BAND 6 Über das weltweite soziale Chaos: Ausgewählte Schriften zur Philosophie und Gesellschaftstheorie 9783050057507, 9783050049144

Die vorliegende Auswahl von Texten des französischen Sozialphilosophen und Gesellschaftstheoretikers Charles Fourier (17

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BAND 6 Über das weltweite soziale Chaos: Ausgewählte Schriften zur Philosophie und Gesellschaftstheorie
 9783050057507, 9783050049144

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Charles Fourier Über das weltweite soziale Chaos Herausgegeben von Hans­Christoph Schmidt am Busch

Schriften zur europäischen Ideengeschichte Herausgegeben von Harald Bluhm

Band 6

Charles Fourier

Über das weltweite soziale Chaos Ausgewählte Schriften zur Philosophie und Gesellschaftstheorie Herausgegeben von Hans-Christoph Schmidt am Busch

Akademie Verlag

Abbildung auf S. 7: Charles Fourier (1772 – 1837), Stahlstich, o. J., in: H. F. Helmolt (Hg.): History of the World, New York, 1901, Wikimedia Commons.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d­nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2012 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie­verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Mischka Dammaschke Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978­3­05­004914­4 E­Book: ISBN 978­3­05­005750­7

Charles Fourier (1772 – 1837)

Inhalt

Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Zur Idee einer exakten Sozialwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Eine wissenschaftliche Betrachtung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Passionen und ihre Anziehung: Zur Grundstruktur „sozietärer Gesellschaften“ . . 57 4. Erziehung und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 5. Gleichheit der Geschlechter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 6. Eine „neue Welt“ der Liebe und des Konsums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 7. Gesellschafts­, Philosophie­ und Wissenschaftskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 7.1 7.2 7.3 7.4

„Der fehlerhafte Kreislauf der Industrie im Zeitalter der Zivilisation“ . . . . . . „Über das weltweite soziale Chaos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Über die Abkehr von der Moralphilosophie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Irrtümer der Politischen Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 9. Das Recht auf eine existenzsichernde Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 10. Anstelle eines Nachwortes: Friedrich Wilhelm Carové, „Charles Fourier“ . . . . 207 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Einleitung des Herausgebers

Im Urteil des 19. Jahrhunderts ist der französische Sozialphilosoph Charles Fourier (1772 – 1837) einer der bedeutendsten Denker seiner Zeit. Heinrich Heine sieht in ihm einen „Wohltäter des Menschengeschlechts“,1 Honoré de Balzac einen „großen Erneu­ erer“, der, „wie Jesus, mit der Vergangenheit gebrochen hat“.2 Für August von Ciesz­ kowski gehört Fouriers Theorie „der Zukunft an“, da sie „ein bedeutendes Moment zur Ausbildung der wahren Wirklichkeit“ entwickele, in der „das Vernünftige von dem Wirklichen“3 nicht länger getrennt sei. Arnold Ruge bescheinigt Fourier „ökonomisches Genie“,4 und Friedrich Wilhelm Carové stellt fest, dass Fourier „vielfach zur Erweite­ rung der Erkenntnis angeregt“ habe und „unbedenklich zu den bedeutendsten Erschei­ nungen der neuesten Zeit“5 zu zählen sei. Für Moses Hess ist Fourier der Entdecker einer „wahrhaft originelle[n] Idee“,6 für Friedrich Engels sogar ein Theoretiker, der „das Ei des Kolumbus“7 gefunden habe. Lorenz von Stein sieht in Fourier einen Diagnostiker „der neuen Zeit, deren Wesen und Widerspruch“ er als einer von sehr wenigen „mit kla­ rer Einsicht erkannt“8 habe. Ohne Frage würden alle Denker, deren Urteile wir soeben vernahmen, August Bebel Recht geben, wenn dieser feststellt, dass Charles Fourier ein „Mensch von Bedeutung“9 war. Übereinstimmung lässt sich auch in einer anderen Hinsicht konstatieren. Vertraten diejenigen Denker, die sich im 19. Jahrhundert mit Fourier befassten, auch unterschied­ liche theoretische Standpunkte, so kamen sie gleichwohl darin überein, dass Fourier aufgrund seiner Leistungen als Sozialtheoretiker und Gesellschaftskritiker Anerkennung gebühre. Näher galt ihnen Fourier als ein Theoretiker, der wichtige Beiträge zur Er­ forschung der folgenden Gegenstände geleistet habe: der motivationalen Infrastruktur 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Heine (1990), 105 f. Balzac (1938), Bd. III, 314. von Cieszkowski (1981), 148 f. Quelle: ein Brief Arnold Ruges an Hermann Köchly vom 6. Mai 1844. Zitiert nach: Hundt (2010), Bd. 2, 1354. Carové (1838), 176 f. Hess (1961), 206. Engels (1985), 483. von Stein (1959), Bd. 2, 232. Bebel (1973), 1.

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moderner Gesellschaften, wie sie sich in der Folge der Französischen Revolution und der industriellen Revolution in Europa ausbildeten; der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen freier Märkte; und der Konzipierung von Arbeitsprozessen, welche ge­ eignet sind, basale Bedürfnisse und Neigungen von Menschen zu befriedigen. Auch Fou­ riers Kritik an zentralen Institutionen der modernen Welt galt vielen Denkern zumindest grundsätzlich als berechtigt und hellsichtig. Wenngleich Teile seines Werkes (etwa seine Überlegungen zur Kosmologie) als unbegründet kritisiert oder obskur zurückgewiesen wurden, stand Fourier also im 19. Jahrhundert als Sozialtheoretiker und Gesellschafts­ kritiker in hohem Ansehen. Dieses Bild von Fourier ist längst verblasst. Gewiss, auch im 20. Jahrhundert wurde Fouriers Werk von einer Reihe von Intellektuellen zum Thema gemacht,10 und vereinzelt wurde Fourier als inspirierender oder wegweisender Autor eingeschätzt – etwa aufgrund seines undogmatischen Sozialismus11 oder seiner Theorie der sexuellen Befreiung.12 Gleichwohl ist es unverkennbar, dass Fourier seit Langem kein Denker mehr ist, mit dessen Überlegungen eine systematische Auseinandersetzung stattfindet. Weder unter Gesellschaftstheoretikern noch unter Philosophen gilt Fourier heute als ein Autor, der Debatten sachlich bereichern kann.13 Mehr noch: Großen Teilen des wissenschaftlichen Betriebs und der gebildeten Öffentlichkeit dürfte Charles Fourier nur noch dem Namen nach bekannt sein. Sein Denken erzeugt in den Diskursen der Gegenwart keine nennens­ werte Resonanz. Irrte das 19. Jahrhundert, als es Fourier als einen bedeutenden Denker pries? Oder verdienten Fouriers Überlegungen allein im Kontext ihrer Zeit Beachtung? Um Ant­ worten auf diese Fragen geben zu können, ist zu untersuchen, in welchem geistigen Kontext Fouriers Werk entstand; welche Annahmen und Überlegungen seine Theorie charakterisieren; welchen Einfluss sein Denken in gesellschaftstheoretischer und sozial­ philosophischer Hinsicht ausübte; und ob seine Theorie nicht doch Elemente enthält, die eine erneute Auseinandersetzung mit ihr lohnenswert erscheinen lassen. Diese Themen werden wir der Reihe nach behandeln. Dabei wird sich erweisen, dass unsere theoriegeschichtlichen Überlegungen zugleich ein systematisches Interesse haben – tragen sie doch dazu bei, eine Lesart von Fouriers Werk zu entwickeln, die aktuelle sozialphiloso­ phische Debatten sachlich bereichern kann.

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Vgl. etwa Barthes (1986) oder Benjamin (1991). Vgl. z. B. Adorno (1966). Vgl. z. B. Breton (1961). Um hierfür nur einen aktuellen Beleg anzuführen: Das thematisch weitreichende Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie enthält keinen Eintrag zu Fourier, und Fourier wird in diesem Werk lediglich an zwei Stellen erwähnt. Vgl. Gosepath, Hinsch, Rössler (2008).

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I. Über das Leben Fouriers und den geistigen Kontext, in dem sein Werk entstand, ist nur sehr wenig bekannt; das, was wir wissen, ergibt folgendes Bild:14 François­Marie­Charles Fourier wurde am 7. Februar 1772 in Besançon geboren. Er war das fünfte von sechs Kindern der Eheleute Charles und Marie Fourier, einer gebo­ renen Muguet. Sein Vater, ein wohlhabender Tuchhändler, starb, als Charles neun Jahre alt war. Wenngleich er am Collège de Besançon eine humanistische Schulausbildung erhielt, wurde er von seinen Eltern früh auf eine Laufbahn als Kaufmann vorbereitet. Bereits als Kind verrichtete er kleinere Arbeiten im väterlichen Betrieb, und nach Be­ endigung seiner Schullaufbahn trat er auf Betreiben seiner Mutter eine Stelle als Kauf­ mannslehrling in Rouen an. Später, als er mit Polemiken über den Handel und die Spekulation hervortrat, sollte Fourier behaupten, dass seine Aversion gegenüber diesen Praktiken auf diejenigen Er­ fahrungen zurückgehe, die er als Kind im väterlichen Betrieb gemacht habe. Angesichts von Unredlichkeiten, Täuschungen und Betrugsfällen habe er, der Sechsjährige, einen radikalen Standpunkt eingenommen: „Ich schwöre dem Handel ewigen Hass.“15 In den Jahren der Französischen Revolution ist Fouriers Leben durch einen unste­ ten Verlauf gekennzeichnet. Zur Sicherung seines Lebensunterhalts arbeitet Fourier zu­ nächst in Rouen und Lyon für verschiedene Unternehmen im kaufmännischen Bereich; nach dem Erhalt seines Anteils des väterlichen Erbes macht er sich 1793 in Lyon als Ko­ lonialwarenhändler selbstständig; im Zuge von politischen Unruhen (eines Aufstandes von Girondisten und Royalisten und der anschließenden Belagerung der Stadt durch revolutionäre Truppen) werden seine Waren jedoch beschlagnahmt, und Fourier muss Lyon fluchtartig verlassen; zwischen 1794 und 1796 dient er als Wehrpflichtiger in der französischen Rheinarmee; und 1797 siedelt er schließlich nach Marseille über, wo er bis 1799 bleibt. Glaubt man seinen Biografen, dann hat Fourier während dieser Jahre Erfahrungen gemacht, die sein Denken dauerhaft beeinflussen sollten. In der Tat zählen zu dem da­ mals von ihm Erlebten die Verelendung erheblicher Teile der Lyonaiser Bevölkerung infolge von Inflation und wirtschaftlichem Abschwung; das gleichzeitige Zustandekom­ men von sehr großen Spekulationsgewinnen; die Verwahrlosung der spärlich ausgerüste­ ten und schlecht entlohnten Soldaten der Rheinarmee; die Korruption der französischen Militärverwaltung; sowie die Vernichtung von großen Mengen an Lebensmitteln und anderen Gütern infolge von politischen Unruhen und fehlgeschlagenen Transaktionen. Es leuchtet ein, dass Fouriers spätere Kritik an der modernen „Zivilisation“16 durch diese Erfahrungen von Willkür und Ineffizienz genährt worden ist.

14 Ich stütze mich im vorliegenden I. Teil der Einleitung auf die vorzügliche Fourier­Biografie, die Jonathan Beecher vorgelegt hat. Vgl. Beecher (1986). 15 Charles Fourier, „Analyse du mécanisme de l’agiotage“, in: La Phalange, VII, 1848, 9. 16 Hierauf werden wir weiter unten eingehen. Vgl. Teil II der Einleitung.

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Fouriers sozialphilosophisches Denken nahm im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhun­ derts Gestalt an. Nach einer späteren Auskunft machte er während dieser Jahre eine „Entdeckung“, die für seine weiteren theoretischen Überlegungen richtungsweisend sein sollte.17 Das, was Fourier zu entdecken glaubte, war die Möglichkeit, eine menschliche Gesellschaft so einzurichten, dass jedes Gesellschaftsmitglied seine Bedürfnisse, Nei­ gungen und Leidenschaften – in Fouriers Terminologie: seine „Passionen“ – nicht nur befriedigt, sondern hierdurch zugleich zur Befriedigung der Bedürfnisse, Neigungen und Leidenschaften der anderen Gesellschaftsmitglieder einen Beitrag leistet; in diesem Sin­ ne, so Fourier, ziehen menschliche Passionen einander an und lassen sich in eine harmo­ nische Ordnung bringen. Näher gelangte Fourier zu der Überzeugung, dass es Gesetz­ mäßigkeiten der Anziehung und Abstoßung der verschiedenen menschlichen Passionen gibt und dass sich diese Gesetzmäßigkeiten mit Hilfe einer an der Newton’schen Physik orientierten „exakten“18 Sozialwissenschaft feststellen lassen. Seine „Entdeckung“ hatte also eine ontologische und epistemologische Dimension. Bedauerlicherweise ist nicht bekannt, durch welche Lektüre oder Begegnung der Au­ todidakt Fourier zur Entwicklung des soeben skizzierten Standpunktes angeregt worden sein könnte. Die Auffassung, dass der Mystiker Louis Claude de Saint­Martin der spiritus rector der Fourier’schen Sozialphilosophie sei,19 ist aber mit Vorsicht zu genießen.20 Zum einen nämlich hat sich Fourier in einem Brief an seinen Schüler Just Muiron, der eine hohe Meinung von Saint­Martin hatte, abschätzig über dessen Werk geäußert und die fehlende Wissenschaftlichkeit desselben bemängelt;21 zum anderen hat Fourier Ende der 1790er Jahre, als er sich ein Jahr lang in Paris aufhielt, um seine Entdeckung zu überprüfen und näher auszuarbeiten, vor allem mathematische und naturwissenschaft­ liche Abhandlungen studiert.22 Die Vorstellung, dass sich die Beziehungen der mensch­ lichen Passionen zueinander mit den Mitteln einer exakten Sozialwissenschaft adäquat beschreiben lassen, hat jedenfalls im Werk Saint­Martins keine Entsprechung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts versucht Fourier, seine Entdeckung systematisch aus­ zuarbeiten und entsprechend zu veröffentlichen. Allerdings kann er dieses Vorhaben nur eingeschränkt verfolgen; aus finanziellen Gründen ist er nämlich genötigt, Paris zu ver­ lassen und als Handelsvertreter und Börsenhändler zu arbeiten. Während dieser Zeit lebt Fourier in Lyon. Seine theoretischen Überlegungen macht er zunächst in einem Beitrag zum Bulletin de Lyon (1803) und dann in seinem ersten Hauptwerk, Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, publik. Aus Furcht vor der Zensur 17 Vgl. Fouriers „Vorbemerkung“ in Theorie der vier Bewegungen, die in Kapitel 1 des vorliegenden Bandes enthalten ist. 18 Siehe unten, Kapitel 1, 46. 19 Die Auffassung wird z. B. von Martin Burckhardt vertreten. Vgl. dessen „Vorwort“ in Fourier (2006), 11 f. 20 Über das Leben und Werk Saint­Martins informiert Schmidt­Biggemann (2004). 21 Vgl. Beecher (1986), 166. Vgl. zu Fouriers Haltung gegenüber Saint­Martin auch folgende Quelle: Charles Fourier, „Des transitions“, in: La Phalange, VI, 1847, 210. 22 Vgl. Beecher (1986), 55.

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veröffentlicht Fourier dieses Buch anonym und unter Angabe eines falschen Publikati­ onsorts. Es erscheint 1808 in Lyon. Fourier gelingt es zunächst nicht, eine Öffentlichkeit für seine Ideen zu finden. Weder sein Zeitungsbeitrag noch seine Buchveröffentlichung erzeugt eine nennenswerte Reso­ nanz. Die Abhandlung Theorie der vier Bewegungen findet so gut wie keine Käufer, und die sehr wenigen Besprechungen dieser Schrift fallen durchweg negativ aus. Im Urteil seiner Rezensenten ist vor allem zu bemängeln, dass Fouriers Theorie in seinem Buch nur teilweise dargestellt und die Ausarbeitung wesentlicher Elemente derselben lediglich in Aussicht gestellt werde; dass einzelne Behauptungen deshalb bloße Mutmaßungen seien; und dass Fouriers Abhandlung aufgrund ihrer Sprache und ihrer Struktur nur sehr schwer verständlich sei. Für Fourier ist die Veröffentlichung der Theorie der vier Bewegungen zunächst ein völliger Misserfolg. Von 1815 an arbeitete Fourier an einer Abhandlung, mit der er seiner Theorie eine adäquatere Darstellung geben wollte. In der Tat hatte er in der „Vorbemerkung“ der Theorie der vier Bewegungen behauptet, dass es möglich sei, auf der Grundlage einer Analyse von vier Arten von Bewegung – nämlich der „materiellen Bewegung“, der „or­ ganischen Bewegung“, der „tierischen Bewegung“ und der „sozialen“ oder „passionel­ len Bewegung“ – eine vollständige Beschreibung des „allgemeinen Systems der Natur“23 zu geben; in dieser Schrift hatte sich Fourier dann aber auf eine Analyse der sozialen oder passionellen Bewegung konzentriert.24 Darüber hinaus sah es Fourier inzwischen als wichtig an, sich mit Themen zu befassen, deren Bearbeitung er in Theorie der vier Bewegungen weder geleistet noch angekündigt hatte: etwa der Frage, ob es Vorstufen zu derjenigen Gesellschaft gebe, in der vollständige Harmonie anzutreffen ist, oder mit der Frage, wie derartige soziale Ordnungen im Ausgang von den bestehenden Verhältnissen etabliert werden können.25 Mit den hiermit genannten Themen und Fragen gedachte sich Fourier in seiner Abhandlung auseinanderzusetzen. Daneben arbeitete Fourier in diesen Jahren an einer Theorie dessen, was er „die neue Welt der Liebe“ nannte. In Übereinstimmung mit seiner oben genannten Entdeckung hielt er nämlich eine menschliche Gesellschaft für möglich, in der die Menschen ihre erotischen und sexuellen Passionen vollständig und auf harmonische Art und Weise be­ friedigen. Seine Ausarbeitung dieses Gedankens war mit einer scharfen Kritik an den christlich­abendländischen Vorstellungen der Liebe und Ehe verbunden. Wenngleich er seiner Theorie der neuen Welt der Liebe zu dieser Zeit eine elaborierte Gestalt gab, sollte Fourier sie nicht in diejenige Abhandlung aufnehmen, deren Veröffentlichung er damals vorbereitete – offenbar fürchtete er sich vor den Reaktionen auf Überlegungen, die sei­ nen Zeitgenossen anstößig erscheinen mussten.26

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Siehe unten, Kapitel 1, 37. Das kündigt er explizit an. Vgl. Kapitel 1, 47. Vgl. Beecher (1986), 170–175. Auch später hat Fourier – wie auch seine Schüler – Le nouveau monde amoureux nicht publiziert. Dieses Manuskript wurde erst 1967 erstveröffentlicht.

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Äußerlich stand Fouriers Arbeit in diesen Jahren unter günstigen Vorzeichen. Eine jährliche Rente, auf die er nach dem Tod seiner Mutter (1812) einen Anspruch hatte, ermöglichte es ihm, seine Beschäftigung als Handelsvertreter und Börsenhändler zu be­ enden und sich ganz der Arbeit an seinen Manuskripten zu widmen. Darüber hinaus hatte Fourier 1816 in Just Muiron eine Person gefunden, mit der er sich über seine theo­ retischen Überlegungen austauschen konnte. 1815 zog Fourier ins ländliche Bugey, um konzentriert seiner Arbeit nachgehen zu können. Er sollte dort die folgenden fünf Jahre verbringen. Fouriers Hoffnung, durch die Veröffentlichung seines zweiten Buches als Sozial­ theoretiker Fuß zu fassen, erfüllte sich nicht. Wie seine erste Abhandlung fand auch sein Traité de l’association domestique-agricole, das im Jahre 1822 erschien, zunächst kaum Beachtung. Von diesem Buch wurden nur wenige Exemplare verkauft, und die drei Rezensionen, die es erhielt, stimmten darin überein, dass der Traité aus thematischen, strukturellen und sprachlichen Gründen27 eine schwer verständliche, ja, in Teilen ob­ skure Abhandlung sei. Angesichts dieser Reaktionen musste der Autor erkennen, dass auch sein zweites Buch nicht geeignet war, seine Ideen einer gebildeten Öffentlichkeit in Frankreich zugänglich zu machen. Knapp zehn Jahre später war Fouriers Situation eine ganz andere: Aus dem unbekann­ ten Schriftsteller war Anfang der 1830er Jahre ein berühmter Sozialtheoretiker gewor­ den. Was war geschehen? Erstens hatte Fourier Ende der 1820er Jahre mit Le nouveau monde industriel et sociétaire eine Schrift publiziert, in der die Kernelemente seines Denkens in einer vergleichsweise leicht zugänglichen Sprache dargestellt werden; diese Veröffentlichung war eine Reaktion Fouriers auf die oben skizzierte Kritik an seinen Abhandlungen Theorie der vier Bewegungen und Traité de l’association domestique agricole. Zweitens hatte Fourier mit Abel Transon und Jules Lechevalier zwei Anhän­ ger gewonnen, die seine Vorstellungen von der Neuorganisation der gesellschaftlichen Arbeit in Vorträgen und Publikationen wirkungsvoll präsentierten. Drittens war die poli­ tische und sozioökonomische Situation Frankreichs zu Beginn der 1830er Jahre für eine Rezeption der Fourier’schen Theorie günstig. In diesem Zusammenhang ist zu berück­ sichtigen, dass die Jahre nach der Juli­Revolution (1830) weitaus größere Möglichkei­ ten der öffentlichen Artikulation von politischen und gesellschaftlichen Ideen boten als die Restaurationszeit28 und dass die soziale Frage nach den wirtschaftlichen Krisen der 1820er Jahre von vielen Franzosen besorgt gestellt wurde. Dass Fouriers sozialtheore­ tische Überlegungen in dieser Situation auf großes Interesse stoßen konnten, ist leicht nachvollziehbar. Zu dieser Zeit versuchte Fourier zwei Vorhaben zu realisieren, die ihn seit Längerem beschäftigt hatten: die Etablierung einer eigenen Zeitung und die praktische Umsetzung einiger seiner Vorstellungen zur Neugestaltung der Arbeitswelt. Dank der Unterstützung 27 In dieser Hinsicht wurde vor allem Fouriers extensiver Gebrauch von Neologismen kritisiert. 28 �iervon profitierte auch die saint­simonistische Bewegung, die in diesen Jahren ihren größten Zu­ lauf hatte. Vgl. hierzu Breckman (1999), Schmidt am Busch (2012), Schmidt am Busch, Siep, Thamer, Waszek (2007) und Thamer (1980).

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seiner Anhänger – die sich inzwischen zur fourieristischen École sociétaire zusammen­ geschlossen hatten – gelang es Fourier 1832, die Wochenzeitung Le Phalanstère zu grün­ den. Dieses Organ, in dem Fourier selbst, aber auch seine Schüler Victor Considerant, Jules Lechevalier, Abel Transon und Charles Pellarin ihre Überlegungen regelmäßig zur Diskussion stellten, hatte einen erheblichen Anteil an dem Bekanntwerden Fouriers und seiner Theorie, und zwar nicht nur in Paris. Ein Misserfolg war hingegen der Versuch, in Condé­sur­Vesgres eine sogenannte Versuchsphalanx zu errichten, in der Arbeiten nach Maßgabe der Fourier’schen Theorie der sozialen oder passionellen Bewegung organi­ siert werden sollten.29 Dieses Vorhaben scheiterte letztlich an fehlendem Startkapital. In den letzten Jahren seines Lebens, als überall in Europa politische und soziale Be­ wegungen entstanden, die sich auf ihn beriefen, war Fourier vor allem darauf bedacht, seine eigene Theorie gegenüber dem Denken seiner Anhänger abzugrenzen, das ihm in mancher Hinsicht problematisch zu sein schien. Auch vor theoretisch motivierten Aus­ einandersetzungen mit seinem innovativsten Schüler, Victor Considerant, schreckte er nicht zurück. In den Texten, die er selbst noch veröffentlichte, ging Fourier nicht mehr über das hinaus, was er bereits in seinen Hauptwerken dargelegt hatte. Von Krankheiten gezeichnet, starb Charles Fourier am 9. Oktober 1837 in seiner Wohnung in Paris.

II. Durch welche Annahmen und Überlegungen ist Fouriers Theorie charakterisiert? Hier ist zunächst zu konstatieren, dass seine Gesellschafts­ und Wissenschaftskritik ein zentrales Element seiner Theorie bildet. Fourier glaubt, dass die institutionelle Verfasstheit der europäischen Gesellschaften seiner Zeit die Ursache von politischer Instabilität und wirtschaftlichem „Elend“30 sei und den Erfordernissen des „sozialen Wohlergehens“31 der Menschen zuwiderlaufe. Zu dieser Einschätzung dürfte er durch diejenigen Erfah­ rungen gelangt sein, die er während der Jahre der Französischen Revolution gemacht hat.32 Darüber hinaus ist Fourier der Auffassung, dass die institutionelle Struktur der oben genannten Gesellschaften als soziales Wirksamwerden von moralphilosophischen, ökonomischen und politischen Theorien zu verstehen sei, die im Zeitalter der Auf­ klärung33 entstanden sind. Unbeschadet ihrer Verschiedenheiten weisen diese Theorien im Urteil Fouriers zwei basale Mängel auf: Zum einen fehlt ihnen eine angemessene Theorie des Menschen, zum anderen genügen sie nicht den Anforderungen einer mathe­ matisch „exakten“34 Wissenschaft. Aufgrund dieser Defizite hält Fourier die fraglichen 29 Eine Phalanx ist für Fourier eine „ein Kantonalgebiet bestellende Assoziation“. Siehe unten, Kapi­ tel 1, 45. 30 Ebd., 39. 31 Ebd., 49. 32 Siehe oben, Teil I unserer Einleitung. 33 Siehe unten, Kapitel 1, 39. 34 Ebd., 46.

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Theorien für ungeeignet, die Bedingungen des menschlichen Wohlergehens zu spe­ zifizieren. Seines Erachtens ist es deshalb kein Zufall, dass institutionelle Strukturen, die nach Maßgabe jener Theorien konzipiert sind, in politischer und sozioökonomischer Hinsicht problematisch sind. Auf der Grundlage dieser Überlegungen äußert Fourier scharfe Kritik an „der Zivi­ lisation“ und „der Philosophie“; diese Kritik zieht sich wie ein roter Faden durch seine Schriften. Im vorliegenden Zusammenhang ist zu beachten, dass Fourier den Ausdruck „Zivilisation“ – zumindest in der Regel – zur Bezeichnung derjenigen Gesellschaften verwendet, die im Zuge der Französischen Revolution und der beginnenden industriellen Revolution in Europa entstanden sind. Unter „den Philosophen“ versteht Fourier, wie er selbst feststellt, „nur die Schöpfer der unsicheren Wissenschaften“ – nämlich „die Politiker, Moralisten, Ökonomen und andere“ –, „nicht aber die [Schöpfer der] exakten Wissenschaften“.35 Aus der soeben skizzierten Gesellschafts­ und Wissenschaftskritik leitet Fourier das Erfordernis der Ausarbeitung „einer neuen Wissenschaft“36 ab. Nach seiner Auffassung muss diese Wissenschaft denjenigen Kriterien genügen, die den Maßstab seiner oben skizzierten Kritik an „der Zivilisation“ und „der Philosophie“ bilden: Sie muss eine an­ gemessene Theorie des Menschen enthalten und den Anforderungen einer exakten Wis­ senschaft genügen. Wie Fourier betont, kann eine solche Wissenschaft nur einer geisti­ gen Haltung der „absoluten Abweichung“ entspringen, die durch den Willen geprägt ist, „sich von den unsicheren Wissenschaften in jeder Hinsicht fernzuhalten“.37 Genau diese Haltung beansprucht er als Theoretiker einzunehmen.38 In anthropologischer Hinsicht ist für Fourier das Studium dessen entscheidend, was er die menschlichen Passionen nennt. In der Tat vertritt Fourier den Standpunkt, dass Menschen rein passionelle Wesen sind. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei betont, dass Fouriers Begriff der menschlichen Passion einen sehr großen Umfang hat und nicht nur das beinhaltet, was traditionellerweise mit „Leidenschaft“ bezeichnet wird. Wie er in seinem ersten Hauptwerk, Theorie der vier Bewegungen, darlegt, sind es zwölf Passi­ onen, welche „die Haupttriebfedern der (menschlichen) Seele“39 bilden. Neben den fünf Passionen der Sinne zählt Fourier hierzu die Passionen der Freundschaft, des Ehrgeizes, der Liebe und der Familie sowie diejenigen Passionen, die er (mit Hilfe von Neologis­ men) la cabaliste, la papillonne und la composite nennt und die sich, folgt man seinen

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Ebd., 39. Ebd. Ebd., 41. In dieser „Haltung“ artikuliert sich ein Vertrauen in die Leistungsstärke der empirischen Wissen­ schaften, das bekanntlich im 19. Jahrhundert verbreitet war und im 20. Jahrhundert erschüttert wurde. Eine ähnliche Einstellung wie die von Fourier propagierte charakterisiert auch die Moral­ philosophie Jeremy Benthams, die Soziologie Auguste Comtes und die Ökonomik Hermann Hein­ rich Gossens. 39 Siehe unten, Kapitel 2, 53.

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Ausführungen, jeweils in einem Streben nach Prestige, nach Abwechslung und nach sozialer Zugehörigkeit erfüllen.40 Fourier ist der Auffassung, dass es Gesetzmäßigkeiten der „Anziehung“ und „Ab­ stoßung“ zwischen den verschiedenen menschlichen Passionen gibt. Offenbar41 glaubt er, dass eine Passion A eine andere Passion B „anzieht“, wenn die Befriedigung dieser Passion B sich positiv auf die Möglichkeiten der Befriedigung der Passion A auswirkt; demgegenüber „stößt“ eine Passion A eine andere Passion B „ab“, wenn die Befriedi­ gung dieser Passion B sich negativ auf die Möglichkeiten der Befriedigung der Passion A auswirkt. Wie seinen Ausführungen zu entnehmen ist, vertritt Fourier darüber hinaus die Ansicht, dass die fraglichen (positiven oder negativen) Auswirkungen jeweils eine bestimmte Größe haben. Die Gesetzmäßigkeiten, die zwischen den menschlichen Passionen bestehen, sind nach Fouriers Überzeugung für den Menschen erkennbar, und zwar sowohl in qualita­ tiver als auch in quantitativer Hinsicht. Das heißt: Es ist für den Anthropologen mög­ lich anzugeben, welche der verschiedenen Passionen einander anziehen oder abstoßen und wie groß die fragliche Anziehung oder Abstoßung gegebenenfalls ist. Weil das so ist, kann ein Anthropologe nicht nur qualitativ richtige, sondern auch quantitativ exakte Aussagen über diejenigen Beziehungen treffen, welche die menschlichen Passionen zu­ einander unterhalten. Aus diesem Grunde hält Fourier die Ausarbeitung einer mathema­ tisch exakten Wissenschaft vom Menschen für möglich.42 In ihr sieht er ein Pendant zu der von „Leibniz und Newton“ ausgearbeiteten „Theorie der materiellen Bewegung“.43 Nun ist sich Fourier natürlich darüber im Klaren, dass menschliche Passionen auf unterschiedliche Weisen befriedigt werden können und dass die Art der Befriedigung einer Passion die Anziehung oder Abstoßung derselben durch andere Passionen beein­ flussen kann. Diesen Umständen trägt er auch terminologisch Rechnung, nämlich mit der Unterscheidung zwischen dem „Wesen“ („nature“) und der „Richtung“ („marche“)44 von Passionen. Allerdings sieht Fourier in dem Umstand, dass ein und dieselbe Passion grundsätzlich verschiedene „Richtungen“ der Befriedigung einschlagen kann, kein Hin­ dernis für die Ausarbeitung einer Anthropologie, die in dem oben genannten Sinne eine exakte Wissenschaft ist.45 Eine solche Theorie des Menschen bildet in Fouriers Verständ­ nis das grundlegende Element der „neuen“ Sozialwissenschaft, die er in seinen Schriften zu entwickeln sucht.

40 Siehe unten, Kapitel 3. 41 Angesichts seines Anspruchs, eine exakte Sozialwissenschaft zu begründen, ist es erstaunlich, dass Fourier nicht präzise angibt, wann eine Passion A eine andere Passion B anzieht und wann sie sie abstößt. 42 Diesen Standpunkt betont Fourier auch in seiner Auseinandersetzung mit Robert Owen und seinen Anhängern. Vgl. OC, Bd. VI, 472–476. 43 Siehe unten, Kapitel 1, 37. 44 Ebd., 44. 45 Allerdings führt Fourier für diese Auffassung keine Gründe an.

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In sozialphilosophischer Hinsicht ist für Fourier die Überzeugung leitend, dass eine menschliche Gesellschaft so eingerichtet werden kann, dass die Passionen ihrer Mitglie­ der vollständig und auf harmonische Art und Weise befriedigt werden.46 Diesen Stand­ punkt begründet Fourier mit Hilfe von theologisch­metaphysischen Argumenten: Weil sie den Menschen von Gott gegeben worden seien, sind die menschlichen Passionen gut; deshalb müsse es der Wille Gottes sein, dass die menschlichen Passionen befriedigt (und nicht unterdrückt) werden; folglich müsse es eine soziale Ordnung geben können, in der die menschlichen Passionen vollständig und harmonisch befriedigt werden.47 Mit seiner Theorie der „Assoziation“ beansprucht Fourier zu zeigen, wie eine solche Gesellschaft beschaffen sein muss. Ohne auf die Details dieser Theorie einzugehen, lässt sich sagen, dass eine Assoziation für Fourier ein sozialer Raum ist, in dem die Menschen durch organisierte produktive, konsumtive und sexuelle Tätigkeiten ihre menschlichen Passionen restlos befriedigen.48 Fouriers Berechnungen derjenigen Tätigkeitskomplexe („Serien“ oder „Gruppen von Passionen“),49 die eine optimale Befriedigung der Passi­ onen sicherstellen, beruhen auf seiner oben genannten Unterscheidung zwischen dem Wesen und der Richtung der menschlichen Passionen. Fourier glaubt, dass sich die Pas­ sionen der Assoziierten unter Beibehaltung ihres Wesens und durch Anpassung ihrer Richtung so aufeinander beziehen lassen, dass sie restlos befriedigt werden können. Mehr noch: Fourier ist der Überzeugung, dass die gesellschaftliche Arbeit so orga­ nisiert werden kann, dass jede Arbeit spezifische menschliche Passionen befriedigt und deshalb von der sie verrichtenden Person im Vollzug bejaht und genossen wird. Es ist ja denkbar, dass eine soziale Ordnung sämtliche menschliche Passionen ihrer Mitglieder befriedigt, zu diesem Zweck aber die Verrichtung von Arbeiten erforderlich macht, die ihrerseits keine Passionen befriedigen und als Belastungen oder Entbehrungen wahrge­ nommen werden. Folgt man Fourier, dann ist es möglich, die gesellschaftliche Arbeit so

46 Hier ist zu beachten, dass Fouriers Konzeption der Harmonie das Vorkommen von Rivalitäten und Wetteifer einschließt. Dieser Umstand ergibt sich aus der o. g. Annahme, dass la cabaliste eine der Haupttriebfedern der menschlichen Seele ist. Dieses Thema wird in den Kapiteln 3 und 8 unseres Bandes behandelt. 47 Ähnliche Überlegungen, so sei angemerkt, finden sich bei �ermann �einrich Gossen, einem der Begründer der Mikroökonomie. In der Tat hatte Gossen den Anspruch, mit den Mitteln einer ex­ akten Sozialwissenschaft (nämlich der von ihm begründeten Mikroökonomie) „die Gesetze“ der göttlichen „Schöpfung“ zu explizieren und den Menschen so den Weg „zu einem vollendeten Para­ diese“ zu weisen. Vgl. hierzu Kurz (2009). 48 Im vorliegenden Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass es zu Fouriers Lebzeiten keine etablier­ te, allgemein anerkannte Theorie der Assoziation gab. Im Gegenteil: Der Ausdruck „Assoziation“ wurde von verschiedenen Autoren zur Bezeichnung qualitativ unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwürfe verwendet. Differenzen bestanden in dieser Hinsicht nicht nur zwischen rivalisierenden ‚sozialistischen‘ Schulen (etwa den Saint­Simonisten und den Fourieristen), sondern auch zwi­ schen Fourier und seinen Rezipienten (siehe unten, Teil III der Einleitung sowie Kapitel 3 des vorliegenden Bandes). Vgl. zur „Karriere“ des Assoziationsbegriffs nach 1830 auch Bluhm (2010). 49 Vgl. hierzu vor allem Kapitel 3.

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zu strukturieren, dass sie von den Arbeitenden restlos als Mittel der Befriedigung von menschlichen Passionen genossen wird.50 Wie bereits angedeutet, verfolgt Fourier mit seiner „neuen Wissenschaft“ nicht nur ein anthropologisches und sozialphilosophisches Anliegen. Vielmehr geht es ihm darum, die Grundzüge einer Theorie zu entwerfen, mit der „das allgemeine System der Natur“ adäquat beschrieben werden kann. Fourier glaubt, dass dieses System oder – wie wir sagen würden – die natürliche, mentale und soziale Welt durch fünf Arten von Bewe­ gung konstituiert wird, die er als „materielle“, „aromale“, „organische“, „tierische“ und „soziale“ oder „passionelle Bewegung“ bezeichnet.51 Dementsprechend ist er der Über­ zeugung, dass sich das allgemeine System der Natur auf der Grundlage einer Analyse diese Bewegungsarten adäquat beschreiben lässt. Allerdings hat sich Fourier in seinen Schriften hauptsächlich mit der „passionellen“ oder „sozialen Bewegung“ befasst und seine Überlegungen zu den anderen Arten von Bewegungen zum Teil nur thesenartig vorgestellt. Im Rahmen seiner Gesellschaftskritik – so sei abschließend bemerkt – entwickelt Fourier auch Überlegungen, die von den Grundannahmen der von ihm konzipierten „neuen Wissenschaft“ systematisch unabhängig sind. Um hierfür nur ein Beispiel zu nennen: Fourier glaubt, dass freie Märkte ungeeignet sind, Vollbeschäftigung herzustel­ len und die materiellen Existenzgrundlagen der Menschen zu sichern; diese Einschät­ zung begründet er mit umfangreichen Überlegungen über die motivationalen Voraus­ setzungen und sozialen Auswirkungen des Handels und der Spekulation.52 Angesichts dieser Diagnose plädiert Fourier für die Institutionalisierung eines „Rechts auf Arbeit“,53 das den Mitgliedern von Marktgesellschaften einen existenzsichernden Zugang zur Ar­ beitswelt gewährt. Allerdings stützt sich Fouriers Rechtfertigung dieser Forderung expli­ zit auf freiheits­ und naturrechtstheoretische Argumente und nicht auf Überlegungen zur optimalen Befriedigung der menschlichen Passionen. Folglich enthält seine Sozial­ philosophie Elemente, die ohne Bezugnahme auf die „neue Wissenschaft“ eingeführt und begründet werden.

50 Vgl. zu Fouriers Theorie der Arbeit nun auch Reitz (2011). 51 Wie gesehen, äußerte Fourier in der „Vorbemerkung“ der Theorie der vier Bewegungen die Auf­ fassung, dass sich „das allgemeine System der Natur“ auf der Grundlage einer Analyse der materi­ ellen, organischen, tierischen und sozialen oder passionellen Bewegung adäquat beschreiben lässt (siehe oben, Teil I); seit 1814 glaubte er jedoch, dass zu diesem Zweck auch eine Analyse der von ihm so genannten aromalen Bewegung erforderlich sei. Vgl. hierzu auch Beecher (1986), 138. 52 Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 7 des vorliegenden Bandes. 53 Siehe unten, Kapitel 9.

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III. Welchen Einfluss haben Fouriers Überlegungen entfaltet? Bei der Klärung dieser Frage ist zunächst daran zu erinnern, dass die Wirkungsgeschichte des Fourier’schen Denkens in den 1830er Jahren begann.54 Zu dieser Zeit erlangten Fouriers Gesellschaftstheorie und Sozialphilosophie – nicht zuletzt dank der Aktivitäten der École sociétaire55 – in weiten Teilen Europas Bekanntheit und Popularität, und in vielen Ländern bildeten sich soziale Bewegungen, die im Namen Fouriers für eine Neugestaltung der gesellschaftli­ chen Arbeit plädierten. In philosophiegeschichtlicher �insicht ist vor allem der Einfluss herauszustellen, den Fouriers Denken auf die Entwicklung der nachhegelschen Philo­ sophie ausgeübt hat.56 In der Tat wurden Fouriers Schriften in den 1830er und 1840er Jahren von vielen Schülern Hegels und Junghegelianern rezipiert. Deren Interesse an der Fourier’schen Lehre – wie auch an anderen französischen Sozialphilosophien dieser Zeit57 – entsprang einer wachsenden Unzufriedenheit mit der Hegel’schen Philosophie, die ihnen für eine Lösung von zentralen Problemen ihrer Zeit – insbesondere der sozi­ alen Frage – keine geeigneten Konzepte zur Verfügung zu stellen schien.58 Aus diesem Grunde glaubten sie, dass Hegels Philosophie in Gefahr sei, ihr zentrales Anliegen – die Menschen mit der institutionellen Grundstruktur der modernen Welt zu versöhnen59 – zu verfehlen. In Fouriers Theorie sahen sie ein Instrument, mit dem die oben genannten Defizite der �egel’schen Philosophie behoben werden konnten. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die Rezeption der Fourier’schen So­ zialtheorie die Entwicklung der nachhegelschen deutschen Philosophie stark beeinflusst hat. Nach meiner Auffassung ist es sinnvoll, grundsätzlich zwischen zwei Arten der deutschen Fourier­Rezeption zu unterscheiden, die sich wie folgt beschreiben lassen: 1. Es wurde versucht, einzelne Elemente der Fourier’schen Theorie in die Hegel’sche Philosophie zu integrieren. Das Ziel dieser Integration war es, vermeintliche partikula54 Siehe oben, Teil I unserer Einleitung. 55 Zu den Aktivitäten dieser Schule, die von Fouriers bedeutendsten Schülern betrieben wurde, zählten die Neuedierung Fourier’scher Werke, die Veröffentlichung von Manuskripten aus Fouriers Nachlass, die Etablierung fourieristischer Zeitungen (z. B. La Phalange, Démocratie pacifique), die Publi­ kation einer Fourier­Biografie (Charles Pellarin, Charles Fourier. Sa vie et sa théorie, Paris 1843) sowie die Propagierung Fourier’scher Gedanken in Vorträgen und Publikationen. Vgl. Beecher (2001), 103–123. Dabei lag der thematische Schwerpunkt der Aktivitäten der École sociétaire auf Fouriers sozioökonomischen Überlegungen; bezeichnenderweise wurden seine Manuskripte über die neue Welt der Liebe von der Schule nicht herausgegeben. 56 Daneben ist daran zu erinnern, dass Fouriers Gesellschaftstheorie und Sozialphilosophie einen ent­ scheidenden Einfluss auf die Entstehung des sozialistischen Denkens in Frankreich ausgeübt haben. Vgl. hierzu insbesondere Beecher (2001). 57 Hier ist vor allem die saint­simonistische Lehre zu nennen. Vgl. zu ihrer Rezeption in Deutschland Carové (1830) und (1831). 58 Vgl. hierzu Moggach (2006) sowie Waszek (2000) und (2001). 59 Dieser Aspekt der Hegel’schen Sozialphilosophie wird auch von zeitgenössischen Interpreten be­ tont. Vgl. z. B. Hardimon (1994) und Neuhouser (2000).

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re Defizite von �egels Philosophie – etwa im Bereich der institutionellen Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft – mit Hilfe von konkreten sozialpolitischen Überlegungen Fouriers zu beheben. Ein Charakteristikum der vorliegenden Art der Rezeption ist die Nicht-Übernahme der Grundannahmen der Fourier’schen Theorie. Repräsentanten die­ ser Art der Fourier­Rezeption sind Friedrich Wilhelm Carové, Sebastian R. Schneider, Friedrich Tappehorn und August von Cieszkowski (zumindest in seinem frühen Werk).60 2. Es wurde versucht, Fouriers Überlegungen zum Aufbau einer nicht-hegelschen Sozialphilosophie zu verwenden. Diesem Bestreben lag die Annahme zugrunde, dass Hegels Philosophie grundsätzlich problematisch sei (und nicht nur partikulare Defizite aufweise). Ein Charakteristikum der vorliegenden Rezeptionsart ist die Übernahme von Grundannahmen der Fourier’schen Theorie. Repräsentanten dieser Art der Fourier­Re­ zeption sind Friedrich Engels, Moses Hess und Karl Marx. Fouriers Einfluss auf die Entwicklung der nachhegelschen Philosophie lässt sich am Leitfaden der von uns unterschiedenen Rezeptionsarten untersuchen. Dies wird nun an­ hand von exemplarischen Überlegungen geschehen. 1834 veröffentlicht Sebastian R. Schneider ein Buch mit einem programmatischen Titel: „Das Problem der Zeit und dessen Lösung durch die Association“. In dieser Ab­ handlung versucht Schneider im Wesentlichen Folgendes zu zeigen: Die im Zuge der Französischen Revolution und der industriellen Revolution entstandene Wirtschaftsord­ nung ist die Ursache einer weitreichenden Entsolidarisierung und Verelendung; wenn­ gleich sie in ihren Grundannahmen richtig ist, stellt Hegels Philosophie keine Konzep­ te für eine Lösung dieser Probleme zur Verfügung; Fouriers Theorie der Assoziation ist demgegenüber geeignet, „das Problem der Zeit“ zu lösen, und sie lässt sich in die Hegel’sche „Philosophie des Geistes“ integrieren. Wie begründet Schneider diese Thesen? Schneiders Kritik an der Wirtschaftsordnung in Deutschland bezieht sich auf die sei­ nes Erachtens dort „fast durchgängig eingeführte gleiche Erbfolge und Gewerbefreiheit“. Hierzu stellt er fest: „Jene [die gleiche Erbfolge] veranla[ßt]e [nämlich] die Entstehung einer Menge von imaginären Kapitalien, d. h. solcher, die nie wirklich zur Förderung eines industriellen Interesses in Umlauf gesetzt worden sind, wodurch die Verzinsenden nothwendig beim Eintritt schwieriger Umstände hart getroffen w[e]rden, und die letzte­ re [die Gewerbefreiheit] ha[t] durch Herbeiführung einer unbegränzten Concurrenz die ohne Kapital produzirende Klasse auf den allergeringsten Tagelohn zurückgewiesen und einen Zustand der Wohlfeilheit herbeigeführt, der nur den Reicheren zu Gute komm[t], unsäglich schwer aber auf den Uebrigen laste[t]. [...] Mit einem Wort: Die Verarmung wächst unübersehbar fort, mit ihr, Sittenverwilderung oder thierische Verdumpfung, und der Bedrängte sieht, statt nach einer gesegneten Zukunft, in eine wüste Zeit hinaus.“61

60 Vgl. Schneider (1834), Tappehorn (1834) und von Cieszkowski (1981). Vgl. zu Carovés Fourier­ Rezeption Kapitel 10 des vorliegenden Bandes. 61 Schneider (1834), 14 und 16.

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Schneider teilt die Grundannahmen von Hegels Politischer Philosophie und Sozial­ philosophie.62 Wie Hegel ist er der Überzeugung, dass eine moderne Wirtschaftsordnung den Einzelnen als eigentumsfähiges Rechtssubjekt schützen müsse, zugleich aber insti­ tutionelle Vorkehrungen zu treffen habe, welche unter den Bürgern die Ausbildung so­ lidarischer Beziehungen fördern und das Entstehen materieller Not verhindern. Staaten, welche die zuletzt genannte Aufgabe vernachlässigen, könnten weder in wirtschaftlicher noch in politischer Hinsicht stabil sein, sondern würden durch Elend und Protest zer­ rüttet werden; auch in diesem (in der „Philosophie des Geistes“ ausführlich erörterten) Punkt63 stimmt Schneider mit Hegel überein. Angesichts seiner oben skizzierten Gesellschaftskritik hat die Frage, wie sich in einer modernen Gesellschaft Solidarität befördern und Armut vereiteln lassen, für Schneider eine besondere Dringlichkeit. Schneider glaubt, dass Hegel auf diese Frage keine über­ zeugende Antwort gegeben habe. Zwar hatte Hegel behauptet, dass eine in der Tradition der Kameralistik stehende „Policey“ sowie staatlich geschützte „Korporationen“ in der modernen „bürgerlichen Gesellschaft“ ein hinreichendes Maß an „Sittlichkeit“ und all­ gemeinem Wohlstand stiften können64 – aber gerade diese Institutionen waren ja durch die von Schneider kritisierten wirtschaftspolitischen Maßnahmen (Einführung von gleicher Erbfolge und Gewerbefreiheit) massiv unter Druck geraten. Angesichts dieser Umstände fragt sich Schneider, ob es institutionelle Arrangements gibt, welche geeignet sind, in modernen Gesellschaften die Ausbildung solidarischer Beziehungen zu begünstigen und dem Entstehen von materieller Armut entgegenzuwirken. Schneiders Antwort auf diese Frage wird bereits im Titel seines oben genannten Bu­ ches angekündigt. In der Tat ist er der Auffassung, dass eine nach Maßgabe von Fouriers Überlegungen eingerichtete Assoziation genau diejenigen Funktionen erfüllen würde, die Hegel seines Erachtens zu Unrecht der Polizei und den Kooperationen zugeschrieben hatte: Sie würde unter den Bürgern die Ausbildung solidarischer Beziehungen fördern und das Entstehen materieller Not verhindern. Hierzu ist die Assoziation in Schneiders Urteil aus verschiedenen Gründen geeignet. Zum einen leiste sie unter den Assoziier­ ten eine spezifische Art der Versittlichung: Das einzelne Mitglied einer Assoziation, das gemäß seinen Fähigkeiten und Neigungen und unter der Perspektive einer dauerhaf­ ten Beschäftigung arbeiten kann, entwickele nämlich ein Interesse an seinem künfti­ gen Wohlergehen sowie an dem Wohl seiner Angehörigen und Mitassoziierten. Zum anderen zeichne sich die Assoziation durch eine hohe Produktivität aus, ein Umstand, den Schneider unter anderem darauf zurückführt, dass die Assoziierten ihre Arbeit im 62 Wie Schneider ausdrücklich feststellt, „dürfte unter den Neuern Hegel das Beste über den Staat gesagt haben“. Schneider (1834), 68. 63 Das gilt nicht nur für die „Philosophie des Geistes“ der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, deren Zweiter Teil bekanntlich in den Grundlinien der Philosophie des Rechts eine nähere Ausarbeitung erhalten hat, sondern auch für die „Philosophie des Geistes“, die Hegel in den Jahren 1805 und 1806 in Jena konzipiert hat. Vgl. hierzu auch Bienenstock (1992), Honneth (2003), Schmidt am Busch (2002), Siep (1979) und (2010) sowie Wildt (1982). 64 Vgl. Hegel (1970), §§ 230–256.

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Vollzug bejahen und Rechtsstreitigkeiten unter ihnen minimal sein würden. Aus den ge­ nannten Gründen sieht Schneider in der Fourier’schen Assoziation eine institutionelle „Lösung“ des größten Problems seiner Zeit: der sozialen Frage. Schneider glaubt, dass Assoziationen, die nach Maßgabe von Fouriers Überlegungen strukturiert sind, mit dem staatlich garantierten Schutz des Einzelnen als eigentumsfähi­ ges Rechtssubjekt kompatibel sind.65 Aus diesem Grunde könnten Fourier’sche Assozia­ tionen grundsätzlich im Rahmen der bestehenden rechtlichen Verhältnisse etabliert wer­ den. Nun sieht Hegel, wie bemerkt, in dem Schutz des Einzelnen als eigentumsfähiges Rechtssubjekt ein konstitutives Element moderner Wirtschaftsordnungen. Angesichts dieses Umstands zieht Schneider aus seiner oben genannten Kompatibilitätsthese den Schluss, dass sich Fouriers Theorie der Assoziation in die Hegel’sche „Philosophie des Geistes“ integrieren lässt. Wodurch ist Schneiders Fourier­Rezeption charakterisiert? In diesem Zusammenhang sind folgende Punkte herauszustellen: Einerseits distanziert sich Schneider ausdrück­ lich von den Grundlagen der Fourier’schen Sozialphilosophie: Fouriers Bewegungs­ lehre, seine anthropologische Grundannahme (dass Menschen rein passionelle Wesen sind) sowie seine sozialphilosophische Überzeugung, dass sämtliche menschliche Pas­ sionen durch geeignete soziale Arrangements harmonisch befriedigt werden können, gelten ihm als Ausdruck „oberflächlicher französischer Philosophistik“.66 Andererseits ist Schneider der Auffassung, dass sich Fourier mit seiner Kritik an marktregulierten Wirtschaftsordnungen, seiner Analyse spezifischer (materieller und sozialer) Bedürfnis­ se und Bestrebungen67 der Mitglieder moderner Gesellschaften sowie seiner Theorie der institutionellen Bedingungen der Erfüllung jener Bedürfnisse und Bestrebungen große Verdienste erworben habe. Diese Theorieelemente sind es, die Fourier in Schneiders Urteil zu einem bedeutenden Denker machen.68 Nur zehn Jahre später hatte der philosophische Wind sich gedreht. Unter dem Ein­ fluss von Ludwig Feuerbachs sensualistischen und materialistischen Thesen gelangten viele Denker zu der Überzeugung, dass Hegels Philosophie in ihren Grundannahmen problematisch sei. Für sie konnte es folglich nicht darum gehen, vermeintliche partiku­ lare Defizite von �egels Philosophie mit �ilfe von Fourier’schen Theorieelementen zu 65 In diesem Zusammenhang, so ist zu beachten, bezieht sich Schneider auf die Theorie „Fouriers und seiner Anhänger“ (Schneider (1834), 32), wie sie sich in Plänen für die Errichtung der oben ge­ nannten Versuchsphalanx in Condé­sur­Vesgres artikuliert. Wie gesehen, unterschied Fourier aber zwischen Gesellschaften, in denen vollständige Harmonie anzutreffen ist, und Vorstufen derselben. Es ist meines Erachtens fraglich, (i) ob Fourier glaubte, dass auch in jenen Gesellschaften der Einzelne als eigentumsfähiges Rechtssubjekt geschützt sei, und (ii) ob ein solcher Schutz mit den Grundannahmen der Fourier’schen Sozialphilosophie überhaupt kompatibel ist. Vgl. zu Fouriers oben genannter Unterscheidung auch Beecher (1986), 170–175. 66 Schneider (1834), 17. 67 Im vorliegenden Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Fouriers Begriff der Passion auch Be­ dürfnisse nach sozialer Wertschätzung und Zugehörigkeit einschließt. Siehe oben, Teil II unserer Einleitung. 68 Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangen auch Carové, Tappehorn und von Cieszkowski.

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beheben. In dieser Situation versuchte eine Reihe von Intellektuellen, Fouriers Überle­ gungen zum Aufbau einer nicht-hegelschen Sozialphilosophie in Anspruch zu nehmen. Unter ihnen war auch Friedrich Engels. In einem im November 1843 publizierten Zeitungsartikel, „Fortschritte der Sozialre­ form auf dem Kontinent“, setzt sich Friedrich Engels mit der Fourier’schen Theorie aus­ einander. Wie Engels betont, findet man in Fouriers Schriften „mehr wirklichen Wert“ als in denen der anderen französischen Sozialphilosophen des 19. Jahrhunderts – etwa der Saint­Simonisten, deren Theorie Engels abschätzig als „Sozialpoesie“ bezeichnet. Was Fouriers Werk demgegenüber auszeichne, seien „wissenschaftliche Forschung, kühles, vorurteilsfreies, systematisches Denken, kurzum Sozialphilosophie“.69 Engels fährt fort: „Fourier war es, der zum ersten Male das große Axiom der Sozialphilosophie auf­ stellte: Da jedes Individuum eine Neigung oder Vorliebe für eine ganz bestimmte Art von Arbeit habe, müsse die Summe der Neigungen aller Individuen im großen und ganzen eine ausreichende Kraft darstellen, um die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Aus diesem Prinzip folgt: Wenn jeder einzelne seiner persönlichen Neigung entsprechend tun und lassen darf, was er möchte, werden doch die Bedürfnisse aller befriedigt werden, und zwar ohne die gewaltsamen Mittel, die das gegenwärtige Gesellschaftssystem anwendet. Diese Behauptung schien kühn zu sein, und doch ist sie in der Art, wie Fourier sie auf­ stellt, ganz unanfechtbar, ja fast selbstverständlich – das Ei des Kolumbus. Fourier weist nach, dass jeder mit der Neigung für irgendeine Art von Arbeit geboren wird [...] und dass daher keine Notwendigkeit besteht, Menschen zur Tätigkeit zu zwingen, wie im gegenwärtig bestehenden Gesellschaftszustand, sondern nur die, ihren natürlichen Tätig­ keitsdrang in die richtige Bahn zu lenken. Er beweist ferner, dass Arbeit und Vergnügen identisch sind, und zeigt die Vernunftwidrigkeit der gegenwärtigen Gesellschaftsord­ nung, die beide voneinander trennt, aus der Arbeit eine Plackerei und das Vergnügen für die Mehrheit der Arbeiter unerreichbar macht; weiter zeigt er, wie bei vernünftigen Vor­ kehrungen die Arbeit zu dem gemacht werden kann, was sie eigentlich sein soll, nämlich zu einem Vergnügen, wobei jeder seinen eigenen Neigungen folgen darf.“70 An dieser Stelle sind drei Punkte bemerkenswert: 1. Engels bezieht sich zustimmend auf Fouriers These, dass es eine Gesellschaft ge­ ben können „müsse“, in der „die Bedürfnisse aller“ Menschen harmonisch befriedigt werden. (Zwar spricht Engels im vorliegenden Zusammenhang von den Bedürfnissen aller und nicht von sämtlichen Bedürfnissen aller; klarerweise ist aber Letzteres das von ihm Gemeinte.71) 2. Engels bezieht sich zustimmend auf Fouriers These, dass in einer solchen Gesell­ schaft jeder Bürger nur solche Arbeiten verrichtet, deren Ausübung ohne „Zwang“ er­ folgt, einer „Neigung“ des Arbeitenden entspricht und diesem daher „Vergnügen“ bereitet. 3. Engels bezieht sich zustimmend auf Fouriers These, dass eine solche Gesellschaft auf Planung beruhe. Es bedarf „vernünftige[r] Vorkehrungen“, damit die Bedürfnisse der 69 Engels (1985), 483. 70 Ebd. 71 Das macht Engels auch an anderer Stelle deutlich. Vgl. Engels (1985a).

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Menschen harmonisch befriedigt werden und die Arbeit so beschaffen ist, dass sie ohne „Zwang“ erfolgt, den „Neigungen“ der sie verrichtenden Personen entspricht und diesen daher „Vergnügen“ bereitet. Sieht man davon ab, dass Fouriers Begriff „Passion“ umfassender ist als Engels’ Begriff „Bedürfnis“ – Engels scheint im vorliegenden Zusammenhang im Wesentlichen an konsumtive Bedürfnisse zu denken –, dann lässt sich Folgendes feststellen: Engels übernimmt Fouriers sozialphilosophische Grundannahme, dass sich durch gesellschaft­ liche Planung eine vollständig harmonische soziale Ordnung herstellen lasse, in der die Menschen ohne Zwang nur solche Arbeiten verrichten, die ihren Neigungen entsprechen und ihnen Vergnügen bereiten. Es gibt gute Gründe für die Annahmen, dass Karl Marx den Gehalt und die Relevanz der Fourier’schen Sozialtheorie ähnlich beurteilte wie Friedrich Engels und dass diese Einschätzung einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung von Marx’ eigener An­ thropologie und Sozialphilosophie hatte. Im vorliegenden Zusammenhang ist zunächst daran zu erinnern, dass Marx in den Jahren 1843 und 1844 – als er unter anderem die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte verfasste – zu der Überzeugung gelangte, dass Menschen wesentlich „Gemeinwesen“ oder „Gattungswesen“ seien und dass sich ihr menschliches Wesen durch eine spezifische Kooperation adäquat verwirkliche. Ohne auf die Einzelheiten dieser Theorie einzugehen, lässt sich feststellen, dass es sich bei der fraglichen Kooperation um einen Produktions­ und Konsumtionszusammenhang handelt, der unter anderem die folgenden Merkmale aufweist: 1. Die Bedürfnisse der Kooperationspartner werden auf der Grundlage der von diesen verrichteten Arbeiten planmäßig befriedigt. 2. Die von den Kooperationspartnern verrichteten Arbeiten werden von ihnen als „indi­ viduelle Lebensäußerungen“ genossen und bejaht. Wie Marx präzisiert, sind privatrechtliche und marktwirtschaftliche Arrangements nach seiner Auffassung ungeeignet, die produktiven und konsumtiven Tätigkeiten in einer das menschliche „Gemeinwesen“ adäquat realisierenden Gesellschaft zu koordinieren.72 Im Gegenteil bewirken jene Institutionen in Marx’ Urteil eine Entfremdung der Menschen von ihrem menschlichen Wesen. Seines Erachtens bedarf es für eine adäquate Realisie­ rung des menschlichen Wesens einer Koordinierung der soeben genannten Tätigkeiten durch gesellschaftliche Planung.73 Da Marx ausdrücklich den Anspruch hat, eine nicht­utopische Sozialphilosophie zu begründen, musste sich für ihn die Frage stellen, ob gesellschaftliche Planung das leisten kann, was sie gemäß den Erfordernissen seiner Theorie leisten können muss. Überra­ 72 Das geht z. B. aus Marx’ Schrift Zur Judenfrage sowie den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten hervor. Vgl. zu Marx’ Theorie des menschlichen „Gemeinwesens“ Brudney (1998), Lange (1980), Quante (2009) und Schmidt am Busch (2011). 73 Das lässt sich Marx’ Charakterisierung der Arbeit als „Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen“ (in: Marx (2009), 91) entnehmen. Vgl. hierzu insbesondere Lange (1980) und Quan­ te (2009).

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schenderweise untersucht Marx diese Frage aber gar nicht, ja, er stellt sie nicht einmal. Vielmehr geht er wie selbstverständlich davon aus, dass sich durch gesellschaftliche Planung eine soziale Ordnung herstellen lässt, in der jeder seine Arbeit als „individuelle Lebensäußerung“ genießt und die konsumtiven Bedürfnisse aller Menschen auf harmo­ nische Weise befriedigt werden. Dieser Umstand ist meines Erachtens wie folgt zu erklären: Marx sah deshalb im vorliegenden Zusammenhang keinen Diskussionsbedarf, weil er glaubte, dass Charles Fourier bereits gezeigt habe, warum und wie eine Gesellschaft etabliert werden kann, welche die oben genannten Eigenschaften hat. Diese Überzeugung konnte Marx von Friedrich Engels, mit dem er seit 1842 in Kontakt stand, oder von Moses Hess, der Fouriers Theorie ähnlich beurteilte wie Engels,74 übernommen haben. Diese Erklärung macht verständlich, warum Marx im September 1843 in einem Brief an Arnold Ruge unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Fourier die Überzeugung äußern konnte, dass „[d]as ganze sozialistische Prinzip [...] die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft“.75 Offenbar ging er mit Fourier davon aus, dass sich eine Gesellschaft bei geeigneter Pla­ nung so einrichten lässt, dass jeder seine Arbeit im Vollzug genießt und die Bedürfnisse aller Menschen auf harmonische Weise befriedigt werden.76 Als Ergebnis unserer philosophiegeschichtlichen Überlegungen lässt sich festhalten: Fouriers Denken hat die Entwicklung der nachhegelschen Philosophie erheblich beein­ flusst. Seine Theorie wurde zunächst vom Standpunkt der �egel’schen Philosophie aus rezipiert und dann zum Aufbau einer nicht­hegelschen Sozialphilosophie herangezogen. Schließlich gibt es gute Gründe für die Annahme, dass Fouriers Gesellschaftstheorie und Sozialphilosophie die Entstehung des Marx’schen Denkens begünstigt haben.

IV. Wir haben gesehen, in welchem geistigen Kontext Fouriers Theorie entstanden ist und welche Grundannahmen und Überlegungen sie charakterisieren. Darüber hinaus haben wir deutlich zu machen versucht, warum Fouriers Denken in philosophiegeschichtlicher �insicht sehr einflussreich war. Damit sollte ein Umstand erklärt werden, den wir ein­ gangs nur konstatieren konnten: dass Charles Fourier im Urteil des 19. Jahrhunderts ein bedeutender Sozialtheoretiker war. Allerdings ist diese Einschätzung, wie eingangs bemerkt, nicht länger aktuell. Weder unter Philosophen noch unter Gesellschaftstheoretikern gilt Fourier heute als ein Autor, der Debatten sachlich bereichern kann. Seit Längerem schon findet keine systematische Auseinandersetzung mit seinem Denken mehr statt. Ist Charles Fourier also nur noch eine Figur von historischem Interesse? Oder ent­ hält seine Theorie doch Elemente, die aus heutiger Sicht bedenkenswert sind? Es ist 74 Vgl. Hess (1961). 75 Zitiert nach: Hundt (2010), Bd. 2, 1303 (meine Hervorhebung; SaB) 76 Hierauf gehe ich näher ein in Schmidt am Busch (a).

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sinnvoll, diese Fragen am Leitfaden derjenigen beiden Arten der Fourier­Rezeption zu untersuchen, die wir im letzten Abschnitt voneinander unterschieden haben. Dieses Vorgehen bietet sich deshalb an, weil jene Rezeptionsarten unterschiedliche Schichten des Fourier’schen Denkens betreffen: Während Carové, Schneider, Tappehorn und von Cieszkowski einzelne sozialphilosophische Überlegungen oder institutionelle Vorschlä­ ge Fouriers als wertvoll erachteten, glaubten Engels, Hess und Marx, dass Grundannahmen der Fourier’schen Sozialphilosophie anschlussfähig seien. Gibt es aus heutiger Sicht gute Gründe für einen dieser Standpunkte – oder für beide? Meines Erachtens rufen Fouriers anthropologische und sozialphilosophische Grundan­ nahmen ernstzunehmende Bedenken hervor. In anthropologischer Hinsicht geht Fourier davon aus, dass Menschen Träger unabhängig voneinander bestehender Passionen sind, die von einem externen, drittpersönlichen Standpunkt aus vollständig ‚inventarisiert‘ werden können. Wie gesehen, ist seine Anthropologie in diesem Sinne einem naturwis­ senschaftlichen Ideal verpflichtet.77 Was Fourier mit diesem Ansatz nicht berücksichtigt, ist der Umstand, dass Menschen Wesen sind, die zu ihren Wünschen, Neigungen und Bedürfnissen evaluativ Stellung nehmen und auf der Grundlage solcher Stellungnahmen entscheiden, welche ihrer Wünsche, Neigungen und Bedürfnisse sie handelnd befriedi­ gen möchten – und welche nicht.78 Demnach aber sind Wünsche, Neigungen und Be­ dürfnisse – in Fouriers Terminologie: Passionen – keine Dinge, die ein Mensch einfach hat oder nicht hat, sondern Dinge, die ein Mensch bewertet und sich zu eigen macht oder verwirft. Weil sie diesem – für die menschliche Lebensform konstitutiven – Umstand nicht Rechnung trägt, ist Fouriers Anthropologie in ihren Grundzügen als problematisch anzusehen. Auch Fouriers sozialphilosophischer Standpunkt kann grundsätzlich nicht überzeugen. Wie gesehen, ist Fourier zum einen der Auffassung, dass sich das „soziale Wohlergehen“ der Menschen an dem Grad der Befriedigung ihrer Passionen bemisst; zum anderen glaubt er, dass es eine soziale Ordnung geben können muss, in der sämtliche Passi­ onen der Menschen harmonisch befriedigt und alle Arbeiten als Tätigkeiten genossen werden. Angesichts unserer obigen Überlegung zu Fouriers Anthropologie ist im vor­ liegenden Zusammenhang kritisch anzumerken, dass das Studium der sozialen Bedin­ gungen menschlichen Wohlergehens nicht von (ein für alle Mal) gegebenen Passionen ausgehen kann79 – sondern bedenken muss, welche „Passionen“ Menschen und Kulturen sich zu eigen machen – und darüber hinaus Faktoren zu berücksichtigen hat, die von Fourier nicht thematisiert worden sind: etwa die Relevanz gesellschaftlicher Verhältnis­ se hinsichtlich der Möglichkeit der Ausbildung stabiler evaluativer Selbstverhältnisse. Zudem ist festzustellen, dass Fouriers Überzeugung, dass es eine restlos harmonische und befriedigende Gesellschaft geben können müsse, auf problematischen Annahmen beruht. Wie erläutert, führt Fourier diese Notwendigkeit letztlich darauf zurück, dass die menschlichen Passionen von Gott geschaffen worden seien. Angesichts der von der mo­ 77 Siehe oben, Teile I und II. 78 Vgl. hierzu nun auch Bieri (2011). 79 Siehe unten, Kapitel 2.

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dernen Philosophie geleisteten Kritik an der Existenz Gottes lässt sich aber sowohl diese Annahme (die von Fourier nicht begründet wird) als auch die vermeintliche sozialphilo­ sophische Relevanz derselben mit guten Argumenten bestreiten. Deshalb ist auch dieses basale Element der Fourier’schen Sozialphilosophie als problematisch einzustufen. Folgt aus diesen Überlegungen, dass Fouriers Theorie ohne sachliches Interesse ist? Nein, ein solcher Schluss lässt sich aus ihnen nicht ziehen. Gewiss, der grandiose Fou­ rier, dessen Bild Engels 1843 zeichnete, ist eine Figur der Vergangenheit. Andererseits ist es denkbar, dass Fourier Überlegungen entwickelt hat, die von den problematischen Grundannahmen seiner Theorie systematisch unabhängig und aus heutiger Sicht beden­ kenswert sind. Deshalb ist mit unserer obigen Kritik das letzte Wort über die Aktualität Fouriers nicht gesprochen. Die Vermutung, dass Fourier trotz der Prämissen seiner Sozialphilosophie ein in­ teressanter Autor sein könnte, wird durch die erste der von uns behandelten Arten der Fourier­Rezeption genährt. Wie erläutert, haben die Vertreter dieser Rezeptionsart sich ausdrücklich von den Grundlagen des Fourier’schen Denkens distanziert. Gleichwohl waren sie der Auffassung, dass Fourier sich als Theoretiker moderner Gesellschaften und Arbeitswelten große Verdienste erworben habe. Fouriers Werk enthält in der Tat eine Reihe von Überlegungen, die thematisch aktuell und von den Grundannahmen seiner Theorie systematisch unabhängig sind. Dies sei anhand einiger Beispiele verdeutlicht. 1. Im Rahmen seiner Kritik an „der Zivilisation“ und „der Philosophie“ setzt sich Fourier mit den Fragen auseinander, welche motivationalen Voraussetzungen der Handel und die Spekulation haben; welche ökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkun­ gen eine Zunahme des Volumens der Spekulationsgeschäfte im Vergleich zu dem des Güterhandels hat; welchen Einfluss das Finanzkapital auf den politischen Willensbil­ dungsprozess ausübt; und was für eine Art von Wissenschaft die Ökonomik („politi­ sche Ökonomie“) ist.80 Mehr noch: Fourier gehört zu den ersten Sozialtheoretikern, die Märkte als wesentlich krisenhafte Gebilde kritisieren – in dezidierter Abgrenzung von der klassischen Ökonomie, für die Märkte zumindest tendenziell sich selbst regulieren­ de, effiziente und stabile soziale Systeme bilden. Wenngleich sie dem übergeordneten Ziel dienen, Fouriers Plädoyer für „eine neue Wissenschaft“ zu rechtfertigen, leiten sich diese Überlegungen nicht vollständig aus den Prämissen dieser Wissenschaft ab und stützen sich zum Teil auf Erfahrungen, die Fourier im Rahmen seiner beruflichen Tätig­ keiten selbst gemacht hat.81 Wie die gegenwärtigen gesellschafts­ und ökonomietheore­ tischen Debatten zeigen,82 betreffen sie Themen, die sozialwissenschaftlich aktuell und gesellschaftlich brisant sind. 80 Siehe unten, Kapitel 7. – Damit wird nicht in Abrede gestellt, dass Fouriers Gesellschafts­, Philoso­ phie­ und Wissenschaftskritik polemische Züge enthält, die befremdlich, wenn nicht peinlich sind. Fouriers Äußerungen über die Londoner Juden (siehe unten, Kapitel 7.1) fallen in diese Kategorie. 81 Siehe oben, Teil I. 82 Vgl. z. B. Caspari, Schefold (2011). Das Interesse an Theorien, nach denen Märkte keine sich selbst regulierenden, effizienten und stabilen sozialen Systeme sind, hat seit dem Ausbruch der Weltwirt­

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2. Fouriers Anthropologie und Sozialphilosophie thematisieren auch menschliche Bedürfnisse und Bestrebungen, die sich mit den Mitteln einer naturwissenschaftlich ori­ entierten Theorie der Anziehung und Abstoßung von Passionen kaum angemessen ana­ lysieren lassen dürften. Wie gesehen, glaubt Fourier, dass das, was er mit Hilfe von Neo­ logismen „la composite“ und „la cabaliste“ nennt, „Haupttriebfedern der (menschlichen) Seele“83 seien, denen bei der Gestaltung von Arbeitswelten Rechnung getragen werden müsse. Legt man Fouriers eigene Ausführungen zu diesen Themen zugrunde, dann er­ füllt sich sowohl la composite als auch la cabaliste in spezifischen Anerkennungs­ bzw. Wertschätzungspraktiken. Nun erfordert eine angemessene Analyse derartiger Praktiken aber eine Bezugnahme auf das, was der Einzelne von sich, den Anderen sowie den Überzeugungen dieser Anderen (mit Bezug auf sie selbst und die ihnen Anderen) denkt. Aus diesem Grunde kann sie im Rahmen einer ‚mechanistischen‘ Theorie der Anziehung und Abstoßung von Passionen nicht angemessen durchgeführt werden. Dieser Befund ist deshalb wichtig, weil Anerkennungstheorien unter Philosophen und Sozialwissenschaftlern seit einiger Zeit eine Renaissance erleben.84 Nach Ansicht vieler Denker stellen solche Theorien begriffliche Mittel zur Verfügung, die für eine ad­ äquate Analyse zeitgenössischer Arbeitswelten sowie eine angemessene Beurteilung der Relevanz der Ausübung von gesellschaftlicher Arbeit für ein gelingendes menschliches Leben unerlässlich sind.85 Folglich sind Fouriers oben skizzierte Überlegungen über la composite und la cabaliste thematisch aktuell und grundsätzlich geeignet, zeitgenössi­ schen Anerkennungstheorien Impulse zu geben. 3. Angesichts des von vielen Menschen als problematisch empfundenen Wandels von Arbeitswelten wird gegenwärtig unter Philosophen und Sozialwissenschaftlern, aber auch von Teilen der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit die Frage diskutiert: Gibt es einen rechtlich zu berücksichtigenden normativen Anspruch auf Ausübung von Er­ werbsarbeit oder/und auf Erhalt eines Grundeinkommens? Interessanterweise war Fou­ rier einer der ersten Denker, die für die Institutionalisierung eines „Rechts auf Arbeit“86 plädierten, das den Mitgliedern moderner Gesellschaften einen verbindlichen Anspruch auf Ausübung einer existenzsichernden Arbeit gibt.87 Wie bereits bemerkt, begründet

83 84 85 86 87

schaftskrise im Jahre 2008 eine deutliche Zunahme erfahren. Die Renaissance der Überlegungen Hymen Minskys ist ein Indiz für diese Entwicklung. Siehe unten, Kapitel 2, 53. Vgl. vor allem Honneth (2003), Siep (1979) und Wildt (1982) sowie die Beiträge in Schmidt am Busch, Zurn (2009). Diesen Punkt hat Axel Honneth gegenüber Jürgen Habermas zu Recht betont. Vgl. Honneth (2003a). Siehe unten, Kapitel 9. In Deutschland hatte Johann Gottlieb Fichte bereits in Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre von 1796/97 zu zeigen versucht, warum die Bürger eines vernünftigen Staa­ tes einen rechtlichen Anspruch auf Ausübung einer existenzsichernden Arbeit haben. Vgl. Fichte (1971), § 18. Vgl. hierzu nun auch Siep (2011), 25 f. In gegenwärtigen philosophischen und sozial­ wissenschaftlichen Debatten wird Fourier auch als Theoretiker des unbedingten Grundeinkommens in Anspruch genommen. Vgl. Vanderborght, Van Parijs (2005), 23f. Vgl. zu diesen Fragen auch meine Überlegungen in Schmidt am Busch (2003) und (2011a).

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er diese Forderung mit freiheits­ und naturrechtstheoretischen Argumenten und nicht mit Überlegungen zur optimalen Befriedigung der menschlichen Passionen. Auch dieses Theorieelement ist also von den problematischen Grundannahmen der Fourier’schen So­ zialphilosophie systematisch unabhängig. Wie diese exemplarischen Überlegungen zeigen, kann eine erneute Beschäftigung mit Fouriers Sozialphilosophie durchaus sachlich bereichernd sein. Methodisch würde sie ein Forschungsvorhaben wiederbeleben, das von Carové, Schneider, Tappehorn und von Cieszkowski initiiert worden ist: die Fruchtbarmachung einzelner Gedanken Fou­ riers unter Absehung von den Grundannahmen seiner Theorie. Im Zuge einer solchen Untersuchung, zu der die vorliegende Textsammlung anregen möchte, würde sich erwei­ sen, ob Fouriers Sozialphilosophie tatsächlich, wie Carové glaubte, eine „in abstoßender Schale sich bergende Perle“88 enthält.

Textverzeichnis Die in den Kapiteln 3, 4, 6 und 8 vorgelegten Texte sind Erstveröffentlichungen in deut­ scher Sprache; sie wurden von Andreas Fliedner aus dem Französischen übertragen. Die beiden Auszüge aus Theorie der vier Bewegungen, die den Kapiteln 2 und 7.1 zu­ grundeliegen, wurden von A. Fliedner neu übersetzt. Alle anderen Texte Fouriers, die der vorliegende Band präsentiert, sind der von Lola Zahn edierten Textauswahl Charles Fourier, Ökonomisch-philosophische Schriften entnommen. L. Zahns Anmerkungen zu diesen Texten wurden im Wesentlichen beibehalten. Angesichts der bereits gegebenen Informationen zu Fourier und seinem Werk werden im Folgenden lediglich die Fundstellen und die thematischen Schwerpunkte seiner im vorliegenden Band präsentierten Texte angegeben. Kapitel 1 des vorliegenden Bandes besteht aus der „Einleitung“ und der „Vorbe­ merkung“ der Theorie der vier Bewegungen. Es benennt das Ziel, die Methode und den Gegenstand von Fouriers Theorie. Kapitel 2 präsentiert einen zusammenhängenden Abschnitt (XI) des Ersten Teils der Theorie der vier Bewegungen. Es illustriert in prägnanter Form die ‚Arbeitsweise‘ eines Anthropologen und Sozialwissenschaftlers Fourier’schen Typs. Kapitel 3 stellt das „Vorwort“ und den Ersten Teil der Nouveau monde industriel et sociétaire in Auszügen vor. Es enthält grundlegende anthropologische und institutionelle Überlegungen Fouriers. Kapitel 4 besteht aus einem Manuskript Fouriers, das von dessen Schülern erstveröf­ fentlicht worden ist (in: OC, Bd. X (2), 128–137). Es illustriert Fouriers Auffassung, dass es keine menschliche Passion gibt, deren Befriedigung bei geeigneten institutionellen Arrangements nicht für andere Menschen nützlich ist.

88 Siehe unten, Kapitel 10, 211.

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Kapitel 5, ein Auszug aus Fouriers Abhandlung Traité de l’association domestiqueagricole, bietet ein Plädoyer für die gesellschaftliche Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie eine Kritik am Ausschluss von Frauen aus Arbeitswelten. Kapitel 6 versammelt Auszüge aus Le nouveaux monde amoureux, einer Schrift, die 1967 von Simone Debout­Oleszkiewicz erstveröffentlicht wurde. Dieses Kapitel doku­ mentiert Fouriers Konzeption einer harmonischen Befriedigung von amourösen, sexuel­ len und konsumtiven Passionen in assoziativ strukturierten Gesellschaften. Kapitel 7 präsentiert Auszüge aus den Abhandlungen Theorie der vier Bewegungen und Le nouveau monde industriel et sociétaire sowie zwei Manuskripte Fouriers, die von dessen Schülern erstveröffentlicht wurden (vgl. OC, Bd. XI (1), 78–92). Es dokumentiert Fouriers Gesellschafts­, Philosophie­ und Wissenschaftskritik, die sich wie ein roter Fa­ den durch seine Schriften zieht. Kapitel 8 und Kapitel 9 des vorliegenden Bandes bestehen jeweils aus einem Kapitel des Traité de l’association domestique agricole. In ihnen wird Fouriers Freiheitsverständ­ nis expliziert und eine freiheits­ und naturrechtstheoretische Rechtfertigung der Instituti­ onalisierung eines „Rechts auf Arbeit“ gegeben. Den Abschluss der vorliegenden Textsammlung bildet eine kritische Würdigung der Theorie und des Wirkens Charles Fouriers durch Friedrich Wilhelm Carové. Dessen Aufsatz „Charles Fourier“ ist seiner Textsammlung Mittheilungen aus und ueber Frankreich entnommen.

Danksagung Der vorliegende Band ist aus Arbeiten hervorgegangen, die in dem interdisziplinären For­ schungsprojekt „Soziale Ideen und Idealismus“ durchgeführt worden sind. Diese Ein­ richtung wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Agence Nationale de la Recherche finanziell gefördert; Thomas Wiemer hat sie seitens der DFG betreut. Ich danke allen Personen, die an dem Forschungsprojekt beteiligt waren, für ihre Un­ terstützung meiner Arbeit; Ludwig Siep und Hans­Ulrich Thamer danke ich für ihre Bereitschaft, Mittel aus diesem Projekt für den Druck des vorliegenden Bandes zur Ver­ fügung zu stellen. Viele Kolleginnen und Kollegen haben meine Arbeit begleitet und bereichert. Wert­ volle Kommentare zu früheren Fassungen der „Einleitung“ oder zu Vorträgen über Fourier und den Fourierismus verdanke ich Myriam Bienenstock, Harald Bluhm, Daniel Brudney, Nils Bruhn, Andrew Chitty, Jean­Philippe Deranty, Axel Honneth, Skadi Krause, Barbara Merker, Michael Quante, Tilman Reitz, Emmanuel Renault, Ludwig Siep, Hans­ Ulrich Thamer und Norbert Waszek. Ich danke Harald Bluhm für die Aufnahme des vorliegenden Bandes in die Reihe „Schriften zur europäischen Ideengeschichte“, Andreas Fliedner für seine Übersetzung von Fourier­Texten aus dem Französischen und Mischka Dammaschke für seine Betreu­ ung der Publikation von Seiten des Akademie Verlags. Die Universität Vechta hat es mir ermöglicht, die Arbeiten an diesem Band unter günstigen Bedingungen abzuschließen. �ierfür bin ich ihr zu Dank verpflichtet.

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Bibliografie Schriften Charles Fouriers In französischer Sprache: Fourier, C. (1966–1968): Œuvres complètes [OC], 12 Bde., Paris: Éditions Anthropos. OC, Bd. I: Théorie des quatre mouvements et des destinées générales, 3. Auflage, Paris: La librairie sociétaire, 1846. OC, Bde. II–V : Théorie de l’unité universelle, 2. Auflage, Paris: La société pour la propagation et pour la réalisation de la théorie de Fourier, 1841–1843. [Diese Schrift wurde von Fourier unter dem Titel Traité de l’association domestique-agricole, ou attraction industrielle publiziert.] OC, Bd. VI : Le nouveau monde industriel et sociétaire ou invention du procédé d’industrie attryante et naturelle distribuée en séries passionnées, 2. Auflage, Paris: La librairie sociétaire, 1845. OC, Bd. VII : Le nouveau monde amoureux, établissement, notes et introduction de Simone Debout­ Oleszkiewicz, 2. Auflage, Paris: Éditions Anthropos, 1972. [Diese ‰Diese Schrift wurde 1967 erstveröf­ fentlicht.] OC, Bde. VIII–IX: La Fausse Industrie morcelée, répugnante, mensongère, 3. Auflage, Paris: La librai­ rie sociétaire, 1835–1836. OC, Bd. X: Publication des manuscrits de Charles Fourier. Année 1851. Année 1852, 2 Bde., Paris: La librairie sociétaire, 1851–1852. OC, Bd. XI: Publication des manuscrits de Charles Fourier. Années1853–1856. Années 1857–1858, 2 Bde., Paris: La librairie sociétaire, 1853–1858. OC, Bd. XII. – Dieser Band enthält Arbeiten Fouriers, die von seinen Schülern zwischen 1845 und 1848 in der Zeitschrift La Phalange veröffentlicht worden sind.

In deutscher Sprache: Fourier, C. (1966): Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, hg. v. T. W. Adorno, eingeleitet von E. Lenk, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt. Fourier, C. (1980): Ökonomisch-philosophische Schriften. Eine Textauswahl, übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von L. Zahn, Berlin: Akademie Verlag. Fourier, C. (1993): Aus der Neuen Liebeswelt, mit einem Vorwort von D. Guérin, Berlin: Wagenbach. Fourier, C. (2006): Der Philosoph der Kleinanzeige. Ein Fourier-Lesebuch, ausgewählt und kommen­ tiert von M. Burckhardt, Berlin: Semele.

Ausgewählte Literatur zu Charles Fourier und seinem Werk Barthes, R. (1986): Sade Fourier Loyola, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bebel, A. (1973): Charles Fourier. Sein Leben und seine Theorien, Stuttgart: J. H. W. Dietz. Beecher, J. (1986): Charles Fourier. The Visionary and His World, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press. Benjamin, W. (1991): Das Passagen-Werk, in: Gesammelte Schriften, Bd. V.2, Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. Breton, A. (1961): Ode à Charles Fourier, hg. v. J. Gaulmier, Paris: Éditions Klicksieck.

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Deroche, H. (1975): La société festive. Du fouriérisme écrit aux fouriérismes pratiques, Paris: Éditions du Seuil. Goret, J. (1974): La pensée de Fourier, Paris: Presses Universitaires de France. Lehouck, E. (1978): Vie de Charles Fourier. L’homme dans sa vérité, Paris: Denoel­Gonthier. Nathan, M. (1981): Le ciel des fouriéristes. Habitants des étoiles et réincarnations de l’âme, Lyon: Presses Universitaires de Lyon. Onfray, M. (2008): L’eudémonisme social, in: Contre-histoire de la philosophie, Bd. V, Paris: Éditions Grasset & Fasquelle. Pellarin, C. (1850): Charles Fourier: Sa Vie et sa Théorie (4. Auflage), Paris: Librairie phalanstérienne. Schneider, S. R. (1834): Das Problem der Zeit und dessen Lösung durch die Association, Gotha: Hen­ nings und Hopf. Schérer, R. (1996): Charles Fourier ou la contestation globale, Paris: Séguier. Tappehorn, F. (1834): Die vollkommene Association, als Vermittlerin der Einheit des Vernunftstaates und der Lehre Jesu. Ein Beitrag zur Lösung aller großen Fragen dieser Zeit, Augsburg: Kollmann. von Stein, L. (1959): Die industrielle Gesellschaft, der Sozialismus und Kommunismus Frankreichs von 1830 bis 1848, 3 Bände, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

In der „Einleitung“ genannte Literatur Adorno (1966): „Vorwort“, in: Fourier (1966), 5–6. Balzac, H. de (1938): Œuvres diverses, Paris: Louis Conrad. Beecher, J. (2001): Victor Considerant and the Rise and Fall of French Romantic Socialism, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press. Bienenstock, M. (1992): Politique du jeune Hegel: Iéna 1801–1806, Paris: Presses Universitaires de France. Bienenstock, M., Crampe­Casnabet, M. (Hg.) (2000): Dans quelle mesure la philosophie est pratique, Paris: ENS Éditions. Bieri, P. (2011): Wie wollen wir leben? St. Pölten, Salzburg: Residenz Verlag. Bluhm, H. (2010): „Bewegungen, Assoziationen und Partei – Elemente einer Theorie kollektiver Ak­ teure bei Karl Marx“, in: Marx­Engels­Jahrbuch 2010, Berlin: Akademie Verlag, 7–27. Breckman, W. (1999): Marx, The Young Hegelians, And The Origins Of Radical Social Theory, Cam­ bridge: Cambridge University Press. Brudney, D. (1998): Marx’s Attempt to Leave Philosophy, Cambridge: Harvard University Press. Carové, F. W. (1830): Rezension der „Doctrine de Saint­Simon. Exposition“, in: Jahrbücher für wissen­ schaftliche Kritik, Nr. 115. Carové, F. W. (1831): Der Saint-Simonismus und die neuere französische Philosophie, Leipzig: J. C. Hinrichssche Buchhandlung. Carové, F. W. (1838): Mittheilungen aus und ueber Frankreich, Leipzig: Otto Wigand. Caspari, V., Schefold, B. (Hg.): Wohin steuert die ökonomische Wissenschaft? Ein Methodenstreit in der Volkswirtschaftslehre, Frankfurt a. M., New York: Campus. Engels, F. (1985): „Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent“, in: MEW, Bd. 1, Berlin (Ost): Dietz, 480–496. Engels, F. (1985a): Grundsätze des Kommunismus, in: MEW, Bd. 4, Berlin (Ost): Dietz, 361–380. Engels, F. (1985b): „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, in: MEW, Bd. 19, Berlin (Ost): Dietz, 177–228. Fichte, J. G. (1971): Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), in: Fichtes Werke, hg. v. I. Fichte, Bd. III, Berlin: de Gruyter, 1–385.

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1. Zur Idee einer exakten Sozialwissenschaft1

Einführung An den Anfang und an das Ende dieses Werkes2 möchte ich eine für die Zivilisierten ganz neue Wahrheit stellen: das menschliche Erkenntnisvermögen hätte allein die The­ orie der vier Bewegungen, des sozialen, tierischen, organischen und materiellen, unter­ suchen sollen. Es geht da um die Untersuchung des allgemeinen Systems der Natur, um ein Problem, das Gott allen Welten zu lösen aufgibt, und nur wenn es gelöst ist, können deren Bewohner zu einem glücklichen Leben übergehen. Bisher habt ihr es weder gelöst noch auch nur untersucht; ihr seid lediglich zum vierten und letzten Zweig dieser Theorie vorgedrungen, zur Theorie der materiellen Bewegung; ihre Gesetze haben Newton und Leibniz euch enthüllt. Ich werde öfter Gelegen­ heit haben, euch dieses Versäumnis des menschlichen Geistes vor Augen zu halten. Bevor ich an die Veröffentlichung meiner Theorie gehe, gebe ich von ihr eine in die­ sen Band aufgenommene kurze Beschreibung und füge einige Aufsätze über die politi­ sche Unwissenheit der Zivilisierten hinzu. Zwei diese Unwissenheit belegende wichtige Beispiele entnehme ich: der Darstellung der Übel des Systems der Ehe im Zweiten Teil; der Darstellung der Übel des Systems des Handels im Dritten Teil; sowie der Unbesonnenheit der Philosophen, denn sie haben nach keinem besseren Mittel für die Vereinigung der Geschlechter und den Austausch der Industrieerzeug­ nisse gesucht. Das ist gewiss eine ziemlich untergeordnete Diskussion, um eine so wichtige Ankün­ digung wie die Entdeckung der Gesetze der Bewegung zu unterbauen, aber ich musste mich zunächst über einige Lächerlichkeiten der Politik in der Zivilisation3 auslassen, um die Existenz einer stärker gesicherten Wissenschaft, die die philosophischen Wissen­ schaften beschämen wird, ahnen zu lassen.

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Aus: OC, Bd. I, XXXV­XXXVI und 1­16. Aus dem Französischen von L. Zahn. Gemeint ist die 1808 veröffentlichte Theorie der vier Bewegungen. Vgl. zu Fouriers Verständnis von „Zivilisation“ auch unsere Einleitung.

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Da allein die angekündigte Erfindung viel bedeutsamer als alle seit Bestehen des Men­ schengeschlechts unternommenen wissenschaftlichen Arbeiten ist, wird daher beim Le­ sen dieses Buches eine einzige Erörterung schon jetzt alle Zivilisierten beschäftigen müs­ sen: sich zu vergewissern, dass ich die Theorie der vier Bewegungen wirklich entdeckt habe. Im Fall der Bejahung gehören alle politischen, moralischen und ökonomischen Theorien auf den Scheiterhaufen, und bedarf es der Vorbereitung auf das erstaunlichste und beglückendste Ereignis, das in dieser Welt und allen übrigen Welten statthaben kann, auf den schlagartigen Übergang vom gesellschaftlichen Chaos zur universellen Harmonie.

Vorbemerkung über die Unbesonnenheit der zivilisierten Nation, welche die beiden Zweige der Untersuchung vergaßen oder missachteten, die der Theorie der Bestimmung der Welt den Weg bereiten: die Untersuchung der ländlichen Assoziation und die Untersuchung der Anziehung der Gefühle; über die verderblichen Folgen dieser Unbesonnenheit, welche das Gesellschaftschaos ganz unnötig seit 2300 Jahren andauern lässt, das heißt der Zivilisation, der Barbarei und der Wildheit, Gesellschaften, in denen sich die Bestimmung des Menschengeschlechts ganz und gar nicht verwirklicht. Betrachtet man den Zufluss der von der Zivilisation besonders im Laufe des 18. Jahr­ hunderts hervorgebrachten genialen Geister, so ist man versucht zu glauben, sie hätten alle neuen Entwicklungsbahnen erschöpft. Weit davon entfernt, von ihm noch große Entdeckungen zu erhoffen, erwartet man nicht einmal mittelmäßige. Wir werden dieses Vorurteil zerstreuen; die Menschen werden begreifen, dass die gewonnenen Erkennt­ nisse sich kaum auf ein Viertel der noch zu gewinnenden belaufen und diese durch die Theorie der allgemeinen Bestimmung der Welt alle auf einmal gewonnen werden. Sie bildet den Schlüssel aller dem menschlichen Geist zugänglichen Erfindungen; sie wird uns schlagartig zu Kenntnissen führen, für deren Erlangung – bei der den gegenwärtigen Untersuchungsmethoden anhaftenden Langsamkeit – sonst noch zehntausend Jahre nö­ tig gewesen wären. Zunächst muss die Ankündigung dieser Theorie schon allein durch die Verheißung, die Menschen in Kenntnis von der Bestimmung der Welt zu setzen, Argwohn erregen. Ich halte es also für angebracht, von den Hinweisen, die mich auf den richtigen Weg ge­ führt haben, Kenntnis zu geben. Diese Erklärung wird unter Beweis stellen, dass meine Entdeckung keinerlei wissenschaftliche Bemühungen erforderte und die unbedeutends­ ten Gelehrten vor mir dahin hätten gelangen können, wenn sie die für diese Untersu­ chung erforderliche Eigenschaft, nämlich absolute Vorurteilslosigkeit, aufgewiesen hät­ ten. In diesem Punkt besaß ich die Eignung, die den Philosophen für die Erwägung der Bestimmung der Welt fehlte; sie stützen und verkünden Vorurteile und geben dabei vor, sie zu bekämpfen.

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Unter der Bezeichnung Philosophen verstehe ich hier nur die Urheber der unsicheren Wissenschaften, die Politiker, Moralisten, Ökonomen und andere, deren Theorien mit der Erfahrung nicht übereinstimmen, sondern nur von der Phantasie ihrer Urheber bestimmt werden. Man möchte sich also erinnern, dass ich, wenn ich Philosophen sage, nur die Schöpfer der unsicheren Wissenschaften, nicht aber die der exakten Wissenschaften meine. Hinweise und Methoden, die zu der angekündigten Entdeckung führten Ich dachte überhaupt nicht an die Erforschung der Bestimmung der Welt. Ich teilte die allgemeine Auffassung ihrer Unerforschlichkeit; sie verbannt jede Erwägung über die­ sen Gegenstand in die Traumwelt der Astrologen und Magiker. Die mich dazu führende Untersuchung drehte sich nur um einige industrielle und politische Probleme, von denen ich ihnen eine Vorstellung vermitteln möchte. Seit der von den Philosophen in ihren ersten Versuchen während der Französischen Revolution bewiesenen Unwissenheit stellte ein jeder sich darauf ein, seine Wissen­ schaft als Verirrung des menschlichen Geistes anzusehen. Der Strom politischer und mo­ ralischer Aufklärung erschien nur mehr als Strom von Illusionen. Fürwahr, vermag man denn anderes in den Schriften dieser Gelehrten zu erblicken! Nachdem sie fünfundzwan­ zig Jahrhunderte damit verbracht haben, ihre Theorien zu vervollkommnen, nachdem sie alle alten und neuen Erkenntnisse zusammengetragen haben, überhäufen sie ihr erstes Auftreten mit ebenso vielen Missständen, wie sie früher an Wohltaten versprachen, und lassen die zivilisierte Gesellschaft auf einen barbarischen Zustand zurückfallen. So und nicht anders war die Wirkung der ersten Jahre, in denen Frankreich sich der Bewährung der philosophischen Theorien zu stellen hatte. Nach der Katastrophe von 1793 waren alle Illusionen dahin, waren die Politik­ und Moralwissenschaften gebrandmarkt und unwiderruflich um ihr Ansehen gebracht. Von da ab musste man mutmaßen, dass von der gesamten gewonnenen Erkenntnis keinerlei Gedeihen zu erwarten wäre, dass das gesellschaftliche Wohlergehen in einer neuen Wis­ senschaft gesucht und dem politischen Geist neue Wege eröffnet werden müssten. Denn es lag offen zutage, dass weder die Philosophen noch ihre Rivalen das soziale Elend zu beseitigen wussten und dass man in den Glaubenssätzen der einen wie der anderen die schändlichsten Geißeln, darunter die Armut, sich verewigen sehen würde. Diese erste Überlegung ließ mich vermuten, dass eine noch unbekannte Gesellschafts­ wissenschaft existiere, und regte mich zu dem Versuch an, sie zu entdecken. Weit davon entfernt, durch meine geringen Kenntnisse entmutigt zu sein, ahnte ich bloß die ehren­ hafte Aufgabe, das, was fünfundzwanzig gelehrte Jahrhunderte nicht zu entdecken ver­ mochten, zu begreifen. Mich ermutigten die zahlreichen Anzeichen der Verwirrung der Vernunft und be­ sonders der Anblick der Geißeln, von denen die Industrie der Gesellschaft befallen ist: Armut, Arbeitsmangel, Betrugserfolge, Seeräubereien, Handelsmonopol, Sklavenerobe­ rung und schließlich so viel anderes Missgeschick, auf dessen Aufzählung ich verzichte und das den Argwohn erregt, dass die zivilisierte Industrie ein von Gott erfundenes Un­ glück ist, um das Menschengeschlecht zu strafen.

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So nahm ich also an, dass in dieser Industrie eine Art Umkehrung der natürlichen Ordnung bestehe, dass sie vielleicht in einer mit den Ideen Gottes unvereinbaren Weise betrieben werde, dass das Beharrungsvermögen so vieler Geißeln auf das Fehlen einer gottgewollten, unseren Gelehrten jedoch unbekannten Regelung zurückgeführt werden könnte. Schließlich dachte ich, dass, wenn die menschliche Gesellschaft nach Meinung von Montesquieu „von der Krankheit der Gleichgültigkeit, von einem inneren Übel, von einem insgeheimen und verborgenen Gift“ befallen ist, man ein �eilmittel finden könn­ te, sobald man von den Wegen, die unsere unsicheren Wissenschaften verfolgen, abwei­ che, haben sie dieses Heilmittel doch seit so vielen Jahrhunderten verfehlt. Ich legte also meinen Forschungen das Prinzip des absoluten Zweifels und der absoluten Abweichung zugrunde. Diese beiden Verfahren bedürfen der näheren Bestimmung, da vor mir noch keiner von ihnen Gebrauch machte. 1. Der absolute Zweifel. Descartes ist darauf gekommen. Aber obwohl er ihn rühmte und empfahl, machte er nur einen unzulässigen teilweisen Gebrauch davon. Er äußerte lächerliche Zweifel, er bezweifelte seine eigene Existenz und befasste sich eher damit, die Trugschlüsse der früheren Philosophen durch Spitzfindigkeiten zu ergänzen, als da­ mit, nach nützlichen Wahrheiten zu suchen. Die Nachfolger Descartes’ verwendeten den Zweifel noch weniger als er selbst. Sie wandten ihn nur auf Dinge an, die ihnen missfielen. Zum Beispiel stellten sie die Not­ wendigkeit der Religion in Frage, weil sie Gegner der Priester waren, hüteten sich aber, die Notwendigkeit der Politik­ und Moralwissenschaften, die ihren Broterwerb darstell­ ten und die heute unter starken Regierungen als unnütz und unter schwachen Regierun­ gen als gefährlich angesehen werden, in Frage zu stellen. Da ich zu keiner wissenschaftlichen Richtung in Beziehungen stand, beschloss ich den Zweifel unterschiedslos auf die Auffassungen der einen wie der anderen anzuwen­ den und selbst Darstellungen, die allgemeine Zustimmung genossen, in Zweifel zu zie­ hen. Das betrifft auch das Idol aller philosophischen Richtungen, die Zivilisation; in ihr glaubt man die höchste Vollendung zu erblicken. Was wäre indes unvollkommener als diese zahlreiche Geißeln nach sich ziehende Zivilisation, zweifelhafter als ihre Not­ wendigkeit und künftige Fortdauer? Ist es nicht wahrscheinlich, dass sie nur eine Stufe der sozialen Entwicklung bildet? Wenn ihr drei andere Gesellschaften voraufgingen, die Wildheit, das Patriarchat und die Barbarei, ergibt sich da etwa, dass sie, weil sie die vier­ te ist, auch die letzte sei? Könnten aus ihr nicht andere erwachsen und werden wir nicht eine fünfte, sechste oder siebente Gesellschaftsordnung erleben, die vielleicht weniger verhängnisvoll als die Zivilisation und nur deshalb unbekannt geblieben ist, weil man niemals versucht hat, sie zu entdecken? Man muss den Zweifel also auf die Zivilisation anwenden und an ihrer Notwendigkeit, Großartigkeit und Fortdauer zweifeln. Aber diese Probleme wagen die Philosophen nicht aufzuwerfen, weil sie durch die Verdächtigung der Zivilisation den Argwohn der Nichtigkeit auf ihre Lehren, die alle mit der Zivilisati­ on stehen und fallen, heraufbeschwören würden; sie würden in dem Augenblick, da man sie durch eine bessere Gesellschaftsordnung ersetzen könnte, hinfällig werden. Die Philosophen beschränken sich auf den teilweisen Zweifel, weil sie die Bücher und Vorurteile ihrer Zunft aufrechterhalten müssen, und aus Angst, Bücher und Gefolg­

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schaft in Verruf zu bringen, wenden sie auf die wichtigen Probleme immerfort Jesuiten­ kniffe an. Was mich, der ich keine Richtung aufrecht zu halten hatte, anbetrifft, so konnte ich mir den absoluten Zweifel zu eigen machen und zuerst auf die Zivilisation und sie betreffende stark eingebürgerte Vorurteile anwenden. 2. Die absolute Abweichung. Ich hatte angenommen, dass die größte Gewähr, zu nützlichen Entdeckungen zu gelangen, darin läge, sich von den unsicheren Wissenschaf­ ten in jeder Hinsicht fernzuhalten; nie haben sie auch nur eine einzige für die Gemein­ schaft nützliche Entdeckung gemacht, trotz des gewaltigen Fortschritts der Industrie ist es ihnen nicht einmal gelungen, der Armut vorzubeugen. Ich machte es mir also zur Aufgabe, mich ständig im Gegensatz zu diesen Wissen­ schaften zu befinden. Angesichts der großen Masse von Verfassern nahm ich an, dass jedes von ihnen behandelte Thema voll ausgeschöpft sein müsse, und ich beschloss, mich nur Problemen zuzuwenden, die keiner von ihnen angeschnitten hatte. Infolgedessen vermied ich jede die Interessen des Thrones und des Altars berührende Forschung; mit beiden haben sich die Philosophen seit der Entstehung ihrer Wissen­ schaft hinlänglich befasst: Immer suchten sie das Gemeinwohl in administrativen oder religiösen Neuerungen. Ich hingegen trachtete danach, das Gemeinwohl nur in Tätig­ keitsbereichen zu suchen, die weder zur Verwaltung noch zur Geistlichkeit in Beziehung ständen, sondern nur auf industriellen und häuslichen Tätigkeiten beruhten und mit allen Regierungen vereinbar, aber nicht auf deren Einwirkung angewiesen wären. Indem ich diesen beiden Wegweisern folgte, dem absoluten Zweifel an allen Vorurtei­ len und der absoluten Abweichung von allen bekannten Theorien, konnte ich nicht ver­ fehlen, mir eine neue Entwicklungsbahn zu eröffnen, falls es sie nicht schon gab, aber ich war keineswegs darauf gefasst, die Erörterung der Bestimmung der Welt aufzugreifen. Weit davon entfernt, einen so hohen Anspruch zu erheben, befasste ich mich zunächst mit sehr gewöhnlichen Problemen, und zwar waren es hauptsächlich die beiden Probleme der ländlichen Assoziation und der indirekten Unterdrückung des Handelsmonopols der Inselbewohner. Ich führe diese beiden Probleme an, weil sie miteinander zusammenhän­ gen und die Lösung des einen durch die Lösung des anderen bedingt ist. Man kann das Monopol der Inselmächte nicht indirekt beseitigen, ohne die ländliche Assoziation zu verwirklichen; und umgekehrt, sobald man ein Mittel findet, die ländliche Assoziation zu verwirklichen, bewirkt sie ohne große Mühe die Vernichtung des Inselmonopols, der See­ räubereien, der Spekulation, des Bankrotts und anderer die Industrie belastender Geißeln. Ich beeile mich, diese Ergebnisse vorzutragen, um das Augenmerk dann auf das Pro­ blem der ländlichen Assoziation zu richten; sie schien den Gelehrten so gleichgültig zu sein, dass sie niemals geneigt waren, sich mit ihr zu befassen. An dieser Stelle fordere ich den Leser auf, sich daran zu erinnern, dass ich es für not­ wendig erachtete, ihm Einblick in die Erwägungen, die meine Entdeckung vorbereiteten, zu geben. Folglich werde ich mich über ein Thema auslassen, dem wohl jede Beziehung zur Bestimmung der Welt zu fehlen scheint: über die ländliche Assoziation. Als ich über diesen Gegenstand nachzudenken begann, hätte ich niemals vermutet, dass eine so an­ spruchslose Erwägung zur Theorie der Bestimmung der Welt führen könnte. Da sie aber zu ihrem Schlüssel wurde, muss ich mich ausführlich über sie äußern.

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Über die ländliche Assoziation Die Lösung dieses so sehr verschmähten Problems führte zur Lösung aller politischen Probleme. Es ist bekannt, dass manchmal die geringfügigsten Mittel die größten Dinge bewirken: Mit einer Metallnadel vermag man den Blitz zu beherrschen und ein Schiff durch Unwetter und Finsternis zu lenken. Und so vermag man auch mit einem einfachen Mittel einem sozialen Unglück ein Ende zu setzen; und während die Zivilisation um der vom Krämergeist erzeugten Missgunst willen in Blut getränkt ist, wird man sicher mit Interesse vernehmen, dass bestimmte Maßnahmen der Industrie dem Unglück oh­ ne Kampf für immer ein Ende bereiten werden und die bisher so furchtbare Seemacht durch das Wirken der ländlichen Assoziation zu völliger Bedeutungslosigkeit hinabsin­ ken wird. Eine solche Ordnung war in der Antike wegen der Sklaverei der ländlichen Produ­ zenten nicht anwendbar; die Griechen und Römer verkauften den Ackersmann wie ein Arbeitstier – und das mit Zustimmung der Philosophen, die diesen schändlichen Brauch niemals verurteilten Diese Gelehrten pflegten alles, was sie nicht gesehen haben, für unmöglich zu halten; sie bildeten sich ein, man könnte die Bodenbebauer nicht ohne Umsturz der sozialen Ordnung befreien; dennoch gelang es, sie in Freiheit zu setzen, und dadurch ist die soziale Ordnung nur noch vervollkommnet worden. Die Philosophen hegen hinsichtlich der ländlichen Assoziation noch dasselbe Vorurteil wie hinsichtlich der Sklaverei; sie halten sie für unmöglich, weil sie noch niemals bestand. Wenn sie die Familien des Dorfes ohne Zusammenhalt arbeiten sehen, meinen sie, es gäbe kein Mittel, sie zu vereinigen, oder zumindest geben sie vor, das zu meinen. In diesem wie in jedem anderen Punkt sind sie daran interessiert, jedes Problem, das sie nicht zu lösen wissen, für unlösbar auszugeben. Indessen konnte man mehr als einmal eine Vorahnung gewinnen, dass sich Einspa­ rungen und nichtabschätzbare Verbesserungen ergeben würden, wenn man die Einwoh­ ner jedes kleinen Marktfleckens zu einer industriellen Gesellschaft zusammenschließen würde und zwei­ oder dreihundert vermögensungleiche Familien, die einen Kanton be­ arbeiten, nach Maßgabe ihres Kapitals und ihres Gewerbefleißes vereinigen würde. Diese Idee erscheint zunächst maßlos und wegen des Widerstandes, den die Leiden­ schaften einer solchen Vereinigung entgegensetzen, unausführbar zu sein. Es handelt sich da um einen Widerstand, der umso erschreckender ist, als man ihn nur Schritt für Schritt überwinden kann. Zwanzig, dreißig oder vierzig Einzelpersonen lassen sich nicht zu einer ländlichen Gesellschaft vereinigen; es bedarf zumindest einer Zahl von achthun­ dert Personen, um eine natürliche oder anziehende Assoziation zu bilden. Unter dieser Bezeichnung verstehe ich eine Gesellschaft, deren Mitglieder durch den Wettbewerb, die Eigenliebe und andere mit dem Antrieb des Interesses vereinbare vermittelnde Kräfte zur Arbeit ermuntert werden: Eine solche Ordnung wird uns für die Landwirtschaft, die uns heute so widerwärtig ist, dass man sie nur notgedrungen und aus Furcht, hungers zu sterben, betreibt, begeistern. Ich übergehe Einzelheiten der Untersuchung, die mir das Problem der natürlichen Assoziation abforderte, handelt es sich doch um eine Ordnung, die zu unseren Gepflo­

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genheiten derart im Gegensatz steht, dass ich keine Eile habe, sie näher zu kennzeichnen. Ihre Beschreibung erschiene dem Leser lächerlich, würde ich ihn nicht durch eine über­ sichtliche Darstellung der aus ihr erwachsenden ungeheuren Vorteile vorbereiten. Die ländliche Assoziation – deren Zahl auf eintausend Personen festgelegt sein möge – bietet der Industrie so gewaltige Gewinne, dass es Mühe macht, sich die diesbezügli­ che Sorglosigkeit der Zeitgenossen zu erklären. Nun ist jedoch mit den Ökonomen eine Gruppe von Gelehrten vorhanden, die sich besonders der Erforschung der Vervollkomm­ nung der Industrie widmen. Ihre Unterlassung, nach einem Verfahren der Assoziation zu suchen, ist umso weniger begreiflich, als sie selbst auf einige der sich aus ihr ergebenden Vorteile hingewiesen haben. So haben sie zum Beispiel anerkannt, und jeder hat das so wie sie anerkennen können, dass dreihundert assoziierte dörfliche Familien nur einen einzigen sorgsam gepflegten Speicher statt dreihundert schlecht aufgeräumter Speicher besäßen, einen einzigen Weinkeller statt dreihundert zumeist in großer Unwissenheit ge­ pflegter Bottiche, dass sie verschiedentlich, und besonders im Sommer, nur drei oder vier große Feuerstellen anstatt dreihundert bräuchten und dass sie nur ein einziges Milch­ mädchen in die Stadt schicken würden mit einer auf einem Ackerwagen aufgehängten Milchtonne; das würde hundert halbe Tage einsparen, die sonst von hundert Milchmäd­ chen, hundert Milchkrüge tragend, vergeudet worden wären. Einige dieser Einsparungen haben verschiedene Beobachter zwar vorausgesehen, aber dennoch nicht einmal den zwanzigsten Teil der aus der ländlichen Assoziation erwachsenden Gewinne angegeben. Man hat die ländliche Assoziation für undurchführbar gehalten, weil man kein Mittel kannte, sie zu begründen. Aber war das ein Grund zu schlussfolgern, dass man es nicht entdecken würde und nicht nach ihm suchen sollte? Wenn man in Betracht zieht, dass die ländliche Assoziation die Gewinne aus der allgemeinen Bewirtschaftung verdreifachen (und oft verzehnfachen) würde, wird man nicht daran zweifeln, dass Gott auch für Mittel gesorgt hat, sie zu begründen. Denn er hat sich vor allem mit der Organisation des Indus­ triemechanismus befassen müssen, dem Angelpunkt aller menschlichen Gesellschaften. Nach Beweisgründen suchende Leute werden manche Einwände erheben: „Wie soll man Familien, von denen eine hunderttausend Pfund und die andere nicht einen roten Heller besitzt, miteinander verschmelzen? Wie soll man so viele verschiedene Interessen entwirren, so viele gegensätzliche Absichten versöhnen? Wie kann man alle Eifersüchte­ leien in einen Plan vereinigter Interessen eingehen lassen?“ Darauf erwidere ich: durch den Anreiz des Reichtums und des Vergnügens. Die größte Leidenschaft von Bauern wie Städtern ist die Liebe zum Gewinn. Wenn sie erleben, dass ein sozietärer Kanton bei gleichen Möglichkeiten, dreimal (fünf­, siebenmal) mehr Gewinn ergibt als ein Kan­ ton zusammenhangloser Familien und allen Mitgliedern die verschiedensten Genüsse sichert, werden sie ihre ganzen Feindseligkeiten vergessen und eilen, die Assoziation in Gang zu bringen. Ohne dass ein Gesetz nötig wäre, wird sie sich über alle Gebiete ausdehnen, denn allerorts übt der Reichtum und das Vergnügen auf die Menschen einen großen Reiz aus. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Theorie der ländlichen Assoziation, die das Los des Menschengeschlechts verändern wird, den allen Menschen gemeinsamen Leidenschaften schmeichelt, sie durch den Anreiz des Gewinns und der Genüsse verführt.

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Darin besteht die Gewähr ihres Erfolges bei den Wilden und den Barbaren wie bei den Zivilisierten, denn die Leidenschaften sind allerorts die gleichen. Es eilt nicht, diese neue Ordnung, der ich die Bezeichnung Fortschrittsserien, Gruppenserien oder Leidenschaftsserien gebe, bekannt zu machen. Ich bezeichne mit diesen Ausdrücken einen Verband mehrerer assoziierter Gruppen, die sich verschiedenen Zweigen derselben Industrie oder derselben Leidenschaft hingeben … Die Theorie der Leidenschafts­ oder Fortschrittsserien wurde nicht wie unsere Ge­ sellschaftstheorien willkürlich erdacht. Die Anordnung dieser Serien ist in allen Punkten der Anordnung der geometrischen Serien analog; sie besitzen alle Eigenschaften, die auch diese haben, wie das Gleichgewicht zwischen dem Wetteifer der extremen und der mittleren Gruppen der Serie … Die Leidenschaften wurden zum Feind der Eintracht erklärt; gegen sie wurden Tau­ sende von Bänden verfasst, die null und nichtig sein werden. Die Leidenschaften, sage ich, richten sich nur auf die Eintracht, auf die Einheit der Gesellschaft, der sie, wie wir glaubten, fernstünden, aber sie können nur insoweit in Einklang geraten, als sie sich beständig in den Fortschritts­ oder Gruppenserien „entfalten“. Außerhalb dieses Mecha­ nismus stellen die Leidenschaften nur entfesselte Tiger, unverständliche Rätsel dar. Aus diesem Grunde meinen die Philosophen, man müsse sie unterdrücken. Das ist eine in zweifacher Hinsicht absurde Auffassung, da man die Leidenschaften nicht unterdrücken kann und da, wenn jeder sie unterdrückte, der zivilisierte Zustand rasch vergehen und in den Nomadenzustand, in dem Leidenschaften noch viel schädlicher als bei uns heute wären, zurückfallen würde. Ich glaube ebenso wenig an die Tugend der Schäfer wie an die derjenigen, die sie schönfärberisch ausmalen. Die an die Stelle der zusammenhanglosen Zivilisation tretende Gesellschaftsordnung wird keine Mäßigung oder Gleichheit oder irgendeine der bestehenden philosophischen Ansichten zulassen. Sie benötigt glühende verfeinerte Leidenschaften. Sobald die As­ soziation gebildet ist, werden die Leidenschaften umso leichter in Einklang geraten, je lebhafter und zahlreicher sie sind. Es ist nun keineswegs so, dass die neue Ordnung die Leidenschaften nicht verändern soll; das wäre weder Gott noch den Menschen möglich: Wohl aber lässt sich die Entwick­ lung der Leidenschaften verändern, ohne ihr Wesen zu verändern. Wenn zum Beispiel ein vermögensloser Mann die Ehe hasst und man ihm eine Frau mit einer Mitgift von 100.000 Pfund Rente vorschlägt, wird er dieser Verbindung, der er anfangs widerstrebte, freudig zustimmen. Wird er deshalb seine Leidenschaft gegen eine andere vertauscht haben? Nein, aber die bei ihm vorherrschende Leidenschaft, die Liebe zum Reichtum, wird ihre Richtung verändert haben und wird, um ihr Ziel zu erreichen, einen Weg, der ihr gestern missfiel, eingeschlagen haben. Deshalb wird sie nicht ihr Wesen, sondern nur ihren Weg wechseln. Wenn ich also behaupte, dass die Menschen in der sozietären Ordnung eine andere Neigung als gegenwärtig haben und den Aufenthalt auf dem Lande dem in der Stadt vorziehen werden, muss man sich hüten zu glauben, dass sie, wenn sich ihre Neigung verändert, ihre Leidenschaften gewechselt hätten. Auf ihrem Weg werden sie immer nur von der Liebe zum Reichtum und zum Genuss gelenkt werden.

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Ich betone diese Bemerkung besonders, um den lächerlichen Einwand abzutun, den einige Dummköpfe erheben werden, die, wenn sie von der Veränderung der Neigungen und Gewohnheiten unter dem Einfluss der sozietären Ordnung sprechen hören, alsbald ausrufen: Sie werden also die Leidenschaften ändern! Gewiss nicht, aber ihnen werden neue Möglichkeiten erschlossen; und damit wird eine drei­ oder vierfache Entfaltung im Vergleich zur zusammenhanglosen Ordnung, in der wir leben, gesichert. Deshalb werden die Zivilisierten gegen Gewohnheiten, die ihnen, wie die häusliche Wirtschaft, heute zusagen, einen Widerwillen empfinden, dann nämlich, wenn sie bemerken werden, dass die Kinder nur damit im Haushalt beschäftigt sind, zu heulen, alles zu zerbrechen, zu streiten, jede Arbeit zu verweigern, und dass dieselben Kinder, wenn sie in die Fort­ schritts­ und Gruppenserie einbezogen werden, sich dort nur mit industrieller Tätigkeit befassen, wobei sie ohne Aufforderung miteinander wetteifern, aus eigenem Antrieb sich über Fragen des Anbaus, der Fabrikation, von Kunst und Wissenschaft belehren lassen, dass sie produzieren und Gewinn bringen, wobei sie sich nur zu amüsieren glauben! Sollten die Väter diese neue Ordnung erleben, werden sie auf ihre Kinder innerhalb der Serien mit Bewunderung und innerhalb der zusammenhanglosen Haushalte mit Abscheu blicken. Schließlich werden sie bemerken, dass man im Wohnsitz einer Phalanx (so be­ zeichne ich die ein Kantonalgebiet bestellende Assoziation) eine so ausgezeichnete Kost hat, dass man in den Serien für ein Drittel der Kosten einer Familientafel ein dreimal so wohlschmeckendes und dreimal so reichliches Mahl vorfindet und sich dort dreimal bes­ ser ernähren kann, obwohl man dreimal weniger als in einem Einzelhaushalt ausgibt und dazu noch der Mühe der Versorgung und Vorbereitung enthoben ist. Wenn sie schließlich erleben, dass man innerhalb der Beziehungen der Serien niemals irgendeine Betrügerei erfährt und das in der Zivilisation so flegelhafte Volk sich innerhalb der Serien durch Wahrhaftigkeit und �öflichkeit auszeichnet, werden dieser �aushalt, diese Städte, diese ganze Zivilisation, die gegenwärtig ihre Zuneigung haben, ihren Widerwillen erregen, und sie werden sich zu einer Phalanx von Serien zusammenschließen und ihre Bauten bewohnen. Werden sie die Leidenschaften gewechselt haben, weil sie Gewohnheiten und Genüsse, die ihnen heute zusagen, verachten? Nein, aber ihre Leidenschaften wer­ den die Bahn ohne Veränderung weder des Zieles noch des Wesens wechseln. Man muss sich also vor der Annahme hüten, die Ordnung der Fortschrittsserien – das ist nicht mehr die Zivilisation – könne die geringste Veränderung der Leidenschaften bewirken; sie waren und werden unwandelbar sein, indem sie außerhalb der Fortschrittsserien Not und Armut, aber Einklang und Überfluss innerhalb des „sozietären Gesellschaftszustandes“ – das ist unsere Lebensbestimmung – erzeugen. Würde er auch nur in einem einzigen Kanton begründet werden, so würde er im ganzen Land allein infolge des Anreizes durch die gewaltigen Gewinne und zahlreichen Genüsse, die diese Ordnung allen Individuen unabhängig von der Vermögensungleichheit sichert, spontan nachgeahmt werden. Ich gehe nun zu den Ergebnissen über, die diese Erfindung in wissenschaftlicher Hin­ sicht zeitigen wird.

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Über die Anziehung der Leidenschaften und ihre Beziehung zu den exakten Wissenschaften Haben die Gelehrten es aus Geringschätzung, aus Unachtsamkeit oder aus Furcht vor ei­ nem Misserfolg verabsäumt, sich dem Problem der Assoziation zuzuwenden? Ihr Motiv ist unwichtig, jedenfalls haben sie es übersehen. Ich habe mich als Erster und Einziger mit ihm beschäftigt. Daraus ergibt sich: Wenn die bis heute unbekannte Theorie der Assoziation neuen Entdeckungen den Weg bahnen konnte, wenn sie der Schlüssel neuer Wissenschaften ist, so müssen diese allein mir zu verdanken sein; ich bin nämlich der Einzige, der diese Theorie gesucht und gefunden hat. Was die neuen Wissenschaften, denen sie Eingang verschaffte, angeht, so beschränke ich mich darauf, zwei wichtige Zweige anzuführen, und da sich die große Zahl der Leser für weitere Einzelheiten nicht interessiert, werde ich mich so kurz wie möglich fassen. Als erste Wissenschaft entdeckte ich die Theorie der Anziehung der Leidenschaf­ ten. Als ich erkannt hatte, dass die Fortschrittsserien die Gewähr der vollen Entfaltung der Leidenschaften für beide Geschlechter, die verschiedenen Altersgruppen und un­ terschiedlichen Klassen bieten, dass man umso mehr Lebenskraft und Vermögen in der neuen Ordnung erlangen wird, je mehr Leidenschaften man besitzt, mutmaßte ich daraus, dass Gott, wenn er der Anziehung der Leidenschaft so großen und der Vernunft, die ihre Feindin ist, so geringen Einfluss verlieh, er dies tat, um uns zu jener der An­ ziehung in irgendeiner Weise Rechnung tragenden Ordnung der Fortschrittsserien zu führen. Von da ab meinte ich, die bei den Philosophen so verrufene Anziehung würde uns die göttliche Vorstellung der Gesellschaftsordnung verdeutlichen, und ich ging zur analytischen und synthetischen Betrachtung der durch Leidenschaft bewirkten vielfältig zur ländlichen Assoziation führenden Anziehung und Abstoßung über. Ohne die Gesetze der Assoziation zu suchen, würde man sie also entdeckt haben, hätte man den Einfall gehabt, die Anziehung der Analyse und Synthese zu unterziehen. Daran aber dachte kei­ ner, nicht einmal im 18. Jahrhundert, in dem man zwar in alles analytische Methoden hineinmengen wollte, sie jedoch nicht auf die Anziehung anzuwenden suchte. Die Theorie der Anziehung und Abstoßung der Leidenschaften ist exakt und auf die Lehrsätze der Geometrie in Gänze anwendbar; sie ist einer beachtlichen Weiterentwick­ lung fähig und vermag den Lebensunterhalt jener Denker zu sichern, die, wie ich glaube, große Mühe haben, ihre Metaphysik an irgendeinem klaren und nützlichen Thema zu erproben. Ich setzte die Betrachtung der Herausbildung der neuen Wissenschaften fort. Bald erkannte ich, dass die Gesetze der Anziehung der Leidenschaften in allen Punkten denen der von Newton und Leibniz erklärten materiellen Anziehung entsprachen und in der materiellen wie in der geistigen Welt die Einheit des Systems der Bewegung bestand. Ich vermutete, dass diese Analogie sich von den allgemeinen Gesetzen auf die beson­ deren Gesetze erstrecken könnte und dass die Anziehungskräfte und die Eigenarten der Tiere, Pflanzen und Mineralien vielleicht auf die gleiche Weise wie beim Menschen und bei den Gestirnen einander zugeordnet seien; davon war ich nach den erforderlichen Un­ tersuchungen überzeugt. So war eine neue exakte Wissenschaft entdeckt: die Analogie

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der vier Bewegungen, der materiellen, organischen, tierischen und sozialen Bewegung, oder die Analogie zwischen den Veränderungen der Materie und der mathematischen Theorie der Leidenschaften des Menschen und der Tiere. Die Entdeckung dieser beiden exakten Wissenschaften enthüllte mir weitere, deren Aufzählung mir unnötig erscheint; sie erstrecken sich bis zur Literatur und zur Kunst und begründen in allen Zweigen der menschlichen Erkenntnis exakte Methoden. Seitdem ich im Besitze dieser beiden Theorien: – der Lehre von der Anziehung und der Lehre von der Einheit der vier Bewegungen – war, begann ich im Zauberbuch der Natur zu lesen. Ihre Geheimnisse fanden nach und nach eine Erklärung, ich hatte den wiederholt als undurchdringlich bezeichneten Schleier weggezogen. Ich bewegte mich in einer neuen wissenschaftlichen Welt, und so gelangte ich stufenweise bis zur Erörte­ rung der universellen Bestimmung der Welt oder der Bestimmung des wesentlichen Sys­ tems, auf dessen Grundlage die Gesetze aller gegenwärtigen, vergangenen und künftigen Bewegungen geregelt werden. Worüber soll man angesichts eines solchen Erfolges mehr staunen: über den Glücks­ treffer, der mir so viele neue Wissenschaften mit Hilfe der kurzen Erwägung der Assozi­ ation, die ihren Schlüssel darstellt, bloßlegte oder aber über den Leichtsinn der fünfund­ zwanzig Jahrhunderte verkörpernden Gelehrten, die, obwohl sie so viele andere Zweige der Untersuchung ausgeschöpft hatten, nicht daran dachten, sich mit der Assoziation zu befassen? Ich meine, man wird diese Frage zu meinen Gunsten entscheiden, und das Ausmaß meiner Entdeckungen wird weniger erstaunlich erscheinen als der Leichtsinn der Jahrhunderte, die sie verfehlten. Ich tröste die Gelehrten über ein solches Unglück hinweg, indem ich sie wissen las­ se, dass eine reiche Ernte des Ruhms und des Reichtums sie alle erwartet. Ich bringe mehr neue Wissenschaften mit, als Goldgruben bei der Entdeckung Amerikas gefunden wurden. Da mir aber das notwendige Wissen fehlt, um diese Wissenschaften zu ent­ wickeln, behalte ich mir nur eine einzige vor, die Wissenschaft der sozialen Bewegung; alle anderen überlasse ich den Gelehrten der verschiedenen Fachrichtungen, die daraus ein auserlesenes Wissensgebiet für sich gewinnen werden. Wie sehr bedurften sie eines solchen Nährbodens! Alle Klassen von Gelehrten sind vor die Hunde gegangen und waren darauf beschränkt, Nachlese zu halten. Bis zum letz­ ten Körnchen hatte man die bekannten Wissenschaften durchstöbert und ausgebeutet; es blieben keine anderen Quellen übrig, als spitzfindige Trugschlüsse zu finden, um sie zu bekämpfen und die doppelte Zahl von Bänden damit zu füllen, dass man jeden Irrtum wieder hervorholte und zurückwies. Schon jetzt wandelt sich das Bild. Die Gelehrten werden von der absoluten Entblö­ ßung zu einem großen Überfluss übergehen, und die Ernte wird so reichlich sein, dass alle sich schmeicheln können, an ihr teilzuhaben und zu großem Ansehen zu gelangen. Sie werden nämlich diese wissenschaftliche Fundgrube, deren reichhaltigster Adern sie sich bemächtigen, als Erste ausbeuten. Jeder unter ihnen wird, beginnend mit der die tierische und organische Bewegung betreffenden zweiten Abhandlung, die seine Sach­ kenntnis ansprechenden Dinge, über die er Lehrbücher der gesicherten Wissenschaft auszuarbeiten hat, flüchtig erkennen. Ich bestehe auf der Bezeichnung als gesicherte

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Wissenschaft, denn man verschwendet sie nicht an verschwommene und launenhafte Wissenschaften wie die Botanik, deren verschiedene Systeme nur willkürliche Klassifi­ zierungen enthaltende Tabellen bilden; sie stehen in keinerlei Beziehung zu der durch die Natur bestimmten Methode, alle Formen und Eigenschaften der hervorgebrachten Dinge auf eine gemeinsame Grundgestalt, auf das mathematische System der menschlichen Leidenschaften zu beziehen. Ich habe durchblicken lassen, dass die Wissenschaften endlich einer geregelten Ent­ wicklung unterliegen und sämtlich an einer unveränderlichen Methode festhalten wer­ den. Schon in der zweiten Abhandlung werde ich von dieser Methode, die alles auf unsere Leidenschaften bezieht, eine Idee geben. In allem Bestehenden deckt sie das Bild des Spiels der Leidenschaften auf, und diese Analogie wird auch den abschreckendsten Untersuchungen wie der Anatomie mehr Reiz verleihen, als die Untersuchung der Blu­ men heute hat. Unter den durch diese Methode erzielten guten Ergebnissen ist die Entdeckung von besonderen Heilmethoden für alle Krankheiten an die erste Stelle zu setzen. Es gibt kein Übel, für das es nicht ein oder mehrere in den drei Bereichen gewonnene Gegenmittel gäbe. Aber da die Medizin nicht über eine wirkliche Theorie verfügt, um die Erforschung unbekannter Heilmittel in Angriff zu nehmen, war sie jahrhundertelang und sogar Tau­ sende von Jahren gezwungen, herumzutasten, bis der Zufall ihr ein Heilmittel an die Hand gab; daher hat sie noch keine natürlichen Vernichtungsmittel gegen die Pest, die Tollwut und die Gicht gefunden; sie wird man durch die Theorie der vier Bewegungen entdecken. Die Medizin wird ebenso wie andere Wissenschaften aus ihrem langanhal­ tenden Kindheitsstadium heraustreten und durch die Erwägung von Gegenbewegungen zu all jenen ihr so lange vorenthaltenen Erkenntnissen aufsteigen. Verwirrung der Vernunft durch die unsicheren Wissenschaften Ruhm und Wissen sind gewiss erstrebenswert, aber unzulänglich, wenn sie nicht von Reichtum begleitet sind. Die Aufklärung, Siegeslorbeeren und anderes Blendwerk füh­ ren nicht das Glück, das vor allem im Besitz von materiellen Gütern liegt, herbei. So sind in der Zivilisation die Gelehrten arm und im allgemeinen unglücklich; nur in der auf die Zivilisation folgenden sozietären Ordnung werden sie vom Glück begünstigt. In diesem neuen Gesellschaftszustand wird jeder Gelehrte oder Künstler, sobald er echte Verdiens­ te hat, zu großem Reichtum gelangen. An anderer Stelle werde ich darlegen, auf welche Weise diese Verdienste durch eine jährliche Abstimmung über die auszeichnungswürdi­ gen Werke ausfindig gemacht werden können. Wenn ich den Wissenschaften (und den Künsten) die sich vor ihnen eröffnende glän­ zende Entwicklung zeige – welchen Ton soll ich da für die Ankündigung des Gewitters wählen, das sich auf die alten Idole der Zivilisation, auf die unsicheren Wissenschaften entladen wird? Muss ich herunterwallende Trauerkleider anlegen, um den Politikern und Moralisten zu verkünden, dass ihre Schicksalsstunde geschlagen hat, dass ihre gewal­ tigen Büchersammlungen in ein Nichts zerfallen werden, dass die Platon und Seneca, die Rousseau und Voltaire, dass alle Koryphäen der alten und modernen Ungewissheit

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zusammen in den Fluss des Vergessens tauchen werden? (Ich spreche nicht über ihre literarische Produktion, sondern nur über das, was die Politik und die Moral angeht.) Dieser Zusammenbruch der Bibliotheken und des Ansehens hat für den Philosophen­ stand nichts Kränkendes, zieht man in Betracht, dass die berühmtesten Schriftsteller nicht mehr am Leben sind und ihnen die Schande, versagt zu haben, erspart bleibt. Was ihre noch lebenden Schüler anbetrifft, so müssen sie nur an das ihnen bereitete Glück denken, an den Genuss, endlich das Heiligtum der Natur zu durchdringen, zu dem ihre Vorfahren sich keinen Eintritt zu verschaffen wussten. Wahrlich, haben sie nicht zu allen Zeiten den ihnen drohenden Blitzschlag vorher­ gesehen? Ich habe dabei die Vorhersage in den bedeutendsten Schriften seit Sokrates im Auge, der hoffte, eines Tages werde das Licht aufgehen, bis zu Voltaire, der voller Ungeduld, es aufsteigen zu sehen, ausrief: „Welch dichte Nacht verhüllt noch die Na­ tur!“ Alle gestehen das Unvermögen ihrer Wissenschaft und die Verirrung der angeblich vervollkommnungsfähigen Vernunft ein; alle stimmen mit der Aussage des Kompilato­ ren Barthélemy4 überein: „Diese Bibliotheken, diese angeblichen Schätze erhabensten Wissens, sind nur eine demütigende Ablage von Widersprüchen und Irrtümern.“ Es ist nur allzu wahr: Die Politik­ und Moralwissenschaften, die seit fünfundzwan­ zig Jahrhunderten bestehen, haben noch nichts für das Glück der Menschheit getan; sie trugen in Anbetracht der Vervollkommnung der auf Reform gerichteten Wissenschaften nur dazu bei, die menschliche Bosheit zu vervielfachen; sie führten nur dazu, die Armut und Falschheit zu verewigen, die gleichen Geißeln in verschiedener Form wieder aufer­ stehen zu lassen. Nach so vielen unfruchtbaren Versuchen, die Gesellschaftsordnung zu verbessern, bleibt den Philosophen nur die Verwirrung und Verzweiflung. Das Problem des öffentlichen Wohls ist für sie eine unüberwindbare Klippe; und zeigt nicht schon al­ lein der Anblick der Armen, die die Städte anfüllen, dass der Strom der philosophischen Aufklärung nur ein Strom der Finsternis ist? Indes beweist die allgemeine Unruhe, dass das Menschengeschlecht noch nicht an das Ziel, zu dem die Natur es führen will, gelangt ist; und diese Unruhe scheint uns ein unser Los änderndes großes Ereignis zu verheißen. Die durch das Unglück erschöpf­ ten Nationen hängen gierig jeder politischen oder religiösen Träumerei nach, die einen flüchtigen Schimmer des Wohlergehens erblicken lässt; sie gleichen einem verzweifelten Kranken, der an eine wundertätige Heilung glaubt. Die Natur scheint der Menschheit ins Ohr zu flüstern, dass sie für ein Glück, dessen Wege ihr noch unbekannt sind, bestimmt ist und dass eine wunderbare Entdeckung mit einem Schlage das Dunkel der Zivilisation zerstreuen wird. Die Vernunft hat, wie sehr sie ihre Fortschritte auch zur Schau stellte, so lange für das Glück der Menschheit nichts vollbracht, als sie dem Menschen nicht jenes soziale Wohlergehen, auf das sich alle Wünsche richten, verschafft hat. Unter sozialem Glück 4

Es handelt sich um den französischen Altertumsforscher Abbé Jean­Jacques Barthélemy (1716 – 1795). Er stellte das häusliche und öffentliche Leben der alten Griechen in vielen Einzelheiten dar. Sein Hauptwerk, Voyage du jeune Anacharsis en Grèce, das 1788 erschien, hatte großen Erfolg und wurde in viele europäische Sprachen übersetzt.

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verstehe ich einen Überfluss, der so abgestuft ist, dass er die ärmsten Menschen vor Not schützt und ihnen wenigstens als Minimum ein Los beschert, das wir bürgerliche Mittelmäßigkeit nennen. Wenn es unbestreitbar ist, dass für den gesellschaftlichen Menschen der Reichtum nach der Gesundheit die Hauptquelle des Wohlergehens bildet, so hat die gepriesene Vernunft, die uns keinen verhältnismäßigen Reichtum oder abgestuften Wohl­ stand zu verschaffen wusste, mit ihren hochtrabenden Theorien nur einen unnützen, zu keinem Ziel vorstoßenden Wortschwall hervorgebracht. Und die von mir angekündigte Entdeckung würde wie die Lehren der Politik und Moral nur eine neue Schmach für die Vernunft bedeuten, falls sie uns Wissenschaft und immer nur Wissenschaft bescheren wollte, ohne uns den Reichtum, den wir vor aller Wissenschaft benötigen, zu verschaffen. Die Theorie der Bestimmung der Welt wird das Gelöbnis der Nationen verwirkli­ chen, indem sie jedem jenen stufenweise steigenden Reichtum sichern wird, auf den sich alle Wünsche richten und der nur in der Ordnung der Fortschrittsserien vorhanden sein wird. Ich möchte zeigen, dass die Zivilisation, über die wir gerade hinausgehen, weit davon entfernt ist, die industrielle Bestimmung des Menschen darzustellen, und nur eine vorübergehende Geißel, von der die meisten Welten in ihrem frühen Lebensalter befallen sind, bildet. Es handelt sich für die Menschheit um eine zeitweilige Krankheit, etwa so wie das Zahnen beim Kind. Infolge der Unachtsamkeit und des Dünkels der Phi­ losophen, die jedwede Untersuchung der Assoziation und der Anziehung verschmähten, hat diese Krankheit zweitausenddreihundert Jahre zu lange angedauert. Und schließlich werde ich darlegen, dass die Gesellschaften der Wildheit, des Patriarchats, der Barba­ rei und der Zivilisation nur Dornenpfade, nur Stufen bilden, um zu einer besseren Ge­ sellschaftsordnung aufzusteigen, zur Ordnung der Fortschrittsserien, in denen sich das industrielle Schicksal des Menschen verkörpert, und ohne diese Serien vermögen selbst die besten Fürsten trotz all ihrer Bemühungen keine Abhilfe gegen das Elend zu schaffen. Auf der Suche nach dem Glück, Philosophen, werdet Ihr Bibliotheken so lange ver­ geblich zusammengetragen haben, wie alles soziale Elend, ich meine die industrielle Zerrüttung, den Gegenspieler der göttlichen Idee, nicht mit Stumpf und Stiel ausgerottet ist. Ihr beklagt Euch darüber, dass die Natur Euch die Erkenntnis ihrer Gesetze vorent­ hält. Nun gut, wenn Ihr sie bis heute nicht habt entdecken können, warum zögert Ihr, die Unzulänglichkeit Eurer Methoden anzuerkennen und nach neuen zu suchen? Entweder will die Natur das Glück der Menschen nicht, oder die Natur weist Eure Methoden zu­ rück, da sie ihr das gesuchte Geheimnis nicht haben entreißen können. Seht Ihr etwa, dass sie sich den Bemühungen der Physiker so wie den Euren widersetzt? Nein, denn die Physiker erforschen die Gesetze der Natur anstatt sie ihr zu diktieren, Ihr aber übt Euch nur in der Kunst, die Stimme der Natur zu ersticken, die Anziehung – die die Natur verdeutlicht, weil sie in jeder Hinsicht zur Bildung von Fortschrittsserien führt – zu un­ terdrücken. Daher rührt der schroffe Gegensatz zwischen Eurer Stümperei und den Wun­ dern der exakten Wissenschaften! Täglich fügt Ihr den alten Irrtümern neue hinzu, Tag für Tag sieht man die Naturwissenschaften auf dem Wege der Wahrheit voranschreiten und über das moderne Zeitalter einen Glanz verbreiten, der im umgekehrten Verhältnis zu dem Schandfleck steht, den Eure �irngespinste für immer dem 18. Jahrhundert auf­ drücken.

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Wir werden Zeugen eines Schauspiels sein, das in jeder Welt einmalig ist: des schlag­ artigen Übergangs von der Zersplitterung zur gesellschaftlichen Vereinigung, des ein­ drucksvollsten Ergebnisses der im Weltall vollziehbaren Veränderung. Die Erwartung dessen muss alles Unglück der lebenden Generation lindern. Jedes Jahr dieser Umwand­ lung wird Jahrhunderten des Daseins gleichkommen und eine Menge so erstaunlicher Ereignisse aufweisen, dass man sie ohne Vorbereitung nicht einmal ahnen kann. Daher fühle ich mich veranlasst, die Theorie der vereinigten Ordnung oder der Fortschrittsserien für die dritte Abhandlung vorzusehen und im Augenblick nur die allgemeinen Ergebnis­ se anzukündigen. Dazu gehören: der aus freien Stücken erfolgende Übergang der Wilden zur Industrie, die Zustimmung der Barbaren zur Befreiung der Frauen und der Sklaven, denn ihre Freiheit ist für die Bildung von Fortschrittsserien erforderlich, weiterhin die Herstellung der Einheit auf der ganzen Erde, wie der Einheit der Sprache, der Maße, der Buchdruckzeichen und anderer Beziehungen. Was die Einzelheiten der sozietären Ordnung, was die von ihr zu erbringenden Ge­ nüsse betrifft, so muss man sie, ich wiederhole es, den Zivilisierten voller Zurückhaltung ankündigen. Durch das gewohnte Unglück entmutigt und durch philosophische Vorur­ teile belastet, glaubten sie, Gott hätte sie zum Leiden oder nur für ein bescheidenes Glück bestimmt; sie werden sich nicht plötzlich auf die Idee des sie erwartenden Glücks einstellen können, und ihr Geist würde in Unruhe versetzt, legte man ihnen ohne Vor­ sichtsmaßnahmen die Freuden dar, deren sie in Kürze teilhaftig würden. Denn es bedarf knapp zweier Jahre, um jeden sozietären Kanton zu organisieren, und kaum sechs Jahre, um die Organisation der ganzen Erde zu vollenden, wobei schon möglichst lange Fristen vorausgesetzt sind. Die Ordnung der Vereinigung wird von Anfang an umso glanzvoller sein, je länger sie aufgeschoben wurde. Schon Griechenland hätte sie im Zeitalter Solons in Angriff nehmen können; es hatte den Luxus in einem Maße entwickelt, das ausgereicht hät­ te, an diese Organisation heranzugehen. Aber heute haben sich unsere Möglichkeiten, Luxus und Aufwand zu treiben, gegenüber den Möglichkeiten der Athener verdoppelt (sie kannten keine Kutschen, Baumwoll­ und Seidenstoffe, Zucker und andere Produkte Amerikas oder des Orients, nicht Kompass, Brille und andere wissenschaftlichen Erfin­ dungen der Zeitgenossen; ich übertreibe also nicht, wenn ich behaupte, dass unsere Mög­ lichkeiten, Genüsse und Luxus zu erlangen, mindestens auf das Doppelte angewachsen sind). Wir beginnen in so viel größerem Glanze mit der Ordnung der Vereinigung, als wir gegenwärtig die Früchte des Fortschritts der Naturwissenschaften im 18. Jahrhun­ dert, die bisher so unfruchtbar blieben, ernten können. Solange die Zivilisation andauert, waren unsere wissenschaftlichen Wunder unserem Glück eher verhängnisvoll als nütz­ lich. Indem sie die Möglichkeiten unseres Genusses vermehrten, vermehrten sie auch die Entbehrungen der großen Zahl der des Nötigsten beraubten Menschen, trugen jedoch, da es den Belustigungen an Abwechslung fehlte, nur wenig zum Vergnügen der über­ sättigten großen Herren bei, und erregten durch Vervielfältigung der Anreize, die die wissenschaftlichen Wunder der Begierde boten, immer stärker die Bestechlichkeit. Bislang wirkten die Wissenschaften durch Vervollkommnung des Luxus nur zum Nut­ zen des Betrügers, denn er gelangt in den zivilisierten Gesellschaften viel schneller zu

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Vermögen als der ehrliche Mann. Diese sonderbare Erscheinung führte zu der Entschei­ dungswahl zwischen zwei Meinungen: entweder an die Übeltat Gottes oder die Übeltat der Zivilisation zu glauben. Vernünftigerweise konnte man sich nur auf die letzte Mei­ nung festlegen, denn die Annahme, Gott sei ein Übeltäter, ist nicht möglich. Tatsächlich wäre er es, hätte er uns dazu verurteilt, für immer in dieser unheilvollen Zivilisation dahinzuvegetieren. Aber die Philosophen betrachteten die Frage gar nicht unter diesem Gesichtspunkt, sondern wichen dem Problem der menschlichen Bosheit lieber aus, denn dieses Problem ließ entweder die Zivilisation oder Gott in Verdacht geraten. Sie schlossen sich einer falschen Meinung an, dem Atheismus, der durch die Annahme des Fehlens eines Gottes die Gelehrten davon entbindet, seine Gedanken zu erkunden, und sie ermächtigt, ihre launenhaften und unvereinbaren Theorien als Richtschnur für Gut und Böse hinzustel­ len. Der Atheismus ist eine politischer und moralischer Unwissenheit sehr willkommene Auffassung, und die als „große Geister“ bezeichneten Bekenner des Atheismus haben sich gerade durch ihn als sehr schwache Charaktere erwiesen. Aus Furcht, bei der Er­ forschung der Ideen, die Gott hinsichtlich der Gesellschaftsordnung hegt, zu versagen, zogen sie es vor, die Existenz Gottes zu leugnen und die zivilisierte Ordnung als will­ kommen zu rühmen, obwohl sie sie insgeheim verabscheuen und ihr Anblick sie so sehr verwirrt, dass sie an der Vorhersehung zweifeln. In diesem Punkt versagen nicht allein die Philosophen. Wenn es absurd ist, an Gott nicht zu glauben, so ist es nicht weniger absurd, nur halb an ihn zu glauben, zu meinen, dass seine Vorhersehung nur teilweise vorhanden ist, dass er es verabsäumt hat, Vorsorge für die Befriedigung unserer dringendsten Bedürfnisse zu treffen, wie für das Bedürfnis nach einer uns zum Wohl gereichenden Gesellschaftsordnung. Wenn man sich die Wun­ der unserer Industrie als ein Schiff mit hoch hinaufführender Reling ansieht und viele andere Wunderdinge, die in Anbetracht unserer politischen Kindheit verfrüht sind, kann man da glauben, dass jener Gott, der an uns so viele erhabene Erkenntnisse verschwen­ det hat, uns das Wissen um die Gestaltung der Gesellschaft, ohne welches alle anderen ein Nichts sind, hat vorenthalten wollen? Wäre Gott nicht tadelnswert und unbesonnen, wenn er uns in so viele edle Wissenschaften eingeweiht hätte, diese aber nur dazu dienen sollten, eine durch ihre Übel Ekel erregende Gesellschaft wie die Zivilisation hervorzu­ bringen?

2. Eine wissenschaftliche Betrachtung des Menschen1

Stellt man der Unermesslichkeit unserer Wünsche die wenigen Mittel gegenüber, die wir haben, um sie zu befriedigen, scheint es, als habe Gott unbedacht gehandelt, als er uns Leidenschaften gab, die so sehr nach Erfüllung streben, Leidenschaften, die dafür geschaffen scheinen, uns zu quälen, indem sie tausend „Begehrlichkeiten“ wecken, von denen wir in der zivilisierten Ordnung nicht den zehnten Teil befriedigen können. Aufgrund solcher Überlegungen maßen sich die Moralisten an, Gottes Schöpfung zu korrigieren und die Leidenschaften zu zügeln und zu unterdrücken, die sie nicht be­ friedigen können, ja, die sie nicht einmal kennen. Denn von den zwölf Leidenschaften, welche die Haupttriebfedern der Seele bilden, sind ihnen nur neun bekannt. Von den vier Hauptleidenschaften haben sie überdies nur sehr unvollkommene Vorstellungen. Die bereits bekannten neun Leidenschaften sind die fünf sinnlichen Begierden, die den einzelnen Menschen mehr oder weniger beherrschen und die vier einfachen seelischen Begierden, nämlich: 6. die Gruppe der Freundschaft, 7. die Gruppe der Liebe, 8. die Gruppe der Elternschaft oder Familie, 9. die Gruppe des Ehrgeizes oder der Korporation. Die Moralisten wollen diesen neun Leidenschaften eine Richtung geben, die ihrer Natur zuwiderläuft. Wie laut haben sie zweitausend Jahre lang geeifert, um die fünf sinnlichen Begierden zu zügeln und in andere Bahnen zu lenken, um uns zu überzeugen, dass der Diamant ein verachtenswerter Stein ist, Gold ein verachtenswertes Metall, Zucker und Gewürze verachtenswerte Güter, die unsere Geringschätzung verdienen, dass eine Hütte und die einfache, raue Natur dem Palast eines Königs vorzuziehen sind? Auf diese Weise wollten die Moralisten die sinnlichen Leidenschaften ersticken und machten auch vor den Leidenschaften der Seele nicht halt. Wie sehr haben sie nicht gegen den Ehrgeiz gewettert? Ihnen zufolge darf man nur mittelmäßige und schlechtbezahlte Stellungen anstreben. Wenn eine Anstellung hunderttausend Livres einbringt, dann darf man, wenn es nach der Moral geht, davon nur zehntausend annehmen. Noch alberner sind ihre An­ sichten über die Liebe. Sie wollen dort Beständigkeit und Treue erzwingen, was so wi­ 1

Aus: OC, Bd. I, 72–76. Aus dem Französischen von A. Fliedner.

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dernatürlich und für beide Geschlechter so langweilig ist, dass sich kein Lebewesen, wenn es vollständige Freiheit genießt, dem unterwirft. All diese philosophischen Grillen, die man Pflichten nennt, stehen in keinerlei Be­ ziehung zur Natur. Die Pflicht kommt von den Menschen, die Anziehung kommt von Gott. Wenn man also die Pläne Gottes erforschen will, dann muss man die Anziehung studieren, die reine Natur, und die Pflicht beiseite lassen, von der jedes Jahrhundert und jede Weltgegend eine andere Auffassung hat, während das Wesen der Leidenschaften bei allen Völkern stets das gleiche war und bleiben wird. Geben wir ein Beispiel, wie ein solches Studium der Anziehung aussehen kann. Ich wähle dafür das Verhältnis zwischen der Vaterliebe und der Kindesliebe. Die Moralisten verlangen, dass die Kinder ihren Vätern das gleiche Maß an Zunei­ gung entgegenbringen wie die Väter ihren Kindern. Sie berufen sich in dieser Angele­ genheit auf heilige Pflichten, mit denen die Natur in keiner Weise einverstanden ist. Um herauszufinden, was dem Willen der Natur entspricht, wollen wir zunächst vergessen, was sein soll, was die Pflicht fordert, und uns stattdessen dem zuwenden, was ist. Wir werden herausfinden, dass die Zuneigung der Väter zu ihren Kindern etwa dreimal so hoch ist wie umgekehrt, oder anders gesagt, dass die Kinder ihren Vätern etwa ein Drittel der Zuneigung entgegenbringen, die sie von diesen erhalten. Das Missverhältnis scheint enorm und die Ungerechtigkeit scheint dabei auf Seiten der Kinder zu liegen. Doch ob etwas ungerecht und moralisch verurteilenswert ist, das spielt für eine Studie, in der es darum geht zu analysieren, was ist, und nicht, was sein soll, keine Rolle. Wenn man, statt die Leidenschaften korrigieren zu wollen, untersuchen würde, wa­ rum die Natur den Leidenschaften eine Richtung gegeben hat, die der Pflicht so sehr zuwiderläuft, dann würde man schnell begreifen, dass jene heiligen Pflichten nichts mit Gerechtigkeit zu tun haben, wofür das Problem, mit dem wir uns beschäftigen, als Bei­ spiel dienen kann. Für das Missverhältnis zwischen der Kindesliebe und der Vaterliebe gibt es triftige Gründe. Wenn die Kinder ihren Eltern nur ein Drittel der Liebe „gewäh­ ren“, welche die Eltern ihnen entgegenbringen, dann hat das drei Ursachen. 1. Bis zur Pubertät weiß das Kind nicht, was einen Vater oder Erzeuger eigentlich ausmacht. Es begreift weder die Bedeutung dieser Bezeichnung noch misst es ihr ir­ gendeinen Wert bei. In dem zarten Alter, in dem sich seine kindliche Zuneigung zu den Eltern bildet, verheimlicht man ihm sorgfältig die Natur des Aktes, auf dem die Eltern­ schaft beruht. Es kann daher in dieser Phase nur sympathetische Liebe, nicht jedoch Kindesliebe empfinden. Den Anteil seiner Zuneigung zu den Eltern, der auf Dankbarkeit für die Mühe beruht, die sie auf seine Erziehung verwendet haben, sollte man nicht zu hoch veranschlagen. Eine solche auf Berechnung beruhende Dankbarkeit liegt außerhalb der moralischen Fassungskraft eines Kindes. Man wäre kindischer als ein Kind, wollte man eine vernünftige Liebe von einem Wesen verlangen, das zur Vernunft noch nicht fähig ist. Im Übrigen ist solche Dankbarkeit Freundschaft und nicht Kindesliebe, die ein Kleinkind weder kennen noch empfinden kann. 2. Dem Kind im mittleren Alter zwischen sieben und vierzehn Jahren sitzen die Eltern mit ihren Ermahnungen im Nacken. Beim Volk werden diese noch mit Misshandlungen gewürzt, und weil das Kind noch nicht genügend Verstand besitzt, um die Notwendigkeit

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eines ihm auferlegten Zwangs zu begreifen, bemisst sich seine Zuneigung zwangsläufig im Verhältnis zur Nachsicht, die man ihm gegenüber walten lässt. Auch kommt es häufig vor, dass es Großeltern, Nachbarn oder Hausangestellte lieber hat als seine Erzeuger, und die Väter haben keinerlei Recht sich darüber zu beklagen. Wenn sie über ein wenig Lebensklugheit verfügen, dann ist ihnen klar, dass das Kind (aus den oben angeführten Gründen) nur zu einer sympathetischen Liebe fähig ist und dass eine solche Liebe in dem Maße wächst, wie es ihnen gelingt, ihre Vaterrolle milde und klug auszuüben. 3. Sobald das Kind im Pubertätsalter schließlich begreift, was die Bezeichnungen Va­ ter und Mutter eigentlich bedeuten, erkennt es auch die eigennützigen Gründe, die seine Eltern für ihre Liebe zu ihm haben. Zu diesen Gründen zählt die Erinnerung an die Lust, die ihnen seine Zeugung bereitet hat, die Hoffnungen, die sie aus Ehrgeiz oder Schwäche mit seiner Geburt verbunden haben, und die Zerstreuungen, die es ihnen während seiner Kindheit verschafft hat, als es das Entzücken ihrer Mußestunden war. Wenn das Kind beim Eintritt ins Alter der Vernunft diese Einsichten gewonnen hat, wird es sich seinen Eltern kaum noch verpflichtet fühlen, da es ihnen so viele Vergnügen verschafft hat, ohne eines davon zu teilen (Vergnügen übrigens, die man ihm jetzt in der Blüte seiner Jugend vorenthalten will). Diese Überlegungen lassen seine Zuneigung eher erkalten als wach­ sen. Ihm wird klar, dass man es nicht aus Liebe zu ihm selbst, sondern aus Liebe zum Vergnügen gezeugt hat und dass seine Eltern über die Zeugung vielleicht alles andere als glücklich waren, sei es, weil sie damit ungewollt eine bereits zu zahlreiche Kinderschar weiter vergrößert haben, sei es, weil sie sich eigentlich ein Kind anderen Geschlechts ge­ wünscht hatten. Kurz, in seiner Jugend, in der eine echte Liebe zu den Eltern im Kind ei­ gentlich erst entstehen kann, untergraben tausend Überlegungen das Ansehen des Vaters, ja, ziehen die Bedeutung, die man der Elternschaft beimisst, geradezu ins Lächerliche. Wenn es also den Eltern bisher nicht gelungen ist, die Achtung und Freundschaft ihres Kindes zu erwerben, werden sie in ihm keine Kindesliebe mehr wachsen sehen, nicht einmal jenes Drittel, das Kinder ihren Eltern nach dem Willen der Natur schuldig sind. Eine Schuld, deren Höhe angemessen erscheint, wenn man sich vor Augen führt, dass in der zusammengesetzten Ordnung, in welche die Welt übergehen wird und für die unsere Leidenschaften eingerichtet sind, die Erziehung die Väter keinerlei Mühe kosten wird. Was die Gegenwart betrifft, so geben die Mühen der Erziehung den Vätern nur des­ halb ein scheinbar unumschränktes Recht auf die Liebe ihrer Kinder, weil man bisher noch nie die drei Einschränkungen in Rechnung gestellt hat, die ich geltend gemacht habe: 1. dass die Kleinkinder keine Vorstellung von der Bedeutung der Vaterschaft haben, 2. dass die Kinder im mittleren Alter unter dem Missbrauch oder der schlecht verstan­ denen Ausübung der väterlichen Autorität leiden, 3. dass ihnen im Jugendalter der Gegensatz zwischen den hohen Ansprüchen ihrer Vä­ ter und den nicht vorhandenen Verdiensten, auf die sich diese Ansprüche stützen, bewusst wird. Wenn man weitere Umstände in Rechnung stellt, wie die ungleiche Verteilung der elter­ lichen Liebe, die das Kind zu Recht als verletzend empfindet, dann wird man begreifen, warum der Sprössling gewöhnlich nur ein Drittel der Zuneigung empfindet, die ihm

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sein Erzeuger entgegenbringt. Wenn es mehr ist, so ist die Ursache Sympathie, nicht Blutsverwandtschaft. Auch beobachtet man oft, dass ein Kind gegenüber einem Eltern­ teil drei­ oder viermal mehr Anhänglichkeit beweist als gegenüber dem anderen, dessen Elternschaft es zwar genauso anerkennt, dessen Charakter ihm jedoch wesensfremd ist. Alle diese Wahrheiten wollen die Zivilisierten weder eingestehen noch in ihre ge­ sellschaftlichen Planungen einbeziehen. Arm an Genüssen, wollen sie wenigstens reich an Illusionen sein. Sie maßen sich ein Eigentumsrecht an der Liebe des Schwächeren an. Als Ehemann (von sechzig Jahren) erheben sie Anspruch auf die ungeteilte Liebe ihrer (zwanzigjährigen) Ehefrau, dabei weiß jeder, worauf sich diese Ansprüche stützen. Als Väter wollen sie Götter sein, Musterbilder in den Augen ihrer Kinder. Sie schreien Undank, wenn sie nur die Dosis Liebe erhalten, die sie verdient haben. Mangels echter Bindungen schwelgen sie in trügerischen Vorstellungen. Sie lieben es, in Romanen und Theaterstücken übersprudelnde Sohnesliebe und unverbrüchliche Gattentreue ausgemalt zu bekommen, von denen im Schoß der Familie keine Spur zu finden ist. Weil sie sich derartige moralische Fantasiegebilde vorgaukeln, sind die Zivilisierten nicht in der Lage, die allgemeinen Gesetze der Natur zu erkennen. Sie halten ihre eigenen Hirngespinste und despotischen Anmaßungen für Naturgesetze und klagen die Natur an, ungerecht zu sein, ohne sich die Mühe zu machen, den Zweck ihrer Einrichtungen zu erforschen. Um diesen Zweck zu erkennen, wäre es notwendig, ohne sich mit irgendwelchen Ideen von Pflicht aufzuhalten, zur Analyse (und Synthese) jener leidenschaftlichen Anziehung zu schreiten, die uns schädlich erscheint, weil wir ihren Zweck nicht kennen, die jedoch, schädlich oder nicht, noch nie systematisch untersucht wurde.

3. Passionen und ihre Anziehung: Zur Grundstruktur „sozietärer Gesellschaften“1

artikel I (des „vorworts“) Exposé und Vorbemerkungen

Kein Wunsch ist so weit verbreitet wie der, seine Einkünfte durch einen Glücksfall wie eine reiche Heirat, eine Erbschaft oder eine Sinekure zu verdoppeln. Wenn nun jemand eine Methode fände, jedermanns Einkünfte nicht nur um das Doppelte, sondern um das Vierfache des realen Wertes zu steigern, dann hätte eine solche Entdeckung gewiss ein Höchstmaß an allgemeiner Aufmerksamkeit verdient. Genau dies aber wird mithilfe der natürlichen sozietären Methode erreicht: In Frank­ reich werden die jährlichen Erträge, die man heute auf sechs Milliarden schätzt, vom ers­ ten Jahr der sozietären Ordnung an auf 24 Milliarden steigen. Dasselbe gilt proportional für alle anderen Staaten. Der größte Reichtum wäre jedoch auf Sand gebaut, würde er nicht auf einer Ordnung beruhen, die zum einen garantiert, dass die Erträge proportional verteilt werden und die Klasse der Armen an ihrer Steigerung teilhat, zum anderen, dass das Bevölkerungs­ gleichgewicht gewahrt wird, denn ein unbegrenztes Wachstum der Bevölkerung würde eine Vervierfachung, ja selbst eine Verzehnfachung des vorhandenen Reichtums schnell aufzehren. Die moderne Wissenschaft steht ratlos vor diesen Problemen. Durch die Entdeckung der natürlichen sozietären Methode, die hier in einer kurzgefassten Abhandlung darge­ stellt wird, sind sie jedoch vollständig gelöst. Neue industrielle Welt erschien mir die treffendste Bezeichnung für diese schöne sozietäre Ordnung, zu deren Vorzügen es gehört, dass sie die industrielle Anziehung hervorruft. Man wird dort unsere Müßiggänger, sogar die modeverrückten jungen Da­ men winters wie sommers um vier Uhr morgens auf den Beinen sehen, um sich eifrig nützlichen Tätigkeiten zu widmen: der Pflege der Gärten und Stallungen, �aus­ und Fabrikarbeiten und anderen Tätigkeiten, an denen die Klasse der Reichen heute, unter dem Einfluss der Zivilisation, keinen Geschmack findet. Alle diese Arbeiten gewinnen Attraktivität, indem man sie in einer bisher gänzlich unbekannten Weise anordnet, die 1

Die im vorliegenden Kapitel versammelten Texte sind dem „Vorwort“ und dem „Teil I“ von Le nouveau monde industriel et sociétaire entnommen (OC, Bd. VI, 1–8, 15–27 und 47–86). Aus dem Französischen von A. Fliedner.

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ich Leidenschaftsserien und Serien kontrastierender Gruppen nennen werde. Dies ist der Mechanismus, zu dem alle Leidenschaften hinstreben, die einzige Ordnung, die dem Willen der Natur entspricht. Der Wilde wird sich erst dann die industrielle Arbeitsweise zu eigen machen, wenn er sie in Leidenschaftsserien praktiziert sieht. In dieser Gesellschaftsordnung wird man durch Wahrheit und Gerechtigkeit sein Glück machen. Die meisten der nach unserem Verständnis verwerflichen Laster, wie die Schlemmerei, werden dort zu Mitteln, um den industriellen Wetteifer zu beflügeln, sodass man die gastronomische Raffinesse als Triebfeder der Weisheit nach Kräften för­ dert. Ein solches System ist das Gegenteil des Mechanismus der Zivilisation, in dem die Lüge zum Erfolg führt und Weisheit mit Genussfeindlichkeit gleichgesetzt wird. Diesem Gegensatz entsprechend soll die Zivilisation, in der die Lüge und die auf Abstoßung beruhende Industrie herrschen, im Folgenden als verkehrte Welt bezeichnet werden, die sozietäre Ordnung aber, die auf der Wahrheit und der auf Anziehung beruhenden Indus­ trie gegründet ist, soll die richtige Welt heißen. Vor allem für Wissenschaftler und Künstler wird die sozietäre Gesellschaftsordnung eine neue und richtige Welt sein. Sie gewinnen dort auf einen Schlag, was sie am meisten wünschen, ein unermessliches Vermögen, das Zwanzig­ und Hundertfache dessen, was sie in der Zivilisation erhoffen können, wo sie wahrlich auf Dornen gebettet sind, wo man ihnen das Leben vollständig verbittert und sie in jeder Hinsicht wie Sklaven behandelt. Was die anderen Klassen betrifft, denen ich eine Vervierfachung ihrer Einkünfte ver­ sprochen habe, so werden sie mich der Übertreibung verdächtigen. Doch die Theorie der Sozietät ist so leicht verständlich, dass jeder ihre Richtigkeit beurteilen kann und in der Lage ist zu überprüfen, ob mit der natürlichen Methode, die hier unter der Bezeichnung Leidenschaftsserien beschrieben wird, tatsächlich das Vierfache der Erträge erzielt wird, die unsere zerstückelte Industrie abwirft, die in so viele Ausbeutungsverhältnisse zer­ fällt, wie es Ehepaare gibt. Bisher stand allen Forschungen über die Assoziation stets ein Vorurteil im Wege: „Man kann“, so hieß es, „unmöglich aus drei oder vier Familien ein gemeinsames Haus­ wesen bilden, ohne dass binnen einer Woche Streit ausbricht, vor allem zwischen den Frauen. Noch viel weniger kann man dreißig oder vierzig Familien zu einer Assoziation zusammenfassen, und erst recht nicht drei­ oder vierhundert.“ Das ist völlig falsch gedacht: Denn wenn Gott eine Ordnung will, die ökonomischen und mechanischen Gesetzmäßigkeiten gehorcht, dann muss er auf möglichst große Ge­ meinschaften setzen. Deshalb spricht der Misserfolg kleinerer Zusammenschlüsse von drei oder auch dreißig Familien für den Erfolg des Zusammenschlusses einer größeren Zahl, vorausgesetzt, dass zuvor die Theorie der natürlichen Assoziation ausgearbeitet wird, denn sie ist die von Gott gewollte Methode, die mit dem Gesetz der Anziehung übereinstimmt, das Gottes Willen in die sozietäre Mechanik übersetzt. Gott lenkt das materielle Universum durch die Anziehungskraft. Würde er das soziale Universum durch eine andere Triebfeder lenken, dann wäre sein System nicht einheitlich, sondern doppelgesichtig. Studiert man die leidenschaftliche Anziehung, gelangt man auf direktem Wege zur Entdeckung des sozietären Mechanismus. Widmet man sich jedoch zuerst der Assozi­

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ation und dann erst der Anziehung, besteht die Gefahr, dass man Jahrhunderte lang in die falsche Richtung geht, den Mut verliert und schließlich das ganze Unterfangen für unmöglich hält. In dieser Situation befinden wir uns heute, wo das Problem der Assozia­ tion, das man dreitausend Jahre lang ignoriert hat, endlich beginnt, die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt auf sich zu ziehen. Seit einigen Jahren schreibt man über den Begriff Assoziation, ohne zu wissen, wovon die Rede ist, ja, ohne auch nur den Zweck der sozietären Verbindung, ihre Formen und Methoden, die Bedingungen, die sie erfüllen muss, und die Ergebnisse, zu denen sie füh­ ren soll, zu bestimmen. Man hat diesen Gegenstand bisher so verworren behandelt, dass man nicht einmal auf den Gedanken gekommen ist, über die Richtung, die es auf einem so neuen Gebiet einzuschlagen gilt, einen wissenschaftlichen Wettbewerb auszuschreiben. Ein solcher Wettbewerb hätte zu der Erkenntnis geführt, dass die bekannten Methoden untauglich sind, und man sich stattdessen den noch jungen und intakten Wissenschaften zuwenden muss, vor allem der Wissenschaft der leidenschaftlichen Anziehung. Newton ist dieser Wissenschaft bereits sehr nahe gekommen, hat sie jedoch letztlich verfehlt. Wir werden darlegen, dass sie im Hinblick auf die Assoziation der einzige Weg zum Erfolg ist. Wenn die Armen, die Arbeiterklasse, in der sozietären Gesellschaft nicht glücklich sind, werden sie dort durch Böswilligkeit, Diebstahl und Rebellion Unruhe stiften. Da­ mit hätte eine solche Ordnung ihr Ziel verfehlt, nicht nur eine materielle Assoziation, sondern auch eine Assoziation der Leidenschaften zu schaffen, einen Ausgleich zwi­ schen den Leidenschaften, Charakteren, Geschmäckern und Instinkten herzustellen. Befriedet man die Klasse der Armen jedoch, indem man ihr ein gutes Auskommen sichert, ihr ein reichlich bemessenes Minimum an Lebensmitteln, Kleidung usw. vor­ streckt, dann verleitet man sie zum Nichtstun. Den Beweis sieht man in England, wo jährliche Unterstützungsleistungen von zweihundert Millionen an die Bedürftigen nur dazu geführt haben, die Zahl der Bettler zu vermehren. Diesem Müßiggang ebenso wie den anderen Lastern, welche die Assoziation zerrüt­ ten würden, lässt sich abhelfen, indem man einen Mechanismus der industriellen An­ ziehung sucht und findet, der die Arbeit zum Vergnügen macht und garantiert, dass das Volk sich ihr beharrlich widmet, damit es das Minimum, das ihm vorgeschossen wurde, zurückerstattet. Hätte man also die sozietäre Theorie methodisch entwickeln wollen, so hätte man als Erstes einen Wettbewerb für das analytische und synthetische Studium der leidenschaftlichen Anziehung ausschreiben müssen, um herauszufinden, ob sie die Triebfedern der industriellen Anziehung enthält. Das wäre das ordnungsgemäße Vor­ gehen gewesen, von dem diejenigen, die vage und oberflächlich über die Assoziation geschrieben haben, jedoch keine Ahnung hatten. Wenn sie die Anziehung studiert hätten, hätten sie die Theorie der Leidenschaftsserien entdeckt, die notwendig ist, um den sozi­ etären Mechanismus in Gang zu setzen. Denn ohne die Leidenschaftsserien fehlen die grundlegenden Voraussetzungen für sein Funktionieren, nämlich: – die industrielle Anziehung, – die proportionale Verteilung, – das Bevölkerungsgleichgewicht.

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Man hat jedoch nicht nur Schriften verfasst, sondern in Amerika und England auch prak­ tische Versuche der Assoziation unternommen. Eine Sekte, die von Herrn Owen geleitet wird, gibt vor, den Grundstein für eine sozietäre Gesellschaftsordnung zu legen. Sie tut jedoch genau das Gegenteil: Indem sie sich auf eine falsche Methode stützt, die in jeder Hinsicht der Natur und der Anziehung zuwiderläuft, bringt sie die Idee der Assoziation in Misskredit. Daher konnte die Sekte der Owenisten weder die Wilden noch die Zivili­ sierten in ihrer Nachbarschaft überzeugen: Kein einziger Indianerstamm, keine einzige Provinz der Vereinigten Staaten hat sich bis heute bereitgefunden, jenes Klosterregiment der Gütergemeinschaft anzunehmen, jenen Halb­Atheismus, der den Gottesdienst ab­ geschafft hat, oder irgendeine jener anderen Monstrositäten, die Herr Owen mit dem Namen Assoziation schmückt. Er setzt damit auf ein Wort, das Kredit hat, und macht aus diesem Wort ein Spekulationsobjekt, während er nach außen den Philanthropen gibt. Die Apathie der wissenschaftlichen Institutionen, die es versäumt haben, die Bedingungen, die eine Assoziation erfüllen muss, und den Zweck, dem sie dienen soll, präzise darzu­ legen, macht es den Intriganten leicht, die öffentliche Meinung über diesen Gegenstand in die Irre zu führen. Weder in der Theorie noch in der Praxis ist man jedoch bisher zum Kern der Frage vorgedrungen, zu dem Problem nämlich, wie sich nicht allein die finanziellen Mittel und gewerblichen Fähigkeiten einer großen Anzahl von Familien mit ungleichen Vermögens­ verhältnissen in einer landwirtschaftlichen und häuslichen Gemeinschaft vereinigen las­ sen, sondern wie es gelingen kann, die Leidenschaften, Charaktere, Geschmäcker und In­ stinkte miteinander zu assoziieren und ihre Entwicklung in jedem Individuum zu fördern, ohne der Allgemeinheit zu schaden; wie man, vom frühesten Alter an, die bei Kindern zahlreichen Neigungen zu industriellen Tätigkeiten fördert, wie man für jeden die ver­ schiedenen Aufgaben findet, die seiner Natur gemäß sind, und wie man die Arbeiten häufig abwechseln lässt und sie so reizvoll gestaltet, dass die industrielle Anziehung entsteht. Anstatt die Aufgabe auf diese Weise anzugehen, hat man sich jedoch ausschließlich mit Nebensächlichkeiten beschäftigt und schöngeistige Phrasen über die Assoziation verbreitet, statt ihre Theorie zu entwickeln. Man könnte meinen, die Frage der Assozia­ tion sei nur aufgeworfen worden, um sie zu vernebeln. Daher ist der Begriff Assoziation entweiht und in Verruf geraten. Während die einen ihn als Deckmantel für Wahlintrigen und Börsenspekulationen benutzen, halten ihn die anderen für ein Mittel zur Verbreitung des Atheismus, weil die Sekte der Owenisten sich in Amerika durch ihre Abschaffung des Gottesdienstes den Beinamen ‚Sekte der Atheisten‘ zugezogen hat. All das hat die echte Assoziation so in Misskredit gebracht, dass ich es für klüger hielt, im Titel der vor­ liegenden Abhandlung auf den Begriff Assoziation zu verzichten, der seine Bedeutung verloren hat, seit er zum Deckmantel aller möglichen Intrigen geworden ist. Je mehr Missbrauch mit dem Begriff getrieben wurde, desto wichtiger ist es, die Anfangsgründe der Sache selbst darzulegen, und dem Leser begreiflich zu machen, dass die wahre Assoziation, die Kunst, in der Industrie alle Leidenschaften, Charaktere, Ge­ schmäcker und Instinkte zum Einsatz zu bringen, eine neue soziale und industrielle Welt bedeutet. Er muss sich darauf gefasst machen, in dieser Theorie auf Prinzipien zu stoßen, die seinen Vorurteilen diametral entgegengesetzt sind. Er hat gelernt, die Zivilisation

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als Weg zur Vollkommenheit und als Bestimmung des Menschen zu betrachten. Es ist jedoch offensichtlich, dass das Volk in den am höchsten zivilisierten Ländern genauso unglücklich und arm ist wie der barbarische Pöbel in China und Hindustan und dass die zerstückelte Industrie und die familiäre Hauswirtschaft ein Labyrinth des Elends, der Ungerechtigkeit und der Falschheit sind. Richten wir also zunächst unsere Aufmerksamkeit auf die augenfälligste Errungen­ schaft der sozietären Gesellschaftsordnung, die Vervierfachung der Erträge. Eine große Gemeinschaft würde für viele Aufgaben nur ein Hundertstel der Arbeiter und Maschi­ nen benötigen, die im Durcheinander unserer kleinen Hauswesen nötig sind. Anstelle von dreihundert Herdfeuern und dreihundert Hausfrauen hätte man nur vier oder fünf Großküchen, die Speisen verschiedener Güte zubereiten, entsprechend vier oder fünf Vermögensklassen, denn die sozietäre Gesellschaftsform kennt keine Gleichheit. Zehn sachverständige Personen genügen, um die dreihundert Frauen zu ersetzen, die in der zivilisierten Gesellschaftsordnung nötig sind, und denen die mannigfaltigen mechani­ schen Hilfsmittel fehlen, die in einer Küche zum Einsatz kommen, in der die Mahlzeiten für 1.800 Personen (das ist die vorteilhafteste Zahl) zubereitet werden. Die Gemeinschaft abonniert ihre Mitglieder auf Tische und Speisen zu unterschiedlichen Preisen, ohne dass dadurch die individuellen Freiheiten beschnitten werden. Unter solchen Umständen würde das Volk weniger ausgeben, um üppig verpflegt zu werden, als heute, um erbärmlich zu leben. Die Ersparnis an Brennmaterial wäre immens und würde zuverlässiger für die Wiederherstellung der Wälder und des Klimas sorgen als hundert Forstgesetze, deren Einhaltung nicht durchgesetzt werden kann. Die Hausarbeit würde sich derart vereinfachen, dass sieben Achtel der Hausfrauen und Hausangestellten für produktive Tätigkeiten eingesetzt werden könnten. Unser Jahrhundert gibt vor, vom Geist der Assoziation beseelt zu sein. Wie ist es dann möglich, dass die Landwirtschaft weiterhin von einzelnen Familien betrieben wird, also von den kleinstmöglichen Gemeinschaften? Man kann sich keine kleineren, unwirt­ schaftlicheren und dem Gedanken der Sozietät stärker widersprechenden Vereinigungen vorstellen als die, die wir in unseren Dörfern antreffen und die nur aus einem Ehepaar oder einer Familie mit fünf oder sechs Mitgliedern bestehen. In diesen Dörfern wer­ den dreihundert Getreidespeicher und dreihundert Keller an den ungeeignetsten Plätzen gebaut und aufs schlechteste unterhalten, wo in der Assoziation ein einziger Speicher und ein einziger Keller ausreichen würden. Wohlplatziert und wohlversehen mit Gerät, würden diese nur ein Zehntel der Arbeitskraft beanspruchen, die in der zerstückelten und nach Familien gegliederten Wirtschaft notwendig ist. Vereinzelt fanden sich in jüngster Zeit in den Journalen Artikel von Agronomen, welche die enormen Vorteile schilderten, die der Landwirtschaft aus großen sozietären Zusammenschlüssen erwachsen würden, wenn es gelänge, die Leidenschaften von zwei­ oder dreihundert Familien, die gemeinsam den Boden bebauen, in Übereinstimmung zu bringen und damit eine der materiellen Assoziation entsprechende Assoziation der Leidenschaften herbeizuführen. Sie haben sich jedoch auf unfruchtbare Willensbekundungen beschränkt, auf Klagen über die Undurchführbarkeit der Sache, die sie mit der Ungleichheit der Vermögensver­

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hältnisse, der Unvereinbarkeit der Charaktere usw. begründeten. Solche Ungleichheiten bilden jedoch kein Hindernis, sondern stellen im Gegenteil die wesentliche Triebfeder der Assoziation dar. Eine starke Ungleichheit der Vermögensverhältnisse, Charaktere, Geschmäcker und Instinkte ist notwendig, um Leidenschaftsserien zu organisieren. Gäbe es diese Stufenleiter der Ungleichheiten nicht, müsste man sie erfinden, sie in jeder Hin­ sicht errichten, um eine Assoziation der Leidenschaften überhaupt erst zu ermöglichen. In der Zivilisation lassen sich bereits erste, allerdings nur materielle Vorboten der Assoziation entdecken. Keime, die jedoch dem Instinkt und nicht der Wissenschaft zu verdanken sind. Der Instinkt lehrt hundert Familien eines Dorfes, dass ein gemeinschaft­ licher Backofen viel weniger Mauerwerk und Brennmaterial braucht als hundert kleine häusliche Backöfen und dass zwei oder drei erfahrene Bäcker diesen gemeinschaftlichen Ofen besser betreiben als hundert Frauen ihre hundert kleinen Öfen, in denen sie in zwei von drei Fällen die richtige Temperatur und die richtige Backzeit verfehlen. Der gesunde Menschenverstand hat die Leute im Norden gelehrt, dass Bier teurer wäre als guter Wein, wenn jede Familie selbst brauen würde. Eine Klostergemeinschaft oder eine Stube beim Militär begreift instinktiv, dass eine einzige Küche für dreißig Es­ ser bessere und billigere Mahlzeiten zubereitet als dreißig getrennte Küchen. Weil die Bauern des Jura eingesehen haben, dass die Milch eines einzigen Hofes nicht ausreicht, um einen bestimmten, Gruyère genannten Käse herzustellen, schließen sie sich zusammen und bringen jeden Tag die Milch in eine gemeinschaftliche Käserei, wo man jede einzelne Lieferung auf Holzbrettern notiert. Indem man schließlich all diese kleinen Mengen Milch zusammennimmt, stellt man kostengünstig in einem mächtigen Kessel einen großen Käse her. Wie kommt es, dass unser Jahrhundert, das sich so viel auf seinen ökonomischen Sachverstand zugutehält, nicht darauf gekommen ist, diese Keime der Assoziation aufzugreifen und zu einem vollständigen System der sieben industriellen Tätigkeiten zu entwickeln, als da sind: 1. Hausarbeit, 2. Landwirtschaft, 3. Manufakturarbeit, 4. Handel, 5. Unterricht, 6. Studium und Anwendung der Wissenschaften, 7. Studium und Anwendung der schönen Künste. Alle diese Tätigkeit sollte man in einer möglichst großen Gemeinschaft ausüben. Die im Folgenden entwickelte Theorie wird zeigen, dass diese Gemeinschaft aus 1.800 Perso­ nen bestehen sollte. Wenn sie mehr als 2.000 Personen umfasst, besteht die Gefahr, dass sie zu einem unentwirrbaren Durcheinander ausartet. Ist sie kleiner als 1.600 Personen, sind die Bindungen der Gemeinschaft schwach und es entstehen mechanische Fehler und Lücken in der industriellen Anziehung. Es besteht jedoch die Möglichkeit, einen kostengünstigen Versuch mit einer auf ein Drittel, also auf sechs­ bis siebenhundert Personen reduzierten Zahl von Teilnehmern durchzuführen. Ein solcher Versuch wird weniger spektakuläre Ergebnisse hervorbrin­

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gen und weniger ertragreich sein, doch wird er den Beweis erbringen, dass in einer auf volle 1.800 Personen vergrößerten Gemeinschaft die in der folgenden Theorie beschrie­ benen Vorteile und Zusammenklänge vollständig verwirklicht werden können. Sobald durch diesen Versuch bewiesen ist, dass der Mechanismus, den ich als Phalanx der Lei­ denschaftsserien bezeichne, die industrielle Anziehung herstellt, werden sich in kürzester Zeit Nachahmer finden. Alle Wilden, alle Neger Afrikas werden sich der industriellen Ar­ beit zuwenden. Nach zwei oder drei Jahren wird man Zucker Maß für Maß gegen Getreide tauschen können und im selben Verhältnis alle anderen Erzeugnisse der heißen Zone. Ein weiterer Vorteil unter tausend wird in der sofortigen Tilgung aller öffentlichen Schulden in allen Ländern aufgrund der vervierfachten Erträge bestehen. Wenn sich in Frankreich die Erträge, die man heute auf sechs Milliarden schätzt, auf vierundzwanzig Milliarden erhöhen werden, wird der Fiskus zwei Milliarden Steuern auf Erträge von vierundzwanzig Milliarden leichter eintreiben können als heute eine Milliarde Steuern auf Erträge von sechs Milliarden. Es wird also bei effektiver Verdopplung der Steuerein­ nahmen eine relative Steuerentlastung um die Hälfte geben. Es scheint daher angebracht, diese Perspektive zunächst den französischen und engli­ schen Lesern zu eröffnen, vor allem den Engländern, die unter einer besonderes drücken­ den Schuldenlast leiden. Da sich Frankreich mit hoher Geschwindigkeit diesem Zustand nähert, bedarf es umso mehr der Entdeckung, die ich hier der Öffentlichkeit bekannt mache.

artikel II (des „vorworts“)

Die enorme Größe der Erträge in der Sozietät

Einer der Gründe, warum der sozietäre Mechanismus erst so spät erfunden wurde, ist das Fehlen eines Überblicks über die immensen Vorteile der Assoziation. Ein derartiger Überblick hätte Hoffnungen geweckt und zu entsprechenden Untersuchungen angeregt. Man könnte mit der Beschreibung dieser Vorteile mehrere Bände füllen. Ich werde mich jedoch auf wenige Seiten beschränken, wobei ich von der Annahme ausgehe, dass die Assoziation weltweit eingeführt ist und dass an die Stelle der Dörfer industrielle Phalan­ gen von etwa 1.800 Personen getreten sind. Unterscheiden wir zunächst zwischen negativen und positiven Vorteilen. Der negative Vorteil der Assoziation besteht darin, durch Untätigkeit mehr zu produ­ zieren als die Zivilisierten durch äußerste Arbeitsanstrengung. Ein Beispiel: Ich habe dargelegt, dass eine sozietäre Küche neun Zehntel des Brenn­ materials und neunzehn Zwanzigstel der Arbeitskräfte einspart, welche die häuslichen Küchen benötigen. Zu dem Gewinn, den diese Einsparungen bedeuten, kommt der Ge­ winn einer deutlich verbesserten Produktion, womit der erzielte Vorteil positiv und nega­ tiv zugleich ist. Denn die gewaltige Einsparung an Brennmaterial bedeutet zugleich eine Erholung der Wälder, der Quellen und des Klimas. Wir wollen die Hypothese einer sozietären Bewirtschaftung als nächstes auf die Bin­ nenfischerei anwenden. Indem man gemeinschaftliche Untätigkeit vereinbart und Ab­

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sprachen über Beginn und Ende der Fischfangsaison trifft, kann man die Fischmenge verzehnfachen und die Fische in Mastbecken aufziehen. Auf diese Weise – und indem sie sich zusammenschließen, um überall die Fischotter auszurotten – gewinnen die sozietären Gemeinschaften, die wir industrielle Phalangen nennen, durch reine Untätigkeit, durch den Einsatz von zehn Mal weniger Zeit und Ar­ beitskraft zehn Mal mehr Fisch als wir. In all diesen Punkten erzielt die Sozietät den zehn­ bis zwanzigfachen Gewinn. Ich übertreibe demnach nicht, wenn ich ihre Erträge auf das Vierfache der unsrigen veran­ schlage, und es wird sich herausstellen, dass die Wirklichkeit diesen Schätzwert noch übertrifft. Gute Gründe, um zu untersuchen, ob das Verfahren der natürlichen Assozi­ ation und der auf Anziehung beruhenden Industrie tatsächlich entdeckt ist! Fahren wir jedoch mit unserer Schätzung fort. Dass es in der Sozietät keinen Diebstahl geben wird, ist ein immenser Vorteil, der durch Untätigkeit erzielt wird. Von allen landwirtschaftlichen Erzeugnissen lässt sich Obst am einfachsten anbauen. Doch das Risiko des Obstdiebstahls führt dazu, dass man auf neun Zehntel aller Pflanzungen von vornherein verzichtet und macht darüber hinaus die Errichtung äußerst kostspieliger und schädlicher Mauern notwendig. Die Assoziation, in der das Risiko des Diebstahls wegfällt, wird die Zahl der ge­ pflanzten Bäume verdreißigfachen und dafür weniger Arbeitskraft aufwenden müssen als man heute benötigt, um die Obstplantagen einzuzäunen und zu bewachen. In der Assoziation wird es Früchte in solchem Überfluss geben, dass die Kinder das ganze Jahr über damit ernährt werden können. Zu diesem Zweck wird man die Früchte mithilfe wis­ senschaftlicher Verfahren konservieren und zu Kompotten und Konfitüren verarbeiten, die preiswerter sein werden als Brot. Weil die Organisation in Leidenschaftsserien die in­ dustrielle Anziehung hervorruft und sich die Wilden, Neger usw. für die Landwirtschaft begeistern, wird die heiße Zone schnell überall kultiviert sein, und ein Pfund Zucker wird nicht teurer sein als ein Pfund Getreide. Somit wäre Kompott mit 25 % Zucker für die Armen ein billigeres Nahrungsmittel als Brot, denn Früchte dritter Wahl, die man für Kompott und Marmelade verwendet, werden praktisch nichts kosten, da die Obst­ plantagen riesig sein werden, wenn erst einmal das Risiko des Diebstahls wegfällt und die Erholung des Klimas infolge der allgemeinen methodischen Landwirtschaft sichere Ernten garantiert. Heute betragen die Ernten nur ein Drittel dessen, was sie nach dieser Erholung, die im fünften Jahr der sozietären Ordnung stattfindet, betragen werden. Die Zivilisierten hingegen können nicht einmal ihren Grundbedarf an Früchten de­ cken. Denn aus Angst vor Dieben lassen sie das wenige Obst, das sie haben, nicht einmal zur Reife kommen. Die einfachen und guten Landleute sind solche Spitzbuben, dass sie einen nicht eingezäunten Baum sofort kahlpflücken, wenn man die Früchte nicht schon vor der Reife erntet. Man kann daher nur einmal statt dreimal ernten, worunter die Qua­ lität der Früchte stark leidet. Dreihundert Familien eines zivilisierten Landnestes brauchen dreihundert gemau­ erte Verschanzungen. Das sind dreimal so hohe Ausgaben wie die Kosten der Anpflan­ zung selbst. Darüber hinaus schaden die Betrügereien der Baumschulen dem Obstanbau in hohem Maße. Diese Betrügereien aber werden aufhören, wenn im Handel die lüg­

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nerische so genannte zivilisierte Ordnung durch eine Ordnung der Ehrlichkeit ersetzt wird. Es ist mithin gewiss, dass in der sozietären Ordnung durch Nichtstun oder sehr gerin­ ge Anstrengung zehnmal höhere Gewinne erwirtschaftet werden als in der Zivilisation durch äußerste Arbeitsanstrengung. Oft ergibt sich ein doppelter Vorteil, wie das folgen­ de Beispiel zeigt: In der Zivilisation sieht man hundert Milchmädchen dreihundert Milchkannen zum Markt tragen. In der Assoziation wäre es eine Tonne auf einem gefederten Wagen, der von einem Pferd und einem Mann gezogen wird, statt hundert Milchmädchen, dreihun­ dert Kannen und dreißig Eseln. Die Wirtschaft der Assoziation steigt vom einfachen zum zusammengesetzten auf, vom Erzeuger zum Verbraucher, denn in der Stadt liefert der Milchhändler den Inhalt seiner Milchtonne an drei oder vier progressive Haushalte (Haushalte von jeweils etwa 2.000 Personen, aus denen sich in der Assoziation die Städ­ te zusammensetzen). Die Ersparnis, die sich bereits beim Transport auf das Fünfzigfache beläuft, gilt in gleicher Höhe bei der Auslieferung, die an drei oder vier Großabnehmer statt an tausend Familien erfolgt. Eine der größten Errungenschaften der sozietären Industrie wird die Einführung der Ehrlichkeit im Handel sein. Weil die Assoziation die korporative, solidarische, ehrliche, vereinfachende und auf Garantie beruhende Konkurrenz an die Stelle der individuellen, unsolidarischen, lügnerischen, verkomplizierenden und willkürlichen Konkurrenz setzt, wird sie kaum ein Zwanzigstel der Arbeitskraft und des Kapitals benötigen, welche die Handelsanarchie oder lügnerische Konkurrenz der Landwirtschaft entzieht, um sie in ganz und gar parasitären Tätigkeiten aufzuzehren – was immer auch die Ökonomen da­ rüber sagen mögen. Denn alles, was in einem Mechanismus weggelassen werden kann, ohne dessen Wirkung zu vermindern, ist parasitär. Ein Bratenwender funktioniert mit zwei Rädern. Würde ein �andwerker einen Bratenwender mit vierzig Rädern erfinden, wären achtunddreißig davon parasitär. So aber funktioniert der lügnerische Handel oder das System der verkomplizierenden Konkurrenz und der unkontrollierten Vermehrung der Handelsagenten. Eine industrielle Phalanx oder ein sozietärer Kanton führt nur eine einzige Kauf­ oder Verkaufsverhandlung, anstelle von dreihundert widersprüchlichen Verhandlungen, bei denen dreihundert Familienoberhäupter in den Markthallen und Schenken drei­ hundert Tage damit verlieren, Sack für Sack dieselbe Menge an Gütern zu verkaufen, welche die sozietäre Phalanx en gros an zwei oder drei benachbarte Phalangen oder an die Kommissionsagentur ihrer Provinz verkauft. Im Handel wie in allen anderen zwischenmenschlichen Verhältnissen bedeutet der Mechanismus der Zivilisation stets die äußerste Verkomplizierung, die ruinöseste und falscheste Art und Weise des Um­ gangs miteinander. Es ist einigermaßen erstaunlich, dass unsere Philosophen, die sich als Verehrer der hehren Wahrheit ausgeben, sich zugleich für den individuellen Handel oder die Anarchie des Betrugs begeistern. Ist ihnen die hehre Wahrheit jemals in ir­ gendeinem Zweig des Handelswesens begegnet? Hat sie bei den Pferdehändlern oder den Weinhändlern Unterschlupf gefunden? Genauso wenig wie unter den Kolonnaden der Börse.

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Doch auch außerhalb des Handels gibt es tausend parasitäre Tätigkeiten, von denen einige offensichtlich überflüssig sind, wie die Justizämter, die ihr Existenzrecht allein aus den Lastern der Zivilisation beziehen, und die mit dem Eintritt in die sozietäre Ord­ nung wegfallen werden. Andere ausgesprochen parasitäre Tätigkeiten sind bisher unbe­ merkt geblieben, ja, erfreuen sich sogar des Rufs der Nützlichkeit, wie das Studium der Fremdsprachen – eine äußerst mühevolle und völlig unproduktive Arbeit. Mit dem Beginn der sozietären Gesellschaftsform wird man eine provisorische ein­ heitliche Sprache annehmen. Hierzu könnte das Französische dienen, dem ungefähr drei­ bis viertausend fehlende Wörter hinzugefügt werden müssten. Jedes Kind wird von klein auf in dieser einheitlichen Sprache erzogen. Auf diese Weise wird jeder Mensch, ohne Fremdsprachen erlernen zu müssen, mit der ganzen Menschheit kommunizieren können und mehr über andere Völker lernen als jemand, der heute zwanzig Jahre darauf verwen­ det, zwanzig Sprachen zu erlernen, und sich dennoch mit drei Vierteln der Weltbevölke­ rung nicht verständigen kann. Noch größere Perfektion wird bei den öffentlichen Arbeiten herrschen. Heute fehlen in Frankreich, einem Staat, der im Ruf steht, sehr reich zu sein, zweihundert Millionen für die Instandsetzung seiner armseligen Straßen. In der Assoziation sind die Kantone weltweit durch breite, mehrspurige Straßen miteinander verbunden. Diese prachtvollen Straßen werden von den einzelnen Kantonen gebaut und unterhalten, ohne das Abgaben dafür erhoben werden, außer einer Nutzungsgebühr für Kuriere und Fuhrleute. Ein Kataster für ganz Frankreich würde, so sagt man, hundert Millionen und fünfzig Jahre Arbeit kosten, und wäre bei seiner Fertigstellung mehr oder weniger nutzlos, da sich alle Eigentumsgrenzen längst geändert hätten. Ein Kataster der gesamten Weltkugel zu erstellen dauert in der Assoziation höchstens ein Jahr und verursacht praktisch keine Kosten, denn jede Phalanx wird auf eigene Rechnung eine Karte ihres Kantons erstellen, die zusätzlich die Beschaffenheit des Geländes ausweist. Bestimmte Aufgaben nehmen in der Zivilisation mehr als das Tausendfache der nöti­ gen Zeit in Anspruch: So kostet eine Wahl bei uns jeden Wähler etwa fünf Tage, inbegrif­ fen die von Streitereien geprägten Versammlungen, die ihr vorausgehen, die Reisekosten usw. In der Assoziation hingegen nimmt eine Wahl nur vierzig Sekunden in Anspruch und erfordert keinerlei Ortswechsel. Das ist etwa der viertausendste Teil des heutigen Zeitbedarfs. Ich werde dieses Wahlverfahren, das weniger als eine Minute kostet und an dem dreihundert Millionen Wähler teilnehmen können, in dieser Abhandlung beschreiben. Ich habe bisher wenig über die positiven Erträge der Assoziation gesagt. Über diese wird man sich erst dann ein Urteil bilden können, wenn man sich mit den Auswirkungen der Methode der Leidenschaftsserien und den Möglichkeiten zur Vervollkommnung und Erhöhung der Wirtschaftsleistung, die sie bietet, vertraut gemacht hat. Mithilfe dieser Methode, so wird sich zeigen, lassen sich die Erträge der Sozietät mühelos auf das Vier­ fache der unsrigen steigern. Das Ardenner Pferd zum Beispiel ist die schlechteste Rasse Europas. Anstelle der Ardenner, die keine 100 Francs wert sind, werden sich auf den Ländereien der in den Ardennen gelegenen Phalangen Pferderassen tummeln, für die man heute 100 Louisdor bezahlt, und deren Lebensdauer das Doppelte beträgt.

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In Wirtschaftszweigen, in denen es uns heute unmöglich erscheint, die Erträge auch nur zu verdoppeln, wie beispielsweise beim Weinbau, bei dem keine zweite Ernte mög­ lich ist, wird es in der sozietären Ordnung gelingen, mühelos mehr als den vierfachen Ertrag zu erzielen, indem man gleichzeitig verschiedene Verfahren anwendet, nämlich: 1. Methodische und vollständige Verarbeitung der Trauben, 2. Lagerung des Weins bis zur Trinkreife, 3. Passende Beipflanzungen und tägliche Beschneidung der Weinstöcke, 4. Verbesserung der Qualität durch das klimatische Gleichgewicht, 5. Erhöhung der Quantität aufgrund derselben Ursache. In vielen Fällen wird nicht erst durch gleichzeitige Anwendung aller fünf Verfahren, sondern bereits durch eines von ihnen ein Weinberg den vierfachen Ertrag abwerfen, wie das folgende Beispiel beweist: Ich habe erlebt, dass Wein, der nach der Ernte für nicht mehr als fünf Sous verkauft wurde, nach fünf Jahren fachkundiger Lagerung dem Winzer zehn Sous einbrachte und vom Weinhändler für fünfzig Sous verkauft wurde, also für das Fünffache des tatsächli­ chen Preises einschließlich Zinsen und anderer Kosten. Doch wurde von der gesamten Weinproduktion jenes Kantons nicht einmal ein Zehntel auf diese Weise verarbeitet und gelagert. Die meisten Winzer haben es eilig zu verkaufen. Einem Wein, den man fünf Jahre lagern müsste, gibt man nicht einmal fünf Monate. Er wird bei den Armen und in den Schenken vertrunken, bevor er ein Viertel seines möglichen Werts erreicht hat. Wenn man zur Möglichkeit der Lagerung, mit der allein man den Verkaufswert be­ stimmter Weine vervierfachen kann, noch die vier anderen genannten Verbesserungs­ möglichkeiten hinzunimmt, dann ist es offensichtlich, dass die sozietäre Gesellschaft auf einem Weinberg von gleicher Fläche den zehnfachen Ertrag erwirtschaften kann. Dabei gehe ich davon aus, dass jede der fünf Maßnahmen den Ertrag im Durchschnitt verdoppelt, vor allem aber, dass jene Kälteperiode im Mai wegfällt, die Eisheilige oder gestrenge Herren genannt wird und die nicht nur das Pflanzenwachstum verzögert, son­ dern auch eine zweite Ernte verhindert und oft auch die erste in Mitleidenschaft zieht. Insgesamt bietet die Zivilisation uns das Bild einer Gesellschaft, in der zwei Drittel der Mitglieder unproduktiv sind. Ich will einige Einzelheiten aus diesem Bild heraus­ greifen: Unter die genannte Zahl fallen nicht nur die erwiesenermaßen Unproduktiven wie das Militär, die Zöllner und die Steuereintreiber, sondern ebenfalls die Mehrheit der­ jenigen, von denen es heißt, dass sie nützliche Arbeit leisten, wie die Hausangestellten und sogar die Landarbeiter, die in Wahrheit vielen überflüssigen Tätigkeiten nachgehen. So habe ich einmal fünf Kinder vier Kühe hüten gesehen, die sie zu allem Überfluss noch die Ähren abweiden ließen. In der Zivilisation begegnet einem diese Art von Unordnung auf Schritt und Tritt. Wenn man hinzunimmt, dass in der Assoziation weit weniger Menschen durch Stra­ pazen, Exzesse, waghalsige Seefahrt, Epidemien und Ansteckung zugrunde gerichtet werden, dann ergibt sich zwischen den Zivilisierten und den sozietär lebenden Völkern ein etwa zehnfacher Abstand der industriellen Leistungsfähigkeit, das heißt der Erträge, die eine bestimmte Zahl von Einwohnern auf einer gegebenen Fläche erzielt.

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In der Tat werden sich die Erträge überall schnell verzehnfachen, wenn Männer, Frauen und Kinder vom dritten Lebensjahr an bis zum Greisenalter zu ihrem Vergnügen arbeiten, wenn die handwerkliche Geschicklichkeit, die Leidenschaft, die Mechanik, die Handlungseinheit, der freie Warenverkehr, die Wiederherstellung des Klimas, die gestei­ gerte Körperkraft und Lebensdauer der Menschen und Tiere zusammengenommen die Möglichkeiten der industriellen Produktion ins Unvorstellbare erhöhen. Wenn ich nur eine Vervierfachung der Erträge voraussage, so allein aus Rücksicht auf die Gewohnheit, aus Sorge, durch Perspektiven zu schockieren, die zwar kolossal sind, zugleich jedoch äußerst genau. Verbessern wird sich vor allem das Los der Kinder, die heute unter sehr schlechten Bedingungen aufwachsen, in Hütten, Dachkammern und Hinterzimmern, die nichts von dem bieten, was für ihr Gedeihen notwendig ist. Ihre Mütter aber haben weder die Mittel noch die Leidenschaft, noch die Kenntnisse, noch das Bewusstsein, das für die Kinder­ pflege nötig ist. In großen Städten wie Paris und selbst in kleineren wie Lyon oder Rouen wachsen die Kinder in so ungesunden Verhältnissen auf, dass die Kindersterblichkeit dort acht­ mal höher ist als in ländlichen Gegenden. In bestimmten Pariser Vierteln, in denen enge Höfe den Luftaustausch behindern, herrscht erwiesenermaßen eine Luftverschmutzung, die insbesondere Kindern im ersten Lebensjahr schadet. Die Kindersterblichkeit rafft dort sieben von acht Kleinkindern dahin, bevor sie zwölf Monate alt geworden sind. In Gegenden mit gesundem Klima, wie der Normandie, liegt die Sterblichkeit in dieser Altersgruppe nur bei eins von acht. In den sozietären Phalangen wird sie kaum eins von zwanzig betragen, wobei dort, trotz günstiger Bedingungen, nicht so viele Kinder geboren werden wie in der Zivilisa­ tion. Denn selbst wenn die Erde das Vierfache, ja selbst das Zehnfache an Erträgen her­ vorbringt wie heute, wäre sie ohne die Fähigkeit der sozietären Gesellschaft, in Hinsicht auf die Bevölkerungszahl wie auch in allen anderen Bereichen des sozialen Mechanis­ mus ein Gleichgewicht herzustellen, rasch wieder mit Elenden übersät. Ich habe an einigen Einzelbeispielen gezeigt, wie gigantisch die Vorteile der Assozi­ ation sind. Eine vollständige Darstellung dieser Vorteile würde mehrere Bände füllen. Es ist ein unentschuldbares Versäumnis, dass bisher keine solche Sammlung vorgelegt wur­ de, aus der jedermann den Schluss hätte ziehen können, dass Gott in seiner Eigenschaft als oberster Ökonom es unmöglich versäumt haben kann, die Mittel bereitzustellen, um diese Ordnung der Wirtschaftlichkeit und Wahrhaftigkeit, die so mannigfaltige Wunder hervorbringt, zu verwirklichen. Gott ein solches Versäumnis zu unterstellen, heißt ihn zum Feind der Wirtschaftlichkeit und der Mechanik zu erklären. Auf solche Überlegungen pflegt man zu erwidern: Dem Menschen gebührt so viel Vollkommenheit nicht! Woher diese Gewissheit? Warum an der Weisheit Gottes verzwei­ feln, bevor man auch nur seine Absichten mittels der Berechnung der permanenten sozialen Offenbarung oder leidenschaftlichen Anziehung erforscht hat, deren Wirkungswei­ se sich nur mittels methodisch exakter Analyse und Synthese bestimmen lässt? Zu behaupten, dass ein solcher Grad an Vollkommenheit dem Menschen nicht ge­ bühre, bedeutet, Gott der Bosheit anzuklagen. Denn er verfügt über ein unfehlbares Mit­

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tel, die menschlichen Verhältnisse so zu gestalten, wie es ihm beliebt. Dieses Mittel ist die Anziehung, deren Spender Gott allein ist. Sie ist sein Zauberstab, der jede Kreatur leidenschaftlich dafür entflammt, den göttlichen Willen auszuführen. Wenn Gott also Gefallen an einer vollkommenen sozialen Ordnung fände, die zugleich eine Ordnung der sozietären Einheit, der Gerechtigkeit und der Wahrhaftigkeit wäre, würde es ihm, um diese Ordnung zu verwirklichen, genügen, sie für jeden von uns anziehend zu machen. Genau das aber hat er getan: Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die vorliegende Abhandlung über den in Leidenschaftsserien geordneten sozietären Mechanismus zu le­ sen. Ein jeder wird ausrufen: Das ist es, was ich wünsche, das wäre für mich das höchste Glück. Dem Menschen gebührt mithin die Vollkommenheit, wenn sie – was niemand be­ zweifeln kann – Gottes Wille ist. Nur weil wir von Gott zu wenig erwartet haben, haben wir den Weg der sozialen Vollkommenheit verfehlt, der mithilfe der Berechnung der Anziehung so leicht zu finden gewesen wären. Doch diese Berechnung führt zu Ergebnissen, die auf den ersten Blick absurd wirken. Sie lehrt uns, dass jeder Mensch sich ein paar Millionen und einen Palast wünscht. Wie soll man jedermann diese Wünsche erfüllen? Kurzsichtige Einwände! Wollt ihr deswegen eure Forschungen aufgeben? Treibt sie furchtlos weiter, gehorcht euren Philosophen, die euch gebieten, das Gebiet der Wissenschaft zur Gänze zu erforschen. Vollendet, was Newton begonnen hat – die Berech­ nung der Anziehung! Sie wird euch lehren, dass der, der sich Millionen und einen Palast wünscht, noch zu bescheiden ist. Denn in der sozietären Gesellschaft wird der Ärmste der Armen 500.000 Paläste zu seiner Verfügung haben, in denen er kostenlos weit mehr Vergnügen findet, als sich ein König von Frankreich mit einer Rente von 35 Millionen und einem Dutzend Palästen verschaffen kann, in denen sein Vergnügen sich darauf be­ schränkt, den Bitten um Sinekuren und dem Parteiengezänk zu lauschen, unter dem Joch der Etikette zu stehen und keine andere Erholung zu haben als die Karten oder die Jagd, die zum bloßen Gemetzel, zum Metzgervergnügen degeneriert ist. Unsere Wünsche sind zu bescheiden, das ist es, was die Berechnung der Anziehung zeigen wird. Gott hält für uns ein Glück bereit, das weit über unsere mittelmäßigen Be­ gehrlichkeiten hinausgeht. Verlangen wir viel von dem, der viel vermag! Wir beleidigen Gottes Freigiebigkeit, wenn wir von ihm mittelmäßige Reichtümer und mittelmäßige Vergnügungen erwarten. Das Schicksal des Menschengeschlechts ist entweder das gren­ zenlose Glück in der göttlichen und sozietären Ordnung oder das grenzenlose Unglück unter den von Menschen gemachten Gesetzen, im Zustand der zerstückelten und lügne­ rischen Industrie, die nicht ein Viertel der Erträge und nicht ein Vierzigstel der Genüsse hervorbringt, die uns die sozietäre Industrie verschaffen kann. In der bloßen Hoffnung, ihr Vermögen zu verdoppeln oder sich ein bescheidenes Auskommen zu erwerben, trotzen die Zivilisierten bereitwillig Strapazen, Gefahren und Schiffbrüchen. Hier aber bietet sich eine weit größere Chance: unverzüglich sein Ver­ mögen zu vervierfachen, ohne in die Fremde zu gehen, ohne das geringste gesundheit­ liche oder finanzielle Risiko einzugehen. „Wohlan! Was ist zu tun?“ höre ich es rufen. Nichts weiter, als euch von morgens bis abends zu amüsieren, denn das Amüsement wird

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euch zur Arbeit verführen und die Arbeit wird mehr Anziehungskraft haben als heute die Schauspiele und Bälle. Je blendender die Perspektiven sind, welche die sozietäre Gesellschaftsform eröff­ net, desto wichtiger ist es, sicherzustellen, dass ihre Theorie exakt ist, dass die Formel zur Berechnung der industriellen Anziehung und des Mechanismus der Leidenschaften tatsächlich gefunden wurde. Um die Menschen an diese erstaunliche Entdeckung her­ anzuführen, müssen wir sie ein wenig in die Kenntnis der Bewegung und der Bestim­ mungen einweihen, von denen behauptet wird, dass sie unerforschlich und von einem undurchdringlichen Schleier verhüllt seien. Es existiert tatsächlich ein Schleier, ja ein dichter Vorhang, der unserem Geist gänzlich die Sicht nimmt. Dieser Vorhang besteht aus 500.000 Bänden, in denen gegen die Leidenschaften und die Anziehung gewettert wird, anstatt sich ihrer Erforschung zu widmen. Mag die Anziehung auf den ersten Blick auch wie absurdes Blendwerk wirken, man darf sie nicht nach diesen Äußerlichkeiten beurteilen, sondern nur nach der Gesamtheit des Mechanismus, auf den ihre Triebkräfte zustreben, die uns schädlich vorkommen, wenn wir sie aus der Nähe beobachten. Um das nötige Vertrauen zu gewinnen, werde ich den Zweck einer dieser angeblich schädlichen Triebkräfte erklären. Ich wähle dazu eine allgemein verbreitete Neigung, die zugleich von der Erziehung erbittert bekämpft wird: die Naschhaftigkeit der Kinder, ihre Leidenschaft für Zucker­ werk, den Schulmeistern zum Trotz, die ihnen raten, das Brot und nichts als das Brot zu lieben. Was ist das für eine Natur, die den Kindern Vorlieben eingibt, die so sehr den Gebo­ ten der Vernunft widersprechen? Jedes Kind betrachtet eine Mahlzeit von trocken Brot als Strafe. Es möchte gesüßte Cremes, Milchspeisen und Zuckerwerk, Marmeladen und Kompotte, frisches und eingemachtes Obst, Limonaden, Orangeaden und Süßweine. Halten wir ausdrücklich diesen starken Geschmack für Süßes fest, der allen Kindern ei­ gen ist. Denn es geht hier darum, ein gewichtiges Urteil zu fällen. Wir müssen entschei­ den, wer Unrecht hat, Gott oder die Moral. Gott, der Spender der Anziehung, gibt allen Kindern den Geschmack für Süßigkeiten ein. Genauso gut hätte er ihnen trocken Brot und Wasser schmackhaft machen können. Damit hätte er dem Standpunkt der Moral gedient. Warum also handelt er wissentlich gegen die Gebote der zivilisierten Vernunft? Wir wollen seine Gründe darlegen. Gott lässt die Kinder an denjenigen Nahrungsmitteln Geschmack finden, die in der sozietären Ordnung am preiswertesten sind. Wenn die gesamte Weltkugel bewohnt und kultiviert ist und freier Warenverkehr ohne irgendeine Zollschranke herrscht, dann wer­ den die zuckerhaltigen Speisen, die ich genannt habe, billiger als Brot sein. Es wird Überfluss an Obst, Milchprodukten und Zucker herrschen, nicht jedoch an Brot, dessen Preis sich stark erhöhen wird, weil der Getreideanbau und die tägliche Zubereitung des Brots mühselige und wenig anziehende Arbeiten sind. Sie werden daher besser entlohnt werden müssen, als die Tätigkeiten der Obstgärtner und Konditoren. Und weil Kinder schicklicherweise, was Ernährung und Unterhalt angeht, weniger Kosten verursachen sollten als ihre Eltern, hat Gott klug gehandelt, als er Zuckerwerk und Süßigkeiten für sie anziehend machte, die in der sozietären Gesellschaftsordnung

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preiswerter sind als Brot. Was die Ernährung der Kinder angeht, sind die Gebote der Mo­ ral also schlicht falsch, und dasselbe gilt für alle anderen Fragen, in denen sie der Anzie­ hung widersprechen. Man wird erkennen, dass alles, was Gott tat, wohlgetan war, dass er gute Gründe hatte, die Kinder Geschmack an Milchprodukten, Obst und Süßigkeiten finden zu lassen. Und anstatt irrsinnigerweise 3.000 Jahre darauf zu verschwenden, ge­ gen das klügste Werk Gottes, die Ordnung der Geschmäcker und der leidenschaftlichen Anziehungen, zu wettern, hätte man besser daran getan, ihren Zweck zu erforschen, indem man das Zusammenspiel dieser Triebkräfte berechnet, welche die Moral erst von­ einander isoliert und dann verurteilt, unter dem Vorwand, dass sie in der zivilisierten und in der barbarischen Ordnung schädlich sind. Wenn Gott diese beiden Gesellschafts­ ordnungen so am Herzen gelegen hätten, dann hätte er den Kindern Liebe zu trockenem Brot eingegeben und ihren Vätern Liebe zur Armut, denn sie ist bei Zivilisierten und Barbaren das Los der erdrückenden Mehrheit. Es wird zu amüsanten und der menschlichen Eitelkeit schmeichelnden Ergebnissen führen, wenn wir uns daran machen zu untersuchen, wie und mit welchem Nutzen die verschiedenen Arten der Anziehung im sozietären Mechanismus zum Einsatz kommen. Es wird sich herausstellen, dass sie alle so richtig und klug eingerichtet sind wie die kindliche Naschhaftigkeit. Jedermann wird sich davon überzeugen können, dass selbst seine bedenklichsten Leidenschaften und Instinkte in jener neuen Ordnung einem wert­ vollen Zweck dienen werden. Gab es jemals eine für die Menschheit schmeichelhaftere Entdeckung? „Aber wie kann es sein“, so wird man einwenden, „dass eine so wertvolle Erfindung das Werk eines Unbekannten ist, eines Mannes, der keinen Ruf in der gelehrten Welt hat? Von Platon bis Voltaire haben so viele berühmte Männer das Gebiet der Wissenschaften durchforscht. Ist es möglich, dass sie die wertvollste aller Entdeckungen übersehen ha­ ben? Das kann nicht sein, diese sogenannte Formel der Anziehung und der Assoziation muss ein Schwindel sein, ein bloßes Trugbild, ein eitler Traum.“ So spricht der Hochmut. Man ist entsetzt, einen Unbekannten die Palme davontragen zu sehen, die so viele andere vor ihm hätten erringen können. Lieber leugnet man eine glückliche Entdeckung, als sie einem Eindringling zuzuerkennen. Im Übrigen schmei­ chelt es der Eigenliebe, neue Ideen schlecht zu machen. Im 15. Jahrhundert hielten sich 100.000 Pygmäen für Männer von Genie, als sie Christoph Kolumbus verhöhnten, der ihnen die Kugelform der Erde und die mögliche Existenz eines neuen Kontinents darlegte. Wie kommt es, so antworte ich diesen Verleumdern, dass eminent nützliche und na­ heliegende Erfindungen, wie der Steigbügel oder die Riemenaufhängung der Kutschen, zwanzig gelehrten Jahrhunderten entgangen sind? Es fehlte in Rom und in Athen nicht an guten Mechanikern, die in der Lage gewesen wären, diese einfachen Entdeckungen zu machen. Jeder Stellmacher hätte die Riemenaufhängung und jeder Reiter den Steigbügel erfinden können, Dinge, die schmerzlich vermisst wurden, da alle Welt per Wagen oder Pferd reist. Die Reisewagen von Cäsar und Perikles holperten einher wie unsere Karren. Die römischen Reiter litten unter schweren Krankheiten, denen die Benutzung von Steig­ bügeln vorgebeugt hätte. Stattdessen stellte man längs der Straßen in gewissen Abständen Marksteine auf, um den Reitern den Wiederaufstieg auf ihr Pferd zu erleichtern.

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Kann es angesichts dieser Zerstreutheit der gelehrten Antike bei zwei Erfindungen, die jeder Einfaltspinsel hätte machen können, noch erstaunen, das eine umfassende und spektakuläre Theorie wie die der leidenschaftlichen Anziehung von der gelehrten Welt übersehen wurde? Zudem besitzen wir ihren Keim erst seit hundert Jahren, seit Newton darauf gestoßen ist. Nun, wenn man zweitausend Jahre lang so einfache Erfindungen wie die Riemenaufhängung der Kutschen und den Steigbügel übersieht, kann man sich wohl im Hinblick auf transzendente Fragen wie die der Anziehung hundert Jahre Unaufmerk­ samkeit leisten. Heute, wo die Anziehung berechnet und methodisch dargestellt ist, ist sie leicht zu begreifen. Doch ihre Erforschung war für die Gelehrten schwieriger als für gewöhnliche Menschen, weil die gelehrte Welt ganz und gar von jener Moral genannten Doktrin durchtränkt ist, die der Todfeind der leidenschaftlichen Anziehung ist. Die Moral lehrt den Menschen, gegen sich selbst Krieg zu führen, seinen Leiden­ schaften zu widerstehen, sie zu unterdrücken und zu verachten, zu glauben, dass Gott nicht fähig war, unsere Seelen und unsere Leidenschaften klug zu organisieren. Sie lehrt, dass Gott bei Platon und Seneca in die Schule gehen musste, um zu lernen, wie man die Charaktere und Instinkte richtig ordnet. Derart überzeugt von der Unzulänglichkeit Got­ tes, war die gelehrte Welt unfähig, die natürlichen Triebkräfte oder leidenschaftlichen Anziehungen zu berechnen, die von der Moral geächtet und in den Rang von Lastern verwiesen werden. In der Tat reißen uns diese Triebkräfte zum Bösen hin, wenn wir uns ihnen als Individuen überlassen. Doch muss man ihr Zusammenspiel in einer sozietär organisierten Gemeinschaft von etwa 2.000 Personen berechnen und nicht in einzel­ nen Familien oder Individuen. Auf diesen Gedanken ist die gelehrte Welt jedoch nicht gekommen. Denn sonst hätte sie erkannt, dass, von einer Zahl von 1.600 Sozietären an, die natürlichen Triebkräfte, die wir als Anziehungen bezeichnen, auf die Bildung kont­ rastierender Serien und Gruppen hinwirken, innerhalb derer eine allgemeine Bewegung hin zur anziehend gewordenen Industrie und zur lukrativ gewordenen Tugend herrscht. Wenn man diesen Mechanismus betrachtet oder auch nur seine Funktionsweise berech­ net, dann beginnt man zu begreifen, dass alles, was Gott tat, wohlgetan war, und dass man, anstatt törichterweise drei Jahrtausende damit zu verschwenden, die von Gott ge­ schaffene Anziehung zu verteufeln, besser daran getan hätte, sie, wie ich, 30 Jahre lang zu studieren. Die Wissenschaften sollten ihre eigenen Gebote beherzigen: die Natur zur Gänze zu erforschen, den Menschen, das Universum und Gott zu studieren. Anstatt die auf den Menschen wirkenden Anziehungskräfte im Detail zu kritisieren, hätten sie lie­ ber ihren Gesamtzusammenhang und ihre Anwendung auf große Massen von Menschen studieren sollen. Die Anziehung ist der Antrieb des Menschen, die Kraft, mit deren Hilfe Gott das Universum und den Menschen bewegt. Man kann daher den Menschen, das Universum und Gott nur studieren, indem man die Anziehung in allen ihren Erscheinungsformen, in den Leidenschaften ebenso wie in der Materie studiert. Endlich ist die Zerstreutheit der Wissenschaft überwunden, die Formel der leiden­ schaftlichen Anziehung entdeckt, und die Welt kann unverzüglich in einen Zustand des Glücks übergehen. Sie sollte in dieser Situation ausschließlich bestrebt sein, die Rich­ tigkeit der Theorie zu überprüfen und nicht, deren Erfinder in einen Streit um Formalien zu verwickeln. Es ist der Inhalt, den es zu prüfen gilt. Mit den falschen Propheten der

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Assoziation hat man zu lange Nachsicht gehabt. Der wahre Erfinder verlangt für sich nur Gerechtigkeit. Die falschen Propheten haben in den letzten zwanzig Jahren die Mittel zu­ sammengebracht, um in England und Amerika zwanzig Gemeinschaften zu gründen, die ihr Ziel vollständig verfehlt haben. Der Erfinder möchte nur eine Gemeinschaft einrich­ ten, die innerhalb von zwei Monaten dieses Ziel erreichen wird und, durch die Aussicht auf Gewinn und Vergnügen, zur allgemeinen Nachahmung anregt. Doch dieser Erfinder hat das Pech, nicht mit gewissen einflussreichen Wissenschaf­ ten einer Meinung zu sein. Nun, wenn ich mir die Ansichten der politischen und mora­ lischen Wissenschaften zu eigen machen würde, wäre ich bloß ein Sophist unter vielen. Galileo, Kolumbus, Kopernikus, Newton, Linné straften ihre Zeitgenossen Lügen. Der Erfinder hat die Pflicht, den herrschenden Irrtümern zu widersprechen. Der falsche Pro­ phet schmeichelt den Sophisten, um die Leute zu betrügen. Wem von beiden sollte man vertrauen? Es heißt, dass die Geschichte die Völker aufklärt und ihren Verstand läutert. Nichts ist falscher, denn heute stehen die Menschen jeglichen Neuerungen noch feindlicher gegenüber als zu Zeiten Galileis. Hundert Mal hat ihnen die Geschichte gezeigt, dass große Entdeckungen weit öfter dem Spiel des Zufalls zu verdanken sind als den Gedan­ kenflügen des Genies; dass man Genie und gesunden Menschenverstand nur selten bei den Intellektuellen findet, die Gewohnheitsmenschen sind und wenig empfänglich für neue Ideen. Ungeachtet dieser Lehren aus Geschichte und Erfahrung verlangt man von einem Erfinder akademische Manieren und akademischen Stil. Wurden die Brille und der Kom­ pass etwa von Akademikern entdeckt? Sie wurden von Kindern und Leuten erfunden, die so unbekannt waren, dass nicht einmal ihr Name überliefert ist. Wenn euch ein Schatz vor die Füße gelegt wird, greift zu, statt Prozesse gegen den­ jenigen anzustrengen, der ihn gefunden hat. Warum wollt ihr ihn wegen seiner Manieren und seines Stils schelten? Und wenn er Dialekt spricht, was macht das aus? Hat seine Erfindung dadurch weniger Wert? Ihr Kritikaster, die ihr behauptet, dass ein Erfinder Akademiker sein muss, was haben die modernen Nationen von eurer Geschwätzigkeit gehabt?

Teil I Analyse der leidenschaftlichen Anziehung Notiz I Grundlegende Bemerkungen zu den Leidenschaftsserien Kapitel I Von den drei Zielen der Anziehung und ihren zwölf Triebfedern oder Grundleidenschaften Die leidenschaftliche Anziehung ist diejenige Triebkraft, die von Natur aus dem bewuss­ ten Denken vorausgeht und die trotz des Einspruchs der Vernunft, der Pflicht, der Vorur­

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teile usw. wirksam bleibt. Die leidenschaftliche Anziehung hat die Menschen immer und überall nach drei Zielen streben lassen: 1. nach Luxus oder dem Vergnügen der fünf Sinne, 2. nach der Bildung von Gruppen und Serien von Gruppen sowie nach affektiven Bin­ dungen, 3. nach dem mechanischen Ineinandergreifen der Leidenschaften, Charaktere und In­ stinkte und damit nach universeller Einheit. 1. Ziel: Der Luxus. Er umfasst alle sinnlichen Vergnügen. Indem wir nach den sinnlichen Vergnügen verlangen, wünschen wir uns zugleich Gesundheit und Reichtum, welche die Voraussetzungen für die sinnliche Befriedigung sind. Wir wünschen uns sowohl inneren Luxus, das heißt körperliche Rüstigkeit und scharfe und kräftige Sinne, als auch äußeren Luxus, das heißt Geldvermögen. Beides ist notwendig, um das erste Ziel der leiden­ schaftlichen Anziehung zu erreichen, die Befriedigung der fünf sinnlichen Triebfedern: Geschmackssinn, Tastsinn, Gesichtssinn, Gehör, Geruchssinn. Die Analyse der Sinne ist eine völlig neue Wissenschaft. Wir kennen bisher nicht einmal die Stufung der einzelnen Sinnesvermögen und die sieben Grade, in denen sie zum Einsatz kommen. 2. Ziel: Die Bildung von Gruppen und Serien. Die Anziehung lässt uns danach stre­ ben, vier Arten von Gruppen zu bilden:

DUR

MOLL

Bezeichnung

Typ

Gruppe der Freundschaft

Kreis

Gruppe des Ehrgeizes, korporative Bindung

Hyperbel

Gruppe der Liebe

Ellipse

Gruppe der Elternschaft oder Familie

Parabel

Alle Gruppen, die freiwillig und aus Leidenschaft gebildet werden, lassen sich einer dieser vier Arten zuordnen. Sobald eine Gruppe eine bestimmte Stärke erreicht hat, teilt sie sich in Untergruppen auf, die eine nach Meinungs­ und Geschmacksnuancen gestaffelte Serie von Parteien bilden. Schon in einer kleinen Gruppe von sieben Personen lässt sich diese Serienbil­ dung beobachten. Nach einigen Tagen gemeinsamer Tätigkeit werden sich innerhalb der Gruppe drei Nuancen oder Parteien von zwei, drei und zwei Personen herausgebildet haben. Wenn die Gruppe auf zwanzig Individuen wächst, werden sich dort rasch fünf, sechs oder sieben Meinungs­ und Geschmacksnuancen manifestieren. Damit ist offensichtlich, dass Gruppen immer danach streben, sich zu einer Serie oder Stufung unterschiedlicher Gattungen und Arten zu formieren, und dass die Bildung von

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Gruppenserien das zweite Ziel ist, nach dem uns die Anziehung sowohl im sinnlichen wie seelischen Bereich streben lässt. So verlangt das Gehör beispielsweise bei musika­ lischen Akkorden eine Serie von drei Gruppen, nämlich Ober­, Mittel­ und Bassstimme und darüber hinaus eine Serie von Instrumenten in jeweils unterschiedlicher Anzahl. Das Gleiche gilt für alle sinnlichen Vergnügen. Jedes von ihnen lässt sich nur dann voll­ ständig befriedigen, wenn es in Serien von Gruppen unterteilt ist. Überall dort, wo Ver­ gnügen und Arbeit nicht in Serien organisiert sind und keine Möglichkeit zur weiteren Staffelung der Serien besteht, herrscht Kleinlichkeit und Armut. Der Schöpfer muss von der Notwendigkeit der Gruppen und Serien überzeugt gewe­ sen sein, da er alle Reiche der Natur nach diesem Prinzip geordnet hat. Die Naturforscher können sie nur nach Gruppen und Serien klassifizieren. Warum ist bisher niemand auf den Gedanken gekommen, diese Klassifikation auf die Leidenschaften zu übertragen? 3. Ziel: Das mechanische Ineinandergreifen der Leidenschaften oder der Gruppen­ serien bzw. das Streben, die fünf sinnlichen Triebfedern, 1. Geschmack, 2. Tastsinn, 3. Gesichtssinn, 4. Gehör, 5. Geruchssinn, mit den vier affektiven Triebfedern in Einklang zu bringen. Ihr Zusammenklang wird vermittels dreier Leidenschaften hergestellt, die wenig erforscht sind und in schlechtem Ruf stehen. Ich werde diese drei Leidenschaften 10. la cabaliste oder die Streitlust, 11. la papillonne oder die Flatterlust, 12. la composite oder die Bindungslust nennen. Ihre Aufgabe ist es, die Harmonie der Leidenschaften im inneren und äußeren Zusammenspiel herzustellen. Inneres Zusammenspiel: Jeder Mensch möchte im Spiel seiner Leidenschaften ein Gleichgewicht herbeiführen, in dem die freie Entfaltung einer Leidenschaft zugleich die freie Entfaltung aller anderen fördert. Er wünscht sich, vom Ehrgeiz und von der Liebe stets zu erfolgreichen Verbindungen geführt und nicht betrogen zu werden, dass die Schlemmerei der Gesundheit förderlich ist, statt ihr zu schaden, und schließlich, dass man stets auf den Wegen des Glücks und der Gesundheit wandelt, wenn man sich blind seinen Leidenschaften überlässt. Die Tiere erfreuen sich dieser Art des Gleichgewichts, das darauf beruht, sich gedankenlos der Natur zu überlassen. Dem zivilisierten, barbari­ schen und wilden Menschen bleibt es hingegen verwehrt. Die Leidenschaft führt das Tier zum Heil, den Menschen ins Verderben. Daher befindet sich der heutige Mensch mit sich selbst im Kriegszustand. Seine Lei­ denschaften prallen feindlich aufeinander: Der Ehrgeiz durchkreuzt die Liebe, die elter­ lichen Gefühle stehen der Freundschaft im Weg, und so geht es mit jeder der zwölf Leidenschaften. Aus diesem Konflikt entsteht jene Wissenschaft, die wir Moral nennen und die den Leidenschaften Zügel anlegen will. Doch zügeln heißt nicht, ein mechanisches Zusam­ menspiel herstellen, harmonisieren. Unser Ziel ist es, zu einem zwanglosen mechani­ schen Zusammenspiel der Leidenschaften zu gelangen, ohne auch nur eine einzige zu unterdrücken. Das wäre ein absurder Gott, der unsere Seele mit unnützen oder schädli­ chen Triebfedern ausgestattet hätte. Äußeres Zusammenspiel: Ein geordnetes äußeres Zusammenspiel der Leidenschaf­ ten bedeutet, dass jedes Individuum, wenn es seine persönlichen Interessen verfolgt, stets auch den Interessen der Gemeinschaft dient. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Der

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Mechanismus der Zivilisation ist ein Krieg des Individuums gegen die Gemeinschaft, eine Gesellschaftsordnung, in der jedermann Vorteil daraus zieht, die Öffentlichkeit zu betrügen. In der Zivilisation herrscht Missklang im äußeren Zusammenspiel der Leiden­ schaften. Es gilt jedoch, ihre innere und äußere Harmonie herzustellen. Dies ist das dritte Ziel der Anziehung. Um dieses Ziel zu erreichen, greift man gewöhnlicherweise auf Zwangsmittel zurück. Jeder erlegt denjenigen, über die er Macht hat, seine Gesetze auf, die er Gebote der Vernunft nennt. Der Familienvater unterwirft seine Frau und seine Kinder einem Regiment, das er als weise bezeichnet. Der Landesherr macht die Gebote seiner Vernunft in seinem Herrschaftsgebiet zum Gesetz. Obrigkeit und Minister tun dasselbe in Hinsicht auf das Land, das sie regieren. Eine modeinteressierte Dame will durch ihre Gebote des guten Geschmacks die gesamte Modewelt reformieren. Ein Philosoph will alle Verfassungen reformieren. Ein Schulmeister prügelt den Kindern mit Faustschlägen seine Gebote der Vernunft ein. Jedermann will also die Leidenschaften der Gemeinschaft in Harmonie mit den ei­ genen bringen. So versucht er, ein äußeres mechanisches Zusammenwirken der Lei­ denschaften zu erzwingen, und redet sich dabei ein, dass er denjenigen, die er seinen Launen unterwirft, zu ihrem Glück verhilft. Genauso wünscht sich jedermann das innere mechanische Zusammenwirken der Leidenschaften, durch das seine Leidenschaften un­ tereinander harmonisiert werden. Daraus folgt, dass das dritte Ziel der Anziehung das innere und äußere mechanische Zusammenwirken der Leidenschaften ist. Dieser Mechanismus muss von der zehnten, elften und zwölften Leidenschaft ge­ steuert werden, welche man als die ordnenden oder mechanisierenden Leidenschaften bezeichnen kann. Ich habe für jede dieser drei Leidenschaften drei spezielle Bezeichnungen gewählt, damit spitzfindige Leser die Auswahl haben. 10. die Streitlust, intrigant, spaltend; 11. die Flatterlust, wechselhaft, kontrastierend; 12. die Bindungslust, begeisternd, verzahnend. Ich werde weiter unten Definitionen dieser drei völlig verkannten Leidenschaften geben, die das Spiel der Leidenschaftsserien lenken. Jede Serie, in der die drei mechanisieren­ den Leidenschaften keinen freien Lauf haben, ist fehlerhaft. In der Zivilisation gelten diese Leidenschaften als Laster. Die Philosophen behaup­ ten, dass die Streitlust ein Übel ist, da alle Menschen gleicher Gesinnung und Brüder sein sollten. Ebenso verdammen sie die Flatterlust, das Bedürfnis nach Abwechslung der Genüsse, den Drang von Vergnügen zu Vergnügen zu flattern. Nicht weniger verurteilen sie die Bindungslust, den Drang, gleichzeitig zwei Vergnügen zu kosten, deren Verbin­ dung die Trunkenheit zur Begeisterung steigert. Diese drei Leidenschaften, die als Laster tituliert werden, obwohl jedermann ihnen verfallen ist, sind in der Zivilisation, wo sie nur innerhalb der Familien und Korporationen wirken können, tatsächlich Quellen des Lasters. Gott hat sie geschaffen, um in Serien

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und kontrastierenden Gruppen zu wirken. Sie streben danach, sich in dieser Form anzu­ ordnen und bringen in jeder anderen Ordnung nur Übel hervor. Unter den zwölf Grundleidenschaften kommt ihnen die leitende Funktion zu, ihnen obliegt die Führung der neun anderen. Aus ihrem Zusammenwirken entsteht die wahre Weisheit oder das Gleichgewicht der Leidenschaften, indem sie die Vergnügen gegenei­ nander austarieren. Das Ziel der zwölf Leidenschaften ist die Einheit der Handlung. Besonders stark ausgeprägt ist der Drang nach Einheit, den ich als Einheitslust be­ zeichnen werde, bei Eroberern und Philosophen. Die Eroberer träumen von einer Einheit, die durch Schrecken und universelle Un­ terwerfung erzwungen wird, und es gelingt ihnen, sie partiell herzustellen: Dies ist die verkehrte, die vergewaltigte Einheit. Die Philosophen träumen von der unmittelbaren und spontanen Einheit, der univer­ sellen Menschenliebe oder der Brüderschaft aller Völker, der imaginären Föderation. So träumt jeder auf seine Art von der Einheit, die einen im Großen, die anderen im Kleinen. Jede Nation träumt davon, dass die ganze Welt ihre Sprache spricht. Die Zivi­ lisierten finden mehr Geschmack an der Einheit als die Barbaren. Sie wollen beispiels­ weise durch weltweite Anwendung der Quarantäne die Ausbreitung von Krankheiten ver­ hindern. Sie haben eine starke Neigung zu jener Kernleidenschaft, die ich Einheitslust getauft habe und die sich zu den zwölf anderen Leidenschaften so verhält wie Weiß zu den Farben des Prismas. Die sozietäre Ordnung wird auf einen Schlag alle vorstellbaren Einheiten verwirkli­ chen, nützliche, wie die der Quarantäne, der Sprachen, des Meridians, ebenso wie sol­ che, die dem Vergnügen dienen, wie die Einheitlichkeit des Kammertons und andere Bagatellen. Dies wird unter anderem zur Ausrottung der nichterblichen Krankheiten, der Seuchen und Epidemien, der Blattern, Krätze und Syphilis und anderer nichtendemi­ scher Viren führen. Fassen wir zusammen: Die Anziehung hat drei Ziele oder Brennpunkte. Mithilfe von zwölf Treibstacheln oder Grundleidenschaften, fünf sinnlichen, vier affektiven und drei mechanisierenden, lenkt sie uns zu diesen hin. Wir müssen von jetzt an konsequent darauf achten, die Anziehung von der Pflicht zu unterscheiden. So hat beispielsweise kein Gesetzgeber das Abendessen zur Pflicht gemacht, denn, weil es ein natürliches Bedürfnis ist, das heißt Anziehung auf uns ausübt, werden wir es niemals versäumen. Lassen wir als Anziehung nur solche unveränderli­ chen natürlichen Regungen gelten wie das Bedürfnis nach einer Mahlzeit, das allen Dogmen und Pflichten trotzt, die ihm entgegenstehen mögen. Jede Theorie der Pflicht, der Moral und der geistigen Galeere führt nur dazu, dass wir uns über die Triebfedern und Ziele der Anziehung täuschen.

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Kapitel II Allgemeine Bemerkungen über die Leidenschaftsserien Die Assoziation zu verwirklichen bedeutet, eine Gemeinschaft oder Phalanx von Leiden­ schaftsserien zu formieren und harmonisch zu entfalten, in denen vollständige Freiheit herrscht, die allein von der Anziehung bewegt werden und die sich den sieben industri­ ellen Tätigkeiten und den Vergnügen widmen. Unsere Untersuchung wird sich deshalb hier auf zwei Punkte beschränken: zum ei­ nen auf die innere Anordnung einer Serie und ihrer Gruppen und Untergruppen; zum an­ deren auf die Anordnung der Serien im Verhältnis zueinander, das heißt auf ihr spontanes Ineinandergreifen und Zusammenwirken im Rahmen einer sozietären Phalanx und der benachbarten Phalangen. Die Natur verwendet überall im Universum zu Serien angeordnete Gruppen: In ihren drei Reichen, dem Tierreich, dem Pflanzenreich und dem Reich der Mineralien erkennen wir überall Gruppenserien. Selbst die Planeten bilden eine Serie, deren Ordnung noch vollkommener ist als die der natürlichen Reiche. Die drei Reiche der Natur bestehen aus einfachen oder freien Serien (der Begriff frei bedeutet hier, dass sie eine unbegrenzte An­ zahl von Gruppen bilden). Die Planeten sind in zusammengesetzten oder ausgeglichenen Serien angeordnet, eine Ordnung, die vollkommener ist als die einfache und die von den Astronomen und Geometern bisher übersehen wurde. Deshalb gelingt es ihnen nicht, die Ursachen für die Anordnung der Sterne zu erklären oder begreiflich zu machen, warum Gott den Planeten eine bestimmte Anzahl von Monden zugeteilt hat, warum dem einen Planeten einen Ring, dem anderen nicht, usw. Eine Leidenschaftsserie ist ein Zusammenschluss verschiedener Gruppen, die in aufsteigender und absteigender Reihenfolge gestaffelt sind und die einander durch ihre gemeinsame Vorliebe für eine bestimmte Tätigkeit, wie beispielsweise den Anbau einer bestimmten Frucht, leidenschaftlich verbunden sind. Die Serie stellt für die unterschied­ lichen Arbeiten, die in ihren Tätigkeitsbereich fallen, jeweils eine spezielle Gruppe ab. Wenn sie Hyazinthen oder Kartoffeln anbaut, dann entspricht die Anzahl ihrer Gruppen der Zahl der unterschiedlichen Hyazinthen­ oder Kartoffelsorten, die auf ihren Länderei­ en wachsen. Die Verteilung der Mitglieder auf die einzelnen Gruppen muss durch die Anziehung reguliert werden. Sie müssen sich aus Leidenschaft zu den verschiedenen Arbeiten zu­ sammenfinden, ohne dass man auf �ilfsmittel wie Notwendigkeit, Moral, Vernunft, Pflicht oder Zwang zurückgreift, um sie anzuwerben. Wenn eine Serie nicht methodisch nach Leidenschaften angeordnet wird, dann fehlen ihr auch die für die geometrisch exakte Verteilung der Gewinne notwendigen Eigen­ schaften. So mangelt es ihr an jener grundlegenden Eigenschaft, die in der Formel aus­ gedrückt werden kann: Die Wirksamkeit der äußeren Gruppen entspricht der doppelten Wirksamkeit der mittleren Gruppe. Eine solche Serie wäre als Teil einer sozietären Pha­ lanx ungeeignet. Eine isoliert agierende Leidenschaftsserie wird keinen Erfolg haben, wie wohlgeord­ net sie in sich auch sein mag. Es wäre sinnlos, wollte man versuchen, in einer Stadt eine

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Serie zu formieren, die sich einer erfreulichen Arbeit widmet, wie beispielsweise der Zucht von Blumen oder Ziervögeln. Notwendig ist eine Mindestzahl von 45 bis 50 me­ chanisch ineinandergreifenden, verzahnten Serien. Dies ist die kleinstmögliche Anzahl, mit der man den Versuch einer Annäherung an die sozietäre Bindung und die industrielle Anziehung unternehmen kann. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass im Mechanismus der Leidenschaftsserien der Missklang ebenso notwendig ist wie der Einklang. Er macht sich die Verschiedenheit der Charaktere, Geschmäcker und Instinkte ebenso zunutze wie die Unterschiede der Vermögensverhältnisse, des Ehrgeizes, des Verstandes usw. Eine Serie lebt vor allem von der kontrastierenden und gestaffelten Verschiedenartigkeit ihrer Mitglieder. Um zu funktionieren, braucht sie ebenso viele Gegensätze und Antipathien wie Übereinstim­ mungen und Sympathien. So wie man in der Musik nur dann einen Akkord erhält, wenn man ebenso viele Noten weglässt wie anschlägt. Missklänge spielen in den Leidenschaftsserien eine unverzichtbare Rolle. So muss dort jede Gruppe in voller Antipathie gegen ihre beiden unmittelbaren Nachbarn und in gradueller Antipathie gegen ihre mittelbaren Nachbarn stehen – so wie die Töne einer Tonleiter stets dissonant mit den beiden ihnen unmittelbar benachbarten Tönen sind: Re ist dissonant mit Do und Mi. Über die geometrisch exakte Verteilung der Gewinne hinaus hat ein Zusammen­ schluss von Leidenschaftsserien weitere Eigenschaften, die in hohem Maße zur sozialen Harmonie beitragen, darunter Wetteifer, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, unmittelbarer Einklang, mittelbarer Einklang, Einheit. Der Wetteifer, sorgt dafür, dass bei jedem Erzeugnis höchste Qualität und Quantität erreicht werden. Durch die Gerechtigkeit werden jedem seine Wünsche nach gesellschaftlichem Auf­ stieg, Lob und Unterstützung erfüllt. Die Ehrlichkeit wird aus Leidenschaft praktiziert und ist darüber hinaus aufgrund der Unmöglichkeit der Lüge notwendig. Der unmittelbare Einklang entsteht durch das Bündnis der Übereinstimmungen und Kontraste. Der mittelbare Einklang oder die Absorption individueller Antipathien entsteht durch kollektive Affinitäten. Die Einheit der Handlung entsteht aus dem einheitsstiftenden Zusammenwirken aller Serien. Die zivilisierte Gesellschaftsordnung weist exakt entgegengesetzte Eigenschaften auf: Gleichgültigkeit, Ungerechtigkeit, Betrügerei, Zwietracht, Doppelgesichtigkeit. Der Mechanismus der Leidenschaftsserien beruht niemals auf Illusionen. Seine Triebfedern üben eine tatsächliche Attraktion aus und vereinigen in sich normalerweise vier Reize: zwei sinnliche und zwei seelische Reize, mindestens aber ein sinnliches und ein geistiges Vergnügen oder zwei geistige Vergnügen im Falle von Tätigkeiten, die kein sinnliches Vergnügen gewähren. Eine Leidenschaftsserie ist nur dann wohlgeordnet und entwickelt die genannten Ei­ genschaften, wenn sie drei Bedingungen erfüllt:

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1. Dichte, das heißt Vergleichbarkeit der von benachbarten Gruppen angebauten Sor­ ten. Sieben Gruppen, die sieben völlig unterschiedliche Birnen anbauen, wie die weiße Butterbirne, Junker Hans, Russelet, Besi, Trockener Martin, Perle und Williams Christ, können zusammen keine Leidenschaftsserie bilden. Zwischen diesen Gruppen würde weder Sympathie noch Antipathie, weder Rivalität noch Wetteifer aufkommen, da den angebauten Sorten die Vergleichbarkeit oder Dichte fehlt, die beispielsweise zwischen der weißen, grauen und grünen Butterbirne besteht. Zwischen ihnen könnte sich die Streitlust nicht entfalten, die eine der drei Leidenschaften ist, die zur Steuerung einer Leidenschaftsserie notwendig sind. 2. Kurze Arbeitssitzungen von längstens zwei Stunden Dauer. Ohne diese zeitliche Begrenzung wäre es unmöglich, dass ein Individuum sich in bis zu dreißig Serien enga­ giert. Ohne diese Voraussetzung würde aber weder die Harmonie der Verteilung noch der Mechanismus der industriellen Anziehung funktionieren. Ausgedehnte Arbeitssitzungen würden die Entfaltung der Flatterlust genannten Leidenschaft hemmen, den Drang, von Vergnügen zu Vergnügen zu flattern, der ebenfalls zu den Leidenschaften gehört, die zur Steuerung einer Leidenschaftsserie notwendig sind, und der jede exzessive Verausga­ bung verhindert, indem er zu jeder Stunde des Tages doppeltes Vergnügen in Aussicht stellt. 3. Parzellierte Arbeit: Die Arbeit des Einzelnen sollte sich auf einen umgrenzten Be­ reich von Tätigkeiten beschränken. Wenn zum Züchten der Moosrose fünf oder sechs unterschiedliche Tätigkeiten gehören, sollte die verantwortliche Gruppe fünf oder sechs Untergruppen bilden, die diese Tätigkeiten entsprechend ihren jeweiligen Vorlieben übernehmen. Das in der Zivilisation übliche Verfahren, das den Menschen dazu zwingt, alle zu einer Arbeit gehörigen Tätigkeiten zu übernehmen, hemmt das Spiel der Bindungslust, jener begeisternden Leidenschaft, die ebenfalls zur Steuerung einer Leiden­ schaftsserie notwendig ist. Fassen wir zusammen: Der Mechanismus der Serien lässt sich auf eine präzise und unveränderliche Regel zurückführen, die vorschreibt, die drei ordnenden Leidenschaften Streitlust, Flatterlust und Bindungslust durch den Einsatz von drei Methoden zur Entfal­ tung zu bringen: Dichte, kurze Arbeitssitzungen und parzellierte Arbeit. Diese drei Me­ thoden aber sind nichts anderes als die Leidenschaften selbst, als die natürliche Wirkung der Leidenschaften. Ich werde diese Regel in eigenen Kapiteln genauer darstellen. Es schien mir jedoch ratsam, sie gleich zu Beginn dieser Abhandlung aufzustellen, um deutlich zu machen, dass die Theorie der industriellen Anziehung und der Harmonie der Leidenschaften kei­ ne ungewissen und zufälligen Elemente enthält. Im Endeffekt geht es darum, den zwölf Grundleidenschaften freien Lauf zu gewähren. Gelingt dies nicht, herrscht Unterdrü­ ckung statt Harmonie. Die zwölf Leidenschaften streben danach, Serien zu bilden, in denen die beiden Klassen der sinnlichen und affektiven Leidenschaften von der Klasse der mechanisierenden Leidenschaften gesteuert werden. Es bleibt also noch zu untersu­ chen, ob es gelingen kann, in Serien von Gruppen, in denen die drei mechanisierenden Leidenschaften freien Lauf haben, die neun anderen Leidenschaften ebenfalls zur vollen Entfaltung zu bringen, ohne dass es zu Konflikten kommt. Wenn dies gelingt und bei

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jedem Individuum alle zwölf Leidenschaften voll entwickelt und befriedigt sind, dann hätte jedermann sein Glück gefunden, das ja in der vollständigen Entfaltung der Leiden­ schaften besteht. Diese Lehre, die allen Systemen der Zivilisation widerspricht, ist die einzige Theorie, die mit dem Willen der Natur, mit den mutmaßlichen Absichten Gottes übereinstimmt. Denn Gott, es muss noch einmal wiederholt werden, wäre ein unfähiger Mechaniker, wenn er unsere Leidenschaften nur deshalb geschaffen hätte, damit die Lei­ denschaften der Starken die Leidenschaften der Schwachen unterdrücken könnten, wie es die zivilisierte und die barbarische Methode vorsieht. In der von mir vorgeschlagenen Methode wird man keine einzige Triebfeder finden, die etwa meiner eigenen Erfindung entstammt. Ich setze nur drei der zwölf Leidenschaf­ ten zur Steuerung des ganzen Ensembles ein, das ich auf die beste und wirtschaftlichste Art und Weise organisiere, nämlich in Serien von Gruppen. Diese Organisationsform entspricht dem einmütigen Wunsch des menschlichen Herzens und ist diejenige Ord­ nung, der das gesamte System der uns bekannten Natur folgt. Kapitel III Einzelheiten zur Verteilung der Mitglieder der Leidenschaftsserien Mit dem Ausdruck Gruppe bezeichnen wir jede beliebige Ansammlung von Menschen, selbst wenn es sich nur um eine Schar von Nichtstuern handelt, von leidenschafts­ und ziellosen Leuten, die nur die Langeweile zusammengeführt hat, leere Geister, die damit beschäftigt sind, die Zeit totzuschlagen und auf Neuigkeiten zu warten. In der Theo­ rie der Leidenschaften versteht man unter einer Gruppe eine Anzahl von Personen, die miteinander durch eine gemeinsame Vorliebe für die von ihnen ausgeübte Tätigkeit ver­ bunden sind. Drei Männer gehen gemeinsam zum Abendessen: Man serviert ihnen eine Suppe, die zweien von ihnen schmeckt, dem dritten jedoch nicht. In diesem Moment bilden sie keine Gruppe, da zwischen ihnen in Hinsicht auf ihre augenblickliche Tätig­ keit ein Missklang besteht. In ihrer Leidenschaft für die aufgetragene Suppe stimmen sie nicht überein. Die beiden, denen die Suppe mundet, bilden eine falsche Gruppe. Eine echte Gruppe, in der ein Gleichgewicht der Leidenschaften möglich ist, muss mindestens drei Personen umfassen und wie eine Waage konstruiert sein, in der drei Kräfte wirksam sind, deren mittlere das Gleichgewicht zwischen den beiden äußeren hält. Kurz, von einer Gruppe kann man nur dann sprechen, wenn es sich um mindestens drei Personen handelt, deren Geschmack für eine ausgeübte Tätigkeit übereinstimmt. Man wendet ein: „Es mag sein, dass zwischen den drei Männern ein Missklang hin­ sichtlich einer Kleinigkeit besteht, nämlich der Suppe. Über das Wesentliche ihres Zusam­ mentreffens sind sie jedoch einig, nämlich über ihre Freundschaft. Sie sind Herzensfreun­ de.“ In diesem Fall ist die Gruppe mangelhaft, denn sie ist einfach, das heißt, sie ist auf ein seelisches Band beschränkt. Damit aus ihr eine zusammengesetzte Gruppe wird, muss man dem seelischen ein sinnliches Band hinzufügen, eine Suppe, die allen dreien mundet. „Unsinn! Wenn sie sich bei der Suppe nicht einig werden, dann bei den anderen Gängen. Übrigens gibt es zwischen den drei Männern in Wirklichkeit noch ein weiteres

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Band. Sie sind nicht nur Freunde, sondern bilden einen Geheimbund, der sich zum Essen getroffen hat, um eine Wahlintrige einzufädeln. Bitte, da haben Sie Ihr doppeltes Band, das zusammengesetzte Band, das Sie fordern.“ In diesem Fall handelt es sich jedoch um eine unreine zusammengesetzte Gruppe, die von zwei seelischen Banden zusammengehalten wird. Eine reine zusammengesetzte Gruppe muss sowohl von einem seelischen wie von einem sinnlichen Band zusammen­ gehalten werden und darf kein Schisma enthalten. In unserem Falle beginnt das Abend­ essen mit einem Schisma über der Suppe und damit handelt es sich trotz des doppelten Bandes um eine falsche Gruppe. Noch schwieriger wird es bei Brot und Wein. Die Tischgenossen A, B und C haben beim Brot völlig entgegengesetzte Geschmäcker. So haben sie zum Beispiel ganz unter­ schiedliche Vorlieben, was den Salzgehalt des Brotes betrifft: A mag das Brot sehr salzig, B bevorzugt mäßig gesalzenes Brot und C möchte seines nur schwach gesalzen. Nach zivilisiertem Brauch serviert man ihnen jedoch nur eine Sorte Brot. Dabei bräuchten sie mindestens neun Sorten: drei Abstufungen des Salzgehalts, drei der Durchsäuerung und drei der Backzeit. Diese neun Varianten müssten zusätzlich nochmals mit drei verschie­ denen Mehlsorten gebacken werden: einem angesäuerten Mehl, dessen Getreide von steinigen Äckern gewonnen wird, einem mittleren und einem schweren Mehl wie dem Grützmehl aus Chartres. Insgesamt sind also 27 Brotsorten nötig, um einer Gruppe von drei Männern ein harmonisches Abendessen zu bereiten, ein Mahl, das den Leidenschaf­ ten und der Anziehung gerecht wird. Es wird nötig sein, vergleichbare Stufungen auch für den Wein, die Suppe und die meisten anderen Gerichte, die zu einem festlichen Mahl gehören, aufzustellen. „Nun, wenn man in eurer neuen industriellen Welt einen solchen Aufwand treiben muss, damit drei Männer zu Abend essen können, wird man sie niemals zufriedenstellen und noch viel weniger die achthundert Millionen Bewohner des Erdballs.“ Damit täuscht man sich. Die Theorie der Leidenschaftsserien macht es möglich, die­ se Fantasien in allen Einzelheiten zu befriedigen und noch hunderttausend andere mehr, welche die sozietäre Gesellschaftsordnung erst hervorbringen wird. Ich habe bereits ge­ sagt, dass ein Monarch in der Zivilisation weniger glücklich ist als der ärmste Harmoniebewohner, das heißt der ärmste Angehörige der sozietären Völker. Ein siebenjähriges Kind, das in der Harmonie aufgewachsen ist, wird sich über unsere heutigen Schlemmer lustig machen. Es wird ihnen mühelos beweisen, dass sie jeden Moment die Feinheiten des sinnlichen und seelischen Vergnügens gröblich missachten. Ohne diese neue Wis­ senschaft von der Entwicklung und Verfeinerung der Leidenschaften wird man nicht im Stande sein, methodisch Serien zu formieren, welche die im vorigen Abschnitt genann­ ten drei Bedingungen für die Entfaltung der Leidenschaften erfüllen. Und da die Leidenschaftsserien notwendig aus Gruppen zusammengesetzt sein müs­ sen, gilt es vor allem zu lernen, wie man Gruppen bildet. „Ha, ha! Gruppen, was für eine lustige Sache. Gruppen, das wird ein Spaß!“ So etwa denken die Schöngeister, wenn man von Gruppen spricht. Man muss zu­ nächst eine Salve von faden Witzen aus ihrer Richtung über sich ergehen lassen. Doch ob die Sache nun witzig ist oder nicht, fest steht, dass man nichts über Gruppen weiß und

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nicht einmal in der Lage ist, eine regelmäßige Gruppe von drei Personen, geschweige denn von dreißig, zu bilden. Dabei besitzen wir zahllose Abhandlungen, die dem Studium des Menschen gewid­ met sind. Doch was können sie uns über eine Sache lehren, deren Kern, nämlich die Analyse der Gruppen, sie verfehlt haben? In allen zwischenmenschlichen Verhältnissen streben wir danach, Gruppen zu bilden, und doch gibt es keine einzige Studie zu diesem Gegenstand. Die Zivilisierten, die einen sicheren Instinkt für das Falsche haben, der sie dazu ver­ anlasst, diesem stets den Vorzug vor dem Richtigen zu geben, haben als Dreh­ und An­ gelpunkt ihres sozialen Systems eine ihrem Wesen nach fehlerhafte Gruppe gewählt: das Ehepaar. Die Fehler dieser Gruppe liegen in ihrer auf zwei Mitglieder beschränkten Größe, im Fehlen der Freiheit und in den Richtungskämpfen und Schismen der Ge­ schmäcker, die vom ersten Tag an zwischen den Eheleuten ausbrechen, sei es über die Ausgaben, über den Speisezettel, über Freunde und Bekannte und über hundert Kleinig­ keiten wie die Temperatur der Wohnräume. Nun, wenn man nicht in der Lage ist, solche ursprünglichen Gruppen von zwei oder drei Personen zu harmonisieren, wird man erst recht nicht in der Lage sein, das gesellschaftliche Ganze zu harmonisieren. Ich habe bisher nur von Untergruppen gesprochen, die mindestens drei Personen umfassen müssen. Im sozietären Mechanismus muss eine vollständige Gruppe aus min­ destens sieben Personen bestehen, da sie drei Unterabteilungen enthalten muss, deren mittlere stärker ist als die beiden äußeren, welche durch die mittlere im Gleichgewicht gehalten werden. Eine sieben Personen starke Gruppe lässt sich in Unterabteilungen von zwei, drei und zwei Personen aufteilen, die sich drei Teilaspekten einer Tätigkeit wid­ men. In diesem Fall sind die Zweiergruppen, obwohl sie als isoliert agierende Gruppen unzulässig wären, aufgrund ihrer Verbindung mit anderen Gruppen erlaubt. Die aus drei Personen bestehende mittlere Untergruppe hält den beiden aus je zwei Personen bestehenden äußeren Untergruppen deshalb das Gleichgewicht, weil sie stets die anziehendste Tätigkeit übernimmt. Sie ist den äußeren Untergruppen somit sowohl von der Zahl ihrer Mitglieder als auch von ihrer Anziehungskraft her jeweils um den Wert eins überlegen. Daher ist ihr Einfluss gleich dem der vier Mitglieder, die sich den beiden anderen Tätigkeiten widmen. Eine Gruppe, die aus sechs Mitgliedern besteht, die sich in drei Untergruppen zu je zwei Personen aufteilen, wäre schlecht ausbalanciert. Ihr Zentrum wäre genauso schwach wie die beiden Flügel. In einem solchen Fall müsste man im Prinzip das Zent­ rum verstärken und ungleiche Flügel bilden, das heißt, dem aufsteigenden Flügel mehr Mitglieder als dem absteigenden zuordnen. Im Folgenden beispielhaft drei Aufteilungs­ schemata für 12, 16 und 24 Personen: – 12 Personen teilen sich in Gruppen zu 4, 5 und 3 Mitgliedern. – 16 Personen teilen sich nach dem Schema 2, 3 – 2, 3, 2 – 2, 2 auf. – 24 Personen teilen sich nach dem Schema 2, 4, 2 – 3, 4, 2 – 2, 3, 2 auf. Die Aufteilung darf nicht auf Befehl erfolgen, sondern muss durch Anziehung und spon­ tane Tätigkeit zu Stande kommen. Allein die Anziehung darf die 24 Personen, die eine

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bestimmte Blume oder ein bestimmtes Gemüse anbauen, dazu veranlassen, sich zu den genannten neun Untergruppen zu formieren, die jeweils unterschiedliche Tätigkeiten aus­ üben. Dies ist es, was ich im vorangegangenen Kapitel als parzellierte Ordnung bezeich­ net habe. Um die Aufteilung der Gruppen in allen Einzelheiten zu behandeln, wären mindes­ tens dreißig Seiten nötig, ich möchte in der vorliegenden Abhandlung jedoch nicht mehr als drei Seiten darauf verwenden. Aufgrund der Kürze dieser elementaren Anweisungen wird man bei jeder sozietären Gründung, bei der ich nicht persönlich mitwirke, unzäh­ lige Fehler machen. Die Gruppen und Serien werden instabil sein, es wird ihnen an An­ ziehungskraft fehlen und sie werden Abweichungen und Fehler aller Art aufweisen. Man wird meine Theorie für diese Fehler verantwortlich machen, jedoch sehr zu Unrecht. Schuld hat vielmehr die Tyrannei der öffentlichen Meinung, die den Erfindern keine Ge­ legenheit gibt, ihre Theorien hinreichend auszuarbeiten. Ein Lehrbuch der Chemie, der Botanik, ja selbst ein Roman darf gern fünf oder sechs Bände umfassen. Dem Erfinder derjenigen Wissenschaft, von der das Schicksal der Menschheit abhängt, gewährt man hingegen kaum einen Band! Doch fahren wir fort. Die Serien strukturieren sich auf dieselbe Art und Weise wie die Gruppen. Sie funkti­ onieren hinsichtlich der Gruppen so wie diese hinsichtlich der Individuen funktionieren. Eine Serie muss aus mindestens fünf Gruppen bestehen. Für eine vollständige Serie wird ein Minimum von 24 Personen benötigt. Die Aufteilung der 24 Personen, wie sie oben beschrieben wurde, erfüllt sieben notwendige Bedingungen, nämlich: – – – – – – –

Die drei Gruppen 2, 4, 2 – 3, 4, 2 – 2, 3, 2 sind ungleich. Die mittlere Gruppe ist stärker als jede der beiden Äußeren. Die obere äußere Gruppe ist stärker als die untere. Die beiden äußeren Gruppen sind in drei Glieder unterteilt. Die kleinste Gruppe hat mindestens sieben Mitglieder. In jedem Glied ist die mittlere Untergruppe die stärkste. Die Mitgliederzahl der drei Gruppen steigt in regelmäßigen Schritten an (von 7 zu 8 zu 9 Mitgliedern).

Diese Serie ist mithin von strengster Regelmäßigkeit, obwohl sie aus der geringstmög­ lichen Zahl von Gruppen besteht. Hingegen könnte eine Serie mit 23 Mitgliedern weder die dritte noch die sechste Bedingung erfüllen. Sieben Mitglieder sind hinreichend, um eine Gruppe zu bilden, jedoch erreicht eine Gruppe mit neun Mitgliedern ein höheres Maß an Vollkommenheit. Sie kann ihren drei Untergruppen einen Angelpunkt, das heißt einen Anführer, sowie einen Unentschiede­ nen, das heißt ein Übergangs­Mitglied hinzufügen. Zum Beispiel: Übergang Oberer Flügel Mitte Unterer Flügel Angelpunkt

1 2 3 2 1

Unentschiedener Knappen Adepten Novizen Anführer

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Wenn man den Leidenschaften und Instinkten freien Lauf lässt, teilt sich jede industrielle oder dem Vergnügen gewidmete Gemeinschaft ganz von selbst nach diesem Schema auf. Da der Mensch aus Instinkt ein Feind der Gleichheit ist und eine hierarchische oder auf­ steigende Ordnung bevorzugt, wird sich diese Stufung in einer Serie von neun Gruppen ebenso herausbilden wie in einer Gruppe von neun Personen, vorausgesetzt, es herrscht in beiden vollständige Freiheit. Da sieben Personen das Minimum für eine vollständige Gruppe und 24 für eine voll­ ständige Serie ist, müssen, damit stets genügend Mitglieder aktiv sind und die Kranken und Abwesenden vertreten werden, die Gruppen auf mindestens zwölf und die Serien auf mindestens 40 Mitglieder vergrößert werden. Hierdurch wird man in den Gruppen Anführer und Unter­Anführer, Unentschiedene und Un­Unentschiedene haben. In einer Serie wird der aufsteigende Flügel stets von den Gruppen gebildet, wel­ che die anspruchsvollsten Tätigkeiten ausüben. Der absteigende Flügel widmet sich den einfachen und alltäglichen Tätigkeiten, in der Mitte finden sich die edelsten und anzie­ hendsten Tätigkeiten, da, wie bereits ausgeführt, die Mitte beide Flügel durch ihre zwei­ fache Überlegenheit – hinsichtlich der Mitgliederzahl und hinsichtlich des Grades ihrer Anziehung – im Gleichgewicht hält. Das folgende Beispiel ist einer mit dem Anbau von Birnen befassten Serie entnommen. Unentschieden: Aufsteigender Flügel: Mitte: Absteigender Flügel: Angelpunkt:

4 Gruppen, die Quitten und Bastard­Sorten anbauen 10 Gruppen, die trockene Birnensorten anbauen 12 Gruppen, die saftige Sorten anbauen 8 Gruppen, die mehlige Sorten anbauen 2 Gruppen, Leitung der industriellen Tätigkeit und der Verwaltung

Die Gesamtheit der Serien, die gemeinsam eine Phalanx bilden, gliedert sich in neun Gradationen oder Vermögen, nämlich: 1. der Klasse

5. der Varietät

8. der Unentschiedenheit

2. der Ordnung

6. der Feinheit

9. des unendlich Kleinen

3. der Gattung

7. der Winzigkeit

4. der Art

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Es würde zu viel Platz beanspruchen, diesen Gegenstand hier mit der erforderlichen Genauigkeit zu behandeln, und es wäre bei einer so neuartigen Materie unsinnig, eine verkürzte Darstellung zu geben. Ich werde bei Gelegenheit auf ihn zurückkommen. Lassen wir nicht locker, die Oberflächlichkeit einer Zivilisation bloßzustellen, die vorgibt, den Menschen studiert zu haben, und die es dabei versäumt hat, die Gruppen, ihre kontrastierenden Eigenschaften und ihre unterschiedlichen Grade der Entfaltung zu analysieren. Dies ist eine ebensolche Dummheit, als wenn man beim Landbau das Getrei­ de übersehen hätte und Roggen, Gerste und Hafer heute noch genauso verschmäht und verkannt würden, wie der Kaffee mehrere tausend Jahre lang verkannt wurde, bis eines Tages ein paar berauschte Ziegen uns seine Vorzüge entdeckt haben. Die gelehrte Welt ist so vom Untertanengeist durchdrungen, dass sie allein deshalb an einem Vorurteil festhält, weil einer ihrer antiken Meister es gepflegt hat. Aristoteles hat den Kaffee nicht erwähnt, zwanzig Jahrhunderte nach ihm folgern daraus, dass der Kaffeestrauch und seine Bohne ihrer Aufmerksamkeit unwürdig sind. Platon hat keine Analyse der Gruppen vorgelegt, also sind die Gruppen keiner Untersuchung würdig. So denkt der Geist der Zivilisation und meint, den Gipfel der Vernunft erklommen zu haben!!!

Kapitel IV Einzelheiten zur Anordnung und zum Verhältnis der Gruppen in einer Serie Der Mechanismus der Leidenschaftsserien ist vor allem deshalb eine neue soziale Welt, weil er aus allen Neigungen, die in der zivilisierten Gesellschaft ruinös sind, wirtschaft­ liche Vorteile und Gewinne entstehen lässt. Wenn man bei uns beispielsweise zum Essen die oben beschriebenen 27 Sorten Brot reichen müsste und darüber hinaus noch einmal rund dreißig, inbegriffen Mischbrote, wie Roggenbrot, Gerstenbrot und andere, und alle diese Brote zusätzlich in drei Altersstufen, frisch, mittel und altbacken, insgesamt also 90 Sorten Brot, so könnte man damit einen Lukullus ruinieren. Doch in der Wirtschaft der Leidenschaftsserien wirkt dieses riesige Sortiment stimulierend, da es die industri­ elle Anziehung fördert, die nicht entstehen könnte, wenn man nur ein oder zwei Sorten Brot herstellen würde. Genauso ist es mit den Beamten oder Würdenträgern, die in der Zivilisation so ho­ he Kosten verursachen. Obwohl ihre Zahl in der sozietären Gesellschaft noch höher sein wird, tragen sie dort zur Eintracht und zur Förderung des Wetteifers bei. Da in der Sozietät die Würdenträger produktiver sind als ihre Untergebenen, verdreifacht oder vervierfacht man dort die Beamtenschaft. Wir wollen nur auf zwei Arten von sozietä­ ren Beamten hinweisen, die in keiner Serie fehlen dürfen: die Industriebeamten und die Prunkbeamten. Als Beamte für industrielle Leitungsaufgaben wählt man gebildete und praxiser­ fahrene Mitglieder einer Serie aus, zu Prunkbeamten macht man diejenigen, die über Vermögen verfügen und daher in der Lage sind zu repräsentieren, üppige Ausgaben zu machen und der Serie Glanz zu verleihen.

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In der Zivilisation geben die hohen Beamten nichts für die ihnen unterstellten Bürger aus. Im Gegenteil: Wird im Namen einer Stadt ein offizielles Diner gegeben, so tritt zwar die Stadtverwaltung als Gastgeber auf, doch steuert sie nur den Appetit ihrer Beamten zum Gelingen des Abends bei. Bezahlt wird das Diner von den Bürgern, ohne dass sie die Speisen auch nur probieren dürften. Sie können vielmehr von Glück sagen, wenn sie nur die tatsächlichen Kosten tragen müssen, da diese oft auf das Doppelte dessen aufge­ bläht werden, was das Fest eigentlich gekostet hat. In einer Leidenschaftsserie kommt den Prunkbeamten eine völlig andere Rolle zu. Dort bezahlen sie für die übrigen Serienmitglieder, die kostenlos am Festmahl teilneh­ men. Die Prunkbeamten beteiligen sich ebenfalls an den wichtigsten Ausgaben der Serie, wie am Kauf von Pflanzen und Samen. Denn mit ihrer Freigiebigkeit wäre es nicht weit her, würden sie sich auf die Rolle des Amphitrion, der zum Essen lädt, beschränken. Da­ bei sind die offiziellen Essen in der Assoziation äußerst kostengünstig, denn man kann von ihrem Preis alles abziehen, was die Gäste an Kosten verursacht hätten, wenn sie an den von ihnen abonnierten Tischen erster, zweiter und dritter Klasse gegessen hätten. Zusätzlich kann man die übriggebliebenen Speisen abziehen, die zum halben Preis an die Tafeln dritter Klasse geliefert werden. Die Unterscheidung zwischen Prunkbeamten und industriellen Beamten gilt sowohl für Gruppen wie für Serien. Jede Serie hat ihren Prunkkapitän, Prunkleutnant und Prunk­ Unterleutnant, sowie ihren industriellen Rektor, Konrektor und Unter­Rektor. Dasselbe gilt für jede Gruppe. Darüber hinaus richtet man für alle Repräsentations­ und Verwaltungsaufgaben höhe­ re und niedere Ränge ein. Je mehr Beamte man in der Harmonie ernennt, desto größer der wirtschaftliche Vorteil, anders als in der zivilisierten Gesellschaftsordnung, wo die hohen Beamten meist bloße Blutsauger sind, deren Zahl es möglichst niedrig zu halten gilt. Das System der Industrie­ und Prunkbeamten bringt allen drei Klassen, den Reichen, der Mittelklasse und den Armen große Vorteile, wie wir im Folgenden zeigen werden. Für den Reichen bedeutet es steigende Einkünfte, eine höhere Dividende auf sein Kapital. Seine Erträge steigen durch den Enthusiasmus, mit dem man an die Arbeit geht. Um das Volk für die industriellen Tätigkeiten zu begeistern, braucht es Führungspersön­ lichkeiten, die Hand anlegen, und die aus eigener Tasche einen Beitrag zu der Aufgabe leisten, der sich die ganze Serie mit Leidenschaft widmet. Für den Armen bedeutet es fröhliches Arbeiten, reichliche Erträge und Dividen­ den sowie Sorgenfreiheit durch das garantierte Minimum, dessen Kosten von der in­ dustriellen Anziehung gedeckt werden. Darüber hinaus kostenlose Mahlzeiten bei den offiziellen Festen der einzelnen Gruppen oder Serien. Und da, wie ich beweisen werde, prächtige Festmähler in der Assoziation nur äußerst geringe Kosten verursa­ chen, nimmt ein Armer im Verlauf eines Jahres an etwa fünfzig offiziellen Festessen mit Speisen erster Klasse teil. Auf diese Weise werden dem Volk die geschliffenen Umgangsformen der oberen Klassen vermittelt. Im Übrigen genießt das Volk der Har­ monie selbst an den Tafeln dritter Klasse eine Kost, die der in den vornehmen Haus­ halten der Zivilisation vorzuziehen ist, da in Letzteren die gestufte Auswahl bei den einzelnen Speisen fehlt.

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Die Vielfalt an Führungsämtern hält einen weiteren Anreiz für die Klasse der Ar­ men bereit, nämlich die mythologischen Ämter oder Ämter der Halbgötter, die in jeder Serie und jeder Gruppe gewählt werden. Diese Ämter zu besetzen ist das Vorrecht der unbemittelten Jugend. In der Versuchsphalanx wird dieser Brauch jedoch noch nicht aufkommen. Insofern die Mittelklasse sich mit den beiden anderen Klassen über­ schneidet, überschneiden sich auch ihre Interessen mit denen der beiden anderen Klas­ sen. In der sozietären Gesellschaft setzt sich die Beamtenschaft aus Vertretern der drei Geschlechter, nämlich männlich, weiblich und neutral bzw. vorpubertär, zusammen. Je­ de Leidenschaftsserie besetzt ihre Führungsämter proportional nach Geschlechtern. Da verschiedene Serien ausschließlich oder mehrheitlich aus Frauen oder Kindern bestehen, werden sich diese nur im Notfall ihre Beamten aus einem anderen Geschlecht wählen. Hundert Frauen, die ein Feld mit Nelken für die Parfümherstellung bebauen, werden sich keinen männlichen Pedanten als Vorsteher auswählen, weder bei der Arbeit noch im Rat, noch bei der Parade. Wenn ihre Serie jedoch aus zwei oder drei Geschlechtern zusammengesetzt ist, wird sie ihre Beamtenschaft proportional mischen. Im Übrigen herrscht bei derartigen Entscheidungen völlige Freiheit. Die Nützlichkeit ist ihre einzige Richtschnur. Ich übergehe hier eine Reihe von Einzelheiten, welche die Rangordnung der Serien betreffen. Diese folgt nicht der Quantität der Erträge. Die Serie der Obstgärtner, die äußerst produktiv ist, erhält mit die geringste Bezahlung, da sie eine sehr starke Anzie­ hungskraft ausübt. Die Serie der Oper hingegen, die wir für nutzlos halten, ist eine der bestbezahlten, weil sie für die sozietäre Erziehung den größten Nutzen hat. Hier wäre der Moment, um über die Serien und Gruppen der Unentschiedenen zu sprechen. Dies ist jedoch einer der tausend Gegenstände, die um der Kürze willen über­ gangen werden müssen. Die Unentschiedenheit oder gemischte Bindung oder Über­ gangs­Bindung ist eine Gattung, die bei uns in einem schlechten Ruf steht, obwohl man keine regelmäßige Serie bilden kann, ohne an ihren Rändern Gruppen von Unentschie­ denen, ja sogar von Un­Unentschiedenen einzurichten. Die Natur muss eine besondere Vorliebe für die Unentschiedenen haben, da sie ihnen unter ihren Schöpfungen einen be­ vorzugten Platz einräumt, wie die Amphibien, der Orang­Utan, der fliegende Fisch, die Fledermaus, der Aal und so viele andere Naturphänomene zeigen, von denen der Kalk, die Verbindung von Feuer und Wasser, das bemerkenswerteste ist. Schließen wir mit einer Übersicht über die Einklänge und Missklänge in einer ein­ fachen Leidenschaftsserie. Ich gehe dabei von 32 Gruppen aus, welche verschiedene Sorten einer Pflanze anbauen:

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1

2

3

4

5

10

6

7

8

x D

14 15

18

Y

K

16

17

19

20

Y

9

12 11

13

X

21 22

23

24

25 K

x X K K Y

Angelpunkt­Gruppe Gegen­Angelpunkt­Gruppe Unentschiedene Gruppe aufsteigend Unentschiedene Gruppe absteigend Neben­Angelpunkt­Gruppe aufsteigend Neben­Angelpunkt­Gruppe absteigend D Unentschiedene Gruppe der Brechung Y

Zwischen einer Gruppe und derjenigen Gruppe, die sich in der Mitte zwischen ihr und der in der Stufung der Serie numerisch am höchsten stehenden Gruppe befindet, also zwischen 1 und 13, 2 und 14, 5 und 17, 9 und 21 stellt sich Affinität oder Sympathie des Kontrasts her. Im Verhältnis von 1 zu 12 und 14, von 5 zu 16 und 18 ist die Sympathie schwächer ausgeprägt. Noch geringer ist die Sympathie von 1 gegenüber 11 und 15, von 5 gegen­ über 15 und 19. Die Sympathie nimmt nach diesem Schema ab, bis zwei Viertel der Stufung erreicht sind, wo sie vollständig versiegt, sodass 13 keinerlei Sympathie mehr für 7 und 19 hat und gegenüber 8 und 18 bereits eine leichte Antipathie empfindet. Diese steigert sich im Verhältnis von 13 zu 9 und 17, und der Missklang verstärkt sich stufen­ weise bis zu dem Punkt, wo zwischen 13 und seinen beiden Nachbarn 12 und 14 eine ausgesprochene gegenseitige Abneigung herrscht. Die Stärke der Antipathie nimmt dann zwischen 13 und ihren beiden mittelbaren Nachbarn 11 und 15 wieder ab usw. Zwischen den äußeren Gruppen 1 bis 3 und 23 bis 25 sind die Sympathien und An­ tipathien anders gestuft als zwischen den mittleren Gruppen. Doch die Untersuchung dieser Abweichungen würde den Rahmen einer kurzgefassten Darstellung sprengen. Der Hinweis sollte ausreichen, dass ich nach 30 Jahren des Studiums das Zauberbuch der Leidenschaftsserien in und auswendig kenne und ein sicheres Gefühl für die Einklänge und Missklänge zwischen den Gruppen ebenso wie für die Balance habe, die es an al­ len Punkten einer Serie herzustellen gilt. In den folgenden Teilen der Abhandlung wird

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sich erweisen, ob ich diese Theorie tatsächlich gründlich kenne. Vorläufig möchte ich potentielle Gründer einer Versuchsphalanx nur darauf hinweisen, dass dort, wo ich per­ sönlich mitwirken kann, der Mechanismus reibungslos funktionieren wird, selbst dann, wenn keine ausreichenden Geldmittel zur Verfügung stehen. Wenn man mich nicht per­ sönlich hinzuzieht, wird man hundert Fehlversuche machen, schlechte Kapitäne werden das Boot kentern lassen und dann mir, dessen Anweisungen sie nicht befolgt haben, die Verantwortung zuschieben. Oder sie werden an ihrer Unkenntnis der Details scheitern, über welche die herrschende Meinung mir den Mund verbietet, indem sie mich auf einen Band beschränkt. Kommen wir mit den grundlegenden Bemerkungen zum Schluss. Es besteht ein Sympathieverhältnis zwischen der Angelpunkt­Gruppe x und allen anderen Gruppen au­ ßer den Neben­Angelpunkt­Gruppen Y und . x baut eine Sorte an, deren Qualität und Überlegenheit so augenfällig ist (bei den Birnen wäre dies die graue Butterbirne), dass die benachbarten Sorten 11, 12, 13, 14, 15 ihren Vorrang anerkennen, um sich damit ih­ rerseits gegenüber ihren Rivalen auf den unmittelbar oder mittelbar benachbarten Stufen zu profilieren. Die Neben­Angelpunkt­Gruppen Y und stehen als Führungsgruppen der beiden gegen die Mitte verbündeten Flügel natürlicherweise in einem Einklang des Kontrasts. Die Gegen­Angelpunkt­Gruppe X sympathisiert ausschließlich mit der Angelpunkt­ Gruppe x, doch steht sie zugleich mit keiner Gruppe in Antipathie. (In einer dem Anbau von Birnen gewidmeten Serie wäre die Gegen­Angelpunkt­Gruppe diejenige, welche die in rohem Zustand ungenießbaren dicken und harten Birnen anbaut.) Die Gruppe der Brechung D steht in halbem Einklang mit allen anderen. (Die Gruppe der Brechung ist der negative Spiegel der Angelpunkt­Gruppe. Der Albino ist das gebro­ chene Spiegelbild des falschen weißen Mannes, welcher der sonnenverbrannte Europäer ist. Das Rentier ist das gebrochene Spiegelbild des Hirsches. Doch begnügen wir uns damit, diesen Gegenstand zu streifen.) Die unentschiedenen Gruppen K und K stehen sowohl in Einklang mit dem Flügel, dessen Abschluss sie bilden, wie mit dem Flügel der benachbarten Serie, den sie berühren. So steht die Gruppe der Nektarine, die eine Kreuzung aus Pflaume und Pfirsich ist, sowohl mit einem Flügel der Pflaumen­Serie wie mit einem Flügel der Pfirsich­Serie in Einklang. Ich bin bisher von einer vollkommen regelmäßigen Serie ausgegangen, die alle vor­ handenen Sorten einer Pflanze anbaut. Wenn die Beschaffenheit des Bodens jedoch nur den Anbau bestimmter Varietäten erlaubt, dann können sich die Einklänge und Miss­ klänge in verschiedenen Bereichen ändern. Doch um das reguläre Funktionieren des Mechanismus zu erklären, muss man von vollständigen Serien ausgehen. Den Zivilisierten erscheinen die Regeln, nach denen die Leidenschaften und Sym­ pathien in den Leidenschaftsserien (von denen es viele Arten gibt, sowohl freie wie re­ gelmäßige) miteinander zusammenklingen, wie ein unverständliches Zauberbuch. Dabei bilden die Leidenschaftsserien ganz im Gegenteil einen nach geometrischen Methoden organisierten Mechanismus. Wie überall sehen die Zivilisierten auch in dieser Frage die Natur nur auf einfache Art. Sie halten alle Sympathien für dauerhaft. Es gibt jedoch dauerhafte, gelegentliche und periodische Sympathien usw. usw. Ihre Berechnung er­ Y

Y

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schließt eine jener neuen wissenschaftlichen Welten, zu denen der Geist der Zivilisation keinen Schlüssel hat, die jedoch offen zugänglich sind, wovon man sich jederzeit über­ zeugen kann. Die Natur ist ein ungeheurer Mechanismus von Sympathien und Antipathi­ en, der vollkommen systematisch geordnet und dem menschlichen Geist in allen Teilen zugänglich ist, vorausgesetzt, er studiert zunächst die Theorien der leidenschaftlichen Anziehung und der Assoziation, mit denen unsere Schöngeister sich nicht befassen wollen. Daher werden sie heute nach Strich und Faden betrogen und seit zwanzig Jahren von der Owen’schen Sekte irregeführt, die Spitzfindigkeiten über die Assoziation verbreitet und damit jede Erforschung der natürlichen Methode verhindert, obwohl deren Erpro­ bung allen Wissenschaftlern und Künstlern ein immenses Vermögen einbringen könnte. Notiz II Die Ordnung der Leidenschaften in den Serien Kapitel V Von den drei ordnenden Leidenschaften oder den organischen Triebfedern einer Leidenschaftsserie Es ist weniger die materielle Anordnung der Serien, bei der mit Schwierigkeiten zu rech­ nen ist, obwohl den Hinweisen, die ich in den vorigen Kapiteln gegeben habe, noch vieles hinzuzufügen wäre. Vielmehr ist zu befürchten, dass die Moralisten versuchen werden, das Spiel bestimmter Leidenschaften zu hemmen. Wenn man versäumt, die drei Leidenschaften, die ich als mechanisierende oder ordnende Leidenschaften bezeichnet habe, zu entwickeln, verliert selbst die am besten aufgebaute Serie alle Vorzüge der in­ dustriellen Anziehung, des unmittelbaren Einklangs der Unterschiede, des mittelbaren Einklangs der Antipathien usw. Wenn eine dieser drei Leidenschaften in einer Serie ge­ hemmt wird, dann ist die Serie fehlerhaft, die Einklänge und die industrielle Anziehung sind unecht und bloße Trugbilder, sodass der Serie das grundlegende Gleichgewicht fehlt, das Gleichgewicht der Verteilung. Definieren wir diese drei Leidenschaften: Ich beginne mit der Flatterlust: Sie ist das Bedürfnis nach periodischer Abwechs­ lung, kontrastierenden Situationen, Wechseln der Szenerie, prickelnden Ereignissen und Neuigkeiten, welche die Fantasie, also die Sinne und den Geist zugleich anregen. In abgeschwächter Form tritt dieses Bedürfnis jede Stunde auf, alle zwei Stunden macht es sich lebhaft bemerkbar. Wenn es nicht befriedigt wird, verfällt der Mensch in Erschlaffung und Langeweile. Auf der vollständigen Entfaltung dieser Leidenschaft beruht eine spezifische Art des Glücks, die der Pariser Lebewelt zugeschrieben wird, die Kunst des guten und schnellen Lebens, die in der Abwechslung und Verkettung der Vergnügen und schließlich in der Schnelligkeit der Bewegung besteht, ein Glück, von dem die Pariser in Wahrheit jedoch unendlich weit entfernt sind. Indem er seine Tätigkeit in sehr kurze Arbeitssitzungen von eineinhalb, höchstens zwei Stunden unterteilt, kann jeder Harmoniebewohner im Laufe eines Tages sieben bis acht anziehenden Arbeiten nachgehen, am nächsten Tag wechseln und andere Gruppen

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als am Vortag besuchen. Auf diese Weise wird die elfte, Flatterlust genannte Leiden­ schaft befriedigt, die danach strebt, von Vergnügen zu Vergnügen zu flattern und das Übermaß zu meiden, in das die Zivilisierten bei jeder Gelegenheit verfallen, wenn sie sechs Stunden lang derselben Arbeit nachgehen, ein Festbankett auf sechs Stunden aus­ dehnen, einen Ball auf sechs Stunden und die Nacht hindurch, auf Kosten ihres Schlafes und ihrer Gesundheit. Die zivilisierten Vergnügen sind stets unproduktive Tätigkeiten, während die so­ zietäre Gesellschaft vielfältige Vergnügen in der anziehend gewordenen Arbeit findet. Betrachten wir diese Wechselwirtschaft anhand eines Überblicks über den Tagesablauf zweier Harmoniebewohner, eines armen und eines reichen: Uhrzeit Tagesablauf von Lukas im Monat Juni 3.30 4 5 7 7.30 9.30 11 1 2 4 6 8 8.30 9 10

Morgentoilette, Vorbereitungen Arbeitssitzung in einer Scheunen­Gruppe Gärtner­Gruppe Frühstück Schnitter­Gruppe Gruppe des überdachten Gemüseanbaus Arbeitssitzung in der Ställe­Serie Mittagessen Waldarbeiter­Gruppe Manufaktur­Gruppe Bewässerungs­Serie Börse Abendessen geselliger Verkehr Zubettgehen

Anmerkung: Jede Phalanx hat eine Börse, an der jedoch nicht mit Renten und Waren spekuliert wird, sondern Arbeits­ und Vergnügungsbündnisse ausgehandelt werden. Ich bin von einem Tagesablauf mit nur drei Mahlzeiten ausgegangen, wie er für die An­ fänge der Harmonie gelten wird. Doch sobald sich die Harmonie vollständig entwickelt hat, werden die ständige Aktivität und die sich in schneller Folge abwechselnden Arbeits­ sitzungen einen ungeheuren Appetit erzeugen. Diejenigen, die in der Harmonie geboren und aufgewachsen sind, werden fünf Mahlzeiten am Tag einnehmen müssen. Doch selbst das wird nicht genügen, um die ungeheuren Mengen an Lebensmitteln zu verbrauchen, die in der neuen Ordnung produziert werden, in der auch die Reichen, die ihre Tätigkeiten noch öfter wechseln als die Armen, mehr Appetit und mehr Kraft haben werden. Diese Ordnung ist in jeder Hinsicht das Gegenteil des Mechanismus der Zivilisation. Ich werde im Folgenden den Tagesablauf eines reichen Mannes darstellen, der fünf Mahlzeiten einnimmt und noch mannigfaltigere Tätigkeiten ausübt als sein Vorgänger, bei dem es sich um einen jener Dorfbewohner handelt, die zu Beginn des Aufbaus der Harmonie angeworben werden.

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Tagesablauf von Mondor im Sommer Uhrzeit 3.30 4 4.30 5.30 7 8 9 10 10.30 11.30 1 2.30 4 5 6 6.30 8 9 9.30 10.30

Schlafenszeit von halb elf Uhr abends bis drei Uhr morgens Morgentoilette, Vorbereitungen Öffentliche Morgentoilette, Chronik der Nacht Erstes Frühstück, gefolgt von der industriellen Parade Arbeitssitzung in der Jagd­Gruppe Fischerei­Gruppe Zweites Frühstück, Zeitungen Arbeitssitzung in einer Gruppe des überdachten Ackerbaus Messe Fasanerie­Gruppe Bibliothek Mittagessen Gewächshäuser­Gruppe Gruppe der exotischen Pflanzen Fischteich­Gruppe Brotzeit im Grünen Gruppe der Merinoschafe Börse Abendessen, 5. Mahlzeit Hof der Künste, Konzert, Ball, Schauspiel, Empfänge Zubettgehen

Man wird bemerken, dass in diesem Zeitplan nur wenige Stunden Schlaf vorgesehen sind. Die Harmoniebewohner schlafen sehr wenig. Dank der hochentwickelten Hygiene und ihrer häufig wechselnden Tätigkeit haben sie gelernt, sich bei der Arbeit nicht zu veraus­ gaben. Weil ihr Körper während des Tages nicht ermüdet, kommen sie mit einem sehr kurzen Schlaf aus. Dies ist ihnen von Kindheit an zur Gewohnheit geworden, da der Tag für den Überfluss der Vergnügen in der �armonie zu kurz ist. Um die häufigen Ortswechsel zu erleichtern, die dieses Leben erfordert, sind auf der ersten Etage und im Untergeschoss des Phalansteriums, wie das Gebäude einer Phalanx genannt wird, Galeriestraßen eingerichtet, die im Winter mittels Röhren be­ heizt und im Sommer gekühlt werden. Ferner sind die einander gegenüberliegenden Gebäudeteile durch säulengetragene Wandelgänge verbunden, während mit Sand aus­ gestreute unterirdische Gänge vom Phalansterium zu den Stallungen führen, sodass man sich bei jedem Wetter geschützt zwischen Wohnräumen, Werkstätten und Stallun­ gen hin­ und her bewegen kann. Um die landwirtschaftlichen Gruppen zu befördern, werden auf den Ländereien der Phalanx große, aber leichte Wagen eingesetzt, die 18 Personen fassen. Gewisse Zivilisierte behaupten, dass diese Einrichtungen sehr kostspielig sein wer­ den. Sie werden sehr viel weniger kosten als heute Kleidung und Wagen, Matsch und Schmutz, Schnupfen, Lungenentzündungen und Fieber, die man sich durch plötzliche Ortsveränderung und Überanstrengung zuzieht.

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Andere geben zu bedenken, dass bei den häufig wechselnden Arbeitssitzungen viel Zeit für die damit verbundenen Ortswechsel verloren geht. Ein solcher Ortswechsel wird im Freien fünf bis fünfzehn Minuten, also im Durchschnitt weniger als eine Viertelstun­ de, und in den Innenräumen die Hälfte dieser Zeit in Anspruch nehmen. Diejenigen, die diesen Zeitverlust kritisieren, könnten auch vorschlagen, den Schlaf abzuschaffen, weil er verlorene Arbeitszeit ist. Ruhepausen zu schaffen bedeutet im Ge­ genteil, die Arbeitsleistung zu erhöhen. Da die Harmoniebewohner mit Leidenschaft ar­ beiten, schaffen sie in einer Stunde, was unsere Lohnarbeiter, die langsam, ungeschickt, gelangweilt und träge sind und die ihre Arbeit unterbrechen und Maulaffen feilbieten, sobald ein Vogel vorbeifliegt, nicht in drei Stunden zu Wege bringen. Der Arbeitseifer der Harmoniebewohner würde zu ungesunden Exzessen ausarten, wenn er nicht regel­ mäßig durch die Erholungspausen unterbrochen würde, die der Wechsel der Tätigkeiten mit sich bringt. Doch die Kritiker beurteilen den sozietären Mechanismus immer nur durch die Brille der Zivilisation. Ich komme nun zu den beiden anderen mechanisierenden Leidenschaften. Die Streit­ lust und die Bindungslust stehen in diametralem Gegensatz zueinander. Erstere ist eine theoretische und bewusste Begeisterung, bei der Letzteren handelt es sich um eine blin­ de Begeisterung, einen Zustand der Trunkenheit und des Hingerissenseins, der aus der Verbindung mehrerer Vergnügen der Sinne und des Geistes entsteht, die gleichzeitig genossen werden. Die Streitlust oder der Parteigeist ist eine Leidenschaft für die Intrige, die bei den Ehrgeizigen, den Kurtisanen, den berufsständischen Vereinigungen, den Kaufleuten und in der galanten Welt stark ausgeprägt ist. Der von der Streitlust Ergriffene ist daran zu erkennen, dass er seiner Leidenschaft stets Berechnung beimischt. Beim Intriganten ist alles Berechnung. Auch wenn es nur eine Geste oder ein Augenaufschlag ist, er tut alles bewusst und daher schnell. Die heftige Streitlust ist daher eine bewusste Begeisterung, die den Kontrast zu jener blinden Begeisterung bildet, von der die Bindungslust gekenn­ zeichnet ist. Als kontrastierende Triebkräfte stimulieren diese beiden Leidenschaften die Gruppen einer industriellen Serie. Für den menschlichen Geist ist die Streitlust ein so gebieterisches Bedürfnis, dass er, in Ermangelung echter Intrigen, gierig nach künstlichen sucht, beim Spiel, im Theater, in Romanen. Wenn man zu einem geselligen Abend einlädt, dann muss man für die Gäste eine künstliche Intrige ins Werk setzen, indem man ihnen Spielkarten in die Hand drückt oder eine politische Kabale ausheckt. Es gibt niemanden, der unglücklicher ist als ein �öfling im Exil in der Provinz, in einer bürgerlichen Kleinstadt, wo es keine Intrigen gibt. Ein Kaufmann, der sich zur Ruhe setzt und auf einen Schlag von den zahlreichen und lebhaften Handelsintrigen abgeschnitten ist, wird trotz seines Vermögens der un­ glücklichste Mensch sein. In der Mechanik einer Serie hat die Streitlust hauptsächlich die Funktion, Missklänge und Rivalitäten zwischen Gruppen hervorzurufen, deren Tätigkeiten so eng benachbart sind, dass sie sich gegenseitig die Siegespalme und den Beifall streitig machen. Zwi­ schen Gruppen, welche die weiße frühe Butterbirne, die weiße späte Butterbirne und die grüne gesprenkelte anbauen, wird es keinen Einklang geben. Diese Gruppen, die

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sich nur in Nuancen unterscheiden, sind ihrem Wesen nach aufeinander eifersüchtig und untereinander uneinig. Genauso wird es sich mit den drei Gruppen verhalten, die gelbe, graue und grüne Renetten anbauen. Dass eng benachbarte Nuancen nicht miteinander harmonieren, ist ein allgemeines Naturgesetz: Scharlachrot beißt sich mit seinen Nachbarfarben, Kirschrot, Nakarat und Kapuzinerrot, harmoniert jedoch sehr gut mit den Kontrastfarben Dunkelblau, Dunkel­ grün, Schwarz und Weiß. Ein Ton harmoniert nicht mit den ihm benachbarten Halbtönen und kaum mit den ihm benachbarten Ganztönen. Betonen wir noch einmal, dass in der sozietären Harmonie der Missklang ebenso notwendig ist wie der Einklang. Zwischen Gruppen, die wenige Berührungspunkte haben, wie zwischen solchen, die die Perlbirne anbauen und solchen, die die Birne von Orange anbauen, wird es hingegen keine Missklänge geben. Diese beiden kleinen Birnen unterscheiden sich so auffällig voneinander, dass die Preisrichter schnell zu dem Schluss kommen wer­ den, dass beide gut, jedoch zu wenig ähnlich sind, um sie zu vergleichen. Daher wird es zwischen den beiden Gruppen, die diese Sorten anbauen, weder Eifersucht noch Parteigeist geben und die Streitlust wird dort keine Möglichkeit haben, sich zu ent­ falten. Es gilt daher in allen Leidenschaftsserien, sowohl in den industriellen wie in denen, die dem Vergnügen gewidmet sind, eine Stufung eng benachbarter Tätigkeiten herzustel­ len, die so genannte kompakte oder dichte Stufung. Diese Art der Stufung führt unfehlbar dazu, dass sich die Streitlust lebhaft entfaltet, was die Qualität aller Produkte hebt, den Arbeitseifer zu Höchstleistungen anstachelt und ein starkes Gemeinschaftsgefühl unter den Mitgliedern der einzelnen Gruppen erzeugt. Man wird diese glänzenden Ergebnisse jedoch verfehlen, wenn man die Verfeinerung des Geschmacks sowohl bei den Verbrauchern wie bei den Erzeugern vernachlässigt. Was würde den Harmoniebewohnern die hohe Qualität ihrer Produkte nützen, wenn sie es mit einem moralistischen Publikum mit einförmigem Geschmack zu tun hätten, das nur isst, um seinen Hunger zu stillen, und sich im Namen einer repressiven Moral je­ des Raffinement der Sinne verbietet? Die Qualität der Produktion würde verfallen, weil niemand sie zu schätzen weiß, und zwischen den Gruppen der Produzenten und der Vorbereiter würde die Streitlust erlahmen. Die landwirtschaftliche Industrie würde auf die heutige Stufe der Primitivität zurückfallen, wo kaum einer von hundert Zivilisierten in der Lage ist, die Qualität eines Nahrungsmittels zu beurteilen. Das bedeutet, dass in der Zivilisation ein Händler, der Ware minderer Qualität anbietet, sie in 99 von 100 Fäl­ len dennoch verkaufen wird – was die Ursache für die durchweg schlechte Qualität der Lebensmittel in der Zivilisation ist. Um dem vorzubeugen, wird die sozietäre Gesellschaft ihre Kinder, was Verzehr, Zu­ bereitung und Produktion von Nahrungsmitteln betrifft, im Geist der Streitlust erziehen. Sie wird die Kinder von frühester Jugend an daran gewöhnen, Vorlieben für die ver­ schiedenen Speisen, deren unterschiedliche Geschmäcker und die verschiedenen Arten der Zubereitung zu entwickeln und zu begründen. Sie wird sie dazu ermuntern, noch für die einfachsten Nahrungsmittel abwechslungsreiche Zubereitungsarten gemäß den verschiedenen Geschmäckern zu fordern und schließlich eine streitlustige Stufung des

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Konsums zu bilden, um diese dann auf die verschiedenen Arten der Zubereitung, der Aufbewahrung und der Produktion zu übertragen. Diese Vielfalt der Geschmäcker, die in der Zivilisation schnell in den Ruin führen würde, wird in der Assoziation wirtschaftlich und produktiv sein. Sie hat dort einen dop­ pelten Nutzen, indem sie – die industrielle Anziehung auslöst, – dazu anregt, in Serien zu produzieren und zu konsumieren. Der Mechanismus der Leidenschaftsserien kann nur funktionieren, wenn er auch den Konsum einschließt: Glücklicherweise ist es dort am leichtesten, ihn einzuführen, und zwar durch zwei Stufungen oder Serien des Geschmacks, eine der Zubereitungsarten und eine der Qualität der Lebensmittel. Überall, wo man den natürlichen Triebkräften freien Lauf lässt, entstehen solche Stufungen der Ansprüche ganz von selbst. So kann man in einem Gasthaus, wo jeder selbst seine Zeche zahlt und es weder Familienvater noch Hausherren noch eine andere Autorität gibt, die den Gast dazu zwingt, seine Wün­ sche zu verhehlen, beobachten, dass schon bei den einfachsten Speisen wie einem Salat oder einem Omelett verschiedene Geschmäcker zu Tage treten, die bis zu 12 verschie­ dene Zubereitungsarten verlangen – beinahe ebenso viele Varianten wie Gäste, wenn es nicht mehr als sieben sind. Der Wunsch nach abgestuften Zubereitungsarten, das heißt nach einer seriellen Kü­ che bricht sich überall Bahn, wo er nicht unterdrückt wird. Ich weiß, dass sich diese Viel­ falt von Geschmäckern in der Zivilisation nicht befriedigen lässt. Ein Haushalt, der für den Vater, die Mutter, die Kinder, die Hausangestellten ein halbes Dutzend getrennte Kü­ chen führen wollte, würde sich unweigerlich ruinieren. Aus diesem Grund ruft der Vater die Moral zu Hilfe, die Einheit des Geschmacks gebietet, um den anderen seinen Spei­ seplan zu diktieren. In der Zivilisation mag das notwendig sein. Doch wir sprechen von einer Ordnung, in der die Stufung in Varianten eine wirtschaftlichere Zubereitung der Nahrungsmittel und gesteigerte Erträge beim Anbau bedeutet. In dieser Ordnung wird es nicht mehr nötig sein, unter Berufung auf die Moral den individuellen Geschmack zu unterdrücken. Was die Nahrungsmittel betrifft, muss die Versuchsphalanx folglich darauf hinwir­ ken, im Volk eine große Geschmacksvielfalt entstehen zu lassen. Man wird es dazu er­ ziehen, seine kulinarischen Fantasien in einer kompakten Stufung allerfeinster, genau unterschiedener geschmacklicher Nuancen zu ordnen. Ohne diese kompakte Stufung würde es nicht gelingen, unter den benachbarten Gruppen einer Serie jene Missklänge hervorzurufen, aus denen die Streitlust entsteht, die zu den drei Leidenschaften zählt, die eine Serie steuern müssen. Die Bindungslust oder Begeisterungsfähigkeit bringt den Einklang des Enthusiasmus hervor. Um die Gruppen für ihre jeweiligen Tätigkeiten zu elektrisieren, reicht die Trieb­ feder der Streitlust oder des Parteigeistes nicht aus. Es müssen beide Kontraste ins Spiel gebracht werden, die bewusste Begeisterung der Streitlust und die blinde Begeisterung der Bindungslust, bei der es sich um die romantischste der drei Leidenschaften handelt, um diejenige, die der Vernunft am feindlichsten ist. Ich habe bereits erwähnt, dass sie aus

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dem Zusammentreffen mehrerer sinnlicher und geistiger Vergnügen entsteht, die gleich­ zeitig genossen werden. Sie ist unreine Bindungslust, wenn sie aus mehreren Vergnügen derselben Ordnung hervorgeht, also ausschließlich aus sinnlichen oder ausschließlich aus seelischen Vergnügen. Die Bindungslust muss bei allen sozietären Arbeiten wirksam sein, um der Vereinigungslust und der Streitlust zu ermöglichen, dort an die Stelle jener niederen Triebfedern zu treten, die man in der zivilisierten Industrie benutzt, wie die Notwendigkeit, seine Kinder zu ernähren, und die Furcht, hungers zu sterben oder ins Arbeitshaus geworfen zu werden. Die sozietäre Ordnung kann auf diese niederen Triebkräfte verzichten, da sie durch den kontinuierlichen Einsatz der drei mechanisierenden Leidenschaften, insbesondere der Bindungslust, jeder industriellen Gruppe einen vierfachen Zauber einhaucht: zwei sinnliche Reize und zwei seelische Reize, also insgesamt vier Arten von Sympathie, die zwischen den Mitgliedern einer Gruppe bestehen. Die seelische Sympathie manifestiert sich als Identität und als Kontrast. Die Mit­ glieder einer Gruppe stehen im Einklang der Identität miteinander, insofern sie die gleiche Einstellung zu einer Tätigkeit haben, die sie aus Leidenschaft gewählt haben und die sie nach eigenem Gutdünken wieder aufgeben können. Der Einklang der Iden­ tität entwickelt einen hohen Reiz, wenn man in einer Gruppe von eifrigen, intelligen­ ten und wohlwollenden Kollegen tätig ist, statt in einem Haufen jener ungeschickten und rohen Söldner, jener zerlumpten Spitzbuben, denen man sich in der Zivilisation zugesellen muss. Die freundliche und freundschaftliche Gesellschaft, in der man sich während der kurzen Arbeitssitzungen befindet, lässt eine lebhafte Begeisterung für das gemeinsame Werk entstehen, man wartet ungeduldig darauf, sich wieder in der Gruppe einzufinden oder trifft sich zwischen den Arbeitssitzungen zu gemeinsamen Mahlzeiten. Der zweite seelische Reiz ist der des Kontrasts. Ich habe es bereits er­ wähnt und muss es hier wiederholen, dass, damit dieser Reiz zwischen den verschiede­ nen Gruppen einer industriellen Serie entsteht, diese in aufeinanderfolgenden und eng beieinander liegenden Nuancen gestaffelt und in jener kompakten und dichten Stufung angeordnet sein müssen, aus der die Missklänge zwischen den benachbarten Gruppen und die Einklänge mit den gegenüberliegenden Gruppen im Gegen­Zentrum entstehen (siehe hierzu das Schaubild einer vollständigen und freien Serie am Ende des vorigen Kapitels). Neben den beiden seelischen Sympathien der Identität und des Kontrasts müssen in einer industriellen Gruppe zwei sinnliche Triebkräfte wirksam sein. Zum einen der Reiz der individuellen Perfektion oder Exzellenz, zur der die Gruppe ihr Produkt entwickelt, und der Stolz auf das Lob, das sie dafür erhält. Zum anderen die kollektive Perfektion oder gemeinschaftliche Pracht, die alle Arbeiten und Erzeugnisse der Serie entfalten. Es wird Gruppen geben, in denen einer dieser vier Reize fehlt oder nur schwach ausgeprägt ist. Das schadet nichts, da bereits zwei der genannten Reize genügen, um die industrielle Anziehung hervorzurufen. Es wird sich übrigens zeigen, dass diese zahlrei­ che weitere Quellen hat, von denen ich in den folgenden Kapiteln noch mehr als zwölf nennen werde. Es ist nur folgerichtig, dass der Mensch von der sozietären Industrie im selben Maße angezogen wird, wie ihn die zivilisierte Industrie abstößt.

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Die Wirkungskraft der sinnlichen und seelischen Reize wird in der Versuchsphalanx noch unvollständig und schwach ausgeprägt sein. Doch werden sich dort bereits schön Keime zeigen, die schnell aufblühen werden. Und dieser Vorgeschmack reicht aus, um sich vorstellen zu können, welchen Reiz die Industrie entwickeln wird, wenn die neue Ordnung sich stabilisiert hat und eine neue Generation in der Harmonie aufgewachsen ist, die von dem doppelten Unglück der zivilisierten Erziehung verschont geblieben ist, die den Körper durch falsche Gymnastik und den Geist durch Vorurteile verkümmern lässt. Fassen wir zusammen: Wenn nicht alle drei mechanisierenden Leidenschaften, wel­ che die organischen Triebfedern einer industriellen Serie bilden, kombiniert entwickelt werden, dann wird keine industrielle Anziehung entstehen oder sie wird, sollte sie den­ noch entstehen, schrittweise erlahmen und bald erlöschen. Um sich zur anziehenden Industrie aufzuschwingen, müssen also zunächst Serien von Gruppen gebildet werden, die dem Spiel dieser drei Leidenschaften unterworfen sind: – in Rivalität versetzt durch die Streitlust oder bewusste Begeisterung, die Missklänge zwischen benachbarten Gruppen erzeugt, vorausgesetzt, dass die Stufung der Grup­ pen kompakt ist, das heißt, dass ähnliche Geschmäcker und Tätigkeiten dicht neben­ einander angeordnet sind; – in Begeisterung versetzt durch die Bindungslust oder blinde Begeisterung, die aus der Kombination von sinnlichem und seelischem Reiz entsteht und die von den genann­ ten vier Arten der Sympathie genährt wird; – verzahnt durch die Flatterlust, welche die beiden anderen Leidenschaften kräftig und aktiv erhält, durch kurze Arbeitssitzungen und die regelmäßige Aussicht auf neue Vergnügen, bevor es zu Übersättigung und Erschlaffung kommt. Ich betone ausdrücklich die Bedeutung der Flatterlust, welche die am stärksten geächtete der drei genannten Leidenschaften ist. Ihr Prinzip, die kurzen und einander abwechseln­ den Arbeitssitzungen, wird von der gesamten zivilisierten Industrie verdammt. Betrach­ ten wir die Auswirkungen dieser Methode in körperlicher Hinsicht und in Hinsicht auf die Leidenschaften: In körperlicher Hinsicht sorgt sie für eine ausgeglichene Gesundheit. Die Gesundheit des Menschen nimmt notwendigerweise Schaden, wenn er sich zwölf Stunden lang ei­ ner gleichförmigen Arbeit wie dem Weben, dem Schneidern, dem Schreiben oder einer ähnlichen Tätigkeit widmet, bei der nicht abwechselnd alle Teile des Körpers und des Geistes zum Einsatz kommen. Über einen so langen Zeitraum ausgeübt, verursacht sogar eine körperlich aktive Tätigkeit wie der Landbau ähnliche gesundheitliche Schäden wie die Schreibtischarbeit. Die eine überanstrengt die Glieder und Organe, die andere schä­ digt die festen und flüssigen Bestandteile des menschlichen Körpers. Noch schlimmer ist es, wenn die körperlich aktive oder sitzende Tätigkeit über Mona­ te und Jahre hinweg ausgeübt wird. In bestimmten Gegenden leidet ein Achtel der arbei­ tenden Bevölkerung aus diesem Grund an nicht verheilten Brüchen, ganz zu schweigen vom Fieber, das von Überanstrengung und schlechter Ernährung verursacht wird. Be­ stimmte Fabriken für chemische Produkte, Glas und sogar für Stoffe sind allein durch

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die Länge der Arbeitszeit wahre Todesfallen für die Arbeiter. Diese Gefahr wäre ge­ bannt, wenn man nur kurze Arbeitssitzungen von zwei Stunden abhalten würde, die nur zwei oder drei Mal pro Woche stattfänden. Bei den Reichen verursacht die zivilisierte Ordnung andere Krankheiten, die dem armen Landarbeiter unbekannt sind: Schlagfluss, Gicht, Rheumatismus. Die unter den Reichen so stark verbreitete Fettleibigkeit deutet auf eine tiefgreifende Störung des ge­ sundheitlichen Gleichgewichts hin, auf eine widernatürliche Lebensweise sowohl in Hinsicht auf die Arbeit wie auf das Vergnügen. Der menschlichen Gesundheit förderlich ist eine ständig wechselnde Tätigkeit, die durch abwechselnde Beanspruchung alle kör­ perlichen und geistigen Fähigkeiten aktiviert und im Gleichgewicht hält. Genau dies ist es, was der Pariser Lebewelt nicht gelingt, obwohl sie sich schmeichelt, die Kunst des guten und schnellen Lebens zu beherrschen. Doch diese Art des Lebens wird erst in den Leidenschaftsserien verwirklicht werden, während die Pariser nur das Verlangen danach kennen, ohne eine Vorstellung von der Sache zu haben. Im Hinblick auf die Leidenschaften vermag die Flatterlust selbst entgegengesetzte Charaktere miteinander in Einklang zu bringen. Beispiel: A und B haben miteinander unverträgliche Temperamente, doch von den 60 Gruppen, an denen A teilnimmt, sind ein Drittel, also 20, solche, in denen seine Interessen mit denen von B zusammenfallen und in denen er einen Vorteil aus den Vorlieben von B zieht, obwohl diese den seinen entge­ gengesetzt sind. Genauso verhält es sich für B mit den Vorlieben von A. Ohne freund­ schaftliche Gefühle füreinander zu hegen, gehen A und B daher rücksichtsvoll mitein­ ander um, achten und helfen einander aus Eigeninteresse. Die Suche nach dem eigenen Vorteil, die in der Zivilisation Freundschaften zerbrechen lässt, macht in der sozietären Ordnung Feinde zu Verbündeten. Sie versöhnt unverträgliche Charaktere auf dem Wege der mittelbaren Kooperation, die aus der flatterhaften Verzahnung der Tätigkeiten in den kurzen Arbeitssitzungen entsteht. Durch die Kürze der Arbeitssitzungen ermöglicht eine Serie, auch wenn sie selbst nur aus dreißig Personen besteht, ihren Mitgliedern Zugang zu hundert anderen Serien und knüpft so mit diesen Bande der Freundschaft und des gegenseitigen Vorteils. Diese Verzahnung der Serien untereinander ist unverzichtbar, um die beiden Hauptziele der Assoziation zu erreichen, erstens, die gerechte Verteilung der dreifachen Dividende auf das eingesetzte Kapital, die eingesetzte Arbeit und das eingesetzte Talent und, zwei­ tens, den perfekten Zusammenklang der persönlichen Interessen, der durch die Habsucht befördert wird, welche heute eine unerschöpfliche Quelle der Zwietracht ist. Mithilfe derjenigen Leidenschaft, die von ihnen am meisten verächtlich gemacht wurde, der Flat­ terlust, werden wir also alle Probleme lösen, an denen die Philosophen gescheitert sind. Wie werden sie es bereuen, niemals die Vorteile der kurzen Arbeitssitzungen kalkuliert zu haben! Man muss schon wie die Moralphilosophen ein Feind der Natur und der Tatsachen sein, um das Bedürfnis nach Abwechslung zu leugnen, das sich ja selbst im körperlichen Bereich überall zeigt. Jeder Genuss, der in die Länge gezogen wird, führt zum Über­ druss, stumpft die Sinnesorgane ab und verdirbt das Vergnügen. Eine Mahlzeit, die vier Stunden dauert, wird zwangsläufig in Völlerei ausarten. Eine Oper von vier Stunden

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wird den Zuschauer schließlich langweilen. Wie die Sinnesorgane, so verlangt auch der Geist nach dieser Art von Abwechslung. Und nicht zuletzt ist das Herz bei der großen Mehrheit beider Geschlechter äußerst unbeständig. Jeder Mann und jede Frau hätten gern ein Serail, stünden Abhängigkeiten und das Gesetz dem nicht entgegen. Die ernsten Holländer, die in Amsterdam so moralisch tun, haben in Batavia ihre Serails, in denen die Frauen nach Farben sortiert sind: weiß, schwarz und braun. Hier haben wir das Geheimnis der Moral: Sie ist nichts weiter als Heuchelei unter dem Druck der Umstände und lässt ihre Maske fallen, sobald dies unge­ straft möglich ist. Die Pflanzen brauchen die Wechselwirtschaft, die Tiere die Kreuzung verschiedener Rassen. Fehlt diese Abwechslung, verkümmern sie. Auch unsere Mägen bedürfen der Abwechslung: Eine variationsreiche Kost erleichtert die Verdauung, während der Magen bald die beste Speise zurückweist, wenn sie ihm Tag für Tag dargeboten wird. Die Seele hat bald genug davon, tugendhaft zu sein, wenn sich die Tugenden nicht ab­ wechseln. Auch der Geist fordert diese Abwechslung: Charaktere, die von der Flatterlust dominiert werden, müssen in zwei oder drei Intrigen gleichzeitig verwickelt sein, sei es in gesellschaftlichen, sei es in Liebesdingen, müssen zwei oder drei Bücher gleichzeitig lesen. Die Erde selbst fordert eine Wechselwirtschaft der Saaten und des Anbaus. Die Pflan­ ze braucht zu ihrer Fortpflanzung wechselnde Methoden, wie Samen, Setzling, Pfrop­ fung usw. Der Boden will ausgetauscht werden und verlangt nach der Ausbringung neuer Erde. Überall in der Natur findet sich mithin der Wunsch nach Abwechslung. Es gibt auf der ganzen Welt nur die Moralphilosophen und die Chinesen, die Monotonie und Uniformität bevorzugen. Niemand aber ist so heuchlerisch und so weit von den Wegen der Natur abgewichen wie die Chinesen. Sogar die Moralphilosophen erkennen indirekt das menschliche Bedürfnis nach Abwechslung an, denn sie versprechen uns immer neue Reize, wenn wir ihren Geboten der Vernunft folgen, die uns Verachtung des Reichtums, Liebe zur Langeweile, schlechtes Essen, schwarze Suppe usw. empfehlen. Da die drei Leidenschaften Streitlust, Flatterlust und Bindungslust diejenigen sind, die von der Moral, der Gegenspielerin der Natur, am meisten getadelt werden, lässt sich vermuten, dass diese drei Leidenschaften in einem nach den Gesetzen der Natur konst­ ruierten sozialen Mechanismus eine zentrale Rolle spielen werden. Sie sind es, die dort das Steuerruder in der Hand halten und die Leidenschaftsserien lenken. Jede Serie, in der diese drei Leidenschaften nicht gemeinsam zur Entfaltung kommen, ist mechanisch fehlerhaft. In der Skala der zwölf Leidenschaften bilden sie das neutrale Genus: – aktives Genus: die vier seelischen Leidenschaften, die Gruppen; – passives Genus: die fünf sinnlichen Leidenschaften; – neutrales Genus: die drei mechanisierenden Leidenschaften. Die Letzteren werden als neutral bezeichnet, weil sie sich ausschließlich im Spiel der neun anderen Leidenschaften manifestieren. Sie können sich nur entfalten, indem sie mindestens zwei der neun anderen Leidenschaften in Bewegung versetzen. Dies ist der Grund, warum sie dem Blick der Analytiker bis heute entgangen sind und niemand sich dazu herabgelassen hat, ihre Existenz anzuerkennen. Es ist mir nur

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gelungen, sie zu entdecken, weil ich mich mit dem neutralen Genus beschäftigt habe, das von den Modernen geleugnet wird, obwohl es der Antike bekannt war. Wie in so vielen anderen Punkten kommt der moderne Geist auch hier immer weiter von den Wegen der Natur ab, während er sich zugleich seines sublimen Aufschwungs zur Vollkommenheit rühmt. Halten wir fest, dass die drei neutralen Leidenschaften, um ihren Zweck, die Harmo­ nie und das Gleichgewicht der Leidenschaften zu erreichen, auf alle die Mittel zurück­ greifen, welche die Moral verächtlich macht. Im Folgenden wird sich zeigen, dass jenes Gleichgewicht der Leidenschaften, von dem bisher vergeblich geträumt wurde, aus dem Spiel der Flatterlust hervorgeht, die jede Art von Übertreibung verhindert, indem sie immer neue Vergnügen darbietet, bevor man Zeit hat, der gegenwärtigen überdrüssig zu werden. Sie stellt mithin das Gleichgewicht der Leidenschaften durch einen Überfluss an Vergnügen und nicht durch vernünftige Mäßigung her. Denn sie wirkt mithilfe von zwei Begeisterungen: – der bewussten Begeisterung der Streitlust, – der blinden Begeisterung der Bindungslust. Beide würden selbst in der Tugend unweigerlich zum Exzess führen, wenn nicht perio­ disch die Flatterlust, das heißt die Leidenschaft, von einem Vergnügen zum anderen zu flattern, dazwischenträte. So werden die industriellen Serien von den drei Triebkräften gelenkt, die von der Moral am meisten missbilligt werden. Es handelt sich um zwei gegensätzliche Begeiste­ rungen, die von der dritten Triebkraft, der Unbeständigkeit, auf das rechte Maß gebracht werden. Dies ist das Geheimnis des Gleichgewichts der Leidenschaften. Man lüftet es nur, wenn man Wege beschreitet, die unseren Vorstellungen von Mäßigung und kühler Vernunft entgegengesetzt sind, und sich jene Leidenschaften zunutze macht, die den schlechtesten Leumund haben, wie die Schlemmerei und die Habsucht. In der sozietären Ordnung sind sie es, die die allgemeine Harmonie am stärksten fördern. Man wird dies im dritten Teil dieser Abhandlung überprüfen können, wo die Prinzipien, die in den ers­ ten beiden Teilen entwickelt werden, konkret zur Anwendung kommen. Zur Beachtung: Das vorstehende Kapitel ist das wichtigste dieser Abhandlung, da es die drei Triebfedern definiert, die den gesamten Mechanismus der Sozietät lenken. Ich habe ihm daher den Umfang gegeben, den jede Darstellung eines so neuen Gegenstan­ des haben muss. Dennoch bleibt alles farblos, weil die erklärenden Einzelheiten fehlen. Sic voluere dii – so wollten es die Götter – so will es das Monopol des Geistes, das jede neue Idee zurückweist und eine neue Wissenschaft auf ein paar Seiten zwingt, getreu dem Prinzip: „Keiner wird Geist haben außer uns und unseren Freunden.“2

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Nach: Molière, Die gelehrten Frauen, 3. Akt, 2. Szene. Anmerkung des Übersetzers.

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Doch erreichen sie mit ihrer Schöngeisterei das, was meine Theorie erreicht? Durch ein tugendhaftes Leben seine sinnlichen und geistigen Vergnügen zu vervierfachen, statt sein Unglück zu vervierfachen, indem man den Geboten der Moral folgt.

Kapitel VI Von den drei notwendigen Wirkungen im Mechanismus der Leidenschaftsserien Wir kommen nun von den drei Ursachen oder Triebfedern zu den drei Wirkungen, die notwendig aus ihnen hervorgehen. Wenn ein bestimmter Punkt für ein Lehrgebäude zen­ tral ist und die Grundlage einer neuen Theorie bildet, dann sollte man ihn aus verschie­ denen Perspektiven betrachten, um unterschiedliche Zugänge zu seinem Verständnis zu eröffnen. Das sorgfältigste Beweisverfahren wird bei bestimmten Lesern nicht verfan­ gen. Wir werden daher hier auf ein in der Mathematik gebräuchliches Verfahren zurück­ greifen, wo man Beweis und Gegenbeweis führt. Dieses Kapitel wird der Gegenbeweis zum vorangegangenen sein. Es beleuchtet denselben Gegenstand aus einer entgegenge­ setzten Perspektive. Die drei mechanisierenden oder neutralen Leidenschaften sind die Ursachen für die Entstehung von Leidenschaftsserien, denn sie streben in jeder Hinsicht dieser Ordnung zu. Sie bringen drei notwendige Wirkungen hervor, die sich in jeder Leidenschaftsserie finden: – Wirkung der Streitlust: kompakte Stufung der Gruppen, – Wirkung der Flatterlust: kurze und wahlfreie Arbeitssitzungen, – Wirkung der Bindungslust: Parzellierung der Arbeit in unterschiedliche Tätigkeiten. Wir werden in unserer Beweisführung von diesen drei Wirkungen ausgehen und darle­ gen, dass sie den drei mechanisierenden Leidenschaften als notwendige Hebel dienen und dass keine der mechanisierenden Leidenschaften sinnvoll tätig werden kann, ohne den Hebel zu benutzen, der ihr hier zugeordnet wird. Das heißt, wir werden von den Ursachen zu den Wirkungen fortschreiten und anschließend von den Wirkungen zu den Ursachen zurückgehen. Die Streitlust und ihre spezifische Wirkung habe ich bereits behandelt. Im Verlauf des vorigen Kapitels habe ich dargelegt, dass die kompakte Stufung notwendig ist, um die Streitlust anzuregen, jene Eifersüchteleien und Rivalitäten, die den Wettbewerb zwi­ schen den Gruppen fördern. Um die Gruppen zum Wettstreit anzustacheln, muss man die öffentliche Meinung in Ungewissheit versetzen und bei den Richtern Unentschie­ denheit erzeugen. Die öffentliche Meinung wird nicht schwanken, wenn es darum geht, über zwei Sorten Äpfel zu urteilen, die wenig Gemeinsamkeiten aufweisen, also zwei Gruppen zu bewerten, von denen die eine Renetten, die andere Kalvill­Äpfel anbaut. Man wird jedoch unschlüssig sein und unterschiedliche Auffassungen vertreten, wenn es darum geht, welche von zwei Sorten Renetten oder welche von zwei Varietäten des Kalvill­Apfels die bessere ist. Durch diese Unschlüssigkeit der öffentlichen Meinung

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entstehen zwischen den Gruppen, welche die rivalisierenden Äpfel anbauen, Eifersüch­ teleien, Anspruch auf Vorherrschaft, Missklänge und Intrigen. Solche Auseinanderset­ zungen nähren jene Leidenschaft, die wir als Streitlust bezeichnet haben. Sie entsteht aus der gestuften Konkurrenz zwischen den Varietäten einer Sorte, ja selbst zwischen den Nuancen einer Varietät, jedoch nicht zwischen Arten. Sie verlangt eine möglichst feine, möglichst dichte Gradation innerhalb der Serien. Ich komme nun zum zweiten Hebel, von dem die Entfaltung der Bindungslust ab­ hängt, der parzellierten Arbeit. Parzellierung bedeutet, im Rahmen einer bestimmten Aufgabe für jede auch nur geringfügig unterschiedliche Tätigkeit eine Untergruppe zu bilden. Nehmen wir als Beispiel die Zucht einer Blume, der Jonquille. Die Gruppe, die diese Narzissenart anbaut, muss sich einer ganzen Reihe von Tätig­ keiten widmen, die wir in drei Kategorien unterteilen können. Bodenvorbereitung: Das Umgraben, Düngen, Lockern, Mischen und Bewässern der Beete sind ganz unterschiedliche Tätigkeiten, die nicht von der Gruppe gemeinsam, son­ dern jeweils nur von einigen Mitgliedern übernommen werden, da andere Mitglieder keinen Geschmack daran finden, sich diesen Arbeiten zu widmen. Wartung und Vorbereitung der Geräte und Arbeitsmittel: Pflege der Werkzeuge und Gerätschaften, Vorbereitung und Aufbau der Zeltplanen (denn in der Harmonie werden alle Blumenbeete zum Schutz gegen starke Sonne und starken Regen überdacht), Pflege des Belvederes und der Arbeitskleidung, die dort aufbewahrt wird. (Jede Gruppe hat einen Schutzpavillon in unmittelbarer Nähe ihrer Anbauflächen.) Zuchtaufgaben: Pflege, Ausnahme und Trennung der Blumenzwiebeln, Etikettieren und Klassifizieren der Varietäten, Ernte und Aufbewahrung der Samen, Aussaat der Samen. Schließlich die wichtigste Tätigkeit von allen, die Verwaltung des Archivs, und die untergeordnete Tätigkeit der Verpflegung. Das ergibt zusammen mindestens ein Dutzend unterschiedlicher Tätigkeiten. Kein Gruppenmitglied möchte alle davon ausüben, es wird vielmehr zwei oder höchstens drei den anderen vorziehen. Es müssen also ein Dutzend Untergruppen gebildet werden, die jeweils eine dieser parzellierten Tätigkeiten übernehmen. Da die industrielle Anziehung stets parzelliert und niemals umfassend wirkt, würde man die Gruppenmitglieder ermü­ den und entmutigen, würde man sie zwingen, alle Tätigkeiten zugleich auszuüben. Doch selbst wenn eine Gruppe nur zwölf Personen umfasst, kann man dort ohne Schwierigkei­ ten zwölf Untergruppen mit jeweils drei, vier oder fünf Mitgliedern bilden, die sich für eine oder mehrere dieser Einzeltätigkeiten begeistern. Untersuchen wir, wie die parzellierte Tätigkeit zu einer Quelle der Begeisterung und des industriellen Luxus wird, indem sie die als Bindungslust bezeichnete Leidenschaft zur Entfaltung bringt. Jede Untergruppe widmet sich leidenschaftlich der Teilaufgabe, die sie gewählt hat und entwickelt dabei die Geschicklichkeit und die Kenntnisse, die man sich in jeder an­ ziehenden und mit Vergnügen ausgeübten Tätigkeit erwirbt. Folglich verlässt sich jede der zwölf Untergruppen darauf, dass die anderen ebenfalls alles daran setzen, in ihrem Bereich die besten Ergebnisse zu erreichen. Jede Untergruppe sagt gewissermaßen zu den elf anderen: Wir kümmern uns so gut wir können um die von uns gewählte Teilauf­

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gabe, kümmert euch ebenso um die eure, und das Ganze wird perfekt sein. Das Vertrau­ en, die Freundschaft, der Zauber der Gruppe werden umso mehr wachsen, je weiter man die Parzellierung der Aufgaben treibt, indem man jedem Individuum die Tätigkeiten zuordnet, in denen es sich hervortut und die ihm am liebsten sind. Warum ist die Arbeit in der Zivilisation immer eine Last, selbst dann, wenn sie anziehend ist? Weil der Arbeitgeber über alles wachen muss. Ich habe oft mit Blumen­ freunden gesprochen, die für grobe Arbeiten Tagelöhner dingen mussten, die dann das Saatgut oder die Blumenzwiebeln stahlen, die sie einpflanzen, ausnehmen oder ernten sollten. Weit davon entfernt, sich für die Arbeit im Mindesten zu interessieren, zogen sie diese in die Länge und sabotierten sie, bloß um einen Tag länger beschäftigt zu werden. Daher ist es nicht selten, dass ein Mann, der Blumen oder Obst anbauen will, an dieser Aufgabe verzweifelt. Überall, wo er nicht persönlich anwesend ist, wird er betrogen und bestohlen. Diejenigen seiner Arbeiter, die gutwillig sind, sind unge­ schickt. Seine Landwirtschaft ist für ihn ein ständiger Quell der Bitternis, ganz zu schweigen vom Risiko des Diebstahls. Der Marschall de Biron starb vor Kummer, weil in einer einzigen Nacht alle Früchte seines Gartens, den er selbst bestellte, gestohlen wurden. Das sind die Reize einer Zivilisation, die sich auf dem Weg zur Vollkommen­ heit befindet, die süßen Freuden, welche die Moral den Freunden der Landwirtschaft beschert. Nun vergleicht mit diesem Mechanismus der Betrügerei, den man Zivilisation nennt, die Freuden der sozietären und parzellierten Arbeit in einer Gesellschaftsordnung, in der Diebstahl und Betrug unmöglich sind. Vergleicht mit dem tristen Los eines zivili­ sierten Landwirtes die Zufriedenheit jener zwölf Untergruppen, von denen jede, gewiss, in ihrer Tätigkeitsparzelle Hervorragendes zu leisten, sich darauf verlassen kann, dass die elf anderen genau wie sie bestrebt sind, alle Teilaspekte der gemeinsamen Arbeit zur selben Vollkommenheit zu bringen. Und dann entscheidet, ob die zivilisierte Arbeit der menschlichen Natur gemäß ist, die sich mit gutem Recht beschwert, dort nur ein Dickicht von Schlingen und Sorgen, eine See von Klagen zu finden. Betrachten wir nun die Methode der Parzellierung als Weg zum industriellen Luxus, der notwendig ist, um die Bindungslust zu nähren, die im Vergnügen kein Maß kennt. In einer Gruppe, die eine bestimmte Blume züchtet, motiviert jede der zwölf Unter­ gruppen die anderen, indem sie ihnen beweist, dass sie ein würdiger Mitarbeiter ist. Sie will zu diesem Zweck die von ihr gewählte Teilaufgabe in möglichst hellem Glanz erstrahlen lassen. So kommen die persönlichen Beiträge zum Gedeihen der einzelnen Tätigkeitsparzellen zustande. Krösus ist Mitglied der Untergruppe der Zelte für die zweifarbige Eisranunkel, die diesen Namen trägt, weil Ober­ und Unterseite der Blütenblätter verschiedene Farben haben. Lukullus gehört zur Gruppe der geflammten Ranunkel: Beide sind eifersüchtig auf den Beifall der Öffentlichkeit bedacht und wollen ihre jeweilige Lieblingsblume in vollem Glanz erstrahlen lassen. Sie übernehmen daher die Kosten für prächtige Zel­ te aus Seidenstoff, die mit Fransen, Girlanden und Federbüschen geschmückt sind. Die Phalanx stellt nur elegante Zelte aus gestreiftem Zwillichstoff zur Verfügung, die beiden wollen jedoch besonders prachtvolle, damit jeder Fremde, von diesem Luxus angelockt,

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zu ihren Kulturen eilt und ihre Blumen landauf, landab in den Beeten den Platz der Kö­ niginnen einnehmen. Jeder Reiche wird für die Untergruppen, denen er angehört, dasselbe tun. So entsteht jener Luxus, der überall in der Landwirtschaft und in den Werkstätten herrscht, und dieser industrielle Reiz erzeugt die Begeisterung, die für das Spiel der zwölften Leidenschaft, die wir Bindungslust nennen, notwendig ist. Man wird einwenden, dass sich nicht in jeder industriellen Untergruppe ein Lukullus findet, insbesondere nicht in den Untergruppen der Schuster und Schuhflicker, denen beizutreten die Lukullusse es weniger eilig haben werden, als den Gruppen der Nelken und Ranunkeln. Das ist jedoch eine völlig falsche Annahme. Wir werden weiter unten sehen, dass die Reichen sich unter dem Einfluss der sozietären Erziehung auf alle mög­ lichen Tätigkeiten verteilen, vorausgesetzt, die Klasse der Reichen ist zahlreich genug und richtig gestuft. Halten wir grundsätzlich fest, dass die industrielle Tätigkeit durch ihre Parzellierung zwei Reize gewinnt. In materieller Hinsicht den Prunk, der in jedem Tätigkeitszweig hervorgerufen wird, und in seelischer Hinsicht die Begeisterung, die in den Untergrup­ pen geweckt wird. Die Untergruppen sind entzückt, von bestimmten Tätigkeiten, die eigentlich zu ihrer Arbeit gehören, befreit zu sein, und gleichzeitig zu sehen, wie diese von fähigen Kollegen übernommen werden. Oft vollzieht sich die parzellierte Tätigkeit gruppenübergreifend. Wenn eine be­ stimmte Gruppe nicht genügend Mitglieder für eine bestimmte Aufgabe stellen kann, wie etwa für die Errichtung der Zelte, wird sich aus mehreren Gruppen oder Serien eine ausreichende Zahl zusammenfinden, die leidenschaftlich gern diese Arbeit für die ver­ schiedenen Blumenzüchter­Gruppen übernimmt. Nur dank der parzellierten Tätigkeit harmonieren die Vorlieben der Mitglieder einer Gruppe untereinander. Denn von zwölf Männern, die sich für die Nelkenzucht begeis­ tern, wird keiner gern alle zwölf Aufgaben übernehmen, die diese Tätigkeit umfasst. Daher entstünde unter den Mitgliedern der Nelkenzucht­Gruppe ein Missklang, würden sie ihre Arbeit nicht parzellieren. Andererseits kann zwischen zwei Gruppen, die sich nicht für ihre jeweilige Tätigkeit begeistern, kein Kontrast­Reiz entstehen. Dieser Reiz wird nur von harmonischen Kon­ trasten, nicht von dissonanten Kontrasten hervorgerufen. Durch die parzellierte Tätigkeit wird mithin die als Bindungslust bezeichnete begeis­ ternde Leidenschaft zum höchsten Grad gesteigert und zur vollen Entfaltung gebracht. Für diese volle Entfaltung ist die parzellierte Tätigkeit ebenso Voraussetzung wie die bis in die Varietäten und Nuancen differenzierte kompakte Stufung Voraussetzung für die Entfaltung der Flatterlust ist. Ich habe gezeigt, dass die beiden kompakte Stufung und parzellierte Tätigkeit ge­ nannten Hebel, wenn sie auf Serien von freien Gruppen wirken, dort unfehlbar zur Ent­ faltung der beiden Leidenschaften Streitlust und Bindungslust führen. Es bleibt noch zu beweisen, dass der dritte Hebel, die kurzen, wahlfreien Arbeitssitzungen, wenn er in Se­ rien von freien Gruppen angewandt wird, dort die Entfaltung der Flatterlust genannten Leidenschaft bewirkt.

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Vorausgesetzt, dass jedes Individuum seine Arbeitssitzungen frei wählen kann, lassen sich die Leidenschaften umso besser im Gleichgewicht halten und Exzesse umso siche­ rer vermeiden, je kürzer und vielfältiger diese Sitzungen sind. Daher sind in der Assoziation die Reichen körperlich robuster als die Armen. Sie haben mehr Gelegenheit herumzuflattern, bis zu 30 Mal am Tag ihre Arbeitssitzungen zu wechseln und dem Überdruss durch die Anwendung des Parcours, das heißt der Kumu­ lation zahlreicher Vergnügen in einer einzigen Sitzung, vorzubeugen. In der Zivilisation müssen die Reichen diese Genüsse entbehren. Die kurzen Arbeitssitzungen werden nur dann zur vollständigen Entfaltung der Flatterlust führen, wenn eine Ordnung herrscht, in der die Vergnügen gefahrlos sind und die Flatterhaftigkeit stets dem eigenen Vorteil und der eigenen Gesundheit dient. Fassen wir zusammen: Die drei organischen Triebfedern einer Serie, – die Streitlust oder bewusste Begeisterung, – die Bindungslust oder blinde Begeisterung, – die Flatterlust oder Manie der Abwechslung, sind in so hohem Maße deckungsgleich mit den drei Hebeln, die wir als kompakte Stu­ fung, parzellierte Tätigkeit und kurze, wahlfreie Arbeitssitzungen bezeichnet haben, dass man die Theorie gleichermaßen auf den Triebfedern wie auf den Hebeln aufbauen kann, denn diese bedingen sich gegenseitig. Diese sechs in einer Serie wirksamen Kräfte sind untrennbar miteinander verbunden. Und wenn man – die drei Triebfedern als Ursachen, – die drei Hebel als Wirkungen betrachtet, dann kann man auf zwei Weisen die Richtigkeit einer Serie überprüfen. Die Prüfung ihres Mechanismus muss zeigen, – dass die drei Ursachen die drei Wirkungen erzeugen – und dass die drei Wirkungen aus den drei Ursachen hervorgehen. Mit dieser Methode können wir die Serie doppelt verifizieren. Jeder, der sich überzeugen will, ob eine Serie theoretisch und praktisch richtig aufgebaut ist, kann sich dieser beiden Prüfsteine bedienen. Wenn in einer Serie die drei Ursachen beobachtet werden können, dann kann man gewiss sein, dort auch die drei Wirkungen anzutreffen und umgekehrt. Da die Kunst, die drei mechanisierenden Leidenschaften in eine abgestimmte Be­ wegung zu versetzen, die dann den Gesamtmechanismus steuert, für die Theorie der Sozietät zentral ist, kann man diese Leidenschaften gar nicht intensiv genug studieren. Ich füge daher noch einige Einzelheiten hinzu. Unsere Moralphilosophen tadeln den Geist der Streitlust, während gleichzeitig die Ökonomen und Literaten diesen Geist in allen Lebensbereichen anstacheln, durch wech­ selnde Moden, durch Kontroversen über Geschmacksfragen in Malerei und Dichtung usw., bei denen es um Feinheiten geht, die ein normaler Mensch gar nicht wahrnimmt. Durch Stufung eben dieser feinsten Nuancen gelingt es einer Leidenschaftsserie, zwan­ zig oder mehr Gruppen zu elektrisieren und die zum Äußersten verfeinerte Streitlustig­

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keit von den Konsumenten auf die Produzenten zu übertragen. Am Ende einer kurzen Arbeitssitzung zerstreuen sich die Teilnehmer. Vom Konsum wechseln sie unmittelbar zu einer produktiven Arbeit, wobei sie den Parteigeist, der sie beflügelt, mitbringen. Wenn bei der Einsetzung eines unserer Parlamente die Messe gefeiert wird, dann wird der Heilige Geist angerufen, die Streitlust fernzuhalten und Brüderlichkeit und Einheit unter den Abgeordneten zu stiften. Das aber heißt nichts anderes, als den Heiligen Geist zur Auflehnung gegen Gott aufzurufen. Denn wenn der �eilige Geist die Streitlust aus­ löschen würde, würde er eben die Leidenschaft zerstören, die Gott geschaffen hat, um jene Missklänge hervorzurufen und zu steuern, die zu jeder gut gestuften Serie gehören. Der Paraklet, denkt gar nicht daran, diesem unsinnigen Verlangen nachzugeben, und lässt die Leidenschaften so, wie Gott sie geschaffen hat. Deshalb kann man beobachten, wie die Abgeordneten, denen nichts ferner liegt, als sich einig zu werden, schon an der Kirchentür beginnen, geheime Zirkel, Intrigen und Umtriebe des Parteigeistes zu organi­ sieren. Das ist das Ergebnis ihres unsinnigen Gebets, mit dem sie den Heiligen Geist auf­ fordern, den Philosophen nachzueifern und die Gesetze, die Gott uns für den Gebrauch der Leidenschaften gegeben hat, verändern zu wollen. Die Bindungslust ist in der Natur des Menschen so tief verwurzelt, dass wir auf jedes Lebewesen herabsehen, das an einfachen Vergnügen Geschmack findet und an einem einzigen Genuss genug hat. Wenn jemand jeden Tag ganz allein für sich exquisit speisen würde, ohne jemals Gäste einzuladen, würde er verdientermaßen zur Zielscheibe des Spotts werden. Doch wenn er eine mit Bedacht ausgewählte Gesellschaft bei sich ver­ sammelt, in der sowohl für das sinnliche Vergnügen in Gestalt einer guten Mahlzeit als auch für das seelische Vergnügen in Gestalt einer freundschaftlichen Atmosphäre gesorgt ist, würde er überall gerühmt, da seine Bankette ein zusammengesetztes und kein einfaches Vergnügen sind. Der Ehrgeiz ist nur dann lobenswert, wenn beide organischen Triebfedern, die dieser Leidenschaft zugrunde liegen, im Spiel sind: Eigennutz und Ruhmsucht. Er wird nied­ riger Ehrgeiz, wenn er nur durch den Eigennutz motiviert ist, und perfider Trug, wenn er ausschließlich nach Ruhm strebt. Man muss ihn daher vom einfachen zum zusam­ mengesetzten erhöhen, indem man zugleich nach Eigennutz und nach Ruhm strebt. Die Liebe ist nur dann schön, wenn sie zusammengesetzte Liebe ist und in sich gleichzeitig sinnliche wie seelische Bezauberung vereint. Sie wird belanglos oder trügerisch, wenn sie sich auf eines dieser beiden Vergnügen beschränkt. Vermittels der Flatterlust wird ein Gleichgewicht zwischen körperlichen und geis­ tigen Fähigkeiten hergestellt. Sie bürgt für die körperliche Gesundheit und den Fort­ schritt des Geistes. Nur sie kann jene allgemeine Brüderlichkeit hervorbringen, von der die Philosophen geträumt haben. Denn wenn sich die Mitarbeiter einer Gruppe anschließend auf hundert andere Gruppen verteilen, dann bewirkt diese Verzahnung, dass jede Gruppe in allen anderen Gruppen Freunde hat. Dies ist das Gegenteil der zivilisierten Mechanik, wo jeder Berufsstand den Interessen der anderen gleichgültig, ja oft sogar feindlich gegenübersteht. Die Flatterlust ist somit Weisheit, die sich unter dem Mantel des Irrsinns verbirgt. Das Gleiche gilt für die beiden anderen mechanisie­ renden Leidenschaften.

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Die drei mechanisierenden Leidenschaften finden sich in besonderem Maße bei Kin­ dern, die das neutrale Geschlecht bilden, dem die beiden affektiven Leidenschaften, sexu­ elle Liebe und elterliche Liebe, fehlen und das sich daher umso mehr den drei mechani­ sierenden Leidenschaften hingibt. So kann man beobachten, dass die Kinder zum Streit, zur Begeisterung und zur Flatterhaftigkeit neigen, namentlich in ihren Spielen, die sie nie länger als zwei Stunden ohne Wechsel durchhalten. Aufgrund dieser Disposition der Kinder ist damit zu rechnen, dass sie sich noch vor ihren Eltern in Serien organisieren werden. Ich sah mich gezwungen, die drei mechanisierenden Leidenschaften und die drei He­ bel so ausführlich zu behandeln, damit bei der Gründung von sozietären Gemeinschaf­ ten nicht willkürlich vorgegangen wird. Für jede industrielle Serie gelten mithin zwei Dreifaltigkeiten von Regeln, die befolgt werden müssen. Jede Abweichung von einer der sechs Regeln macht eine Serie fragwürdig, wie Gold, das sich bei der Berührung mit dem Prüfstein als minderwertig herausstellt. Wenn man diese Probe macht, dann wird sich zeigen, dass all die sogenannten sozietären Einrichtungen, die man in England und Amerika gegründet hat, in höchstem Maße fehlerhaft sind. Denn man beherrscht dort weder die Bildung noch den Einsatz der Leidenschaftsserien, noch die sechs Regeln, die bei der Serienbildung zu beachten sind, die doch der erste Schritt zu einem funktionie­ renden sozietären Mechanismus ist. Es bleibt noch zu erläutern, was damit gemeint ist, dass die Leidenschaftsserien gemein­ schaftlich jene Einheit anstreben, die nach dem Willen Gottes Ziel aller sozialen wie materiellen Bewegung ist. Es lassen sich drei Arten von Leidenschaften unterscheiden: Die aktiven Leiden­ schaften, worunter die vier affektiven Leidenschaften fallen, die passiven, welche die vier sinnlichen Leidenschaften umfassen, und die neutralen, bei denen es sich um die drei mechanisierenden Leidenschaften handelt, deren Wirkung darin besteht, die beiden anderen Arten zur Entfaltung zu bringen. Alle Leidenschaften wirken in einheitlicher Tä­ tigkeit, denn keine von ihnen hemmt irgendeine andere, sondern alle drei Arten entfalten sich in vollständiger Übereinstimmung. Die Moral hingegen hetzt die drei Arten der Leidenschaften gegeneinander auf. Sie fordert, dass die seelischen Leidenschaften die sinnlichen Impulse ersticken, dass die Vernunft die seelischen Leidenschaften bezwingt, während die neutralen Leidenschaften am Eingreifen gehindert werden. Die Moral strebt mithin danach, die drei Leidenschafts­ arten entweder zu unterdrücken oder in Konflikt miteinander zu bringen, die einen Lei­ denschaften den anderen zu opfern, statt sie in einer gemeinsamen und für alle freien Entwicklung miteinander zu verknüpfen, aus der schließlich die Einheit des Handelns entstehen würde. Das System der Philosophie, das in das Spiel der Leidenschaften bloß Zwietracht, �emmnisse und Konflikte trägt, verfälscht unser �andeln in jedem Sinne. Es ist das Gegenteil der Einheit und muss somit zu Ergebnissen führen, die der Einheit widerspre­ chen. Die Einheit würde uns ein zusammengesetztes anstelle eines einfachen Glücks genießen lassen, ein sinnliches und seelisches Glück zugleich. Die Moral, die die Lei­ denschaften miteinander in Konflikt bringt und sie einander opfert, bringt bei der über­

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wältigenden Mehrheit der Menschen nur zusammengesetztes Unglück, ein Unglück der Sinne und der Seele hervor. Daher erntet der redliche Mann, der in der sozietären Ordnung zu Vermögen und Ehren kommen würde, unter der Herrschaft der Philosophen und der Zivilisation nur Armut und Verachtung. Man mag sich jetzt über diesen Zustand empören, wird jedoch, sobald man die sozialen Bewegungsgesetze erkannt hat, zu der Auffassung kommen, dass er überaus weise eingerichtet ist. Denn Gott hat uns den freien Willen gegeben, um uns zwischen seinen Gesetzen und denen der Philosophen entscheiden zu können. Daher sollten wir uns nicht wundern, wenn die menschlichen Gesetze das genaue Gegenteil der göttlichen Gesetze bewirken: doppeltes Glück für die Bösen und doppeltes Unglück für die Guten. Das ist das zuverlässige Ergebnis jener Gesellschaftsform, die man Zivilisa­ tion oder Herrschaft der Philosophie nennt. Gott bedauert diesen Zustand der Unordnung, der in den Jugendjahren einer Welt unvermeidbar ist, genauso wie wir. Er hat uns jedoch die Freiheit gegeben, ihn jederzeit zu überwinden. Die Anziehung, durch die wir seine Gesetze der Sozietät begreifen kön­ nen, macht sich immer und überall bemerkbar. Es liegt nur an uns, ihre Triebkräfte zu berechnen, ihren Mechanismus zu bestimmen und jene Ordnung der Leidenschaftsserien zu errichten, zu der sie uns führen will.

4. Erziehung und Bildung1

Oft werden in der Zivilisation Gruppen um des Vergnügens willen gebildet und Bündnis­ se um des Ehrgeizes willen geschlossen. Doch handelt es sich dabei nicht um produktive, sondern um subversive Gruppen, die einzige Art von Gruppen, zu der sich in der Zivili­ sation Kinder wie auch Eltern zusammenschließen. Wenn ein Mann endlich den ihm gemäßen Beruf findet, nachdem er ihn sein halbes Leben lang verfehlt hat, erfasst ihn bald Widerwillen angesichts schlechter Bezahlung und eintöniger Arbeit, der es an Unterbrechungen fehlt. Schnell lässt seine Arbeitsfreu­ de nach, er übt seine Tätigkeit nur noch als bloßer Lohnempfänger aus, wird ideenlos und verbessert nichts mehr. Sein Wetteifer erlahmt in kürzester Zeit. Er würde in voller Stärke erhalten bleiben, wenn er seine Lieblingstätigkeit nur in kurzen Sitzungen – nicht mehr als drei innerhalb von drei Tagen – ausüben würde, mit Kollegen, die mit gleicher Leidenschaft bei der Sache sind und ihn in seinem Enthusiasmus bestärken. In der Asso­ ziation, wo alles so eingerichtet ist, dass jeder frühzeitig seine ursprünglichen Berufun­ gen entdeckt und später seine sekundären, die erst im Gefolge der ursprünglichen an den Tag kommen, werden solche Missstände unbekannt sein. Um nur von den Fehlern der heutigen Erziehung zu sprechen: Indem der Mensch erst im Alter zwischen acht und 20 Jahren beginnt, seine produktiven Fähigkeiten zu nutzen, die er von seinem dritten Lebensjahr an ausüben sollte, bringen wir uns selbst um mehr als zwei Drittel dessen, was der Mensch im Laufe seines Lebens produzieren kann, ganz abgesehen von den unproduktiven Tätigkeiten, deren Analyse zeigen wird, dass 100 Harmoniebewohner mit gleicher Arbeitskraft den Ertrag von 400 Zivilisierten erzielen. Was die Tätigkeit des einfachen Gedächtnisses oder Echo­Gedächtnisses betrifft, so werden wir darlegen, dass die Zivilisierten in mühevoller Arbeit oft weniger als nichts erreichen. Das Alter zwischen zwei und viereinhalb Jahren ist zweifellos nicht das Alter der Gelehrsamkeit. Indessen sind diese Jahre bestens geeignet für ein sehr nützliches prakti­ sches Studium, das der doppelten Sprache. Trotz der Einführung der Einheitssprache, die im allgemeinen Verkehr verwendet wird, behält jedes Land eine Lokalsprache. Jedes Kind muss also zusätzlich zur Landes­ 1

Aus: OC, Bd. X (2), 128–137. Aus dem Französischen von A. Fliedner.

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sprache eine weitere Sprache erlernen. Würde man es ausschließlich in der Einheitsspra­ che erziehen, müsste es anschließend die Lokalsprache erlernen. Man sollte ihm also durch praktische Übung beide Sprachen gleichzeitig beibringen. Jedes Kind hat eine instinktive Begabung für das mündliche Erlernen von Sprachen. Sein Gedächtnis, das im Alter zwischen zwei und vier Jahren noch durch keinerlei be­ wusstes Lernen beansprucht ist, speichert mühelos die Echo­Erinnerung, das heißt das in mündlichem Unterricht Gehörte. Es gilt daher, sich das Kleinkindalter zunutze zu machen, um mit dem Kind sowohl die lokale als auch die Einheitssprache praktisch ein­ zuüben, deren Syntax und Theorie es später erlernen wird. In bestimmten Ländern, in denen Mehrsprachigkeit notwendig ist, wie etwa in Kon­ stantinopel, kann man beobachten, dass viele Kinder aus dem Volk praktisch zwei­ oder dreisprachig großgezogen werden, ohne dass ihre geistigen Fähigkeiten dadurch in ir­ gendeiner Weise beeinträchtigt würden, da diese Art des Lernens für Kleinkinder an­ ziehend ist. Ihr Gedächtnis, das bis zum vierten Lebensjahr nicht beansprucht wird, ist besser geeignet, sich die Wörter einzuprägen, als in einem Alter, in dem es sich mit vernunftmäßigen Überlegungen füllt. Die sozietäre Ordnung weiß sich diese Fähigkeit zunutze zu machen. Die Kinder­ männer und Kindermädchen und die Vorsteher der Werkstätten sprechen regelmäßig mit dem Kind die Einheitssprache. Sie üben diese mit dem Kind Schritt für Schritt ein, sodass es im Alter von viereinhalb Jahren beide Sprachen sprechen kann. Ohne diese Fähigkeit wird es nicht zu den Cherubim zugelassen, und dort wird es sich umso fleißiger dem Erlernen der Einheitssprache widmen, als es erlebt hat, wie beim monatlichen Examen mehrere Kameraden wegen schwacher Leistungen in der Einheitssprache zurückgestuft wurden. Unsere im Berufsleben stehenden Männer verbringen oft zehn Jahre mit dem Er­ lernen von Fremdsprachen. Ein Diplomat, ein Kaufmann, ein Handlungsreisender oder ein Gelehrter verwenden Jahre darauf, solche Kenntnisse zu erwerben. Diese mühevolle Arbeit bringt, wie die meisten Arbeiten in der Zivilisation, weniger als nichts ein. Die Einheitssprache wird das Sprachstudium sowohl für die industriellen wie für die admi­ nistrativen Beziehungen überflüssig machen. Diejenigen, die sich den Geist mit einem halben Dutzend Sprachen vollstopfen, werden dadurch zumeist an allen anderen Studien gehindert. Sie verwenden also zehn kostbare Jahre darauf, ihre Intelligenz und ihr Ge­ dächtnis sinnlos abzunutzen. So wird das sozietäre Kind im Alter von fünf Jahren, was die Sprache anbetrifft, hundert Mal mehr zu den Beziehungen zwischen den Menschen beitragen können als unsere Orientalisten und andere Galeerensklaven der Sprachwissenschaft. Dieser [ ]2 wird wahrlich eine Herabkunft des Heiligen Geistes auf die Menschen sein. Denn was ist der Heilige Geist oder Geist Gottes anderes als der Geist der Einheit, der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der universellen sozialen Mechanik. Nun ist aber zweifellos die erste Triebfeder im weltweiten Mechanismus der Beziehungen die Ein­ heitssprache, die Sprache, die zur allgemeinen Verständigung dient. 2

Eckige Klammern bezeichnen fehlende oder unlesbare Wörter im Manuskript (A. d. Ü.).

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Überall dort, wo er seinesgleichen nicht verstehen kann, steht der Mensch wahrhaftig noch unter den wilden Tieren. Ein solches Unvermögen findet sich bei keiner Tierart, denn jedes Tier kann sich, ohne es lernen zu müssen und nur von seinem Instinkt geleitet, bestens mit seinen Artgenossen verständigen, wofür die Biber, Affen, Ameisen, Bienen und Wespen Zeugnis ablegen, die die höchste Stufe der sozietären Industrie erreicht ha­ ben. Solange er nicht wie sie in der Lage ist [ ], ist der Mensch diesen Tieren unterlegen. Das Kind in der Harmonie kann daher zu Recht auf jenen Titel Anspruch erheben, den sich unsere Schöngeister anmaßen, den des Weltbürgers. Denn mit viereinhalb Jah­ ren spricht es die Sprache der ganzen Welt. Es kann, wohin es auch verschlagen wird, von den Früchten seiner Arbeit unabhängig leben, da es bereits in gut zwanzig landwirt­ schaftlichen und handwerklichen Tätigkeiten bewandert ist, von denen sich die meisten überall auf der Welt ausüben lassen. Sein Geschick in diesen verschiedenen Tätigkeiten ermöglicht es ihm, wenn die Zeit reif ist, sich mühelos die wissenschaftlichen Theorien anzueignen, zu denen diese Arbeiten hinführen. Sein Geist hat sich mithin zur höchsten Stufe der Kultur und der nützlichen Kenntnisse aufgeschwungen, die man in so jungen Jahren erreichen kann. In mancher Hinsicht ist es sogar unseren heutigen Meisterden­ kern überlegen, denn wenn es auch nicht über ihre Spitzfindigkeit verfügt, so hat es doch auch nicht ihre Vorurteile. Es muss nicht befürchten, dass Condillac ihm sagt: „Ihr müsst euren Verstand von Grund auf erneuern und alles vergessen, was ihr gelernt habt.“ Es kann eine ganze Reihe von Fragen verständig beantworten, an die sich weder Condillac noch andere Weise herangetraut haben, insbesondere was die Macht Gottes und seine universelle Vorsehung angeht, die in allen zivilisierten Jahrhunderten und besonders in unserem geleugnet wurde. Das sozietäre Kind von vier bis fünf Jahren wird in einer einzigen Unterrichtsstunde begreifen, dass Gott Vorsorge getroffen hat, um es sein Glück finden zu lassen und es vermittels der Anziehung für 20 nützliche Arbeiten zu begeistern, deren Früchte es ern­ tet. Es wird begreifen, dass es von Gottes Hand gelenkt wird, da es Gewinn aus allen Vergnügungen zieht, für die Gott ihm Geschmack eingegeben hat. Es wird an die univer­ selle Vorsehung Gottes glauben, weil es deren Wohltaten am eigenen Leib erfährt und ebenso an allen, die es um sich herum erblickt. Für ein zivilisiertes Kind, das unter dem Vorwand der Moral unterdrückt, zur Arbeit geschleift und in der Schule mit der Rute geprügelt wird und das erlebt, wie es den Kindern in seiner Nachbarschaft an Brot und Kleidern fehlt, wäre eine solche Lehre unverständlich. Wie kann es an eine wohltätige Vorsehung glauben oder sich eine richtige Vorstellung von ihr machen? Das sozietäre Kind wird also, noch bevor es fünf Jahre alt geworden ist, Gott aus Dankbarkeit lieben, statt ihn zu fürchten. Es wird weit mehr über Gott wissen als unser Jahrhundert, das in zwei Sekten gespalten ist, von denen die eine Gott vollständig ver­ kennt, während die andere ihn nur zur Hälfte erkennt, denn sie schreibt ihm eine unvoll­ kommene Vorsehung zu, die dem Menschen schädliche Leidenschaften eingepflanzt hat, ihm jedoch die Mittel verweigert, sie zu harmonisieren. Ein Kind, das aus der leidenschaftlichen Anziehung nur Wohltaten für sich selbst und alle anderen hervorgehen sieht, wird nicht auf den Gedanken kommen, dass man sie unterdrücken oder das Werk Gottes korrigieren muss. Es wird die Anziehung ehren

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und folglich auch Gott, ihren Schöpfer. Es befindet sich auf dem Weg der Weisheit, da es sich in Übereinstimmung mit Gott befindet, das heißt mit der Anziehung, die allein uns erkennen lässt, welchen Mechanismus Gott für die Leidenschaften und die industriellen Gesellschaften vorgesehen hat. Was für ein Gegensatz zu jenen allerliebsten zivilisierten Kindern, die mit vier Jah­ ren nur ein Talent haben: alles zu zerbrechen, was ihnen in die Hände fällt, denen jede Fähigkeit fehlt, etwas Nützliches zu tun, und deren Hauptcharakterzug der Widerwille gegen die Arbeit ist, zu der man sie mittels Rute und Moral zwingen muss. Daher ist ihr Los so verdrießlich, dass sie stets nach Freizeit seufzen, einer Sache, die bei den Kindern in der Harmonie unbekannt ist. Diese kennen keine andere Erholung als den Wechsel der Arbeit und der Werkstatt. Ihr Tagesablauf besteht in einer Abfolge von nützlichen Vergnügungen, und eines der Wunder, die man in der Versuchsphalanx wird beobachten können, ist das Schauspiel von vierjährigen Kindern, die niemals nach Freizeit verlan­ gen, sondern immer nur von einer Arbeit zur nächsten wechseln wollen, und die keine andere Sorge haben als zu erfahren, welche Arbeitssitzungen und Zusammenkünfte für den nächsten Tag die Chöre der Cherubim und Seraphim an der Börse für sie abgemacht haben, deren Anweisungen die Kleinkinder in allen industriellen Angelegenheiten fol­ gen, da sie, zu jung, um selbst Zusammenkünfte auszuhandeln, noch nicht selbst an der Börse aktiv sind. Meine These ist, dass alle Anziehungen nützlich sind, wenn sie in Serien von Grup­ pen, die in kurzen Arbeitssitzungen tätig sind, zum Einsatz kommen. – Wie bitte? Die Leidenschaften eines Nero, eines Tiberius sollen nützlich sein? – Zweifellos, in der sozietären Industrie sogar sehr nützlich. Klären wir dieses Rätsel auf: Nero ist ein Mensch mit blutrünstigen Neigungen. Seiner Natur gemäß würde er sich schon im Alter von drei Jahren einigen der Metzger­Gruppen seiner Phalanx anschlie­ ßen. Würde der Anblick von Blut ihm Abscheu einflößen, dann könnte er nicht mit Lei­ denschaft einer Arbeit in den Schlachtereien nachgehen, sich von Kindesbeinen an zum Vergnügen mit dieser Tätigkeit vertraut machen und im Alter von 20 Jahren, wie es die Natur will, ein äußerst geschickter Metzger sein. Doch ich höre Agrippina protestieren: Was für ein lächerlicher Gedanke! Ihr glaubt, dass mein Sohn, der ein Weltreich erben soll, für den Beruf des Metzgers bestimmt ist! – Daraufhin lässt Agrippina ihren Sohn von Seneca und anderen Geistesgrößen bearbeiten, die ihm beibringen, dass die Natur fehlerhaft und seine Neigung zum Blut verabscheu­ enswürdig ist, dass ein junger Prinz nur den Handel und die Staatsverfassung lieben darf und dass es unter seiner Würde ist, sich mit Metzgern abzugeben. Diese Leidenschaft des jungen Nero wird also gehemmt, und zwanzig weitere seiner Vorlieben werden auf dieselbe Weise von den klugen Lehren der sanften und reinen Moral durchkreuzt. Das ist Senecas Rat. Doch Horaz und La Fontaine sind ganz anderer Meinung und urteilen weitaus vernünftiger, wenn sie sagen:

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Si furca naturam expellas, tamen usque recurret.3 Wenn Ihr sie zur Tür hinausjagt, Kommt sie zum Fenster wieder herein.4 Analysieren wir die unheilvollen Folgen jener unterdrückten Leidenschaft und ihrer ge­ genläufigen Wiederkehr oder Rekurrenz (um für die Beschreibung dieses Effekts den Ausdruck von Horaz zu übernehmen). Der junge Nero wird zum Schein dem Drängen seiner Erzieher nachgeben. Aber seine blutrünstigen Vorlieben sind nur verhüllt und nicht ausgemerzt. Sie machen sich wieder bemerkbar, sobald er das Joch seiner Erzieher abgeschüttelt hat, doch kehren sie in ge­ genläufiger und bösartiger Form wieder, und Nero wird zu einem grausamen �errscher. Er lebt nun auf Kosten seiner Umgebung die Leidenschaft aus, die er seit seiner Kindheit unterdrückt hat, und deren Entfaltung sehr nützlich hätte seien können, da er einer der besten Metzger in der Phalanx von Tivoli geworden wäre. Nun, was wäre dabei gewesen, wenn er sich von Kindesbeinen an dem Metzgerhand­ werk gewidmet hätte, wo im System der sozietären Bildung alles mit allem verbunden ist! Wie alle anderen Tätigkeiten auch, öffnet das Metzgerhandwerk die Tür zu allen Wissenschaften. Nero wird frühzeitig lernen, auf den ersten Blick am Fleisch und Fett der Tiere zu unterscheiden, mit welchem Futter sie ernährt und nach welchem System sie gemästet wurden. Seine Beobachtungen verknüpfen sich mit der Konkurrenz, die zwi­ schen den Metzgern von Tivoli und denen der benachbarten Phalangen besteht, sowie mit den internen Rivalitäten innerhalb der Phalanx von Tivoli zwischen den Anhängern und Gegnern bestimmter Mastmethoden. Auf diese Weise wird Nero zu einem auf Fut­ termittel und Weidepflanzen spezialisierten Agronomen. Dieses Wissen eröffnet ihm den Zugang zu weiteren Kenntnissen. Beziehen wir mit ein, dass der junge Nero, da er in einer Phalanx aufgewachsen ist, dort vom Alter von vier Jahren an 20 andere Neigungen ausleben kann, die der weise Seneca aus moralischen Gründen unterdrückt hätte. Diese vielfältigen Vorlieben, die er frühzeitig entwickeln kann, animieren den jungen Nero zu 20 verschiedenen nützlichen Studien. Er wird sich Schritt für Schritt in alle Wissenschaften einarbeiten, angetrieben allein durch jene Neigungen, die in der Zivilisation als lasterhaft verschrien sind und schon im Kindesalter unterdrückt werden. Welche Folgen hat diese Unterdrückung in der Gegenwart? Man legt der Natur Fes­ seln an, doch man kann sie nicht ausmerzen. Wenn sie sich nicht von Kindheit an nutz­ bringend in der Industrie entfalten kann, dann wird sie sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder bemerkbar machen, usque recurret, und die blutrünstigen Neigungen Neros wer­ den sich auf Kosten der Menschheit ein Betätigungsfeld suchen. Es ist mithin nicht Ne­ ro, der schlecht ist, sondern die Zivilisation, der es nicht gelungen ist, seine Neigungen nutzbar zu machen und die sie dazu zwingt, gegenläufig oder in Rekurrenz wieder zum 3 4

„Auch wenn Du die Natur mit Gewalt austreibst, so kehrt sie doch immer wieder.“ Frei nach Horaz, Epistolae, 1,10 (A. d. Ü.). Frei nach Jean de La Fontaine, Fabeln, II, 18 (A. d. Ü.).

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Vorschein zu kommen. Dieser Effekt, der stets unheilvoll ist, entstellt die Leidenschaften und lässt sie in dem Maße schädlich werden, wie sie nützlich hätten sein können. Derart geht die Zivilisation mit 99 der 100 Neigungen um, mit denen uns die Natur ausgestattet hat. Sie behandelt die Leidenschaften wie jemand, der Schmetterlinge in Raupen ver­ wandelt, und dieselben Leidenschaften, die uns heute so abstoßend erscheinen [ ] – Am Rand: verwandelte Raupen. Das Beispiel von Neros Leidenschaft lässt sich auf alle Leidenschaften und alle 810 Charaktere übertragen, unter denen der Charakter Neros eine herausragende Stellung einnimmt, da er auf derselben Stufe steht wie derjenige von Heinrich IV. von Frankreich, der einer der besten aller Zeiten war. Ihre Charaktere haben allerdings, auch wenn sie auf derselben Stufe stehen, keine Ähnlichkeit miteinander. Beide, Nero und Heinrich IV. haben jeweils vier dominante Leidenschaften, die jedoch bei beiden verschieden sind, weshalb der eine, da er in der Zivilisation mehr Entfaltungsmöglichkeiten fand, sich zum Guten entwickeln konnte. Doch wenn man die Wirkungen der gegenläufigen Entwick­ lung der Leidenschaften systematisch und im Allgemeinen untersucht, dann wird sich herausstellen, dass Heinrich IV., wenn er, statt als Thronerbe zur Welt zu kommen, in einfachen Verhältnissen geboren worden wäre und von Kindheit an mit den vielfältigen Widrigkeiten der Armut zu kämpfen gehabt hätte, Anführer einer Bande von Straßenräu­ bern geworden wäre. Dies ist – kurz gefasst – das Geheimnis des Spiels der Leidenschaften. Alle sind gut, wenn sie eine angemessene Verwendung finden. Diejenigen, die Böses hervorbringen, gleichen den Getreideähren, die aufgrund von Witterungsschwankungen, verdorbener Böden oder falscher Düngung ein Mutterkorn hervorgebracht haben. Die Schuld liegt nicht bei der Ähre, sondern bei den Umständen, die ihr Wachstum fehlgeleitet, ihre Ent­ wicklung und ihre Frucht verdorben haben. Folglich werden die schlechtesten Charaktere in der Zivilisation, wie Nero, den ich ausgewählt habe, weil er der schlimmste von allen war, in der sozietären Ordnung höchs­ te Anerkennung genießen. Diese Ordnung wird nicht Nero, sondern die Zivilisation an­ klagen, welche die wertvollsten Keime entarten lässt und den gesamten Mechanismus der Leidenschaften und der Charaktere zu einem Zerrbild macht. Sobald die Phalangen, nachdem die jetzige Generation ausgestorben ist, sich nur noch aus vollen Charakteren zusammensetzen, das heißt ausschließlich aus solchen, die in der sozietären Ordnung aufgewachsen sind und die von klein auf in all ihren Neigungen entwickelt wurden, werden sie jeden Charakter nach einer berühmten Gestalt der Zivilisation benennen, wie Nero oder Heinrich IV., Platon oder Robespierre. Jede Phalanx wird in ihrer Stufung von 810 Charakteren acht tetratonisch genannte Paare haben, Charaktere mit vierfacher Dominante, von denen zwei Paare Nero und Nerone und Henri und Henriette5 genannt werden, die in der Hierarchie der Charaktere denselben Rang einnehmen, den in unseren Regimentern die Bataillons­ oder Schwadronskommandanten innehaben. Jedes dreijährige Kind hat etwa 20 bis 30 Neigungen und selbst bei Kindern, die in den besten Verhältnissen aufwachsen, vermag die Erziehung nicht einmal die Hälfte 5

Der französische Name Heinrichs IV. ist Henri IV. (A. d. Ü.).

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davon zu entwickeln. Daher erkennen auch die Fürsten erst im Alter von 20 oder 25 Jahren ihre Neigungen. Ludwig XVI. wurde sich erst mit 20 Jahren darüber klar, dass er Schlosser aus Leidenschaft war. Wenn er in einer Phalanx aufgewachsen wäre, hätte er dies schon mit zweieinhalb Jahren erkannt. Doch in der Zivilisation hat das zivilisier­ teste Kind, der Sohn eines Königs, keine Gelegenheit, seinen industriellen Berufungen nachzugehen, in kleinen Werkstätten, die den großen angegliedert sind und die mit fä­ higen Lehrern und anziehenden Gerätschaften ausgestattet sind. Wenn nun aber von 20 Neigungen des Kindes zehn gehemmt werden, und sei es auch nur durch das Fehlen von Materialien und Werkstätten, dann wird der Charakter des Kindes verfälscht und die Hemmung, auch wenn sie ohne Absicht der Eltern erfolgte, reicht aus, um dort, wo die Keime zu zehn Tugenden gelegen hätten, zehn Laster keimen zu lassen. Und was die zehn anderen Vorlieben betrifft, die das zivilisierte Kind Gelegenheit hat zu befriedigen, so entarten sie ebenfalls zu Lastern, weil sie weder vom Gemeinschafts­ geist stimuliert werden noch in den Missklängen innerhalb der Serien ein Gegengewicht finden, noch durch die Rivalitäten der Gruppen verfeinert werden. Daher neigen sie zum Exzess und entwickeln sich zu Lastern. Auf diese Weise führt in der Zivilisation sowohl die Entfaltung der Neigungen als auch ihre Hemmung zum Bösen. So sehr steht diese lügenhafte Gesellschaft der ausgeglichenen Entwicklung der menschlichen Natur entge­ gen. Die hier gegebene Erklärung für die blutrünstigen Neigungen Neros und die Mög­ lichkeit, sie in der sozietären Gesellschaft nutzbar zu machen, trifft gleichermaßen auf alle anderen schädlichen Leidenschaften zu. Diese werden schädlich, weil man ihnen bestimmte Fesseln anlegt, durch die sie von Kindheit an entstellt und in ihrer natürlichen Entwicklung beeinträchtigt werden. Von all unseren berühmten Verbrechern wurde kei­ ner schlecht geboren. Sie alle hätten in der sozietären Ordnung an Tugend nicht hinter unseren am meisten gerühmten Vorbildern zurückgestanden, deren vorgebliche Tugen­ den wir durchaus mit einigem Misstrauen betrachten sollten. Denn jedes dieser morali­ schen Vorbilder hat es verdient, in dieser Welt gehängt zu werden, und in der nächsten in der Hölle zu schmoren. Bilden wir uns ein Urteil, indem wir die tugendhaftesten von allen betrachten: Sokrates und Heinrich IV. Sokrates, dem man den Beinamen Freund der Götter und Menschen gab, diese Ver­ körperung des Sanftmuts und der reinen Moral, war ein ausgeprägter Päderast, der seine rechtmäßige Ehefrau vernachlässigte und unter dem Vorwand, diese gemäß den repu­ blikanischen Werten zu erziehen, halbwüchsige Knaben verführte. Er predigte die Päd­ erastie ebenso unverfroren wie ein gewisser R. P. Lacaze, der ein Buch mit dem Titel De laudibus pederastiae verfasst hat. Sokrates wurde darüber hinaus von den Priestern seines Landes der Gottlosigkeit und des Unglaubens überführt. Für eine Epoche, in der die christliche Religion noch nicht existierte, waren diese Priester durchaus rechtgläu­ big: Man musste ja schließlich an irgendetwas glauben. Heinrich IV., dessen Tugenden in dem dreifachen Talent bestanden, zu trinken, sich zu schlagen und jedem Rock hinterherzulaufen, beging einige ziemlich skandalöse Ehe­ brüche. So ließ er einmal eine Frau verheiraten, die man anschließend daran hinderte, in der Hochzeitsnacht mit ihrem Ehemann zu schlafen. Dann verschickte man den Phan­

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tomgatten an die Grenze, um die Ehefrau noch jungfräulich dem König Heinrich zu überliefern. Die Kinder, die aus dieser Verbindung hervorgingen, schob man dem nomi­ nellen Ehemann unter, womit Henri dem Ehebruch noch ein Sakrileg hinzufügte, die öffentliche Entweihung des Sakraments der Ehe. Somit haben sowohl Sokrates als auch Heinrich IV., der eine als Päderast und Got­ tesleugner, der andere als Ehebrecher und Schänder eines Sakraments, in dieser Welt das Schafott und in der nächsten das Höllenfeuer verdient. An diesen Beispielen wird deutlich, wie lächerlich unsere Lehren über Laster und Tugenden und die sanfte und reine Moral sind. Lehren, die umso unvernünftiger sind, als es keine Tugend gibt, die nicht bei irgendeinem Volk Laster und kein Laster, das nicht bei irgendeinem anderen Volk Tugend gewesen wäre. Ein solches dogmatisches Durcheinander wird es in der Assoziation nicht geben, wo man über eine zuverlässige Richtschnur für die Klassifizierung der Tugenden und Laster verfügt. Tugendhaft sind dort solche Handlungen, die mit den Absichten Gottes übereinstimmen, welche sich in der leidenschaftlichen Anziehung ausdrücken. Als las­ terhaft wird man jede Handlung bezeichnen, welche die Anziehung und die kollektive und individuelle Entfaltung der zwölf Leidenschaften hemmt, das heißt die Vermehrung des Reichtums und der Gesundheit, der Vergnügen und affektiven Bindungen, der Man­ nigfaltigkeit der Mechanismen und der universellen Einheit. In diesen vier Zeilen ist die gesamte Theorie der natürlichen Tugenden und Laster enthalten. Wenn wir sie auf andere Sitten als die unsrigen anwenden, so sollten wir die Fakire von Hindustan als lasterhaft ansehen, deren sinnlose Askese und tugendhafte Faulenzerei in keiner Weise zur Ver­ mehrung der Reichtümer und Tugenden beitragen. Von dem Moment an, wo der Mechanismus der industriellen Anziehung in Gang ge­ setzt ist, wird es im Übrigen keine Faulenzer mehr geben. Voller Erstaunen wird man in der Versuchsphalanx beobachten, wie die Kinder, die heute als faule, bösartige Subjekte gelten, bereits nach den ersten vierzehn Tagen an einer großen Zahl von nützlichen Tä­ tigkeiten sowohl körperlicher wie geistiger Art teilnehmen, wo sie ihre Fähigkeiten mit einem Ehrgeiz entwickeln, der selbst ihre Eltern überraschen wird. Sie werden einsehen, dass das Kind sich zu Recht einem Unterricht verweigert hat, dessen Form dem Wil­ len der Natur zuwiderlief, die in kurze Arbeitssitzungen aufgeteilte Serien von Gruppen fordert und Miniaturwerkstätten, die dem Geschmack und der Bequemlichkeit der Kin­ der entsprechend ausgestattet sind. Die Eltern selbst werden sich beeilen, ihren Kindern nachzueifern, sie zum Vorbild zu nehmen, und sich in unterschiedlichen industriellen Serien einschreiben. Nachdem dieser Beweis angetreten ist, wird sich eine so verführeri­ sche und gewinnträchtige Ordnung zweifellos bald auf die ganze Menschheit ausdehnen, während sich das soziale Zusammenleben zu einer Vollkommenheit erhebt, die, was den inneren und äußeren Luxus betrifft, das Gegenbild der Zivilisation sein wird.

5. Gleichheit der Geschlechter1

Ich weiß nicht, worauf sich der Anspruch der Franzosen auf den Ruf eines galanten Vol­ kes begründet; er scheint mir ebenso sinnlos zu sein wie die Beinamen Schönes Frankreich und Große Nation. Aber genug von der Schönheit und Größe Frankreichs; davon wird noch die Rede sein. Woher kommt es, dass die Franzosen, die so eifrig bemüht sind, Gesetze und Verfas­ sungen wie das Hemd zu wechseln, immer nur einem einzigen Gesetz, dem Gesetz, das den Frauen den Herrscherstab entreißt, treu blieben? Unter allen Dynastien erhielt sich das Salische Gesetz.2 Nirgendwo ist größere Beständigkeit und Einmütigkeit als bei den Franzosen zu finden, wenn es um die tatsächliche �erabsetzung dieses Geschlechts geht, demgegenüber sie so tun, als zeigten sie sich ihm im Weihrauchdunst erkenntlich. Daher gibt es keine Nation, in der die Frauen von ihren Liebhabern mehr hinter­ gangen, mehr durch Heiratsversprechen und vorgeschützten Aufschub getäuscht, mehr, wenn sie schwanger sind, im Stich gelassen und schließlich, wenn die Liebe vorbei ist, mehr vergessen würden. Und mit diesem Charakter bezeichnen die Franzosen sich als galant! Sie sind bloß rücksichtslos und egoistisch in der Liebe, liebenswürdig in Sachen Verführung, betrügerisch nach erreichtem Erfolg. Keine Nation hat auf der Bühne die Frauen, die Freude an der Wissenschaft haben, stärker verleumdet. Heißt das die Natur kennen? Sollten die Frauen in Literatur und Kunst nicht dieselbe Bestimmung wie auf dem Throne haben? Von Semiramis3 bis zu Katharina4 kamen sieben große Königinnen auf eine mittelmäßige Königin, während ständig sieben mittelmäßige Könige auf nur einen großen König kamen.

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Aus: OC, Bd. V, 186–190. Aus dem Französischen von L. Zahn. Salisches Gesetz (Lex Salica), um 500 n. Chr. aufgezeichnetes Volksrecht der salischen Franken. Nach der Lex Salica gilt der Grundsatz, dass das weibliche Geschlecht von der Erbfolge in den Grundbesitz des Erblassers auszuschließen ist (successio ad legem Salicam). Er ging in das franzö­ sische Thronfolgerecht, in das fürstliche Erbrecht deutscher Länder und in das spanische Thronfol­ gerecht über. Semiramis – sagenumwobene assyrische Königin, angeblich Gründerin Babylons und seiner hän­ genden Gärten sowie anderer Städte. Gemeint ist Katharina II. von Russland (1729–1796).

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Das wird auch in der Literatur und in der Kunst so sein; das weibliche Geschlecht wird dort Siege erringen, sobald die harmonische Erziehung es zu seiner Natur zurückgeführt haben wird, denn sie wurde durch ein Gesellschaftssystem, das die Frauen an beschwer­ liche Funktionen in unseren zersplitterten Haushalten bindet, unterdrückt. Ich bestreite nicht, dass es gegenwärtig notwendig ist, bei den Frauen den Hang zum Ruhm, die Hingabe an große Dinge, das Verlangen nach Ehren abzutöten. Da eine Frau in der Zivilisation nur dazu bestimmt ist, am Kochtopf zu stehen und die Hosen des Ehemannes zu flicken, muss die Erziehung ihren Geist zwangsläufig kleiner erschei­ nen lassen und erreichen, dass sie zu untergeordneten Tätigkeiten wie Abschäumen der Suppe und Flicken alter Hosen bereit ist. Damit also der Sklave zur Verdummung neige, verbietet man ihm die Wissensaneignung, denn sie würde ihn zur Erkenntnis seiner ver­ ächtlichen Lage führen. Außerdem spricht man ihm jede Tugend ab, wie Aristoteles es tut, der glaubte, dass einem Sklaven keinerlei Tugenden geziemen würden. Eine große Zahl von Tugenden hält die Philosophie auch für das andere Geschlecht für unschicklich. Ein Ehemann wird sich immer den Erfordernissen seines Haushalts widersetzen; es besteht die Notwendigkeit, die Ehefrau an die Besorgung der Hausarbeit zu binden, wäh­ rend der Ehemann sich äußeren Angelegenheiten hingibt. Solche Argumente sind im sozietären Zustand nicht stichhaltig; dort beschäftigt der durch die allgemeine Verbindung aller Arbeiten vereinfachte Haushalt nur den achten Teil der Frauen, die er heute bindet. Man könnte also damit aufhören, dieses Geschlecht durch eine auf Unterwürfigkeit gerichtete Erziehung zu erniedrigen; man könnte den jungen Mädchen den Wunsch nach Ruhm, der zugleich ein Weg zu Reichtum und Be­ rühmtheit ist, einflößen, denn sie werden an den von der �armonie für Wissenschaft und Kunst ausgesetzten großartigen Belohnungen teilhaben. Und die Väter selbst, um den Wert des Geldes wissend, werden ihre Töchter anregen, diese viele Millionen Gewinn einbringende Laufbahn, die weder in der Kunst der Suppenabschäumerei noch der Hosenflickerei in Aussicht steht, einzuschlagen. Wenn übrigens der Wettstreit zwischen den Geschlechtern gut entwickelt wird, wer­ den die Frauengruppen die nötigen Kenntnisse für jede ihrer Funktionen besitzen und die Theorie – selbst bei ihrem Wirken in Küche und Keller – mit der Praxis verbinden. Wenn es sich um das Waschhaus handelt, so wollen sie, dass ihre Vorsitzende oder eine andere Inhaberin die chemischen Eigenschaften der Seifen und Laugen, ihre Bleichwirkung kenne. Die Gruppe würde es als Herabsetzung ansehen, wäre sie der Gefahr ausgesetzt, mangels Kenntnissen falsch vorzugehen oder gezwungen zu sein, jedes Mal Männer zur Erläuterung der Arbeit herbeizurufen. Das männliche Geschlecht erobert alle Arbeiten der Frauen und nimmt ihnen auch die Schneiderei ab. Diese Übertreibung wird aufhören, sobald die freie Entfaltung der Anziehung jedes Geschlecht auf seine natürliche Tätigkeit zurückgeführt haben wird. Alle Vorurteile über die Unfähigkeit der Frauen werden zusammenbrechen, und in die kleinen Schulen der Harmonie werden mehr Mädchen als Knaben strömen. Wäre den großen Denkern Mohammed und Jean­Jacques Rousseau zufolge die Frau tatsächlich nur zum Vergnügen des Mannes oder für den Küchendienst auserse­ hen, so würde das Gesetz des Gegensatzes im Wetteifer, die Grundlage des Systems des

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Gleichgewichts der Leidenschaften, in den häuslichen und erzieherischen Beziehungen verkannt werden! Worauf würde sich der Wettbewerb gründen, wenn die Knaben sich bei verschiedenen Tätigkeiten nicht von Mädchen gleichen Alters überholt sähen! Man könnte das männliche Geschlecht nicht zur �öflichkeit und Ehrerbietung den Frauen gegenüber anhalten. Dieser Wettbewerb muss sich auf die eine Hälfte der Kinder schon erstrecken, um die allgemeinen Motive der �öflichkeit der Erwachsenen zu verändern. Von Frauen sollte eine solche Achtung vom frühesten Alter an auf Grund eines an­ erkannten Verdienstes bezeugt werden. Aber um welche Art von Überlegenheit geht es daher? In der Kunst der Suppenschäumerei! In der Harmonie wird das eher die Aufgabe der alten Leute als die der Kinder sein. Viel Kraft und Erfahrung sind vonnöten, um die großen Kessel der Harmonie, von denen jeder wenigstens einen Doppelzentner Rind­ fleisch enthält, zu warten. Die jungen Mädchen könnten sich höchstens mit den Tontöp­ fen befassen, in denen delikate Rindfleischspeisen zubereitet werden und die sehr geübte Köchinnen erfordern, aber für die mit Eisen umschlossenen und auf Rollen bewegten Tonkessel werden Männer gebraucht. Die Kinder weiblichen Geschlechts im Alter von 9 bis 15 Jahren müssen ihr Stre­ ben nach philosophischem Verstand nicht auf das Suppekochen beschränken; die jungen Ehefrauen, weit davon entfernt, diese Arbeit zu vernachlässigen, verstehen bessere Sup­ pen zu kochen als die Pariser Fanatiker der Vervollkommnungsfähigkeit. Jedoch rührt der auf sie fallende Glanz aus dem Umgang mit Kunst und Wissenschaft her, mit dem sie schon frühzeitig die sorgfältige Arbeit des Anbaus, der Fabrikation und des Kochens zu verbinden wissen, denn ohne Kochen geht es nun einmal nicht. Ohne diesen Gegensatz im Verdienst der Mädchen und Knaben im Kindesalter würde es kein Gleichgewicht gegen die natürliche Ruppigkeit des menschlichen Geschlechts, gegen den Hang der kleinen Jungen zur Verachtung des anderen Geschlechts geben. Die Mädchen wären vollkommen entmutigt und die Knaben ohne Wetteifer, würde man nicht jedem Geschlecht im Kindesalter Wege besonderer Auszeichnung und Ehrentitel für die Achtung des anderen Geschlechts in Aussicht stellen. In diesem Wettstreit liegt die wahre Bestimmung des weiblichen Geschlechts. Für das der Natur zurückgegebene weibliche Geschlecht, für seine glanzvolle Zukunft und von Kindheit an bedeutsame Rolle mag das Bild gelten, das die Kleinen Banden5 bieten. Ich spreche noch nicht von seiner im Erwachsenenalter gespielten Rolle, sondern nur von seinen Beziehungen. Fern jeder Vermutung, den Frauen könnte vorbehalten sein, sich bereits im frühen Alter in der Industrie, in Kunst und Wissenschaft sowie im gesellschaftlichen Leben her­ 5

Die zu zwei Dritteln aus Jungen und zu einem Drittel aus Mädchen bestehenden „Kleinen Horden“ reiten Zwergpferde, springen – in Ausnutzung ihrer Vorliebe für Schmutz – in die Bresche bei ab­ stoßenden, d.h. schmutzigen, groben, auch gefährlichen Arbeiten und werden zur Verachtung des Reichtums erzogen. Die zu zwei Dritteln aus Mädchen und nur zu einem Drittel aus Jungen beste­ henden „Kleinen Banden“ werden entsprechend ihren Neigungen zu �öflichkeit, zur Entwicklung differenzierter Geschmacksrichtungen usw. erzogen. Beide Gruppen wetteifern miteinander. Vgl. hierzu OC, Bd. V, 140–156 sowie OC, Bd. VI, 207–218.

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vorzutun, weiß man sie nur dem drückenden Joch der Ehe mit einem Unbekannten, der um sie feilscht, auszusetzen. Ich gebe zu, dass die Ordnung der Zivilisation dieser verabscheuungswürdigen Politik bedarf; nicht weniger gewiss ist jedoch, dass die Philo­ sophen und die Franzosen sich bewusst dazu hergeben und bösartiger als andere durch verschwenderisch dargebotene Spitzfindigkeiten mitwirken, um die Frauen vom Weg des Ruhmes abzubringen und mit ganzer Kraft davon auszuschließen. Im Kindesalter macht man sie moralisch zu Sklaven, im Erwachsenenalter treibt man sie zur Intrige, zu törichtem Stolz, indem man unaufhörlich die vergängliche Kraft ihrer Reize rühmt; oder man regt in ihnen die Arglist, ihre Gabe, den Mann zu zähmen, an; man rühmt ihre Leichtfertigkeit, indem man mit Diderot sagt, dass man, um an sie zu schreiben, „seine Feder in den Regenbogen tauchen und mit dem Staub der Schmetterlingsflügel bestreuen“ müsse. Was ist das Ergebnis dieser Fadheiten aus Regenbogen und Schmetterling? Beide Geschlechter sind dabei die Betrogenen, denn, wenn man die gesellschaftliche Bestim­ mung der Frau nicht erkennt, verfehlt man in der Rückwirkung auch die der Männer. Ist der Ausweg aus der Zivilisation einem Geschlecht verschlossen, so gleichfalls dem anderen. Wenn ich dem schwachen Geschlecht Gerechtigkeit widerfahren lasse, so denke ich keineswegs daran, um seine Zustimmung zu werben. Man gewinnt nichts dabei, einem Sklaven zu predigen, denn er achtet nur diejenigen, die ihn beherrschen, und in der Zi­ vilisation haben die Frauen diese Eigenschaft, verhalten sie sich gleichgültig gegenüber ihrer Unterdrückung, denn sie schätzen nur die Kunst der Täuschung des anderen Ge­ schlechts, das sie unterdrückt und auf die Haushaltsarbeit beschränkt. Die Türken belehren die Frauen, sie hätten keine Seele und seien nicht würdig, ins Paradies zu kommen. Die Franzosen suchen sie zu überzeugen, sie hätten kein Talent und seien nicht geschaffen, hervorragende Tätigkeiten und wissenschaftliche Siege für sich zu beanspruchen. Das ist das gleiche Dogma, nur in der Form unterschieden, grobschlächtig im Mor­ genland, höflich im Abendland, hüllt es sich bei uns in Schmeichelei, um den Egois­ mus des starken Geschlechts, sein Talent­ und Machtmonopol zu maskieren, zu dessen Gunsten man die Frauen kleiner erscheinen lassen und davon überzeugen muss, dass die Natur sie auf untergeordnete Haushaltsfunktionen verweist, auf Funktionen, die in der sozietären Gesellschaft im Kindesalter zu bewältigen sind. Die Sévignés6 und Staëls7 waren keine Köchinnen, so wenig wie die Elisabeths und Katharinas. Das sind Frauen, in denen man für die Zukunft die Bestimmung des schwa­ chen Geschlechtes und den Wettstreit der Talente erkennen kann; es wird ihn erfolg­ reich führen, sobald es seiner Natur zurückgegeben ist, und es wird darin bestehen, dem Manne nicht zu dienen, sondern mit ihm zu wetteifern, nicht die abgewetzten Hosen der Philosophen zu flicken, sondern ihren Trödelhaufen von 400.000 Buchbänden in der 6 7

Madame de Sévigné (1626–1696), Verfasserin der Briefe, die als Widerspiegelung des gesellschaftli­ chen Lebens am Hof und in den Salons des absolutistischen Frankreich große Beachtung fanden. Madame de Staël (1766–1817), französische Schriftstellerin.

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sozietären Harmonie der Lüge zu überführen, denn sie enthalten die Predigt der indust­ riellen Zersplitterung und der Erniedrigung der Frau. Als Preis für diesen Wust politischer Fadheiten wird das Geschlecht, das von den Philosophen nur für tauglich erachtet wurde, den Eintopf abzuschäumen, in der Harmo­ nie das Urteil fällen, dass man ihnen wie Japhet8 den Topf über dem Kopf ausgießen sollte, weil sie 3.000 Jahre lang die Erforschung des Menschen verabsäumt, die Frau herabgesetzt und verdorben, das Kind gehemmt und verzogen und die soziale Welt durch Trugbilder der Freiheit, die darauf hinauslaufen, das ganze weibliche Geschlecht und dazu die gewaltige Mehrheit des männlichen Geschlechtes zu unterdrücken, erschüttert haben.

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Fourier bezieht sich auf eine Gestalt der Bibel, auf Japhet, den dritten Sohn Noahs.

6. Eine „neue Welt“ der Liebe und des Konsums1

Prolog über die Hinweise Gottes für das Studium der Leidenschaften und über den materiellen Reichtum der Natur Wie ein moderner Redner sehr richtig bemerkte, ist der simple gesunde Menschenver­ stand gewöhnlich ein besserer Ratgeber als die Spitzfindigkeiten der Wissenschaft. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass es einen Gott gibt, während die Gelehrten nach 25 Jahrhunderten der Spitzfindigkeiten noch immer geteilter Meinung sind. Die einen behaupten, dass es keinen Gott gibt, die anderen, dass Gott apathisch und unfähig ist und an unserem Schicksal keinen Anteil nimmt. Ich für meinen Teil halte mich an das, was uns der gesunde Menschenverstand eingibt, der sagt, dass Gott für unsere Be­ dürfnisse Vorsorge getroffen hat und dass er uns (zweifellos) die Fähigkeiten gegeben hat, um die Entdeckungen zu machen, derer wir bedürfen. Wenn es dabei Verzögerungen gibt, ist das kein Grund zur Verzweiflung. Der nautische Kompass (die Magnetnadel), der so dringend gebraucht wurde, ist 5.000 Jahre lang unentdeckt geblieben. Seine späte Entdeckung bedeutet nicht, dass Gott vom Weg der Vorsehung abgewichen ist. Es ist unser Geist, der zurückgeblieben ist, der mit seinen Forschungsmethoden eine falsche Richtung einschlägt. Der gesunde Menschenverstand sagt uns weiterhin, dass, wenn Gott uns Mittel und Wege des Heils und des gesellschaftlichen Glücks zur Verfügung gestellt hat, er diesen auch Hinweise beigegeben haben muss, um unseren Forschungen den Weg zu weisen, vor allem, was den wichtigsten Gegenstand von allen betrifft, die Gesetze der Leidenschaft. Bis heute tappt man bei der Erforschung der Leidenschaften und ihrer Bestimmungen im tiefsten Dunkel herum, und nach zweieinhalbtausend Jah­ ren der Niederlagen auf diesem Gebiet scheut der menschliche Geist davor zurück, den Kampf wieder aufzunehmen. Wenn die Heerführer und Soldaten der Mut verlassen hat, dann genügt manchmal ein Kind, um die �offnung wieder zu entfachen. Der zehnjährige David richtete den Mut Israels wieder auf, indem er Goliath erschlug. Jeanne d’Arc, eine einfache Schäferin, elektrisierte die französische Armee und führte sie zum Sieg. Unsere gelehrten Legionen 1

Aus: OC, Bd. VII, 1–22, 326–329 und 333–342. Aus dem Französischen von A. Fliedner. Die in den Fußnoten enthaltenen Anmerkungen stammen, sofern nicht anders angegeben, von der Heraus­ geberin des französischen Textes, Simone Debout­Oleszkiewicz (A. d. Ü.).

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sind in einen Zustand der Entmutigung verfallen, in dem sie den anerkannten Heerfüh­ rern kein Vertrauen mehr schenken. Es muss [ ]2 ein Kind kommen und sich an ihre Spitze setzen. Gerade die Tatsache, dass ich ein Unbekannter bin, gibt mir das Recht, die Zügel in die Hand zu nehmen, in einem Moment, wo alle Welt sie fahren gelassen hat, wo der menschliche Geist nur noch über seine Ohnmacht seufzt und mit Voltaire ausruft: „Welch tiefe Nacht verhüllt noch immer die Natur.“ Auf der Suche nach einem Leuchtfeuer3 Verloren in tiefster Dunkelheit, im Abgrund der politischen und moralischen Systeme, wollen wir damit beginnen, ein Leuchtfeuer zu suchen, das verlässlicher ist als jene vor­ gebliche Vernunft, die uns in die Irre geführt hat. Vertrauen wir uns wieder Gott an und suchen in diesem Labyrinth nach seiner Spur. Wo in unseren Leidenschaften finden wir einen Hauch des göttlichen Geistes? Im Wüten des Ehrgeizes, in den Tücken der Politik und des �andels, in den käuflichen Freundschaften oder in den Familienzwisten? Nein, �absucht, Lüge und Neid bezeugen nur die Abwesenheit göttlichen Geistes. Doch es gibt eine Leidenschaft, die sich ihren ursprünglichen Adel bewahrt hat, die das heilige Feuer, das göttliche Wesen des Menschen lebendig erhält. Diese Leidenschaft ist die Lie­ be, ganz und gar göttliche Flamme, wahrhaftiger Geist Gottes, der ganz Liebe ist. Erhebt sich der Mensch in der Trunkenheit der Liebe nicht zum Himmel und meint er nicht, ein Gott zu sein? Gibt es einen Liebenden oder eine Liebende, die den geliebten Gegenstand nicht vergöttlicht und die nicht überzeugt ist, mit ihm die himmlische Glückseligkeit zu teilen. Selbst unverträgliche Charaktere lässt die Liebe leidenschaftlich füreinander ent­ brennen. Aus Liebe ließ sich die hochmütige Diana herab zum Schäfer Endymion. Die anderen Leidenschaften haben nicht annähernd die Kraft der Liebe, wenn es darum geht, Menschen verschiedener gesellschaftlicher Stellung zusammenzuführen. Die Liebe, diese ganz und gar göttliche Leidenschaft, ist der ideale Brennpunkt Was sind die anderen Leidenschaften verglichen mit der Liebe? Gibt es irgendeine, die ihr gleichkommt? Ohne die Liebe ist das Leben eine Wüste. Ist die Zeit der Liebe vo­ rüber, kann der Mensch nur noch vegetieren, sich betäuben und sich über die Leere in seiner Seele hinwegtäuschen. Jene Frauen, die nicht mehr geliebt werden, fühlen bitter diese Wahrheit und suchen im �erbst ihres Lebens in der Religion einen Schatten jenes Gottes, der sich, zusammen mit ihrer geliebten Leidenschaft, scheinbar von ihnen abge­ wandt hat. Sie existieren nur noch in der Erwartung eines jenseitigen Lebens, in dem sie hoffen, noch einmal das Glück der Liebe zu finden. Auch Gott ist dieser Ansicht. Er meint, dass der Mensch ohne Liebe ein unvollständi­ ges Wesen ist. Daher hat er unzählige Vorkehrungen getroffen, um in der harmonischen 2 3

Eckige Klammern markieren unlesbare Wörter in Fouriers Manuskript. Bei Wörtern in eckigen Klammern handelt es sich um Konjekturen des Übersetzers (A. d. Ü.). Die kursiven Zwischenüberschriften stammen von Simone Debout­Oleszkiewicz (A. d. Ü.).

eine „neue welt“ der liebe und des konsums

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Ordnung, deren Theorie im Folgenden vorgelegt wird, den Greisen beider Geschlechter die Illusionen und Erquickungen der Liebe zu sichern. In der Zivilisation gelingt es den Alten vielleicht die Liebe zu vergessen, doch kann nichts ihre Stelle einnehmen. Die [Hoffnungen] des Ehrgeizes oder die Freuden der Elternschaft sind für die Alten oft nur Beschwerlichkeiten. Jeder Sechzigjährige trauert den Freuden seiner Jugend nach und malt sie in der Erinnerung in den leuchtendsten Farben. Kein Jüngling würde seine Lieb­ schaften gegen die Zerstreuungen eines Greises eintauschen wollen. Es ist mithin die Liebe, die den vornehmsten Rang unter den Leidenschaften ein­ nimmt. Sie ist die Königin der Leidenschaften, ihr idealer Brennpunkt. Mehr als in jeder anderen Leidenschaft muss man in ihr die Spur des göttlichen Geistes suchen, den Prüf­ stein für unsere Interpretation der Absichten Gottes. Dabei ist die Liebe die von den zivilisierten Sitten am meisten geächtete Leiden­ schaft. Man lässt ihr dort nur eine einzige Entfaltungsmöglichkeit, eine [ ] genannt Ehe, deren [ ]. Schon diese wenigen Hinweise lassen uns ahnen, dass die Zivilisation das Gegenbild der Pläne Gottes ist und dass die von Gott aufgestellten gesellschaftlichen Gesetze, das heißt die Gesetze der Harmonie der Leidenschaften, [ ] sein werden. Was sollte man von dieser schamlosen Zivilisation auch anderes erwarten, als dass sie die Lie­ be in Acht und Bann tut; von einer Zivilisation, die nach so vielen Jahren der Forschung dahin gekommen ist, Gott selbst zu ächten, ihn mit ihren metaphysischen Spitzfindigkei­ ten und Lexika der Atheisten4 zu leugnen. Wir schlagen einen genau entgegengesetzten Weg ein, und unsere Theorie der Anziehung wird sich in erster Linie auf die Liebe und ihre Spielarten stützen, um den von Gott gewollten Mechanismus der Leidenschaften zu erforschen. Die Wege der Liebe und der Religion Ich habe die erste Aufgabe gelöst und eine Landmarke gefunden, an der wir uns im La­ byrinth der Leidenschaften orientieren können. Ich habe ein Leuchtfeuer ausgemacht, das uns den Weg zum göttlichen Wesen weist. Ihr Sittenwächter, die ihr die Liebe ächtet, ihr Philosophen, die ihr euch über das religiöse Empfinden lustig macht, legt diese Ab­ handlung über die Anziehung oder die göttlichen Gesetze sogleich wieder aus der Hand. Ihr werdet in ihr bloß eine Anleitung finden, wie man alle Menschen vermittels der Liebe und der Religion zu ihrem Glück führen kann. Doch wenn ihr dieses Glück kennenlernen wollt, das so verschieden von dem der Zivilisation ist, dieses Glück, das, ich wiederhole es, das Alter ebenso wie die Jugend umfasst, dann denkt daran, dass jede Rose auch Dornen hat, dass ich, selbst wenn es sich um eine Theorie der Wollust und der Liebe handelt, eine vollkommen neuartige Wissenschaft wie die der Anziehung nicht darlegen kann, ohne euch manchmal in Berechnungen zu verwickeln, die mit Schwierigkeiten gespickt sind. Die �armonie zwischen 800 Millionen Menschen ist kein kleiner Mecha­ nismus. Doch wenn man dreitausend Jahre lang eine Wissenschaft studiert hat, die die 4

Anspielung auf das 1800 veröffentlichte Dictionnaire des Athées anciens et modernes von Sylvain Maréchal (A. d. Ü.).

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Menschheit unter Armut, Betrug, Unterdrückung und Gemetzel seufzen lässt, kann man dann nicht wenigstens 30 Tage für das Studium jener neuen Wissenschaft aufbringen, die 800 Millionen Menschen zum Überfluss, zur Wahrheit, zur Freiheit und zur universellen Harmonie verhilft? Nachdem wir 3.000 Jahre lang Opfer dieses wissenschaftlichen Hokuspokus waren, sollten wir endlich versuchen, den Impulsen des gesunden Menschenverstands zu fol­ gen, der uns eine Landmarke gewiesen hat, eine ungefähre Richtung bei der Erforschung der Leidenschaften. Wir sollten zu dem zurückfinden, was die Liebe will, jene Leiden­ schaft, die ihrem Wesen nach göttlich ist, jene Leidenschaft, die uns der Gottheit am nächsten bringt. Dass die Liebe in der zivilisierten Ordnung ein trügerisches Leuchtfeuer ist, ist kein Grund, ihr zu misstrauen, sondern allein zum Misstrauen gegen die Zivili­ sation, mit der diese ganz und gar göttliche Leidenschaft nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Halten wir in dieser Hinsicht ausdrücklich fest, dass ich, wenn ich die Liebe als gesellschaftliche Weisheit bezeichne, von dem Glück spreche, das in einer zukünfti­ gen Gesellschaft möglich sein wird, nicht aber in unserer gegenwärtigen. Die beiden Kompasse: Die Analogie und die Gruppen Neben dieser Weisheit oder Landmarke brauchen wir bei der Entwicklung der Leiden­ schaften einen Kompass oder zuverlässigen Richtungsweiser. Auch hier ist es der ge­ sunde Menschenverstand, dem wir uns anvertrauen. Vorab will ich den Leser warnen, dass wir statt eines Kompasses zwei haben werden, da die Vorsehung sichergehen wollte, dass es dem Menschen auf seinem Weg zum Glück nicht an Leuchtfeuern und Führern mangele. Als materieller Kompass dient uns die Analogie, unter anderem die Analo­ gie zwischen der Musik oder sprechenden Harmonie und der exakten mathematischen Wissenschaft, deren Ordnung mathematisch, unveränderlich und in allen Welten und zu allen Zeiten einheitlich ist. Sie muss mit der Harmonie der Leidenschaften überein­ stimmen, da das System des Universums sonst nicht einheitlich wäre. Als Kompass für die Leidenschaften wird uns die serielle Ordnung oder Entwicklung in Gruppen und Serien dienen, nach der alle Leidenschaften kollektiv und individuell streben. Sie ist diejenige Ordnung, nach der Gott die gesamte Natur geordnet hat und nach der auch die Leidenschaften geordnet sein müssen, da sonst der Mechanismus des Universums nicht einheitlich wäre. Doch wir sind noch nicht bei dieser Untersuchung angelangt. Beginnen wir damit, die Materialien zusammenzutragen und zu analysieren, aus denen wir dann unser Gebäude erbauen werden.

Kurze Darstellung der neutralen Leidenschaft und der Ausnahme Die Mathematik als regulierendes Prinzip, die Liebe als hyper-neutraler Brennpunkt Über den neutralen Modus, der für den Zusammenhalt des ganzen Universums sorgt, wissen die Zivilisierten so gut wie nichts ... Wir haben gesehen, dass es ein neutrales

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Prinzip gibt, die Mathematik, die als regulierendes Prinzip die [ ] der beiden anderen, Gott und der Materie, verbindet. Ebenso finden sich in den Feinheiten des Mechanismus der Leidenschaften abgestufte Wirkungen des neutralen Prinzips, die sowohl körperlicher wie seelischer Art sind. Beginnen wir, indem wir diese Unterscheidung für die zwölf Grundleidenschaften treffen, die sich bekanntermaßen in fünf körperliche oder passive, vier [seelische] oder aktive und drei ordnende oder neutrale Leidenschaften aufteilen. Die Liebe, Leidenschaft mit zwei Funktionen, nimmt den Rang des �yper­Neutralen oder Oberhauptes der Neutra ein. Sie ist das Neutrum par excellence, das vornehmste Band. Sie gehört halb zu den körperlichen, halb zu den seelischen Genüssen. Daher vermag sie, die Standesunterschiede und Kontraste zu nivellieren oder durcheinander­ zubringen, die dort, wo die Liebe spricht, in Vergessenheit geraten. Ihre typische Kurve, die Ellipse, hat zwei Brennpunkte, um die doppelte Funktion dieser Leidenschaft zu ver­ sinnbildlichen, die zugleich körperlich und seelisch ist. Die Ellipse ist diejenige Kurve, welche die Welten in der Harmonie beschreiben, so wie die Liebe in der neuen Ordnung der Weg der allgemeinen Harmonie sein wird. Entsprechend hat das Feld der himmli­ schen Harmonie die Farbe des Azurs, die Farbe der Liebe. Wir bezeichnen daher die Liebe als hyper­neutralen Brennpunkt oder als allgemeinen Angelpunkt der Bewegung. Neutral, weil sie weder ausschließlich dem Körper noch der Seele zugeordnet werden kann, sondern zu beiden zugleich gehört. Aus diesem Grund [versiegt] die Liebe, wenn der Mensch seine körperliche Attraktivität verliert. Dieses ungnädige Geschick, über das sich das Alter beklagt, folgt notwendig aus der Gerechtigkeit Gottes, die an der Harmo­ nie und folglich an der Vereinigung der beiden Prinzipien Gefallen findet. Der neutrale Modus ist der Modus der Übergänge, und da die Liebe die hyper­neu­ trale Leidenschaft ist, müssen sich die wichtigsten Übergänge im neutralen Modus voll­ ziehen, wovon die Übergänge in der körperlichen Entwicklung des Menschen zeugen, deren bedeutendste einerseits das Auftreten der Pubertät oder Liebe und andererseits der Verlust der Zeugungskraft sind. Auf allen Stufen finden die Übergänge im neutralen Modus statt: So sind beispiels­ weise die Kindheit und das Greisenalter, die Geburt und der Tod neutrale Zeiträume oder Ereignisse. Ein Zivilisierter wird mir entgegenhalten, dass der Tod für uns keine neutrale Angelegenheit ist. Das heißt, materialistisch zu argumentieren. Geburt und Tod sind Übergänge zu einer zukünftigen und zu einer vergangenen Unsterblichkeit ...5 5

Hier bricht der Text ab, ohne, wie im Titel angekündigt, die „Ausnahme“ zu behandeln. Fourier hat sich jedoch an anderer Stelle (vgl. OC, Bd. I, 298) hierzu geäußert. Das allgemeine Gesetz der Ausnahme, dem die Natur überall folgt, verbindet die „Zweige der Bewegung“ und überschneidet sich insofern mit den Übergängen. Die Ausnahme führt die auseinanderstrebenden Extreme wieder zusammen. Diese Übergänge, die Fourier auch unentschieden oder gemischt nennt, richtig einzu­ setzen, ist eine der schwierigsten Aufgaben bei der Berechnung der gesellschaftlichen Bewegungen (vgl. OC, Bd. IV, 304). Der Titel des Abschnitts erklärt sich daraus, dass sich die Übergänge im neutralen Modus (siehe unten) vollziehen. Übergänge – von denen es im Leben eines Menschen und in der Geschichte der Menschheit vier zentrale gibt – verbinden ebenso alle Reiche der Natur, alle Leidenschaften und alle Charaktere.

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Die Einheit, die Übergänge und die Ausnahme ... Das Gesetz der Einheit, das die �armonie regiert, ist unseren Philosophen unbekannt, und aus diesem Grund laufen alle ihre Theorien den Plänen der Natur zuwider, deren erstes Gesetz, die Zufriedenheit aller oder allgemeine Entfaltung der Anziehung, sie mit Füßen treten. Nach den Regeln der �armonie besteht das Ganze aus sieben Achteln. Da die Aus­ nahme oder der Übergang notwendig ist, erhält man ein harmonisches Ganzes, wenn man sieben Achtel hat, wohingegen in einem Ganzen von acht Achteln Anti­Harmonie herrschen würde. Der Übergang, ‰ ] Gesetz, würde fehlen. Auch würde ein Ganzes von acht Achteln den drei ordnenden Leidenschaften zuwiderlaufen. Durch eine Einmütigkeit, die jede Opposition ausschließt, würde die Streitlust, die zwölfte Leidenschaft, unterdrückt. Durch das Fehlen von Varianten (Abwechslung), von Bedenken und Meinungsum­ schwüngen im Vorfeld eines Beschlusses, würde die Flatterlust, die elfte Leidenschaft, unterdrückt. Durch eine Schwächung der Begeisterung, die ein �indernis braucht, um sich zu ent­ zünden, würde die Bindungslust, die zehnte Leidenschaft, in ihrer Entfaltung gehindert. Das Fehlen einer Opposition führt in der Politik zum Despotismus und in den Ver­ gnügen zur Monotonie. Man muss diese Bewegungsgesetze sorgfältig durchdenken, um zu begreifen, dass die echte harmonische [Einheit] dann erreicht ist, wenn sieben Achtel einem Achtel ge­ genüberstehen (denn die Unterdrückung der Opposition ist Kennzeichen des politischen Despotismus und der Monotonie in den Vergnügen). Dies ist der Effekt, den ich in der Debatte um Iscora dargestellt habe, die zu einem vollständig harmonischen Ergebnis führt, das allen Gesetzen der Einheit und des Übergangs entspricht. Für die gesamte Ver­ sammlung wäre der Besitz der Iscora6 nur halb so viel wert, wenn er ohne [ ] angeboten oder gewährt worden wäre und ihm nicht die Ausschließung eines Achtels der Versamm­ lung vorausgegangen wäre, dessen Entfernung den Gesetzen der drei ordnenden Lei­ denschaften Genüge tut (unbeschadet der Kritik, die man an dem von mir verwendeten Mittel üben kann, ein Mittel, das von den Zivilisierten vielleicht als indezent empfunden wird, doch mein Vergehen in diesem Fall kommt dem des römischen Senats gleich, dem ein Aufrührer dreist den Schwur leistete, dass er nichts getan habe, was gegen die Geset­ ze verstößt. Ich schwöre, antwortete Cicero, dass ich die Republik gerettet habe).

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Im �inblick auf die Leidenschaften sind solche Übergänge die Manien, die lesbische Liebe, die Päderastie und der Inzest (vgl. OC, Bd. VII, 250, 332 sowie 382–387). Fourier schätzt, dass die unentschiedenen Übergänge oder Ausnahmen ein Achtel aller Übergänge ausmachen. Um den unvollendeten Abschnitt zu ergänzen, wird im Folgenden eine einzelne Manuskriptseite Fouriers, die sich mit der Ausnahme beschäftigt, transkribiert. Fourier spielt hier auf die Verhandlung über den Loskauf der Fakma an, die er an anderer Stelle erörtert (OC, Bd. VII, 174). Dort wird statt „Fakma“ der Name „Iscora“ verwendet.

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Ich lade meine Kritiker ein, diese Überlegungen zu durchdenken, um sich zu über­ zeugen oder wenigstens eine Ahnung davon zu bekommen, dass ihre Argumente damit widerlegt sind. Schilderungen der Zustände in der �armonie werden meistens, ja, fast immer absurd sein [...]7

Von der allgemeinen Analogie – Allgemeine Ausführungen – Schwingungen – Phasen des Übergangs – Modi der Entfaltung. Modulationen, Brennpunkte und Gegen­Brennpunkte, Brennpunkte der Bewegung der Leidenschaften.8 Der Mensch, so haben gewisse Schöngeister bemerkt, ist der Spiegel des Universums. Es gelang ihnen jedoch nicht, die praktischen Schlussfolgerungen aus diesem Satz zu ziehen, und so haben sie ihn bloß in die Welt gesetzt (hergebetet) wie so viele andere, ohne sich über seine Konsequenzen klar zu werden. Nichtsdestotrotz ist er vollkom­ men richtig und ich stimme ihm voll und ganz zu. Ich werde also den Menschen oder das menschliche Leben, verstanden als die Entwicklungsbahn eines Lebewesens, als Analogie für die Bewegung der Leidenschaften und der Materie heranziehen. Ich habe es bereits gesagt und werde nicht aufhören, es zu wiederholen, dass das Universum ein einheitliches System ist. Wenn der Mensch der Spiegel des Universums ist, dann muss seine körperliche Entwicklung ebenso wie die Entwicklung seiner Leidenschaften not­ wendigerweise mit der Entwicklung des Universums übereinstimmen. Gehen wir von dieser [These] aus, um auf dem Wege der Analogie die allgemeine Bestimmung des Menschengeschlechts zu erklären. Bei dieser vergleichenden Untersuchung werden wir uns mitunter musikalischer Be­ griffe bedienen, da die Musik die Vergleichsgröße für die Harmonie der Leidenschaften ist. Wir weisen vorab darauf hin, dass die folgenden Einzelheiten, die auf den ersten Blick vielleicht abschreckend wirken, nur der Form halber und für gewisse Leser, die es in methodischen Fragen sehr genau nehmen, ausgeführt werden. Ich werde am Ende des Kapitels eine kürzere und vereinfachende Darstellung geben, um die Theorie der Anzie­ hung dem großen Publikum, für das ich schreibe, verständlich zu machen. Der Leser darf also angesichts der folgenden Litanei von Definitionen nicht erschrecken, wir werden im weiteren Verlauf der Abhandlung keinen Gebrauch von ihnen machen. Dieses Kapitel soll ein Gefühl für die mannigfaltigen Schwierigkeiten vermitteln, die eine vollständige Theorie mit sich bringen würde, und den Leser durch die Aussicht auf knappe Formulie­ rungen versöhnen, die ihm die Last eines wissenschaftlichen Begriffsapparats ersparen werden. 7 8

Hier bricht der Text ab. Fourier hat diese Titel nebeneinandergesetzt. Bei einer endgültigen Redaktion wäre vermutlich nur einer von ihnen stehengeblieben. Quer darüber steht: Titel: Erwiderung auf die Anhänger der Methode.

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1. schwingungen, zwei an der Zahl. Das Leben des Menschen lässt sich in eine Pe­ riode des Aufstiegs und eine Periode des Abstiegs unterteilen, die etwa gleich lang sind. Im Leben eines �undertjährigen gäbe es somit 50 Jahre mit aufsteigenden oder zuneh­ menden und 50 Jahre mit absteigenden Schwingungen. Wenn man auf diese Weise die Lebensbahn der Menschheit auf 100.000 Jahre veranschlagt, dann ergeben sich 50.000 Jahre mit aufsteigenden und 50.000 Jahre mit absteigenden Schwingungen. 2. die Phasen, vier an der Zahl, zwei aufsteigende: die Kindheit und die Jugend, und zwei absteigende: das Erwachsenen­ und das Greisenalter. Die Kindheit des Menschen dauert 15 Jahre, bis zur Pubertät. In symmetrischem Verhältnis dazu dauert das Grei­ senalter bei einem �undertjährigen von 85 bis 100. Das Gleiche gilt für die Menschheit als Ganze, die eine geschätzte Lebensspanne von 100.000 Jahren hat, mit dem Unter­ schied, dass die erste und die letzte Altersstufe, Kindheit und Greisenalter, im Leben der Menschheit verhältnismäßig kürzer sind als im Leben eines Individuums. Statt einer fünfzehntausendjährigen sozialen Kindheit und eines ebenso langen Greisenalters muss die Menschheit, von ihrer Entstehung an gerechnet, nur eine fünf­ bis sechstausendjäh­ rige Kindheit durchleben. Auch diese Spanne ließe sich noch um einiges verkürzen, was daran zu ersehen ist, dass die Menschheit schon längst in die Harmonie hätte übertreten können, obwohl sie noch nicht länger als 6.000 Jahre auf unserer Erde existiert. 3. die Übergänge, vier an der Zahl, zwei äußere und zwei Binnen­Übergänge. Die beiden äußeren sind die Krisen der Geburt und des Todes. Die beiden Binnen­Übergänge sind die Intra­Pubertät oder Thronbesteigung und die Extra­Pubertät oder Abdankung. In der sozialen Entwicklung der Menschheit gibt es ebenfalls vier Übergänge. Der erste liegt bereits hinter uns: Das war die Epoche der Schöpfung, der äußere Übergang in aufsteigender Richtung. Wir nähern uns dem Binnen­Übergang in aufsteigender Richtung, dem einzig glücklichen der vier Übergänge. Er wird erreicht sein, wenn die Menschheit sich in nächster Zukunft zur Harmonie der Leidenschaften aufschwingen wird. 4. die modi oder Tongeschlechter, drei an der Zahl, Dur, Moll und Neutral. Das Dur­ Tongeschlecht umfasst die dem männlichen Geschlecht eigentümlichen Beziehungen, das Moll­Tongeschlecht die dem weiblichen Geschlecht eigentümlichen Beziehungen und das neutrale Tongeschlecht diejenigen beider Geschlechter vor der Pubertät, wo ihnen eine Reihe von Leidenschaften fehlen, unter anderem zwei der vier Hauptlei­ denschaften. Die Liebe und die elterlichen Gefühle sind beiden Geschlechtern in dieser Lebensphase noch unbekannt. In der Zivilisation ist es unmöglich, die Modi der Leidenschaften zu unterscheiden, da die zivilisierte Ordnung insgesamt nichts weiter ist als eine Kakophonie der Leiden­ schaften. Sie gleicht einem Orchester, in dem jeder Musiker eine andere Melodie in einer anderen Tonart spielt, was zu einer infernalischen Katzenmusik führt, gleich den lügenhaften zwischenmenschlichen Beziehungen in der Zivilisation. 5. die entfaltungen, die harmonische oder wahrhaftige Quelle und die verkehrte oder lügenhafte Quelle. Die harmonische Entfaltung findet in den beiden mittleren Pha­ sen der sozialen Entwicklung, in der Jugend und im Erwachsenenalter statt. In diesen harmonischen Lebensaltern folgen die Beziehungen einem wahrhaftigen System. Die verkehrte Entfaltung umfasst die beiden äußeren Phasen, die Kindheit und das Greisen­

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alter. In diesen beiden Lebensaltern folgen die Beziehungen einer falschen oder subver­ siven Ordnung – daher sind sie auf unserer Erde, auf der noch die schlimmsten Perioden der sozialen Kindheit herrschen, vollständig falsch. Es gibt unendliche Möglichkeiten der wahrhaftigen ebenso wie der lügenhaften Entfaltung, weshalb der Entfaltung der Leidenschaften keine Grenzen gesetzt sind. So gibt es beispielsweise in der zivilisierten Gesellschaft, in der sich die Leidenschaften verkehrt entfalten, ebenso viele unterschiedliche Spielarten der Leidenschaften wie es Krankheiten gibt, von denen man jedes Jahr neue Varianten entdeckt, so wie man im Lauf der Entwicklung der zivilisierten Leidenschaften unaufhörlich neue Formen der Hinterlist entdecken kann. 6. Die unter-brennPunkte sind die mittleren Perioden der jeweiligen Phase. Unter den Menschen, die sich in der ansteigenden oder Jugend­Phase zwischen dem 15. und dem 40. Lebensjahr befinden, bilden die 25­ bis 30­Jährigen, den Unter­Brennpunkt, da bei ihnen der Charakter der Jugend voll hervortritt. Bei den Fünfzehnjährigen, bei denen dieser Charakter noch nicht ausgebildet ist, und bei den Vierzigjährigen, die bereits dabei sind, ihn zu verlieren, ist der in dieser Phase vorherrschende Geist am wenigsten ausge­ prägt. Die Unter­Brennpunkte haben Funktionen, denen man in der Zivilisation keinerlei Beachtung schenkt. 7. der gegen-brennPunkt ist die Krise des Eintritts in die Pubertät, das heißt der Binnen­Übergang in aufsteigender Richtung.9 Über diesen Veränderungsmoment liegen bereits gesicherte Berechnungen von höchster Bedeutung vor, die jedoch, da sie nur für die Harmonie gelten, an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden können und im Ab­ schnitt über das Gegengewicht in den Leidenschaften dargelegt werden. Ihre Funktion ist dieselbe wie die des Leittons in der Musik, der dort der allgemeine Angelpunkt bei Wechseln der Tonart oder des Tongeschlechts ist. 8. die tonarten, 24 an der Zahl, 12 Durtonarten und 12 Molltonarten, sind die Ge­ stalten, die ein Charakter regelmäßig annimmt. Sie entsprechen seinen leidenschaftli­ chen Dominanten, die an 12 Angelpunkten variieren, da es 12 Grundleidenschaften gibt. In der �armonie der Leidenschaften zählt man jedoch 24 charakterliche Angelpunkte, da man hier nicht Dur und Moll verwechselt, wie es den rohen Gebräuchen der zivilisierten Musik entspricht, die nur eine einzige Klaviatur mit kurzer Oktave benutzt, obwohl man genau weiß, dass zwischen erhöhtem und erniedrigtem Ton derselbe Abstand liegt wie zwischen 5/12 und 7/12. Die Zivilisierten legen der Einfachheit halber auf ihren Klavie­ ren beide zusammen auf 6/12. Gott, der mit strengster Genauigkeit vorgeht, bringt die Ober­ und Untertasten der Klaviatur der Leidenschaften nicht auf diese Weise durchein­ ander und verwendet für Tonartwechsel eine doppelte Klaviatur des Charakters. Ebenso verfährt er bei den aromatischen Tonartwechseln der Sterne, wo er auf einer doppelten Klaviatur aus Monden oder Tasten spielt, deren 12 Moll­Tasten von den Unter­Brenn­ 9

Auch die Menschheit wird diese Krise durchlaufen, wenn sie in die Harmonie übergeht. In dieser neuen Ordnung wird das betreffende Alter, das der Vestalität, das etwa vom 15. bis zum 20. Le­ bensjahr dauert, für die Entwicklung des Individuums von höchster Bedeutung sein. – Anmerkung Charles Fouriers.

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punkten herschel-uranus10 und JuPiter regiert werden, die 12 Dur­Tasten von den Unter­Brennpunkten saturn und erde (der im Moment ihre Klaviatur von fünf Monden oder erhöhten Dur­Tasten fehlt). Auch die Menschheit durchläuft in ihrer Entwicklung 24 Tonarten, unterschiedliche und einander abwechselnde soziale Modulationen, ent­ sprechend den 24 Schöpfungen, die auf der Erde stattfinden werden. Ein Wechsel der sozialen Tonart geht stets mit einer neuen Schöpfung einher, wovon zu sprechen noch nicht die Zeit ist. 9. die modulationen oder Wechsel der Tonart, vier an der Zahl: direkt, invers, po­ sitiv, negativ. Ich verstehe unter einer Modulation den Verlauf, den eine Intrige oder eine Leidenschaft von ihrer Entstehung bis zu ihrem Ende nimmt. Dieses Ende ist nicht gleichzusetzen mit der Auflösung der Intrige, denn die Auflösung einer Liebesintrige ist nicht das Ende der Liebe, sondern nur ein Übergang oder eine Modifikation, bei der man die Tonart der Liebe wechselt, indem man ihr den Genuss hinzufügt. In der Harmonie erfolgen die Wechsel der Tonart mit dem Wechsel von einem Chor der Leidenschaften in den anderen, in der Entwicklung des Menschen mit dem Wechsel der Generationen. Vom zweiten Jahrhundert nach der Sintflut an hat die Menschheit bisher einfach invers moduliert, was diejenige Ordnung ist, die den Verbindungen und dem Glück am stärks­ ten entgegengesetzt ist. Die Modulationen sind glücklich, je nachdem welche Menge von leidenschaftlichen Bindungen sie hervorbringen. In Zahlen ausgedrückt sind das: bei einfacher Modulation 7, entsprechend 10 und der Quadratzahl 100; bei zusammengesetzter Modulation 13, entsprechend 12 und der Quadratzahl 144; bei neutraler Modulation 14, entsprechend 10 und 2 und ihrem Vielfachen 120. Da 120 diejenige Zahl ist, welche die meisten Teiler hat und bei der kleinsten Summe einstelliger Zahlen die meisten Verbindungen hervorbringt, ist die hyper­neutrale Modu­ lation die am höchsten stehende und glücklichste, die in der Natur vorkommt. Die hyper­ neutrale Intrige ist somit das höchste Glück und die Haupttriebfeder des Enthusiasmus. Die Intrige einfacher Ordnung ist die am wenigsten bindende und daher auch die am wenigsten glückliche. Es handelt sich hier um eine Beschreibung von Verfahren, die auf die zivilisierten Leidenschaften so wenig anwendbar sind, dass wir dieses Kapitel ohne weitere Erklärungen auf sich beruhen lassen sollten, da es uns ja, ich wiederhole es noch einmal, nur darum geht, deutlich zu machen, dass wir alle überflüssigen theoretischen Hürden weglassen und uns auf das unbedingt Notwendige beschränken. 10. der brennPunkt ist die zentrale Periode oder der Höhepunkt einer Entwicklung, der Punkt, an dem der soziale oder individuelle Körper seine größtmögliche Vollkom­ menheit erreicht hat und von dem an er nur noch verfallen kann. Ein Körper oder eine Nation verharrt einige Zeit in diesem Zustand, ohne dass man eine Bewegung des Wachstums oder des Verfalls bemerkt. Dies wird auch im �inblick auf die Menschheit zu beobachten sein, die ihre Brennpunkt­Periode im amphiharmonischen Zeitalter haben wird, in dem die Erde nicht nur alle ihre Schöpfungen mit aufsteigender Schwingung 10 Der Planet Uranus wurde 1781 von Wilhelm �erschel entdeckt (A. d. Ü.).

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vollendet hat, sondern ebenso die beiden amphiharmonischen Schöpfungen, die nicht in den 24 enthalten sind, da man in der Harmonie die Angelpunkte nicht mitzählt. So sagt man ja auch, dass unser Sonnenwirbel aus 32 �immelskörpern besteht, und zählt dabei den 33., die Sonne oder den Angelpunkt, nicht mit. Wenn man sagt, dass ein Orchester aus 32 Musikern besteht, dann versteht es sich von selbst, dass man dabei den Angel­ punkt oder Dirigenten nicht mitzählt. Ich habe verspochen, schnell voranzuschreiten – ich versuche nur, den Leser auf dem kürzesten Weg in die Materie einzuführen, um später die erworbenen Kenntnisse zu ver­ tiefen. Schließen wir mit einer wichtigen Bemerkung über die Stufung der Modulationen. Wir haben im Artikel „Phasen“ gesehen, dass die Kindheit einer Welt oder der Mensch­ heit von verhältnismäßig kürzerer Dauer ist als die des einzelnen Menschen. Anders gesagt: Wenn bei einem Individuum mit einer Lebensspanne von 90 Jahren die Kindheit oder das vorpubertäre Alter 15 Jahre dauert, so folgt daraus nicht, dass eine Welt mit einer Lebensspanne von 90.000 Jahren 15.000 Jahre in der Kindheit, das heißt in Er­ wartung der Harmonie verbringen muss. Wenn wir sagen, dass der Mensch der Spiegel des Universums ist, so folgt daraus nicht, dass die Reflexionen des Universums, die sich im Menschen widerspiegeln, maßstabsgetreu sind wie in einem ebenen Spiegel. Der Mensch ist ein allgestaltiger Spiegel, der mal eben, mal konvex, mal konkav oder zylin­ drisch ist und den Gegenstand in mannigfaltigen Größenverhältnissen widerspiegelt, die jedoch ein einheitliches System bilden. Obwohl die Kindheit einer Welt oder einer Menschheit etwa ein Zwanzigstel ihrer jeweiligen Lebensspanne umfasst, die Kindheit eines Menschen dagegen ungefähr ein Sechstel seiner Lebensspanne, so ergibt sich doch ein einheitliches, wenn auch im Ver­ hältnis verkleinertes Spiegelbild, denn das Greisenalter der Menschheit wird ebenfalls nur ein Zwanzigstel ihrer Lebensspanne dauern. Der Mensch ist also ein allgestaltiger oder unendlich vielfältiger Spiegel des Universums. Eine maßstabsgetreue Widerspie­ gelung widerspräche der Harmonie und der Einheit der Leidenschaften. Sie würde der elften Grundleidenschaft, genannt die Flatterhafte, widersprechen, welche die Vielfalt fordert und ebenso der Einheitslust, die den Fortschritt fordert. Es bleibt zu erklären, wann die Abbilder des Universums, die sich im Menschen widerspiegeln, vergrößert oder verkleinert, identisch oder kontrastierend, in eine Richtung zunehmend und in die andere Richtung abnehmend sind ...

Von den Einheiten in Moll oder vom einfachen und zusammengesetzten religiösen Kultus in der Harmonie oder vom zusammengesetzten einheitlichen Kultus Erhöhter Kultus in Moll oder zusammengesetzte Einheit Die Extreme berühren sich: Die barbarische Gesellschaft, die den stärksten Gegensatz zur �armonie bildet, weist in dem starken Einfluss, den in ihr die Religion hat, auf die

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harmonische Gesellschaft voraus. Die Macht der Päpste im neunten Jahrhundert, die Macht der Lamas in der Tatarei, der Brahmanen in Hindustan, der Tennos im alten Japan usw. zeugt davon, dass der Mensch sehr stark dazu neigt, religiöse und weltliche Macht zu verknüpfen. Diese Verknüpfung wird es auch in der �armonie geben. Von vier �err­ scherpaaren (in der Harmonie ist die Souveränität vierfach aufgeteilt) stellt die Religion die beiden Moll­Paare und die weltliche Regierung die beiden Dur­Paare. Somit ist ihre Macht beinahe gleich, abgesehen davon, dass die Dur­Paare den protokollarischen Vor­ rang und einige andere Vorrechte haben. Dieser Ausgleich zwischen zwei Autoritäten, die in der Zivilisation so schwer miteinander in Einklang zu bringen sind, verbürgt in der Harmonie die gesellschaftliche Einheit. Wie gelangt die Religion in der Harmonie zu einer Macht, die beinahe ebenso groß ist wie die der weltlichen Regierung? Um dies zu erklären, müssen wir zunächst die Grund­ lagen des religiösen Kultus in der Harmonie kennenlernen. Wir werden an dieser Stelle allerdings nur zwei Keime behandeln und nicht den eigentlichen Kultus, dem ich mich erst in den synthetischen Kapiteln dieser Abhandlung zuwenden werde. Wir berühren hier eine Frage, die in die Zuständigkeit des schönen Geschlechts fällt, das allerdings überrascht sein wird, in einer so ernsten Angelegenheit wie der universel­ len Einheitlichkeit des religiösen Kultus um Rat gefragt zu werden. Für diese Frage war bisher die Politik zuständig, die, ihrer Gewohnheit nach [dem Problem] ausgewichen ist und geraten hat, dass jeder Gott nach seiner Weise verehren soll. Das aber heißt, die Un­ einheitlichkeit, die gerade in Angelegenheiten der Religion eine Quelle des Unfriedens ist, zum geheiligten Prinzip zu erheben. Es ist wohlbekannt, dass zwischen den unter­ schiedlichen Bekenntnissen unversöhnlicher Hass herrscht. Was ist angesichts dessen von Theorien zu halten, die aus der Menschheit eine Familie von Brüdern machen wol­ len und gleichzeitig unter diesen vorgeblichen Brüdern hundert rivalisierende Bekennt­ nisse zulassen, die ebenso viele Gründe zum Krieg liefern? So stolpert die zivilisierte Weisheit unaufhörlich von einer Albernheit in die nächste. Wenn es darum geht, den Atheismus zu bekämpfen, predigt sie uns einen unvollständi­ gen Gott, eine Art halbe Vorsehung, die vergessen hat, Gesetze für das soziale Leben zu erlassen. Wenn es darum geht, die Glaubensspaltungen zu beenden, predigt sie uns eine unsoziale Toleranz, ein Nebeneinander unvereinbarer Bekenntnisse, das in eine Sache, die die Menschen eigentlich zusammenführen sollte, ihre Uneinigkeit festschreibt. In der �armonie wird man anders über diese Dinge denken. Dort braucht man einen universellen religiösen Kultus, da auf diesem, wie auf allen anderen Gebieten der Be­ ziehungen zwischen den Menschen, Einheitlichkeit herrschen muss. Wenn man es für weise hält, dass jede Region, jedes Provinznest einen eigenen religiösen Kultus hat, dann müsste man auch jeder Stadt die Freiheit gewähren, ihr eigenes metrisches System oder ihr eigenes Geld einzuführen. Weil in der Harmonie über alles frei entschieden wird, wird man erst dann einen einheitlichen Kultus einführen können, wenn darüber allgemeine Übereinstimmung herrscht. Unsere Aufgabe ist es, den Keim dieses einheitlichen Kultus zu bestimmen. Aus welcher Quelle, aus welcher Leidenschaft soll er entspringen und welchem Zweck soll er dienen?

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Die zivilisierten und barbarischen Religionen, die für arme Nationen bestimmt sind, müssen Entsagung predigen. Wo die Vergnügen selten und gefährlich sind, muss man die Völker zu einem genügsamen und [ ] Leben anhalten und dies ist folglich [die Auf­ gabe] jeder zivilisierten Religion. Doch in der �armonie, wo ein großer Überfluss, eine ungeheure Vielfalt von Vergnügen vorhanden ist und wo es für die allgemeine Eintracht notwendig ist, sich eifrig dem Vergnügen hinzugeben, da werden die Religionen sich der sozialen Metamorphose ‰anschließen] müssen, werden vom inversen System, oder System des Verzichts, zum direkten System übergehen müssen und die Liebe zu Gott mit der Liebe zu den Vergnügen verbinden, die in der Epoche der Harmonie [zahlreich] und gefahrlos sein werden. Die Liebe lässt uns der Gottheit gleich werden Mit welchen Leidenschaften sollte sich die Religion verbünden? Dies ist eine Frage, die unsere politischen Denker in Verlegenheit bringt. Nicht auf diese aber zähle ich; vielmehr wird es das Herz unserer Schönen sein, das uns über den zusammengesetzten Kultus, welcher der religiöse Kultus der Pubertät ist, belehren wird. Befragte man die Frauen, welche Leidenschaft am geeignetsten ist, das Glück Got­ tes und der Menschheit zu machen, welches die Leidenschaft ist, durch die wir an der Glückseligkeit Gottes teilhaben, würde jede Frau antworten: Es ist die Liebe, die einzige Leidenschaft, deren Charakter ganz und gar göttlich ist und die uns der Gottheit gleich werden lässt. In der Trunkenheit der Liebe glaubt der Mensch, sich in den Himmel zu er­ heben und die Glückseligkeit Gottes zu teilen. Die anderen Leidenschaften erzeugen kei­ ne vergleichbar edle, vergleichbar religiöse Illusion. Sie vermögen nicht, die sinnliche und seelische Trunkenheit in solchem Maße zu steigern, sie lassen uns dem Glück der Gottheit weniger nahe kommen, sie eignen sich nicht in diesem Maße dazu, den Keim einer Religion, der Identifikation mit Gott zu bilden, die sich völlig von den zivilisierten Religionen unterscheidet, die Religionen der Hoffnung auf Gott, nicht aber Religionen der Teilhabe an seinem Glück sind. Wodurch weckt die �armonie die Liebe zu Gott? Dadurch, dass sie den Menschen jenes Glück verschafft, von dem sie denken, dass es das Glück Gottes ist: das Glück der Liebe. Die Menschen werden sich zwangsläufig für einen Kultus begeistern, der ihnen in jedem Lebensalter diese Freude gewährt. Das Ansehen unserer heutigen Religionen beruht allein auf den Illusionen, die sie uns verschaffen, um uns über den Verlust der Liebe hinwegzutrösten. Daher sind sie mehr ‰eine Angelegenheit] der Frauen, die, wenn das Lebensalter der Liebe vorüber ist, weniger Ablenkung finden. Gewöhnlich ist in der Zivilisation der Mann, der Familienvater fromm aus Berechnung, um die Kinder und die Bediensteten im Zaum zu halten, die Frau hingegen ist religiös um der Illusion willen, weil sie in Gott und der Zukunft irgendeine Hoffnung darauf sucht, noch einmal das Glück zu genießen, zu lieben und geliebt zu werden. Das, was die zivilisierten Religio­ nen für das nächste Leben versprechen, wird der Kultus der Harmonie schon in diesem Leben gewähren. Nur unter dieser Bedingung kann er ein wirklich einheitlicher und allgemeiner Kultus werden und [ ].

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Ein Achtzigjähriger, der nicht mehr in der Lage ist, bei der Jugend das Feuer der Ver­ liebtheit zu entfachen, kann jedoch an der Liebe und ihren Illusionen keinen Anteil mehr haben. Ebenso wenig können Kinder im vorpubertären Alter in die Liebe eingeweiht werden. Dennoch brauchen auch sie eine Religion. Diese Einwände und viele andere werde ich in der Darstellung des einheitlichen Kul­ tus aufgreifen und entkräften. Hier geht es zunächst nur darum, den Keim zu bestim­ men. Wir müssen diesen Keim, wie ich bereits gesagt habe, in derjenigen Leidenschaft suchen, die den größten Reichtum an Illusionen birgt, die es am besten vermag, uns zu überzeugen, dass unser Glück dem göttlichen gleichkommt. Ich sehe nicht, dass ir­ gendeine andere Leidenschaft sich mit der Liebe messen kann. Ohne sie gleicht unser Leben einer Wüste. Nach dem Lebensalter der Liebe vegetiert der Mensch nur noch und versucht mit allen Mitteln, das Verlangen der Seele zu betäuben. Die Frauen, die zu wenig Ablenkung haben, empfinden bitter diese Wahrheit und suchen, wenn ihre Ju­ gend verblüht ist, in der Frömmigkeit etwas von der Zuwendung jenes Gottes, der sich mit dem Versiegen ihrer zärtlich geliebten Leidenschaft scheinbar von ihnen abgewandt hat. Den Männern gelingt es zwar, die Liebe zu vergessen, jedoch nicht, sie zu ersetzen. Die eitlen �offnungen des Ehrgeizes, die Freuden der Vaterschaft können die wahrhaft göttlichen Illusionen nicht aufwiegen, welche die Liebe dem Jugendalter gewährt. Jeder Sechzigjährige trauert den Freuden seiner Jugend nach und malt sie in der Erinnerung in den leuchtendsten Farben, kein Jüngling und keine junge Frau würden ihre Liebschaften gegen die Zerstreuungen des Greisenalters tauschen. So wertvoll erscheint Gott die Liebe, dass er den Menschen ohne diese schöne Il­ lusion für unvollständig hält. Daher hat Gott unzählige Vorkehrungen getroffen, um in der Harmonie, deren Theorie im Folgenden vorgelegt wird, den Greisen beiderlei Ge­ schlechts die Reize und Erquickungen der Liebe zu gewähren. Sie ist diejenige Gesell­ schaftsordnung, in welcher der Kultus der Liebe die einheitliche Religion sein wird, weil er am besten geeignet ist, beide Lebensalter zu verführen, solange er ihnen alle Vergnü­ gen garantiert, die mit dieser Leidenschaft verbunden sind. Zweifellos wird jede betagte Frau sich ohne zu zögern diesem neuen Kultus anschlie­ ßen, wenn er sich rasch formiert und in der Lage ist, jeder Sechzigjährigen die amourö­ sen Illusionen und Genüsse einer Kleopatra oder Ninon zu verschaffen. Der Kultus der Liebe wird also sogleich diejenige Klasse von Menschen für sich begeistern, die dem zivilisierten Kultus am eifrigsten anhängt, die der Frauen im fortgeschrittenen Alter. Was die Jugend betrifft, deren einziger Gott die Liebe ist, so gibt es an ihrer sofortigen Bekeh­ rung keinen Zweifel. Man sollte nicht vorschnell über die Realisierbarkeit des oben Gesagten urteilen, nicht übereilt behaupten, dass es unmöglich ist, einen Achtzigjährigen liebens­ und be­ gehrenswert zu machen. Gott hat diese Schwierigkeiten vorausgesehen, und er hat für alles Vorsorge getroffen. Die Achtzigjährigen beider Geschlechter werden sich in der Harmonie einer strahlenden Jugend gegenübersehen, die sie anhimmelt und ihnen gefäl­ lig sein will. Nehmen wir die Einzelheiten nicht vorweg, es geht hier nur um den Keim, und ich habe bewiesen, dass die Liebe sich als Keim für den einheitlichen Kultus am besten eignet.

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Ich habe die Liebe als hyper­neutrale Leidenschaft des Zusammenschlusses bezeich­ net, denn sie ist unter den Leidenschaften die neutralste, die in gleichem Maße körper­ liche und seelische Genüsse in sich vereint. [ ] in dieser Hinsicht ist sie ein Neutrum höheren Ranges als die drei ordnenden Leidenschaften. Daher eignet sie sich am besten, um Bindungen zwischen den Menschen herzustellen. Keine andere Leidenschaft über­ windet so rasch die Standesunterschiede. Wenn die Liebe es befiehlt, dann wird die ein­ fache Schäferin einem König ebenbürtig. Schon in dieser Welt schafft sie spontan jene Gleichheit, welche die Religionen ins Jenseits verlegen, und bringt all die Tugenden hervor, welche die Religion und die Philosophie sich mit aller Kraft zu stiften bemü­ hen, die Nächstenliebe, die Freigebigkeit ‰ ]. Die Liebe lässt eine arme Familie an den Schätzen eines Lukullus teilhaben. Kurzum, all die Wunder, die man von Religion und Philosophie erwartet, vollbringt die Liebe mit solcher Leichtigkeit, dass man sich fragt, warum die Gesellschaftspolitiker niemals über die Auswirkungen einer auf der Liebe gegründeten Religion nachgedacht haben. Mit �ilfe eines solchen Projekts wären wir dem Labyrinth von Zivilisation und Barbarei längst entronnen. Wären unsere Gelehrten mit den Gesetzmäßigkeiten der allgemeinen Analogie ver­ traut, hätten sie dieses Vermögen der Liebe erahnen können, wenn ihnen aufgefallen wäre, dass die Farbe der Liebe, der Azur, auch die Farbe der Gefilde der himmlischen Harmonie ist; dass ihre Kurve, die Ellipse, in der Harmonie die Bahn der Planeten ist, [sowohl der] kardinalen wie der neutralen; dass ihr Planet Herschel, der von seinen Monden in gegenläufiger Richtung umkreist wird, damit auf eine Eigenschaft der Liebe hinweist, die den Eigenschaften der anderen Leidenschaften entgegengesetzt ist. Ange­ sichts all dieser Hinweise hätte man beschließen können, einige soziale Experimente zur Weiterentwicklung der Liebe durchzuführen, und schon der kleinste Versuch in diese Richtung hätte zu Erfolgen geführt. Ich werde hier nicht im Einzelnen darauf eingehen, wie die Liebe in der Harmonie auf die Religion wirkt. Wir sind noch bei der Analyse der Materialien, nicht bei ihrer Anwendung.

Über den einfachen und zusammengesetzten Einheitskultus in vermindertem Moll Wenn wir bei Berechnungen über eine Leidenschaft auf schwierige Probleme stoßen, dann sollten wir immer die Leidenschaft selbst zu Rate ziehen. Als es darum ging, einen religiösen Angelpunkt für die Pubertät zu bestimmen, habe ich die Frauen zu Rate gezo­ gen, weil sie stärker dem religiösen Fanatismus zuneigen als die Männer. Es ist daher an ihnen, über diesen Punkt zu entscheiden. Es bleibt uns noch, einen Angelpunkt für den re­ ligiösen Kultus der Kinder zu bestimmen. Dazu müssen wir die Kinder selbst befragen. Was ist ihre dominante Leidenschaft? Ist es die Freundschaft, der Ruhm? Nein, es ist die Schlemmerei. Bei den jungen Mädchen scheint diese Leidenschaft nur schwach ausge­ bildet zu sein. Das liegt daran, dass die Zivilisation ihnen nicht die Speisen vorsetzt, die

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ihrem Alter und Geschlecht gemäß sind. Betrachten wir die Vorlieben von 100 Knaben. Wir werden sehen, dass alle dazu neigen, aus ihrem Magen einen Gott zu machen und dass die Väter in dieser Hinsicht ihren Kindern nacheifern. Wenn daher die Harmonie einen Kultus der Schlemmerei für die Kinder stiftet, werden sich die Väter zweifellos mit Begeisterung unter den beiden Bannern der Liebe und der Schlemmerei versammeln und den Kultus der Liebe mit demjenigen der Feinschmeckerei verbinden, der für die Kinder der ausschließliche Kultus sein wird. Prüfen wir, inwiefern dieser Kultus mit den allgemeinen Triebkräften in Einklang steht. Der Geschmackssinn: religiöser Brennpunkt des Körpers Von Natur aus betrachten alle Völker Gott als einen Vater, der uns ernährt. Alle glauben, dass ein zu seinen Ehren veranstaltetes Festmahl die angemessene Art und Weise ist, Gott ihre Dankbarkeit auszudrücken. Die christliche Religion bekennt sich zu dieser Auffassung, wenn sie Gott das Brot und den Wein darbringt, die der Priester und die Gläubigen zu sich nehmen, und wenn sie ihre Anhänger lehrt, dass Gott in Gestalt von Brot und Wein von unseren Körpern aufgenommen wird. Die Völker stimmen also darin überein, den Geschmackssinn zum Ort der intimsten Kommunikation zwischen Gott und dem Menschen zu machen. Daher wird dieser Sinn der körperliche Brennpunkt oder Angelpunkt des religiösen Geistes. Wie aber soll man in einer von Armut geprägten Welt, wo es der überwältigenden Mehrheit der Menschen am Nötigsten fehlt und der Hunger ein ständiger Begleiter ist, ein religiöses System errichten, in dessen Mittelpunkt der Geschmackssinn steht? Es bleibt nur übrig, Entsagung zu predigen. Doch in einer sozialen Welt, die unter entgegengesetzten Vorzeichen organisiert ist und in der ständig ein sagenhafter Überfluss herrscht, wird das religiöse System notwen­ digerweise den entgegengesetzten Weg einschlagen und die gastronomische Raffinesse lehren, als einzige Möglichkeit, den ungeheuren Überfluss an Produkten zu verbrauchen, dessen man sich erfreut und den man weiterhin als Geschenk des gemeinsamen Vaters betrachtet. Es hieße seine Großzügigkeit zu beleidigen, würde man die Hälfte der Gaben, die er uns gewährt, verderben lassen – ihr Überfluss ist in der �armonie so groß, dass man außergewöhnliche Methoden ersinnen muss, um ihren Verbrauch zu organisieren. Eine dieser Methoden ist, das System der Religion auf die Feinheiten der guten Küche und auf die abgestufte Anregung des Appetits anzuwenden, ohne die der kulinarische Genuss schädlich wird. Dieser Zweig der Religion richtet sich an die Kinder, die nicht am Kultus der Liebe teilnehmen können. Dergestalt ist das religiöse System der �armonie aufgebaut, einfach für die Kinder, die mit dem Kultus der guten Küche vorliebnehmen, zusammengesetzt für die Eltern, die die­ sem noch den Kultus der Liebe hinzufügen. Beide haben in jedem Wirbel ihre speziellen Priester. Für die Tugend oder den Kultus der Liebe sind dies der Hohepriester und die Hohe­ priesterin, für die Weisheit oder den Kultus der guten Küche die Sybille und der Sybil. Ich spreche hier nicht aus Mutwillen von Tugend und Weisheit, obwohl diese Be­ griffe angesichts der Art der Ämter, mit denen sie verbunden sind, vielleicht deplatziert

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wirken. Es wird sich im Verlauf dieser Abhandlung zeigen, dass ihr Einfluss mit diesen Worten exakt beschrieben ist. In der Harmonie wird die vollständige Entfaltung der Lie­ be zum Angelpunkt der Tugend und die vollständige Entfaltung der Schlemmerei zum Angelpunkt der für diese Ordnung notwendigen Weisheit. Betrachten wir genauer, wie die harmonische Tugend und die harmonische Weisheit beschaffen sein werden. In der zivilisierten Gesellschaftsordnung, in der neun Zehntel der Väter die Freuden einer luxuriösen Tafel entbehren müssen und nur mit Müh und Not in der Lage sind, ihre Kinder mit dem Notwendigsten zu versorgen, besteht die Weisheit darin, ihre unmäßigen Bedürfnisse zu zügeln. Allerdings gibt es in der gegenwärtigen Ordnung kein Mittel, der Gefräßigkeit (Gier) der Kinder Schranken zu setzen. Daher stopfen sie sich gegen jede Ermahnung mit ungesunden Speisen voll, beispielsweise mit unreifen Früchten. In der Harmonie, wo noch das ärmste Kind an einer Tafel Platz nimmt, auf der ein gemeinschaftliches Buffet angerichtet ist, an dem man sich aus einer Auswahl von gut 30 verschiedenen Speisen bedienen kann, werden allein durch diese [Fülle] die Exzesse (der Missbrauch) vermieden, die aus der Furcht entspringen, nicht genug zu bekommen. Mithilfe verschiedener Gebräuche, die in dieser Abhandlung beschrieben werden, wird das Kind daran gewöhnt, seine [kulinarischen Vorlieben] von frühester Jugend an vernünftig zu begründen. In der Harmonie ist ein Kind von zehn Jahren ein vollendeter Feinschmecker und in der Lage, den gastronomischen Autoritäten von Paris Lektionen zu erteilen. Die kulinarische Ordnung ist so eingerichtet, dass die Kinder: – ihre Speisen stets gemäß ihrem persönlichen Temperament zusammenstellen, – sich beim Anbau der Nahrungsmittel, aus denen ihre Lieblingsspeisen zubereitet wer­ den, engagieren und sich entsprechende Kenntnisse erwerben. Wenn man diese beiden Ziele erreicht, indem man bei den Kindern die Leidenschaft für die Schlemmerei weckt, dann wird diese tatsächlich Weisheit, da sie jenes doppelte Wunder vollbringt. Man kann nichts Besseres tun, als sie zum Angelpunkt des religiösen Kultus zu machen. Sie wird allen Kindern Liebe zu Gott einflößen, weil sie begreifen, wie gut er dafür gesorgt hat, dass sie ihren bevorzugten Genüssen frönen können. Zwei­ fellos wird ein Kultus, der auf diesen Grundlagen beruht, von allen Kindern der Welt mit Begeisterung angenommen werden. Allgemein gesagt, sollte der Kultus an diejenigen Funktionen gekoppelt werden, die für den sozialen Mechanismus den größten Nutzen haben. Um herauszufinden, welche dies in der Harmonie sein werden, genügt es, zu untersuchen, welche die stärkste An­ ziehung ausüben. Als ihr weiser Spender muss Gott die nützlichsten Funktionen mit entsprechenden Anreizen versehen haben. In der vorliegenden Abhandlung werde ich darlegen, dass es sich um die Liebe und die Schlemmerei handelt. Es ist also nur folge­ richtig, sie zu vergöttlichen (zu divinisieren), um sie den Menschen teurer zu machen und das Band der religiösen Einheit auf die mächtigsten Triebfedern der Begeisterung zu gründen. Wenn es uns bestimmt wäre, in jenem Zustand des Mangels zu leben, zu dem uns die zivilisierte Gesellschaftsform verdammt, hätte Gott uns so genügsam geschaffen wie das Kamel und den Esel. Doch der Zustand der �armonie, für den er uns bestimmt

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hat, wird uns unermessliche und unendlich mannigfaltige Erträge bescheren (wovon man sich in der vorliegenden Abhandlung wird überzeugen können). In einer solchen Ordnung muss sich die Weisheit der Aufgabe widmen, den Verbrauch dieser unermessli­ chen Erträge sicherzustellen, für die es weniger Abnehmer geben wird, da die Harmonie infolge der dort herrschenden Freiheit in der Liebe eine wesentlich geringere Bevölke­ rung als die Zivilisation haben wird. Im Allgemeinen werden 1.000 Harmoniebewohner dasselbe Gebiet bevölkern wie 1.500 Zivilisierte und dabei mehr als das Dreifache pro­ duzieren. Daher müssen sie vier­ oder fünfmal mehr konsumieren als die Völker der Ge­ genwart. Dieses Ziel wird man nur durch Verfeinerungen der Gastronomie erreichen. Es wird exakte Methoden geben, um schon im Kleinkindalter zu erkennen, welchen Rang jedes Kind unter den 810 Temperamenten einnimmt und welcher Diät es folgen muss, um bei seinen fünf Mahlzeiten ordentlich zuzulangen. Ohne diese Maßnahmen würde man praktisch jedes Jahr vor dem Problem eines Überflusses an Lebensmitteln stehen und gezwungen sein, eine große Menge von Erzeugnissen, die nicht verkauft werden können, zu vernichten, denn jeder Wirbel wird einen großen Überschuss aufweisen und gezwungen sein, Methoden zur Gewährleistung eines ausreichenden Konsums zu entwi­ ckeln. Bei dieser Lage der Dinge wird man religiöse Lehren, die Enthaltsamkeit, Fasten, und Entsagung predigen, nicht mehr erlauben können, da sie zerstörerisch für die Volks­ wirtschaft wären, die sich in all ihren Zweigen in eine der zivilisierten Wirtschaft entge­ gengesetzte Richtung entwickelt. Die Weisheit wird sich in dieselbe Richtung orientie­ ren und Methoden entwickeln, um den Konsum sicherzustellen, indem sie vor allem die Verfeinerung der Gastronomie fördert, die dazu führt, dass die Kinder besser verdauen, mehr zu sich nehmen und kräftiger werden, kurz: Weisheit erwerben. Da der gesamte soziale Mechanismus die Metamorphose der Raupe zum Schmetterling, das heißt den organischen Gegenlauf durchmachen wird, ist es notwendig, dass auch das religiöse Sys­ tem sich diesem neuen Zustand anpasst und die Notwendigkeit einer Verfeinerung der Gastronomie predigt. Es ist davon auszugehen, dass unsere Geistlichen sich rasch zu dieser neuen Leh­ re bekehren lassen werden, denn keiner von ihnen, vom Prälaten bis zum Landpfarrer, verachtet eine gute Mahlzeit. Sie bringen somit die notwendigen Anlagen für die neue Weisheit mit, die nur noch mit dem religiösen Geist verschmolzen werden müssen. Für sie bringt diese Neuerung einen doppelten Vorteil mit sich: Sie können selbst ein Bei­ spiel dessen geben, was sie predigen und werden überall eine Zuhörerschaft vorfinden, die ihre Unterweisungen goutiert. Die beiden einheitlichen Kulte, der Kultus der Weisheit und der Kultus der Tugend, werden jedoch nicht auf einen Schlag eingeführt werden können. Unsere Generation wird ihre religiösen Gewohnheiten nur schrittweise ändern. Die heutigen Priester jedoch, die von der Zivilisation so schlecht behandelt werden, sehen in jedem Wirbel einer strahlen­ den Zukunft entgegen – unter der einzigen Bedingung, dass sie unter allen Umständen darauf verzichten, Enthaltsamkeit zu predigen und dass sie ihre gesamten Kräfte darauf verwenden, würdig den exzellenten Menüs zuzusprechen, die ihnen bei ihren fünf Mahl­ zeiten serviert werden.

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Über die omnigame Liebe Beschluss der zweiten Notiz über die polygame Liebe Die Liebe muss sich wieder entfalten können Die Liebe ist somit die zentrale Leidenschaft, der es wieder ermöglicht werden muss, sich auf allen Stufen zu entfalten. Insofern die drei anderen Leidenschaften in der Zivi­ lisation geduldet, ja angeregt werden, müssen wir uns hier nicht mit ihnen beschäftigen. Es wird genügen, in der folgenden Sektion (Dur­Angelpunkte) ihre Entwicklung in der Harmonie darzustellen. Niemand wird an dieser Entwicklung Anstoß nehmen, sie wird vielmehr allgemeine Zustimmung finden. Doch ein Wagen kann nicht auf drei Rädern fahren, wenn das vierte zerbrochen ist ...11 Daraus folgt, dass unsere gesamten theoreti­ schen Anstrengungen darauf gerichtet sein müssen, die Liebe, die einzige von den Zi­ vilisierten geächtete Leidenschaft, wieder in ihre Rechte einzusetzen. Wir werden ihren Mechanismus auf seiner höchsten Stufe darstellen, auf der Stufe der Omnigamie. Die Neigung zur Orgie (Es gilt zunächst zu zeigen, dass die Zivilisierten zur Orgie, das heißt zur direkten Omni­ gamie neigen; dass diese Neigung in den vornehmsten Gesellschaftsschichten vorkommt und dass diese Schichten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln danach streben, ihren Orgien einen Anstrich von Gefühl zu verleihen, den die Zivilisation nicht dulden kann.) Ein weiteres Mal begegnet uns hier das triste Talent der Zivilisierten, Gold in Kupfer zu verwandeln. Es gibt nichts Abstoßenderes, nichts Schmutzigeres als ihre amourösen Orgien oder Omnigamien. Dort herrscht der reine Materialismus, das Gefühl wird ausge­ sperrt. Alle sittsamen Leser werden folglich einer Theorie der amourösen Orgie vorein­ genommen gegenüberstehen. Sie können versichert sein, dass die Harmonie niemals auf die sittliche Verdorbenheit der Menschen spekuliert. Sie erlaubt die einfache Bewegung nur über den Zwischenschritt der zusammengesetzten. So fordert sie bei der Orgie, wie bei jeder anderen Manifestation der Leidenschaften auch, zuallererst eine gefühlsmäßige Bindung zwischen allen Teilnehmern. Bevor wir jedoch die Triebfedern der Orgie in der Harmonie beschreiben, müssen wir auf einige Vorläufer in unseren Gebräuchen hinweisen. Wir werden beim Körperlichen beginnen, gemäß der Regel, dass jede Bewegung vom Körperlichen zum Geistigen und vom Einfachen zum Zusammengesetzten aufsteigt. Wir werden daher die körperliche Omnigamie behandeln, auf die Gefahr hin, dem Bannfluch der Sittenrichter anheimzufallen, von dem wir uns jedoch mühelos wieder reinwaschen werden, wenn wir uns den geistigen Omnigamien oder sentimentalen Orgien zuwenden. Doch selbst in körperlicher �insicht erlaubt die �armonie keine der schmutzigen [ ] der Zivilisation. Wenn in einer Orgie das Körperliche vorherrscht, gebietet sie, dass es durch Illusionen verschönert wird, welche die edlen Leidenschaften ansprechen. Wir wer­ den zunächst die Orgien niedrigster Art in der Harmonie den vornehmsten Orgien in der 11 Auslassungspunkte im Original.

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Zivilisation gegenüberstellen. Es wird sich zeigen, dass schon die untersten Stufen der Harmonie die Orgie unendlich weit über die höchste Stufe hinausheben, die sie in der Zivilisation erreichen kann. Man möge im Auge behalten, dass ich nur die unterste Stufe, die am wenigsten vor­ nehme Orgie, die sich im ganzen Mechanismus der �armonie findet, beschreiben werde. Suchen wir aber zunächst einen Keim von ‰ ] in den zynischsten Zusammenkünften. Ich werde zwei derartige Zusammenkünfte anführen, von denen die eine zum verworrenen, die andere zum ‰ ] Typus gehört. Ein bemerkenswertes Beispiel einer zivilisierten Orgie 1. Verworren. Ich kenne nichts Bemerkenswerteres als jene Moskauer Gesellschaft (ich berichte vom �örensagen), die sich physikalischer Klub nennt. Die Mitglieder, die von einem Türhüter, der sie kennt, eingelassen werden (die Initiierten), entkleiden sich in einem Vorzimmer und treten nackt in den Sitzungssaal, der abgedunkelt ist und in dem jeder blind herumtastet, sich, wie der Zufall es will, bedient und betätigt, ohne zu wissen, mit wem er es zu tun hat. Diese ‰Praxis] die auf den ersten Blick liederlich erscheint, ist vielleicht die sittsams­ te, die es je in der Zivilisation gegeben hat. Es ist die einzige, in der es den Zivilisierten gelungen ist, die Verworfenheit ihrer Sitten und Gefühle zu verbergen, die zu gehässig und zu sehr von Misstrauen beherrscht sind, um sie dem Licht auszusetzen. Sie brauchen die Dunkelheit, um das Gefühl ihrer Schande zu überdecken. Doch trotz jener ‰ ] Gehässigkeit empfinden sie ein natürliches Bedürfnis nach der Orgie oder allgestaltigen Liebe, und es war eine ausgezeichnete Idee jener Moskowiter, mittels der Dunkelheit die �indernisse zu überwinden, die Argwohn und Eifersucht in der Zivilisation dem natürlichen �ang zur Orgie entgegensetzen. Die Idee einer Zusam­ menkunft im Dunklen vereint alle und versöhnt auch diejenigen mit der Natur, die von der Zivilisation daran gehindert werden, sich mit ihr auszusöhnen, und die sich verber­ gen müssen. Die Orgie ist ein natürliches Bedürfnis Ich habe mit diesem Beispiel begonnen, weil es eine unausgesprochene Anerkennung der natürlichen Triebkraft [darstellt]. Es steht fest, dass die Natur uns zur amourösen Orgie ebenso wie zur kulinarischen Orgie drängt, und beide, die im Exzess tadelnswert sind, würden in einer Ordnung, der es gelänge, sie in ein Gleichgewicht zu bringen, Lob verdienen. Wir dulden den feinsinnigen Anakreon, der die Orgien besingt, welche die unverbesserlichen jungen Päderasten und Trunkenbolde unter den Augen der Wei­ sen veranstaltet haben, und der die Männer den Frauen vorzieht. Wenn unsere antiken Meister Exzesse preisen, die heute als derart verdammenswert gelten, so bestätigt dies hinreichend, dass die Orgie ein natürliches menschliches Bedürfnis ist. Wir müssen nur die Ausübung dieses Vergnügens auf ebensolche Weise regeln wie so viele andere, die, obwohl auch sie unvereinbar mit der zivilisierten Ordnung sind, doch nicht weniger der

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Natur entsprechen, die uns zu allen Stufen des Vergnügens treibt, zum einfachen, zum zusammengesetzten, zum polygamen, zum omnigamen und zum unentschiedenen. Die amouröse Orgie oder die omnigame Gattung ist so natürlich, dass sie auf der Insel Tahiti, wo man sicherlich auf den Pfaden der Natur wandelt, allgemein vorherrscht. Die dortigen Wilden praktizieren die zusammengesetzte Orgie, bei der alle Kombinatio­ nen zwischen Männern und Frauen möglich sind. Die einfache Orgie, die nur der Wollust eines einzigen Geschlechts dient, findet sich bei allen barbarischen Völkern. Es gibt bei den Barbaren keinen Pascha, der mit seinen Frauen keine Orgien veranstaltet, und die meisten veranstalten darüber hinaus päderastische oder unentschiedene Orgien. Manche Barbaren veranstalten kontrastierte unentschiedene Orgien. Giradon.12 Andererseits geben sich alle Zivilisierten – sooft sie können – der Orgie hin, wie die Sitte jener vornehmen Moskauer �erren bezeugt, die sich in unterirdischen Gemächern von vollständig nackten Georgierinnen bedienen lassen. Die ehrbaren Frauen unserer Großstädte sind derartigen Zerstreuungen, die selbst bei den unschuldigen Landbewoh­ nern durchaus üblich sind, keineswegs abgeneigt. All die verschwiegenen Kränzchen, diese Sextette und Oktette, schlagen leicht in Orgien um, und mehr als einmal war ich erstaunt zu erfahren, welchen [ ] sich die nach außen hin sittsamsten Frauen bei ihren geheimen Zusammenkünften hingeben. Gelegentlich habe ich selbst an derartigen Zu­ sammenkünften teilgenommen und war jedes Mal überrascht, mit welcher Leichtigkeit die Frauen auf einen Schlag all jene ‰ ] der Moral vergaßen, welche sie in der Öffent­ lichkeit so gewissenhaft beachten. Wir müssen die Orgie sorgfältig von der Prostitution und der Ausschweifung unter­ scheiden, denn bei der Orgie handelt es sich um eine transzendente und [ ] Liebe. Die Prostitution ist eine sehr niedrige Stufe der Liebe, daher kommt sie hauptsächlich beim Volk vor, bei den Armen, die euch Frau und Tochter für ein paar Silbermünzen überlassen. Zur Orgie hingegen neigt die Klasse der Reichen und Freien, die aus dem Überfluss des Wohllebens heraus zur allgemeinen Freundschaft oder Einheitslust ten­ diert. Daher entsteht die Orgie natürlicherweise im Gefolge von Festmählern und in rei­ chen und sittenlosen Gemeinschaften, wie es der Hof zur Zeit der Regentschaft Ludwigs XIV. war. Die Orgie ist mithin die edle Entfaltung freier Liebschaften. Zwar nimmt sie manch­ mal bei gewissen grobsinnlichen Zusammenkünften, zu denen der Rausch eines Gelages oder die Geldgier die Teilnehmer hinreißt, [ ] Züge an, doch wenn sie spontan und ohne schmutzige Berechnung entsteht, wie es bei den heimlichen Ausschweifungen der ehrbaren Frauen der Fall ist, dann handelt es sich bei ihr um eine äußerst edle und phil­ anthropische Leidenschaft, deren Vorzüge ich bereits hervorgehoben habe, als von den Quartetten, Sextetten und Oktetten die Rede war.

12 Möglicherweise denkt Fourier hier an den französischen Bildhauer François Giradon (1628–1715).

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Übereinstimmung der geheimen Triebkräfte Wenn das Bedürfnis nach einer bestimmten Art von Vergnügen von der Übereinstim­ mung der geheimen Triebkräfte so überzeugend bestätigt wird, sollte man dieses Bedürf­ nis als eine natürliche Kraft anerkennen. Es bleibt, seinen Lauf an die Erfordernisse der Harmonie anzupassen, mit dem körperlichen Vergnügen stets den Zauber des Gefühls zu verbinden. Daher ‰ ].

Von den Grundelementen der Omnigamie – Korporationen Wer keine Fantasie hat, ist wie die Bauern, die alle idem (sic)13 In der Harmonie Tendenz zur unendlichen Vielfalt. Am höchsten geschätzt wird, wer diese am weitesten treibt (gleiche Funktion der Manie wie der Angelpunkt­Liebe: im Ver­ bund, im Zusammenwirken mit der exklusiven Liebe Vergnügen zu gewähren). Das sind seltsame Lehren, ‰doch die] zivilisierte Liebe ‰ist] unverträglich wie Fäden eines Spinnennetzes, Band oder Einheitslust notwendig [ ] zwei Bänder notwendig: die Angelpunkt­Lieben und die Liebesmanien. Nachdem wir die geistigen Bande in den Orgien der Harmonie betrachtet haben, nämlich die Liebe zu den Künsten und zur Schönheit der Natur, weiterhin das allgemeine Wohlwollen, das in dieser neuen Ordnung zwischen allen Menschen herrscht, können wir zum System der Liebesorgien fortschreiten. Ich musste ihnen einen vornehmen An­ strich geben, bevor ich auf ihre Einzelheiten eingehe und ich möchte den Leser bitten, diese beiden [ ] nicht aus den Augen zu verlieren, die in der Harmonie [ ] haben [ ] der heutigen Moskowiter und die gleichwohl den heimlichen Charme der ganzen guten Gesellschaft ausmachen, die sich so gern ihren kleinen Orgien, ihren Partien zu sechst, zu acht usw. hingibt. Sobald derartige Zerstreuungen in der Harmonie erlaubt sind, wird man sich dabei an die Regeln halten müssen, die für alle Gattungen von Vergnügen [gelten]. Folglich werden wir auf die amouröse Orgie alle die Prinzipien anwenden, die wir für die anderen Gattungen von Genüssen aufgestellt haben. Wir haben bereits von den geistigen Banden gesprochen, welche die Korporationen der Liebe entstehen lassen. Ich habe den Liebeshof in neun Charaktere, eingeschlossen den Unentschiedenen, unterteilt. Sie bilden neun Korporationen, von denen sich jede wiederum mindestens dreifach untergliedert. Man muss die Korporationen bestimmter Klassen hinzufügen, wie die Monogynen aus der Klasse der Celadonier,14 der Zyniker usw. 13 Im Original fragmentarisch, wie auch die folgenden Sätze (A. d. Ü.). 14 Benannt nach Celadon, dem männlichen Helden des Romans Astrée von Honoré d’Urfé (1567 – 1625). Der Celadonismus bezeichnet für Fourier das Gegenstück zur körperlichen Liebe, die rein gefühlsmäßige, sentimentale Liebe (A. d. Ü.).

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Um jede dieser Korporationen auf die Stufe der edlen Orgie zu erheben, die sich auf ehr­ bare Illusionen stützt, muss man ihren Zusammenkünften andere Reize als den gewöhn­ lichen Sinnesgenuss verleihen, vor allem aber das Band der Streitlust in sie einführen. Die schlüpfrigen Phantasien Man findet ihren Keim in den erotischen Manien, den schlüpfrigen Phantasien, die jeder Mensch hat. Man entwickelt in der Liebe wie in jedem Vergnügen gewisse Manien. Unter schlüpfrigen Manien verstehe ich gewisse bizarre Angewohnheiten, sowohl körperlicher wie geistiger Art. Frauen, die viele Liebhaber gehabt haben, oder Männer, die viele Geliebte hatten, können Unmengen von geheimen Manien aufzählen, darunter äußerst amüsante. Gewisse Männer von der scheinheiligen Sorte lieben es, von ihren Schönen in Wort und Tat bedroht, geschlagen und misshandelt zu werden. Mir wurde einmal eine Peitsche gezeigt, die schlimmer aussah als die, mit der Christus gegeißelt wurde, und die Frau, die sich ihrer bediente, versicherte mir, dass sie ihren Liebhaber mit voller Kraft damit bearbeitete, während sie ihn gleichzeitig mit Verwünschungen überhäufte, und dass er diese Artigkeiten, Liebkosungen sehr genoss. Andere lieben es, selbst zuzuschlagen, und bezahlen die Frauen fürstlich, um sie zerfleischen zu dürfen. Hier handelt es sich um körperliche Manien. Genauso gibt es Manien des Gefühls, die vor allem bei den Greisen vorkommen. Der eine liebt es, sich als kleiner Junge zu ver­ kleiden und sich ebenso behandeln zu lassen. Das Kindermädchen setzt ihm ein �äub­ chen auf und bestraft den sechzigjährigen Knirps, weil er unartig gewesen ist. Vergeblich bettelt er um Gnade, Strafe muss sein. Er hat zu viel Schabernack getrieben und muss gezüchtigt werden. Man tätschelt sanft seinen patriarchalischen Hintern, dann lässt man ihn um Verzeihung bitten. Er muss die Rute küssen und versprechen, von nun an brav zu sein. Diejenigen, die diese Manie haben, können die Welt der alten Knirpse bilden, die zur sentimentalen Gattung gehört, als Liebesillusion im Sinne des Familismus. Wenn sie sich auf die bei vielen Alten sehr beliebte Flagellation beschränkt, handelt es sich um eine körperliche Manie. (auch Kinder haben geistige Manien) Man könnte einen ganzen Band mit der Schilderung dieser schlüpfrigen Manien fül­ len, von denen einige äußerst amüsant sind, wie die folgende, die von gemischter Art, das heißt körperlich und geistig zugleich ist. Ein Deutscher machte mehrere Monate lang einer sehr schönen Frau den Hof. Er brachte sie zu Bett, deckte sie zu und umsorgte sie auf ihrem Lager. Als einzigen Lohn für seine Mühen nahm er für eine Viertelstunde am Fußende ihres Bettes Platz, um der Dame die Fußsohlen zu kitzeln, obwohl diese eine prachtvolle Frau war und es wohl verdient hätte, dass die Hand nicht bei den Fußsohlen stehengeblieben wäre. Doch der Verehrer war glücklich und sehr verliebt, und da er jung, gutaussehend und ein Ehrenmann war, hatte die Dame an ihm Gefallen gefunden, trotz dieses unschuldigen Zeitvertreibs, der in seiner Tugendhaftigkeit wahrhaft des goldenen Zeitalters würdig war. Es versteht sich, dass die Dame von anderen Favoriten reichlich entschädigt wurde, deren Zärtlichkeiten um einiges über die Fußsohlen hinausgingen. Dennoch hatte ich

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den Eindruck, dass sie Geschmack an diesem seltsamen Verehrer gefunden hatte, und sie pries mir seine Aufrichtigkeit und sein Zartgefühl in einem liebevollen Ton und mit einer Zuneigung, wie man sie sonst bei den Französinnen in solchen Fällen kaum findet. Diese beiden Menschen genossen während mehrerer Monate dank einer ziemlich bizarren Manie ein sehr reales Glück, und ihr Fall illustriert ein weiteres Mal das Prin­ zip: Was mehreren Personen Vergnügen bereitet, ohne irgendjemandem zu schaden, ist immer ein Gut, das man sich in der Harmonie, wo die Vergnügen unendlich variiert wer­ den müssen, zunutze machen sollte. Man wird sich also daran machen, die unzähligen schlüpfrigen Manien zu klassifizieren und sie zunächst in zwei Gattungen unterteilen, die körperlichen und die sentimentalen. Dann wird man, statt sich, wie in der Zivilisation, über die Manien des Einzelnen lustig zu machen, daran gehen, sie zu fördern und in Gruppen zusammenzufassen. Wenn sich in einer zahlreichen Armee ein Dutzend Männer finden, die gerne Fußsohlen kitzeln, und ein Dutzend Frauen, denen dieser Zeitvertreib Vergnügen bereitet, dann hat man die Varietät der „Fußsohlen­Verehrer“, die ebenso nützlich sein wird wie alle anderen [ ], da es darum geht, möglichst zahlreiche Varietäten von Gruppen körperlicher und geisti­ ger Manien zu bilden. Je mehr Varietäten es gibt, desto leichter kann man aus ihnen Serien oder Tonleitern zusammenstellen, in denen jeder �albtonschritt von einer zusammengesetzten Gruppe gebildet wird, das heißt von einer Gruppe von Männern und Frauen mit derselben Manie. Untersuchen wir, wie man bestimmte Manien zum Einsatz bringt, die in Gruppen und Serien oder Tonleitern angeordnet sind. Klassifizierung der Mitglieder Es gilt zunächst, die Mitglieder der Serien nach unterschiedlichen Geschmäckern zu klassifizieren, deren Details hier aus Rücksicht auf den Anstand nicht genannt werden können. Dann muss man einen geistigen Charakter, wie die Koketten oder die Prüden, mit einem körperlichen Charakter, wie den Flagellanten und Flagellantinnen, kombinie­ ren. Es wird dafür auf Erfahrung gegründete Regeln geben, nach denen sich Überein­ stimmungen zwischen Charakteren ebenso wie alternative Möglichkeiten bei der Zu­ sammenstellung dieser Korporationen ermitteln lassen. Ohne diese Differenzierungen wären die Armeeversammlungen, bei denen die Zeit fehlt, Sympathien zwischen Paaren und Quadrillen zu organisieren, nichts weiter als wüste Gelage ohne begründete, abwechselnde Übereinstimmungen zwischen den ver­ schiedenen Gruppen. Die �armonie duldet ein solches Durcheinander nicht. Sie hat Re­ geln, um alles, selbst im größten Maßstab, zu harmonisieren. Diese industriellen Armeen, die nicht besoldet, sondern nur freigehalten werden, würden keinerlei Anziehung auf die Jugend ausüben, wenn sie nicht eine Menge von Vergnügen in sich vereinigen würden, die ebenso edel sind wie diejenigen, die man in sei­ nem eigenen Wirbel genießt. Grobe und zynische Orgien mit den Bacchantinnen würden die Legionäre nicht eine Woche lang bezaubern. Man muss vielmehr nach allen Regeln

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der Kunst Partien organisieren, welche die edlen Illusionen zu nähren vermögen, und sie in diesen großen Zusammenkünften unaufhörlich variieren. In den großen Zusammenkünften wie den Armeen, den Kongressen usw. kann man die Liebesverbindungen nur dann umfassend organisieren, wenn man die Gattungen und Arten in Gruppen mit zahlreichen Mitgliedern zusammenfasst. Wie kann man eine Menge von 6.000 Personen allein vermittels monogamer Sympathien, wie wir sie in der 1. Notiz detailliert beschrieben haben, organisieren? Es wird nicht genügend Feen und Fees geben, welche die Durchreisenden beiderlei Geschlechts, ihre Charaktere und Gewohnheiten kennen. Es wäre unmöglich einen allgemeinen ‰ ] mit paarweisen Sym­ pathien zusammenzustellen. Ebenso würde die Anordnung der Sympathien zu polygamen Quadrillen misslingen, da die Masse der Teilnehmer zu groß ist, um diese kleinteiligen Zusammenstellungen von 8, 12, 16 (Personen) zu erlauben, die nach der doppelten Tonleiter der Monogynen und der Angelpunkte in zwei Brennpunkten abgestuft sind. Diese Methoden sind nur für kleine Gemeinschaften wie einen Wirbel geeignet, in denen, nach Abzug der Kinder und der exklusiven Egoisten, ein Liebeshof nicht mehr als 400 aktive Teilnehmer hat. Die omnigamen Sympathien Doch um 4.000 Personen zu organisieren, denn eine solche Stärke erreichen viele Wir­ bel während des Aufenthaltes einer Armee von 100.000 Menschen, wird es nötig sein, auf höherentwickelte Methoden zurückzugreifen, denen die Berechnung der omnigamen Sympathien zugrunde liegt. Die Freunde der Philosophie und der zivilisierten Vollkommenheit werden jetzt auf­ schreien, dass die bereits beschriebenen polygamen und monogamen Methoden genü­ gend Todsünden hervorbringen und es unnötig ist, sich noch weitere auszudenken. Doch ist man einmal verdammt, dann spielt es keine Rolle mehr, ob man zu den Verdammten dritten oder vierten Grades gehört, denn die Hölle ist gleich heiß für alle. Schließen wir also unsere Berechnung ab, indem wir von den aufgestellten Prinzipien ausgehen, die wir uns immer wieder vor Augen führen müssen. In der �armonie müssen sich die Einzelelemente jedes Zweigs der Bewegung voll­ ständig ineinander fügen. Handelt es sich um die Liebe, dann müssen, wenn eine Zu­ sammenkunft von 100.000 Männern und Frauen stattfindet, die Liebesbeziehungen jedes dieser 100.000 Individuen zu den 99.999 anderen in Beziehung stehen, dann muss jeder der 99.999 aktiv zu den Vergnügen des 100.000. Teilnehmers beitragen. Die Zivilisierten missachten dieses Prinzip. Sie sagen zu jedem der 100.000 Teilneh­ mer: Wenn du eine Geliebte findest, mit der du zufrieden bist, was geht es dich an, ob die 99.999 anderen auf ihre Kosten kommen. Mögen sie sich, so gut sie können, selbst aus ihren Intrigen heraushelfen. So die Theorie des Egoismus oder der Zivilisation, die stets das Individuum gegen die Masse ausspielt, weil in allen Zweigen des Vergnügens oder der Industrie ein allgemeiner Mechanismus der Assoziation fehlt (vgl. General: wer alles von oben und nicht von vorn sehen will – Publikum: wer nur die Masse der Tänzer sieht und nicht die einzelnen Quadrillen).

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Ich habe bereits darauf hingewiesen: Die industrielle Armee würde weder für die männlichen noch für die weiblichen Legionäre eine große Verlockung darstellen, wenn man ihnen sagte: Ihr werdet dort eine Geliebte haben und gut verpflegt werden. Je­ der von ihnen würde antworten: In meinem Wirbel habe ich es besser. Dort habe ich gleichgesinnte Quadrillen und Geliebte nach einfacher und nach Angelpunkt­Tonleiter. Ich habe delikate Speisen, die jeden Tag in kontrastierten und abgestuften Serien ab­ wechseln. Wenn man also in den beiden Hauptgattungen des Vergnügens, in der Liebe und an der Tafel, den Legionären beiderlei Geschlechts keine transzendenten Lockun­ gen bietet, wird es nicht gelingen, sie durch Anziehung in Bewegung zu setzen. Einige werden aufbrechen, um den Vestalinnen zu folgen, manche andere aus Neugier, doch die Antriebskräfte sind nicht stark genug. Wenn der Aufenthalt bei der Armee nicht in allen Bereichen überlegene Vergnügen bietet, wird man die Rekruten einzeln antreiben müssen. Das ist genau der Fehler, vor dem man sich hüten muss. Jede Zusammenkunft, die zahlenmäßig größer ist als ein Wirbel, muss auch Vergnügen einer höheren Stufe bie­ ten, und da jeder Wirbel die Vergnügen zu polymodaler Potenz steigern kann, muss jede Armee und jeder Kongress sie zu omnimodaler Potenz steigern und nicht nur mit guter Küche und Liebe, sondern darüber hinaus mit allen anderen Vergnügen, Theaterauffüh­ rungen, Museen, Konzerten usw. Lockungen bereit halten, die denjenigen des ständigen Wohnorts überlegen sind. Die Aufnahme in die Armee: eine begehrte Gunst Unter solchen Umständen wird die Aufnahme in die Armee, statt wie bei uns ein Fron­ dienst, zu dem man gewaltsam durch Gendarmen und Ketten gezwungen wird, eine Gunst, um die man sich lange im Voraus bewirbt und die man sich durch [ ] verdienen muss. Daher ist es für die Vestalinnen und Vestalen ein sehr großes Privileg, je nach ihrem Rang, einen ihrer Anbeter oder eine ihrer Anbeterinnen zur Teilnahme an einem Feldzug auswählen zu dürfen, ohne dass die Auserwählten eine andere Qualifikation mitbringen müssten als die, durch das vestalische Korps bestimmt worden zu sein. Man kennt die Leistungen dieser industriellen Armeen der Harmonie. Anstelle unse­ rer zivilisierten Triumphe, wie zum Beispiel im Laufe eines Feldzugs 20 oder 30 Städte niedergebrannt und geplündert zu haben, werden sie 20 oder 30 Brücken über den Rhein oder die Donau errichtet, Deiche gebaut, Landstriche urbar gemacht oder trockengelegt haben usw. Es ist daher von größter Wichtigkeit, dass die produktiven Armeen, von denen ungeheure Wohltaten zu erwarten sind, mit all den Reizen ausgestattet sind, die den Frondienst zu einer Belohnung machen und die bewirken, dass die gesamte Klasse der Reichen sich um die Ehre reißt, auf eigene Kosten in die Armee aufgenommen zu werden. Während wir mit großen Kosten jene Landsknechte ausheben und in Bewegung setzen, die dann während eines Feldzuges 20 Städte und riesige Ernten zerstören, hat die Harmonie daher praktisch keine Aufwendungen für die ungeheuren und nützlichen Arbeiten, die ich oben genannt habe. Alles wird um der Reize des Vergnügens, der Ehre, der Freundschaft und der Begeisterung für die schönen Künste willen vollbracht. Wenn man unter Rückgriff auf so edle Triebfedern und praktisch ohne jede Kosten ungeheure

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industrielle Wunder vollbringen kann, ist es dann nicht Irrsinn, noch einen einzigen Au­ genblick länger zu warten? Prägen wir uns also den Grundsatz ein, dass die industriellen und (beinahe) kosten­ freien Armeen eine der großartigsten Errungenschaften der Harmonie sind. Man sollte sich davor hüten, gegen die Bande, die innerhalb dieser Armeen geknüpft werden, den banalen Einwand zu erheben, dass ihre Lüste von der Philosophie verboten sind, sondern sich im Gegenteil an das Prinzip halten, dass das, was vielen Vergnügen bereitet ohne irgendjemand zu schaden, nicht schlecht sein kann. Wir gehen von dieser Regel aus, um in wenigen Strichen den Plan der omnigamen Liebesbeziehungen zu skizzieren, die einen der machtvollsten Reize der Armeen der Harmonie ausmachen. Niemand wird ihre gastronomischen Disputationen, ihre Kunstsammlungen und ihre Schauspielensem­ bles kritisieren wollen. Da in �insicht auf die Produktion wie in künstlerischer �insicht jeder ‰ ], gibt es nur noch eine Empfindlichkeit, die man mit der Beschreibung ihres Mechanismus verletzen kann, die der [ ], die Vorurteile gegenüber der omnigamen Lie­ be pflegen, welche jedoch die einzige Art von Liebe ist, die es vermag, die Vergnügen der Armee in allgemeiner Bindung gemäß den Gesetzen der Harmonie zu ordnen. Als Vorspiel zu dieser [ ] folgt nun ein kurzes Kapitel, in dem die Omnigamie auf die kuli­ narischen Vergnügen angewandt wird, die, zumindest solange sie kostenlos sind, in der Zivilisation keine Feinde haben – wenigstens keine mir bekannten.

Omnimodales gastronomisches Manöver Vorbereitungen zu einer geordneten Feldschlacht Disputations­Schlacht, deren Ausgang von den Konzilen entschieden wird Domitian hielt sich für witzig, als er den Senat über die Zubereitung einer Seezunge bera­ ten ließ. �ier werden die Areopage von 30 Reichen mit größtem Ernst über jede einzelne Speise einer Mahlzeit beraten. Die pygmäenhaften gastronomischen Triumphe unserer Tage kommen hier an ihr Ende. Ihr werdet erkennen, wie nichtig die zivilisierte Großsprecherei ist, wie ärmlich eure vorgeblichen Raffinessen. Ihr werdet Zeuge sein, wie der Gott der Festmähler sei­ ne Siegespalmen mit größerem Pomp austeilt als Mars und Apollon. Vor euren Augen werden gewaltige Armeen in den gastronomischen Kampf geworfen werden, um über die vollkommene Zubereitung der einfachsten Speise in jeder vorstellbaren Variation zu entscheiden. Ihr werdet sehen, wie der Ruf von Nationen auf einem omelette soufflée oder gar einer einfachen Schlagsahne errichtet wird, dem Anschein nach recht zerbrech­ liche Fundamente, lächerliche Siegeszeichen, wenn man ‰ ] glaubt, die jedoch für die unter dem Banner der Harmonie versammelten Nationen Fundamente aus Granit15 und der Weisheit sein werden. 15 Überschrieben: Leuchtfeuer.

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Wiederholen wir noch einmal: Die Theorie des omnimodalen Zusammenspiels der Leidenschaften bezweckt die universelle Kombination der Leidenschaften, das heißt die Kunst, das Spiel jeder Leidenschaft so zu ordnen, dass es auf alle Bewohner der Erde ei­ ne lebhafte Anziehung ausübt und zum Vergnügen jedes einzelnen jener vier Milliarden Individuen beiträgt, mit denen die Erdbevölkerung vollzählig sein wird (dies lässt sich erreichen, indem man jede einzelne Leidenschaft und jeden Industriezweig in möglichst vielen Variationen entfaltet). Dies ist das Ergebnis, dem man sich stufenweise nähern muss. Ich habe bereits auf verschiedene Methoden hingewiesen, mit denen sich, sei es in der Liebe, sei es in der Gastronomie, große Massen für ein Spiel der Leidenschaften gewinnen lassen: Eine gro­ ße amphigame Quadrille mit ihren amourösen Entwicklungen16 vermag beispielsweise einen kompletten Wirbel und alle teilnehmenden Nachbarn zu fesseln; eine gastrono­ mische Disputation und die dabei ausgetragenen Rivalitäten ‰ ] wecken das Interesse einer ganzen Region und finden sogar in den verschiedenen Reichen ein Echo. Doch all dies sind nur partielle Lösungsansätze für das Problem der universellen Verknüpfung der Leidenschaften. Wir werden ihre prächtigsten Triebfedern im omnimodalen Manöver entdecken, das die Sphäre der von der Streitlust inspirierten Auseinandersetzungen ins Unendliche ausdehnt. Beim omnimodalen Manöver bilden sich Assoziationen der Gast­ ronomie und der Liebe, die so beschaffen sind, dass jede ihrer Debatten über die feinsten kulinarischen Unterschiede und amourösen Manien die ganze Welt ergreift, erregt und zur Einmischung herausfordert. Nur sehr große Zusammenkünfte, wie die 100.000 bis 1 Million Mitglieder starken Armeen, sind für ein omnimodales Manöver geeignet. Ich werde zunächst ein [omnimo­ dales Manöver] gastronomischer Art beschreiben, dessen Prinzipien ich anschließend auf die Liebesordnung anwenden werde. Oft versammeln sich in der Harmonie die Armeen von 20 oder 30 Reichen auf einem geeigneten Feld. Jedes Reich entsendet dorthin seine berühmtesten gastronomischen Fachleute, sowohl Praktiker, das heißt Köche, als auch Theoretiker, das heißt Kritiker. Solche Treffen bieten den Reichen die Gelegenheit, ihren systematischen Ehrgeiz im Bereich der Küche geltend zu machen und den ihrer Rivalen zu durchkreuzen. Der Kampfplatz ist die Zubereitung eines Gerichts und die Zusammenstellung der jeweiligen Zutaten. Was die Schlachten um die Zubereitung eines orthodoxen und von [ ] zugelassenen Gerichts betrifft, werden die Siegespalmen in dieser Sparte nach der Thesen­Mahlzeit, die sich in der bereits beschriebenen Weise abspielt, [verteilt]. Bei den Schlachten hingegen, von denen im Folgenden die Rede ist, geht es jeweils nur um ein einziges Gericht. Doch nimmt die ganze Welt an ihnen Anteil, um über eine Pastete oder ein Omelett ihr Urteil zu fällen. (dies noch einzufügen): die Fachleute teilen sich in drei Jurys auf, die jeweils ge­ trennt die Speisen probieren und dann in einem gemeinsamen Ausschuss votieren. Durch die Vorschaltung von drei getrennten Jurys gelangt man zu besser begründeten Urteilen, als wenn die Fachleute für die Verkostung nur eine einzige Jury bilden. 16 Überschrieben: Manövern.

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Nehmen wir an, dass 32 Armeen aus ebenso vielen Reichen sich in Chaldäa in Me­ sopotamien zusammengefunden haben, um den Tigris und den Euphrat einzudeichen. Neben der gemeinsamen Arbeit des Eindeichens und den je speziellen Arbeiten, die sie übernommen hat, muss jede Armee bestimmte Thesen verteidigen, in der Industrie, den schönen Künsten, der Gastronomie, der Liebe usw. Jede Armee zieht mit einem Pro­ gramm ausgewählter Thesen ins Feld, die der ganzen Welt vorgelegt werden, und das Reich, welches die Armee aussendet, teilt ihr die fähigsten Virtuosen zu, um in der De­ batte zu glänzen. Eine Armee stellt nur drei oder vier Thesen pro Fachgebiet auf. Am Beispiel der Gastronomie: Ein bestimmtes Reich wirft der Welt hinsichtlich dreier Gerichte den Feh­ dehandschuh hin. Hinsichtlich der Pastetchen, der gefüllten Omeletts und der süßen Cremespeisen. Wenn es eine 25.000 bis 30.000 Seelen starke Armee entsendet, muss es diejenigen seiner Bürger auswählen, die am besten geeignet sind, sich bei der Zu­ bereitung dieser Gerichte hervorzutun. Das Gleiche gilt für Thesen über die Liebe, die schönen Künste, die Industrie usw. Wir beschränken uns hier auf die Gastronomie, deren Manöver uns [als Beispiel] für die anderen Bereiche dienen. Zu den General­Disputationen müssen sich mindestens 30 Armeen einfinden, da die Areopage von 24 Reichen versammelt sein müssen, um ein beschlussfähiges Konzil zu bilden, dessen Entscheidungen weltweit provisorische Autorität haben, vorbehaltlich der Ratifikation durch ein zusammengesetztes Konzil, an dem die Mehrheit der Erdbewoh­ ner teilnimmt. In der Periode der gemischten Gesellschaft sind 24 Reiche notwendig, da die Erde in 240 Reiche unterteilt ist und Fragen der [ ] von drei Konzilen beraten werden müssen: 1. den einfachen oder aus den Areopagen von wenigstens fünf Reichen zusammenge­ setzten Konzilen; 2. den gemischten oder aus den Areopagen von wenigstens 24 Reichen zusammenge­ setzten Konzilen; 3. den zusammengesetzten oder aus den Areopagen von zwei Dritteln der Erde, also 160 Reichen zusammengesetzten Konzilen. Die Schilderung der Arbeitsweise eines gemischten Konzils wird ausreichen, um sich ebenfalls ein Bild von den einfachen und zusammengesetzten Konzilen zu machen. In den Parlamenten der Zivilisation werden die Gegenstände der Debatte zunächst von einem Ausschuss diskutiert und grob vorbereitet, der dann eine Vorlage einbringt und die Sache schon halb fertig zur Entscheidung vorlegt. In der Harmonie bedient man sich desselben Verfahrens. Anträge werden zunächst von einem einfachen Konzil von mindestens fünf Reichen behandelt, von wo sie in die gemischten Konzile von 24 und schließlich in die zusammengesetzten weiterverwiesen werden. In der Harmonie wird großer Wert auf eine gerade Anzahl von Richtern gelegt, denn nur so kann es zur Stimmengleichheit oder Unentschiedenheit kommen, die viele Vortei­ le hat. Daher fordert die �armonie 24 und nicht 25 Areopage. 24 Areopage können über einen Gegenstand neun ordnungsgemäße Urteile fällen:

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bei 24 Jastimmen ohne Gegenstimme: begeisterter Triumph; bei 21 Jastimmen und 3 Gegenstimmen: Zustimmung; bei 18 Jastimmen und 6 Gegenstimmen: Annahme; bei 15 Jastimmen und 9 Gegenstimmen: wohlwollende Billigung, ehrenvolle Erwäh­ nung; bei 12 Jastimmen und 12 Gegenstimmen: nicht entschieden und zur Wiedervorlage vorgemerkt; bei 9 Jastimmen und 15 Gegenstimmen: Abweisung; bei 6 Jastimmen und 18 Gegenstimmen: Missbilligung; bei 3 Jastimmen und 21 Gegenstimmen: Verdammung; bei 24 Gegenstimmen: Verfluchung, Zerschmetterung, Bann.

Die entsprechenden Abstimmungen finden bei den abschließenden Examen statt. Somit spricht man in der �armonie niemals davon, dass ein Werk oder eine These Beifall findet oder durchgefallen ist, was sehr ungenaue Ausdrücke sind, sondern bedient sich der neun oben genannten Bezeichnungen, die sehr exakt den Grad des Erfolgs oder Misserfolgs der vorgelegten These angeben. Man wird diese Stufung des Urteils sogar auf 25 Stufen verfeinern, doch reicht der Blick auf die neun Stufen aus, um das Verfahren begreiflich zu machen. Unseren Senaten ist dieses Verfahren unbekannt, wie ihre konfusen Ent­ scheidungen zeigen, während es in der Harmonie, wo überall das Prinzip der stufenwei­ sen Ordnung angewandt wird, ein notwendiges Mittel der Urteilsfindung ist.

7. Gesellschafts­, Philosophie­ und Wissenschaftskritik

7.1 „Der fehlerhafte Kreislauf der Industrie im Zeitalter der Zivilisation“1 Zunächst wird jede Wissenschaft von Irrlehren und erst dann von Wahrheiten geprägt; vor der Experimentalchemie beherrschten die Alchimisten das Bild; vor der wissen­ schaftlich­erklärenden Astronomie war die deutend­verheißende Astrologie vorherr­ schend; vor der Entstehung der sozietären Ökonomie dominierte ein Jahrhundert die antisozietäre Ökonomie oder die Theorie der Zersplitterung, die zur Ermunterung der Einzelproduzenten, wahrer Vandalen der Industrie, beitrug. Bevor die urteilsfähige Vernunft den von neuen Wissenschaften einzuschlagenden Gang zu umreißen weiß, bemächtigt sich ihrer allenthalben der Trugschluss. Kaum taucht die Idee der Assoziation auf, so werden die Gemüter schon von Dunkelmännern der sozietären Methode, den die Meinung beherrschenden Owenisten, diesbezüglich in die Irre geführt. Wie viele, selbst die angesehensten Wissenschaften, stecken noch in dem der Herr­ schaft der Wahrheit vorangehenden Zeitalter der Finsternis! Zum Beispiel die Moral: Wie ist sie mit sich selbst zu vereinbaren? Auf der einen Seite predigt sie uns, den Reich­ tum zu verachten und die erhabene Wahrheit zu lieben, und auf der anderen Seite stachelt sie uns an, den Handel zu lieben, der nur darauf abzielt, durch listenreiche Praktiken Reichtum anzuhäufen. Alle sogenannten philosophischen Wissenschaften weisen sogar Folgewidrigkeiten und Widersprüche auf. Von ihren Urhebern sagte im vergangenen Jahrhundert Condillac: „Die Kunst des Missbrauchs unverstandener Wörter gilt ihnen als Kunst der Überlegung: Von einer fal­ schen Vermutung zur nächsten übergehend, haben sie sich in eine Unzahl von Irrtümern verstrickt, und nachdem diese Irrtümer sich zu Vorurteilen verfestigt hatten, haben sie daraus Prinzipien gemacht. Wenn die Dinge bis zu diesem Punkt gediehen sind, wenn Irrtümer sich derart angesammelt haben, gibt es nur ein Mittel, wieder Ordnung in das Denkvermögen zu bringen, und zwar alles, was wir gelernt haben, zu vergessen und, wie Bacon sagte, das menschliche Begriffsvermögen wieder herzustellen.“

1

Aus: OC, Bd. VI, 27–39. Aus dem Französischen von L. Zahn.

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Das damalige Zeitalter zeichnete sich durch Bescheidenheit aus. Man schämte sich nicht des Eingeständnisses, dass diese oder jene Wissenschaft noch in der Wiege läge, und insbesondere die Sozialpolitik. Ihre berühmtesten Vertreter stellten sie in schmerzlicher Missachtung an den Pranger. Hören wir sie an: Montesquieu: „Die gesitteten Gesellschaften sind von der Krankheit der Gleichgül­ tigkeit, von einem inneren Laster, der heimlichen und wohlverborgenen Boshaftigkeit befallen (der Zersplitterung).“ J.-J. Rousseau: „Das sind hier keine Menschen; irgendeine Umwälzung, deren Ursa­ che wir nicht erkennen können, hat sich vollzogen.“ Voltaire: „Offenbart mir den Menschen: voller Scham, mich selbst nicht zu kennen, suche ich, in meinem Wesen, in mir selbst, zu ihm vorzustoßen. Aber welch tiefe Nacht verhüllt die Natur noch in Dunkel.“ Barthélemy:2 „Diese Bibliotheken, die Schatzkammern erhabener Erkenntnisse sein wollen, sind nur eine beschämende Ablage von Widersprüchen und Irrtümern.“ Staël:3 „Die ungewissen Wissenschaften haben viele Illusionen zerstört, ohne irgend­ eine Wahrheit zu begründen; das Nachdenken hat uns in Unwissenheit, das Alter in die Kindheit zurückfallen lassen.“ Heute hat das Bild gewechselt, jenes große Labyrinth philosophischer Systeme hat sich in den Strom der Aufklärung, in den eilenden Lauf und den erhabenen Flug in Räu­ me der Vervollkommnungsfähigkeit verwandelt. Unser Jahrhundert stellt seinen Hoch­ mut besonders auf dem Gebiet der Industriepolitik zur Schau; in seinem Stolz auf einige materielle Fortschritte bemerkt es seinen politischen Rückschritt nicht, sieht es nicht, dass sein Eillauf dem Krebsgang der Bewegung gleichkommt, die sich rückwärts voll­ zieht. Der Industrialismus ist das jüngste unserer wissenschaftlichen Trugbilder; er besteht in der Sucht, ziellos zu produzieren, ohne irgendeine Methode der verhältnismäßigen Vergütung, ohne irgendeine Gewähr für den Produzenten oder Lohnempfänger, am Wachstum des Reichtums teilzuhaben. Daher beobachten wir, dass die industrialisierten Gebiete ebenso oder vielleicht noch stärker mit Bettlern übersät sind als von dieser Art Fortschritt verschonte Landstriche. Es ist wichtig, schon im Vorwort alle Illusionen des Industrialismus oder Missbräu­ che der Industrie zu zerstreuen, denn sie bilden den größten Gegensatz zur sozietären Politik. Ihre Grundlage ist: Industrielle Anziehung, proportionale Verteilung, anpassungsfähige Wirtschaft, Be­ völkerungsgleichgewicht und andere Maßgaben, von denen sich das industrialistische System in jeder Hinsicht immer weiter entfernt: ungeregelte Produktion ohne Gewähr der Verteilungsgerechtigkeit. Schätzen wir die Systeme nach ihren Ergebnissen ein! England ist das erstrebenswer­ te Ideal, das den Nationen vorschwebende Vorbild, der Gegenstand ihrer Eifersucht. Um

2 3

Siehe oben, Kapitel 1, Anmerkung 4. Gemeint ist Madame de Staël. Siehe oben, Kapitel 5, Anmerkung 7.

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zu beurteilen, wie groß jedoch das Glück des Volkes ist, werde ich mich auf unbestreit­ bare Zeugenaussagen stützen. Versammlung der Handwerksmeister von Birmingham vom 24. März 1827. Sie er­ klärt, „dass die Industrie und die Mäßigung des Arbeiters ihn vor dem Elend nicht be­ wahren können, dass die Masse der in der Landwirtschaft beschäftigten Lohnempfänger arm ist, dass sie in einem Lande, wo es einen Überfluss an Lebensmitteln gibt, hungers sterben“. Ein umso weniger verdächtiges Eingeständnis, da es von der Klasse der Werk­ stättenmeister kommt; sie sind daran interessiert, den Lohn der Arbeiter freizugeben und ihr Elend zu verheimlichen. Hier ein zweiter Zeuge, ebenfalls interessiert, die schwache Seite seiner Nation zu verheimlichen. Es handelt sich um einen Ökonomen, einen Industrialisten; er prangert seine eigene Wissenschaft an. Der Handelsminister, Herr Huskisson, sagte: „Unsere Seidenfabriken beschäftigen Tausende von Kindern; sie werden dort von 3 Uhr morgens bis 10 Uhr abends belassen. Was zahlt man ihnen für die Woche? Anderthalb Schillinge, das macht 37 französische Franken, etwa 5½ Sous pro Tag dafür, dass sie 19 Stunden festgehalten werden; in dieser Zeit werden sie von Werkmeistern überwacht, die mit einer Peitsche versehen sind und damit jedes Kind, das einen Augenblick lang mit der Arbeit aussetzt, schlagen.“ Das ist eine durch unwiderlegbare Tatsachen erneuerte Sklaverei. Offensichtlich führt ein Übermaß industrieller Konkurrenz ein zivilisiertes Volk zu dem gleichen Grad von Armut und Unterjochung wie die Völkerschaften Chinas und Hindustans, die we­ gen ihrer an Wunder grenzenden Landwirtschaft und Manufaktur seit Langem berühmt sind. Neben England steht Irland, das infolge des auf das Doppelte hochgetriebenen An­ baus und der Aufteilung der Ländereien in die gleiche Notlage geraten ist wie England durch die unbegründete Verdoppelung des Ausstoßes in den Manufakturen und großen Ländereien. Diese innerhalb ein und desselben Machtbereichs auftretende Gegensätz­ lichkeit beweist wohl den fehlerhaften Kreislauf der zivilisierten Industrie. In den „Zeitungen von Dublin“ (1826) heißt es: „Hier herrscht eine Epidemie unter dem Volk: Die Kranken, die ins Hospital gebracht werden, gesunden, sobald man ihnen zu essen gibt.“ Ihre Krankheit besteht also im Hunger. Man braucht kein Zauberkünstler zu sein, um das zu erraten, da sie geheilt sind, sobald sie etwas zu essen haben. Fürchtet nicht, dass diese Epidemie die Großen befällt; weder der Lordgouverneur noch der Erz­ bischof von Dublin werden vor Hunger krank werden, höchstens von Verdauungsstörungen. Und an den Orten, wo die zivilisierte Bevölkerung nicht an einem sie bedrängenden Hunger stirbt, stirbt sie an einem schleichenden Hunger infolge von Entbehrungen, an einem verborgenen Hunger, der die Menschen zwingt, sich ungesund zu ernähren, an ei­ nem dadurch drohenden Hunger, dass sie sich bei der Arbeit übernehmen, notgedrungen schädliche Tätigkeiten ausüben und übermäßige Ermüdungen hinnehmen, woraus Fie­ beranfälle und Gebrechen entspringen. In all diesen Fällen verfällt man dem Tod infolge von Hunger. Und wenn die Bevölkerung nicht an Hunger leidet, wovon existiert sie? Um das zu beurteilen, muss man näher in Betracht ziehen, wie sich der französische Bauer selbst in

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den Provinzen, deren Fruchtbarkeit gerühmt wird, ernährt. 8 Millionen Franzosen essen kein Brot, leben von Kastanien oder anderen Armseligkeiten; 25 Millionen Franzosen haben keinen Wein, und trotzdem ist man infolge von Überfluss gezwungen, ganze Ern­ ten in die Abwässerkanäle zu schütten. Darin besteht der erhabene Flug der Industrie zur Vervollkommnungsfähigkeit, und indessen kriechen alljährlich ein Dutzend neue Philosophien über den Reichtum der Na­ tionen aus dem Ei: Wieviel Reichtum gibt es in den Büchern, wieviel Elend in den Hütten! Stellen wir die Wirklichkeit diesen Illusionen entgegen: Ist es ein erhabener Flug, wenn die Lage in London, trotz Teilnahme an der jährlichen Armenbeihilfe von 200 Millionen, noch gekennzeichnet ist durch – – – –

117.000 Arme, von denen bekannt ist, dass sie den Kirchengemeinden zur Last fallen, 115.000 im Stich gelassene Arme, Bettler, Gauner, Landstreicher, unter ihnen 3.000 Hehler, von denen einer 20 Millionen besitzt, 3.000 Juden, die Falschgeld unter die Leute bringen und die Diener aufwiegeln, ihre Herren, und die Söhne, ihre Väter zu bestehlen.

Insgesamt 232.000 Arme in der Stadt, der großen Heimstätte der Industrie. Frankreich geht diesem Elend entgegen: In Paris sind 86.000 Arme bekannt, ebenso viele sind un­ bekannt. Das Elend der französischen Arbeiter ist so groß, dass in den Bezirken der Großindustrie wie der Picardie, zwischen Amiens, Cambray und Saint­Quentin, die Bau­ ern kein Bett in ihren Erdhütten haben; sie bereiten sich eine Lagerstätte aus trockenen Blättern, die sich im Winter in Misthaufen voller Würmer verwandeln, so dass sich Väter und Kinder beim Erwachen erst der an ihrer Haut haftenden Würmer entledigen. Die Nahrung weist in diesen Hütten die gleiche Gefälligkeit auf wie die Einrichtung. Das ist das glückliche Los des schönen Frankreichs. Man könnte ein Dutzend seiner Provinzen anführen, in denen das Elend nicht minder groß ist, die Bretagne, das Limousin, die obere Auvergne, die Cevennen, die Alpen, das Jura, St.­Etienne, und selbst die schöne Touraine, die der Garten Frankreichs genannt wird. Auf all dies erwidern die Industrialisten, dass Aufklärung und Bildung verbreitet wer­ den müssten. Aber was nützt sie den Elenden, die nichts zum Leben haben? Sie würde sie zur Revolte führen. Diese Entwürdigung der Menschheit erzeugt den Atheismus; er wächst infolge der Fortschritte der zivilisierten Industrie; es scheint, als würde die Natur der Menschheit spotten. Der Atheismus ist das zwangsläufige Ergebnis einer schon zu lange währen­ den Zivilisation; sie bewirkt einen ausgedehnten Aufschwung der Industrie, bevor noch die Methode der proportionalen Verteilung und Gewährleistung eines Minimums für das Volk bekannt ist. In anderen Worten, es geht darum, den natürlichen oder göttlichen Ko­ dex der industriellen Beziehungen zu erkennen. Gott schafft selbst für die Insekten einen Sozialkodex: Hätte er es da verabsäumen können, einen für das Menschengeschlecht zu schaffen, das seine Fürsorge weit mehr als Bienen, Wespen und Ameisen verdient! Hätte er die Aktivitäten und Elemente der Industrie etwa in Unwissenheit der ihr zugedachten Ordnung entstehen lassen? In dem Falle wäre er unbesonnener als selbst unsere Arbeiter, denn ein Architekt, der Baumate­

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rial aufhäuft, verfehlt nicht, vorher einen Plan für das Bauwerk, für das er es verwenden will, zu entwerfen. Gott hat die Unwissenheit unserer Gesetzgeber, der Solon und der Justinian, der Montesquieu und der Target voraussehen müssen. Wenn diese Männer sich für fähig halten, einen Sozialkodex zu verfassen, um wieviel mehr ist Gott dazu fähig; sie stützen ihre Gesetze nur auf den Zwang, auf Polizisten und Galgen, Gott aber stützt seine Geset­ ze auf die Anziehungskraft, deren alleiniger Verteiler er ist. Hundert weitere Anzeichen lassen erahnen, dass ein göttlicher Kodex besteht; daher müsste man die Forschung zum Wettbewerb herausfordern und zunächst die bei dieser Untersuchung anzuwendende Methode bestimmen. Um systematisch vorzugehen, müsste der göttliche Kodex zuerst Festlegungen über die Industrie als vorrangige Tätigkeit festlegen, denn die Verwaltung entsteht erst in der Folge: So wären denn die Gesetze Gottes für die Industrie, die den landwirtschaftlichen und häuslichen Arbeiten zugewiesene Ordnung ausfindig zu machen. Im Gegensatz dazu haben die Publizisten sich dreitausend Jahre lang nur mit der Re­ gierung, mit der Verwaltung und Religionsmissbräuchen befasst; erst seit einem Jahr­ hundert haben sie begonnen, sich mit der Industrie zu beschäftigen, ohne jedoch daran zu denken, die vorhandene Verwirrung zu beseitigen. Ob aus Unachtsamkeit oder durch systematischen Irrtum, sicher ist, dass sie zwei grundlegende Übel gerühmt haben: die industrielle Zersplitterung und den Handelsbetrug, dem der Name der freien Konkur­ renz falschen Glanz verleiht. Die Wissenschaft befindet sich also auf einem falschen Weg. Anstatt sich mit der Bekämpfung der Übel der beiden Zweige, Landwirtschaft und Handel genannt, zu be­ schäftigen, befasst sie sich nur mit den beiden Zweigen, die Regierung und Priestertum genannt werden und auf die man nicht hinweisen kann, ohne Erschütterungen und oft auch zunehmenden Missbrauch hervorzurufen. Würde man hingegen die Übel des land­ wirtschaftlichen und kaufmännischen Regimes durch das sozietäre System überwinden, so würde man in voller Übereinstimmung mit der Amtsgewalt handeln, die durch Ver­ vierfachung der Erträge und Beendigung aller Streitigkeiten der Parteien auf ihre Ko­ sten käme. Auf solche Streitigkeiten würde man mitleidsvoll hinabblicken, sobald das sozietäre Wohlbefinden verwirklicht wäre. Nach dieser Darlegung der allgemeinen Übel der Industrie und der Wissenschaft ist noch über die Übel im Einzelnen und über die Irrtümer des Systems zu sprechen. Dieser Gegenstand würde einen ganzen Band erfordern; ich begnüge mich mit einem diesbezüglichen Überblick. ***

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Unsere Ökonomen, bestürzt über die Fortdauer und sogar das Wachstum der Armut, beginnen zu argwöhnen, dass sich ihre Wissenschaft auf einem falschen Weg befindet. Vor kurzem fand zwischen Herrn Say und Herrn Sismondi4 über diese Frage ein Streit­ gespräch statt. Der zuletzt Genannte, der gerade von einem Besuch der überseeischen Wunder zurückgekehrt war, erklärte, dass England und Irland mit ihrer gewaltigen In­ dustrie bisher nur ein riesiges Armenhaus bildeten und dass der Industrialismus nur eine Domäne von Trugbildern sei. Herr J.­B. Say widersprach und verteidigte die Ehre der Wissenschaft, aber um die Wahrheit zu sagen, ist die politische Ökonomie durch die Überproduktionskrise von 1826 an sich selbst irre geworden und sucht sich zu recht­ fertigen. Schon hört man die Führer der Schule wie den verstorbenen Dugald Stewart sagen, dass die Wissenschaft sich auf eine passive Rolle beschränke und ihre Aufgabe die Erforschung der vorhandenen Übel sei. Damit handelt man wie ein Arzt, der dem Kranken sagen würde: „Mein Amt ist es, Euer Fieber festzustellen, nicht aber, Euch Heilmittel zu verschreiben.“ Solch ein Arzt erschiene uns lächerlich, aber einige Ökonomen wollen heute eine ähnliche Rolle spie­ len. Da sie gewahr werden, dass ihre Wissenschaft das Übel nur verschlimmert hat, und sie in Verlegenheit gebracht sind, ein Gegenmittel zu finden, sprechen sie zu uns wie der Fuchs zum Ziegenbock: „Versuch doch, dich herauszuziehen, streng dich nur ordentlich an.“ Auch wenn man der Wissenschaft diese passive Rolle und jenen Egoismus einräumt, auf Grund dessen die Ökonomen das Versagen ihrer Wissenschaft zu entschuldigen suchen, haben sie große Mühe, ihr Wort zu halten und dem Übel auf den Grund zu kommen. Denn sie wehren sich, sein Ausmaß durchgängig zuzugeben und einzugestehen, dass das Industriesystem in jeder Hinsicht nur eine verkehrte Welt ist. Beurteilen wir es nach dem halben Eingeständnis, das Sismondi vor kurzem entschlüpfte: Er gab zu, dass sich die Konsumtion in verkehrter Weise vollzieht, denn sie richtet sich nach den Launen der Müßiggänger und nicht nach dem Wohl der Produzenten. Damit war schon ein erster Schritt zur echten Untersuchung getan. Aber beschränkt sich der verkehrte Mechanismus etwa auf die Konsumtion? Oder ist nicht Folgendes erkennbar: Die Zirkulation ist ver­ kehrt. Sie wird durch Mittelsmänner, sogenannte Kaufleute und �ändler, vollzogen, die zu Eigentümern des Produkts werden und Produzenten wie Konsumenten übervorteilen und das Industriesystem durch Warenhortung, Preisspekulationen, Betrügerei, Erpres­ sung, Bankrott usw. durcheinanderbringen.

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In seiner Schrift Traité d’économie politique (1803) vertrat Jean­Baptiste Say (1767 – 1832) der Sache nach den Standpunkt, dass unter marktwirtschaftlichen Bedingungen jedes Angebot eine ent­ sprechende Nachfrage erzeuge und strukturelle Überproduktionskrisen deshalb unmöglich seien. Diesen Standpunkt bestritt Simonde de Sismondi (1773 – 1842) in dem 1820 publizierten Aufsatz „Examen de cette question: le pouvoir de consommer s’accroît­il toujours dans la société avec le pouvoir de produire?“.

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Die Konkurrenz ist verkehrt. Sie bewirkt Lohnsenkungen und stürzt das Volk durch die Entwicklung der Industrie in Armut. Je mehr die Konkurrenz wächst, desto größer wird der Zwang für den Arbeiter, eine hart umkämpfte Arbeit zu einem Spottpreis anzu­ nehmen. Und je mehr andererseits die Zahl der Händler zunimmt, desto stärker treibt die Mühsal der Gewinnerzielung sie zu betrügerischen Schlichen. Das sind schon drei auf verkehrte Weise gelenkte Bereiche; ich könnte ohne weiteres dreißig nennen. Warum also nur einen anerkennen, die verkehrte Konsumtion? Die Industrie bietet ein Bild viel auffälligerer Zerrüttung: Dabei geht es um den Gegensatz zwischen kollektivem und individuellem Interesse. Jeder Produzent liegt im Krieg mit der Masse der Bevölkerung und ist ihr aus persönlichem Interesse feindlich gesinnt. Der Arzt wünscht seinen Mitbürgern ein gehöriges Fieber, der Staatsanwalt hät­ te am liebsten in jeder Familie knifflige Prozesse. Der Architekt braucht einen schö­ nen Brand, der ein Viertel der Stadt in Schutt und Asche legt, und der Glaser wünscht sich einen tüchtigen Hagel, der alle Fensterscheiben zerschlägt. Der Schneider und der Schuhmacher wünschen dem Publikum nur Stoffe mit unechten Farben und Schuhe von schlechtem Leder, damit zum Wohle des Handels dreimal so viel abgetragen wird – das ist ihr Kehrreim. Ein Gerichtshof hält es für angebracht, dass in Frankreich weiterhin Jahr um Jahr 20.000 Verbrechen und Straftaten begangen werden, denn eine solche Zahl ist nötig, um die Strafgerichte zu beschäftigen. So liegt in der zivilisierten Industrie jeder einzelne mit der Masse in einem gewollten Krieg, ein unvermeidliches Ergebnis der an­ tisozietären Industrie oder verkehrten Welt. Diese Lächerlichkeit wird in der sozietären Ordnung, in der jeder einzelne seinen Vorteil nur in dem der ganzen Masse finden kann, verschwinden. Nichts wirft ein verdächtigeres Licht auf die gegenwärtige Industrie als ihre einfache Verteilungsskala. Unter einfach verstehe ich eine Skala, die nur auf der einen und nicht auch auf der anderen Seite anwächst. Hier ein Beispiel, angewandt auf die fünf Klassen: arm A B C D E

0 1 2 4 8

bedürftig 1 2 4 8 16

mittelmäßig 2 4 8 16 32

wohlhabend 4 8 16 32 64

reich 8 16 32 64 128

Zeile A bezeichnet den Beginn der Gesellschaft, wo die Vermögensunterschiede noch wenig auffielen und die arme Klasse, mit null angegeben, noch nicht bestand. In dem Maße, wie das öffentliche Vermögen anwächst, was die Zeilen B, C, D und E ausweisen, hätte die arme Klasse gemäß dem in jeder dieser Zeilen angegebenen Ver­ hältnis daran teilhaben müssen, d. h., dass auf der Vermögensstufe E, bei der der Reiche 128 Franken täglich ausgeben kann, der Arme mindestens 8 Franken haben müsste. In diesem Fall würde es sich um eine zusammengesetzte Skala handeln, sie wiese verhält­ nismäßige Zuwachsraten, aber keine Gleichheit auf.

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Da die Skala in der Zivilisation indessen nur auf der einen Seite anwächst, bleibt die arme Klasse immer bei null stehen. Auf diese Weise erhält die reiche Klasse, wenn der Reichtum die fünfte Stufe erreicht, zwar ihren Anteil von 128, die arme Klasse aber nur 0, denn sie hat immer weniger als das Lebensnotwendige. Auf diese Weise folgt die Skala der Zivilisation der Diagonale 0, 2, 8, 32, 128. Die Mehrheit oder die arme Klasse, weit davon entfernt, am Wachstum des Reichtums teilzuhaben, erleidet größere Entbeh­ rungen, denn sie blickt auf eine größere Vielfalt von Gütern, die aber nicht ihr zugute kommen. Sie ist nicht einmal sicher, jene widerwärtige, sie quälende Arbeit zu erhalten, die ihr nur den Vorteil bietet, nicht hungers zu sterben. In dieser Hinsicht sind die arbeitsscheuen Völker wie das spanische glücklicher da­ ran als die arbeitsamen, denn der Spanier ist, wenn es ihm beliebt, Arbeit anzunehmen, gewiss sie zu finden. Der Franzose, Engländer oder der Chinese sind diesbezüglich nicht so gut daran. Ich ziehe daraus keineswegs den Schluss, dass die Gesellschaftsordnung Spaniens lobenswert sei, weit gefehlt. Ich will nur die in der Überschrift dieses Arti­ kels angegebene Aufgabe erfüllen, nämlich nachzuweisen, dass sich in der zersplitter­ ten oder zivilisierten Industrie alles in einem fehlerhaften Kreislauf bewegt. Durch ihre Fortschritte erzeugt sie die Elemente des Glücks, nicht aber das Glück selbst. Das Glück wird nur einer Ordnung der industriellen Anziehung und proportionalen Verteilung ent­ springen können – gemäß Zeile E. Aber eine solche Verteilung bleibt so lange unmög­ lich, wie die Industrie ihren widerwärtigen Charakter beibehält. Das Volk muss schon in äußerster Not leben, um bereit zu sein, ihr zu dienen. Da die Zivilisation kaum ein Viertel dessen erzeugt, was die Assoziation erzeugen wird, und da sie die Bevölkerung maßlos vermehrt, könnte man diesem menschlichen Ameisenhaufen ein Existenzminimum oder ein anständiges Auskommen überhaupt nicht sichern. Dieser fehlerhafte Kreislauf der Industrie ist so gut durchschaut worden, dass er aller­ orten Argwohn erregt und man sich darüber wundert, dass in der Zivilisation die Armut sich aus dem Überfluss ergibt. Ich habe gerade fünf Fehler beschrieben; jeder allein würde ausreichen, eine derartige Unordnung zu erzeugen. Was aber geschieht, wenn die fünf Fehler gleichzeitig und dazu noch einige fünfzig andere, noch nicht erwähnte Fehler zusammenwirken? Nachdem wir festgestellt haben, dass das Volk in der Zivilisation unvermeidlich ein unglückliches Los zu erleiden hat, wollen wir noch anmerken, dass der Fortschritt der Industrie dem Glück der Reichen wenig oder nichts hinzufügt. Heute besitzt die Pariser Bourgeoisie schönere Möbel und hübscheren Zierat als die großen Herren des 17. Jahr­ hunderts. Was fügt das dem Glück hinzu? Sind unsere Damen mit ihren Kaschmirschals glücklicher als die Damen Sévigné5 und Ninon?6 Heute bedienen die Pariser Kleinbürger

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Siehe oben, Kapitel 5, Anmerkung 6. Ninon de Lenclos (1620–1705). –1705). 1705). Ihr Pariser Salon wurde von Freidenkern besucht. Ihre Korrespon­ denz wurde 1886 veröffentlicht.

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sich vergoldeten Porzellans. Sind sie etwa glücklicher als die Minister Ludwig XIV., die Colberts,7 die Louvois,8 die Geschirr aus Steingut hatten? Zweifellos leistet die Erhöhung der Bequemlichkeit und Zuträglichkeit wie im Fall der Hängeriemen an der Kutsche einen wirklichen Dienst; aber schon nach einer Woche ist man durch Verfeinerungen des äußeren Luxus wie im Fall des Porzellans übersättigt. Er erweckt nur die Begehrlichkeit des Armen. Er bildet sich ein, die reiche Klasse fände großes Glück im Besitz dieses Drum und Dran. Aber nur in der Sozietären Ordnung wird es von Nutzen sein; dort wird es die Doppelaufgabe erfüllen, die industrielle Anziehung anzuspornen und das Zusammenspiel der Leidenschaften zu vervielfachen. Denn darin liegt der wahre Lebensgenuss für Arme wie für Reiche trotz äußerster Vermögensun­ gleichheit. Dann wird der Lebensgenuss des Allerärmsten viel größer sein als der des allerreichsten Monarchen heutzutage. Denn die Ordnung der sog. Gefühlsserien erzeugt sozialen Gleichklang, d. h. seelische Freuden, die den Großen heute so gut wie unbe­ kannt sind. Diese Ordnung wird einen so hohen Grad vervollkommneten und verfeiner­ ten Sinnesgenusses erreichen, dass sich die Welt der Zivilisation gar keine Vorstellung davon machen kann. Die Industrie der Zivilisation kann also, ich möchte es wiederholen, nur die Elemente des Glücks schaffen, nicht aber das Glück selbst. Wir werden im Gegenteil zeigen, dass die industrielle Überproduktion unendliches Leid für die Zivilisation mit sich bringt, wenn es nicht gelingt, jene Mittel zu entdecken, die einen wirklichen Fortschritt von ei­ ner gesellschaftlichen Stufe zur anderen bewirken. Ich sagte, unsere Politik bewegt sich zwar im Krebsgang, aber sie rühmt sich dabei ihrer raschen Fortschritte. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit auf die Untersuchung dieses Rückschritts lenken, zu dem die beiden gegensätzlichen Parteien gemeinsam beitragen, nämlich – die Liberalen und Industrialisten sowie – die Dunkelmänner und Anhänger des Absolutismus. Beide unterscheidet, dass die Partei der Dunkelmänner nicht leugnet, dass sie das 10. Jahr­ hundert wieder zum Leben erwecken will, während die liberale Partei sich einbildet, Verbesserungen zu bewirken. Das stimmt nicht: Sie strebt auf doppelte Weise danach, den Wagen rückwärts zu lenken. Aus besonderen Kapiteln wird ersichtlich werden, dass die Wissenschaft die Zivilisation nicht – durch Aufstieg in die vierte Phase – auf die ihr allein zugängliche Fortschrittsstufe zu heben vermochte. Jede der Gesellschaftsperioden, die man Zivilisation, Barbarei, Patriarchat, Wild­ heit oder anders nennt, unterteilt sich in vier Phasen, die den Lebensaltern entspre­ chen: 1. Kindheit, 2. Jugendalter, 3. Mannesalter, 4. Greisenalter. Die vierte Phase, das sog. Greisenalter, stellt manchmal einen ersprießlichen Fortschritt dar. Das lässt sich an Ägypten beobachten, das durch die Einführung der Militärtaktik, der Schifffahrtskunst und der exakten Wissenschaften in die Verfallsstufe oder vierte Phase der Barbarei ein­ 7 8

Jean­Baptiste Colbert (1619–1683), Wirtschafts­ und Finanzminister Ludwigs XIV. Marquis de Louvois (1641–1691), Nachfolger Colberts als Wirtschafts­ und Kriegsminister Lud­ wigs XIV.

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tritt. Sie führt Ägypten allmählich zur ersten Stufe der Zivilisation. Darin kündigt sich ein echter Fortschritt an, ganz ebenso wie die schon fortgeschrittene Nacht vom Anbruch des Tages kündet. Wäre die Zivilisation imstande, von der dritten Phase, dem gegenwärtigen Zustand, zur noch nicht angebrochenen vierten Phase überzugehen, so wäre das ein sehr erfreu­ licher Wandel, denn man käme der nächstfolgenden Periode, der der Zivilisation be­ nachbarten und überlegenen Periode der Sozialen Garantien, näher. Die Garantien sind das Ideal, von dem alle Philosophen träumen, ohne auch nur einen einzigen Weg zu kennen, sie in irgendeiner Hinsicht erreichen zu können. Um zu den Garantien zu gelan­ gen, muss die Zivilisation verlassen und die nächsthöhere Stufe erreicht werden. Unsere Wissenschaften, die es nicht im Geringsten vermochten, uns so von Periode zu Periode aufsteigen zu lassen, waren nicht einmal imstande, uns innerhalb der Zivilisation voran­ zubringen, uns wenigstens von der dritten in die vierte Phase, deren Mechanismus ich im VII. Abschnitt9 erklären werde, aufsteigen zu lassen. Zu diesem Thema möchte ich nur noch bemerken, dass man nach so vielen Studien über die Zivilisation noch nicht darauf verfallen ist, sie systematisch zu untersuchen und in vier Phasen zu gliedern. Dabei wären in jeder Phase die eine Phase begründenden Merkmale zu bestimmen, wie z. B. die Handelsanarchie in der dritten Phase, sowie die den Verlauf der vier Phasen beherrschenden allgemeinen Merkmale, wie das Bündnis der großen Diebe, die die Kleinen hängen wollen. Des Weiteren wären die übergreifenden Merkmale, die anderen Perioden entstammen, aufzuzeigen. So ist das Militärstrafgesetz der sogenannten Barbarei, einer niederen Periode, entliehen, wohingegen das Geldsys­ tem, die einzige Beziehung, in der die Wahrhaftigkeit garantiert ist, einer höheren Peri­ ode vorweggenommen wurde, der noch nicht angebrochenen Periode der solidarischen Garantien. Erkennt man an, dass die Untersuchung der Zivilisation in unseren Wissenschaften in Vergessenheit geriet, obwohl sie unter methodischen Gesichtspunkten als erste fällig gewesen wäre, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass viele andere Forschungen, die umfassende neue Wissenschaften wie die nachfolgenden ergeben, vernachlässigt wur­ den. Ich nenne die Forschungen im Zusammenhang mit der Gruppe von Wissenschaft­ lern, in deren Gebiet sie fallen. – – – – –

Moralisten: die Untersuchung der Zivilisation; Politiker: die Theorie der solidarischen Garantien; Ökonomen: die Theorie der sozietären Annäherung; Philosophen: die Theorie der Anziehung der Leidenschaften; Naturwissenschaftler: die Theorie der universellen Analogie.

Wenn jede Gruppe von Wissenschaftlern ihre Hauptaufgabe aber derart verfehlt, darf man sich nicht wundern, wenn sie geringfügigere Einzelheiten übersieht wie die Unter­ suchung des fehlerhaften Kreislaufs der Industrie, die als System offensichtlich gegen die vier Grundlagen einer klugen Politik verstößt, nämlich gegen: 9

Vgl. OC, Bd. VI, 427–467.

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– die industrielle Anziehung in ihrer Anwendung auf die drei widerwilligen Klassen, auf Kinder, Wilde und reiche Müßiggänger; – die proportionale Verteilung, die jeden im Verhältnis der drei Arten von Leistungs­ vermögen – nach dem Kapital, der Arbeit und dem Talent – zufriedenstellt; – das Gleichgewicht der Bevölkerung, die unterhalb jener Zahl, bei der die unteren Klassen in Bedrängnis geraten würden, zu halten ist; – die wirtschaftliche Verwendung der Mittel oder weitgehende Verringerung der Zahl der Unproduktiven, der Händler und anderer, deren Zahl heute so gewaltig ist, dass sie zwei Drittel der Zivilisierten ausmacht. Die Industrialisten weichen diesen und hundert anderen Problemen geschickt aus. Aber vor diese Probleme sollte man jene stellen, die sich rühmen, das Gesellschaftssystem durch den Fortschritt der zersplitterten Produktion und der Handelsanarchie oder betrü­ gerischen Konkurrenz zu vervollkommnen. Die Schriftsteller vermögen weiter nichts, als die Hauptübel zu beweihräuchern, um sich der Suche nach dem Gegenmittel zu entziehen. Über Grundfragen wie das Gleichgewicht der Bevölkerung setzt die Wis­ senschaft sich mit der Erklärung hinweg, sie seien nicht lösbar. Auf diese Weise löste Stewart das Rätsel des Bevölkerungsüberschusses, das nach ihm Wallace und Malthus aufgriffen, die davon ebenso wenig verstanden. Alle Fragen der Gesellschaftspolitik werden so lange unlösbar bleiben, wie man fort­ fährt, nur über die zivilisierte Ordnung nachzudenken, denn in ihr verliert sich der Geist wie in einem Irrgarten, sie bildet in jeder Hinsicht einen fehlerhaften Kreislauf. Aber warum sucht man nicht, eine neue Gesellschaftsordnung ausfindig zu machen? Damit würde sich den vielen Schriftstellern, die sich mit der Suche nach einem neuen Thema abplagen, eine glänzende Laufbahn eröffnen. Und wenn ihnen zufällig eine neue Idee einfällt, wie die Idee der industriellen As­ soziation, haben sie nichts Eiligeres zu tun, als sie dadurch zu verdunkeln und zu ver­ wirren, dass sie ihre alten und sogar lächerlichen Trugschlüsse ihr hinzufügen wie die Gütergemeinschaft, diese schöne Brüderlichkeit wahrer Philanthropen, die alle einheitlicher Meinung sind. Ganz im Gegensatz zu dieser faden Moral, die von der Sekte Owens aufgeboten wird, bedarf es in der sozietären Ordnung ebenso sehr der Nichtübereinstimmung wie der Übereinstimmung. Im Gegenteil ist sogar von der Nichtübereinstimmung auszugehen. Um eine Phalanx von Leidenschaftsgruppen (ein sozietärer Kanton von 1.800 Personen) zu bilden, müssen mindestens 50.000 nichtübereinstimmende Züge sichtbar werden, ehe eine Übereinstimmung hergestellt werden kann. Daran, dass in diese Untersuchung alle Fehlurteile der Moral über die Leidenschaften und die Wege zur sozialen Harmonie ein­ fließen, kann man ermessen, wie weit unser Jahrhundert noch vom Weg der Assoziation entfernt war.

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7.2 „Über das weltweite soziale Chaos“10 Autoren der nicht­exakten Wissenschaften, die ihr vorgebt, für das Wohl der Menschheit zu arbeiten, meint ihr, dass 600 Millionen Barbaren und Wilde nicht zu dieser Mensch­ heit gehören? Und doch leiden sie! Was also habt ihr für sie getan? Nichts. Eure Systeme gelten nur für die Zivilisation und auch dort entpuppen sie sich als Quacksalberei, sobald man sie auf die Probe stellt. Doch selbst wenn ihr fähig wärt, uns glücklich zu machen, glaubt ihr, dass ihr den Willen Gottes befolgt, wenn ihr dieses Glück auf die Zivilisierten beschränkt, die doch nur einen winzigen Teil der Erdkugel bewohnen? In den Augen Gottes ist die menschliche Rasse eine einzige große Familie, deren sämtliche Mitglieder ein Anrecht auf seine Wohltaten haben. Er will, dass entweder die ganze Menschheit glücklich ist oder kein einziges Volk das Glück findet. Um dem Willen Gottes zu entsprechen, hättet ihr eine soziale Ordnung suchen müs­ sen, die für die ganze Welt und nicht nur für wenige Nationen tauglich ist. Angesichts der ungeheuren Überzahl der Barbaren und Wilden hättet ihr begreifen müssen, dass man sie nur durch Anziehung, nicht durch Zwang erziehen kann. Glaubt ihr etwa, sie überzeugen zu können, indem ihr ihnen eure Sitten vorführt, die sich nur gestützt auf Galgen und Bajonette aufrechterhalten lassen? Sitten, die bei euren Völkern selbst derart verhasst sind, dass diese sich überall augenblicklich erheben würden, wenn nicht die Furcht vor schwerster Strafe sie zurückhielte. Euren Theorien ist es nicht gelungen, die Menschheit zu bessern und zu vereinigen. Stattdessen haben sie nur die tiefe Verachtung der Barbaren auf sich gezogen, während eure Sitten den Wilden bloß zum Spott reizen. Der stärkste Fluch, den er seinem Feind entgegenschleudern kann, besteht darin, ihm unser Los zu wünschen, indem er sagt: „Mögest du gezwungen sein, einen Acker zu bestellen!“ Worte, die man als einen von der Natur selbst ausgesprochenen Fluch begreifen sollte. Ja, die Natur missbilligt die zivilisierte Industrie, weshalb diese Industrie auch von den freien Völkern verabscheut wird, die sie auf der Stelle übernehmen würden, wenn sie mit den menschlichen Leiden­ schaften in Einklang stünde. Daher hat Gott es nicht zugelassen, dass diese Industrie Fortschritte macht oder dass man diese Wirtschaftsweise, die so drückend für diejenigen ist, die ihre Bürde tragen, auf die ganze Erde ausdehnt. Er hat sie auf einige Punkte beschränkt, auf China, Indien und Europa, wo die Ameisenhaufen der Bedürftigen wimmeln, die Reservearmeen für die Organisation der zusammengesetzten Ordnung, die dafür sorgen, dass diese Ordnung vom ersten Moment an auf eine ausreichend große Menge frei verfügbarer Landarbeiter zurückgreifen kann. Man wird diese Elenden aus den Orten, an denen sie zusammen­ gepfercht sind, befreien, und der Kaiser der Einheit wird sie räumlich so verteilen, dass man zu einer geregelten Ausbeutung der Schätze der ganzen Erde übergehen kann. Ihr jedoch würdet euch vergeblich bemühen, wolltet ihr die zivilisierte Industrie ver­ breiten und die zusammenhanglose Arbeit überall auf der Welt einführen. Gott würde es (aus verschiedenen Gründen, die ich hier nicht darlegen kann) niemals zulassen, 10 Aus: OC, Bd. I, 277–285. Aus dem Französischen von A. Fliedner.

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dass diese seinen Absichten widersprechende Ordnung sich über alle fruchtbaren Länder verbreitet. Daher hat er Maßnahmen getroffen, um ihr überall Grenzen zu setzen, sei es durch Bürgerkriege, sei es durch Barbareneinfälle. Mag die Industrie in Europa auch einige Fortschritte gemacht haben, hat sie nicht in Asien riesige Gebiete verloren? Mag die Zivilisation in Amerika auch einige schwache Kolonien gegründet haben, die durch die Erhebung der Neger schon wieder zu zerfallen drohen, hat sie nicht gleichzeitig vor den Toren Europas riesige Reiche verloren: Ägyp­ ten, Griechenland, Kleinasien, Karthago, Chaldäa und einen Teil der arabischen Halbin­ sel? In großen und reichen Landstrichen wie Baktrien, wo die Industrie gerade begann, Fuß zu fassen, wurde sie ausgelöscht. Das einst berühmte Reich von Samarkand und alle Gegenden des Orients, die sich vom Oxus bis zur Mündung des Indus erstrecken, haben sich politisch zurückentwickelt und sind wieder ins Hordenwesen verfallen. Das riesige indische Reich geht unter der englischen Tyrannei rasch seinem Ruin entgegen. Diese vergällt den Menschen die Landwirtschaft und lässt sie sich den Maharatten anschlie­ ßen, deren Horden bereits ein mächtiges tatarisches Zentrum in der Inneren Mongolei bilden. Sie werden sich vermutlich mit der Zeit im Ghatgebirge festsetzen und sich die Bevölkerung von Malabar und Komorin einverleiben, indem sie ihr durch ihre Einfälle die industrielle Arbeit verleiden. Die Horden dringen täglich in die fruchtbaren Landschaften Asiens vor und streben stärker und stärker über ihre natürliche Grenze hinaus, die vom Himalayagebirge gebil­ det wird, das sich von Buchara bis nach China erstreckt. Selbst direkt vor unseren Toren taucht die Horde an allen Enden der Türkei auf. Noch weitere 50 Jahre der Verfolgung und der ottomanischen Anarchie, und jenes stolze Reich wird gänzlich auf die nomadi­ sche oder tatarische Lebensweise zurückgeworfen sein, die unter türkischer Herrschaft überall erschreckende Fortschritte macht. Andere einst blühende Reiche wie Birma und Siam sind auf die tiefste Stufe der Schwäche und Verwilderung zurückgefallen, und ihre Kulturen werden, wie die der Türkei, wohl kaum die nächsten hundert Jahre überdauern. Wenn das gegenwärtige weltweite Chaos noch länger andauert, wird Asien, das riesige Asien die industrielle Arbeitsweise ganz und gar aufgeben. Selbst China, dieser knau­ serige und lächerliche Koloss, ist in spürbarem Verfall begriffen. Die jüngsten Berichte von Van Braam haben unsere Illusionen über seinen vorgeblichen Glanz stark erschüt­ tert. Seit dem Eindringen der Tartaren verfällt dort der gesellschaftliche Zusammenhalt. Die Horden halten in China riesige Gebiete besetzt, und in diesem Reich, das für seine Industrie so berühmt ist, findet man vier Meilen außerhalb von Peking die schönsten Ländereien, die wüst und beinahe unerschlossen sind, während in den zentralchinesi­ schen Provinzen die Priester das Volk vergeblich dazu aufrufen, den Boden zu bestellen. Dieses lässt weite Landstriche brachliegen, während die Horden immer größeren Zulauf haben. Für die Zivilisation ist die Horde ein Vulkan, der stets bereit ist, sie zu verschlin­ gen. Das Hordenwesen ist ein tief eingewurzelter menschlicher Wesenszug, der, kaum unterdrückt, sich von neuem Bahn bricht, der sein Recht fordert, sobald man einen Mo­ ment lang nachlässig ist. Die allgemeine Tendenz der Lohnarbeiter zur Hordenbildung reduziert alle politischen Überlegungen auf ein einziges Problem: eine neue soziale Ordnung zu finden, die noch dem ärmsten Arbeitswilligen einen hinreichenden Wohlstand

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sichert, damit er dauerhaft und aus Leidenschaft seine Arbeit dem Zustand der Trägheit und des Brigantentums vorzieht, den er heute anstrebt. Solange ihr dieses Problem nicht gelöst habt, sucht die Natur euch mit ständigen Anschlägen heim. Die Reiche, die ihr errichtet, sind für sie bloße Spielbälle, und sie hat ihr Vergnügen daran, sie in den Abgrund der Revolutionen zu stürzen. Ihr seid für die Natur nur eine Last, eine Beute, die ihrer Rache preisgegeben ist. Eure wissenschaft­ lichen Wundertaten bringen immer nur Armut und Umsturz hervor. Eure Helden und Gesetzgeber bauen immer nur auf Sand. Alle Weitsicht eines Friedrich kann nicht ver­ hindern, dass unter den Augen seiner schwachen Nachfolger sein Degen von seinem Grab geraubt wird. Nur deshalb bringt die Zivilisation neue Helden hervor, um ihre Helden von gestern zu demütigen. Diejenigen, denen sie ihren Glanz verdankt, lässt sie sich gegenseitig herabsetzen. Wie quälend muss für große Männer der Gedanke sein, schwache Nachfolger zu haben? Müssen sie nicht kommende Revolutionen mehr fürch­ ten, als sie sich ihrer gegenwärtigen Triumphe erfreuen können? Müssen sie nicht die­ se perfide Zivilisation verabscheuen, die nur auf ihr �inscheiden wartet, um ihr Werk zu erschüttern und niederzureißen? Ja, die zivilisierte Ordnung gerät immer stärker ins Wanken. Der Vulkan, der 1789 von der Philosophie geöffnet wurde, hat bisher nur sei­ nen ersten Ausbruch gehabt. Weitere werden folgen, sobald eine schwache Regierung den Agitatoren ein günstiges Klima bietet. Der Krieg der Armen gegen die Reichen war so erfolgreich, dass die Verschwörer aller Länder nur darauf warten, ihn erneut zu entfa­ chen. Alle Versuche, ihn zu verhindern, sind vergeblich. Die Natur lacht über unsere Ver­ nunft und unsere Vorsichtsmaßnahmen. Aus unseren Bemühungen, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, wird sie neue Revolutionen hervorgehen lassen. Wenn das Zeitalter der Zivilisation nur noch ein halbes Jahrhundert länger dauert, wie viele Kinder werden an den Türen der Häuser betteln, in denen ihre Väter wohnen! Ich würde davor zurück­ schrecken, diese entsetzlichen Aussichten zu schildern, wenn ich nicht gleichzeitig den Plan vorlegen könnte, der die Politik durch das Labyrinth der Leidenschaften führen und die Welt von der Zivilisation erlösen wird, die revolutionärer und abscheulicher ist als jemals zuvor. Zivilisierte Nationen! Während es den Barbaren ohne die Hilfe eurer Vernunft ge­ lingt, ihre Gesellschaften und Institutionen über mehrere Tausend Jahre hinweg zu erhal­ ten, warum gehen die euren so schnell wieder unter, oft noch im selben Jahrhundert, in dem sie entstanden sind? Stets beklagt ihr die Vergänglichkeit eurer Werke und die Grau­ samkeit der Natur, die eure Wunderwerke so schnell in sich zusammenstürzen lässt. Hört auf, der Zeit und dem Zufall diese Katastrophen zuzuschreiben. Sie sind die Folge der „Untauglichkeit eurer sozialen Systeme“, die dem Armen die Möglichkeit verwehren, zu arbeiten und sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nur um euch das Geständnis eu­ rer Unwissenheit zu entreißen, verheert die Natur eure Reiche und ergötzt sich an ihren Trümmern. Ich will mich für einen Moment zum Echo eurer politischen Klagelieder machen. Was ist aus den Monumenten des zivilisierten Hochmuts geworden? Theben und Baby­ lon, Athen und Karthago sind nur noch Schutt und Asche. Was für ein Vorzeichen für Paris und London und für jene modernen Reiche, deren merkantiles Wüten so schwer

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auf der Vernunft und der Natur lastet? Sie ist unserer Gesellschaften überdrüssig und wird sie eine nach der anderen zu Fall bringen. Sie spottet unterschiedslos unseren Tu­ genden wie unseren Verbrechen. Jene Gesetze, die als Krone der Weisheit gelten, führen uns nicht weniger in den politischen Untergang als die vergänglichen Gesetzbücher der Agitatoren. Der Gipfel unserer Schande aber ist es, dass die rohe Gesetzgebung Chinas und Indi­ ens 4.000 Jahre lang der Sense der Zeit widerstanden hat, während die Wunderwerke der zivilisierten Philosophie wie ein Schatten vorübergezogen sind. Nachdem sie so viele Anstrengungen unternommen haben, um unseren Reichen Dauer zu verleihen, scheinen unsere Wissenschaften keinen anderen Erfolg vorweisen zu können, als neue Spielbälle für jenen Vandalismus geliefert zu haben, der periodisch sein Haupt erhebt, um in kür­ zester Zeit das Werk vieler Jahrhunderte zu zerstören. Einige Monumente sind erhalten geblieben, doch zeugen sie nur von der Schande der Politik. Rom und Byzanz, einst Hauptstädte des größten aller Reiche, sind zu Metropo­ len der Lächerlichkeit geworden. Auf dem Kapitol haben die ruhmlosen Götter Judäas die Tempel der Cäsaren in Besitz genommen. Am Bosporus werden die Kirchen der Christenheit von den Göttern der Unwissenheit beschmutzt. Hier hat Jesus Jupiter vom Sockel gestoßen, dort Mohammed Jesus vom Altar verdrängt. Rom und Byzanz, die Na­ tur hat euch erhalten, um euch der Verachtung der Nationen auszuliefern, die ihr unter­ jocht habt. Ihr seid zu Bühnen für politische Maskenspiele geworden, zu zwei Büchsen der Pandora, die den Vandalismus und die Pest über den Orient und den Aberglauben und sein Wüten über den Okzident ausgeschüttet haben! Indem sie euch erniedrigt, verhöhnt die Natur das mächtige Reich, das sie zerstört hat. Ihr seid zwei Mumien, die konserviert werden, um den Triumphwagen der Natur zu schmücken und den Kapitalen der Moderne einen Vorgeschmack auf das Los zu geben, das den Monumenten und Werken der Zivi­ lisation bevorsteht! Die Natur scheint Freude daran zu haben, diese abscheuliche Gesellschaft groß zu machen, nur um sie dann niederzureißen, um ihr durch einen hundert Mal wiederholten Sturz zu beweisen, wie absurd die Wissenschaften sind, von denen sie sich leiten lässt. Wie der sündenbeladene Sisyphos, der einen Felsen erklimmen muss und immer wieder hinabstürzt, sobald er den Gipfel erreicht hat, scheint die Zivilisation dazu verdammt, den Pfad zu einem erträumten Wohlstand zu erklimmen, nur um wieder hinabzustürzen, sobald das Ende ihrer Leiden in Sichtweite kommt. Selbst die klügsten Reformen führen nur dazu, dass Ströme von Blut vergossen werden. Unterdessen gehen die Jahrhunderte dahin, und die Völker seufzen unter ihren Qualen, während sie darauf warten, dass neue Revolutionen unsere wankenden Reiche zurück ins Nichts stürzen lassen – Reiche, die dazu bestimmt sind, sich in dem Maße gegenseitig zu zerstören, wie sie sich der Philo­ sophie anvertrauen, einer Wissenschaft, die der politischen Einheit feindlich ist, einer Wissenschaft, die nur zur Verhüllung der Intrige dient, dazu, die Hefe der Revolution in Gärung zu versetzen, wenn die Zeit reif ist. Jeden Tag sehen wir, zur Schande unserer Vernunft, die Keime des Zerfalls sich ver­ mehren, die unsere zerbrechlichen Gesellschaften bedrohen. Gestern waren es scholas­ tische Streitigkeiten um den Begriff der Gleichheit, die Throne, Altäre und Eigentums­

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gesetze gestürzt haben. Europa ging der Barbarei entgegen. Morgen wird die Natur neue Waffen gegen uns ersinnen, und die Zivilisation, ein weiteres Mal auf die Probe gestellt, wird erneut unterliegen. Jahrhundert um Jahrhundert streift sie nur knapp am Tod vor­ bei. Sie lag in Agonie, als die Türken vor Wien standen, und wäre verloren gewesen, hätten diese die europäische Kriegstaktik übernommen. In unseren Tagen war sie nur zwei Fingerbreit von ihrem Untergang entfernt. Der Revolutionskrieg hätte beinahe zur Besetzung und Teilung Frankreichs geführt. Daraufhin hätten Österreich und Russland Europa unter sich aufgeteilt, und bei zukünftigen Auseinandersetzungen hätte Russland (das über Kräfte verfügt, von denen die Welt und es selbst nichts wissen) vielleicht Ös­ terreich und die ganze Zivilisation ausgelöscht. Das Schicksal dieser verbrecherischen Gesellschaft ist es, für einige Jahrhunderte zu erstrahlen, um dann rasch zu verlöschen, wiederzuerstehen, um erneut zu fallen. Wenn die zivilisierte Ordnung in der Lage wäre, den Menschen zu ihrem Glück zu verhelfen, wäre Gott daran interessiert, sie zu erhal­ ten, und er hätte sie auf unerschütterliche Fundamente gestellt. Warum also lässt Gott zu, dass eure Gesellschaften, nachdem sie einige Augenblicke lang Bestand hatten, in Revolutionen versinken? Um eure Gelehrten in Verwirrung zu stürzen, die ihre Gesell­ schaftstheorien auf bloße Launen gründen, während Gott, der weniger eitel ist als die Philosophen, die Gesetze des Universums nicht allein nach seinem Gutdünken erlässt, sondern sich bei all seinen Werken mit der ewigen Schiedsrichterin der Gerechtigkeit berät, der Mathematik, deren Wahrheit von ihm unabhängig ist und deren Gesetze er daher aufs strengste befolgt. Wundert euch also nicht länger, wenn eure Gesellschaften sich gegenseitig zerstören, und erwartet nichts Dauerhaftes von Gesetzen, die allein von Menschen gemacht wur­ den, unter dem Einfluss von Wissenschaften, die dem göttlichen Geist feind sind, der auf der Erde dieselbe Einheitlichkeit schaffen will wie am Firmament. Eine Welt, die kein gemeinsames Oberhaupt hat, keine zentrale Regierung, ähnelt sie nicht einem Univer­ sum ohne lenkenden Gott, in dem die Sterne ohne feste Ordnung kreisen und ständig zusammenstoßen, wie eure unterschiedlichen Nationen, die dem Auge des Weisen das Schauspiel einer Arena bieten, in der wilde Tiere dazu aufgehetzt werden, sich gegensei­ tig zu zerreißen, gegenseitig ihre Werke zu zerstören? Wenn ihr durch den Anblick eurer Gesellschaften, die nacheinander in sich zusam­ menstürzen, zu Mitleid gerührt werdet, dann überseht ihr, dass sie den Absichten Gottes widersprachen. Jetzt, wo euch die Entdeckung seiner Pläne verkündet wird, gehen euch nicht augenblicklich die Augen auf über euren Irrtum hinsichtlich der Vorzüge der Zivili­ sation? Erkennt ihr nicht, dass sie die Geduld der Menschheit erschöpft hat, dass eine an­ dere soziale Ordnung notwendig ist, um uns zum Glück zu führen, dass wir, um uns mit den Absichten Gottes wieder zu versöhnen, eine neue soziale Ordnung suchen müssen, die für die ganze Welt gültig ist und nicht nur für jenen Winkel, den die Zivilisierten be­ wohnen, dass wir zu guter Letzt die sozialen Laster der ganzen Menschheit untersuchen müssen und nicht nur die der Zivilisation, die bloß ein kleiner Teil der Menschheit ist? Stellen wir auf dieser Grundlage die These auf, dass die Welt politisch gebrechlich ist. Drei Gesellschaftsordnungen teilen sich die Erde: die Zivilisation, die Barbarei und die Wildheit. Notwendigerweise ist eine der drei besser als die beiden anderen. Die bei­

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den unvollkommenen Gesellschaftsordnungen, denen es nicht gelingt, sich auf die Stufe der besten der drei zu erheben und sich dieser anzugleichen, sind von jener Entkräftung befallen, von der Montesquieu zu Recht vermutet hat, dass sie die Krankheit des Men­ schengeschlechts ist. Was die dritte Gesellschaftsordnung betrifft, die man für überlegen hält, die jedoch nicht in der Lage ist, die beiden anderen dazu zu bringen, es ihr gleichzutun, so ist sie of­ fensichtlich ungeeignet, das Glück der ganzen Menschheit herbeizuführen, da sie deren größten Teil auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe dahindämmern lässt. Im Ergebnis sind zwei der drei heute existierenden Gesellschaftsordnungen von Läh­ mung befallen, während die dritte unter politischer Impotenz leidet. Nun entscheidet, wie sich die Krankheitssymptome, die der soziale Mechanismus überall auf der Erde zeitigt, auf die drei Gesellschaftsordnungen verteilen. Wenn ihr diese These debattiert, werdet ihr erkennen, dass die beiden gelähmten Gesellschaftsordnungen die wilde und die barbarische sind, die keinerlei Anstrengungen unternehmen, um ihr Los zu verbessern, und die hartnäckig in ihren guten oder schlech­ ten Sitten verharren. Was aber die Zivilisation betrifft, so ist sie es, die unter politischer Impotenz leidet, denn man sieht sie in rastloser Bewegung, wie sie jeden Tag neue Erfin­ dungen erprobt, um sich aus ihrem Elend zu erretten. Indem sie von der Untätigkeit des Wilden zur Industrie des Barbaren und des Zivi­ lisierten übergegangen ist, ist die Menschheit also vom Zustand der Apathie in den des akuten Schmerzes übergegangen, denn der Wilde beklagt sich nicht über sein Los und versucht in keiner Weise, es zu ändern, während der Zivilisierte stets unruhig und von Begierden zerfressen ist, selbst inmitten des Überflusses: Er brennt in verzehrendem Feuer, Was er besitzt, das ist ihm nicht teuer, Schätzt nur das, was er nicht hat. (J.­B. Rousseau)11 Apostel des Irrtums, Moralisten und Politiker! Wollt ihr nach so vielen Beweisen eu­ rer Blindheit noch immer behaupten, dass ihr die Menschheit aufklärt? Die Nationen werden euch antworten: „Wenn eure von der Weisheit diktierten Wissenschaften bisher immer nur Armut und Krieg hervorgebracht haben, dann gebt uns lieber Wissenschaften, die vom Wahnsinn diktiert wurden, wenn sie nur dem Greuel ein Ende machen und das Elend der Völker lindern.“ Ach! Statt ihn zu jenem Glück zu führen, das ihr versprochen habt, ist es euch nur gelungen, den Menschen so weit herunterzubringen, dass sein Zustand schlimmer ist als der der Tiere. Wenn es auch dem Tier manchmal am Nötigsten fehlt, so wird es doch auch nicht von dem Gedanken beunruhigt, Vorsorge für einen Mangel treffen zu müssen, der noch nicht eingetreten ist. Der Löwe, wohlbekleidet und wohlbewaffnet, nimmt sich, was er zum Leben braucht, dort, wo er es findet, ohne sich um eine Familie oder die Ge­ 11 Jean­Baptiste Rousseau, französischer Dichter (1671–1741).

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fahren des folgenden Tages zu kümmern. Wie sehr ist sein Los dem jener verschämten Armen vorzuziehen, von denen unsere Städte wimmeln, dem der armen Arbeiter, die, wenn sie ihre Arbeit verlieren, bedrängt von Gläubigern und Geldeintreibern schließlich nach endlosem Ungemach als Bettler enden und ihre Gebrechen, ihre Blößen und ihre hungrigen Kinder in den Straßen unserer Städte zur Schau stellen, die von ihren unheil­ verkündenden Klagen widerhallen! Philosophen, da seht ihr die bitteren Früchte eurer Wissenschaften: Armut und immer neue Armut! Unterdessen gebt ihr vor, die Vernunft zu neuen Höhen geführt zu haben, während ihr uns doch nur von einem Abgrund in den nächsten gestürzt habt. Gestern habt ihr dem religiösen Fanatismus die Bartholomäus­ nacht vorgehalten, heute hält er euch die Septembermorde vor. Gestern waren es die Kreuzzüge, die Europa entvölkert haben, heute ist es die Gleichheit, in deren Namen drei Millionen junge Männer dahingerafft werden, und morgen wird irgendeine andere Vi­ sion die Reiche der Zivilisation in Blut baden. Perfide Gelehrte, zu welcher Verworfen­ heit habt ihr den Menschen als gesellschaftliches Wesen erniedrigt, und wie klug waren jene Regierungen, die ihr am meisten rühmt, als sie eurem Rat misstrauten! Selbst die Herrscher, die ihr zu euresgleichen zähltet, haben euch verabscheut. Sparta hat euch von seinem Busen verstoßen und Cato forderte, dass man euch aus Rom verjagen solle. Noch in unseren Tagen sagte Friedrich, dass, wenn er eine seiner Provinzen bestrafen wolle, er sie unter die Herrschaft der Philosophen stellen würde, und Napoleon hat die Politik und die Moralphilosophie aus dem Tempel der nützlichen Wissenschaften verbannt. Seid ihr euch nach alldem noch nicht selbst verdächtig? Wollt ihr nicht zugeben, dass ihr, wenn ihr an den Leidenschaften herumwerkelt, Kindern ähnelt, die zwischen Pulverfässern mit Feuerwerk spielen? Die Französische Revolution war das Siegel dieser Wahrheit und hat euren Wissenschaften einen unauslöschlichen Schandfleck aufgeprägt. Ihr habt geahnt, dass es mit diesen lächerlichen Wissenschaften in dem Moment vor­ bei ist, wo man beginnt, an ihnen zu zweifeln. Daher habt ihr gemeinschaftlich die Stim­ men der wenigen Männer erstickt, die der Wahrheit nahe kamen, wie Hobbes und J.­J. Rousseau, die erkannten, dass die Zivilisation die Absichten der Natur in ihr Gegenteil verkehrt und methodisch alle Laster ausbildet. Ihr habt diese Geistesblitze geleugnet, nur um euren Prahlereien von Vervollkommnung besser Gehör zu verschaffen. Doch ein neuer Akt des Dramas beginnt und die Wahrheit, die ihr zu suchen vorgebt, wird zu eurer Verwirrung die Bühne betreten. Wie dem sterbenden Gladiator bleibt euch nur noch, ehrenvoll zu fallen. Bereitet mit euren eigenen Händen das Brandopfer, das wir der Wahrheit schuldig sind. Ergreift die Fackel, richtet die Scheiterhaufen auf und lasst den Plunder eurer philosophischen Bibliotheken in Flammen aufgehen.

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7.3 „Über die Abkehr von der Moralphilosophie“12 Welches Ziel kann Euch Moralisten vorschweben, wenn Ihr das Glück der Mittelmä­ ßigkeit rühmt? Wer sich über ein solches Los erhoben hat, will niemals wieder zu ihm hinabsteigen. Keine Überlegung wird den Mann, der 100.000 Franken Rente hat, veran­ lassen, 80.000 davon zu verteilen, um sich auf ein bescheidenes Einkommen von 20.000 Franken – das ist die goldene Mitte – zu beschränken. Andererseits wollen jene, die der Mittelmäßigkeit teilhaftig sind, sich mit ihr nicht zufriedengeben und haben allen Grund zu dem Glauben, dass in ihr nicht das wahre Wohl liegen kann, solange so viele wohlha­ bende Leute sich weigern, zu ihr, obwohl es ihnen ein Leichtes wäre, herabzusteigen. Die Mittelmäßigkeit besitzt also keinen Reiz für die zwei Klassen, für die sie in Frage käme. Es ist lächerlich, sie ihnen anzuraten, denn sie ist ihnen aus Erfahrung bekannt, und alle sind sich einig, ein üppiges Leben ihr vorzuziehen. Was jene angeht, die unterhalb der Mittelmäßigkeit leben, so ist es ganz verfehlt, sie ihnen zu rühmen, denn sie werden sie schwerlich erreichen; schlecht gestellte Leute sind eher in Gefahr zu darben und zu ver­ kommen als emporzusteigen. Jetzt schon ist die Politik bitterer Kritik ausgesetzt, weil sie ihnen das Lebensnotwendige nicht hat verschaffen können. Seht, wie wenig folgerichtig es ist, bei ihnen an der Mittelmäßigkeit Gefallen erwecken zu wollen, wenn man ihnen selbst ein darunter bleibendes Los nicht zu sichern vermag. […] Wenn Ihr durch Eure Taten und Geständnisse die Ohnmacht der von Eurer Wissen­ schaft versprochenen Hilfe bestätigt, welche Absicht soll man Euch unterstellen, wenn Ihr auf Eurer unnützen Hilfe beharrt? Legt Ihr nicht Ironie an den Tag, wenn Ihr uns an Entbehrungen gewöhnen wollt, obwohl wir von Euch Reichtum und echte Genüsse fordern? Ihr selbst, Philosophen, die Ihr einen geschulteren Geist und geübtere Sinne als der einfache Mensch habt, vermöge deren Euch die Annehmlichkeiten des Reichtums wertvoller erscheinen, seid Ihr nicht begeistert zu hören, dass der Zusammenbruch Eurer Systeme Euch zu jenem Glück emporheben wird, das Ihr so abgöttisch liebt, während Ihr vorgebt, es zu missachten? Widersetzt Euch nicht, Eure Irrtümer voll einzugestehen! Sie gereichen der Gesamt­ heit der Gelehrten, nicht aber einer einzelnen Gruppe zur Schande. Glaubt Ihr etwa, die Physiker und Literaten könnten ihrem Anteil an der allgemeinen Schmach entgehen? Verfügen sie nicht wie Ihr über Urteilskraft und gesunden Menschenverstand, um die allgemeinen Unsinnigkeiten zu bemerken und zu entlarven? Ja, die Unsinnigkeit ist allgemein, solange Ihr gegen die schändlichste soziale Unordnung nicht Abhilfe schaffen könnt, gegen die Armut. Solange sie fortbesteht, stellen Eure tiefgründigen Wissenschaf­ ten Euch nur Zeugnisse des Wahnsinns und der Nutzlosigkeit aus: Mit all Eurer Weisheit seid Ihr nur eine Legion von Narren! Ihr kündigt Euch als Dolmetscher der Vernunft an. Bewahrt lieber Stillschweigen, solange die Zivilisation andauert, denn sie ist mit einer Vernunft, die Mäßigung und Wahrheit empfiehlt, unvereinbar. An welchen Orten machte die Zivilisation Fortschritte? 12 Aus: OC, Bd. I, 183–191. Aus dem Französischen von L. Zahn.

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Doch wohl in Athen, Paris, London usw., wo die Menschen keineswegs Freunde weder der Mäßigung noch der Wahrheit, sondern entschiedene Sklaven ihrer Leidenschaften waren und sich dem Ränkespiel und dem Luxus hingaben. An welchen Orten siechte die Zivilisation dahin und bewahrte ihre Mittelmäßigkeit? Doch wohl in Sparta und im alten Rom, wo die Genusssucht und der Luxus nur schwach entwickelt waren. Könnt Ihr nach einer solchen Erfahrung noch Zweifel hegen, dass die Ordnung der Zivilisation mit einer Vernunft, die Euch zufolge die Mäßigkeit der Leidenschaften zum Inhalt hat, nicht vereinbar ist? Könnt Ihr daran zweifeln, dass eine solche Vernunft verpönt werden muss, wenn man die Ordnung der Zivilisation aufrechterhalten und ihren Fortschritt sichern will? […] Wenn die Moral an ihre Eigenständigkeit glaubt, irrt sie von Grund auf. Für den Gesellschaftsmechanismus ist sie offensichtlich überflüssig und übt auf ihn keine Macht aus, denn hinsichtlich aller Fragen, die sie zu ihrem Bereich zählt, wie des Diebstahls, des Ehebruchs usw., genügen Philosophie und Religion, um zu entscheiden, was sich in der bestehenden Ordnung schickt und was nicht. Was die Erneuerung der Sitten angeht, wird die Moral, wenn Politik und Religion schon dabei scheitern, noch mehr scheitern. Was ist sie anderes als das fünfte Rad der Wissenschaft, die zur Tat gewordene Ohn­ macht? Überall, wo sie das Unheil allein bekämpft, kann man ihrer Niederlage sicher sein. Sie ist einem unfähigen Regiment vergleichbar, das sich bei allen Zusammenstößen zurückdrängen lässt und schmählich zerschlagen werden müsste. So und nicht anders müsste der Wissenschaftskörper die Moral wegen der ihm erwiesenen Dienste behandeln. Wenn die Politik und die Theologie Euch, Moralisten, manchmal eine bloß vorge­ täuschte Achtung erwiesen und Euch jetzt als Dritten im Kampf gegen das Unheil zu­ lassen, so geschieht es, um Euch die Schande der Niederlage zuzuschieben und für sich selbst die dienliche Ausrede des Missbrauchs zu haben. Ihr seid für sie „… nur das dienstbare Werkzeug, Voller Missachtung verworfen, wenn es unnütz, Und mitleidslos zerbrochen, wenn zur Gefahr es wird.“13 Erinnert Euch, welch großen Wert sie auf Euch in entscheidenden Situationen wie der Bartholomäusnacht oder der Französischen Revolution gelegt haben. Falls Ihr zweifelt, dass sie Eure Lehren missachten, versucht nur ihren Lehren entgegenzutreten, und Ihr werdet Euren Einfluss ermessen können. *** Ein im Laufe des 17. Jahrhunderts eingetretenes Ereignis hat Euch schließlich über diese bittere Wahrheit aufgeklärt. Unter den Philosophen trat eine Spaltung ein; aus ihr er­ wuchs eine neue Wissenschaft, die politische und Handelsökonomie. Ihre raschen Fort­

13 Aus: Voltaire, Brutus, I, 4.

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schritte ließen den Sieg der Lehren, die dem Luxus zugetan waren, und die Niederlage der Moralisten voraussehen. Diese bemerkten recht spät, dass sich die politische Ökonomie im ganzen Bereich der Scharlatanerie schnell verbreitete. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts schlossen sich alle Geister dieser neuen Wissenschaft an, die sich als Spenderin des Reichtums ankündigt und den Nationen große Reichtümer verspricht, wovon jeder seinen Teil zu erlangen glaubt. Die widerliche Anmaßung der Ökonomen war bereits vorbei, als die Moralisten noch fortfuhren, die von der Armut ausgestrahlten Reize zu rühmen. Als die Französische Revolution ihre Traumbilder republikanischer Tugenden schließlich zer­ störte, hätten sie gerne einen Vergleich abgeschlossen. Zu diesem Zweck brachten sie zweideutige Lehren vor; so traten sie dafür ein, dass man sich zum Reichtum unüberlegt, ohne ihn zu lieben oder zu hassen, verhalten solle. Aber auch diese wahrhaft gefälligen Lehren konnten die Moralistenclique nicht retten, denn die Ökonomen, so stark gewor­ den, dass sie keine Verbündeten mehr nötig hatten, verschmähten jeden Pfad der An­ näherung und bekräftigten ihre Meinung, dass großer, sehr großer Reichtum im Verein mit gewaltigem Handel und mit Handelsgewalt vonnöten sei. Von da ab versanken die Moralisten in ein Nichts und wurden mitleidlos in die Sparte der Romanschreiber ein­ gegliedert. Zusammen mit dem 18. Jahrhundert schied ihre Sekte dahin; sie ist politisch krank und genießt in der Welt der Wissenschaft keinen Kredit mehr, besonders in Frank­ reich, wo sie nicht mehr vertreten ist. Die Moralistenclique ist eines schönen, eines erbaulichen Todes gestorben; sie nahm ein Ende wie jene Atheisten, die sich im letzten Augenblick zum Glauben an Gott ent­ schließen. Als sie sich unwiderruflich verloren sah, bekannte sie sich zu dem, was sie 2.000 Jahre lang geleugnet hatte. Sie erkannte an, dass sich die Weisheit aufs beste mit 100.000 Talern Rente verbindet. Diese Darstellung findet sich in dem Gedicht: Der Ackermann; er setzte seine Weisheit in einem prächtigen Schloss ins Werk, mit Jagdmeu­ ten, Pferdekutschen, Spielhöllen und abendlichen Gelagen, wo man die Korken zum Wohle der Tugend springen lässt. Diese Art von Weisheit vermag unstreitig Anhänger zu gewinnen, wie ich bei der Behandlung der Freimaurerei im dritten Teil meines Buches darlegen werde. Außerdem bemühen sich die Schriftsteller zu spät darum, der Moral die Farben der Vernunft aufzutünchen; das bedeutet nichts anderes als einem Ort, der kapituliert hat, Hilfe bringen zu wollen. Diese Wissenschaft beweist uns übrigens durch ihr in allerletz­ ter Stunde abgelegtes Geständnis – man könne in einem Schloss mehr Weisheit ins Werk setzen, als wenn man in Lumpen umhergeht –, dass sie unfähig ist, uns zu Glück und Weisheit zu führen. Dorthin können wir nur unter der Schirmherrschaft der Politik und der Theologie gelangen. Nur diese beiden Wissenschaften verhelfen ihren Verehrern zu Schlössern, während dadurch, dass man unter die Fahnen der Moral tritt, nicht die ge­ ringfügigste Stellung zu gewinnen ist. So wie die Überbleibsel einer zerschlagenen Armee verstreute, das Land noch eine Zeitlang verheerende Banden bilden, stellen auch die Überbleibsel der Moralistenclique einzelne Haufen dar, die ohne Ordnung, ohne System und ohne irgendein Ziel in Bewe­ gung sind. Wie Ertrinkende von Schrecken befallen, klammern sie sich an alles: an die

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Metaphysik, an das Heil des Handels, an jede Neuheit. Sie sind Banditen der Literatur; sie haben eine verheerende Wirkung auf die breite Straße der Wissenschaft und wollen sich überall da einmischen, wo man ihre Dienste angeblich gebrauchen könnte. Sie mü­ hen sich ab, für ihre ins Exil getriebene Wissenschaft irgendeine �eimstätte zu finden. Mitleidsvoll hört man ihnen zu, wenn sie etwas von Moral murmeln, so wie man den nach einem Gewitter vernehmlichen entfernten Donner belächelt. Man sieht in ihnen nichts anderes mehr als eine auf der Sau niedergelassene Fliege. Niemals gelangte eine Vorherrschaft so vollständig an ihr Ende. Sie wagen sogar gewisse Niederträchtigkeiten, um vor den von ihnen jahrhunderte­ lang verhöhnten Leidenschaften Gnade zu finden. Ich übernehme diesbezüglich fremde Äußerungen, damit man mich nicht bezichtigen kann, dass ich eine ins Unglück geratene Wissenschaft herabwürdige. „Sie ist sehr gesittet geworden; in ihrer Sanftmut und Nach­ giebigkeit lehrt sie uns nicht mehr zu kämpfen, sondern abzutreten. Der hauptsächliche Gegenstand ihrer Belehrungen ist die Kunst, die Leidenschaften zu befriedigen und zu nähren, sie zu beleben, wenn sie ermatten, sie, falls sie ganz verlöscht sind, durch andere Neigungen zu ersetzen.“ (Gazette de France, 17. Januar 1808) Durch ihr Missgeschick fanden sie zu ihrem gesunden Menschenverstand zurück und ahmen jene entthronten Fürsten nach, die zu spät erkennen, dass sie nicht zu herrschen verstehen. Nimmt man aber an, die Zivilisation könnte andauern, glaubt man etwa, dass die Ökonomen, die die Moralistensekte in den Schatten gestellt haben, viel fester auf dem Thron der öffentlichen Meinung sitzen würden? Nein, diese vergänglichen Wis­ senschaften stürzen sich wie die Parteien der Revolution gegenseitig in den Abgrund. Ich werde im dritten Teil zeigen, dass die politische Ökonomie schon ihrem Untergang entgegeneilt und der Zusammenbruch der Moralisten den ihrer Rivalen vorbereitet hat. Auf diese Parteien in der Literatur lässt sich der Ausspruch Dantons beziehen: Schon mit einem Gurt ans Schafott gefesselt, rief er dem Henker zu: Behalte den anderen für Robespierre; er wird mir bald folgen. So können die Moralisten ihrem Henker, der sie preisgebenden öffentlichen Meinung, zurufen: „Behalte den anderen Gurt für die Ökonomen; sie werden uns bald folgen.“ Hätte sich die Zivilisation jemals ihrer Verehrung im Bereich der Wissenschaft und ihrer Leichtgläubigkeit gegenüber Scharlatanen schämen müssen, so heute, da sie die viele tausend Jahre lang verehrten Lehren mit Füßen tritt, heute, da die philosophischen Wissenschaften von der Lehre von der Anziehung der Leidenschaften, die sie beanstanden, verbessern, entschärfen wollten, in den Staub fallen. Eine der beiden Wissenschaf­ ten, die politische Ökonomie, erregt die Liebe zum Reichtum; die andere, die Moral, gestattet, ihn nicht mehr zu hassen, und erhebt ihre sterbende Stimme, um vor den Lei­ denschaften ein öffentliches Schuldbekenntnis abzulegen. Der menschliche Geist ver­ mag sich also jahrtausendelang mit Spitzfindigkeiten, deren er sich schließlich schämen muss, zu beschäftigen. Was wisst Ihr, zivilisierte Nationen, darüber, ob Eure modernen Traumbilder, Eure ökonomischen Hirngespinste, nicht noch lächerlicher sind und auf das 19. Jahrhundert nicht eine größere Verachtung hinabbeschwören werden als die Trugbil­ der der Moral, über die Ihr heute bestürzt seid? Glaubt Ihr, Euch der Wahrheit und der Natur durch die Vergöttlichung des Handels, einer unaufhörlichen Bekundung von Lüge

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und Verschlagenheit, zu nähern? Meint Ihr, Gott hätte nicht eine rechtschaffenere und gerechtere Methode erdacht, um den Austausch, die Seele des Gesellschaftsmechanis­ mus, zu bewirken? [...] Inzwischen werde ich Euch wieder daran erinnern, dass es nicht ausreicht, das Reich der Natur, der Ihr endlich unumschränkten Einfluss zugesteht, anzuerkennen. Eine Phi­ losophie der Moral, die für sich in Anspruch nimmt, die Leidenschaften zu verändern, nicht anzuerkennen, ist noch wenig. Um vor der Natur wieder Gnade zu finden, wäre es nötig gewesen, ihre Anweisungen für die Anziehung der Leidenschaften – in ihnen äußert sie sich – zu untersuchen. Ihr stellt Eure Theorien der Metaphysik zur Schau, und wozu nützt Ihr sie, wenn Ihr es verschmäht, die Anziehung, die Eure Seele und Eure Lei­ denschaften steuert, zu erforschen? Eure Metaphysiker verlieren sich in den Einzelheiten der Ideologie. Was bedeutet dieses wissenschaftliche Kleinzeug schon? Ich kenne den Mechanismus der Ideen nicht, habe weder Locke noch Condillac jemals gelesen, doch war mein Einfallsreichtum nicht groß genug, um das ganze System der universellen Be­ wegung, von dem Ihr nach 2.500 Jahren wissenschaftlicher Bemühungen nur die vierte Gruppe entdeckt habt, zu entwickeln? Ich will nicht behaupten, dass meine Ansichten großartig seien, weil sie sich auf ein Gebiet erstrecken, das Ihr in Euren Auffassungen überhaupt nicht berührt habt. Ich habe getan, was tausend andere vor mir zu tun vermochten, aber ich bin auf das Ziel allein – ohne bewährte Mittel und ausgefahrene Wege – zugegangen. Ich allein werde zwanzig Jahrhunderte der politischen Dummheit überführt haben, und nur mir werden die leben­ de und künftige Generation die Anregung für ihr unermessliches Glück zu danken haben. Vor meiner Zeit hat die Menschheit viele Jahrtausende durch ihren wahnwitzigen Kampf gegen die Natur verloren. Ich habe mich als Erster vor der Natur gebeugt, indem ich die Anziehung, das Vollzugsorgan ihrer Weisungen, erforschte, und sie hatte die Güte, dem einzigen sie verehrenden Sterblichen zuzulächeln; sie lieferte mir ihre Schätze aus. Im Besitze des Buches der Schicksalsbestimmung gehe ich daran, die in Politik und Moral herrschende Finsternis zu zerstreuen. Auf den Trümmern der unsicheren Wissenschaften errichte ich die Theorie der universellen Harmonie. „Ich habe mir ein Denkmal dauerhafter als Erz gesetzt.“14

14 Im Original lateinisch: Exegi monumentum aere perennius (Horaz, Oden, III, 30,1).

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7.4 Die Irrtümer der politischen Ökonomie15 Unverhoffte Ereignisse führten zu einem gewaltigen Wachstum des Handels: Fortschrit­ te der Seefahrt, die Entdeckung beider Indien,16 die große Vielfalt dem Austausch sich bietender Produkte, der Anbau von Kulturen im Norden der Erde und die Verbindung der drei Zonen,17 die rasche Vervollkommnung der Manufaktur und die Vielzahl Bezie­ hungen aufnehmender Völker, alle diese glücklichen Umstände verhalfen dem Handel zu einer erstaunlichen Entwicklung. Sein Anwachsen lässt sich auf etwa den zehnfachen Umfang des Handels der alten Griechen und Römer schätzen. Seitdem wurde der Han­ delsverkehr zu einem Bereich des gesellschaftlichen Mechanismus und musste schließ­ lich die Aufmerksamkeit der Philosophen erregen. Sie hörten auf, ihn ins Lächerliche zu ziehen, und eine Gruppe unter ihnen, die sogenannten Ökonomen, gaben sich dem Studium der Industriepolitik hin. Die politische Ökonomie ist die jüngste der Wissenschaften und schreitet dennoch schneller als alle anderen voran. Bis heute legte sie große Furcht und Scheu vor dem Handel an den Tag, obwohl sie ihn eigentlich an den Pranger stellen sollte. So unterwirft sich das Löwenjunge, seine Kraft noch nicht spürend, lange Zeit einem, den es ver­ schlingen könnte. In Bälde, wenn der Handel mitsamt seinem Namen durch das föderale Lagerhaus überwunden sein wird, dann wird eine solche Scheu, die dazu führt, dass die Politik der Gesellschaft vor dem Handel auf den Knien liegt, nur Bestürzung auslösen. Die politische Ökonomie trat mit großen Fehlern behaftet in die Welt. Es gereicht den Wissenschaften gemeinsam zum Verhängnis, jahrhundertelang dem Irrtum ihren Zoll entrichtet zu haben. Die älteste Wissenschaft, die Astronomie, verirrte sich Jahrtausende hindurch in folgerichtig geordnete Trugbilder bis zu dem Tag, da Kopernikus ihr den Weg zur Wahrheit eröffnete. Wie sollte die politische Ökonomie sich da wundern, dass auch sie den gemeinsamen Zoll entrichtete? Doch nicht der Irrtum gereicht zur Schan­ de, nur der Starrsinn ist ein Verbrechen. Wer wie die früheren Päpste auf Unfehlbarkeit pocht, macht sich zum Gespött. Wollen die Philosophen etwa einen ähnlichen Anspruch für das 18. Jahrhundert erheben? Gelungene Erfindungen verändern von einem Zeitalter zum anderen das Gesicht so mancher Wissenschaft. Der mit der menschlichen Erkennt­ nis sein Spiel treibende Zufall liefert Unwissenden, und manchmal sogar Kindern, die schönsten Entdeckungen aus. Davon legen zwei Jungen aus Middlebourg Zeugnis ab: Mit Gläsern spielend, erfanden sie die Sehbrille und das Fernglas und wurden damit zu Wegbereitern der Astronomie. Nicht weniger Sonderbares spielt sich heute ab. Ein richtiger Einfaltspinsel machte der Wissenschaft Vorhaltungen, belehrte sie und wies den Ökonomen einen Ausweg aus dem Labyrinth, in das sie sich verirrt hatten. Haben sie da 15 Aus: OC, Bd. XI (1), 78–92. Aus dem Französischen von L. Zahn. – Der in diesem Kapitel präsen­ tierte Text stammt aus zwei Manuskripten Fouriers, von denen eines 1810 und das andere 1813 geschrieben wurde. Sie wurden von seinen Schülern erstveröffentlicht. 16 Offenbar meint Fourier Westindien, wie Christoph Kolumbus Amerika nannte, als er glaubte, Asien erreicht zu haben. 17 Gemeint sind vermutlich Europa, Amerika und Asien.

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nicht allen Anlass zur Freude! Der Wissenschaft und ihren Jüngern gilt als schönster Tag der Tag, an dem eine unerwartete Entdeckung ihnen den Weg zur Berühmtheit eröffnet, das heißt zur Wahrheit, denn ohne sie ist der ganze Ruhm nur Schall und Rauch. Wo blieb der gute Ruf des Ptolemäus und anderer Astronomen? Sie sind für die Wissenschaft erledigt, Kopernikus aber blieb ihr. Was ist aus den Vorstellungen der Philosophen der Antike über die Bewegung geworden? Alle Systeme von Aristoteles bis Descartes ver­ schwanden wieder, nur Newton und die Anziehungskraft blieben erhalten. Wahrlich, welche Wissenschaft hätte nicht Jahrhunderte des Irrtums zu beklagen? Wie viele Tausende von Jahren verloren die Botaniker, bevor sie zu den einfachsten Wahr­ heiten wie dem Geschlechtssystem Linnés18 gelangten? So sind denn ganze Korporati­ onen hochgeachteter Gelehrter nur dem Nichts und dem Vergessen geweihte erlauchte Opfer, bis ihnen die Wahrheit gnädig ist und sie in ihre Geheimnisse einweiht. In dieser Hinsicht werden die Ökonomen ein besonderes Vorrecht genossen haben, denn sie werden im Labyrinth, in welchem andere Wissenschaften einige tausend Jahre einbüßen, nur ein Jahrhundert zubringen (und habe ich, der ich sie daraus befreie, nicht ihren Dank verdient?). Ich will nunmehr auf die Irrtümer jener verstorbenen Autoren hinweisen, deren Systeme die wahre Wissenschaft vorbereitet haben und denen ich in irgendeiner Weise etwas zu verdanken habe, denn das ungeheure Ausmaß ihrer Irrtümer ließ mich eine allgemeine Verirrung der Wissenschaft vermuten und Untersuchungen, deren Erfolg ich in keiner Weise voraussah, wagen. Die Irrtümer der Ökonomen lassen sich in zwei Gruppen einordnen: 1. Mystifizierungsirrtümer. Auf sie werde ich nur kurz eingehen. Ihre Erwähnung dient mehr ihrem Nachweis als ihrer Kritik, denn sie entspringen zeitlosen menschlichen Schwächen. Ich suche also die Verirrung eher zu rechtfertigen als zu verdammen. Als die Stunde der Geburt der politischen Ökonomie schlug, genoß der Handel schon Macht und Ansehen. Die Holländer hatten schon, lange bevor die Ökonomen von sich reden machten, Tonnen voller Gold angesammelt und beherrschten bereits die geheim­ nisvolle Kunst des Kaufgeschäfts und der Preisbestechung. Kurz, der Handel war ein Riese und die politische Ökonomie ein Zwerg. Als diese mit jenem zum Wettlauf antrat, wimmelten die Häfen schon von Reedern, waren die Hauptstädte schon mit groß auf­ geputzten Bankiers angefüllt, die bei Ministern ein­ und ausgehen und mit dem diplo­ matischen Korps zu verhandeln pflegen. Den �andel konnte man nicht mehr wie in der Antike zum Gegenstand des Gespötts machen, denn in der Zivilisation, besonders in unserem Jahrhundert, gibt es nichts, was so achtunggebietend oder einflussreich wie die Geldsäcke wäre. Seitdem war die politische Ökonomie darauf angewiesen, umso be­ scheidener neben dem Handel in Erscheinung zu treten, je weniger ihre Vertreter sich auf Vermögen oder etablierte Lehren stützen konnten. Das alles war ihr erst noch zu schaf­ fen. Die Antike hatte für den Handel nur ein Grinsen übrig gehabt, aber darin liegt noch 18 Linné (1707–1778) nahm in der Schrift Systema naturae eine Klassifizierung der Pflanzen nach äußerlichen Merkmalen der Staubblätter und Griffel vor und unterschied zwischen sich unge­ schlechtlich (durch Sporen) vermehrenden niederen Pflanzen und vegetativ (durch Knollen, Zwie­ beln) sich vermehrenden höheren Pflanzen.

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keine Lehre. Man musste sich also von der schönen Antike losreißen, und die sich selbst überlassenen Ökonomen mussten sich bescheidene, zurückhaltende Grundsatzlehren zu eigen machen, wie es sich für unbekannte Gelehrte schickt, die bei ihrem Eintritt in die Welt die Krösusse des Jahrhunderts zu bekämpfen haben. Der Ausgang einer solchen Schlacht ließ keinen Zweifel zu. Die Ökonomie leistete nur den Schein eines Widerstandes. Dafür gebührt Quesnay, dem Führer der französi­ schen Ökonomengruppe, die Ehre. Er suchte der Wahrheit Gehör zu verschaffen und stellte Grundsätze auf, die auf die Unterordnung des Handels unter die Interessen der Landwirtschaft hinausliefen. Aber die dem Handel verfallenen englischen Ränkeschmie­ de sicherten ihm durch ihre Hinterlist in Sachen der Religion den Sieg. Die gerade zum Kampf gegen die Geistlichkeit antretende Philosophie bedurfte einer Stärkung ihres Be­ rufsstandes; sie hielt es für klug, sich den Geldsäcken zu vermählen und den Handel, der eine große Rolle zu spielen begann, zu hätscheln. Folglich spannten die Ökonomen sich um die Wette vor den Karren des Handels. Sie erklärten ihn für ebenso unfehlbar wie die früheren Päpste. Sie verkündeten, der Händler könne niemals durch seine Geschäftstä­ tigkeit vom Weg des öffentlichen Wohls abweichen und müsse folglich absolute Freiheit genießen. Alle Lehren wurden diesem Paradox angepasst. Die Volksstimme konnte die schachernden Händler gar nicht genug preisen. Man sah die Raynal,19 Voltaire und andere hervorragende Philosophen vor dem goldenen Kalb, das sie insgeheim hassten, nieder­ knien, denn als Voltaire sein Werk Zaire einem Londoner Kaufmann widmete und ihn mit faden Huldigungen überhäufte, war er ebenso unaufrichtig wie im Falle seines Papst Benedikt XIV. gewidmeten Werkes über Mohammed. Voltaire selbst war in Handels­ schlichen sehr erfahren; er verstand sich großartig auf die Täuschung der Buchhändler. Er kannte sich also sehr wohl in der Wertschätzung der erhabenen Kunst des Handelsge­ schäftes aus, er wusste sehr wohl, dass der Händler ein Freund des Dunkelmännertums ist, dass er in allen Ländern Wissenschaft und Kunst öffentlich Verachtung bekundet, dass er sich selbst über die ihm von einigen Literaten zuteil werdende Beweihräucherung lustig macht und ihre Huldigungen als Fadheiten, die ihm nur zur Füllung seiner Kasse dienen, verhöhnt. Jedoch führte das Bedürfnis, die Partei der Philosophen zu vergrößern, dazu, alle Anwärter ohne Unterschied zuzulassen und die Händler in den Himmel zu heben, weil sie eine schon mächtige, aber noch unentschiedene Klasse und bereit wa­ ren, sich dem ersten Besten, der sie zu nehmen wusste, anzuvertrauen. Diese ungleiche Verbindung wurde bewerkstelligt, indem die Täuschung sich zum Parteigeist gesellte. Der Augenschein wirkte sich zugunsten des Handels aus: das Ausmaß und das Entwick­ lungstempo des Handelsvermögens sowie die an den Tag gelegte Spekulationsmiene. Und so waren einige der gutgläubigen Meinung, es handle sich da um eine Wissen­ schaft. Nun muss man zur Entlastung der Philosophen einräumen, dass der Handel zu jener Zeit, anders als heute, keineswegs entartet war. Die damals wenig zahlreichen Händler 19 Abbé Guillaume de Raynal (1713–1796), französischer Historiker und Philosoph, Verfasser der Philosophischen und politischen Geschichte der Unternehmer und des Handels der Europäer in beiden Indien (1770).

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fanden ihre Gewinne sehr leicht und nahmen keineswegs zu allerhand Spitzfindigkeiten und waghalsigen Schurkereien Zuflucht, durch die heute ihr Berufsstand seine Ehre ver­ loren hat. Das ist so wahr, dass die älteren Händler tagtäglich ihre Bestürzung über die gegenwärtig herrschende Hinterlistigkeit bekunden und sich übereinstimmend äußern, dass der Handel, verglichen mit der vor der Revolution in ihm obwaltenden Gutmütig­ keit, heute einen Hinterhalt, ein dunkles Dickicht bilde. Fügen wir dem hinzu, dass das englische Monopol noch nicht beherrschend war; Frankreich stand mehr oder minder im Kampf und übte gemeinsam mit seinen Verbündeten ein recht bedeutendes Monopol aus. Deshalb regten die französischen Philosophen sich keineswegs über einen Missbrauch auf, der sich zugunsten ihrer Nation auswirkte. Alles lief darauf hinaus, jene ungleiche Verbindung der Philosophie zu entschuldigen. Durch ihre Liaison mit dem Handel ahmte die Philosophie jene adligen Fräulein nach, die einen für ehrenhaft gehaltenen Nichtad­ ligen aus Vernunftgründen heiraten. Und zu jener Zeit war es wirklich unmöglich, das ungeheure Ausmaß an Gebrechen und Geißeln, die der Handel und das Monopol im 19. Jahrhundert verbreiten würden, vorherzusehen. Zuletzt verfiel der �andelsgeist in eine abgrundtiefe Schädlichkeit. Die Maske fiel von ihm ab, und zurück blieb das Monopol, blieb die Betrügerei. Jetzt kann die Phi­ losophie sich keiner Täuschung über die Schmähungen der Schlange, der sie sich an­ schloss, mehr hingeben. Möge sie schlagartig mit dem Handelsgeist brechen, möge sie auf den ihm zuwiderlaufenden Pfad der Wahrheit zurückfinden. Eine Entdeckung wird den Handel aus dem Schoße der Zivilisation tilgen. War es noch verzeihlich, ihn so lan­ ge aufrechtzuerhalten, als über seine Schädlichkeit noch Zweifel bestanden, so wäre es verabscheuenswert, ihn heute, da die Wahrheit ihm die Maske vom Gesicht reißt und ihn mit Schimpf und Schande belegt, entschuldigen zu wollen. 2. Lehrirrtümer. Sie verdienen eine breitere Untersuchung. Angetrieben durch das schon erwähnte Ränkespiel und den in der Gründung einer neuen Wissenschaftsdisziplin liegenden Reiz behandelten die Ökonomen die �andelspolitik wie hofierende Parteigän­ ger, nicht aber wie Philosophen, und daraus erwächst ihr unverzeihliches Dogma, das die Freiheit der Handelstätigkeit zulässt, die Lehre nämlich: Lasst die Händler nur gewähren! (Laissez faire les marchands!), lasst ihren Spekulationskniffen freie Bahn, ihren Hamsterschlichen, ihren Wuchermanövern und allen anderen Anschlägen, vermittels de­ rer sie sich gegenseitig zu den tollsten Geschäften und Bankrotten verhelfen. Der Handel ist nichts anderes als ein Freibeuter der Industrie, der, ohne seine Aufgabe einzugeste­ hen, sich der Verwaltung des Gesellschaftsprodukts bemächtigt hat und Produzenten wie Konsumenten, zwischen die er sich gestellt sieht, tyrannisiert und erpresst. Sicher bringt er dafür einiges Kapital auf, aber auch der Freibeuter bringt Kapital auf, sein Schiff, sei­ ne Soldaten und sein Wissen um die Ausplünderung der Seefahrer. Die Handelspolitik hat uns bis heute nur gelehrt, vor diesen Handelsfreibeutern zu kapitulieren, ganz ebenso wie gewisse Mächte es vor den Algeriern tun, indem sie ihnen alljährlich Geschenke übersenden. Man lässt sie gewähren, man schmeichelt ihnen, weil man sie nicht vernich­ ten will. Aber damit stellt man seine eigene politische Nichtigkeit unter Beweis, und die Händler, die Algerier, die Beduinen und andere Freibeuter verlangen gar nichts anderes, als dass man sie gewähren lasse.

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Besonders bemerkenswert ist, dass sich alle Parteien auf die in Frage stehende Lehre geeinigt haben; selbst die französische Ökonomengruppe, deren Grundsätze sich gegen die Handelsfreiheit richteten. Wenn nämlich der Handel Quesnay zufolge nur eine pa­ rasitäre Rolle spielt, wenn die Landwirtschaft die einzige Quelle des gesellschaftlichen Reichtums bildet, dann würde daraus folgen, dass man die Gewinne und die Erpressun­ gen des Handels einschränken und ihn zu Garantien gegenüber der Landwirtschaft, deren Erfüllungsgehilfe er nur ist, nötigen müsste. So lautet die Regel des von mir im Dritten Teil dargelegten Systems,20 und Quesnay und seine Schüler wären zu diesem Ergebnis gelangt, wären sie sich selbst treu geblieben. Ich weiß nicht, welche List sie mürbe ge­ macht und gelähmt hat; jedenfalls beschränkten sie sich darauf, sich höchst geistreich über ihr eigenes System auszulassen, ohne nach irgendeinem Mittel der Verwirklichung Ausschau zu halten. Von dem guten Grundsatz der Überlegenheit der Landwirtschaft ausgehend, kamen sie zu dem wohlgefälligen Schluss, dass der Handel volle Freiheit genießen müsse. Das ist so, als würde man sagen: Die Offiziere sind die Vorgesetzten, aber die Soldaten müssen die Freiheit haben, ohne Befehl der Offiziere zu tun und zu lassen, was ihnen gefällt. Darauf läuft das System der französischen Ökonomengruppe hinaus. Vielleicht steckt mehr Logik im englischen Ränkespiel, denn dadurch, dass man den Handel zu Unrecht für produktiv erklärt, wird der Irrtum zumindest gerechtfertigt. Der Handel wird der Landwirtschaft gleichgestellt, und unter diesem Gesichtspunkt wird ihm volle Freiheit gewährt. Verzeihen kann man eher dem, der eine Spitzfindigkeit ge­ wandt verteidigt, als dem, der, wie die französischen Ökonomen, die Wahrheit feige preisgibt. Aber wenn sich recht leichtgläubige und nachgiebige Philosophen bereit fanden, die Lehre: Lasst die Händler gewähren, anzunehmen, wie kommt es jedoch, dass sich so gutmütige Regierungen fanden und noch immer finden, die in die Falle gehen? Welcher Fürst, welcher Gesetzgeber kann in Unwissenheit darüber sein, dass die ständig im Hin­ terhalt lauernden Händler jederzeit auch den schlauesten Minister zu täuschen wissen? Davon legt die jüngste Liebenswürdigkeit der französischen Händler Zeugnis ab. Wäh­ rend des letzten Winters – von 1809 bis 1810 – war der Getreideexport in Flandern bis zu dem Augenblick erlaubt worden, da die Marktpreise einen vereinbarten Satz überstei­ gen würden, und es war festgelegt worden, dass ein solcher Warenabfluss nur unter der Bedingung geduldet würde, dass auch Wein, der damals im Überfluss vorhanden war, ausgeführt werde. Diesem ausdrücklichen Befehl entsprechend mussten die Händler, um den Minister zu täuschen, eine doppelte List anwenden, was für sie aber kein nennens­ wertes Hindernis war. Und auf folgende Weise machten sie sich ans Werk. Was das Getreide angeht, so spähten sie Märkte aus, auf denen der Preis steigen wür­ de, und ließen die Woche darauf dort geringe, wenig Wert verkörpernde, aber unter gro­ ßem Aufsehen zur Schau gestellte Fuhren ankommen, die spottbilllig verkauft wurden, so dass der Preis für Getreide zu fallen schien und an den Orten, wo es am knappsten war, tatsächlich fiel. Auf den Märkten, wo noch reichlich Getreide vorhanden war, er­ folgte dann ein umso größerer Preisfall. Was nun den Wein angeht, von dem die Händler 20 Vgl. OC, Bd. I, 192–283.

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eine bestimmte Menge exportieren sollten und den man in Flandern hätte teuer bezahlen müssen, so ließen sie Tonnen mit – aus einem Gemenge von indischem Holz und einigen Tropfen Essig – rotgefärbtem Wasser füllen und in aufsehenerregender Weise in den Häfen von Dünkirchen und Ostende abladen. Nach der Abreise ließen die Händler die Tonnen ins Meer werfen. Und das alles taten sehr angesehene Firmen. – Hoppla! So war der Regierung sowohl bezüglich des Getreides wie des Weines, also in dop­ pelter Richtung, übel mitgespielt worden. Sie glaubte, eine große Menge Wein und we­ nig Getreide würden ausgeführt. Ganz im Gegenteil aber exportierte man viel Getreide, da man so wendig war, einen Preisverfall auszulösen, und man exportierte rotgefärbtes Wasser statt Wein. Die Regierung war also auch dieses Mal von den Händlern zum Nar­ ren gehalten worden, wie es immer der Fall sein wird, solange sie die Händler nicht einem System, das ihre Ärgernis erregende Freiheit einschränkt, unterworfen haben wird. Kein einziger Staatsmann kann sich rühmen, ihrer Hinterlist entgangen zu sein; die Sully21 und Colbert sind Kinder im Kampf gegen die Verschlagenheit der Händler. Glaubt man aber, endlich hinter ihre Schliche gekommen zu sein, so befindet man sich im Irrtum; tagtäglich erfinden sie neue Schliche. Kurz gesagt liegt der �andel mit der ganzen Gesellschaft im Kampf, schädigt er die produktiven Klassen und die Regierun­ gen und entreißt ihnen die gewinnbringendste Tätigkeit, das Vermittlungsgeschäft und die Zwischenhändlergewinne der Industrie, das heißt die natürlichste und am wenigsten belastende Quelle für Steuern. […] Die Händler richten auch ganz unverschuldet Schaden an, wovon ihre maßlose Zu­ nahme zeugt; dadurch werden drei Viertel auf die Rolle von Schmarotzern und Blutsau­ gern beschränkt. Die Konkurrenz bestand schon, als es nur den vierten Teil der heute vorhandenen �ändler gab. Vor dreißig Jahren bestand ein Überfluss an Nahrungsmit­ teln und Kleidung zu annehmbaren Preisen. Nun aber belasten die Händler, deren Zahl viermal so groß wie notwendig ist, den Gesellschaftskörper mit einer Ausgabe von vier Talern statt eines Talers, mit Kosten für vier unproduktive Agenten statt eines einzigen. Darüber hinaus stürzen sich diese Händler, zu zahlreich für eine gegebene Konsumtion und ohne ausreichenden Gewinnertrag, um die Wette in tolle Wucher­ und Hortungs­ spekulationen sowie zum Bankrott führende andere Glücksspiele. Auf alle diese Übel sind sie angewiesen, um Gewinne zu erzielen, die ihnen der Verkauf für Konsumtions­ zwecke, um den sich zahllose Konkurrenten reißen, nicht mehr bietet. So richtet sich die Freiheit der Händler darauf, selbst die ehrlichsten unter ihnen in tolle Geschäfte und in betrügerische Machenschaften zu stürzen. Wie wirkt diese Freiheit erst auf jene, die, wie die Juden, in betrügerischer Absicht Handel treiben, und wie kann man sich auf die Konkurrenz verlassen, dass sie sie zügelt, wenn sich erwiesen hat, dass die Händler sich über alle Gesetze hinwegsetzen, dass sie selbst die Herrscher, deren Zorn sie befürchten müssen, frech betrügen, und wenn der Gesetzgeber nicht einmal den vierten Teil der täglich von den Händlern ausgeheckten Betrügereien vorhersehen kann? Für sie hat die wahre Wissenschaft, die Wissenschaft, der sie ihren Sieg verdanken, nur das Ziel, den Geldschrank auf irgendeine Weise zu füllen. Zur Erreichung dieses 21 Gemeint ist Herzog Maximilian von Sully (1560–1641).

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Ziels wünschen sie nur eines: Man möge ihnen die Freiheit der Betätigung gewähren. In den Ökonomen fanden sie biedere Leute, die diese schlechte Sache verteidigten und ihr zum Siege verhalfen. Der Engländer Smith beweist anhand zahlreicher Gründe, man müsse dem Getreidehandel volle Freiheit gewähren, und dennoch ist jeder, der die Han­ delsschliche auch nur im Geringsten kennt, überzeugt, dass die wucherischen Aufkäu­ fer von Getreide, würden sie nicht den Volkszorn und Plünderungen fürchten, in einem Land größten Getreideüberflusses an einem festgelegten Tag eine �ungersnot auszulö­ sen wüssten. Aha, Ihr Ökonomen seid erlauchte Narren: Die Katze zieht die Kastanien aus dem Feuer, und der Affe frisst sie. – Politische Ökonomie, Wissenschaft der mangels Mut und Arbeit unlösbaren Probleme!22 Die Ergebnisse des Handelssystems, die Räubereien zu Wasser und zu Lande, sind zu schlimme Missstände, als dass man länger an der Notwendigkeit einer Umwälzung der Handelsordnung zweifeln könnte. Die Regierungen ertragen voller Ungeduld das Joch des Handels und sehnen die Dazwischenkunft von Gegenmaßnahmen herbei, denen es gelingen könnte, den Handel ohne Gewaltanwendung zu unterwerfen. Die Philosophie, die so viele Jahrhunderte mit Versuchen der Verwaltungs­ und Religionsreform vertan hat, kann durch die Industriereform eine neue Laufbahn einschlagen und ihre Ehre zu­ rückgewinnen. Die Philosophen müssen ihre Anstrengungen vor allem auf den Handel, den tödlichen Feind der Wahrheit, richten. Seine immer mehr zunehmenden Betrüge­ reien waren uns von der Vorsehung als Anreiz gegeben, damit wir zur Entdeckung der beiden wichtigsten Vorhaben gelangen: zum föderativen Lagerhaus und zur ländlichen Assoziation. Davon ist die gute Ordnung der menschlichen Gesellschaft und die bisher immer für unversöhnlich gehaltene Verschmelzung von Tugend und Liebe zum Reich­ tum abhängig. […] Im Laufe des 18. Jahrhunderts unterstützten die Philosophen noch sehr lange die Unduldsamkeit der Antike gegenüber dem von ihr verachteten Handel. Der Handelsgeist wurde in die Häfen verwiesen und entwickelte sich in den Städten recht wenig. Aber um die Mitte des Jahrhunderts sah man die Händler plötzlich zu Halbgöttern werden. Der Philosophenklüngel stellte sich lautstark an ihre Seite und rühmte sie als seinen Absichten dienliche Instrumente. Voltaire widmete einem Londoner Kaufmann seine Tragödie Zaire und pries dessen Tugenden. Voltaire, der die christliche Religion vernich­ ten wollte, musste sich unbedingt denen anschließen, die von ihr geächtet waren, jenen Händlern, die Jesus Christus mit Ruten geschlagen und ganz offen als Diebe, als Kaufleute und Räuber bezeichnet und denen er vorgeworfen hatte, ihre Gegenwart würde den Tempel in eine Diebesspelunke verwandeln: „Ihr habt meinen Tempel zur Räuberhöhle gemacht!“23 Diese Unbefangenheit des Erlösers beweist, dass die Kaufleute damals nur erst kleine Diebe waren, denen man die volle Wahrheit sagen konnte. In jenem Zeitalter umschmei­ 22 Von den Herausgebern der Manuskripte als Randbemerkung gekennzeichneter Absatz. 23 Im Original sind die Bibelzitate lateinisch angeführt (vendentes et latrones – fecistis eam spelun­ cam latronum).

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chelten die Philosophen den Handel noch nicht. Er eroberte sich ihre Ehrbezeugungen erst, als er den vollen Sieg errungen hatte, so wie die Lieferanten nur dann gelobt wer­ den, wenn sie mit einem glanzvollen Gefolge erscheinen. Erst dann feiern die Redner ihre Tugenden und nutzen ihre gute Tafel aus. Nicht anders verhielt sich die Philosophie gegenüber dem Handelsgeist. Sie lobte ihn erst, als er seinen Gipfel erreicht hatte; vorher hielt sie ihn überhaupt nicht der Aufmerksamkeit wert. Spanien, Portugal, Holland und England übten lange Zeit das Kolonialmonopol aus, ohne dass die Philosophie daran gedacht hätte, diese Länder entweder zu loben oder zu tadeln. Holland wusste ungeheuren Reichtum zu erwerben, ohne bei den Ökonomen Aufklärung zu suchen. Ihre Sekte war noch nicht ins Leben getreten, als die Holländer schon Tonnen voller Gold anhäuften. In jener Zeit waren die Philosophen noch ganz damit beschäftigt, in der schönen Antike herumzuwühlen oder sich in Religionsstreitig­ keiten einzumischen. Am Ende bemerkten sie, dass diese neue Handels­ und Monopolpolitik den Stoff ab­ gab, dicke Bücher zu füllen und einer neuen Clique Ansehen zu verschaffen. Damals war man Zeuge, wie die Philosophie eine Sekte von Ökonomen gebar, die trotz ihres späten Beginns schon viele Bände wohlgefällig angehäuft hat und erwarten lässt, dass die Zahl ihrer Bände der ihrer Vorgänger gleichkommen wird. Wie bei spitzfindigen Denkern allgemein üblich, haben auch diese Neuankömmlinge den Wissensstoff weitgehend verwirrt, um dem Meinungsstreit Nahrung zu geben und auf Kosten Neugieriger zu leben. Man kann zu Recht sagen, dass die Ökonomen nicht nur keine Entdeckung gemacht haben, sondern noch gar nicht wissen, was sie eigentlich abhandeln; denn sie räumen ein, dass ihre Wissenschaft für die wichtigsten Fragen, wie die Frage nach der Bestimmung der Grenzen des Bevölkerungswachstums, noch keine exakten Grundsätze entwickelt hat. Weder weist sie also ein exaktes Ziel noch exakte Ergebnisse auf. Infolgedessen ist nicht einzusehen, wozu sie dienen soll, aber das inter­ essiert die Autoren kaum, ihre Bücher lassen sich verkaufen, sie haben ihr Ziel erreicht. Man könnte die Ökonomen fragen, ob sie die Absicht haben, politische Geißeln wie das Anwachsen der Steuern, die in der Rechtsverdrehung liegende widerrechtliche An­ maßung, die Verstärkung der Armeen, die Zunahme von Bankrotten und Betrügereien usw. zu vermindern, denn niemals zuvor nahmen all diese Geißeln so rasch zu wie seit dem Aufkommen der ökonomischen Theorien. Wäre es nicht besser gewesen, die Wis­ senschaft und auch das Unheil hätten weniger rasche Fortschritte gemacht? In Frankreich hatte sich eine vernünftig denkende Sekte, die Richtung Quesnays, entwickelt. Sie wollte den ganzen Industriemechanismus den Erfordernissen der Land­ wirtschaft unterordnen. Indes zog Quesnay die Manufakturen, die vom Handel gut un­ terschieden werden müssen, zu wenig in Betracht. Diese treten zu jenem in vielfältige Beziehungen und üben eine gemischte Funktion aus. Was ihre produktive Seite angeht, so verdient sie Schutz, und was ihre kommerzielle Seite betrifft, ist sie zu unterdrücken. Quesnay vernachlässigte diesen Unterschied und nahm wie alle Systematiker übertriebe­ ne Auffassungen an. Trotzdem war er auf dem richtigen Weg, da er darauf abzielte, den Handel der Landwirtschaft unterzuordnen. Seine Lehre scheiterte; die Lehre der Eng­ länder herrschte vor, und die Lehren Quesnays gerieten, ohne dass man daran gedacht

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hätte, sie weiterzuentwickeln oder abzuwandeln, in Vergessenheit. So hatten die armen Philosophen eine unglückliche Hand. Haben sie auch hin und wieder das Wohlergehen im Blickfeld, so führen doch irgendwelche unglückseligen Umstände sie schnurstracks auf den Weg des Übels, und noch sind sie ebenso richtungslos wie ihr Vorfahre Pytha­ goras, der sowohl die Theorie von Kopernikus wie die von Newton vorausahnte; schon hatte er die Hand darauf gelegt, aber dann vernachlässigte er beide, um Trugbildern nachzuhängen. Nicht anders machten es die Ökonomen. Die Ökonomen sind sehr ungeschickte Schmeichler. Ihr geheimes Ziel ist, wie man weiß, den Männern der Finanz dadurch den Hof zu machen, dass sie leicht zu erhe­ bende neue Steuern erfinden. Natürlich hüten sie sich, solche Gesichtspunkte öffentlich bekanntzugeben. Auch sie tragen wie die anderen philosophischen Sekten eine Maske oder geben zum Schein ein Ziel wie die Suche nach der Wahrheit an, aber sie suchen, offen gesagt, Vertrauen zu neuen Steuersystemen zu erwecken, um für sich selbst ir­ gendeine Beschäftigung im Finanzwesen zu erlangen. Würden sie die Lehre Quesnays von der Unterordnung des Handels teilen, so würden sie geradewegs zur Naturalsteuer gelangen. Darin hätte die größte Zuvorkommenheit den Herrschern wie den Völkern gegenüber gelegen. Sie verfehlten dazu indes die Gelegenheit, indem sie sich der Partei der Händler anschlossen; sie aber hat für sie ebenso wie die Herrscher nur Verachtung übrig. Überläufer stehen bei jedermann in schlechtem Ansehen und nehmen gemeinhin ein schlechtes Ende. Nun sehe ich in den Ökonomen nur Überläufer von der Philosophie, denn ihre übrigen Sparten bekunden dem Handel Verachtung. Insofern achten sie allen Völkern angeborene Vorstellungen, denn es liegt nicht in der Natur des Menschen, die Lüge, und auch nicht den Handel, der nur eine legale Ausübung der Lüge und der Arglist darstellt, zu schätzen. Der Handel erwächst lediglich hinterlistigem oder bösartigem Vorgehen. Es wäre ein schwerer Irrtum, Übel innerhalb des Handels unterscheiden zu wollen, indem der Ban­ krott, die Spekulation, der Hortungskauf, der Wucher, der Schleichhandel, das Monopol usw. zu Übeln des Handels erklärt würden. Sie bilden keine besonderen Übel, sondern wesentliche Elemente des Handels. Die Zweige eines giftigen Stammes müssen ebenso giftig sein wie der sie nährende Stamm. Die uns vergiftende Euphorbe ist zweifellos ein besonders giftiger Baum, aber von seinen Zweigen lässt sich Gleiches nicht sagen, im Gegenteil, ein giftiger Zweig der Euphorbe wäre jener, der so schwache Säfte hätte, dass der Mensch nicht vergiftet werden könnte, und ebenso wären die giftigen Zweige des Handelsmechanismus jene, in denen man keinen Betrügerei und Bösartigkeit erzeugen­ den Keim finden würde. Die aber gibt es nicht. Die Untersuchung des �andels ergibt 41 Wesenszüge, von denen allein fünf weniger verderbt als die anderen sind. Aus diesem Grunde habe ich 36 verbrecherische Charakterzüge und fünf Abwandlungen – oder der Ordnung der Wahrhaftigkeit entliehene und durch die Verbindung zum Handel zur Fäul­ nis neigende Züge – unterschieden. Dazu gehört die Hinterlegung, ein Verfahren aus der Ordnung der Wahrhaftigkeit, das aber, in den Handel eingeführt, durch vielfältige Betrügereien in gleicher Weise von Fäulnis befallen wird wie eine gesunde Frucht durch die Berührung mit einer verdorbe­ nen. Kurz und gut, das ganze System des freien Handels setzt sich nur zusammen und

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kann sich auch nur zusammensetzen aus lügnerischen und bösartigen Zügen, und wenn man die moderne Philosophie jenen Handel genannten politischen Kehricht, jene Kloake der Falschheiten plötzlich liebgewinnen sieht, fällt es schwer zu entscheiden, ob in die­ ser Wissenschaft die Dummheit die Verderbtheit übertrifft oder umgekehrt. *** Beenden wir die Untersuchung der arglistigen Manöver, welche die Philosophie kom­ merzialisiert und veranlasst haben, bezüglich der Handelsskandale „Schwamm drüber“ zu sagen und unter die Fahne der Lüge zu treten. Weisen wir noch auf die Gründe für diese Schamlosigkeit hin und wenden wir die analytische Methode, deren Anwendung diese Wissenschaftler uns empfehlen, auf ihr eigenes Verhalten an. Zunächst verführte sie der Anreiz, eine neue Sekte zu gründen. Sie ahnten nicht die Folgen, sie glaubten, bedeutungslose Cliquen wie die der stoischen und der aristoteli­ schen Schule zu bilden, sie sahen nicht den Abgrund des Monopols, in den sie die Indus­ trie stürzen würden. Dabei hatte das Beispiel von Tyros und von Karthago gezeigt, dass die Macht des Handels eines Tages die Macht der Landwirtschaft würde beherrschen können, aber der Fall war nicht eingetreten, also konnte er niemals eintreffen. Nach dieser Urteilsregel richtet sich die Philosophie. Sie sieht die Bewegung der Gesellschaft in rückläufigem Sinne. Daher verkörpert sich in künftigen Generationen nur die Politik der Zivilisation mit verkehrt aufgesetztem, rückwärts blickendem Kopf. Wenn die un­ entwegt auf die Vergangenheit starrende Politik wenigstens bestimmte Lehren aus ihr ziehen würde! Aber die Geschichte belehrt weder Gruppen noch Individuen, und die Zivilisation scheint, trotz ihrer so lange angesammelten Erfahrung, mehr Unklugheit zu entwickeln; das wird dadurch bewiesen, dass alle Mächte darin übereinstimmen, sich schützend vor die Ketten des Handels zu stellen. Die Philosophen sahen diese Falle nicht voraus. Als sie sich zum Lob des Handels entschlossen, zogen sie nur das Goldgewicht zu Rate. Die ungeheure und rasche Ent­ wicklung der Handelsvermögen und die damit verbundene Unabhängigkeit begünstigt die Entwicklung des Ehrgeizes; die niederträchtige Winkelzüge verdeckende Miene hochtrabender Spekulation – übrigens kann der letzte Tölpel sich nach einem Monat sol­ che Winkelzüge ausdenken und sie durchführen –, schließlich der von den Spekulanten getriebene Aufwand, worin sie mit den Großen des Staates wetteifern und die Politik mittels der Beherrschung der Verkehrswege und des öffentlichen Dienstes beeinflussen; dieser ganze Glanz blendete die Gelehrten und forderte ihnen viele Mühen und Ränke ab, ehe sie einen Taler verdienen und irgendeinen Schutz erhalten konnten. Der Anblick der Plutusse des Handels ließ sie zwischen Katzbuckelei und Kritik zaudern. Schließlich senkte sich die Waage zugunsten des Goldgewichtes, und sie wurden endgültig zu höchst bescheidenen Dienern der Händler, zu Bewunderern der Spielhölle der Börse und dieser Ränkeschmiede, die, Wissend als ganzes Geheimnis Fünf und vier sind neun, zwei weg, bleibt sieben,

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mit einer derartigen Wissenschaft dahin gelangen, in acht Jahren 30 Millionen zu gewin­ nen und in Städten, in die sie in Holzpantinen gekommen waren, Paläste zu erwerben. In den Hauptstädten sieht man sie neben Gelehrten, die das Elend auffrisst, einen glanz­ vollen Lebenswandel führen. Ein zum Salon eines Spekulanten zugelassener Philosoph nimmt zwischen einem �öfling und einem Gesandten am Tisch Platz. Wofür soll man in solchem Fall Partei ergreifen, wenn nicht dafür, die Heiligen des Tages zu loben? Denn in der Zivilisation macht man seinen Weg nicht mit der Wahrheit, und so kommt es, dass die Philosophen trotz ihres gegen den Handel genährten Hasses dennoch vor dem golde­ nen Kalb niederknien und die Feder nicht in die Hand zu nehmen wagen, ohne das Lob des gewaltigen Handels und der Handelsgewalt erklingen zu lassen, und das, obwohl sie den Handel insgeheim ebenso verachten, wie der Handel sie verachtet.

8. Freiheit1

Ich habe soeben zwölf Grundsätze aufgestellt, die es bei der Untersuchung der sozia­ len Bestimmung des Menschen zu beachten gilt.2 Sie sind nicht neu, und keiner dieser zwölf Grundsätze stammt von mir. Es sind die Waffen der Philosophen, derer ich mich bemächtigt habe. Bleibt die Frage, wie es diesen Sophisten gelungen ist, trotz so hervor­ ragender Lotsen ihre Schiffe gegen alle Klippen zu steuern, sodass sie nur zu den sieben limbischen Plagen gelangt sind.3 Bei der Untersuchung ihrer Verirrungen müssen wir, gemäß unserer Übersicht,4 zunächst jene Fehler ins Auge fassen, die für die nächstliegende Periode von Bedeutung sind, für die sechste, den Garantismus, der unmittelbar auf die fünfte Periode, die Zivilisation, folgt. Naturgemäß richtet jede soziale Periode ihre Aufmerksamkeit auf diejenigen Fragen, deren Lösung sie auf die nächsthöhere Stufe erheben. Daher spielt in der Zivilisation die landwirtschaftliche Assoziation, welche für die siebte Periode charakteristisch ist, kaum eine Rolle. Hingegen widmet sich die Zivilisation sehr aktiv den beiden zentralen Elementen der sechsten Stufe, den Systemen des Handels und der Freiheit. Sie sind ge­ genwärtig die beiden Schlachtrosse der Philosophie. Die Philosophie will uns zum freien �andelsverkehr führen, und wir finden uns beim Seehandelsmonopol wieder. Sie will uns zur Meinungsfreiheit führen und heraus kommt ein Reich, in dem es von Denunzian­ ten und Schafotten wimmelt. Selbst wenn wir also davon ausgehen, dass die Philosophie

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Aus: OC, Bd. III, 151–163. Aus dem Französischen von A. Fliedner. Fourier bezieht sich auf die „Première Notice“ in OC, Bd. III, 109–150. Fourier unterscheidet zischen sieben speziellen und zwei allgemeinen „limbischen Plagen“ (fleaux lymbiques). Jene sind: 1. Armut, 2. Betrügerei, 3. Unterdrückung, 4. Gemetzel, 5. außergewöhnli­ che Wetterunbilden, 6. provozierte Krankheiten und 7. ein fehlerhafter gesellschaftlicher Kreislauf. Als allgemeine limbische Plagen gelten Fourier der „allgemeine Egoismus“ und die „Duplizität der gesellschaftlichen Tätigkeit“. Vgl. hierzu OC, Bd. III, 51. Das Substativ „limbe“, von dem das Adjektiv „limbique“ (limbisch) abgeleitet ist, bezeichnet u. a. in der Astronomie den Rand eines Himmelskörpers, z. B. der Sonne oder des Mondes (von lat. limbus: Rand, Saum). Zugleich steht der französische Plural „limbes“ bzw. das lateinische „limbus“ in der christlichen Theologie für jenen Randbereich der Hölle, in dem sich die Verstorbenen aufhalten, die ohne eigene Schuld vom Paradies ausgeschlossen sind – z. B. die ungetauft verstorbenen Kinder. (A. d. Ü.) Fouriers Übersicht über die erste Phase der sozialen Bewegung findet sich am Ende des vorliegen­ den Kapitels.

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ehrlich und guten Willens ist, dann ist sie, angesichts ihrer ans Wunderbare grenzenden Orientierungslosigkeit, zumindest ein ziemlich unzuverlässiger Führer. Ich habe weiter oben diejenigen getadelt, die einen am Boden Liegenden treten, und ich will es ihnen nicht gleichtun. Mag die Philosophie auch in Ungnade gefallen sein, so werde ich sie, wenn wir uns jetzt ihren Sophismen über die Freiheit zuwenden, mit dersel­ ben Behutsamkeit behandeln, als wenn sie, wie 1789, auf dem Gipfel ihrer Macht stünde. Die mit der Freiheit zusammenhängenden Fragen lassen sich auf wenigen Seiten aufklären, auch wenn man bis heute auf vielen tausenden versucht hat, den Gegenstand zu verdunkeln. Ich werde ihm nicht mehr als drei Kapitel widmen. Nach Gesundheit und Vermögen ist nichts kostbarer als die Freiheit, wobei man die körperliche von der sozialen Freiheit unterscheiden muss. Die soziale Freiheit ist eine grundlegend andere als die, die uns die Sophisten gewähren wollen. Entsprechend ihrer Gewohnheit, die gesamte Natur als ein einfaches System zu begrei­ fen, haben sie die Manie des Simplismus in die Debatte getragen und waren daher nicht in der Lage, die einfache von der zusammengesetzten und der mehrfach zusammengesetzten Freiheit zu unterscheiden. Mehr als tausend Jahre lang haben sie die erste der Freiheiten, die materielle oder körperliche Freiheit geleugnet. Erst die christliche Religion ist nach­ drücklich für die Befreiung der Sklaven eingetreten. In den Augen der antiken Philan­ thropen stand der Mensch auf derselben Stufe wie die Lasttiere, ja sogar noch darunter, wenn sie 20.000 Sklaven zwangen, sich in einer nachgestellten Seeschlacht gegenseitig umzubringen. Das geschah allein zur Unterhaltung der tugendhaften Bürger Roms, die, wenn 20.000, die man en gros niedermetzeln konnte, fehlten, auch mit 200 Mann vorlieb­ nahmen, die sie einen nach dem anderen in den Gladiatorenkämpfen massakrieren ließen. Eine ähnliche Großtat hatten zuvor schon die tugendhaften Bürger Spartas in zivilisierterer Weise vollbracht. Dort versammelte man 2.000 der treuesten Sklaven, führte sie blumen­ bekränzt durch die Stadt und erwürgte sie dann, um die Anzahl der Sklaven zu verringern. Man entledigte sich der treuesten Sklaven, weil man es nicht wagte, sie auf den Galeeren zu zerfleischen. Diesen noblen Standpunkt nahm die Philosophie tausend Jahre lang zur Frage der materiellen Freiheit ein. Jeder gute Republikaner applaudierte diesen Gemetzeln, und ohne die christliche Religion hätte sich daran vielleicht bis heute nichts geändert. Hätte man die führenden Weisen, Platon, Aristoteles und ihresgleichen, zur Befrei­ ung der Sklaven befragt, hätten sie mit jenem großen Wort geantwortet, dessen Erbschaft Frankreich angetreten hat: ein Ding der Unmöglichkeit. Der aufgeklärte Aristoteles war so sehr davon überzeugt, dass es sich bei Sklaven um Lasttiere handelte, um Leute, die nicht zur Menschheit gehörten, dass er den Sklaven die Tugend prinzipiell absprach. Er wollte sie zu wilden Tieren machen, die vom Gebrauch des Verstandes und sogar der Tugend ausgeschlossen sind. Er verschwendete mithin keinerlei Gedanken an die phil­ anthropische Frage, wie die Befreiung der Sklaven zu bewerkstelligen sei, die sich doch im konkreten Fall als möglich gezeigt hatte, da sie im ganzen westlichen Europa und an anderen Orten praktiziert wurde. Es geht uns hier noch um eine einfache, ja primitive Art von Freiheit, da es sich nur um die körperliche und nicht um die soziale Freiheit handelt, von der wir erst weiter unten sprechen werden.

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Nachdem sie unter den letzten römischen Kaisern gesehen hatten, dass jene körperli­ che Freiheit, die man so lange für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten hatte, sehr wohl möglich war, hätten die Philosophen einsehen müssen, wie sehr sie mit ihrem Vorurteil der Unmöglichkeit und ihrer Gewohnheit zu glauben, dass die Natur auf die uns bekannte Ordnung beschränkt ist, im Irrtum waren. Sie haben aus dieser Lektion jedoch nichts gelernt. Dass sie nicht daran gedacht haben, die Vorgänge, die zu diesem Wandel führten, zu analysieren und zu überliefern, zeigt, dass ihnen die Freiheit insgeheim gleichgültig ist. Man hat von ihr einige oberflächliche Vorstellungen, die jedoch in der Praxis völlig unzulänglich sind. Daher ist in unseren Tagen die körperliche Befreiung der Neger ge­ scheitert. Die Philosophie hat sich im Jahre 1789 daran versucht. Anstatt sich aber nach praktikablen Methoden umzusehen, hat sie nur auf den Parteiengeist und nicht auf kluge Menschenliebe gesetzt. Auf diese Weise hat sie St. Domingo unter dem banalen Vor­ wand der Freiheit in ein Schlachthaus verwandelt. Das alles zeigt, dass sie weder begriffen hat, was die körperliche oder materielle Frei­ heit bedeutet, noch wie sie verwirklicht werden kann, sei es auf einen Schlag, sei es Schritt für Schritt. Wiederholen wir diese schwerwiegende Anklage: Nachdem sie die körperliche Befreiung des Menschen tausend Jahre lang für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten hat, ist es ihr nicht gelungen, die Methoden herauszufinden und zu überliefern, durch die man ohne Blutvergießen und politische Erschütterung diese Befreiung in die Tat umsetzen kann. Hat die Philosophie im Hinblick auf die soziale Freiheit mehr Geschick bewiesen? Diese Frage führt uns dazu, drei Gattungen von Freiheit zu unterscheiden, die sich wie­ derum in verschiedene Arten unterteilen. Um nun den Leser nicht mit didaktischen Ein­ zelheiten zu langweilen, werde ich auf diese verschiedenen Arten nur insoweit eingehen, als es sich aus unserer Betrachtung ergibt. Beschränken wir uns also zunächst auf die drei Gattungen der Freiheit. 1. Einfache oder körperliche Freiheit ohne soziale Freiheit. Sie ist das Los des Ar­ men, der ein sehr kleines Einkommen hat, die knappste Ration. Er genießt eine aktive körperliche Freiheit, da er im Gegensatz zum völlig mittellosen Arbeiter nicht zur Arbeit gezwungen ist. Allerdings ist es ihm in keiner Weise möglich, seine Leidenschaften zu entfalten. Phebon hat die Freiheit in die Oper zu gehen. Doch der Eintritt kostet einen Ecu. Nun hat Phebon gerade genug, um zu essen und sich dürftig zu kleiden. Er hat die Freiheit, sich um das Amt eines Deputierten zu bewerben. Doch dafür bräuchte man gute Einkünfte, die er nicht hat. Mit all seinem Stolz, ein freier Mensch zu sein, bleibt die tatsächliche soziale Freiheit für ihn nur ein Traum. Die Türen des Restaurants und der Oper bleiben ihm verschlossen und erst recht die Tür der Deputiertenkammer. Er ist ein bloß passives Mitglied der Gesellschaft. Seine Leidenschaften können sich nirgends aktiv entfalten. Für seine Meinung interessiert sich niemand. Indessen hat er noch größere Freiheit als der Arbeiter, der arbeiten muss, um nicht hungers zu sterben, und der nur an einem Tag der Woche aktive körperliche Freiheit genießt, am Sonntag. An allen anderen Wochentagen befindet sich der Arbeiter im Zu­ stand passiver körperlicher Freiheit. Die Werkstatt ist für ihn eine verabredete, indirekte Sklaverei, die, verglichen mit dem Müßiggang und dem Wohlleben des Sonntags, auch eine körperliche Qual ist.

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Auf die gleiche Weise können wir zwischen aktiver und passiver sozialer Freiheit unterscheiden. Beschränken wir uns auf den Hinweis, dass die soziale Freiheit für die beiden vorgenannten Klassen von Menschen nicht existiert. Sie verfügen nur über die einfache oder körperliche Freiheit, die beim kleinen Rentier aktiv und beim Arbeiter pas­ siv ist, wobei das Los des Letzteren schon weniger unglücklich ist als das des Sklaven, der weder aktive noch passive körperliche Freiheit genießt. 2. Divergente zusammengesetzte Freiheit. Sie umfasst die aktive körperliche und aktive soziale Freiheit, die volle Entfaltung der Leidenschaften. Dies ist der Zustand der Wildheit. Ein Wilder genießt beide Freiheiten. Er entscheidet über Krieg und Frieden wie bei uns ein Minister mit Portefeuille. Er kann, soweit dies innerhalb seiner Horde möglich ist, seine seelischen Leidenschaften vollständig entfalten. Er genießt vor allem Sorgenfreiheit, ein Zustand, der dem Zivilisierten vollkommen fremd ist. Er muss zwar jagen und fischen, um zu überleben, doch diese für ihn anziehende Arbeit schränkt in keiner Weise seine aktive körperliche Freiheit ein. Eine Arbeit, die Freude bereitet, ist keine Knechtschaft, wie es die Landarbeit für den Wilden wäre. Die Jagd ist für ihn ebenso ein Vergnügen, wie die Tätigkeit des Verkaufens für den Händler. Glaubt irgend­ jemand, dass ein �ändler es als körperliche Qual empfindet, wenn er im Laufe seines Vormittags hundert Stück Stoff auf der Ladentheke ausbreitet, unzählige Lügen an den Mann bringt und eine Menge Hosen verkauft? Für ihn ist diese Mühe Vergnügen, an­ ziehende Arbeit, körperliche Freiheit. Was dadurch bewiesen wird, dass unser Händler, der heute mit sich und der Welt äußerst zufrieden ist, morgen verdrießlich und mürrisch sein wird, wenn kein Käufer seinen Laden betritt und er keine Gelegenheit hat, Lügen zu erzählen oder Hosen zu verkaufen. Wir haben gesehen, dass die Freiheit des Wilden zusammengesetzt ist, weil sie zu­ gleich körperlich aktiv und sozial aktiv ist. Doch diese beiden Arten der Aktivität sind divergent, da sie der Bestimmung des Menschen zur produktiven Arbeit zuwiderlaufen. Um den Wilden auf die Stufe der konvergenten aktiven Freiheiten zu erheben, müsste man ihm die Möglichkeit zur anziehenden produktiven Arbeit geben, jener Arbeit, die in Leidenschaftsserien ausgeübt wird. Dann hätte er die dritte Stufe der Freiheit erreicht. 3. Konvergente zusammengesetzte Freiheit oder mehrfach zusammengesetzte Freiheit. Sie umfasst die aktive körperliche Freiheit und die aktive soziale Freiheit verbunden mit der anziehenden produktiven Industrie. Sie bedarf der einheitlichen Zustimmung aller, des individuellen Einverständnisses jedes Einzelnen, ob Mann, Frau oder Kind, ihres leidenschaftlichen Zusammenschlusses bei der industriellen Arbeit und für die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Diese dritte Art von Freiheit ist die Bestimmung des Menschen. Die Freiheit, die der Wilde genießt, gehört somit zur falschen oder einfachen Natur, da sie von der Bestimmung des Menschen abweicht. Dies ist eine wichtige Erkenntnis, um den Anhängern der einfachen Natur, die in keiner Weise die Bestimmung des Men­ schen ist, ihre Illusionen zu nehmen. Die Zivilisation ist jedoch noch weiter von der zu­ sammengesetzten Natur entfernt, da in ihr die Freiheiten, so wie ich sie bestimmt habe, nirgendwo in der Verbindung

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}

konvergent

vorkommen. Diejenigen, die in unserer Gesellschaftsordnung diese beiden Freiheiten genießen, tendieren immer dazu, sie in divergenter Form, anders gesagt: in Form der Rebellion gegen die produktive Industrie, zu entfalten. Sie neigen stets zum Müßiggang, oft sogar zur Zerstörungswut. Ein Beispiel hierfür geben die Kinder, die alles zerbrechen und ver­ wüsten, sobald man ihnen aktive körperliche Freiheit lässt und sie unbemerkt Schaden anrichten können. Diese Unterscheidungen im Hinblick auf die Freiheit mögen kleinkrämerisch er­ scheinen. Doch ist es nach so viel Blutvergießen im Namen einer falschen Freiheit nicht höchste Zeit, die wahre Freiheit, das heißt die zusammengesetzte konvergente Freiheit kennenzulernen, die allerdings innerhalb der Zivilisation unmöglich zu verwirklichen ist, da sie allgemeine Zustimmung zur industriellen Ordnung voraussetzt, während sich bei uns das Volk ständig in einem Zustand latenten Aufruhrs befindet, der nur durch Schergen und Galgen im Zaum gehalten wird? Es gibt in der Zivilisation durchaus eine Reihe von Anhängern der bestehenden Ord­ nung oder von Menschen, die zumindest mit ihr einverstanden sind. Doch beschränkt sich ihre Anzahl auf etwa ein Achtel der Gesamtbevölkerung, während sieben Achtel zu den Unzufriedenen gehören. Einige sind nur halbherzig unzufrieden und haben nicht die Absicht, sich gegen die Verhältnisse aufzulehnen. Doch die überwältigende Mehrheit, die aus Lohnarbeitern und kleinen Leuten besteht, würde sich sofort erheben, wenn die Furcht vor Strafe sie nicht zurückhalten würde. Die Masse der Armen verfügt mithin nur über die einfache oder körperliche Freiheit. Ihre industrielle Arbeit ist eine indirekte Sklaverei, eine Qual, von der sie sich befreien will. Wenden wir uns nun jenem Teil der Zivilisierten zu, der aus Bürgern, Handwerkern und Kleineigentümern besteht. Eine große Mehrheit von ihnen ist mit der bestehenden Ordnung unzufrieden und verlangt nach Änderungen, nach der Gewährung bestimmter Rechte. Diese Mehrheit genießt somit keine aktive soziale Freiheit, oder besser gesagt, sie genießt diese nur zur Hälfte, da sie mit der sozialen Ordnung nicht einverstanden ist. Ihre Freiheit ist nur eine divergente zusammengesetzte, denn diesen Bürgern und Hand­ werkern fehlen die Übereinstimmung und das leidenschaftliche Einverständnis mit der bestehenden Ordnung. Bleibt eine sehr kleine Minderheit, die mit dem zivilisierten Staat, so wie er organi­ siert ist, einverstanden ist. Diese Minderheit besteht aus Müßiggängern, die keiner pro­ duktiven Arbeit nachgehen, oder einigen wenigen Privilegierten, welche die lukrativen Stellungen an sich gerissen haben. Sie genießen eine semikonvergente zusammenge­ setzte Freiheit, doch ist ihre Zahl sehr gering und darüber hinaus stehen sie der Industrie feindlich gegenüber, verlangen eine Vielzahl von Änderungen in der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung und haben für die Zukunft keine Garantien ihres gegenwärtigen Glücks.

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Es gibt daher nur sehr wenige Zivilisierte, die auch nur annähernd eine echte – kon­ vergente zusammengesetzte – Freiheit genießen. Es lässt sich sogar unschwer beweisen, dass keiner von ihnen diese Freiheit wirklich vollständig erlangt hat und dass selbst die Monarchen und Minister sehr weit von ihr entfernt sind, während dem Volk und der armen Klasse ausschließlich die einfache oder körperliche Freiheit bleibt, wobei selbst diese noch eingeschränkt wird von Konskriptionen, Dienstbarkeit und der Un­ terdrückung der Frauen und Kinder, die nicht einmal vollständig über die körperlichen Freiheiten verfügen. Was die politische oder soziale Freiheit angeht, so wird diese der gesamten armen Klasse vollständig vorenthalten, die keine andere Wahl hat, als sich zu Lohnarbeiten zu verdingen, die die Seele ebenso wie den Körper in Fesseln schlagen. Ein Angestellter, der andere Ansichten vertritt als sein Vorgesetzter, wird entlassen und findet sich ohne Arbeit wieder. Er genießt mithin keine aktive soziale Freiheit, nicht einmal das Recht der freien Meinungsäußerung und des gesunden Menschenverstandes. Überall, wo der Arme es wagt, dem Reichen zu widersprechen, wird er hinausgeworfen, mögen seine Ansichten auch noch so richtig sein, und es ergeht ihm wie dem Esel in der Fabel, der mit seinem Leben für die Missetaten des Löwen bezahlt. Kann man angesichts solcher Zustände von sozialer Freiheit sprechen? Nein, da sie auf jene kleine Minderheit beschränkt ist, die alle Reichtümer besitzt, wobei selbst noch viele Reiche keine Meinungsfreiheit haben. Im Zustand der Wildheit gibt es diese Art der Unterdrückung nicht. Dort genießt der Mensch auch ohne den Schutz des Reichtums vollständige Meinungsfreiheit und darü­ ber hinaus eine beträchtliche Anzahl anderer Freiheiten, die einem Bürger in der Zivili­ sation vorenthalten werden, wie die Freiheiten der Jagd und des Fischfangs. Der Wilde übt sieben Rechte aus: Jagd, Fischfang, Sammeln von Früchten, Weiderecht, Außenraub, föderaler Zusammenschluss, Sorgenfreiheit. Diese Rechte konstituieren die divergente zusammengesetzte Freiheit, die es mit der großen sozietären Industrie in Übereinstim­ mung zu bringen gilt. Solange dies nicht gelungen ist, kann sich die Menschheit nicht als frei bezeichnen. Sie muss in der industriellen Arbeit diejenigen Rechte verwirklichen, die ihr im Zustand der Wildheit gewiss sind. Diese Rechte dürfen nur dann eingeschränkt werden, wenn im Gegenzug ein individuell gebilligter Ersatz gewährt wird. Wenn also die Zivilisation für sich in Anspruch nimmt, die Freiheit mit der industri­ ellen Arbeitsweise zu verbinden, so muss sie uns einen gebilligten Ersatz für diese sie­ ben Rechte garantieren. Einen Ersatz, der real genug ist, damit der Wilde, der die sieben Rechte ausübt, sich uns anschließt und die industrielle Arbeitsweise übernimmt. Diese Bedingung hätte eine philosophische Theorie der Freiheit erfüllen müssen. Die Philosophen haben geahnt, dass man dem Menschen eine Entschädigung für die sieben natürlichen Freiheitsrechte anbieten muss. Was aber haben sie ihm versprochen? Zwei Hirngespinste, die mit der Freiheit unvereinbar sind: die Gleichheit und die Brüderlich­ keit, die bei den Wilden möglich sind, keinesfalls jedoch bei den gesitteten Nationen. Welche Folgen hatte diese monströse Verquickung daher bei uns! Eine Brüderlichkeit, deren Vertreter sich gegenseitig aufs Schafott schicken, und eine Gleichheit, in der das Volk, dem man den klingenden Titel Souverän anheftet, weder Arbeit noch Brot hat, sein

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Leben für fünf Sous Tagelohn verkaufen muss und in Ketten zur Schlachtbank gezerrt wird. Das waren die Folgen jenes Regimes, das Gleichheit und Brüderlichkeit mit einem Gespenst von Freiheit verband. Wie konnten die Philosophen beim Anblick dieses mons­ trösen Ergebnisses ihrer Lehren nur zögern, Buße zu tun, abzuschwören und zu verkün­ den, dass man entweder der Freiheit entsagen oder die Wege zu ihr mittels einer anderen Wissenschaft als der Philosophie suchen müsse, in einer anderen Gesellschaft als der Zivilisation! Ich werde eine Theorie der mehrfach zusammengesetzten Freiheit vorlegen, die den industriellen Gesellschaften Rechte garantiert, die den sieben Rechten des Wilden gleich­ wertig, ja überlegen sind und die darüber hinaus die reale Ausübung dieser Rechte garan­ tiert, in leidenschaftlicher, einstimmiger und dauerhafter Übereinstimmung beschlossen von allen Individuen aller drei Geschlechter: Männern, Frauen und Kindern. Ob diese Rechte gleichwertig sind, kann nur die Zustimmung des Wilden zeigen. Er genießt bereits die divergente zusammengesetzte Freiheit und wird sich nur dann über­ zeugen lassen, eine industrielle Arbeitsweise anzunehmen, wenn sie ihm tatsächlich und garantiert ein besseres Los beschert. Die Beschreibung dieser industriellen Arbeitsweise erfolgt in der Abhandlung über die Leidenschaftsserien5 oder die konvergente zusam­ mengesetzte Freiheit, die, statt an Gleichheit und Brüderlichkeit geknüpft zu sein, viel­ mehr auf äußerster Ungleichheit und abgestuften Gegensätzen und Rivalitäten beruht. Greifen wir zu diesem Gegenstand einige Sätze unserer Definition der Leidenschafts­ serien wieder auf und betonen wir, wie sehr diese in höchstem Maße freie Ordnung den philosophischen Spekulationen über die Freiheit widerspricht. Nirgendwo findet man weniger Brüderlichkeit und weniger Gleichheit als in den Gruppen einer Leidenschaftsserie. Um sie im richtigen Gleichgewicht zu halten, müs­ sen in ihr Menschen mit ganz unterschiedlichem Vermögen, Verstand, Charakter usw. versammelt und vereinigt sein, vom Millionär bis zum gänzlich Vermögenslosen, vom Hitzkopf bis zum Friedfertigen, vom Gelehrten bis zum Dummkopf, vom Greis bis zum Jugendlichen. Dieses Gemisch ist das Gegenteil von Gleichheit. Weiterhin zeichnet sich die Leidenschaftsserie dadurch aus, dass zwischen ihren Gruppen unversöhnliche Rivalität herrscht, dass diese Gruppen gegenseitig die gering­ fügigsten Details ihrer Tätigkeit schonungslos kritisieren, dass sie nach unvereinbaren Zielen streben und zwischen ihnen nicht die mindeste Brüderlichkeit herrscht, sondern dass sie im Gegenteil Spaltungen, Eifersüchteleien und Intrigen aller Art ins Werk set­ zen. Eine solche Ordnung wird ebenso weit entfernt von der Brüderlichkeit wie von der Gleichheit sein, und doch wird aus diesem Mechanismus die mehrfach zusammenge­ setzte Freiheit entstehen, die in vollständigem Gegensatz zu den Lehren der Philosophie steht. Die Philosophie gebietet die Verachtung des trügerischen Reichtums und predigt den regellosen Handel, das heißt die Freiheit zum Betrug. Die sozietäre Ordnung oder mehr­ fach zusammengesetzte Freiheit fordert hingegen die Liebe zum Reichtum und zu einem 5

Vgl. hierzu Kapitel 3 des vorliegenden Bandes.

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ungeheuren Luxus, die Ausrottung des lügnerischen �andels und die Garantie der Ehr­ lichkeit auf allen Märkten. In der philosophischen oder zivilisierten Gesellschaftsordnung führt die Lüge zum Reichtum und die Ehrlichkeit zum Ruin. In der sozietären Gesellschaftsordnung führt die Ehrlichkeit zum Reichtum und die Lüge zum Ruin. Für den häuslichen und industriellen Bereich fordert die Philosophie die kleinstmög­ liche Gemeinschaft, die sich auf Mann und Frau beschränkt. Die sozietäre Ordnung for­ dert für den häuslichen Bereich möglichst große Gemeinschaften von etwa 1.500 Perso­ nen. Statt ehelicher Fadheit, zivilisierter Eintönigkeit und republikanischer Brüderlich­ keit herrschen dort: – eifersüchtige Intrigen und kontrastierte Rivalitäten gemäß den Gesetzen der zehnten Leidenschaft, genannt Streitlust oder Abweichungslust, – regelmäßiger und gewohnheitsmäßiger Wechsel der Tätigkeiten gemäß den Gesetzen der elften Leidenschaft, genannt Flatterlust oder Abwechslungslust, – industrielle Begeisterung und allgemeiner Enthusiasmus gemäß den Gesetzen der zwölften Leidenschaft, genannt Bindungslust oder Übereinstimmungslust. Dies sind die Triebfedern der echten, konvergenten zusammengesetzten Freiheit. Sie ist somit in jeder Hinsicht das Gegenteil jener Visionen von Freiheit, die sich im Zuge der beklagenswerten Versuche, sie zu verwirklichen, eindeutig als wissenschaftliche Wahn­ gebilde herausgestellt haben. Zweifellos ist die Freiheit ein sehr kostbares Gut. Jede Partei will sie für sich allein haben, den anderen wegnehmen, vollständig an sich reißen und alle Güter, Ämter und Macht in den Händen einer kleinen Zahl von Genossen konzentrieren. Die Zivilisation kennt allein diese Freiheit. Ich hingegen werde eine Freiheit ganz anderer Art beschreiben. Freiheit ist keine echte Freiheit, solange sie nicht allgemein ist. Dort, wo sich nur eine kleine Minderheit der freien Entfaltung ihrer Leidenschaften erfreuen kann, herrscht im Grunde bloße Unterdrückung. So verhält es sich in der Zivilisation, wo diese Minderheit etwa ein Achtel der Menschen ausmacht, wobei allerdings diesem bevorzugten Achtel bei der Entfaltung seiner Leidenschaften nur ein Viertel dessen gewährt wird, was es in der sozietären Gesellschaft wird genießen können. Um der Masse der Menschen diese Entfaltung zu ermöglichen, bedarf es einer Ge­ sellschaftsordnung, welche die folgenden drei Bedingungen erfüllt: 1. Erforschung, Einführung und Organisation einer Ordnung der industriellen Anzie­ hung, 2. individuelle Garantie eines Ersatzes für die sieben natürlichen Rechte, die weiter oben genannt wurden, 3. Verbindung der Interessen des Volkes mit denen der Reichen, die vom Volk so lange beneidet und gehasst werden, solange es nicht stufenweise an ihrem Wohlstand be­ teiligt wird. Nur wenn diese drei Bedingungen erfüllt sind, kann dem Volk ein Minimum an Lebens­ mitteln, Kleidung, Wohnung und darüber hinaus an Vergnügen garantiert werden. Denn

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das Notwendige ohne das Angenehme ist dem Menschen nicht genug. Wenn man ihm seine Vergnügen vorenthält, bleibt er unruhig und unzufrieden und wird der sozialen Ordnung nicht leidenschaftlich zustimmen. Er sieht sich in seinem siebten natürlichen Recht, dem Recht auf Sorgenfreiheit, verletzt. Er wird dieses erst dann vollständig er­ langt haben, wenn ihm ein zusammengesetztes Minimum sicher ist, das heißt, wenn sowohl für seine körperlichen wie für seine seelischen Bedürfnisse gesorgt ist.

Dunkle Limben

Vorbereitende oder aufsteigende soziale Limben

Anhang: Fouriers Übersicht über die erste Phase der sozialen Bewegung stufe

bezeichnung der Periode

1

wirrer serialismus, genannt eden, irdisches Paradies



Bewohner von Tahiti

2

Wildheit; unterer unentschiedener limbus



Tataren oder berittene und unberittene Nomaden

3

Patriarchat



Tscherkessen, Korsen, Araber, Juden

4

Barbarei



Chinesen. 4 ¾ Russen

5

Zivilisation



Owenisten

6

garantismus oder Halb­Assoziation; oberer limbus

unentschiedener



Keimhafter Serialismus

7

EinfachEr SErialiSmuS, kastrierte assoziation



Gemischter Serialismus

8

DivErgEntEr zuSammEngESEtztEr SErialiSmuS

9

KonvErgEntEr zuSammEngESEtztEr SErialiSmuS Die neunte Stufe gehört bereits zur zweiten Phase der sozialen Bewegung

Aus: OC, Bd. III, 33.

Vollständige Assoziation

9. Das Recht auf eine existenzsichernde Arbeit1

Da der Streit um die Freiheit vor kurzem vier Millionen Menschen das Leben gekostet hat – sie wurden politischen Spitzfindigkeiten und �andelseifersüchteleien geopfert –, ist es wichtig, diesen Wirrwarr von Irrlehren über die Freiheit und den �andel zu ent­ wirren. In der Zivilisation pflegt man sich zur Ehre eines Dogmas, ehe man noch dessen Sinn oder Anwendung kennt, gegenseitig den �als abzuschneiden. Davon zeugen die aus dem Streit über die Transsubstantiation und die Konsubstantiation2 erwachsenen Kriege. So hat unser Jahrhundert auch über die Menschenrechte nachgegrübelt. Um sie zu erlangen, haben viele sich niedermetzeln lassen, aber noch immer kennt man die Menschenrechte nicht. Ich wies nach, dass man in der Lehre über die Freiheit selbst die elementarsten Be­ griffe nicht kennt: so unterscheidet man nicht: – – – –

körperliche und soziale, aktive und passive, einfache und zusammengesetzte, konvergente und divergente Freiheit.3

Bevor man jedoch an diese unerlässlichen Begriffsbestimmungen heranging, vergoss man Ströme von Blut, um dem Volk das, wonach es gar nicht verlangt hatte, zu gewähren. Denn weit davon entfernt, die Souveränität oder auch nur die volle Freiheit (zusammen­ gesetzte konvergente Freiheit) zu wünschen, erhebt es nur auf die einfache Freiheit, die sogenannte aktive körperliche Freiheit, Anspruch; es genießt sie nur an den Festtagen und unter der Voraussetzung, während der Woche genug Geld angesammelt zu haben, denn, wenn am Sonntag das Geld fehlt, fehlt ihm auch der Lebensunterhalt und besitzt es nicht

1 2

3

Aus: OC, Bd. III, 177–187. Aus dem Französischen von L. Zahn. Transsubstantiation – das seit 1215 bestehende katholische Dogma, wonach beim Abendmahl Brot und Wein ihrer Substanz nach in die Substanz von Leib und Blut Christi verwandelt werden. Martin Luther änderte diese Lehre so ab, dass Leib und Blut Christi in Brot und Wein des Abendmahls mit gegenwärtig seien – Konsubstantiation oder Lehre von der Wesenseinheit Gottes, des Sohnes und des �eiligen Geistes. Siehe oben, Kapitel 8.

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jene aktive körperliche Freiheit, deren erstes Recht darin besteht, zu essen, wenn man �unger hat und Lebensmittel zur Schau gestellt sieht. Übergehen wir diese Unterschiede der Freiheit, die in den Kapiteln V und VI zur Genüge erörtert wurden.4 Beschränken wir uns auf den anstößigsten Irrtum, die Unter­ lassung der Anerkennung des für den Armen allein wichtigen Rechtes, des Rechtes auf Arbeit. Die Bibel lehrte uns, Gott verdammte den ersten Menschen und seine Nachkommen dazu, im Schweiße ihres Angesichts zu arbeiten, aber er verdammte uns nicht dazu, der Arbeit, von der unser Unterhalt abhängt, entsagen zu müssen. �insichtlich der Men­ schenrechte können wir also die Philosophie und die Zivilisation auffordern, uns nicht der Quelle, die Gott uns als Behelf und Strafe gelassen hat, zu berauben und uns wenigs­ tens das Recht auf die Art von Arbeit, für die wir vorgebildet wurden, zu gewährleisten. Das Recht auf Arbeit ist ein kumulatives Recht; es ergibt sich aus den vier Grund­ rechten, dem Recht auf Jagd, Fischfang, Sammeln von Früchten und auf Weide. Die Arbeit ist also ein übergeordnetes Grundrecht, das die vier Gruppen von Arbeit, auf die wir ein natürliches Recht haben, einschließt. Außer diesen vier Wegen in positiver Weise betriebener Industrie gibt Gott den wil­ den Völkern das Recht auf eine in negativer Weise betriebene Industrie, das Recht auf Außenraub, zu dem alle Wilden sehr stark neigen, selbst jene, die sich der ersten Periode (Eden) nähern. Die Tahitianer, die einige Züge des Eden­Stadiums aufwiesen, legten beim Raub einen solchen Eifer an den Tag, dass die Frauen eine halbe Meile schwimmend zurücklegten, um einen Schiffsnagel herausreißen zu können. So sieht die von unseren Moralisten so gepriesene einfache Natur aus: Sie verleiht dem Menschen das Recht auf und die Vorliebe für den Raub, und die Zivilisierten bleiben den natürlichen Antrieben nur allzu treu. So findet man unter unseren sieben natürlichen Rechten vier Rechte, die darauf hin­ zielen, uns jene in aktiver Weise betriebene Industrie zu gewährleisten, die uns die Zivi­ lisation verwehrt oder nur zu hohnsprechenden Bedingungen zugesteht, wie die tribut­ pflichtige Arbeit, deren Frucht dem �errn und nicht dem Arbeiter zugutekommt. Den Gegenwert der vier Grundrechte werden wir nur in einer Gesellschaftsordnung erlangen, wo der Arme seinen Landsleuten, seiner �eimat­Phalanx, wird sagen können: „Ich bin auf dieser Erde geboren; ich habe einen Anspruch, zu allen auf ihr ausgeübten Arbeiten zugelassen zu werden und die Gewähr zu haben, dass die Nutznießung der Früchte meiner Arbeit mir zusteht; ich fordere, dass mir alle zur Ausübung dieser Arbeit nötigen Geräte vorgeschossen werden sowie der Unterhalt, und zwar als Ausgleich für das Recht auf Raub, das die einfache Natur mir gab.“ Jedes Mitglied der �armonie, wie sehr es auch zugrunde gerichtet sein mag, wird immer das Recht haben, solche Rede in seinem Geburtsland zu führen, und sein Verlangen wird dort volle Zustimmung finden. Nur um diesen Preis wird sich die Menschheit ihrer Rechte wahrhaftig erfreuen kön­ nen. Aber heißt es nicht den Armen verhöhnen, wenn man ihm bei dem gegenwärtigen

4

Vgl. OC, Bd. III, 151–177.

das recht auf eine existenzsichernde arbeit

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Stand der Dinge, wo er das Recht auf Arbeit zum Vergnügen der Reichen verlangt, das Recht der Souveränität zusichert? Jahrhunderte haben wir damit verbracht, über die Menschenrechte hin und her zu streiten, ohne das wesentlichste Recht, das Recht auf Arbeit, ohne das alle anderen nich­ tig sind, anzuerkennen. Welche Schande für Völker, die sich in der Sozialpolitik als bewandert ansehen! Muss man einen so unglaublichen Irrtum nicht besonders betonen, um den mensch­ lichen Geist zu veranlassen, den sozietären Mechanismus zu studieren? Durch ihn wird der Mensch alle natürlichen Rechte, die die Zivilisation ihm nicht zusichern und deren wichtigstes, das Recht auf Arbeit, sie nicht einmal zulassen kann, wiedererlangen. Ich habe das zum Gegenstand eines besonderen Kapitels machen müssen, um die äußerste Unwissenheit der Modernen über die Lehre von der Freiheit aufzudecken und die Notwendigkeit nachzuweisen, Ideen an ihrem Entstehungsursprung wieder aufzunehmen und alles zu vergessen, was man gelernt hat, sowohl über die Freiheit als auch über die anderen die Erforschung des Menschen berührenden Probleme. Es handelt sich bei der freien Ausübung der natürlichen Rechte in Verbindung mit der großen Industrie um kein unbedeutendes Recht. Aber wie erschreckend dieses Problem auch erscheinen konnte, so wäre man zu einer teilweisen oder vollständigen Lösung gelangt, wenn man einige der zwölf Grundsätze, deren Beachtung die Philosophie sich selbst auferlegt hat, beachtet hätte: 1. Vollständig erkunden: „Nichts ist getan, so heißt es, solange noch etwas zu tun bleibt.“ Noch schlimmer, wenn nicht einmal etwas begonnen worden ist. Nun, unseren Publizisten ist es nicht einmal in den Sinn gekommen, eine abgestufte Begriffsbestim­ mung der Freiheit, ihrer drei Gattungen und Arten zu geben. Ebenso vergaßen sie die Bestimmung oder auch nur Anerkennung des wichtigsten Menschenrechts, des Rechtes auf Arbeit, ohne das die anderen reiner �ohn sind. Das sind mir Leute, die die erste ihrer Pflichten, das vollständige Erkunden, nicht genau nehmen! 2. Die Erfahrung befragen: Sie verschmähen sie hartnäckig und bestehen auf ihren hundertmal durch die Probe überführten Methoden, besonders seit der Versuch mit den Trugbildern der Gleichheit und Brüderlichkeit zur Genüge erwies, dass man den Weg zur wahren Freiheit verfehlt hatte und ihn in den noch nicht erforschten Wissenschaften, wie der Lehre von der Anziehung und anderen ebenso vernachlässigten Wissensgebieten, hätte suchen sollen. 3. Durch Analogie vom Bekannten zum Unbekannten fortschreiten: Sie lehnen das ab, indem sie hartnäckig leugnen, dass die hinreichend erkannte und seit dreitausend Jahren erlittene Zivilisation nur zu den sieben limbischen Geißeln5 führen konnte und dass man nach einer so langen Erprobung die entgegengesetzten sieben Wohltaten nur von einer noch unbekannten Gesellschaft, die noch zu erforschen wäre, erhoffen durfte. Durch Analogie hätte man ihre Entdeckung weissagen sollen, denn sie besagt, dass die Mensch­ heit, nachdem sie fünf Gesellschaften durchlaufen hat, gut und gern weitere entdecken

5

Vgl. hierzu Kapitel 8, Anmerkung 3.

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und organisieren könne, und zwar werden es vielleicht jene Gesellschaften sein, in denen die mit der Zivilisation unvereinbare Freiheit herrschen wird. 4. Durch Analyse und Synthese vorgehen: Sie haben nicht einmal die sieben natürli­ chen Rechte,6 deren Vereinigung die gewöhnliche, die vom Minimum losgelöste Freiheit bildet, untersucht. 5. Die Natur nicht auf bekannte Mittel beschränkt halten: Sie beschränkt sich nicht auf die drei als Zivilisation, Barbarei und Patriarchat bezeichneten Ordnungen, und da keine einzige dieser drei Ordnungen den Werktätigen auch nur die geringfügigste der drei Freiheiten, die einfache aktive körperliche Freiheit, gewährleistet, müssen durch das Studium der vernachlässigten Wissenschaften andere, noch unbekannte Mechanismen gesucht werden, die den Werktätigen jene Freiheit sichern, von der sie in der Zivilisation so weit entfernt sind. 6. Die Triebkräfte vereinfachen: Wir betrachten diesen Grundsatz hier nur im �in­ blick auf die in der Industrie angewandte Freiheit. Man hätte also über die Anwendung der Anziehung durch die Industrie nachdenken sollen, denn sie bietet den doppelten Vor­ teil, die Triebkräfte durch Vermeidung von Zwangsmethoden zu vereinfachen und die Freiheit dadurch zu gewährleisten, dass die anziehende Arbeit weder körperliches Unbe­ hagen noch seelische Qual verursacht; sie stellt für den Werktätigen ein Vergnügen, die freie Betätigung seiner Fähigkeiten, dar. Das Problem der Freiheit für die Werktätigen erforderte also vor allem die Untersuchung, wie die Anziehung auf die Industrie anzu­ wenden sei, sowie den Übergang zu der so hartnäckig vernachlässigten Untersuchung der Anziehung durch Leidenschaft. 7. Sich der Wahrheit verbinden: Nun zeigen sowohl Wahrheit wie Augenschein uns, dass der in der Industrie Arbeitende nicht frei ist, da er nur aus Furcht vor �unger und vor dem Galgen arbeitet und in dem Moment revoltiert, wo die Autorität Schwächen zu zeigen scheint. Man hätte sich also, um sich der Wahrheit zu verbinden, eingestehen müssen, dass die Zivilisation mit der Freiheit der Arbeitenden, selbst mit der geringfü­ gigsten der drei Freiheiten, unvereinbar ist und dass die Zivilisation das Volk an den Gegenpol der ihm ironischerweise zuerkannten Rechte der Souveränität setzt. 8. Sich der Natur verbinden: Man verweist uns auf die Natur des wilden Menschen, der schon den zweiten Grad der Freiheit (zusammengesetzt und divergent) und der Aus­ übung der natürlichen Rechte in der Industrie innehat. Wir können uns also der Natur nur durch die Erfindung eines gesellschaftlichen Mechanismus verbinden, der unseren Arbeitern einen Ausgleich für diese Rechte und ein zumindest ebenso großes Maß an Freiheit sichert, wie der Wilde es besitzt. Wie man sieht, führen uns diese Zusammen­ hänge auf tausend verschiedenen Wegen zu der gleichen Schlussfolgerung: eine Gesell­ schaftsordnung einer anziehenden Industrie, einen Mechanismus zu entwickeln, der im Gegensatz zum familiengebundenen oder antisozietären Mechanismus, zur sogenannten Zivilisation, steht. 6

Dazu zählen nach Fourier außer den natürlichen Grundrechten auf Jagd, Fischfang, Sammeln von Früchten und auf Weide das Recht auf Außenraub, das Recht auf innere Vereinigung und auf Sorg­ losigkeit. (Vgl. OC, Bd. III, 164)

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Wie viele Zweideutigkeiten bestehen darüber hinaus bei der Idee der Verbindung mit der Natur! Ich könnte schon neun verschiedene Naturen in Analogie zu den neuen Perioden der sozialen Bewegung7 nennen, ferner Mischnaturen, von den neun anderen ebenso unterschieden, wie die Gebräuche der Tahitianer der Periode 1½ sich von denen der Edenbewohner oder der Natur der ersten Stufe oder von den Menschenfressern oder der Natur der zweiten Stufe, die die Redner unter dem Namen einfache Natur rühmen, unterscheiden. Ich hüte mich, den Leser in diese detailreichen Begriffsbestimmungen aller Arten von Natur hineinzuziehen. Fahren wir in unserem Thema fort. 9. Vorurteile nicht für Grundsätze halten: Dieses Unrecht begingen die Dunkelmän­ ner­Philosophen;8 sie leugnen die Existenz noch unbekannter Mittel, die Möglichkeit, andere Gesellschaftsmechanismen als die Zivilisation zu entdecken, sowie die Notwen­ digkeit, sie zu entwickeln, will man dem Menschen jene im Zivilisationszustand un­ zulässige Freiheit sichern, deren dort selbst die Reichen, wieviel mehr erst die Armen beraubt sind. 10. Die Dinge, die man erkennen will, beobachten statt sich auszudenken: In Miss­ achtung dieses Grundsatzes haben sie die drei Arten der Freiheit und die natürlichen Rechte auf Arbeit weder beobachtet noch geordnet. Als Ersatz dafür dachten sie sich eine hohnsprechende Freiheit aus, das Leuten ohne Brot und Kleidung gewährte Recht der Souveränität. 11. Den Missbrauch von Worten nicht als wohlüberlegt hinnehmen: Kann man einen schamloseren Missbrauch treiben, als die Freiheit der Völker in der Zivilisation zu rüh­ men, einer Ordnung, die unter jedem Regime, selbst dem der Klubanhänger,9 sich auf ei­ ne durch Strafen Schrecken verbreitende und das ausgehungerte Volk zum Verstummen bringende Miliz stützt? In diesem Mechanismus kann man nur einen vielfachen Zwang erblicken, das heißt einen Zwang auf den Soldaten ausgeübt, der seinerseits wieder auf das Volk Zwang ausübt. Unsere Wortverdreher entdecken in dieser verschlungenen Kette der Unterdrückung die Souveränität des Volkes. �at man nicht allen Grund, ihnen nach einem solchen Miss­ brauch von Wörtern den Beinamen Prahlhänse zu geben, denn sie errichten ihr Gedanken­ gebäude auf irgendeinem Wortschwall der liberalen Verfassungen, deren nominale Trieb­ kräfte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und deren wirkliche Triebkräfte Zwang, Polizeihäscher und Galgen sind. So viel über den der Freiheit verliehenen ansprechen­ den, als wohlüberlegt geltenden Wortbrauch. 12. Das Erlernte vergessen und das menschliche Verständnis von Grund auf erneuern: Ich habe soeben bewiesen, dass man nichts Besseres tun könne, als all das, was uns 7 8

9

Siehe oben, Kapitel 8, Anmerkung 4. „Unter der Bezeichnung Dunkelmänner­Philosophen verstehe ich hier nur die dünkelhaften Män­ ner, deren Devise lautet: nil sub sole novum (Es existiert nichts Neues unter der Sonne), und die behaupten, dass nichts zu entdecken übrig bleibe, dass ihre Wissenschaft alle vervollkommnungs­ fähigen Vollkommenheiten vervollkommnet habe.“ (OC, Bd. III, 122) Gemeint ist das Regime der Anhänger der Jakobinerklubs, d. h. die jakobinische �errschaft unter Robespierre.

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über die Freiheit und die vermeintlichen Menschenrechte gelehrt wurde, zu vergessen, und dass es nötig sei, endlich den menschlichen Geist auf die Untersuchung der wirk­ lichen Rechte oder des Rechtes auf Arbeit sowie die wirkliche oder zusammengesetzte und konvergente Freiheit zu lenken. Übrigens fordere ich Condillac, den Autor jener gelehrten Vorschrift, auf, diese, wenn er kann, den Dunkelmänner­Philosophen schmackhaft zu machen; sie verheißen uns Freiheit und Vervollkommnungsfähigkeit, verschaffen uns aber unter allen Staats­ verfassungen nur die sieben verbreitetsten Übel. Glauben, dass im System des Weltalls alles miteinander verbunden ist: Welche Ver­ bindung lässt sich dann im Hinblick auf die Freiheit zwischen den Teilen dieses Weltalls, in dem der Mensch unter allen Wesen der größte Sklave ist, erkennen? Während die Insekten wie die Sterne völlig freie Verbände bilden, besitzen im Gegenteil die mensch­ lichen Gesellschaften so wenig Freiheit, dass das zivilisierte oder barbarische Volk keine Möglichkeit hat, auf die wilde �orde, auf die sich die Wünsche aller Lohnempfänger richten, zurückzugehen und sie wieder neu zu bilden. Welche Verbindung, welche Beziehung kann man in rechtlicher Hinsicht zwischen Mensch und Tier sehen? Das Tier, gut eingehüllt, gut ausgerüstet, hat das Recht, sich dort seinen Unterhalt zu beschaffen, wo es ihn findet, während der Mensch, vom �unger bedroht, alle Güter vor den Augen, nicht einmal das erste all seiner Rechte, das Recht auf Arbeit, durch das er einen ärmlichen Unterhalt erlangen würde, für sich fordern darf. Und dennoch stellt er seit dreitausend Jahren Theorien über die Freiheit auf. Über die Einheit des Systems nachsinnen: Grübeln wir also über ein System nach, das die Verschmelzung unserer vier Gesellschaften bewirken und ihnen die Freiheit und das Recht auf Arbeit, dessen sich die Wilden erfreuen, sichern könnte. Welche Einheit soll man in der Menschheit erblicken, solange sie vier unversöhnliche Gesellschaften bildet und die einzige darunter, die frei ist, zugleich die einzige ist, die zur Bestimmung der Welt oder zur Landwirtschafts­ und Manufakturindustrie im Gegensatz steht? Ich habe die Übersicht über die zwölf Grundsätze beendet. Es scheint mir angebracht, sie wiederzugeben und auf ein sehr bedeutendes Problem anzuwenden, denn es hat die im Streit stehenden Parteien jahrhundertelang beschäftigt. Es zeigte sich, dass man durch die Befolgung aller zwölf Regeln die Bahn der mit der Industrie verbundenen Freiheit betreten hätte, denn alle kämpfen darum, eine andere industrielle Gesellschaft als die drei gegenwärtig bestehenden ausfindig zu machen. Gemäß der angegebenen Regel musste ich zahlreiche Wiederholungen machen und zwölfmal nacheinander beweisen, dass die Freiheit mit der Zivilisation unvereinbar ist, dass die von unseren Wortverdrehern bejahten Menschenrechte so lange ein �ohn sind, wie uns nicht das elementarste Recht zugesichert wird, das Recht auf Arbeit, welches die nach so vielen Jahrhunderten des Streites über die Menschenrechte noch immer verkann­ ten vier Grundrechte enthält. Ist es verwunderlich, dass der menschliche Geist mit vielen Entdeckungen im Rück­ stand ist, wenn man sieht, dass er alle sich selbst vorgeschriebenen Regeln geflissentlich vernachlässigt? Wird man sich wundern können, dass er hinsichtlich der Freiheit und all dessen, was das Wohl der Gesellschaft angeht, in völliger Unkenntnis geblieben ist?

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Fassen wir diese Abschweifung kurz zusammen und nennen wir die in Goldlettern einzugravierenden Schlussfolgerungen: – Es gibt keine vollständige Freiheit (vollkommen und konvergent) ohne das Lebensminimum. – Es gibt kein Lebensminimum ohne die Anziehung der Industrie. – Es gibt keine Anziehung der Industrie in der zersplitterten Arbeit oder in der Zivilisation; sie kann nur innerhalb der Leidenschaftsserien entstehen. – Das durch die Industrieanziehung gestützte Minimum bildet den ausschließlichen Weg, die unerlässliche Bedingung der Freiheit. – Um diesen Weg zu gehen, muss die Zivilisation verlassen werden; sie verfügt über zwölf Auswege;10 entscheiden wir uns für den einfachsten Ausweg, für die Assoziation. Es lohnt sich, über diese Beweisführung nachzudenken: In wenigen Worten ist viel ge­ sagt. Ich habe nachgewiesen, dass der menschliche Geist sich bezüglich der ältesten, am heftigsten umstrittenen Frage in völliger Verwirrung befindet: Vervielfachen wir die Pro­ be und analysieren wir eine ähnliche Unwissenheit bezüglich der �andelssysteme, um die der jüngste Meinungsstreit geht. Es wird sich zeigen, dass die streitenden Autoren dennoch zu verschiedenen Auswegen aus der Zivilisation gelangt wären, hätten sie eini­ ge der zwölf von ihnen selbst empfohlenen Grundsätze beachtet. Nachdem diese Überzeugungen ebenso aus den Irrtümern über die Freiheit wie über den �andel gewonnen sein werden, kann das Ausmaß der Verwirrung, zu der uns die Methoden der Philosophen getrieben haben, ermessen werden.

10 Vgl. OC, Bd. III, 142.

10. Anstelle eines Nachwortes: Friedrich Wilhelm Carové, „Charles Fourier“1

Als die levitische Priesterschaft noch täglich ihr Allerheiligstes mit dem Blute geopferter Lämmer begoss, standen Propheten auf, die versicherten, Jehovah liebe solche äußerli­ che Opfer nicht, sondern ein reines Herz und Liebe zu Gott und den Menschen. Und sie weissagten von nahem Gericht und von künftigen besseren Tagen, wo das Volk Jehovahs gebessert über alle Völker herrschen und die ganze Erde ein einziges großes Paradies sein werde. Dieser Propheten einige wurden verfolgt von einer Stadt zur andern, andere gegeißelt und gekreuzigt. Als aber die Zeiten erfüllt waren, kam das Gericht über die alte Welt, und eine neue vollkommenere Weltgestalt tauchte auf aus der alten Sintflut, doch sehr verschieden von derjenigen, welche vorverkündet worden. Ähnliches bietet die Geschichte des Mittelalters und der neueren Zeit. Gar mancher­ lei Propheten sind aufgestiegen nach Ablauf des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrech­ nung, und nicht zu leugnen ist, dass die meisten nicht mit Unrecht über ihre Zeitgenossen gezürnt. Nicht mehr zu leugnen auch, dass, wie sie geweissagt, ein Gericht hereingebro­ chen über die mittelalterliche Welt, und –, wenn nicht alle Zeichen trügen, die Wehen der letzten Jahrhunderte in Wahrheit Geburtswehen sind einer neuen besseren Gestaltung der Welt. Aber auch jetzt scheint wieder das kommende Neue ein anderes zu sein, als was jene Propheten von ihrer Warte aus geweissagt; wie denn immer der Allwaltende sich die Freude vorbehält, seine Menschheit mit neuen Gaben zu überraschen. Von dem hier angedeuteten Standpunkt aus dürfte der großen Zahl neuerer Propheten auch jener edle Mann beigesellt werden, dem wir diese Zeilen gewidmet; denn auch er hatte ein �erz, groß genug, die Leiden der ganzen Menschheit mitzuempfinden, und stark genug, von den meisten seiner Zeitgenossen verkannt, unter vielfachen Bedrängnissen den Glauben an eine bessere Zukunft festzuhalten, und alle ihm verliehenen Kräfte zu deren �erbeiführung zu verwenden. Es wird deshalb wohl auch Billigung finden, wenn wir dem, was schon im Vorhergehenden2 von uns über seine Bestrebungen mitgeteilt worden, noch Einiges beifügen, was wir über sein Leben und seine Lehre zum größeren Teile aus französischen Blättern geschöpft.

1 2

Aus: Friedrich Wilhelm Carové, Mittheilungen aus und ueber Frankreich, Leipzig, 1838, 175–183. Carové bezieht sich auf das Kapitel „Religiöses und kirchliches Leben in Frankreich“ der in An­ merkung 1 genannten Schrift (A. d. Hg.).

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Karl Fourier war im Jahr 1772 zu Besançon geboren. Was das Ziel seines Strebens werden sollte, tat sich schon in früher Kindheit bei ihm kund. Sein Vater handelte in Tuchwaren. Als nun, kaum fünf Jahre alt, das Kind von ihm dafür gestraft wurde, dass es einem Käufer die Wahrheit über ein Tuch gesagt, kam ihm die Falschheit der Han­ delsverhältnisse lebhaft zum Bewusstsein. In der Folge sich bemühend, auf seine Weise Wahrheit und Loyalität in die Tauschfragen einzuführen, fand der zum Manne Gereifte seine Ackerbau-Gesellschaftung (association agricole), sein großes Serien-Gesetz (loi sériaire) und das Theorem der Bestimmungen proportionierter Anziehungen. Schon mit neunzehn Jahren jedoch hatte er, getrieben von dem Bedürfnis, in noch unerforschte Gebiete der Wissenschaft einzudringen, wie spielend die Eisenbahn erfun­ den. Diese Idee, welche die materielle Gestalt der neuen Welt und die Grundlagen der Industrie umändern sollte, wurde aber von dem jungen Ökonomisten, als ungenügend für seine weit hinaus schweifende Fantasie, nicht weiter beachtet. Nach vieljährigen, neben notgedrungenen Handelsgeschäften betriebenen Studien trat er endlich im Jahr 1808 mit seiner Théorie des quatre mouvemens hervor, als ganz Europa unter Napoleons eisernem Szepter zitterte. Wie konnte da ein armer, unbekannter Commis eines Handelshauses hoffen, dass die Aufmerksamkeit sich einer neuen Sozial­ Theorie zuwenden werde? Diese Theorie der vier Bewegungen (nämlich der sozialen oder passionnellen, der animalen oder vielmehr instinktiven, der organischen und der materiellen) bietet in ei­ nem sehr originellen und mitunter poetischen Style die allgemeinen Formeln von Fouriers Lehre. Es ist eine Übersicht, welche durch Kraft und Glanz die Literatur des Kai­ serreichs und die Bülletins des Prinzen von Wagram weit überflügelte. Damals kannte man aber nur zwei Schulen: die Feuilletons des Abbé Geoffroy und die Gedichte von Delille. Selbst Herr von Chateaubriand hatte noch nicht vollständige Aufnahme gefun­ den. Fouriers Theorie musste völlig unbekannt bleiben. Im Jahr 1814 fügte er seinen früheren Entdeckungen die Gesetze des mouvement aromal3 hinzu und hatte hiermit vollständig den Grund zu seinem Werke gelegt. Fortan beschäftigte er sich damit, dasselbe im Einzelnen zu gliedern, und teilte dann im Jahr 1822 die Hauptergebnisse dieser zweiten Arbeit mit – in seinem Traité de l’association domestique agricole, welches eine vollständige Darlegung seines Systemes enthält. Die neuesten und oft anziehendsten Fragen der Metaphysik, kühne, aber immer eng unterein­ ander zusammenhängende Ansichten über eine nahe Reform der Sitten und Familien­ verhältnisse, Entwürfe zu einer Gemeinde­Organisation, tiefe und helle Ideen über den Einfluss der schönen Künste auf die Entwicklung der Menschheit, verflechten sich, wie durch einen Zauber mit den Gliederreihen einer herausfordernden und unerbittlichen Synthese, und dies gerade ist das Missgeschick der Schriften Fouriers. Sein gleichsam aus einem Guss hervorgegangener, von der vereinzelten Natur beherbergter Geist ver­ steht sich zu keinen Concessionen, Übergängen noch Schonungen. 3

Fourier nimmt ein eigenes Prinzip an, welches er Aroma nennt, und das alles begreift, was die Phy­ sik unwägbare Flüssigkeiten nennt. Er wies der aromalen Bewegung ihre Stelle an zwischen der instinktiven und der organischen.

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Der Ausgangspunkt seines Systemes ist der leidenschaftige4 Organismus des Men­ schen. Der Mensch wird mit Neigungen, Geschmacksrichtungen (goùts), Leidenschaf­ ten geboren, welche aus seiner Natur entspringen und eine ebenso strenge Folge der­ selben sind wie alle seine physischen und geistigen Vermögen. Andererseits sind diese angeborenen Neigungen, diese die menschliche Natur konstituierenden Leidenschaften, die ersten und einzigen Mobile alles unseren Tuns, die bewegenden Kräfte, welche alle unsere Vermögen in Spiel setzen, da wir immer nur handeln, um ein Bedürfnis, eine Nei­ gung, eine Leidenschaft, einen Wunsch zu befriedigen; alle sozialen Verhältnisse haben also ihre Quelle im passionnellen System des Menschen. Man hat viel über angeborene Güte oder Verderbnis des Menschen gestritten. Für Fourier ist dies nur eine schlechte Lukubration einer schlechten Metaphysik. Er geht nur davon aus, dass das Individuum mit Bedürfnissen geboren ist, welche eben befriedigt werden müssen. Diese Bedürfnisse treiben es zu guten Benehmungen, wenn die von den sozialen Verhältnissen dargebotenen Befriedigungsmittel mit den Interessen der übrigen Menschen zusammenstimmen; zu bösen (pervers) im entgegengesetzten Falle. Dieselbe Neigung oder Leidenschaft ruft bald Handlungen hoher Tugend, bald Verbrechen her­ vor; so erzeugen Liebe, Freundschaft, Ehrfurcht, Familien­Zuneigung, religiöse und überhaupt alle dem Menschen angeborene Leidenschaften stets – je nach den Stellungen und Umständen – die verschiedenartigsten Resultate, denen man alle Stufen anweisen kann, vom Schauderhaftesten bis zum Erhabensten. Das Übel (mal) ist also keineswegs in der Natur des Menschen und in seinen ange­ borenen Neigungen zu suchen, sondern nur in den sozialen Umständen, welche, statt seinen Neigungen einen glücklichen und gerechten Verlauf zu bereiten, ihnen meistens nur Wege des Betruges, des Kampfes und der Ungerechtigkeit darbieten. Das ganze System Fouriers entspringt aus dieser Voraussetzung. Seiner Ansicht nach muss aber Gott, der im materiellen Gliedbau des Menschen eine so bewunderungswürdige Intelligenz hat hervorleuchten lassen, auf gleich bewunderungs­ würdige Weise den passionnellen Organismus eingerichtet haben. Hat Gott unsere Lei­ denschaften geschaffen, dann musste er ihnen eine Anwendungsart zuweisen, und sie für eine Gesellschaft bestimmen, in welcher sie durch ihre Übereinstimmung eine ebenso schöne und mächtige Harmonie hervorbrächten, als die Verwüstungen fürchterlich sind, welche aus ihrem Zusammenstoß in unseren schlecht geordneten Gesellschaften entstehen. Durch diese Gedankenreihe wurde Fourier zur Berechnung der Bestimmung des Menschen und der Universal­Einheit geführt, als deren Ergebnis er die Anziehung (at­ traction) als das allgemeine und höchste Gesetz der Ordnung und Harmonie aussprach. Die stoffige Anziehung hält die himmlischen Sphären in ihren Bahnen und wacht über dem Gleichgewicht in ihren Bewegungen. So muss die leidenschaftliche Anziehung, der Anreiz (attrait), das regelnde Gesetz für die Gesellschaften bilden, wenn die Menschheit in ihre Bestimmung eintreten wird.

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Passionnel, was durch leidenschaftlich wohl nicht genau wiedergegeben wäre.

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Von diesem Gesichtspunkt ausgehend ist Fourier zu dem System gelangt, welches er, als mit der Natur des Menschen concordirend, in Vorschlag gebracht, und dessen Haupt­ charakter darin bestehen würde, Alles anreizend zu machen, was gut und nützlich ist. Dies ist in Kürze die theoretische Grundlage des Systems, welches demnächst von der Tatsache ausgeht, dass Kräfte vereint mehr vermögen als vereinzelt; dass also auch der einzelne Mensch nur dadurch zum möglichst reichen und glückseligen Dasein gelan­ gen kann, wenn in immer reicherem Gliedbau alle Menschen alle ihre Kräfte vergemein­ samt haben werden. Ein erster Versuch zur Anwendung des neuen Systems wurde nach der Julirevolution gemacht. Herr Baudet-Dulary gab ein Journal, „La Phalange“, heraus, um die Lehren von der Ackerbaugesellschaftung zu verbreiten; ein Phalanstère5 wurde zu Condé­sur­ Vesgres bei Versailles, als einstweiliger Mittelpunkt der Ausführung gegründet. Keine dieser beiden Unternehmungen hatte sich aber besonderen Erfolges zu erfreuen. Vor un­ gefähr einem Jahre wurde die Phalange von Herrn Victor Considérant, dem ausgezeich­ netesten Schüler Fourier’s, von neuem in Schwung gebracht, und der Phalanstère von Condé­sur­Vesgres, auf kleinere Verhältnisse reduzirt, fing an unter Pflege und durch neue Anstrengungen der Freunde und Bewunderer der École sociétaire zu gedeihen, als der Meister selbst unvermutet dahinstarb. Man fand ihn am 10. dieses Monats (Nov. 37) entlebt am Fuße seines Bettes. – Wohl hatten seine Jünger für ihn treulich Sorge getragen; dennoch ist er, wenn auch vor Notdurft geschützt, fast in Armut (indigent) gestorben. Diese war übrigens nur die Folge seines ungemein edlen Charakters. Nicht leicht erkannte er sogar der Freundschaft das Recht zu, ihm nützlich zu sein. Im äußeren wie im vertrauten Umgang zeigte sein ganzes Leben nur ein einziges, stetes, eifriges, man kann sagen, hartnäckiges Tun: die Entfal­ tung seines Systems. Reichtum, Familie, Freuden des Daseins, Ehren des Talents, – nichts von diesem Allem hat er gekannt, nichts gesucht, nichts gewünscht. Auch wurden seine Jünger mehr durch den unwiderstehlichen Anreiz seiner Mächtigkeit zu ihm hingezogen, als dass er selbst sich um ihre Anhänglichkeit beworben hätte. Der Aussage eines dieser Jünger zufolge hätte Fourier am Tage vor seinem Hinschei­ den sich in folgender Weise über die Zukunft ausgesprochen: „Ich habe die Vorurteile bezeichnet, welche das allgemeine Missgeschick (infor­ tune) und der wissenschaftliche Stolz gegen mich geltend machen werden; ich habe hierdurch den Leser gegen die Sarkasmen jener Menge waffnen wollen, wel­ che schneidend (tranchement) über das abspricht, was sie nicht versteht, welche auf Raisonnements durch Wortspiele antwortet, deren Manie selbst das gemeine Volk angesteckt hat und überall die Gewohnheit der Spöttelei verbreitet. Wenn aber erst die Beweise meiner Entdeckung ans Licht gebracht sind und man den Augenblick, die Früchte davon zu ernten, sich nahen sehen wird, – wenn man die 5

So nennt Fourier das soziale Element seines menschheitlichen Organismus. Ein solcher Phalanstère befasst mindestens 400 Familien auf einer Quadratmeile und besteht aus Ackerbauern, Handwer­ kern, Gelehrten und Künstlern.

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Universal­Einheit bereit sehen wird, sich über den Trümmern der Barbarei und der Civilisation zu erheben, dann werden die Kritiken plötzlich von Geringschät­ zung zum Rausche übergehen; sie werden den Erfinder zum �albgott machen wollen, und von neuem durch übermäßige Schmeicheleien, wie jetzt durch unbe­ sonnene Spöttereien sich verächtlich machen.“ An letzteren hat es nun allerdings bis jetzt nicht gefehlt, und noch vor wenigen Tagen wurde der kaum Dahingeschiedene von der jesuitisch­katholisch­historisch­legitimen Gazette de France in folgender Weise abgefertigt: „Es haben wohl Einige in den letzten Jahren von der Fourieristischen Schule gesprochen; aber Wenige haben sie, besonders wenige deren Begründer gekannt. Und doch scheint derselbe viele jener Eigenschaften in sich vereinigt zu haben, welche die Menschen anziehen und fesseln, – Güte, Uneigennützigkeit, Wohlwollen. K. Fourier lebte nur in seiner Lehre, nur durch diese Leh­ re; nichts war aber minder anziehend. Ihrem Gehalte nach mittelmäßig war sie durch die Form, in welche er sie gekleidet, von zum Sprichwort gewordener Dunkelheit und Fremdartigkeit (étrangété). Die wenigen guten Gedanken, die sich darin finden mochten, waren durch den Styl des Verfassers so gewaltig compromitiert worden, dass, wenn er auch noch länger als ein Jahrhundert gelebt, er sie doch niemals von der ursprünglichen Lächerlichkeit (ridicule) hätte releviren können, welcher sie gleich von Anfang unterlegen.“ Mit dieser sich selbst richtenden Kritik nimmt die Gazette, das gebildetste Organ der angeblich katholisch-legitimen Partei in Frankreich, von jenem edlen und tiefsinnigen Manne Abschied, den sie gleich bei seinem ersten Auftreten im Jahr 1808 auf ähnliche Weise mit scheinbarer Gutmütigkeit – und wirklich lächerlich machendem Spotte be­ grüßt hatte. Indessen hat es, wie schon bemerkt, in den letzteren Jahren auch an solchen nicht gefehlt, welche, unabgeschreckt durch die vielen Wunderlichkeiten des Styles und die auffallenden Mängel des Systems selbst, der in abstoßender Schale sich bergenden Per­ le ihre Aufmerksamkeit und Liebe zugewandt haben. So, um hier nur noch an einiges Bedeutendere zu erinnern, schlossen Transon und Jules Lechevalier, zwei sogenannte Saint­Simonisten, richtiger Enfantinisten, nach Enfantins Verurteilung, sich dem edleren Meister an. Lechevalier hielt selbst im Winter von 1832 auf 1833, nach Fouriers System, Vorlesungen „sur la science de l’humanité“, deren Wesentlichstes er demnächst unter dem Titel „Études sur la science sociale“ herausgab. Auch ließ ein Herr Maurize zu Ende 1832 eine Schrift erscheinen, betitelt: „Dangers de la situation actuelle de la France“, worin er vorzüglich auf die Mängel der gegenwärtigen Staatseinrichtung Frankreichs aufmerksam machte, und hiermit die Politiker für Fouriers Lehre zu gewinnen suchte, welche er als Heilmittel für den kranken Staatsorganismus darstellte. Victor Considérant und mehrere Andere wirkten in ähnlichem Sinne nach anderen Richtungen hin. Um dieselbe Zeit wurden nachgerade auch deutsche Humanisten auf jene Lehre auf­ merksam, und versuchten, den praktischen Ideen derselben Eingang in Deutschland zu verschaffen. Hr. Fr. Tappehorn bot uns „die vollkommene Association, als Vermittlerin der Einheit des Vernunftstaates und der Lehre Jesu“, als „Beitrag zur ruhigen Lösung aller großen Fragen dieser Zeit“ (Augsburg, 1834). Zu gleicher Zeit erschien „das Pro-

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blem der Zeit und dessen Lösung durch die Association von S. R. Schneider“ (Gotha, 1834). Beide Schriften, aus echt deutschem Gemüt hervorgegangen, lassen die dürfti­ ge philosophische Grundlage des Anziehungssystemes völlig bei Seite liegen, um sich ausschließlich mit dem echten Kerne desselben, dem Prinzip der Gesellschaftung oder freien Gemeinsamung und seiner möglichst erweiterten Ausführung ins wirkliche Leben zu beschäftigen. Herr Tappehorn hat hierbei den Blick mehr auf das Ganze, auf die geschichtliche Entwicklung der Menschheit, Herr Schneider sein Augenmerk ausschließ­ lich auf das unmittelbar drängende, industrielle Bedürfnis gerichtet, stellt die Assoziati­ on als einziges Mittel dar, dem Fortschritte der Verarmung zu steuern und der Mehrzahl einen Zustand behaglichen Lebensgenusses zu bereiten. Noch ist aber keine Darstellung des gesamten Systemes Fouriers erschienen, wozu sich indes hoffentlich bald dadurch die geeignete Veranlassung bieten wird, dass die Freunde des Verewigten seine hinterlassenen Schriften herauszugeben wohl nicht er­ mangeln werden. Aus demjenigen, was bis jetzt von seinen Werken und Bestrebungen uns bekannt geworden, ergibt sich jedoch bereits zur Genüge, dass Fourier unbedenklich zu den be­ deutsamsten Erscheinungen der neuesten Zeit zu rechnen sein dürfte. Ein tiefes Gefühl für Wahrhaftigkeit und Gemeinwohl bricht mit Gewalt schon in dem Gemüt des Kindes hervor und charakterisiert schon zum Voraus sein ganzes Le­ ben. Handel und Gewerbe, wie sie jetzt betrieben werden, erzeugen furchtbare Massen von Elend und Betrug. Überhaupt erweisen fortwährend abstrakte Gesetze und Gebo­ te sich nur zu ohnmächtig gegen die Forderungen und die Gewalt der Leidenschaften, Neigungen, überhaupt der pathetischen Natur des Menschen. Fourier hat die harmoni­ sche Ordnung in der materiellen und organischen Welt wahrgenommen; er ist von dem Glauben durchdrungen, dass es auch eine soziale Ordnung geben müsse, in welcher die mannigfaltigen Seelenkräfte auf harmonische Weise zur Wirksamkeit kommen könnten. Diesem, bisher nicht nach Gebühr beachteten Momente widmet er seine ganze Auf­ merksamkeit, und wenn man einerseits bedauern mag, dass er hierbei stets in schroffer Einseitigkeit befangen geblieben, so dürfte doch andererseits nicht zu vergessen sein, dass die Erkenntnis der Wahrheit gerade dadurch am meisten gefördert wird, dass ein­ zelne Momente, bis zum Übermaß geltend gemacht, das Ausgeschlossene zur stärks­ ten Reaktion erwecken und hierdurch die volle Würdigung des Einen wie des Anderen möglich machen und herbeiführen. Nicht zu übersehen ist endlich, dass Fouriers Lehre aus zwei ganz verschiedenartigen Elementen besteht, von denen jedes selbst auch aus dem Gegensatz zu begreifen, welchem dasselbe entgegengetreten ist. Die Lehre von der passionnellen Anziehung, welche auf möglichst reiche, präsente Befriedigung aller Einzelnen als solcher ausgeht, ist selbst nur eine jener mannigfaltigen Oppositionen, welche sich in neuerer Zeit gegen die abstrakte Askese und Mortifikation der mittelalterlichen Kirche erhoben. Der einseitigen Forderung unbedingter Selbstvernichtung in Hoffnung jenseitiger Glückseligkeit ist die nicht minder einseitige Forderung unbeschränkter, unmittelbarer Selbstbefriedigung entgegengetreten, und hat vielfach zu egoistischer Ver­ einzelung und Zersplitterung, eben dadurch aber gerade auch zu vielfachem Elend und verzweifelnder Selbstvernichtung hingeführt.

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Gerade dieser Vereinzelung ist nun auch Fourier, wie früher Saint­Simon, mit der For­ derung der Gemeinsamung entgegengetreten, und das Bemühen, dieses Princip in die ganze Ökonomie des menschlichen Daseins einzuführen, bildet das andere Element sei­ ner Bestrebungen. Fourier hat zwar dieses Princip weit tiefer erfasst und auf minder abstrakte Weise entwickelt, als dies von der Saint­Simonistischen Familie geschehen, ist aber auch nach dieser Seite hin nicht von Übertreibung frei geblieben. Wie er bei Erörterung des passionnellen Momentes die übergeordnete rationelle, moralische und religiöse Sphären größtenteils unbeachtet gelassen, so hat er bei Entwicklung des Associations-Princips gerade die Rechte der Individualität nicht zulänglich gewürdigt. Wird nun dieser wesentlichen Mängel seiner Lehre wegen die Nachwelt sich wohl schwerlich versucht finden, ihn „als Halbgott zu verehren“, so wird sie doch gewiss auch nicht in die Spöttereien derjenigen einstimmen, welche, unfähig, das Streben von dem Geleisteten, den ewigen Kern von der vergänglichen Schale zu unterscheiden, für große, ungewöhnliche Individualitäten keinen anderen Maßstab haben, als den, welchen ihre eigene Borniertheit und Alltäglichkeit ihnen darbietet. Karl Fourier hat sein ganzes Leben der Erforschung der Wahrheit zur Verbesserung des sozialen Lebens gewidmet; er hat, vielfach irrend, zugleich vielfach zur Erweiterung der Erkenntnis angeregt, und mit Verzichtung auf alle sonstigen Freuden des Daseins dem Wohle der Menschheit sein Le­ ben gewidmet. Somit hat er sich ein heiliges Recht auf dankbare Anerkennung erworben, und gewiss werden auch unsere Leser kein Bedenken tragen, die Grabesurne des edlen Forschers mit einem Kranze von Immortellen zu umflechten.

Namenregister

Adorno, T. W. 10 Agrippina 114 Anakreon 144 Aristoteles 86, 120, 179, 190 Bacon, F. 155 Balzac, H. de 9 Barthélemy, J.­J. 49, 156 Barthes, R. 10 Baudet­Dulary, A. F. 210 Bebel, A. 9 Beecher, J. 11–13, 19–20, 23 Benedikt XIV. 180 Benjamin, W. 10 Bentham, J. 16 Bienenstock, M. 22, 31 Bieri, P. 27 Biron, Duc de 104 Bluhm, H. 18, 31 Breckman, W. 14 Breton, A. 10 Brudney, D. 25, 31 Bruhn, N. 32 Burckhardt, M. 12 Carové, F. W. 9, 20–21, 23, 27, 30–31, 207 Cäsar, G. J. 71, 169 Caspari, V. 28 Cato, M. P. 172 Chateaubriand, F.­R. de 208 Chitty, A. 31 Cicero, M. T. 130 Cieszkowski, A. von 9, 21, 23, 27, 30 Colbert, J.­B. 163, 183 Comte, A. 16 Condillac, É. B. de 113, 155, 177, 204 Considerant, V. 15, 210–211 D’Arc, J. 125 D’Urfé, H. 146 Danton, G. 176

Debout­Oleszkiewicz, S. 31 Delille, J. 208 Deranty, J.­P. 31 Descartes, R. 40, 179 Diderot, D. 122 Domitian 151 Enfantin, B. P. 211 Engels, F. 9, 21, 24–28 Feuerbach, L. 23 Fichte, J. G. 29 Fliedner, A. 30, 31, 53, 57, 111, 125, 166, 189 Friedrich II. (Preußen) 168, 172 Galilei, G. 73 Geoffroy, J. L. 208 Giradon, F. 145 Gosepath, S. 10 Gossen, H. H. 16, 18 Habermas, J. 29 Hardimon, M. O. 20 Hegel, G. W. F. 20–24, 26 Heine, H. 9 Heinrich IV. (Frankreich) 116–118 Herschel, W. 134, 139 Hess, M. 9, 21, 26–27 Hinsch, W. 10 Hobbes, T. 172 Honneth, A. 22, 29, 31 Horaz 114–115, 177 Hundt, M. 9 Huskisson, W. 157 Justinian 159 Katharina II. (Russland) 122 Kleopatra 138 Köchly, H. 9 Kolumbus, C. 9, 24, 71, 73, 178

216 Kopernikus, N. 73, 178–179, 186 Krause, S. 31 Kurz, H. D. 18 La Fontaine, J. de 114–115 Lacaze, R. P. 117 Lange, E. M. 25 Lechevalier, J. 14–15, 211 Leibniz, G. W. 17, 37, 46 Lenclos, N. de 162 Linné, C. von 73, 179 Locke, J. 177 Louvois, Marquis de 163 Ludwig XIV. (Frankreich) 145, 163 Ludwig XVI. (Frankreich) 117 Luther, M. 199 Malthus, R. 165 Maréchal, S. 127 Marx, K. 21, 25–27 Maurize, A. 211 Merker, B. 31 Minsky, H. 29 Moggach, D. 20 Molière 101 Montesquieu 40, 156, 159, 171 Muiron, J. 12, 14 Napoleon Bonaparte 172, 208 Nero 114–117 Neuhouser, F. 20 Newton, I. 12, 17, 37, 46, 59, 69, 72–73, 179, 186 Owen, R. 17, 60, 91, 155, 165, 197 Pellarin, C. 15, 20 Perikles 71 Platon 48, 71–72, 86, 116, 190 Ptolemäus, C. 179 Pythagoras 186 Quante, M. 25, 31 Quesnay, F. 180, 182, 185–186 Raynal, G. de 180

namenregister Reitz, T. 19, 31 Renault, E. 31 Robespierre, M. de 116, 203 Rössler, B. 10 Rousseau, J.­B. 171 Rousseau, J.­J. 48, 120, 156, 172 Ruge, A. 9, 26 Saint­Martin, L. C. de 12 Saint­Simon, Comte de 14, 18, 20, 24 Say, J.­B. 160 Schefold, B. 28 Schmidt­Biggemann, W. 12 Schneider, S. R. 21–23, 26, 29, 212 Semiramis 119 Seneca, L. A. 48, 72, 114–115 Sévigné, Marquise de 122, 162 Siep, L. 14, 22, 29, 31 Sismondi, J.­C.­L. S. de 160 Smith, A. 184 Sokrates 49, 117–118 Solon 51, 159 Staël, Madame de 122, 156 Stein, L. von 9 Stewart, D. 160, 165 Sully, Duc de 183 Tappehorn, F. 21, 23, 27, 30, 211–212 Target 159 Thamer, H.­U. 14, 31 Tiberius, J. C. A. 114 Transon, A. 14–15, 211 Van Braam, A. E. 167 Van Parijs, P. 29 Vanderborght, Y. 29 Voltaire 48–49, 71, 126, 156, 158, 174, 180, 184, 202 Wallace, R. 165 Waszek, N. 14, 20, 32 Wiemer, T. 32 Wildt, A. 22, 29 Zahn, L. 30, 37, 119, 155, 173, 178, 199 Zurn, C. F. 29