, Territorialinfarkt, Thalamus, Thalamusläsion, Thermästhesie, Tibialis-posterior-Reflex, Tics, Tiefenhirnstimulation, Tollwut, Torticollis spasmodicus, Tourette-Syndrom, Toxoplasmose, Tractus corticospinalis, reticulospinalis, rubrospinalis, spinocerebellaris, spinothalamicus, vestibulospinalis, transiente globale Amnesie, transiente ischämische Attacke Fallbeispiel, transitorische ischämische Attacke, , , Trauma, Tremor, , , Trendelenburg-Gang,

Trigeminusneuralgie, Trizepssehnenreflex, Trochlearisparese, Trömner-Reflex, Tuberculum cuneatus, gracile, U Ulnarislähmung, Ulnarisrinnensyndrom, Unterberger-Tretversuch, Untersuchung Anamnese, Gang, Gehör, internistische, körperliche, Muskeltonus, Myoklonus, psychischer Befund, Reflexe, Sensibiliät, Sprache, Stand, Uthoff-Phänomen, V vaskuläre Demenz, Venae cerebri profundae, cerebri superficiales, Ventrikelsystem, Verwirrtheit, Vestibularapparat, Vestibularisparoxysmie, Vestibulocerebellum, Vierhügelplatte, Visus, Vorderhörner, VOR-Suppressionstest, W Watschel-Gang, Weber-Versuch, weiße Substanz, Wernicke-Aphasie, Wernicke-Enzephalopathie, Wernicke-Mann-Gang, Wernicke-Sprachzentrum, West-Syndrom, Wurzelkompressionssyndrome, Z Zahnradphänomen, Zentralarterienverschluss, zentromedulläres Syndrom, , Zentrum optisches Reflex-, präokulomotorisches, Zirbeldrüse, Zwischenhirn,