Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert 9783205203353, 9783205200918

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German Pages [1186] Year 2015

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Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert
 9783205203353, 9783205200918

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Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert Herausgegeben von Lucile Dreidemy / Richard Hufschmied / Agnes Meisinger / Berthold Molden / Eugen Pfister / Katharina Prager / Elisabeth Röhrlich / Florian Wenninger / Maria Wirth

Band 1

2015 BÖHLAU VERLAG · WIEN · KÖLN · WEIMAR

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Gedruckt mit Unterstützung durch die Niederösterreichische Landesregierung, das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, die ­Arbeiterkammer Wien, den Zukunftsfonds der Republik Österreich, das Kulturamt der Stadt Wien – MA 7, die Bank Austria, den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, das Renner-Institut, die Österreichische Kontrollbank, das Rektorat der Universität Wien sowie die Österreichische Gesellschaft für Zeitgeschichte

Der Festakt zur Überreichung des Bandes wurde unterstützt von der Schoellerbank AG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

© 2015 by Böhlau Verlag GesmbH & Co.KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Korrektorat: Nikola Langreiter, Lustenau Covergestaltung: Joëlle Dreidemy, Paris, und Sarah Luger, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20091-8

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Inhaltsverzeichnis

Band 1 Vorwort des Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Vorwort des Rektors der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Vorwort der HerausgeberInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Zeitgeschichte „persönlich“ Peter Menasse

Der Professor mit den freundlichen Augen Eine uneingeschränkte Huldigung für Oliver Rathkolb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Max Kothbauer

Oliver Rathkolb – Zeitgeschichte als Friedensprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Margit Schmidt

Oliver Rathkolb und die Kreisky-Memoiren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Stefan August Lütgenau

Ein Stück gemeinsamen Wegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Friedrich Stadler

Von Salzburg nach Wien: A Sentimental Journey Persönliche Erinnerungen anstatt einer Laudatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Klemens Renoldner

Von Berkeley über Wien nach Salzburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Peter Huemer

Anmerkungen zu Oliver Rathkolbs „biographischer Skizze“ über Ludwig Jedlicka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Ewald Nowotny

Oliver Rathkolb – Wissenschaftler mit Herz und Organisationstalent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

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Inhaltsverzeichnis

Karoline Rieder

„ORF-Star“ Oliver Rathkolb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Österreich am Vorabend der Republik John W. Boyer

Badeni and the Revolution of 1897 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Steven Beller

Theodor Herzl between Zionism – and Austrian politics? Herzl’s Zionist diaries as a resource for Austrian history . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Dieter A. Binder

Conrad von Hötzendorf revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Hans Petschar

Der Kaiser Jäger. Die mediale Inszenierung von Theodore Roosevelts Europatour in Wien im April 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Von der Ersten Republik zur Kanzlerdiktatur Gabriella Hauch

„Welcher Weg ist einzuschlagen …?“ Spurensuche nach Isa Strasser, geb. von Schwartzkoppen (1891–1970) . . . . . . . . . . . 137 Verena Moritz / Hannes Leidinger

„Mission to Moscow“: Der österreichische Gesandte Otto Pohl in Sowjetrussland /der Sowjetunion (1920–1927) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Clemens Jabloner

Kelsens Prägung der österreichischen Bundesverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Linda Erker

„Jetzt weiss ich ganz, was das ‚Dritte Reich‘ bedeutet – die Herrschaft schrankenloser, feiger Brutalität.“ Eine Momentaufnahme der Universität Wien im Oktober 1932 . . . . . . . . . . . . . . .177 Katharina Ebner

Karl Anton Prinz Rohan und der italienische Faschismus in Österreich . . . . . . . . . . 191

Inhaltsverzeichnis

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Gerhard Botz

Der „Christliche Ständestaat“: Weder System noch Faschismus, sondern berufsständisch verbrämte „halb-faschistisch“-autoritäre Diktatur im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Der Nationalsozialismus und seine Rezeptionsgeschichte Ernst Hanisch

Eine Nazi-Kindheit im Waldviertel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Ingrid Böhler

Ein glamouröser Fall am Sondergericht Feldkirch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .230 Jiří Pešek / Nina Lohmann

Die Ambivalenzen (nicht nur) der Wissenschaftsgeschichte. Der Biochemiker Ernst Waldschmidt-Leitz (1894–1972) an den Prager Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Hanns Haas

Von der ländlichen Peripherie ins regionale Zentrum. Ärztliche Karrierechancen infolge von Arisierungen und politisch motivierten Vertreibungen im Gesundheitswesen des Verwaltungsbezirkes Horn/Niederösterreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Thomas Olechowski / Stefan Wedrac

Hans Kelsen und Washington . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Ulrike Zimmerl

Die letzten Wiener Rothschilds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Regina Thumser-Wöhs

Ausgrenzung und Verfolgung Drogensüchtiger während der NS-Zeit . . . . . . . . . . 307 Geneviève Humbert-Knitel

Jugend im Elsass unter dem Nationalsozialismus Organisatorische und institutionelle Aspekte 1940–1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

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Inhaltsverzeichnis

Markus Stumpf

„Ich erteile deshalb den mir nachgeordneten Dienststellen des Staates und der Partei den Befehl, nach der erfolgten Evakuierung der Juden sämtliche Tschechen aus dieser Stadt zu entfernen.“ Das „Gaupresse“-Archiv Wien anhand ausgewählter Reden Baldur von Schirachs . . . .330 Rosemarie Burgstaller

Verhöhnung als inszeniertes Spektakel im Nationalsozialismus: Die Propaganda-Ausstellung „Der ewige Jude“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Herwig Czech

„Man muss den Kopf abtreiben, damit nicht die Glieder wieder nachwachsen“. Anmerkungen zur Entnazifizierung der Medizin in Österreich . . . . . . . . . . . . . . .357 Hans Schafranek

Österreichische Spanienkämpfer in der Fremdenlegion und in den Prestataires-Kompanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .372 Wolfgang Neugebauer

Mit der Waffe in der Hand … PartisanInnen in Österreich 1938–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Brigitte Bailer

Tatort Frankreich: Widerstand von ÖsterreicherInnen und ein „Experte“ der Gestapoleitstelle Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .397 Karl Fallend

Sozialarbeit in Österreich – eine unheimliche Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Hans Safrian

Wehrmacht, Deportationen von Juden und Jüdinnen aus Griechenland und die Waldheim-Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Heidemarie Uhl

„Die ganze Welt haelt den Atem an waehrend das Schicksal Wiens seinen Lauf nimmt“. Die „Austrian Radio Section“ des Senders „Stimme des Alliierten Hauptquartiers Mittelmeer“ berichtet über die Schlacht um Wien . . . . . . . . . . . . 432

Inhaltsverzeichnis

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Internationale Diktaturforschung Anton Pelinka

Totalitarismusdebatte – revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .453 Dieter Pohl

Antikommunismus als Ressource von Diktaturen und autoritären Systemen bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Sybille Steinbacher

Gesellschaftsordnung durch Gewalt Überlegungen zu einer vergleichenden Geschichte der Konzentrationslagersysteme . . . 478 Antonio Costa Pinto

Corporatism and Dictatorships in Portugal and Spain. Comparative perspectives . . . . 489 Christoph Boyer

Vom bürokratischen Apparat zum Clan, von der Propaganda zur inszenierten Kommunikation: Neuigkeiten zum Herrschen im Staatssozialismus . . . . . . . . . . . .505 Österreich in der Zweiten Republik Margarete Grandner

Otto Skrbensky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 Manfried Rauchensteiner

Totgeglaubte leben lang: Die Moskauer Deklaration von 1943 und die Zeit nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Christian H. Stifter

Vermessene Demokraten Meinungsumfragen der US-Besatzungsmacht in der österreichischen Bevölkerung, 1946–1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 Fritz Weber

Lernen aus der Geschichte Das Wiedererstehen der Oesterreichischen Nationalbank im Jahr 1945 . . . . . . . . . . 562 Margit Reiter

Die „Ehemaligen“ nach 1945 Selbstpräsentationen, Antisemitismus und Antiamerikanismus . . . . . . . . . . . . . . .575

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Inhaltsverzeichnis

Andreas Kuchler

Förderer und Verhinderer Franz Hintermayer und Engelbert Broda beeinflussten maßgeblich die Entwicklung der heimischen Wasserkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 Karin M. Schmidlechner

Frauenspezifische Arbeitsmigration aus Österreich nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . 606 Helmut Wohnout

Die Österreichische Volkspartei und das Polit-Phänomen Bruno Kreisky an der Schwelle zu den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .622 Band 2 Geschichte des Kalten Krieges und der internationalen Beziehungen Peter Pirker

„Radio Free Europe“ in Österreich: Akteure und Beziehungen in den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 Thomas Riegler

Strukturen für den geheimen Krieg Die CIA-Waffenlager, die Netzwerke des Dr. Höttl und das „Sonderprojekt“ . . . . . . 665 Siegfried Beer

„Planned Communist Insurrection in Austria“ A CIC-Document on Putsch-plotting from October 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 Maximilian Graf

Kreisky und Polen: Schlaglichter auf einen vernachlässigten Aspekt der österreichischen „Ostpolitik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 Wolfgang Mueller

Der Kreml, Kreisky, Waldheim und Vietnam: Zur Rolle neutraler Kleinstaaten als internationaler Vermittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Günter Bischof

The Malta Summit 1989: German Unification, and the End of the Cold War . . . . . . . 718

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Kunst und Kultur Peter Berger

„Wer gibt Antwort, wohin wir gehören?“ Ernst Krenek in Österreich, 1928–1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .735 Lorenz Mikoletzky

Staat und Theater in der Ersten Republik (Ein Querschnitt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 748 Peter Dusek

Arturo Toscanini und der österreichische Ständestaat oder Hugo Burghauser als „Drahtzieher“ einer „kulturpolitischen Weichenstellung“ . . . . . . . . . . . . . . . . 760 Gernot Heiss

Joseph Gregor – Librettist, Theaterwissenschaftler und leidenschaftlicher Sammler im Wandel der Regime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 Theodor Venus

Keine Chance für Ullstein – Der Fall Waldheim-Eberle Das Schicksal einer Großdruckerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 Christian Glanz

Erinnerung an „Heldenzeiten“ NS-Codes in der Tiroler Blasmusik der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812 Johann Dvořák

Ingeborg Bachmann, die Moderne und die politische Kultur Österreichs nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822 Maria A. Stassinopoulou

The “System”, “New Greek Cinema”, Theo Angelopoulos: a Reconstruction (1970–1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .832 Moshe Zuckermann

Tod eines Sängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848

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Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen Peter Autengruber

Politische Zäsuren und Erinnerungskultur am Beispiel von Straßennamen, Denkmälern, Wohnbauten und Parks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .859 Michael John

Dadli und Dadlá, die Malaria und Oberösterreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 874 Gerhard Urbanek

Österreichische Gedächtniskultur im Fußballsport. Der Umgang des Sportklubs Rapid mit der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .887 Dirk Rupnow

Geschichte, Gedächtnis, Migration. Über einige Herausforderungen und Perspektiven für die österreichische Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903 Helmut Konrad

Krieg-Schauen Bilder vom Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .914 Aleida Assmann

Memory in the City – The future of the past . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 926 Petra Mayrhofer

United European Memory? Überlegungen zur europäischen Gedächtnislandschaft am Beispiel der Erinnerung an die Systemwechsel 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .939 Emil Brix

Europa im Widerspruch nationaler Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950 Stefan Troebst

Was ist Geschichtspolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .961 Berthold Unfried

Vergegenwärtigte Vergangenheit Welche und wie viel Vergangenheit ist verträglich für die Gegenwart? . . . . . . . . . . . 973

Inhaltsverzeichnis

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Helga Embacher

„Long live Palestine“ – „Israel in our heart“ Debatten um Antisemitismus und Islamfeindlichkeit in Europa im Kontext jüdischer und muslimischer Reaktionen auf die Intifada, 9/11 und den Irakkrieg . . . . . . . . . . .983 Peter Rosei

Geschichte einer Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998 Zeitgeschichte im Wandel Maria Mesner

Zäsuren und Bögen, Grenzen und Brüche, Zeit- und Geschlechtergeschichte Österreich in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003 Johanna Gehmacher

Leben schreiben Stichworte zur biografischen Thematisierung als historiografisches Format . . . . . . . 1013 Barbara Tóth

Zeitgeschichte und Journalismus Reflexionen über das Verhältnis zweier korrespondierender Disziplinen zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027 Herbert Hayduck

Zeit, Medien, Quellen – eine Spurensicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1036 Siegfried Mattl

What’s next: Digital History? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1041 Karin Liebhart

Muslimenfeindlichkeit in der politischen Kommunikation Disziplinübergreifende Zugänge zur Analyse politischer Werbung . . . . . . . . . . . . 1053 Michael Gehler

Europäisierungen, europäische Integrationsgeschichte und ihre Historiografie . . . . . 1070 Manfred Nowak

Globaler Neoliberalismus verletzt historischen Konsens universeller Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1090

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Inhaltsverzeichnis

Hubert Christian Ehalt

Zeit Geschichte. Enzyklopädisches Stichwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107 Anhang

Caroline Rieder. "TV-Star" Oliver Rathkolb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftenverzeichnis Oliver Rathkolb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort des Bundespräsidenten

Das Jahr 2015 war und ist für Historiker und Historikerinnen ein besonderes Jahr. Zu Beginn dieses Jahres blickte Österreich auf 20 Jahre EU-Mitgliedschaft zurück. Am 27. April feierte die Zweite Republik ihren 70. Geburtstag. Am 8. Mai 2015 jährte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa zum 70. Mal. Am 15. Mai 2015 ist der österreichische Staatsvertrag 60 Jahre alt geworden. Der 26. Oktober 2015 brachte den 60. Jahrestag der Beschlussfassung des Verfassungsgesetzes über die österreichische Neutralität. Am 14. Dezember 2015 jährt sich der österreichische Beitritt zu den Vereinten Nationen zum 60. Mal. Und mitten drinnen – nämlich am 3. November 2015 – feiert Univ.-Prof. Mag. DDr. Oliver Rathkolb seinen 60. Geburtstag. Oliver Rathkolb ist ein Historiker und Zeitgeschichtler, der zu diesen (und anderen) historischen Daten und zu historischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts wichtige und wertvolle Beiträge geleistet hat. Sein runder Geburtstag und die hohe Anerkennung, die seine wissenschaftlichen Leistungen finden, sind auch der Anlass für eine Festschrift, für die mehr als neunzig Persönlichkeiten mit einem breiten, fachlichen Spektrum zu einer breiten Palette von Themen außerordentlich interessante Beiträge geschrieben haben, um den Jubilar zu ehren und ihm Freude zu bereiten. Oliver Rathkolb hat an der Universität Wien Geschichte und Rechtswissenschaften studiert, und zwar in jener Zeit, als Bruno Kreisky Bundeskanzler bzw. SPÖ-Vorsitzender war und Hertha Firnberg das Wissenschaftsressort leitete. Den Doktor der Rechtswissenschaften erlangte er 1978 und den Dr. phil. im Jahr 1982. Von 1984 bis 2005 war er wissenschaftlicher Angestellter des Ludwig Boltzmann Institutes für Geschichte und Gesellschaft und von 1985 bis 2003 wissenschaftlicher Leiter des Bruno Kreisky Archivs. Seit 2008 ist Oliver Rathkolb Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien; von Oktober 2008 bis Oktober 2012 war er auch Vorstand dieses Institutes. Viele weitere Funktionen und Aufgaben, die ihm anvertraut wurden, ließen sich noch anführen. Ich möchte nur erwähnen, dass Professor Rathkolb seit 2006 auch Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates des Theodor-Körner-Fonds zur Förderung von Wissenschaft und Kunst ist – eine Aufgabe, aus der sich auch eine gute und regelmäßige Zusammenarbeit mit der Präsidentschaftskanzlei ergibt.

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Insgesamt können österreichische und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, politische Gegenwartsgeschichte, Diktatur und Faschismus sowie Geschichte der internationalen Beziehungen als seine Forschungsschwerpunkte bezeichnet werden. Ich möchte noch hinzufügen, dass Oliver Rathkolb, den ich persönlich als verantwortungsbewussten Wissenschaftler kennen und schätzen gelernt habe, wohl auch einer der am besten informierten Wissenschaftler in Bezug auf die Person und die Biografie von Bruno Kreisky ist. Dies hängt wohl auch damit zusammen, dass Bruno Kreisky den um fast zwei Generationen jüngeren Oliver Rathkolb sehr positiv beurteilt hat und ihm für die wertvolle Hilfe und Mitarbeit bei der Verfassung seiner (Kreiskys) Biografie dankbar war. Rathkolb hat für sein Buch „Die paradoxe Republik“ im Jahr 2005 den „Bruno KreiskyPreis für das politische Buch“ erhalten. Er war (und ist) auch als Experte und Vortragender bei Veranstaltungen im Österreichischen Parlament immer wieder eingeladen worden, und er hat durch seine sachliche Betrachtungsweise zu heiklen Daten der Ersten Republik (zum Beispiel der Ausschaltung des Nationalrates im März 1933 oder den Ursachen für die Entwicklungen im Februar 1934) zur Entkrampfung der Debatten über diese heißen Eisen wesentlich beigetragen. 2011 wurde Oliver Rathkolb mit dem „Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst“ ausgezeichnet. Eine Festschrift mit rund 90 Beiträgen ist nicht nur eine außerordentliche Auszeichnung für einen (aus meiner Sicht) relativ jungen und jedenfalls junggebliebenen Jubilar (die man beim 70. Geburtstag kaum toppen kann), sondern vor allem eine Fundgrube für interessierte Leserinnen und Leser. In diesem Sinne möchte ich Herrn Universitätsprofessor Oliver Rathkolb zu seinem 60. Geburtstag nochmals sehr herzlich gratulieren und allen Persönlichkeiten, die für diese Festschrift Beiträge verfasst oder sich auf andere Weise um das Zustandekommen dieser Publikation verdient gemacht haben, herzlich danken. Bundspräsident Dr. Heinz Fischer

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Vorwort des Rektors der Universität Wien

Der vorliegende Band, entstanden aus Anlass des 60. Geburtstags, gibt einen eindrücklichen Einblick in die „persönliche Zeitgeschichte“, das Wirken von Professor Oliver Rathkolb in Forschung, Lehre und darüber hinaus. Die Kernaufgaben jeder Universität sind Forschung und Lehre. Das Wirken der Universität umfasst aber auch eine aktive Interaktion und Kommunikation mit Wirtschaft, Gesellschaft, Öffentlichkeit und Politik. In allen diesen Feldern hat sich Professor Rathkolb große Verdienste erworben. In seinen Forschungsarbeiten widmet sich Professor Oliver Rathkolb schwerpunktmäßig der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert sowie der österreichischen und internationalen Zeit- und Gegenwartsgeschichte im Bereich der politischen Geschichte. Diese Themen sind auch zentral in seinen Lehrveranstaltungen, die von den Studierenden mit hohem Interesse nachgefragt werden. In der Öffentlichkeit ist Professor Oliver Rathkolb als Experte für österreichische Republikgeschichte im europäischen Kontext mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus und Rechtsgeschichte bekannt. In unterschiedlichen Kontexten informiert er über die zeithistorischen Erkenntnisse zu Entwicklungen in Österreich, insbesondere in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Prof. Rathkolb präsentiert seine wissenschaftlichen Arbeiten sowohl einem Expertenpublikum als auch interessierten Laien. Dies ist ein wichtiger Beitrag, um einer breiten Öffentlichkeit die Bedeutung zeitgeschichtlicher Forschung zu vermitteln. Aus Anlass des Erscheinens des Buches wünsche ich Professor Oliver Rathkolb alles Gute für die anstehenden und künftigen Forschungs- und Lehrprojekte und weiterhin viel Freude, Energie und Engagement bei der Vermittlung der Bedeutung der bearbeiteten Forschungsfragen. Heinz W. Engl Rektor der Universität Wien

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Foto: Klaudija Sabo

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Vorwort der HerausgeberInnen

Oliver Rathkolb ist ein engagierter und leidenschaftlicher Zeithistoriker mit einem enormen Arbeitspensum. Nach einem langen Tag müssen Bananen und Cola oft neue Kräfte mobilisieren. Sie gehören im „Einsatz für die Zeitgeschichte“ somit ebenso zu seinem Tagesablauf wie das „lange 20. Jahrhundert“. Sein breites Interessenspektrum reicht zeitlich vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart und umfasst die Demokratie- und Diktaturgeschichte, die Zeit des Nationalsozialismus und den Kalten Krieg ebenso wie die Geschichtspolitik und Entwicklungen in Kunst und Kultur. Alle, die einmal mit Oliver Rathkolb zusammengearbeitet haben, wissen, dass seine Werke nicht am Computer, sondern auf einem Blatt Papier beginnen. Erste Ideen zeichnet er als Begriffscluster, verbindet einzelne Schlagwörter mit Pfeilen und Linien, streicht durch, ergänzt und umkreist. Nichts liegt also näher, als auch diese Festschrift mit einem solchen Cluster beginnen zu lassen. Es zeigt die Schlüsselbegriffe seines Schaffens und basiert auf einer quantitativen Auswertung seiner fast zwanzigseitigen Publikationsliste. Gleichzeitig führt es in die Kernthemen der vorliegenden zwei Bände ein, die durch persönliche Betrachtungen von WeggefährtInnen zur Biografie Oliver Rathkolbs eingeleitet werden. Als HerausgeberInnen dieser Festschrift danken wir allen KollegInnen und Fördergeber­ Innen, die diese Publikation möglich gemacht haben. Oliver Rathkolb haben wir nicht nur als renommierten Wissenschaftler kennengelernt, sondern vor allem als Mentor und Förderer des akademischen Nachwuchses. Er ist ein unermüdlicher Ideengeber, Projektleiter und Netzwerker, der jungen WissenschaftlerInnen hilft, ihren Weg zu finden. Wir sind Oliver Rathkolb zu unterschiedlichen Zeiten und durch unterschiedliche Projekte begegnet und bis heute mit ihm in unserer Arbeit verbunden. Wir wollen ihm mit dieser Festschrift daher nicht nur zu seinem 60. Geburtstag gratulieren, sondern auch für seine Unterstützung herzlichst danken. Wir wünschen ihm viel Freude mit den vorliegenden Bänden. Um es in seinen eigenen Worten zu sagen: „Es wird spannend!“ Lucile Dreidemy, Richard Hufschmied, Agnes Meisinger, Berthold Molden, Eugen Pfister, Katharina Prager, Elisabeth Röhrlich, Florian Wenninger und Maria Wirth

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Begrifflichkeiten. Visualisierung basierend auf einer quantitativen Analyse von Oliver Rathkolbs Publikationen. Daten: Eugen Pfister und Katharina Prager. Grafik: Dominik Hruza.

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25 Peter Menasse

Der Professor mit den freundlichen Augen Eine uneingeschränkte Huldigung für Oliver Rathkolb

Er hat freundliche Augen. Sehr freundliche Augen sogar. Auch wenn er meist ernst schaut. Nein, so kannst du über einen Universitätsprofessor nicht zu schreiben beginnen. Andererseits, es stimmt ja. Dieser Mann wirkt so nett und vertrauenswürdig, du würdest nicht zögern, bei ihm ein gebrauchtes Auto zu kaufen. Aber er verkauft keine Autos und auch keine Aktienpakete, nein, er ist Historiker, Professor für Zeitgeschichte an der Universität zu Wien. Er sollte eigentlich Arzt sein. Sein Großvater war Arzt, der Vater war Arzt, der Bruder ist einer, die Söhne sind gerade daran, welche zu werden. Kein Historiker weit und breit, nur Skalpelle, Tupfer und Blutdruckmesser. Gut, könntest du sagen, diese Instrumente verwendet Herr Rathkolb auch. Er schneidet messerscharf analytisch in die Wunden der Gesellschaft, er tupft, weil er trotz seiner Profession an das Gute in den Menschen glaubt, das Blut der historischen Grausamkeiten weg und er misst den gesellschaftlichen Hochdruck mit ernster Miene und klarem Verstand. Der Arzt in ihm erkennt die Symptome, der Historiker kommt ganz nahe an die Ursachen. Heilen kann der eine wie der andere nicht, auch wenn keiner aus diesen beiden Berufsständen das zugeben wollte. Nichts ist so sicher wie der Tod, da kann ärztliche Kunst nur verlängern und noch ein wenig verlängern. Ja und sicher ist auch die Wiederholung der Geschichte, nein nicht als Persiflage, sondern als eine im neuen Gewand einher kommende Mutation. Beginnen wir aber doch am Anfang. Der freundliche Professor Rathkolb gibt ausführlich Antwort, du musst nur ein bisschen stupsen. Wenn du ein Interview mit ihm führst, fängst du mit einer Frage an, den Rest erledigt er. Zu Hause brauchst du dann nur mehr nach jedem Absatz eine weitere Frage einfügen, die zu stellen, dir nicht möglich war, weil zum Ersten willst du ja einen Professor nicht unterbrechen und zum Zweiten lässt er sich auch nicht. Macht nichts, weil es spannend ist, ihm zuzuhören und er ohnehin alles sagt, was du wissen wolltest. Und noch mehr, was dir zu fragen gar nicht eingefallen wäre. „Litschau ist eine Stadtgemeinde mit 2.283 Einwohnern im Bezirk Gmünd in Niederösterreich. Sie ist die nördlichste Stadt in Österreich“, sagt uns Wikipedia. Dort kommt er her, aus dem bitterkalten Norden, dem Schweden Österreichs. Wer ihn kennt, weiß, dass ich schon ein wenig hinsteuere zu seinem väterlichen Vorbild. Aber davon später.

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Zeitgeschichte „persönlich“

Aus dem Litschau der 1950er und 1960er Jahre stammen nicht eben die kritischen Linken. Dort war bis zum Jahr 1989 das Land zu Ende und vom nächsten durch unüberwindbare Grenzsperren getrennt. Die ÖVP regierte und regiert bis heute, eine „Hungerburg“ wird als Attraktion angeführt. Folgerichtig finden wir unter „Persönlichkeiten mit Bezug zur Stadt“ genau zwei. Aber der eine davon ist immerhin ein Schwergewicht unter den Persönlichkeiten des Landes, ein Professor für Zeitgeschichte, tätig in der Hauptstadt, weit im Süden. Der Herr Professor Oliver Rathkolb eben, der mit den freundlichen Augen. Dort an der Grenze zur Tschechoslowakei, wo man als Kind beim Spielen darauf achten musste, nicht auf die falsche Seite zu geraten, ist seine erste Prägung entstanden, die dann zu einer Dissertation über den Kalten Krieg geführt hat. Aber soweit sind wir noch nicht. Erst war er Schüler, pendelte nach Gmünd, was ein neues Stück Freiheit bedeutete. Dort waren zum einen keine Eltern, nicht der Geruch nach Chloroform und das Wehklagen der Zahnschmerz-Patienten, und zum anderen gab es ein Kaffeehaus. Möglicherweise ließ dieses Ambiente den Wunsch entstehen, Journalist zu werden. Schnell war ein Berufsweg skizziert, der von Gmünd schnurstracks an die Columbia University führen sollte und in der nächsten schnellen Stufe zum Pulitzer-Preis. Eine kleine Hürde aber baute sich zwischen „Times Magazine“ und dem jungen Rathkolb auf – ein langweiliges und nichtssagendes Journalismusstudium. Also wechselte der junge Mann, nein nicht zur Medizin und auch nicht zu Geschichte, sondern zur Juristerei. Auch langweilig, auch nicht seine Kragenweite, obwohl er das Studium so nebenbei doch abschloss. Nach Absolvierung der ersten Staatsprüfung belohnte er sich damit, mit einem Geschichtestudium zu beginnen. Unterwasser-Archäologe wollte er jetzt werden, aber es hat sich dann irgendwie auch das nicht realisiert. Ein Schlüsselerlebnis war schließlich ein Seminar bei Gerhard Jagschitz zu „Nachkriegsplanungen im Zweiten Weltkrieg“ mit spannenden internationalen Inhalten, das ihn schließlich zum Zeitgeschichtler werden ließ. So findet er heute seine Schätze, ohne Taucheranzug und Schnorchel, was ich mir doch ein wenig einfacher vorstelle. Irgendwo schwebte aber immer noch der Journalismus in seinem Kopf, was ihn zu einem Medienthema führte. Er forschte zur politischen Propaganda der Amerikaner, erhielt ein Fulbright-Stipendium – kein Pulitzer-Preis, aber auch nicht zu verachten – und kam in den USA an Dokumente heran, die eben erst zu Beginn der 1980er Jahre der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Das sollte ihm 1984 ein gutes Entree geben, als er – wir nähern uns Schweden – Bruno Kreisky kennen lernte, den er für ein Forschungsprojekt interviewte. Geschichte studiert zu haben, war beim Sonnenkönig eine gute Voraussetzung, wenn wir uns daran erinnern, dass er einmal einem ORF-Redakteur mit den Worten „Lernen’s a bisserl Geschichte, Herr Reporter“ die Leviten las. Bei Rathkolb wäre ihm das nie eingefallen. Der Herr Professor verblüffte den sonst wortgewaltigen Kanzler und es wurden aus einem Interview bald deren drei, schließlich die Arbeit an Kreiskys Memoiren und der Aufbau des

Peter Menasse

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Archivs. Wir haben ja schon erörtert, wie schwierig es ist, Herrn Rathkolb zu unterbrechen, wenn er mal ins Reden kommt. Er erzählt das vom ersten Zusammentreffen mit Kreisky so: „Normalerweise hat ja er immer solche Gespräche dominiert. Ich aber wollte was von ihm wissen und hab ihn immer weiter mit Dokumenten gefüttert. Er war völlig perplex, hatte ich doch zum Beispiel das erste Dokument aus dem Presidential Library, Unterlagen aus der Eisenhower Library, Gesprächsprotokolle von der ‚Berliner Konferenz‘ und ähnliches“. Ja, so hat auch der große Bruno Kreisky erlebt, dass es schwierig sein kann, zu Wort zu kommen, dass man aber viel lernen kann von Oliver Rathkolb, was sich wiederum nicht von jedem Professor behaupten lässt. Wir wollen jedoch nicht übertreiben und in eine falsche Richtung einbiegen. In Wahrheit war der junge Historiker total fasziniert von Bruno Kreisky. Armin Thurnher schrieb einmal, dass Rathkolb „ein in der Kreisky-Ära geprägter Sozialdemokrat“ sei und das mag so stimmen, aber er hatte auch den Vorzug, ein direkt von Kreisky selbst geprägter Mensch zu werden. Also ein bisserl zugehört wird er ihm demzufolge ja doch haben. Es ist faszinierend zu erfahren, dass Rathkolb schon in seiner Jugendzeit im Waldviertel durch eine erste Begegnung mit einer Schrift von Kreisky stark beeinflusst wurde. Es war eine Wahlkampfbroschüre, namens „Mann auf Draht“, auf deren Titelseite ein telefonierender Kreisky zu sehen ist. Ja damals hatten die Telefone noch einen Draht und junge Menschen lasen in richtigen Büchern, sogar in Wahlbroschüren. „Du musst dir vorstellen, ich sitze da im Waldviertel und auf einmal erfahre ich etwas von einem polyglotten, interessanten Intellektuellen, der den Bogen von der Jahrhundertwende bis zum Heute spannt, ich erfahre von seinem jüdischen Umfeld – all das eine völlig neue, andere Welt, als ich sie kannte“. Jetzt aber genug von Herkunft, Hinkunft und großen Vätern. Der Oliver Rathkolb von heute ist eine imponierende Person. Bis auf den Fußball, da bewundert er Rapid. Aber jeder hat so seine Fehler. Seine Frau, eine Sängerin an der Wiener Staatsoper, hat ihn früher mitunter gemeinsam mit den damals noch jungen Söhnen ins Hanappi-Stadion begleitet. Sie habe dort immer die Chöre von der Westtribüne, wo die eingefleischten Rapid-Fans sitzen, bewundert. Naja, eine solche Annäherung an diesen Verein lässt sich noch irgendwie nachvollziehen, aber Anhänger zu sein – also nein, Herr Professor. Für einen Journalisten ist Oliver Ratholb der personifizierte Glücksfall. Er hat einfach ein gutes Gefühl dafür, was ein Schreiber braucht. Er erklärt dir viel und gibt dir am Ende jeder Audienz mindestens zwei Bücher und drei Papers mit. Sein Arbeitsraum ist Außenstehenden ein völliges Mirakel. Ein riesiger Schreibtisch, ein noch deutlich größerer Besprechungstisch und auf beiden, ebenso wie in den alle Wände bedeckenden Schränken befinden sich Stöße von Papier und Unterlagen. Da kann sich kein Mensch mehr auskennen, denkst du dir. Doch er holt zielsicher ein Buch unter einem Stoß auf dem Schreibtisch hervor, geht zu einem Schrank, um eine Broschüre herauszunehmen und findet gleich auch auf dem Bespre-

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chungstisch einen Zettel, den er dir zeigen will. Noch Stunden später, längst wieder an deinem ­Arbeitsplatz sinnierst du darüber, wie es möglich ist, sich in diesem Chaos, nein, in dieser Überfülle an geschriebenem Wissen, zurechtzufinden. Ob er alphabetisch sortiert? Von Apfel bis Zeugnisse, von amerikanischen Akten bis zensurierten Zertifikaten? Es ist nicht erstaunlich, dass Oliver Rathkolb nur wenig Sport betreibt. Alleine die Wegstrecke, die er in seinem Arbeitsraum zurücklegen muss, um von Papierstoß zu Papierstoß zu gelangen, bringt dich als Zuschauer ins Schwitzen. Am Ende hast du nicht nur mehr Faktenwissen, sondern auch profunde Einschätzungen und Positionen. Der Historiker Rathkolb bezieht Stellung, fühlt sich der Gesellschaft verpflichtet und tut was für sie. Es klingt unmodern und so sympathisch, wenn er sagt: „Mir haben Steuerzahler, darunter auch meine Eltern, ein kostenloses Studium ermöglicht. Ich habe von der Gesellschaft profitiert und es ist die Aufgabe der Zeitgeschichtler und aller Humanwissenschaftler, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.“ So ist das Arbeitszimmer mit den vielen Papierstößen eine kleine Widerstandsinsel des Verantwortungsbewusstseins in einer neoliberalen Welt. Das kann nur einer leisten, der mit sich und den Menschen eins ist, der seinen intellektuellen Überzeugungen in seinem eigenen Verhalten gerecht wird, einer eben, der freundliche Augen hat. Das darf man am Ende doch auch über einen Universitätsprofessor schreiben, der bald sechzig Jahre alt wird und immer noch so ein Bündel an Energie und Tatkraft ist. Und dazu noch: Alles Gute, Herr Professor. Oder in guter jüdischer Tradition: Auf 120!

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Oliver Rathkolb – Zeitgeschichte als Friedensprojekt

Ihre Antrittsvorlesung an der Universität Salzburg schließt Erika Weinzierl im Juni 1968 mit folgender Feststellung: „Zeitgeschichte maßt sich nicht an, öffentliches Gewissen ihrer Zeit zu sein; wohl aber ist sie zur Untersuchung der Frage berechtigt und verpflichtet, ob [zum Beispiel die österreichischen Universitäten der Zwischenkriegszeit] die von ihnen selbst beanspruchten Funktionen erfüllt haben“.1 Dieses Grundverständnis der Zeitgeschichte ist seit ihren Pioniertagen Normalität geworden. Allerdings müsste man vielleicht hinzufügen, dass mit steigender Akzeptanz des vorgehaltenen Spiegels die Eliten – oder besser die Handelnden – zusehends ihre Aufgeregtheit über kritische Befunde verloren haben, da weder sie noch die sogenannte Öffentlichkeit sich überhaupt mit wissenschaftlichen Reflexionen befassen. So gesehen läuft die Leistung der Aufbaugeneration der Zeitgeschichte scheinbar zunehmend ins Leere. Demgegenüber gibt es aber ohne Zweifel einen unüberschaubaren Fortschritt in Niveau und Breite der akademischen Arbeit an der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Oliver Rathkolb hat als Paten seines beachtlichen Werkes mehrere inspirierende Quellen. Hierzu zählen zum einen seine akademischen Lehrerinnen und Lehrer und seine Kolleginnen und Kollegen aus dem Fach, von denen ich nur einige Namen hervorheben kann, wie etwa Gerhard Jagschitz, Erika Weinzierl, Gerald Stourzh oder John Boyer. Zum anderen wurde er durch intellektuelle „Praktiker“ der Zeitgeschichte wie Bruno Kreisky und Henry Kissinger geprägt. Eine ganz spezifische Dimension Oliver Rathkolbs als Historiker ist aber die Tatsache, dass er über die Ebenen der Geschichtsschreibung und der Politik hinaus auch die Kommunikation und das Wissen um die Wirkung der Medien in seine Arbeit einfließen lässt. In dieser Hinsicht sind vor allem Axel Corti und Hugo Portisch in den Kreis der „Mentoren“ Oliver Rathkolbs aufzunehmen. Oliver Rathkolb wurde zwar in Wien geboren, verbrachte aber seine Jugend im nördlichsten Zipfel des Waldviertels. Man kann sich vielleicht heute kaum mehr vorstellen, wie weit Litschau, das nach Westen und Norden hin unmittelbar an der Grenze des damaligen Ostblocks lag, von der Universitas Litterarum, die später sein Leben werden sollte, entfernt gewesen sein muss. 1

Erika Weinzierl (1968): Universität und Politik in Österreich, Salzburg/München, 21.

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Es war die Zeit des Nachkriegsösterreichs, die rückblickend zwar für ihr Aufbauwerk und für ihren Optimismus zu bewundern ist, aber hinsichtlich ihrer politischen Kultur vielfach noch als nationalkonservativ, wenn nicht sogar als schlicht reaktionär gesehen werden muss. Der Eiserne Vorhang war buchstäblich hautnah zu fühlen. Oliver Rathkolb wird ihn jeden Tag am Schulweg gesehen haben, und Mobilität war landesweit nicht nur im geographischen Sinn noch eher bescheiden. Natürlich hilft es, wenn man in einer bürgerlich-aufgeschlossenen Familie aufwächst, und gerade die Enge einer ins Nirgends verlaufenden Grenzregion kann bei einem begabten Jugendlichen zu einem starken Willen führen, die Schranken zu überwinden, und Neugier nach einem besseren Verständnis der Zusammenhänge und des Funktionierens von Gesellschaften erwecken. Aus Enge wurde daher nicht Verkleinerung, sondern Anregung, die unmittelbare und die dahinter liegende Welt zu erkunden und zu begreifen. Er selbst würde von Neugier an der Gegenwart und an den aus der Vergangenheit erwachsenen Prozessen sprechen. Selbst als Zeitgeschichtler wird er sich folgerichtig nicht auf die Sicht auf das vergangene Jahrhundert beschränken, sondern tief aus dem 19. Jahrhundert schöpfen, um Zusammenhänge zu erklären. Obgleich er eine nahezu grenzenlose Themenvielfalt bearbeitet, konzentriert er sich dann doch auf seine Themen, die aber an Größe nichts zu wünschen übrig lassen. Seine „paradoxe Republik“ will einen „klaren Blick in das kollektive Gedächtnis der Österreicherinnen und Österreicher eröffnen, der vor allem zum Nachdenken über Identität und Demokratiebewusstsein anregen soll“.2 Das ist ein anspruchsvolles Konzept, das viel über ihn aussagt. Aber er macht sich die Aufgabe noch komplexer, indem er immer versucht, die internationale Dimension einzubeziehen, und mit einem guten Gespür für Macht- und Entscheidungsstrukturen gelingt es ihm, sich seinen Themen zu nähern und sie für die Analyse aufzubereiten. Leserinnen und Leser der zeitgeschichtlichen Literatur schaudert vor der Fülle von Daten und Informationen, ja selbst vor der unendlichen Historiografie, der sich eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler gegenüber sieht, wenn eine Arbeit begonnen wird. Wie schafft es auch ein sehr kluger Kopf, aus all diesen Dokumenten einen Ansatz herauszufinden, der geeignet ist, zu erkennen, was tatsächlich den Gang der Dinge getrieben hat, wenn so Vieles, worauf sich die Forscherin oder der Forscher stützen könnte, verschleiernde Fassade und Kulisse ist. Wie auch immer – genau das kann Oliver Rathkolb. Er schafft es brillant, die tatsächlichen Entscheidungsabläufe herauszuarbeiten: „Eine gute Zeithistorikerin, ein guter Zeithistoriker muss auch viel von Mediengeschichte, Medienpolitik und -rezeption verstehen, muss auch viel von politischer Inszenierung und politischen Entscheidungsprozessen verstehen“.3 2 3

Oliver Rathkolb (2005): Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Innsbruck, 14. „Weg von der engen Nationalgeschichtsschreibung hin zu einer stärker vergleichenden europäischen und interna-

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Wenn er Leistungen und Irrwege der Zweiten Republik scharf beobachtet und analysiert, dann hilft ihm sein Ansatz, die „empirisch fundierte, anhand auch von eigenen Archivforschungen akzentuierte Analyse und Interpretation“.4 Das hat er sehr schön in einem Interview mit seinem Kollegen Jiří Pešek festgehalten. Und da ist ihm auch ganz wichtig, dass er die Verbindung zur Kommunikationswissenschaft, ja selbst zur Kunstgeschichte sucht. Er spricht von der Notwendigkeit der Öffnung in Richtung anderer Disziplinen. Im gleichen Interview sagt er: „Ich versuche mich immer methodisch zu orientieren in einem Dreieck historischer Methoden, politikwissenschaftlicher Theoriemodelle, die aber sehr stark anwendungsorientiert sein müssen auf empirische Forschungsziele, und kommunikationswissenschaftliche Debatten.“5 Dieser Ansatz ist über seine akademische Qualität hinaus natürlich ganz besonders in Zeiten eines Umbruchs, wie wir ihn wohl in der Folge der ökonomischen Krise der letzten Jahre erleben, hoch relevant. Oliver Rathkolb hat sich dabei ein besonderes Verdienst mit seinem Fokus auf Gesellschaft und Demokratie erworben. Eindrucksvoll ist seine Arbeit über die Entwicklung autoritären Denkens in ausgewählten europäischen Ländern. Mit sicherem Instinkt hat sich Oliver Rathkolb diesem Thema früh gewidmet. Kein Zweifel, diese Arbeiten sind brisant. Konnte vor dreißig Jahren der Sinowatz-Sager „alles ist sehr kompliziert“ noch verspottet werden, so ist uns das Lachen erstarrt. Die Komplexität ist heute viel klarer, vielleicht ist sie auch noch viel unüberschaubarer, obgleich jene, die vereinfachen, sich noch unverschämter und lauter gebärden. Der Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, und sie damit zum politischen Thema zu machen, statt sich mit sogenannten Sachzwängen abzufinden, ist bescheiden geworden. Oliver Rathkolb stellt ohne jeden Moralismus die Fragen: Wie reagiert die Gesellschaft, was hat sie geprägt, was haben wir aus den autoritären Erfahrungen mitbekommen? Und wir alle müssen uns die Frage stellen: Was können wir tun, was müssen wir tun? Seine Leistung zur Aufklärung dessen, was Österreich im vergangenen Jahrhundert durchgemacht, mitverbrochen, aber auch erduldet hat, steht in diesem Beitrag nicht im Mittelpunkt, obwohl für mich selbst seine Arbeiten über die nationalsozialistischen Enteignungen und Plünderungen von besonderer Bedeutung waren. Ob es sich um die Postsparkasse, um andere Banken, die Energiewirtschaft oder die Kunst handelt, Rathkolb hat mit seinen Kolleginnen und Kollegen ganz wesentlich unser Gedächtnis geklärt und durch seine Arbeit Unrecht dokumentiert und ehrliche Erinnerung ermöglicht.

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tionalen Geschichte“. Interview von Jiří Pešek mit Oliver Rathkolb am 19. Mai 2011 in Wien, in: Jiří Pešek / Oliver Rathkolb et. al (Hg.) (2013): Zeitgeschichte in Bewegung. Die österreichische Erforschung des 20. Jahrhunderts, Prag, 113–128, 119. Pešek et al. (2013), 125. Pešek et al. (2013), 119.

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Aus dem Waldviertler Schüler ist ein bedeutender österreichischer Zeithistoriker geworden, der mit bedachter Sprache das sagt, was er in profunder Arbeit über uns und unser Jahrhundert entdeckt und offengelegt hat. Er bleibt Erika Weinzierls Bescheidenheit treu und bewahrt sich in seiner Beurteilung „Gleichmut“, wie ihn Bruno Kreisky so gerne zitiert hat, aber wie jenen hindert das auch diesen nicht an seinem hohen intellektuellen Engagement. Leid wird – wie auch von Papst Franziskus aktuell gefordert – anerkannt, aber nicht instrumentalisiert. Natürlich würde es mich freuen, wenn er sich nun der nächsten Dimension widmet: „Von der engen Nationalgeschichtsschreibung hin zu einer stärkeren vergleichenden europäischen und internationalen Geschichte“.6 Was immer da kommt: Eine „schmale, kleine, freche europäischen Geschichte“ macht neugierig.7 Der Aspekt der Internationalisierung rundet gut die Skizze der Persönlichkeit Oliver Rathkolbs ab. Er ist eine der großen Persönlichkeiten der Alma Mater Rudolphina. Diese wunderbare alte Universität hat sich im Laufe der letzten Jahre deutlich gewandelt. Natürlich, sie ist und wird es wohl auch bleiben, eine Universität mit sehr großen Studierendenzahlen. Das führt leider derzeit zu erheblichen Anforderungen und Problemen in der Betreuung der Studierenden. Aber zugleich haben die Jahre der Autonomie eine ganz beachtliche Öffnung und Internationalisierung der Universität Wien gebracht, die in nicht wenigen akademischen Disziplinen eine enorme Aufbruchsstimmung und eine sichtbare Hebung der Qualität von Forschung und Lehre ermöglicht hat. Und gerade das gesamte Spektrum des Fachs Geschichte an der Universität Wien verdient Anerkennung. Seit Jahren zeigen internationale Rankings den außerordentlich hohen Ruf, den diese Fächer der Geisteswissenschaften genießen. Oliver Rathkolb hat immer wieder auf diese Rolle Wiens hingewiesen, ohne allerdings seinen großen persönlichen Beitrag hierzu hervorzuheben. Oliver Rathkolb ist ein kluger, gebildeter und kultivierter Mensch mit großer Disziplin und unvorstellbarem Fleiß. Er ist ein sorgfältiger Aufklärer und Aufarbeiter, der mit vielen seiner Arbeiten zu den düsteren Seiten unserer Geschichte den unzähligen, leider noch vielfach namenlosen Opfern Würde gegeben hat. Selbst, ja gerade mit diesen Einblicken und Einsichten wird er zum Lehrer, der Brücken baut. Das Höchste, was ein Sozial- und Geisteswissenschaftler erreichen kann, ist es, Friedensstifter in unserer Gesellschaft zu werden. Mögen wir auch in der Zukunft ein reiches Werk des Brückenbauers Oliver Rathkolb erleben.

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Pešek et al. (2013), 114. Pešek et al. (2013), 128.

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Oliver Rathkolb und die Kreisky-Memoiren

Als Bruno Kreisky sich nach der Nationalratswahl 1983 vom Amt des Bundeskanzlers zurückzog, haben Freunde und Verleger ihn aufgefordert, seine Erinnerungen zu schreiben. Er hat lange gezögert, da sein Gesundheitszustand nicht gut war. Er war an einem Auge erblindet und sah sich den Strapazen einer solchen Aufgabe nicht gewachsen. Als er sich dann doch dafür entschied, für den deutschen Siedler Verlag seine Erinnerungen zu verfassen, hat er nach einer jungen wissenschaftlichen Kraft gesucht, die ihm bei der Recherche helfen könnte. Kreisky war immer sehr genau, wenn er Zitate verwendete: Er ging immer zum Original zurück und verwendete nie überlieferte Texte. Er hat sich mit Frau Universitätsprofessorin Erika Weinzierl beraten und sie hat ihm Oliver Rathkolb empfohlen. Ich erinnere mich noch gut an die erste Begegnung mit Oliver in der Armbrustergasse, dem Wohnsitz der Familie Kreisky. Ein junger Mann mit schwarzem Bart, eher ernst, hat Kreisky sofort überzeugt. Nach einem ausführlichen Gespräch, in dem Kreisky Olivers Kenntnisse getestet hatte, bot er ihm die Mitarbeit an. Das war ein Glücksfall, weil Oliver – jung und ehrgeizig – präzise und rasch alle erforderlichen Unterlagen und Daten herbeischaffte, die Kreisky zum Vergleich seiner Erinnerungen benötigte. Kreisky war ein belesener Mann, der gerne zitierte. Das war auch für Oliver anregend. Wir haben dann in vielen Sitzungen die gesprochenen Erinnerungen Kreiskys auf Tonband aufgenommen – Oliver war auch Tonmeister und fallweise Kameramann. Er war also vielfältig tätig, nicht nur im wissenschaftlichen Bereich. Wolf Jobst Siedler – der Verleger, den Kreisky schätzte – und der von ihm beigezogene Joachim Fest als Zuhörer, Oliver, Manuela Butter und Susanna Bokor, die die Texte dann abtippten, und ich waren anwesend und gewannen spannende Einblicke in ein ereignisreiches und vielfach schwieriges Leben. Die Arbeiten wurden in Etappen durchgeführt, in Wien, am Semmering und auf Mallorca. Es war für alle eine sehr bereichernde Zeit – und auch mit viel Humor gewürzt, wenn Kreisky, Siedler und Fest sich austauschten. Auch Siedler und Fest waren von dem Wissen des jungen Historikers beeindruckt – und auch sonst war die Gruppe sehr harmonisch. Über die Entstehungsgeschichte der Memoiren gibt es in den drei Bänden Hinweise genug. Ich möchte hier nicht zu ausführlich werden. Nach dem Ableben Bruno Kreiskys und der Gründung des Bruno Kreisky Forums für internationalen Dialog, als dessen Generalsekretärin ich betraut wurde, haben wir Oliver gebeten, als Wissenschaftskoordinator zu fungieren. Er war bereits der wissenschaftliche Leiter

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des lange vorher gegründeten Kreisky Archivs, in dem in Projektarbeit der Nachlass Kreiskys aufgearbeitet wurde und wird. So entwickelte sich Oliver zu einem profunden Kenner des Lebens und Wirkens von Bruno Kreisky, was ihm später nicht nur Vorteile einbrachte. Als Spezialist war er natürlich oft Interviewpartner im Radio und Fernsehen. Kreisky hat Oliver nicht nur als Wissenschaftler und Mitarbeiter geschätzt – man könnte sagen, er hat ihn richtig gern gehabt und seine Gesellschaft hat ihm Vergnügen bereitet. Persönlich bin ich Oliver sehr dankbar, weil er beim Umbau des Hauses und der Gründung des Kreisky Forums unendlich hilfreich war, auch mit seinen juristischen Kenntnissen. Es war immer ein Vergnügen, mit ihm zu arbeiten und auch oft ein Spaß, weil er eine unkomplizierte Art hat, die frei von intellektuellem Hochmut ist. Zu seinem besonderen Geburtstag wünsche ich ihm alles Gute und weiterhin viel Erfolg und Freude an seiner Tätigkeit, die ihm ja zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden ist.

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Ein Stück gemeinsamen Wegs

Im Jahre 1987, dem Jahr des ersten Zusammentreffens des Autors mit dem Jubilar, zeigte sich Wien dem Besucher aus dem westlichen Ausland teilweise als Zeitkapsel mit viel Selbstbezogenheit und eigenartigen Riten. Der Kellner im Café spricht den fast noch jugendlichen Kunden allen Ernstes mit „Herr Baron“ an, im Meinl kauft die Dame im Pelz acht Dekagramm Kalbspariser, beim Post- und Telegraphenamt wurde ein Viertelanschluss bereits acht Monate nach Antragstellung in Aussicht gestellt und im Kunsthistorischen Museum ist im November um 16 Uhr die ägyptische Sammlung nicht mehr zu besuchen, da die Exponate keine elektrische Beleuchtung haben. Die Statue eines knienden Schreibers hingegen hat im Rücken eine verschließbare Nische eingearbeitet, in der der Aufseher wenig dezent seinen Sliwowitz-Vorrat lagert. Als Hausgast im Hause Teuber-Weckersdorf kann der Autor in langen Abendgesprächen oder als Gast ihrer Privatissima erste Einblicke des Verstehens in diese noch fremde Welt gewinnen. Ein Telefon erhält der Verfasser nach drei Wochen, Lotte Teuber sei Dank. Weil das Außenministerium der Republik die Einsicht in die Akten des Hauses der 1950er und 1960er Jahre verweigert hatte, war der junge Student gezwungen, Parallelüberlieferungen ausfindig zu machen. Erika Weinzierl machte auf eine der ergiebigeren Spuren aufmerksam, die in die kurz zuvor gegründete Stiftung Bruno Kreisky Archiv führte. Am noblen Schwarzenbergplatz, dort jedoch in einem Dachgeschossrefugium, wirkte Oliver Rathkolb, Historiker und Jurist, in einem kleinen Team als wissenschaftlicher Leiter. Weniger ein Archivar als ein junger, agiler Historiker empfing den Ratsuchenden und wurde nicht müde, Kontakte, Hinweise und Handreichungen anzubieten. Sehr offen wurde der Zugang zur Archivmaterial der Stiftung gewährt, das Teile der Lücken, die die Weigerung des Außenministeriums riss, schließen konnte. Unabhängig davon war mir durch meinen deutschen Lehrer Peter Krüger in Marburg das Entrée zu Fritz Fellner gegeben, der dann und wann im Café Rathaus empfing. Nach geklagtem Leid über Archivsperren und andere Eigenheiten des Gastlandes kommt die Sprache auf meine Recherchen in der Stiftung Bruno Kreisky Archiv. Da sei ich beim besten jungen Historiker Österreichs und gut aufgehoben, beschied der Altmeister. Nach dem Ablauf des kurzen Stipendiums erreichte mich dann ein Angebot zur Mitarbeit im Team des Kreisky Archivs und die Arbeit auf Projektbasis begann.

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Hier konnte die vielfältige Wirkungsweise des „besten jungen Historikers Österreichs“ aus der Nähe beobachtet werden.

Wege der Forschung Zunächst traten drei Wirkungsweisen in Erscheinung. Die Arbeiten zum Thema Österreich nach 1945 mit seinen Schwerpunkten zur US-Besatzungs- und Österreichpolitik, seine Arbeiten mit Bruno Kreisky, die unter anderem zum Erscheinen der Erinnerungen und Memoiren1 Kreiskys führten, die Arbeit mit dem Vorlass Kreiskys2 im Archiv der Stiftung und damit verbunden das Wissenschaftsmanagement, der Betrieb, die Erhaltung und Entwicklung der Stiftung als wissenschaftliche Institution in Österreich. Um die weitverzweigte Forschungs-, Publikations- und Lehrtätigkeit, die sich in den folgenden Jahren erschließen sollte, besser verfolgen zu können, sei an dieser Stelle, in einer Parathese ein systematisierter Überblick, ohne das Postulat der Vollständigkeit, über die Schwerpunkte der wissenschaftlichen Arbeiten des Jubilars eingefügt. a) Demokratiegeschichte Österreichs, Entnazifizierung und Demokratieaufbau, Justiz und Zeitgeschichte,3 Elitenkontinuitäten, Mythen, Chiffren und Ikons der Staatsbildung und der nationalen Identität der Zweiten Republik; Gründungsgeschichte der Zweiten Republik im Umfeld von Besatzung und Kaltem Krieg, b) Die Zweite Republik in der internationalen Arena, Außenpolitik, Auswärtiger Dienst, Rezeption Österreich nach 1945 in der Welt, Südtirol, Die USA und die Zweite Republik, Neutralität und Détente, Nord-Südpolitik, c) Biographische Arbeiten

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Bruno Kreisky (1986): Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, Berlin; ders. (1988): Im Strom der Politik. Der Memoiren zweiter Teil, Berlin/Wien; ders. (1996): Der Mensch im Mittelpunkt. Der Memoiren dritter Teil. Herausgegeben von Oliver Rathkolb, Johannes Kunz und Margit Schmidt, Wien. Die Stiftung Bruno Kreisky Archiv wurde 1984 von Bruno Kreisky und dem Industriellen Karl Kahane gegründet und nahm im Februar 1985 ihre wissenschaftliche Tätigkeit auf. Bruno Kreisky hatte seine gesamtes politisches und privates Schriftgut, Fotos, Ton- und Bildaufzeichnungen in das Archiv eingebracht. Justiz und Zeitgeschichte ist zugleich der Titel einer Reihe von Symposien gehalten 1973-1999, deren Beiträge in loser Reihe von Erika Weinzierl und Oliver Rathkolb herausgegeben wurden.

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d) Holocaust Era Assets, NS-Zwangsarbeit, Restitution, e) Österreich und seine bilateralen Beziehungen: zu Tschechien (ČSR, ČSSR, ČSFR); zu Schweden, zu Deutschland, f ) Asylpolitik der Zweiten Republik g) Exilforschung h) Geschichtsdidaktik und Erinnerungstechniken und Erinnerungskultur in Österreich und Europa In dem hier zur Verfügung stehenden Raum können nicht alle Stränge gleichermaßen verfolgt und beschrieben werden. Auch und insbesondere weil der Autor nur einige Teile der Arbeiten aus der Nähe verfolgen konnte. Hier fehlt das Wissenschaftsmanagement, das in der Folge einen hohen Stellenwert erhalten sollte. Zunächst sei auf die besondere archivrechtliche Lage in Österreich verwiesen, die vor dem „Bundesarchivgesetz“ (BarchG) vom August 1999 nahezu ungeregelt war. Dies führte einerseits dazu, dass wichtige Archivbestände verloren gingen ( Julius Raab), andere nicht allgemein zugänglich waren und so freie historische Forschung in weiten Bereichen zur Geschichte der Zweiten Republik blockiert war. Auf eine Klage, die mangels Bescheidcharakters der Ablehnungsschreiben des Bundeskanzleramtes nicht ohne weiteres einzubringen war, gab der Verfassungsgerichtshof dem Historiker Recht. Die Auflage des Höchstgerichts den Zugang zu den in Frage stehenden Ministerratsbeschlüssen zu regeln wurde erst mit erheblicher Verspätung durch den Gesetzgeber Folge geleistet. Dies unterstreicht die zentrale Bedeutung, die der Stiftung Bruno Kreisky Archiv in der Forschung zur Zweiten Republik in dieser Zeit zukam. Die Tatsache, dass auch der größte Teil des Vorlasses von Bundeskanzler Franz Vranitzky und Teile des Nachlasses von Bundeskanzler Fred Sinowatz 1997 im Archiv der Stiftung verwahrt werden, zeugt davon. Die beiden zuletzt genannten Bestände werden gemeinsam mit dem Österreichischen Staatsarchiv kuratiert und sind dem Archivgesetz unterstellt. Mit dem Zugang zu den Quellen, dem intensiven Studium und einer überragenden Kompetenz in der Kenntnis, Einordnung und Verknüpfung der international verstreuten Quellen konstatieren wir eine der Säulen der Arbeit des Jubilars. Keine historische Analyse und Darstellung ohne intensives Quellenstudium. Dabei wurden internationale Archive, in Europa, den USA ebenso in die Arbeit einbezogen wie Archive und Sammlungen in Österreich. Regelmäßige Recherchen in den National Archives und den Presidential Libraries der USA, rasche und weitsichtige Ausnutzung von engen Zeitfenstern etwa beim Zugang zu Archiven in Moskau, der Aufbau eines Netzes von MitarbeiterInnen, die Archive in Osteuropa jenseits der eigenen Sprachkompetenz erschließen halfen, oder speziell zum Quellenstudium und Sammeln ausgeschickt wurden, bilden die profunde Grundlage der historischen Arbeiten. Dies war zugleich eine wichtige Hilfestellung für viele junge HistorikerInnen, die so Zugang

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zu exklusivem Quellenmaterial und einem reichen Erfahrungsschatz an methodischer Schulung erhielten.

Geschichtswissenschaft und Politik Ein zentraler Punkt der die Arbeit des Jubilars kennzeichnet ist die Erkenntnis, dass wissenschaftliche Arbeit insbesondere in den Geisteswissenschaften ein Quantum an Politikrelevanz braucht, um jenseits der Hör- und Lehrsäle Beachtung zu finden, um im Konkurrenzkampf um Mittel und Stellen nicht gänzlichen gegen die Natur- und Wirtschaftswissenschaften zurückzufallen. Diese Politikrelevanz ist gleichsam ein Kontinuum in der Arbeit Oliver Rathkolbs. In der Auseinandersetzung mit den Elitenbrüchen und Kontinuitäten 1938 und 1945, insbesondere in den Bereichen der österreichischen Justiz, des diplomatischen Dienstes und der Künstlerund Kultureliten, drang seine Arbeit in die Herzkammern der Zweiten Republik und ihres Selbstbildes und Selbstverständnisses. Größere Wirkung hatte der Autor sicherlich von den Ergebnissen der Forschungsarbeiten zur Habilitierung erwartet, die sich auf die US-Politik zu Österreich der 1950er und 1960er Jahre konzentrierte. Die Erkenntnisse über die Handhabung der Neutralität, die in den 1960er und 1970er Jahren zum zentralen Element des Selbstverständnisses der nationalen österreichischen Identität wuchs, hätte ein politisches Erdbeben in Österreich erwarten lassen. Ein leises Schulterzucken in politischen Kreisen und eine Nichtbeachtung der Brisanz der Inhalte durch die Medien waren eine neuerlichen Lektion im Leben des gelernten Wahlösterreichers. Im medialen Zentrum standen eher die Mythen um Verstecke von Waffen und insbesondere Gold, die in Österreich verstreut von der CIA angelegt worden sein sollten. Österreich war zudem bereits auf dem Weg in die Europäischen Gemeinschaften, die Neutralität, ihrer ursprünglichen Inhalte weitgehend entkleidet, zur staatspolitischen Requisite und identitätsstiftendem Mythos geworden. Eine von außen an den österreichischen historischen Diskurs herangetragene Reihe von Fragestellungen sollte diese enge und wichtige Verknüpfung von Politik und Zeitgeschichte für einige Jahre in das Zentrum der innenpolitischen Debatte der Zweiten Republik rücken lassen. Insbesondere die Schweiz und Bankeninstitute in der Schweiz, später auch Teile des Kunsthandels fanden sich im Zentrum einer internationalen Debatte zu NS-Raubgold und nachrichtenlosen Konten. Holocaust Era Assets und die Fragen von NS-Zwangsarbeit waren in Österreich lange nur von einer sehr kleinen Gruppe von HistorikerInnen intensiv und weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit bearbeitet worden. Nun, unter dem Eindruck einer großen internationalen Debatte in Wissenschaft, Politik und Medien, dem Beispiel der unter Druck und in die argumentative Defensive gerate-

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nen Institutionen in der Schweiz und dem wortreichen Auftreten von US-Anwälten und ihren europäischen Partnern, entwickelt sich, nicht ohne Hürden, auch in Österreich und Deutschland eine entsprechende Debatte. Ein Beitrag in der „Europäischen Rundschau“ vom Frühjahr 19964 versuchte auch entsprechend in der Auseinandersetzung mit hergebrachten Forschungstraditionen und Lehrmeinungen in Österreich, das Feld für eine freie und auf neu zugänglichen Quellen basierte Forschung zu bereiten. Die Zeitgeschichtsforschung in Österreich erlebt eine auf diese Spezialfragen konzentrierte Konjunktur ohnegleichen. Die wissenschaftlichen Qualifikationen sowie die profunden Kenntnisse der internationalen Archive und der Quellensituation führten Rathkolb in das Zentrum der historischen Aufarbeitung und ihrer politische-medialen Debatte. Mehrere Studien zu großen Bankinstituten entstanden in den Jahren zwischen 1999 und 2006. Hier wurde etwa im Bereich der Österreichischen Postsparkasse ein neuer Weg beschritten, der eine weite Einbindung der Opfer des NS-Vermögensentzuges und ihrer Narrative inkorporierte. Gleichzeitig wurde eine regelmäßige Kommunikation auch von Zwischenergebnissen vorgenommen, um so auf das berechtigte Interesse an einer raschen Bearbeitung und der Kommunikation von Erkenntnisgewinnen von Opfern und ihren Erben, Öffentlichkeit und Unternehmen entgegenzukommen. Damit wurde – parallel zur historisch-wissenschaftlichen Aufarbeitung – die Empathie des Demokraten in seiner historischen Arbeit und dem Umgang mit der NS-Geschichte des Landes deutlich. Ohne diese die Bearbeitung dieser Themen zu unserer Zeit nicht möglich scheint und die im Falle der genannten Arbeit die Qualität der Studie aufwertete, ohne von einem streng wissenschaftlichen Zugang abzuweichen. Zeitgleich drang die Frage nach der Dimension der NS-Zwangsarbeit nach Österreich. Dies wiederum gleichzeitig mit wissenschaftlichen und politischen Fragestellungen nach Quantität und Qualität des Systems sowie nach möglichen adäquaten Entschädigungsmaßnahmen. Große und wegweisende Arbeiten zu den Reichswerken Hermann Göring, der Elektrizitätswirtschaft, dem Bau von Wasserkraftwerken und dem Einsatz von ZwangsarbeiterInnen in diesen Industrien entstanden seit 1999 und kreierten ein Team von ExpertInnen in diesem historischen Arbeitsfeld. Dennoch verharrte die Arbeit nicht in Fallstudien, sondern wurde die österreichische und globale Zusammenschau der neu gewonnenen Methoden und Erkenntnisse gesucht, die in dem frühen mitherausgegebenen Band „Revisiting the National Socialist Legacy“ von 20025 und der späten Studie, ebenfalls als Mitherausgeber, zu den „Reichsforsten“ 20106 ihren Niederschlag fanden. 4 5 6

Oliver Rathkolb (1996): Berufsverbot für Zeithistoriker, in: Europäische Rundschau Jg. 24 (1996) Heft 2, 127–130. Oliver Rathkolb (Hg.) (2004): Revisiting the National Socialist Legacy: Coming to Terms with Forced Labor, Expropriation, Compensation and Restitution, Innsbruck et al. Oliver Rathkolb / Maria Wirth / Michael Wladika (2010): Die „Reichsforste“ in Österreich 1938–1945. Arisierung, Restitution, Zwangsarbeit und Entnazifizierung (Studie im Auftrag der Österreichischen Bundesforste), Wien/ Köln/Weimar.

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Solche aus einer speziellen gesellschaftlichen Nachfrage heraus entstandenen Spezialstudien konnten jedoch durchaus Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit einem der Hintergrundthemen werden. So entstand auch unter dem Eindruck der Arbeiten zum Einsatz von NS-Zwangsarbeit in der Stromwirtschaft und im Kraftwerksbau eine weitergehende Studie zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung des Ausbaues der Wasserkraft in Österreich und ihrer internationalen Rückwirkungen und Zusammenhänge seit dem späten 19. Jahrhundert.7

Geschichtswissenschaft und Medien Es war und ist ein Anliegen, historische Erkenntnis durch Publikation international zur Debatte zu stellen. 18 (mit-)herausgegebene Sammelbände, sieben Monografien und ungefähr 170 Fachaufsätze seit 1984 sowie einige Ausstellungskuratierungen belegen dies eindrücklich. Doch damit nicht genug. Bruno Kreisky, so eine Selbstreflexion, habe ihn die Bedeutung der Medien für die Kommunikation der eigenen Arbeit gelehrt, besonders wenn sie Politikrelevanz haben soll. So wurde der Jubilar nicht nur zu einem führenden Forscher der Geschichte der Zweiten Republik sondern auch einer ihrer gefragtesten „Erzähler“, wen diese unwissenschaftliche Konnotation verziehen sei. Es gelingt ihm wie kaum einer WissenschaftlerIn, komplexe und interdependente Inhalte leicht verständlich und mit einer Einordnung in gegenwärtige Rahmen und Politikbezüge darzustellen. Das präsentierte Kondensat ist relevant, aktuell, historisch und nachvollziehbar. Unschätzbare Qualitäten in der mediengeprägten Öffentlichkeit unserer Tage, die Oliver Rathkolb und seine Themen in der österreichischen präsent machten.

Geschichtswissenschaft und Gesellschaft Wir haben die große Bandbreite der Themen des wissenschaftlichen Œuvres sowie seine Bezüge zu Politik und Medien darzustellen versucht. Hier bildet der fortdauernde Versuch, das gesellschaftliche Gefüge der Zweiten Republik zu analysieren und die Gesellschaft der Zweiten Republik in ihren historischen Spiegel schauen zu lassen, den letzten Teil eines zusammenwirkenden Dreiklangs von Politik, Medien und Gesellschaft. Dieses Bemühen zieht sich wie ein roter Faden durch das Œuvre des Jubilars. Beginnend mit Veröffentlichungen zum jungen Kreisky,8 „Es ist schwer jung zu sein. Jugend und Demokratie in Österreich 1918–1988“,9 bleiben Fragestellungen zu Gesellschaft und 7 8 9

Oliver Rathkolb / Richard Hufschmied / Andreas Kuchler / Hannes Leidinger (2012): Wasserkraft – Elektrizität – Gesellschaft. Kraftwerksprojekte ab 1880 im internationalen Spannungsfeld, Wien. Oliver Rathkolb (1986): Der junge Kreisky. Schriften, Reden, Dokumente 1931–1945, Wien. Oliver Rathkolb (1988): Es ist schwer jung zu sein. Jugend und Demokratie in Österreich 1918–1988, Wien.

Stefan August Lütgenau

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Politik,10 auch in den sensiblen Bereichen von Exil 1934–1945, Asylpolitik11 und dem Verhältnis zum tschechischen Nachbarn12 über die Jahre im Fokus der Arbeit. Die Forschungen im Umfeld der von Erika Weinzierl und Cristian Broda initiierten Symposienreihe „Justiz und Zeitgeschichte“, die Mitbegründung des Demokratiezentrums,13 des Ludwig Boltzmann Institutes für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit14 sowie die langjährige Leitungsfunktion im Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft15 und die Berufung in den Beirat des Hauses der Europäischen Geschichte im Europäischen Parlament16 sind Meilensteine dieser Karriere. Was eingangs mit der Fremdartigkeit für den Migranten umschrieben wurde, blieb stets das Studienobjekt der wissenschaftlichen Analyse des Jubilars und mündete in seine zunächst letzte große Monografie zur Zweiten Republik, der paradoxen Republik17 – eine der tiefen Kenntnis der historischen Zusammenhänge erwachsenen kritischen Rückschau auf 70 Jahre der Zweiten Republik, der er so eng verbunden ist.

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Oliver Rathkolb (1985): Gesellschaft und Politik in der Zweiten Republik. Berichte der US-Militäradministration aus Österreich 1945 in englischer Originalfassung, Wien, und ders. (1986): Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955, Wien. 11 Oliver Rathkolb (1995): Asylland wider Willen. Österreichische Asylpolitik im 20. Jahrhundert im europäischen Kontext, Wien. 12 Siehe u. a.: Oliver Rathkolb (2009): Tschechien und Österreich nach dem Ende des Kalten Krieges. Auf getrennten Wegen ins neue Europa, Ústi nad Labem. 13 URL: http://www.demokratiezentrum.org (abgerufen am 6.8.2014). 14 URL: http://ehp.lbg.ac.at/de/index.html geschlossen im Mai 2013 (abgerufen am 7.8.2014). 15 URL: http://geschichte.lbg.ac.at/ (abgerufen am 6.8.2014). 16 URL: http://www.europarl.europa.eu/visiting/de/visits/historyhouse.html (abgerufen am 3.8.2014). 17 Oliver Rathkolb (2015): Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2015. Aktualisierte Neuausgabe, Wien (zuerst Wien 2005 und Innsbruck/Wien 2011).

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Von Salzburg nach Wien: A Sentimental Journey Persönliche Erinnerungen anstatt einer Laudatio

Am 28. Oktober 2014 verstarb Erika Weinzierl im 90. Lebensjahr in Wien. Als langjährige Professorin an den Universitäten Salzburg (1969–1979) und Wien (1979–1995) war sie die Doyenne der österreichischen Zeitgeschichte und hat durch ihre bahnbrechenden Arbeiten zum Nationalsozialismus, Antisemitismus, Holocaust sowie zur Frauengeschichte und Exilforschung bleibende Pionierarbeit geleistet. Als Leiterin des 1977 von ihr begründeten LudwigBoltzmann-Instituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften (später: für Geschichte und Gesellschaft) hat sie auch die Historiografie zur österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte wesentlich mitgeprägt. Ihr Ableben bedeutet den Verlust einer einzigartigen Forscherin und Lehrerin der Zeitgeschichte sowie Streiterin für Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit, die als außergewöhnliche Persönlichkeit der Öffentlichkeit in einer noch unterentwickelten Zivilgesellschaft weit über die Wissenschaft hinaus in die Öffentlichkeit hineinwirkte. Ich hatte vor fünf Jahren die Ehre und Freude, eine Laudatio auf Erika Weinzierl anlässlich der Verleihung des Ehrenpreises des Presseclub Concordia für ihr Lebenswerk, speziell für ihr Eintreten für Pressefreiheit, Menschenrechte, Gleichberechtigung und dem Auftreten gegen jede Art von Diskriminierung, zu halten und habe damals mit dem bekannten, aber oft verkürzten, Freud-Zitat resümiert: „Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf “.1 Anfang Juli 2014 konnte ich Erika Weinzierl noch – wie üblich einmal im Jahr – in ihrer behaglichen Wohnung in der Kochgasse besuchen und durfte das angenehme und ruhige Gespräch mit einer zufriedenen und weisen alten Dame erleben, die ihren Lebensabend in ihrem Hause unter der Obhut ihres Sohnes Ulrich offensichtlich genoss. Den tagespolitischen Alltag – der sie Jahrzehnte als Zeithistorikerin und aktive Bürgerin beschäftigte – hatte sie inzwischen in die zweite Reihe geschoben, um sich in Ruhe mit gelassener Abgeklärtheit der literarischen Lektüre zu widmen. In diesem letzten Gespräch hat sie sich wie immer nach „ihrem“ Institut erkundigt und nach ihren ehemaligen WeggefährtInnen gefragt, auch wenn ihr dies wie eine untergegangene Welt erschien. Außerdem hat sie die Zusammenarbeit mit 1

Sigmund Freud (1927): Gesammelte Werke, XIV, 377.

Friedrich Stadler

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ihrem langjährigen Schüler und Mitstreiter Oliver Rathkolb als immer angenehm und sehr gut bezeichnet. Das ist nicht selbstverständlich und war auch außergewöhnlich, da Letzterer „von außen“ kam und sich lange Zeit, trotz seiner Habilitation im Jahre 1993 bis zu seiner Berufung 15 Jahre danach, in einer Art Parallelaktion für die universitäre Karriere – auch gegen internen Widerstand – profilieren musste. Was aber hat diese Geschichte in einer Festschrift für Oliver Rathkolb mit mir zu tun? Ich selbst kam während meines Studiums der Philosophie und Geschichte in Salzburg in den anregenden Wirkungsbereich der dynamischen ersten Ordinaria in der Salzburger KastVilla. Am Mönchsberg wirkte sie am Forschungszentrum als Leiterin des Instituts für kirchliche Zeitgeschichte – wo ich (übrigens wie auch in der Philosophie bei Paul Weingartner) an den Seminaren und Diskussionen mit Gewinn teilnehmen konnte. Diese Jahre meines Studiums in der turbulenten Ära der verspäteten 1968er Generation waren wohl die anregendsten Studienjahre, die sich von der Geschichte über die Philosophie und Psychologie (mit einer revolutionären Aufbruchsbewegung um Igor Caruso) zogen und vorerst mein Studium der Geschichte und Philosophie stark beeinflussten. Schon damals leitete Erika Weinzierl das von ihr begründete Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften (LBI), von dem ich – an der Peripherie – seit Mitte der 1980er Jahre bis zu meiner Wiener Zeit als freier Mitarbeiter profitieren sollte. Nicht zuletzt erschien meine Dissertation über die Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Österreich 1982 in der von Erika Weinzierl und Wolfgang Huber herausgegeben Buchreihe des LBI. Außerdem konnte ich meine erste wissenschaftliche Zeitschriften-Publikation in der von Weinzierl begründeten, heute von Rathkolb herausgegebenen Zeitschrift „zeitgeschichte“ über Otto Neuraths Wiener Methode der Bildstatistik (1979) publizieren, was eine weitere thematische und persönliche Verbundenheit mit den beiden Genannten bis zur Gegenwart begründete. Nach der Ernennung Erika Weinzierls zur ersten Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Wien konnte ich durch meine zufällig fast gleichzeitige Übersiedlung nach Wien die verstärkte Mitarbeit am LBI und die Kooperation mit der frisch ernannten Professorin als Nachfolgerin des legendären Ludwig Jedlicka fortsetzen. Hier kommt der junge aufstrebende Zeithistoriker Oliver Rathkolb ins Spiel, der lange Zeit als Leiter des Bruno Kreisky-Archivs arbeitete und später selbst ein eigenes LBI für Europäische Geschichte aufbaute. Mit seiner sprühenden Energie betrat er mit Konsequenz und Ausdauer die wissenschaftliche Bühne. Ich selbst war in dieser Zeit mit Forschungsprojekten zur österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte und Exilforschung befasst. Schon damals bereicherte und provozierte der studierte Jurist und Zeithistoriker Rathkolb unter der Schirmherrschaft seiner Mentorin Erika Weinzierl lange Zeit als Außenstehender die universitäre Zeitgeschichtsforschung mit wichtigen innovativen Projekten und seitdem begannen sich unser beider Wege immer wieder bis zur Gegenwart zu kreuzen: beispielsweise im Zusammenhang mit einem bahnbrechenden

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Symposium zur Entnazifizierung und besonders mit dem großen internationalen Symposium „Vertriebene Vernunft“ im Jahre 1987, das als gemeinsame Veranstaltung mit dem LBI und dem Institut für Wissenschaft und Kunst erstmals unter beeindruckender Beteiligung von ZeitzeugInnen das Tabu der lange verdrängten Vertreibung, Vernichtung und (nicht erfolgten) Rückkehr der österreichischen Intellektuellen thematisierte. Ich hätte dieses große Projekt mit nachfolgenden drei Bänden nicht ohne diese institutionellen und persönlichen Kooperationen realisieren können. Die Tatsache, dass diese Bände in der heißen Phase der Waldheim-Ära aktuell wurden, verdeckte die früheren Ursprünge dieses Tagungs- und Publikationsprojektes aus forschungs- und wissenschaftspolitischen Gründen. Diese Publikation avancierte inzwischen zu einem Standardwerk der einschlägigen Historiografie und des öffentlichen Diskurses und bestätigt die Relevanz dieses länder- und fächerübergreifenden Projektes jenseits der damaligen akademischen Historiografie.2 Deutlich vor der kontroversiellen Diskussion über Antisemitismus, Schoah und Umgang mit der Epoche des Faschismus und Nationalsozialismus Ende der 1980er Jahre ist mit dieser kritischen Bestandsaufnahme ein Zeichen gesetzt worden, die wider die gängige Opferthese weitere Forschungen und Dokumentationen nach sich gezogen hat. So wurde in diesem Sog mit dem Projekt des „Cultural Exodus from Austria“ – zugleich eine mediale Computer-Installation von Peter Weibel – anlässlich der „Biennale“ in Venedig 1993 die internationale Bühne betreten – ein Auftritt, der weitere Präsentationen in New York 1995 und Los Angeles 1996 nach sich zog.3 Letztere Ausstellung wurde durch einen Schwerpunkt Exil-Musik mit einer Aufführung am dortigen Simon Wiesenthal Center/Museum of Tolerance ergänzt, die Rathkolb mit der Wiener Staatsoper unter Ioan Holender wesentlich mitgestaltete. Seine Expertise auf dem Gebiete der Musik, Kunst und Literatur im Nationalsozialismus stellte die Grundlage für diese Kooperation dar.4 All diese Themen ließen uns beide nicht mehr los, wenn man beispielsweise die beiden von Eric Kandel initiierten Tagungen an der Universität Wien in Betracht zieht, die einerseits über „Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus“ und andererseits über den „Langen Schatten des Antisemitismus“ mit nachfolgenden Buchpublikationen veranstaltet wurden.5 In beiden Fällen kann man davon sprechen, dass die längst fällige Täter-Perspektive bei der Diskriminierung, Ausgrenzung und Vernichtung vor allem von jüdischen ForscherIn2 3 4 5

Friedrich Stadler (Hg.) (2004 [1988]): Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930-1940, 2 Bände, Münster (Orig. Wien). Friedrich Stadler / Peter Weibel (Hg.) (1995 [1993]): The Cultural Exodus from Austria. Second revised and enlarged edition, Wien/New York (Orig. Wien). Oliver Rathkolb (1991): „Fühertreu und Gottbegnadet“. Künstlereliten im Dritten Reich, Wien. Friedrich Stadler (Hg.) in Zusammenarbeit mit Eric Kandel / Walter Kohn / Fritz Stern / Anton Zeilinger (2004): Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus. Die Folgen für die naturwissenschaftliche und humanistische Lehre, Wien/New York; Oliver Rathkolb (Hg.) (2013): Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen.

Friedrich Stadler

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nen und Intellektuellen zum Gegenstand gemacht wurde. Ein gemeinsam herausgegebener Band einer Ringvorlesung über das Jahr 1968 rundet diese Ambitionen publikatorisch ab,6 die auch immer weg vom Austro-Zentrismus führten – überzeugend auch in Rathkolbs Standardwerk über die Zweite Republik dokumentiert.7 Ich habe es als große Ehre und Verpflichtung empfunden, Erika Weinzierl als Leiterin des wissenschaftlichen Beirats der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung nachzufolgen und auch sieben Jahre als Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte in einer Phase des personellen Umbruchs gedient zu haben, bevor Oliver Rathkolb nach seiner verspäteten Berufung im Jahre 2008 hauptberuflich auf die dortige, ihm angemessene akademische Bühne trat. Hier wirkt er seitdem in Lehre und Forschung spürbar nach außen und innen und bereichert mit Forschungsprojekten die österreichische Zeitgeschichte (nicht zuletzt durch die Herausgabe des gleichnamigen Periodikums „zeitgeschichte“ und einer eigenen Buchreihe „Zeitgeschichte im Kontext“) wesentlich. Schließlich ist seine professionelle Präsenz in der medialen Öffentlichkeit eine erfreuliche Fortsetzung der Rolle seiner verehrten Lehrerin und als ein Zeichen der permanenten Öffnung universitärer Forschung in die Gesellschaft und Vernetzung mit der internationalen scientific community zu verstehen. Diese Perspektive ist ein Versprechen für die Zukunft von Rathkolbs weiterer Tätigkeit in- und außerhalb unserer Universität, verbunden mit der Hoffnung auf viele weitere Jahre produktiver Tätigkeit für die Zeitgeschichte im Sinne der offenen Gesellschaft. Das Jahr 2008 stellte für uns beide eine Weichenstellung dar, für ihn mit der Berufung auf die Zeitgeschichte-Professur, für mich mit der „Doppelprofessur“ für History and Philosophy of Science, die fakultätsübergreifend angesiedelt ist und durch die zusätzliche universitäre Implementierung des (übrigens auch von Weinzierl von Beginn an mitunterstützten) Instituts Wiener Kreis verstärkt wurde. Die grundsätzliche Forschungsrichtung zwischen international und interdisziplinär ausgerichteter Zeitgeschichte der Wissenschaften und Wissenschaftsphilosophie hat sich dabei nicht geändert. Es ist dies noch immer eine thematische Ausrichtung, die auf unser beider Lehrerin Erika Weinzierl zurückgeht, auch wenn sich die Spezialisierung, Themen und Methoden verändert und weiterentwickelt haben. Dieser letztlich aufklärerische und gesellschaftskritische Geist war es, der uns begleitete und zugleich auf unterschiedlichen Forschungsfeldern tätig werden ließ. In der Hoffnung, dass sich dabei unsere persönlichen und wissenschaftlichen Wege weiter freundschaftlich und produktiv kreuzen: Lieber Oliver, ad multos annos!

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Oliver Rathkolb / Friedrich Stadler (Hg.) (2010): Das Jahr 1968. Ereignis, Symbol, Chiffre, Göttingen. Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2010, Innsbruck/Wien. Englische Ausgabe: ders. (2010): The Paradoxical Republic. Austria 1945–2010, New York/Oxford; ders. (2006): Internationalisierung Österreichs seit 1945, Innsbruck/Wien/Bozen; ders. (2012): Europa und das Ende des Kalten Krieges, Wien.

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Von Berkeley über Wien nach Salzburg

Berkeley Matias Tarnopolsky sprang vom Tisch auf und rief: „Oliver, oh – that was an amazing event. Oliver […] he is brilliant! I really would like to organize some new projects with Oliver!“ Die Szene spielte sich am 23. September 2014 auf dem Campus der University of California in Berkeley ab. Genauer gesagt in der Zellerbach-Hall, einem respektablen Opern- und Konzerthaus mit über 2.000 Sitzplätzen. (Zum Vergleich: Der Goldene Saal im Wiener Musikverein bietet um 300 Plätze weniger an als die Zellerbach-Hall von Berkeley.) Der künstlerische Manager dieses Theaters heißt Matias Tarnopolsky, und er ist wegen der internationalen Gastspiele von Oper, Ballett und Schauspiel, dem anspruchsvollen Progamm aus Klassik und Jazz in den USA ein renommierter Manager. Der Weg zu seinem Büro in der Zellerbach Hall führt rechts vorbei am Bühnenportal und mündet in einen engen Flur. An diesem September-Nachmittag saß ich bei Matias Tarnopolsky und bevor wir zum Eigentlichen kamen, sollte ich ja die Grüße aus Wien überbringen. Besser hätte mein Besuch nicht beginnen können. Matias Tarnopolsky war also aufgesprungen und nun zeigte er mir im Outlook-Programm seines Computers die letzten E-Mails aus Wien. Er sei „close to Oliver“ und wäre, wie schon gesagt, gerne bereit, mit Oliver Rathkolb allerhand neue Pläne zu machen. Im März 2014 hielten sich die Wiener Philharmoniker eine ganze Woche auf dem Campus von Berkeley auf. In Verbindung mit dieser außergewöhnlichen residency der Wiener Musiker veranstaltete Oliver Rathkolb ein zweitägiges Symposium. Die Rolle der Wiener Künstler am Beginn des Ersten Weltkriegs wurde hier erörtert, und die intellektuelle Elite Kaliforniens kam in die Zellerbach Hall und hörte zu. An Beispielen wie diesem kann man sehen, wie es auf ideale Weise möglich ist, dass sich die für die USA sonst ziemlich uninteressante Republik Österreich präsentieren kann: Nicht mit „Sound of Music“ und den Walzern von Johann Strauß, nicht im nostalgisch-verklärenden Rückblick auf eine angeblich so „gute alte Zeit“ in der Habsburg Monarchy, sondern mit dem zeitgenössischen Blick auf die europäische Geschichte, vermittelt von exzellenten WissenschaftlerInnen. Es sollte auch beachtet werden, dass diese Präsentation Österreichs nicht den Beamten des Außenministeriums eingefallen war, effizienter und verlässlicher sind meist universitäre Netzwerke.

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Warum diese umständliche Einleitung? Im schmalen Büro von MatiasTarnopolsky in der Zellerbach Hall auf dem Campus der Universität Berkeley war es mir eingefallen, dass meine Verbindung mit Oliver Rathkolb genau vor 30 Jahren begonnen hatte. Auch damals spielte das Theater die entscheidende Rolle.

Wien Im Wiener Institut für Zeitgeschichte in der Rotenhausgasse Nr. 6 lernte ich Oliver Rathkolb kennen. Nach Beendigung meines Studiums in Salzburg war ich im Februar 1980 als Dramaturg ans Wiener Burgtheater engagiert worden. Im Kreis von jungen Historikern, die bei Erika Weinzierl in Salzburg studiert hatten, mit denen ich mich angefreundet hatte und die nun, wie ich, in Wien tätig waren, begegnete ich ihm zum ersten Mal. Das Wiener Institut für Zeitgeschichte, ab 1979 von Erika Weinzierl geleitet, und das Bruno Kreisky-Archiv in der Wienzeile, dessen Direktor Rathkolb 1984 geworden war, sie beide waren für einen an Zeitgeschichte interessierten Dramaturgen wichtige Orte der Recherche. 1984 begannen wir im Burgtheater mit den Vorgesprächen zu einer Veranstaltungsreihe, die wir für Mai und Juni 1985 planten. Der Titel: „Insel der Seligen – 40 Jahre Kriegsende“. Rathkolb wurde unser wissenschaftlicher Berater, für eines unserer Programmhefte schrieb er einen Essay. Durch seine Vermittlung kam es schließlich dazu, dass Bruno Kreisky am 11. Mai 1985 bei dem Festakt auf der Bühne des Burgtheaters einen Vortrag hielt. Schon damals beeindruckte mich, was ich bis heute an Oliver Rathkolb schätze: wie er nachdenklich seine Diagnosen zu Ereignissen der österreichischen Geschichte zur Diskussion stellt, wie er abwägend, sich selbst einschränkend, ergänzend oder korrigierend, urteilt. Es sind keine schroffen Thesen, die wir von ihm hören, aber er hat seine entschiedene Meinung. Und am Ende hat man eine konkrete Auskunft erhalten. Das Daherplaudern auf einer unverbindlichen Metaebene, gewissermaßen „über den Fronten des Diskurses“, das ist nicht seine Sache. Rathkolb veranstaltet mit seinen Forschungsergebnissen auch keine mediale Show, Imponiergehabe ist ihm fremd. Seine Arbeiten werden auch deswegen als verlässlich und seriös eingeschätzt, weil er so oft verblüffende Quellen zur Hand hat. Es handelt sich um Dokumente, die meist niemand kennt, weil er sie selbst in Archiven entdeckt hat, sei es in Deutschland, in den USA oder in Moskau. Als Nicht-Historiker ahne ich, dass es so etwas geben muss wie ein Ethos des Forschers: Das ist einer, der selbst ins Archiv geht und alle Zettel persönlich anfasst. Für uns Theatermenschen war die Begegnung mit Rathkolb auch aus einem anderen Umstand willkommen, weil er sich für alles interessierte, was mit Theater, Literatur, Kunst und Musik zu tun hatte. Das bemerkt auch der Leser/die Leserin seiner Bücher und Studien. Und das ist ein weiterer Grund, warum im Gespräch über die jüngere Geschichte der großen kulturellen Institutionen Österreichs, (man denke ans Burgtheater, die Staatsoper, die Wiener Philharmoniker oder die Salzburger Festspiele) der Name Rathkolb genannt wird.

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Er hatte schon früh darüber geforscht: Wie das Wechselverhältnis von Kultur und Politik in Österreich funktioniert, wie sich die jeweilige politische Kultur in den Künsten spiegelt und wie und mit welchen Motiven sich KünstlerInnen politischen Strömungen anpassen oder sich davon abwenden. Der Nationalsozialismus in Österreich und seine Ausstrahlung in die Zweite Republik, das sind Schwerpunkte seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit. „Führertreu und gottbegnadet“ (1991) hieß sein Buch zu diesem Forschungsbereich, eine erste systematische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verstrickung österreichischer KünstlerInnen. Auch dies mit einer Fülle von bisher unbekannten Dokumenten und Archiv-Materialien ausgestattet. Ab 1986 war ich als Chefdramaturg der Wiener Festwochen tätig. Und unsere Zusammenarbeit fand eine Fortsetzung. Wir mussten schließlich das nächste Gedenkjahr vorbereiten: „Österreich 1938–1988“ – 50 Jahre Okkupation. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Oliver Rathkolb und Friedrich Stadler fand im Programm der Wiener Festwochen 1988 ein Symposium zu diesem Thema statt. Im Jahr darauf fiel die Berliner Mauer und Rathkolb hatte die Idee für ein Buch. Wieder saßen wir beisammen. Wie würde sich, so fragten wir uns, das kleine Land Österreich künftig gegen das nun riesengroß gewordene neue große „deutsche Reich“ behaupten können? Aus heutiger Sicht kann man wohl lächeln über unsere so besorgte Frage aus dem Jahr 1989. Nach einigen Besprechungen der Herausgeber Gernot Heiss, Georg Schmid und Oliver Rathkolb erschien der Band im Herbst 1990 im Otto-Müller-Verlag in Salzburg, rechtzeitig zur deutschen Wiedervereinigung. Der Titel sprach für sich: „Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhältnis“. Mein tatsächlicher Beitrag für das Zustandekommen dieses Buches war minimal, aber Rathkolb war der Meinung, dass ich von Anfang an bei allen Beratungen dabei sein müsse. In der Folge ergab sich für mich in Wien eine Mitarbeit an einem Forschungsprojekt zur österreichischen Wissenschafts-Emigration. Auch für diese Tätigkeit war Rathkolb im Hintergrund verantwortlich. Dann lebte ich 15 Jahre in der Schweiz und in Deutschland. Aus der Entfernung hatte ich die eine oder andere wissenschaftliche Publikation Rathkolbs registriert, aber wir sahen uns nur wenig. Während meiner sechs Jahre an der Österreichischen Botschaft in Berlin konnte ich ihn zu Vorträgen in die deutsche Metropole einladen und war erstaunt, wie lakonisch er über die Hindernisse in seiner universitären Karriere sprechen konnte. Dann, 2008, hatte sich der zwar in Wien geborene aber bis zur Matura im Waldviertel lebende Historiker in der Schlangengrube seiner Geburtsstadt durchgesetzt.

Salzburg In Joseph Roths Roman „Kapuzinergruft“ (1938) findet sich die bekannte Stelle über das Verhältnis von Wien zur Provinz. Die Identität Österreichs lasse sich, so schreibt Roth, nicht

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aus der Existenz von Gämsen, Edelweiß und Enzian erklären: „Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie. [...] Die österreichische Substanz wird genährt und immer wieder aufgefüllt von den Kronländern“, heißt es im fünften Kapitel der „Kapuzinergruft“. Nun wäre es natürlich unsinnig, Niederösterreich als Kronland zu bezeichnen, auch wenn dort schon so lange Zeit ein kleiner Caudillo an seinem Thron festhält und sich seine Mehrheiten geschickt zu beschaffen weiß. Aber man bedenke nur, wie viele herausragende österreichische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an der Wiener Universität unterrichten, nicht aus der Hauptstadt stammen. Die Exzellenz der Wiener Wissenschaft – sie wird „genährt und immer wieder aufgefüllt“ von den Bundesländern. Dank seiner besonderen Charakterbildung im Waldviertel wird man bei Rathkolb niemals jenen überheblichen blasierten Wiener Ton hören, den wir, die nicht in der Metropole leben, absolut nicht vertragen können. Die Wiener Eingebildetheit ist ihm, der Provinz sei Dank, völlig fremd, das macht den Umgang mit ihm so unkompliziert und verlässlich. Trotz seiner Erfolge und Ehrungen strahlt der bekannte Univ.-Prof. Mag. DDr. Oliver Rathkolb eine sympathische Bescheidenheit aus. Wie oft habe ich gesehen, wie er junge Leute fördert und unterstützt, wie er für sie zur Verfügung steht, Kontakte herstellt, ja sogar die Kopien besorgt und das, obwohl sein aus allen Fugen platzendes, mit Büchern, Zetteln, Kopien und diversen anderen Materialien so überladenes Büro auf dem Wiener Campus ein wenig ahnen lässt, wie viele Vorhaben hier in Arbeit sind. Als ich im Herbst 2008 nach Österreich zurückkehrte und an der Universität Salzburg eine Stelle erhielt, sahen wir uns wieder häufiger. Mehrere Male konnte ich Rathkolb für Auftritte in Salzburg gewinnen, sei es zur Geschichte der Salzburger Festspiele oder zu kulturpolitischen Fragen Wiens in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Wie an allen anderen Universitäten dachten auch wir in Salzburg über Veranstaltungen nach, die sich mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs befassen sollten. Aber unser vorbereitenden Gespräche drehten sich manchmal hilflos im Kreis, im Stile von: man müsste, sollte, könnte. Ja, genau! Sonja Puntscher Riekmann und ich luden Rathkolb als Partner ein und rasch entwickelten wir, unter seiner Anleitung, für das Sommersemester 2014 eine Ringvorlesung „Der dunkle Schatten der Moderne“. Das besondere war, die Vorlesung konnte an den beiden Universitäten gehört werden und erfreute sich sowohl in Wien als auch in Salzburg eines besonderen Zuspruchs. Auch in diesem Fall bewunderte ich, was ich an Rathkolb beobachtet habe: Dass er trotz der viel zu vielen Projekte, Bücher, Vorträge, zu lesenden Diplomarbeiten und Lehrveranstaltungen – auch dank Agnes Meisinger – doch immer schnell antwortet. Wie er das macht, ist mir bis heute ein Rätsel. Ich, der viel weniger Sujets am Pult hat als er, beherrsche das nicht. Soll noch davon die Rede sein, dass Oliver Rathkolb und seine Frau, die Opernsängerin Lydia Rathkolb, gelegentlich nach Salzburg kommen, um Aufführungen der Festspiele zu

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besuchen? Nein. Allerdings sei angemerkt, dass auch diese Abende Gelegenheit bieten, unsere Gespräche fortzusetzen. Es geht dann aber um Musik, die Oper, das Theater. Dass ein Historiker sich so sehr für Kunst, Literatur, Musik begeistern kann und die politische Zeitgeschichte aus dem Gespräch verschwinden darf, das fasziniert mich. So bleibt zuletzt nur ein Wunsch: Dass Oliver Rathkolb den wunderschönen Billardtisch, den er vor rund 25 Jahren aus Niederösterreich nach Wien gebracht hat, von Büchern, ­Diplomarbeiten und Fotokopien befreit, damit wir endlich wieder einmal – vielleicht gemeinsam mit Fritz Stadler – Billard spielen können.

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Anmerkungen zu Oliver Rathkolbs „biographischer Skizze“ über Ludwig Jedlicka

Als Oliver Rathkolb mir 2005 erzählte, er arbeite an einer „biographischen Skizze“ über Ludwig Jedlicka, den Gründer und ersten Ordinarius des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, befürchtete ich Schlimmes. Und so kam es dann auch. Wir, die bei Jedlicka studierten, wussten zwar, dass Jedlickas Leben Brüche und politische Kehrtwendungen enthielt, aber Genaues wussten wir damals nicht, wollten es wohl auch nicht so genau wissen – obwohl wir Zeitgeschichte studierten. Seit 2005 wissen wir es. Rathkolbs Arbeit1 ist eine glänzende historische Studie, exakt, materialreich trotz ihres geringen Umfangs von 20 Seiten, differenziert abwägend, auch im Umgang mit Jedlickas Verdiensten, die es ja ebenfalls gibt. Was wir aus Rathkolbs Text erfuhren, überstieg unsere bösen Ahnungen: über den illegalen HJ-Führer, der gleichzeitig Zellenleiter der Vaterländischen Front war, danach von „den strahlenden Märztagen des Jahres 1938“ schrieb und von den Nationalsozialisten als „alter Kämpfer“ eingestuft wurde, Träger des Goldenen HJ-Abzeichens, der dennoch danach die Entnazifizierung heil überstand, 1949 Mitglied der ÖVP wurde, aber gleichzeitig den Kontakt zum Kreis um Wilhelm Höttl hielt, der als Adjutant Kaltenbrunners in der SS-Hierarchie sehr hoch oben stand. Dennoch taucht Jedlicka in US-Akten der Nachkriegszeit sogar als Widerstandskämpfer auf, ähnlich in ÖVP-Stellungnahmen.2 Die Nachkriegskarriere des ab nun „überzeugten Großkoalitionärs“3 verlief im Windschatten der ÖVP weitgehend problemlos, führte Jedlicka vom Heeresgeschichtlichen Museum, wo er schon einmal in der NS-Zeit gearbeitet hatte, an die Universität, wobei ihm in jeder Phase seiner beruflichen Laufbahn ein von Rathkolb ausführlich beschriebenes wahrhaft erstaunliches Netzwerk half, weshalb der Autor zur Vermutung gelangt, Jedlicka sei „wohl der erfolgreichste Networker unter den Historikern seiner Generation“4 gewesen. 1966 wurde er zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt und danach zum Vorstand des neu errichteten Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Im Frühjahr 1966 wurden die neuen Institutsräume in der Rotenhausgasse bezogen. An 1 2 3 4

Oliver Rathkolb (2005): Ludwig Jedlicka: Vier Leben und ein typischer Österreicher. Biographische Skizze zu einem der Mitbegründer der Zeitgeschichtsforschung, in: zeitgeschichte Jg. 6 (2005) Heft 32, 351–370. Ebd., 352–358. Ebd., 367. Ebd., 362.

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die Übersiedlung aus der Universität dorthin erinnere ich mich. Es war – obwohl Grundfläche und Anzahl der Räume zunächst recht bescheiden waren – ein Triumph: ein eigenes Institut mit eigenen Räumen für die Zeitgeschichte! Es war nicht nur für Jedlicka ein Triumph, es war auch einer für uns, die wir bei ihm studierten. Und dieses Studium war herrlich. Der Ausdruck ist bewusst gewählt. Denn ich gehörte zu den ersten, die für ihre Dissertation den Zugang zum Archivmaterial der Zwischenkriegszeit erhielten. Damit betraten wir Neuland. Für junge ForscherInnen gibt es nichts Schöneres. Diesen Zugang hat uns Jedlicka verschafft. An all das musste ich denken, als mir Rathkolb in einem langen Gespräch von seiner geplanten „biographischen Skizze“ erzählte. Und darum habe ich, Böses vorhersehend, in jenem Gespräch versucht, „das Schlimmste zu verhindern“. So habe ich es damals formuliert. Daher habe ich auf Jedlickas Qualitäten als Lehrer hingewiesen, von denen ich selbst profitiert hatte. Er war kein bedeutender Wissenschaftler, das war uns schon damals klar, aber er war ein Lehrer. Er hat sich für seine StudentInnen und ihre Arbeiten wirklich interessiert, er war fast jederzeit für unsere Fragen und Probleme ansprechbar, zumindest in dieser frühen Phase Mitte der 1960er Jahre, als die Zahl seiner Dissertanten überschaubar war. Er war stolz auf uns und hat als (siehe oben) begnadeter Netzwerker über Arbeiten, von denen er sich etwas versprach, breit gestreut erzählt. So kam es, dass mich Kreisky und Broda in meinem Untermietzimmer anriefen, um sich zu erkundigen, wie weit ich mit meiner Dissertation sei. Rathkolb hat meine Hinweise in seine „Skizze“ aufgenommen: Jedlicka sei, „zum Unterschied von den meisten anderen Professoren seiner Fakultät, ein wirklicher Mentor“ gewesen. „Seine soziale Kompetenz im Umgang mit Studenten und Studentinnen war deutlich größer als jene der arrivierten Ein Platz – Ein Assistent-Professoren an der Universität Wien“ und außerdem sei ihm gelungen, „junge Studentinnen und Studenten für seine Projekte und Forschungen zu motivieren und auch ihre Leistungen zu würdigen“.5 Darin unterschied er sich deutlich von seinen KollegInnen, doch im Übrigen: eine klassische österreichische Mitläuferbiografie, an der Universität nichts Ungewöhnliches. Von der Germanistik war ich deswegen regelrecht geflüchtet zu den Historikern. Da war es besser. Und auch Jedlicka hatte, jedenfalls in den 1960er Jahren, alles Nationalsozialistische hinter sich gelassen. Das enthebt allerdings nicht von der Frage: Warum habe ich mich, obwohl Student der Zeitgeschichte, nicht näher für die Vergangenheit meines Lehrers interessiert, über die es schon damals Gerüchte und Vermutungen gab? Und warum haben sich meine Kolleginnen und Kollegen im Institut, soweit ich das überblicken kann, auch nicht interessiert? Jedenfalls hat mir nie jemand Konkretes erzählt. Die naheliegende Antwort liegt auf der Hand: Selbstschutz. Nichtwissenwollen ist immer eine Form von Selbstschutz. Gerade in Österreich gibt es eine diesbezügliche Tradition: „Glücklich ist, wer vergisst ...“ Noch besser: nicht vergessen müssen, weil man es schon vorher nicht wissen wollte. Das heißt: Zu unserem 5

Rathkolb (2005), 361, 366f.

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Glück haben wir nichts Genaues gewusst. Über Jedlicka forschen hätte nämlich bedeutet: Vertreibung aus dem Paradies: ausgerechnet jenen Lehrer verlieren, der das Forschungsfeld verwaltete, auf dem wir unbedingt arbeiten wollten. Der uns die Möglichkeiten dafür schuf und der außerdem wesentlich interessierter als die meisten anderen mit seinen StudentInnen umging. Es gab noch einen anderen naheliegenden Grund, warum wir gar nicht auf die Idee kamen: Wir wären an das Archivmaterial, das Oliver Rathkolb 2005 benützen konnte, Mitte der 1960er nie herangekommen. Wir waren geduldet in den Archiven, nicht mehr. Wie widerwillig und wie misstrauisch kontrolliert, ist mir klar geworden, als ich in der Registratur einmal auf einen Akt über Alfons Gorbach aus „meinem“ Zeitraum 1933/34 stieß. Ich ließ den Akt kommen und hätte deswegen beinahe die Archiverlaubnis verloren. Meine Begründung beim Verhör, der Akt könnte mit meinem Thema zu tun haben, ich müsse das kontrollieren, wurde zwar nicht geglaubt, konnte aber auch nicht schlüssig widerlegt werden. Beim nächsten Mal sei ich draußen, wurde mir mitgeteilt. Daraus entnahm ich, wie umfassend wir überwacht wurden und wie ängstlich die Archivleitung bemüht war, parteipolitisch nicht anzustreifen. Alfons Gorbach war 1961–64 Bundeskanzler gewesen und hatte 1965 erfolglos im Präsidentschaftswahlkampf gegen Franz Jonas kandidiert. Deswegen hatte tabu zu sein, was er drei Jahrzehnte früher politisch gemacht hatte. In Wirklichkeit waren ja alle Akten tabu und unsere bloße Anwesenheit als Dissertanten oszillierte für die Herren im Reich der Akten zwischen Missgeschick und Missverständnis. Das heißt: Das Jedlicka-Material wäre damals für die Forschung nicht zugänglich gewesen. Noch wichtiger ist ein anderer Aspekt: Die Geschichtsschreibung in den ersten zwei Jahrzehnten der Zweiten Republik hatte – das war uns schon damals klar – eine wichtige staatspolitische Funktion, der sich im Übrigen auch Jedlicka als Historiker verpflichtet fühlte: die notwendige Regierungszusammenarbeit der beiden Lager, die 1934 aufeinander geschossen hatten, wissenschaftlich zu legitimieren. Das bedeutete, die Schuld am Scheitern der Ersten Republik, an Demokratiezerstörung und Februarkämpfen, halbwegs gleichmäßig auf beide Seiten zu verteilen. Die einen seien zu wenig Demokraten, die anderen zu wenig Patrioten gewesen, lautete eine gängige Formulierung. Und arm waren sie alle. Und verhetzt. Und die vielen Waffen. Und die Nazis! So wurde unter dem Motto „Keine Gräben aufreißen! Gräben zuschütten!“ Äquidistanz konstruiert, die den Feinden von gestern das gemeinsame Regieren erleichtern sollte. Leicht was es ohnehin nicht. Adolf Schärf erinnerte sich 1955: „Im Februar 1946 bemerkte man zum ersten Mal deutlich, daß die Führung der Österreichischen Volkspartei begann, Personen des österreichischen Faschismus zu glorifizieren und sich mit ihnen zu identifizieren. Im April 1946 machte ich Ing. Figl Vorstellungen, weil er immer wieder Dollfuß verherrlichte. [...] Die Volksparteiler konnten sich kaum in das Denken von Leuten hineinversetzen, die vom österreichischen Faschismus verfolgt waren.“ Resigniert fasst Schärf

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zusammen: „Es ist verständlich, daß die neuen Männer der Volkspartei, ob Politiker oder Beamte, bewußt und unbewußt faschistische Gedankengänge mitbrachten, die politischen Ideale ihrer Jugend!“6 Die konsensfördernde Bedeutung, die die „Koalitionsgeschichtsschreibung“ in den schwierigen Zeiten am Beginn der Zweiten Republik gehabt hatte, hat uns junge HistorikerInnen Mitte der 1960er, als die Koalition ohnehin gerade an ihren inneren Widersprüchen zerbrach, weniger interessiert. Was uns interessiert hat, war, wie sehr eine extrem konfliktreiche Geschichte im Interesse des inneren Friedens zurechtgebogen worden war. Damit wollten wir aufräumen. Uns ging es nicht darum, was staatspolitisch gerade vernünftig war, uns ging es ausschließlich um wissenschaftliche Erkenntnis. Dieser wollten wir dienen. Im Rahmen eines Textes, den ich 2002, in der Schüssel/Haider-Zeit, für „Das Jüdische Echo“ geschrieben habe und der „Österreich lieben. Auf der Suche nach einem Gefühl“ hieß, habe ich mich am Rande mit dieser Frage befasst. Ich darf mich ausnahmsweise selbst zitieren: „Wir waren wild entschlossen, die Verharmlosungen der sogenannten Koalitionsgeschichtsschreibung der ersten zwei Jahrzehnte nach 1945 zu ‚entlarven‘, wie wir es damals nannten, die Geschichtslügen aufzudecken und die Geschichte der Ersten Republik neu und endlich richtig zu schreiben. Unser besonderes Augenmerk galt dem Bürgerkrieg 1934 und seiner Vorgeschichte, der Ausschaltung von Parlament und Verfassungsgerichtshof 1933, den Heimwehren, dem Justizpalastbrand, der Geschichte des Schutzbundes und des Bundesheeres. An 1938 und den sogenannten Anschluss dachten wir weniger. Das war nicht unser Thema, nicht unsere Geschichte. Das war Nazigeschichte und die war deutsch.“7 Das führt uns zurück zu Jedlicka. Oliver Rathkolb weist zu Recht auf die „extrem starke Austrozentrierung der Themen“8 bei Jedlicka hin. Damit hatte er uns angesteckt. Und das fiel ihm nicht schwer, weil er damit bei uns auf offene Ohren stieß. Österreich war nicht nur wegen seiner konfliktreichen Geschichte in der ersten Jahrhunderthälfte als Forschungsgegenstand besonders spannend, sondern auch deswegen, weil es sich Mitte der 1960er Jahre in der Phase des nation building befand. Viele aus meiner Generation hatten in ihrer Jugend eine übersteigerte Liebe zu diesem Land entwickelt, teils von den Eltern, die das Jahr 1945 ohne Wenn und Aber als Befreiung erlebt hatten, dazu angehalten, teils in Opposition zu Eltern mit nationalsozialistischer Vergangenheit. Das war ein wichtiger Grund, warum uns die unzulänglich erforschte jüngste Vergangenheit Österreichs so interessierte. Wir wollten Bescheid wissen. Warum ist diese Zeit unzulänglich erforscht? Was verbirgt man uns? Das Interesse an unseren Fragen hat Jedlicka nicht geweckt, aber er hat es gefördert. Dazu kamen Jedlickas eigene Interessen. Es ist schon erstaunlich und wirkt geradezu 6 7 8

Adolf Schärf (1955): Österreichs Erneuerung. 1945–1955. Das erste Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien, 152. Peter Huemer (2006): Heimat. Lügen. Literatur – Texte zur gegenwärtigen Befindlichkeit, Wien, 67f. Rathkolb (2005), 366.

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dreist, dass ein Historiker mit derart problematischer Biografie sich wissenschaftlich nicht dem Mittelalter oder der Steinzeit zuwendet, sondern der Zeitgeschichte. Zu erklären ist das nicht nur mit einem unerschütterlich guten Gewissen, das er gehabt zu haben scheint – was gar nicht so erstaunlich ist, wenn er an der Universität im Kreis der ProfessorInnen um sich blickte. Aber das reicht nicht. Dass er sich so sicher gefühlt haben dürfte, hängt wesentlich mit dem viel beschriebenen österreichischen Selbstverständnis der Zweiten Republik bis zum Streit um Waldheim zusammen: dem Opfermythos als breitem gesellschaftlichem Konsens und dem daraus resultierenden ängstlichen Desinteresse an der Frage, wer wann was war, getan und erlebt hat. Das entsprach dem verbindlichen Verhaltenscodex jener Jahre. In einem erfolgreichen Benimm-Buch der „Perlenreihe“ 1957 heißt es dazu: „Gesprächsthemen über Krieg, Kriegserlebnisse, Atombomben, Krankheiten, Verbrechen und Katastrophen vermeide man immer, dann lieber gleich über das Wetter sprechen!“9 Das Wort „Nationalsozialismus“ kommt hier nicht einmal vor – weil offenbar schon die Verwendung des Wortes von schlechtem Benehmen zeugt! Es wird mit „Krieg, Kriegserlebnisse“ umschrieben. Das Buch erlebte zahlreiche Auflagen bis in die frühen 1970er Jahre. In diesem gesellschaftlichen Klima konnte sich Jedlicka relativ sicher fühlen. Daher haben wir ihn auch nie gefragt, sind nicht einmal auf die Idee gekommen. Er hätte es wohl als unverzeihlichen Tabubruch betrachtet und wir wären draußen gewesen. (Wir sind vor 1968, das an Österreichs Universitäten ohnehin ganz anders als in Frankreich und der Bundesrepublik verlaufen ist.) Das heißt aber nicht, dass Jedlickas politische Vergangenheit im Professorenkollegium der Universität gänzlich unbekannt gewesen wäre. Sie wurde intern auch ausgesprochen,10 spielte jedoch letztlich keine Rolle. Jedlickas von Rathkolb konstatierte „Austrozentrierung“ in der Forschung mag am Rande mit vernünftiger Vorsicht im Hinblick auf die eigene Biografie zu tun haben, entsprach aber vor allem Jedlickas tatsächlichen Interessen: Österreich im 20. Jahrhundert interessierte ihn, der Zweite Weltkrieg interessierte ihn als Militärhistoriker, am Nationalsozialismus dagegen will er nicht allzu sehr anstreifen. Das kann man verstehen. Hier scheint ein weiterer Blick auf die Lebensgeschichte sinnvoll: Ludwig Jedlicka – falls wir ihn nicht als reinen Opportunisten seit seiner Jugend charakterisieren wollen, wogegen einiges spricht – gehörte zu jener Generation enttäuschter junger Männer nach dem nationalsozialistischen Krieg, die sich missbraucht fühlten, in ihrem Glauben getäuscht, in ihrem Idealismus – soweit vorhanden – geschändet. Einem Teil von ihnen wollen wir zubilligen, dass sie über die aberwitzigen Verbrechen des Regimes nicht sehr viel wussten – wohl auch nichts wissen wollten. Die Folge: ab 1945 eine misstrauische, häufig zynische Grundhaltung gegenüber a­ llem, was sie als „Politik“ 9 10

Fritz Beck (1957): Benimm dich! Die wichtigsten Regeln der guten Umgangsformen in allen Lebenslagen (PerlenReihe 312), Wien/München/Zürich, 17. Rathkolb (2005), 360.

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betrachteten, in Österreich insbesondere gegenüber den beiden großen politischen Parteien, deren Unvollkommenheit sich ja auch schnell herausstellte. Jede(r) aus meiner Generation (ich bin 1941 geboren) hat diesen Typus von Verbitterten, manchmal deswegen Bösartigen, zur Genüge kennen gelernt. „Nicht mit mir!“, sagten diese Enttäuschten und hielten das für politischen Durchblick. „Ich falle nicht mehr hinein!“ – was viele allerdings nicht daran hinderte, im Bedarfsfall aus Opportunitätsgründen ÖVP oder SPÖ beizutreten, was ihren Ekel und ihren Zynismus zumeist noch verstärkte. Jedlicka fand einen originellen Ausweg aus dieser jämmerlich trübseligen Weltsicht: Im Grunde seines Herzens, der Verdacht kam mir bald und eine persönliche Beobachtung hat mich darin bestätigt, war Ludwig Jedlicka Legitimist. Das hat schon was: Der erste Professor für Zeitgeschichte in der Zweiten Republik war privat Anhänger einer Ordnung, die eher kläglich als stolz untergegangen war und die er selber, 1916 geboren, nicht mehr bewusst erlebt hatte. Oliver Rathkolb ist in seiner „biographischen Skizze“ zum selben Ergebnis gelangt, ausgehend von Jedlickas erster Kindheitserinnerung, dem Gang zum Grab des Vaters, einem 1918 verstorbenen Reserveleutnant.11 Dazu meine schon erwähnte Beobachtung: Ich machte sie im Frühjahr 1965 während einer interessanten Exkursion des Instituts für Zeitgeschichte nach Prag, wo sich im Verhalten einiger tschechischer Historiker bereits die kommende Entwicklung in den Prager Frühling abzeichnete.12 Auf der Rückfahrt besuchten wir auf Jedlickas Wunsch Konopištĕ, das Schloss Franz Ferdinands mit zahllosen Jagdtrophäen. Ein kundiger Führer zeigte uns das Haus und schlug irgendwann das Revers seines Sakkos um. Darunter befand sich ein schwarzgelbes Bändchen. Aus diesem Schloss, erklärte mir Jedlicka (es stimmt nicht ganz, wie ich mittlerweile weiß, es gab noch eine kurze Zwischenstation auf Schloss Chlumetz), seien die kaiserlichen Hoheiten direkt nach Sarajevo gefahren, wo ... es folgte ein ungezügelter Hassausbruch mit wüsten Beschimpfungen gegen Gavrilo Princip – 51 Jahre nach dem Ereignis! Ich war erschrocken und sprachlos. Aber nun wusste ich, woher diese abschätzige Distanz gegenüber den politischen Parteien kam: Weil sein Herz für etwas ganz anderes schlug. Diese Distanz gegenüber ÖVP und SPÖ erklärt auch, worauf Rathkolb hinweist, wenn er Jedlicka beschreibt „mit einer eher an der Universität damals seltenen Akzeptanzbereitschaft von ‚Linken‘, wie eine Reihe von Schülern beweisen“.13 Das ist deswegen bemerkenswert, weil Jedlickas universitäre Karriere mit zwei ÖVP-Unterrichtsministern zusammenhing: Drimmel und Piffl-Percevic. Aber seine wissenschaftliche Redlichkeit im Umgang mit seinen 11 12

13

Rathkolb (2005), 353, 355f, 363, 365, 367. Im Mai 1963 hatte, initiiert vom Prager Germanisten Eduard Goldstücker, auf Schloss Liblice jene internationale Kafka-Konferenz stattgefunden, die als Initialzündung für eine Phase der allmählichen Liberalisierung und des gesellschaftlichen Aufbruchs in der CSSR gilt, die dann 1968 im Prager Frühling gipfelte und im August 1968 mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts scheiterte. Rathkolb (2005), 367.

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SchülerInnen war stärker als seine politische Dankbarkeit. In unseren Arbeiten, nicht nur in denen, die sich mit 1927 und 1933/34 befassten, kam das christlich-bürgerliche Lager geradezu zwangsläufig schlechter weg als das sozialdemokratische. Das war Jedlicka egal, solange das Ergebnis seriös erarbeitet und wissenschaftlich fundiert war. In diesem Punkte war er frei von jeder Ängstlichkeit und jeder parteipolitischen Dankbarkeit – trotz ÖVP-Alleinregierung ab 1966! Das ist ihm hoch anzurechnen. Zurück zu meiner Feststellung, dass wir StudentInnen im Institut uns für die Anfänge der Republik interessierten, für 1927, für 1933/34 und den Austrofaschismus, aber weniger für den sogenannten Anschluss und die folgenden Jahre. Das sollte sich später gewaltig ändern, aber Mitte der 1960er Jahre war es so. Auch das hatte natürlich mit unserem Lehrer Jedlicka zu tun, aber nicht nur, sondern geht weit über seinen Einfluss hinaus. Um das zu erklären, muss ich ganz knapp Bekanntes holzschnittartig rekapitulieren: Unmittelbar nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft gab es kurze Zeit ehrliche Bemühungen, mit der Vergangenheit abzurechnen, Täter vor Gericht zu stellen. Das hielt so nicht lange. Das christlich-bürgerliche und das sozialdemokratische Lager waren nach 1945 annähernd gleich stark wiedererstanden und schon bald begann daher der Kampf um die Stimmen der Nationalsozialisten, da diese 1949 wieder wählen durften. Der Beginn des Kalten Krieges tat ein Übriges, um das Interesse an der begonnenen Abrechnung erlahmen zu lassen. Nachdem Österreich 1955 den Staatsvertrag erhalten hatte und ökonomisch aufholte,14 bestand erst recht kein Bedürfnis, sich mit den alten Nazigeschichten herumzuschlagen. Und wenn es doch jemand tat, war die Reaktion: Empörung bei einer Mehrheit, Begeisterung bei einer Minderheit – vor allem unter den Jungen. „Der Herr Karl“ (1961) ist ein herausragendes Beispiel dafür. Dominierend war das verbreitete Bewusstsein: Was wir doch alles aus unserer unglücklichen Geschichte gelernt haben! Doch ab den frühen 1970er Jahren wuchs dank junger HistorikerInnen die Erkenntnis, den Nationalsozialismus als gemeinsame deutsche wie auch österreichische Geschichte – bei allen Unterschieden im Detail – begreifen zu müssen, und gleichzeitig wuchs das Wissen um den beträchtlichen österreichischen Anteil an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Und spätestens seit dem Streit um Waldheim rückte eine weitere Frage ins Zentrum: wie die Zweite Republik mit diesem vergifteten Erbe umgegangen ist, wie viel Verantwortung das Land übernommen hat. Aber 20 Jahre davor waren wir noch nicht so weit. Ich darf noch einmal aus meinem Text aus 2002 zitieren: „[A]uch wenn ich in den Sechzigern wild entschlossen war mitzuhelfen, das österreichische Lügengespinst zu zerreißen – ich habe nicht bemerkt, dass die zentralen österreichischen Lügen in den Jahren 1938 und 1945 liegen. Und meine gleichgesinnten Freunde im Institut für Zeitgeschichte haben es 14 Siehe dazu: Österreichs Bruttoinlandsprodukt/Kopf in Prozent des jeweiligen westeuropäischen Wohlstands 1910-2003, in: Günter Düriegl / Gerbert Frodl (2005): Das neue Österreich. Die Ausstellung zum Staatsvertragsjubiläum 1955/2005. Oberes Belvedere, 16. Mai bis 1. November 2005, Wien, 287.

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meines Erinnerns damals auch nicht bemerkt. So sehr waren wir trotz allem und ohne unser Wissen und wider unseren Willen in diesen stillen österreichischen Konsens eingesponnen“.15 Selbstschutz: Eine Gesellschaft schützt sich und sichert ihre Handlungsfähigkeit, indem sie nicht auf das angerichtete Grauen zurückblickt. Und je grauenhafter die Verbrechen, desto länger dauert die Phase der verweigerten Rückschau. Diesem Konsens unterliegen bis zu einem gewissen Grad sogar diejenigen, die gegen ihn verstoßen. „Der Herr Karl“, der wichtigste österreichische Theatertext jener Jahre, ist dafür Beispiel. Der Erzähler, ein kleiner mieser Wiener Opportunist, verhält sich im März 1938 dementsprechend klein und mies und führt einen Juden zum Straßenwaschen. Größere Verbrechen werden in der Erzählung kurz angedeutet: „Andere, mein Lieber, de ham si g’sund g’stessn ... Existenzen wurden damals aufgebaut ... G’schäften arisiert, Häuser ... Kinos! I hab nur an Juden g’führt. I war ein Opfer. Andere san reich worden.“16 Der Hinweis auf die Arisierungen war 1961 eine Großtat wider die gesellschaftlichen Tabus, doch die Shoa bleibt ausgespart. Das ist keineswegs ein Vorwurf gegen die Autoren des „Herrn Karl“, einem grandiosen literarischen Text, aber es zeigt Grenzen, die auch von Grenzüberschreitern nicht überschritten werden. Ab Anfang der 1970er Jahre wurde alles anders – zumindest unter den HistorikerInnen – und als Bruno Kreisky 1975 diesen unwürdigen Streit mit Simon Wiesenthal begann, waren wir über Kreisky empört. Doch zehn Jahre davor waren wir noch fixiert gewesen auf die österreichischen Geschichtslügen die Erste Republik betreffend und die hörte mit dem deutschen Einmarsch auf – als ob österreichische Geschichte 1938 geendet und 1945 wieder begonnen hätte. Und als wäre der Nationalsozialismus deutsche und nicht auch österreichische Geschichte. Das klingt heute völlig absurd, war aber lange Zeit herrschender Konsens und dem unterlag damals auch ich, obwohl ich als Fünfjähriger zum ersten Mal über Dachau gehört hatte, seit meiner Kindheit von den nationalsozialistischen Verbrechen wusste und wusste, dass es zahllose österreichische Nazis gegeben hatte. Denn selbstverständlich wussten wir Bescheid, aber wir haben dieses Wissen nicht ausreichend in unser Geschichtsverständnis integriert. Es geht also um Fragen der Wahrnehmung: Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen ist welche Wahrnehmung möglich und welche kaum? Was führt dazu, dass der Blick auf Offensichtliches für die Allermeisten verstellt ist – nicht für immer, aber für einige Zeit? Noch einmal: Das ist heute kaum zu begreifen, aber es war so. Und dass es so war, daran hatte für uns im Institut für Zeitgeschichte Jedlicka mit seiner „Austrozentrierung“ sicherlich seinen Anteil, aber es ging weit über seinen Einfluss hinaus. Wir unterlagen, ohne es zu merken, in den 1960ern eben jenem „Zeitgeist“, den wir bekämpfen wollten.

15 16

Huemer (2006), 68. Traugott Krischke (Hg.) (1995): Helmut Qualtinger Werkausgabe, Bd. 1, „Der Herr Karl“ und andere Texte fürs Theater, 175.

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Zeitgeschichtsschreibung hat sich – darauf läuft dieser Text hinaus – auch mit ihrer eigenen Geschichte zu befassen. Dazu ist die „biographische Skizze“ von Oliver Rathkolb ein wichtiger Beitrag. Stellvertretend für eine Generation von Jedlicka-SchülerInnen hat er ein Tabu gebrochen, das wir instinktiv alle verspürten: die Geschichte des Lehrers, dem wir einiges zu verdanken haben, zu untersuchen – und das noch dazu im sicheren Wissen, dass das Ergebnis trotz positiver Seiten, die nicht verschwiegen werden, am Ende unerfreulich sein wird. Dieses für uns mit dieser Akribie geleistet zu haben, ist Verdienst, eben weil es für die Geschichtsforschung zu ihrer Legitimierung unerlässlich ist, auch über sich selber zu forschen.

Nachtrag: Was später geschah Nachdem dieser Text, Rathkolbs „Skizze“ folgend, um die 1960er Jahre kreist, um die Anfänge der universitären Zeitgeschichtsforschung in Österreich, soll zum Schluss ein Bogen in die Gegenwart geschlagen werden. Am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien läuft bei Johanna Gehmacher und Gabriella Hauch eine Dissertation über Anna und Edith Wilensky, zwei Jüdinnen aus Linz, Mutter und Tochter, geboren 1882 und 1905, beide in England gestorben. Anna Wilensky war sozialdemokratische Journalistin gewesen und lebte 1934-38 wesentlich vom Bridgespielen und vom Bridgeunterricht, Edith Wilensky war Ausdruckstänzerin und leitete eine Tanzschule, in der sie Kinder im Ausdruckstanz unterrichtete. Mutter und Tochter konnten 1939 noch rechtzeitig nach England emigrieren, korrekt: ausgeraubt flüchten. Nach dem Krieg haben sie meine Eltern und mich mehrmals besucht, ich sie auch in England, weil Edith Wilensky seit Kindertagen die engste Freundin meiner Mutter war. Ehe meine Mutter im Jänner 1994 starb, hat sie bis auf einen Brief die gesamte Korrespondenz mit den beiden Frauen vernichtet. Das gesellschaftliche Klima, das Jahrzehnte lang in Österreich geherrscht hatte, gut genug kennend, konnte sie sich nicht vorstellen, dass dieses Land sich je für zwei vertriebene Jüdinnen interessieren würde, die zwar im Linzer Kulturleben eine gewisse Rolle gespielt, aber später weder den Nobelpreis erhalten hatten noch Botschafterinnen geworden waren oder anders ausreichend internationale Publizität erlangt hatten, so dass Österreich sich bemühen würde, die Vertriebenen wieder als zwei der Unsrigen zu betrachten und sich mit ihnen zu berühmen. Auch von der österreichischen Geschichtsschreibung hat sie dieses Interesse nicht erwartet, obwohl sie den Streit um Waldheim, um Österreichs Anteil am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen, um den österreichischen Umgang mit diesem Anteil interessiert verfolgt hatte. Das alles war ja nichts Neues für sie, doch auch die Veränderung in der Gesellschaft ab 1986 hat sie registriert. Aber viel zugetraut hat sie dem Land dennoch nicht. Auf die Idee, dass sich je eine Dissertation mit Anna und Edith Wilensky befassen könnte, wäre sie nie gekommen. Daher hat sie die Briefe vernichtet. Hätte sie dieses Projekt am Institut für Zeitgeschichte noch erlebt, sie wäre zu Tränen ge-

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rührt. Und dass es seit Juni 2014 in Linz einen Wilenskyweg gibt,17 hätte sie noch viel weniger für möglich gehalten. Ohne die vorangehende zeitgeschichtliche Forschung ist das auch gar nicht denkbar.18 Schade nur, dass es so lange dauert, bis eine Stadt sich derer erinnert, die sie verjagt hat. Die österreichische Zeitgeschichtsforschung hat im vergangenen halben Jahrhundert einen weiten Weg zurückgelegt. Sie war damals – bei allen beschriebenen Einschränkungen – dem öffentlichen Bewusstsein deutlich voraus und sie ist es heute. Und da Oliver Rathkolb einer ihrer führenden Exponenten ist, zurzeit der prominenteste, ist sein Verdienst daran nicht gering.

17 18

Mitteilung der Wilensky-Dissertantin Astrid Frauendienst an den Autor. Siehe dazu: Peter Huemer: Wagner und Wilensky. Linz und Malvern Link. Hitler. Erinnerungen an eine Linzer Künstlerfamilie, in: Birgit Kirchmayr (Hg.) (2009): „Kulturhauptstadt des Führers.“ Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich, Linz, 59–64, hier 59ff.

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Oliver Rathkolb – Wissenschaftler mit Herz und Organisationstalent

Wie wohl für viele Menschen sind auch für mich die Forschungen zur Zeitgeschichte von besonderem – z. T. auch geradezu persönlichem – Interesse. Oliver Rathkolb war mir daher schon lange ein Begriff und ein Garant für seriöse und relevante Forschungsarbeit. Ein spezieller Anknüpfungspunkt ergab sich dabei, als Oliver Rathkolb und sein hochqualifiziertes Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zeitgeschichtliche Forschungsprojekte im Bereich des Geld- und Kreditwesens erforschten. Ungeachtet möglicher finanzieller Folgewirkungen entstanden hier seriöse – und auch lesbare! – Studien, die nicht nur für die betreffenden Institute, sondern für unsere Kenntnis der entsprechenden Verhältnisse insgesamt von erheblicher Bedeutung waren und sind. Auch die Oesterreichische Nationalbank nutzte diese spezielle Expertise von Oliver Rathkolb (und auch seines engagierten Kollegen Theodor Venus). Zum einen bei der – erst sehr späten – Aufarbeitung der Geschichte der Oesterreichischen Nationalbank (damals degradiert zur Filiale der deutschen Reichsbank) in der Zeit des Nationalsozialismus. Richtigerweise wurde aber auch die Zeit „davor“ und „danach“ analysiert, wobei es beklemmend war zu sehen, wie stark diese Institution schon vor dem „Anschluss“ von Nationalsozialisten unterwandert worden war. Ein zweites großes Projekt betrifft die Mitarbeit an den Vorarbeiten zum 200-Jahr-Jubiläum der Oesterreichischen Nationalbank im Jahr 2016. Ein anderer wichtiger Bezugspunkt unserer Zusammenarbeit – und ich darf sagen, Freundschaft – entspringt unserer gemeinsamen Verehrung für Persönlichkeit und Wirken von Bruno Kreisky. Oliver Rathkolb belässt es hier aber nicht bei der historischen Betrachtung, sondern ist aktiv im Weitertragen zentraler Aspekte der humanistischen Gedankenwelt Bruno Kreiskys. Ein spezieller Ansatzpunkt dafür ist die Bruno Kreisky Stiftung für Verdienste um die Menschenrechte, wo ich die Ehre habe, den Vorsitz zu führen, Oliver Rathkolb aber stets der eigentliche Organisator und Planer war und ist. Hier konnte ich den anderen Oliver Rahtkolb kennenlernen, der über erhebliches Organisationstalent verfügt, der aber vor allem mit großem persönlichem Engagement das Leben – und leider oft auch die Nöte – von Menschen begleitet, die sich in verschiedener Weise für die Menschenrechte einsetzen. Ich bin immer wieder beeindruckt, mit welch großem zeitlichem Einsatz und mit welch quasi selbstverständlicher Selbstlosigkeit Oliver Rathkolb sich bemüht, die erforderlichen Geldmittel aufzubringen und dann auch den oft in schwierigsten Verhältnissen lebenden

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PreisträgerInnen zukommen zu lassen. Das ist ein „Humanismus der Tat“, für den ich wenige vergleichbare Beispiele kenne. Über dieses gemeinsame Wirken konnte ich auch Zugang zum Menschen Oliver Rathkolb gewinnen und über seine so eindrucksvolle Frau Lydia auch zu neuen Aspekten der Musik finden. Oliver Rathkolbs enge Vernetzung mit dem Bereich der Künste hat sich aber auch gezeigt in der Veranstaltung von Kunstauktionen zu Gunsten der Kreisky-Stiftung. Immer wieder gelingt es ihm, namhafte KünstlerInnen dazu zu gewinnen, Werke dafür bereit zu stellen – und immer wieder komme ich dafür auch zu neuen Mitbewohnern unseres Zuhauses. Bei all der vielen und intensiven Tätigkeit von Oliver Rathkolb würde man einen hektischen, nervösen Menschen erwarten. Das Gegenteil ist der Fall: Oliver ist bei aller intellektuellen Wachheit von freundlicher Ruhe und Gelassenheit. Am Schönsten sieht man das, wenn man ihn in seinem eigentlichen Biotop, seinem Universitätsinstitut im stimmungsvollen Alten AKH besucht. Und man merkt dabei, hier führt ein kluger und offener Mensch ein gutes, geglücktes Leben. Dazu – und nicht zum Geburtstag, der ja kein Verdienst ist – möchte ich herzlich gratulieren.

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„ORF-Star“ Oliver Rathkolb

Jubiläen, aktuelle Ereignisse, aktuelle Forschung und TV-Produktionen spiegeln eine große Bandbreite, bei der die Expertise des Historikers Oliver Rathkolb eingeholt wird. Die Menge des Materials, das im Rahmen von Sendungen der einzigen öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt Österreichs (ORF) entstand, spricht für sich: 155 Beiträge und Sendungen1 im untersuchten Zeitraum vom 30. März 1989 bis 26. März 20142. Zu welchen Themen äußerte sich Rathkolb innerhalb der letzten 25 Jahre im ORF? Bei genauer Betrachtung des gesamten TV-Materials fällt auf, dass es im Endeffekt kaum ein relevantes zeithistorisches Thema gibt, zu dem sein Urteil nicht eingeholt wurde, wie folgender Artikel verdeutlichen soll: „Zwei Paar fliegende Beine, das unverwüstliche Lächeln und der typisch ungarische Akzent: So kennt man Marika Rökk.“3 In welchem Zusammenhang stehen diese einleitenden Worte und Oliver Rathkolb? Es handelt sich hierbei um ein Porträt von Maria Rökk, das anlässlich ihres 100. Geburtstages im Jahr 2013 gesendet wurde. Rathkolb kommentierte dabei ihre Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus. Es ist dies ein kleiner Ausschnitt, der jedoch zeigt, dass Rathkolb nicht nur bei klassischen historischen Produktionen zu Wort kam, sondern auch in zahlreichen anderen ORF-Formaten. Um einen inhaltlichen Bogen spannen zu können bzw. um die Bedeutung des Experten Rathkolb im ORF darzustellen, wurden die in der Datenbank des ORF-Archivs erfassten Beiträge und Sendungen in vier Kategorien unterteilt.4

Jubiläum Die öffentliche Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen findet sehr häufig im Rahmen von Jubiläen statt. Hintergründe zu analysieren, möglichst genaue Darstellungen zu lie1 2 3 4

Alle Angaben sind der Datenbank des ORF-Archivs in der Außenstelle an der Bibliothek des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien entnommen. Letztes Recherchedatum: 28. 4.2014. Innerhalb dieser 155 Beiträge ist Rathkolb sieben Mal, den Angaben des ORF-Archivs zufolge, im Bild zu sehen, ohne interviewt zu werden bzw. fehlen entsprechende Angaben. Kulturmontag, 4.11.2013. Im Anhang des Buches finden Sie eine tabellarische Auflistung aller Beiträge und Sendungen, an denen Oliver Rathkolb mitwirkte. Gelegentliche Überschneidungen in den Kategorien sind möglich, der jeweilige Beitrag wurde deshalb hier in die erste Kategorie, der er zugeordnet ist, inkludiert.

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fern bzw. aktuelle Erkenntnisse zum jeweiligen Jahrestag darzulegen, sind oftmals die Aufgaben von HistorikerInnen. Beginnend mit dem 5. April 2002 („Im Brennpunkt“-Dokumentation Der vergessene Kaiser – Karl I. – Der letzte Kaiser von Österreich) kommt Rathkolb 26 Mal in der Kategorie Jubiläum zu Wort. Bereits in diesem Beitrag wird einerseits die historische Darstellung – wohl auch anlässlich des 80. Geburtstages Karl I. – in den Mittelpunkt gerückt, andererseits das tagesaktuelle Thema seiner sich anbahnenden Seligsprechung diskutiert. Rathkolb, wie weitere Beispiele und vor allem die Kategorie „Aktuelle Forschung“ zeigen werden, fungiert somit oftmals als Schnittstelle zwischen historischen Ereignissen und zum jeweiligen Produktionszeitpunkt aktuellen Fragestellungen. 2005 steht bei „Alpha Österreich“ der 80. Geburtstag der Historikerin Erika Weinzierl im Zentrum – ihr Wirken für Zeitgeschichtsforschung und somit ein wissenschaftlich selbstreflexives Thema. Die Bandbreite der Sendungen erstreckt sich bis hin zu Live-Diskussionen wie im Rahmen der „Zeit im Bild 3“ am 8. Mai 2002 mit Kurt Jagschitz vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien über den Umgang der ÖsterreicherInnen mit dem 8. Mai. Die weiteren Themen reichen, chronologisch betrachtet, vom Februar 1934 über 60 Jahre Marshallplan, 50 Jahre Burgtheater Wien bzw. Wiener Staatsoper bis hin zu 20 Jahre Waldheim-Debatte bzw. Fall des Eisernen Vorhangs.

Aktueller Anlass Historische Funde, neue Fragestellungen, aber auch gegenwärtige politische Ereignisse werden in unterschiedlichen Sendeformaten immer wieder von HistorikerInnen kommentiert und analysiert. Diese mit Abstand größte Kategorie, die insgesamt 64 Produktionen beinhaltet, in denen Rathkolb auftrat, zeigt am Deutlichsten die Relevanz derartiger Stellungnahmen und Interviews. Der erste Beitrag dieser Kategorie wurde am 30. März 1989 ausgestrahlt. Auch hier ist das Spektrum der Inhalte äußerst vielfältig. So wurde 1996 anlässlich einer Sonderkommission des Innenministeriums der Frage nach US-Waffen Depots in Österreich in der Zeit des Kalten Krieges nachgegangen. In Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus stehen Themen wie Kunst (u. a. Wagner-Dynastie), Unternehmensgeschichten (u. a. Steyr-Daimler-Puch, VOEST, Creditanstalt), Zwangsarbeit oder die Waldheim-Affäre im Mittelpunkt. Die aktuelle innenpolitische Situation wurde etwa bei der umstrittenen Regierungsangelobung im Jahr 2000 von Rathkolb ebenso kommentiert, wie auch die Entwicklung des sogenannten „dritten Lagers“ und der Bundespräsidentschaftswahlkampf zwischen Benita Ferrero-Waldner und Heinz Fischer im Jahr 2004. Des weiteren analysierte er die Börsenkrise 2008 im Vergleich mit dem Crash von 1929, begründete eine Gesetzesänderung zur

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Rehabilitierung der Februarkämpfer im Jahr 2012 oder deutete die Wichtigkeit der amerikanischen Nationalflagge im öffentlichen Leben in den USA anlässlich des Bombenanschlags in Boston 2013. Zurückkommend auf Marika Rökk bildet die Mitwirkung bei Porträt-Gestaltungen wie jene Wilhelm Furtwänglers oder Eric Pleskows und Ari Raths (»Die Porzellangassenbuben«), einen Teil dieser Kategorie. 2005 begründet Rathkolb in einem Gespräch über den neu erschienen Film „Sophie Scholl“ die Notwendigkeit der Mitarbeit von HistorikerInnen bei Film- und Fernsehproduktionen dieses Genres mit folgendem Zitat: „[…] je mehr demokratische Grundbildung ich vermittle, desto mehr mündige Bürger kann ich in der Gesellschaft wiederfinden […].“5 Auftritte in der „Zeit im Bild“ anlässlich des Ablebens von Simon Wiesenthal im Jahr 2005 bzw. Otto Habsburg-Lothringens 2011, des Bekanntwerdens der Waffen-SS-Mitgliedschaft von Günter Grass 2006 oder des sogenannten „Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten“ 2012 zum Thema „Lebensumstände um den 27. April 1945“ ergänzen diese Kategorie.

Aktuelle Forschung Historische Forschung per se – und somit rezente wissenschaftliche Fragestellungen und Erkenntnisse – steht in insgesamt 30 Beiträge und Sendungen beginnend mit dem 27. Juni 1991 („Achtung Kultur“ – Die Gaukler des Führers) im Vordergrund: Bereits 1991 stand Rathkolb im Rampenlicht als der ORF über die Präsentation seines Buches „Führertreu und Gottbegnadet“ berichtete. Weitere Auftritte Rathkolbs in dieser Beitragskategorie erstrecken sich bis hin zu Stellungnahmen zu aktuellen Studien von HistorikerInnenkommissionen, Symposien, Ausstellungen oder historischem Filmmaterial. Inhaltlich werden dabei u.a. Aspekte wie Zwangsarbeit in den ehemaligen Hermann-Göring-Werken, die Zeit nach 1938 in der Wiener Staatsoper, die Rolle der Wiener Philharmoniker während der NS-Zeit, bis hin zu aktuellen Debatten, wie jene um „belastete“ Wiener Straßennamen thematisiert.

TV-Produktion Historische Themen, Persönlichkeiten oder Ereignisse bilden oftmals die Grundlage für Fernsehproduktionen – von Beiträgen in wöchentlichen Sendeformaten bis hin zu Dokumentarfilmen. In insgesamt 30 Beiträgen der Kategorie TV-Produktion, beginnend ab dem 14. März 1995, ist Rathkolb Studiogast bzw. Interviewpartner. So wurde in der Sendung „Treffpunkt Kultur“ über Wilhelm Furtwänglers Rolle im Dritten Reich und die Frage „Wie politisch darf 5

Treffpunkt Kultur, 21.2.2005.

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Zeitgeschichte „persönlich“

ein Künstler sein?“ diskutiert. „Report Spezial“ brachte ein Porträt der Familie Habsburg in der heutigen Zeit, „Menschen und Mächte“ setzte sich mit dem Zweiten Weltkrieg auseinander. 2012 widmete sich ein Schwerpunkt dem Thema „Alltag unterm Hakenkreuz“. Des weiteren fallen in diese Kategorie Filme und Dokumentationen, deren Themen sich von der Rolle der ÖBB im Nationalsozialismus über den Marshallplan bis hin zur Biographie Kurt Waldheims erstrecken. Am 26. März 2014 wurde in der Sendung „Seitenblicke“ die Verleihung eines Fernsehpreises für die DVD-Produktionen von Österreich I und Österreich II, die unter Mitwirkung von Rathkolb zustande kamen, gezeigt. Bereits Anfang 2013 ging „Kultur heute“ auf die die Neubearbeitung von Österreich I nach aktuellen historischen Erkenntnissen ein. Zusammenfassend zeigen diese nur exemplarisch dargestellten Fernsehauftritte Rathkolbs zunächst die inhaltlich breite Palette, zu der er als Experte herangezogen wird. Gleichzeitig wird dabei allerdings auch die gesellschaftliche Bedeutung der (zeit-)historischen Wissenschaft im Zeitalter der neuen Medien an sich deutlich. Die TV-Präsenz Rathkolbs zeigt, in welcher Form sich Wissenschaft selbst verkaufen kann bzw. es heutzutage vielleicht auch muss. Film und Fernsehen sind wiederum auch als fester Bestandteil der historischen Quellen zu sehen. Deshalb ist die Arbeit mit diesem Material sowie die Darstellung von Wissenschaft in eben diesen Medien essentiell. Oliver Rathkolb hat in den vergangenen 25 Jahren im ORF bewiesen, wie wichtig wissenschaftlich-analytische Kommentare und die Begleitung von Dokumentationen, die vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse produziert werden, durch HistorikerInnen sind.

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Badeni and the Revolution of 1897

Introduction In a recent essay on the riots surrounding Count Casimir Badeni’s language decrees in November 1897 Oliver Rathkolb has observed that they were a “radical caesura in the history of the universities.”1 Rathkolb’s intervention reminds us of the importance of this episode in Austrian history, which has been remarkably little studied since the 1960s. This essay focuses on the career of one of the more significant Austrian ministerial leaders, Count Casimir Badeni, whose term in office lasted only two years but who had a profound impact on the late Imperial political system. Badeni followed the luckless Coalition Ministry that served between November 1893 and June 1895. The Coalition of 1893 had few strong personalities, with the exception of Ernst von Plener who was its de facto intellectual leader. Having come to power opposing Taaffe’s radical election reform, the new Ministry was stymied by attempts at an alternative that could have given it some basic legitimacy. The Coalition was in fact the swan song of a blend of aristocratic and high bürgerlich politics that had dominated the Austrian state in one form or another since 1861. As Karel Kramář later put it, it was a “total fiasco,” based on parties that had absolutely nothing in common, other than a willingness to vote the military budget and selected other fiscal items.2 Once these older elites proved themselves unable to govern, the die was cast for radical reforms.

1

2

Oliver Rathkolb (2013): Gewalt und Antisemitismus an der Universität Wien und die Badeni-Krise 1897. Davor und danach, in: Oliver Rathkolb (Ed.): Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Vienna, 79. The classic account is Berthold Sutter (1960–1965): Die badenischen Sprachenverordnungen von 1897. Ihre Genesis und Auswirkungen vornehmlich auf die innerösterreichischen Alpenländer, 2 Volumes, Graz; from a Czech perspective see Otto Urban (1994): Die tschechische Gesellschaft 1848 bis 1918, 2 Volumes, Vienna, Vol. 1, 652–682. For the Polish perspective, see Philip Pajakowski (1993): The Polish Club, Badeni, and the Austrian Parliamentary Crisis of 1897, in: Canadian Slavonic Papers Vol. 35 (1993), 103–120. For assistance with this essay I am grateful to Lothar Höbelt, Patrick Houlihan, and Daniel Koehler. Karel Kramář (1906): Anmerkungen zur böhmischen Politik, Vienna, 16. For a recent appraisal, see Jonathan Kwan (2013): Liberalism and the Habsburg Monarchy, 1861–1895, Basingstoke, 179–199.

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Badeni’s Strategy for the Politics of Language Facing the intractable state of politics in Bohemia, which threatened to spread outward to other areas of the Empire, Franz Joseph summoned Count Casimir Badeni to Bad Ischl in August 1895, with a commission to form a new government. As Statthalter in Lemberg Badeni had earned a reputation for tough, autocratic decision-making, but he also demonstrated a solid knowledge of the politics of the higher Beamtentum and moved easily between formal subservience to his superiors in Vienna and boundary-pushing independence, when he could get away with the latter. The idea for Badeni’s appointment seems to have originated from several sources, including Baron Johann Chlumecky, who had the ear of the Emperor throughout the early 1890s as a former cabinet minister, Geheimrat, and from 1893 to 1897 as President of the Abgeordnetenhaus.3 Chlumecky arranged for secret briefing sessions for Badeni with the editors of the Neue Freie Presse before he officially took office. Max von Hussarek later insisted that had his health not deteriorated, Taaffe would have been recalled to service, but this seems highly improbable.4 Badeni enjoyed some support in the Polish Club, and he was attractive to old Liberals as someone willing to adopt a more liberal line on tax and administrative policy issues. Franz Joseph wanted someone with energy and a new vision for parliamentary governance, and Badeni seemed sufficiently bold and self-confident for the Emperor to take the risk of appointing him. Badeni was a wealthy Polish aristocrat with solid administrative credentials, having served as the Statthalter of Galicia from 1888. His personal demeanor was one of assurance and quirky optimism, which many hard-bitten veterans of Viennese administrative politics found quixotic and frivolous, but he managed to maintain this façade of tough-minded sanguinity throughout much of the next two years. Erich Kielmansegg, perhaps out of sour grapes, later insisted that Franz Joseph never liked Badeni and felt that the Polish count had been “forced upon him”; but it is more plausible to argue that the Emperor had few attractive options in the spring of 1895 and Badeni was about as good as he was likely to find, if he wished to pursue a strategy of working with parliament. Badeni’s various memos and letters during the crisis of 1897 demonstrate a level of political sophistication and strategic deftness that his enemies desperately wanted to deny him. He had an excellent knowledge of administrative political hierarchies, and he understood that most Austrian parliamentary deputies were hardworking amateurs with limited information and often with short attention spans, who needed guidance and direction from their party leaders. He had a knack in dealing with the narcissists and 3

4

Erich Kielmansegg (1966): Kaiserhaus, Staatsmänner und Politiker. Aufzeichnungen des k. k. Statthalters Erich Graf Kielmansegg, Vienna, 42, 262; Joseph Maria Baernreither (1939): Der Verfall des Habsburgerreiches und die Deutschen. Fragmente eines politischen Tagebuches 1897–1917, Vienna, 27. For this vignette, see Heinrich Friedjung (1997): Geschichte in Gesprächen. Aufzeichnungen 1898-1919. Franz Adlgasser / Margret Friedrich (Ed.), 2 Volumes, Vienna, Vol. 2, 439.

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paranoids among those leaders, even if he also frequently overestimated their backbone and civic courage. Badeni was a good public speaker, and the fact that his maiden address to the Abgeordentenhaus on October 22, 1895 was given from memory, without reading from notes, impressed that raucous and headstrong body. Badeni used the month of August to negotiate memberships in his Cabinet, without consulting Kielmansegg, and finally submitted his list of nominees to Franz Joseph’s cabinet director, Adolph von Braun, on August 27, 1895.5 Badeni eventually hoped to realign the Cabinet with Young Czech and German parliamentary ministers, which might have meant shifting some of his initial appointees, but the events of the summer and fall of 1897 made this unfeasible. From the beginning of his service Badeni intended to take on the Czech-German enigma and planned to issue language ordinances to break the log jam.6 The fundamental architecture of his ministry has to be understood in light of his goal to restore a workable parliamentary majority that would include the Czechs as well as some German factions, based on a resolution of the language question in Bohemia and Moravia. Those who insisted that Badeni had no clue about the situation in Prague and local politics in Bohemia were engaged in wishful thinking. Badeni had extensive experience in dealing with Polish-Ruthenian tensions, and the complexity of maneuvering and the frequent duplicity on both sides that was permanently baked into the German-Czech conundrum would not have been lost on him. In his presentations to the Imperial Ministerrat in February and April 1897 he articulated a clear and rational strategy: his highest priority was a dual one, namely, to create a sustainable parliamentary majority in the Reichsrat, involving the Poles, more moderate Germans Liberals, and the Young Czechs, and to use that negotiating process to try to broker a new status quo in Bohemia by coopting the Czechs into abandoning, once and for all, the pretensions associated with the Böhmisches Staatsrecht in favor of a systematic political approach involving negotiation and compromise.7 Badeni was explicit that his strategy was premised on forcing both Czechs and Germans to work together on the basis of the current constitution and that “it is a matter of great importance that the government remain firm on this point, for it was only in this way that it would be possible to convince the Czechs that a realization of their Staatsrecht ideas was totally hopeless.”8 In many of the unfavorable postmortems written about Badeni’s efforts 5 6 7

8

Badeni to Adolph von Braun, 27 August 1895, Nachlass Adolph von Braun, Carton 1, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA). Friedjung (1997), 194. He told his fellow Cabinet ministers in February that his goal was to create a “normal state of affairs” in Bohemia, based on a compromise between the Czechs and Germans, such that representatives of both ethnic factions would agree to join a parliamentary majority in the new parliament that would be elected in March. Protokoll des zu Wien am 20. Februar 1897 abgehaltenen Ministerrates, 70–71, Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA).

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in 1897 and in subsequent decades this crucial point has been overlooked. Badeni realized that no permanent resolution of parliamentary tensions and obstruction in Vienna would be possible until a settlement was reached in Prague whereby the Czechs would climb down from their extremist demands for a Staatsrecht-like autonomy for Bohemia and Moravia, while the Germans made serious compromises that granted the Czech language a status of parity within the provincial Bohemian government. The famous Language Ordinances of April 1897 were not a tool to persecute the Germans, but to force the Czechs into a system-stabilizing mode of political action and one that guaranteed their national dignity and pride. The most telling feature of Badeni’s tactics was not his lack of knowledge, which his critics exaggerated, but his willingness to dodge back and forth among various competing interlocutors, making promises and assertions that in retrospect he had no independent capacity to sustain. This gave him the appearance of being slippery and unprincipled, but in fact it was more a reflection of his self-confidence that he could cajole his way into compromises on issues where others sat in a state of indifferent passivity.

The April Verordnungen Badeni’s first year in office was marked by a series of major legislative accomplishments. His first major victory involved a return to the issue that had plagued Taaffe’s last months, namely franchise reform. Here he acted as a strong man in solving a problem that had plagued both Taaffe and the Coalition. And it was crucial to his strategy that these changes go into effect before he decided to tackle the equally ominous issue of language reform in Bohemia. Dispensing with the Coalition’s drafts, Badeni proposed in mid-February 1896 a significant change in the franchise by adding a new, Fifth Curia that would give male adult workers the vote for 72 new seats in the Abgeordnetenhaus. The other privileged Curias were left untouched. Demonstrating considerable negotiating skill with the major factions, he was able to push this legislation through parliament in May 1896. Other successes followed, and 1896 proved to be a good year for Badeni. Then, in early 1897, he decided to move on the Bohemian question. Beginning in late 1895 and continuing through the early spring of 1897 Badeni initiated a series of conversations and then negotiations with various Young Czech leaders, appealing for their commitment to stable participation in his voting majority in return for concessions on the language question.9 These negotiations were chronicled in Josef Kaizl’s private diary, the final volume of which was published amid significant controversy in 1914.10 Badeni showed various drafts of possible decrees

9 10

Urban (1994), Vol. 1, 657, 664–665. Josef Kaizl (1909-1914): Z Mého Života, 3 Volumes, Prague. Bedřich Pačák also later recounted a brief history of these negotiations, excerpts of which were published in Neue Freie Presse (NFP), 14.4.1897 (M), 2–3.

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to Kaizl and other Young Czech leaders, who vetted them with their closest colleagues in the party leadership. The back and forth was complex, with each side pushing back on significant points.11 Throughout the negotiations Badeni tried to offer the Czechs the minimum necessary for them to accept his offer, telling them that he was encountering stiff resistance from other members of the Cabinet (which was partially true); and from the anxious notations in Kaizl’s diary, it was by no means certain to Kaizl that the Czechs would get all or even most of what they wanted. Badeni left the Germans with a transition period and most centrally, confirmed German as the exclusive inter-office language of communication with the ministries in Vienna. Moreover, all current officials hired before 1901 were grandfathered and not subject to any of the new requirements.12 He rejected German ideas about a territorial division of Bohemia, knowing that this was a complete non-starter with the Czechs. Badeni appealed to the Germans to recognize that the social reality of everyday communication within the local administrative bureaucracy in many areas of Bohemia already dictated widespread use of Czech, a reality that led Ernest von Koerber to admit in 1909 that “the preservation of the German innere Amtssprache in Czech-speaking areas [of Bohemia] has been impossible for many decades.”13 Badeni also argued that Czech officials would be held accountable to know fluent German, and that special evaluation commissions with fair German representation would be created to allow for reasonable testing standards. The Germans reacted with apprehension and fear. Chlumecky, as one of the most prominent Liberal Grossgrundbesitz leaders in Moravia, was briefed by Badeni about his plans in September 1896 and in turn sent him a private memorandum of protest that contained most of the objections that would later emerge publicly.14 Chlumecky argued that while he had no personal animosity against the idea that Germans should learn Czech – insisting that he himself as a young civil servant had done so, to the point that he was often asked to review Czech language press for official briefings of his administrative superiors – it was also the case that Czech until recently had been a language that was not easily adapted, even among Czechs, to the demands of higher administrative policy issues, and that many Czech civil servants themselves preferred to use German for reasons of precision and accuracy. Moreover, it was impossible to expect the Germans to master such a complex language through classroom 11 12

13 14

Kramář (1906), 21f; Gertraud Hansel (1953): Die tschechische Stellungnahme zu den Sprachenverordnungen Badenis vom 5. und 22. 4. 1897, Dissertation Vienna, 21–42. See the interview with Badeni published in Bohemia, 27.3.1897, 1 and reprinted in NFP, 27.3.1897 (M), 4; as well as Josef Kaizl (1897): Der deutsch-böhmische Sprachenstreit, in: Die Zukunft Vol. 19 (1897), 259. Kaizl took Badeni’s interview in Bohemia to be a feint in the direction of the Germans, which worried him and his colleagues greatly: “Grosser Alarm bei den Unsrigen. Bad[eni] hat viel verdorben und den Eindruck einer guten Verordnung unschön entkräftet [...]. Es ist sehr schlecht, dass der Klub so erbost ist.” Kaizl (1909–1914), Vol. 3, 572. Friedjung (1997), Vol. 2, 255. “Promemoria,” dated 18 September 1896 in Nachlass Ernst von Plener, Carton 24, HHStA.

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instruction within a few years. Chlumecky also argued that the situation was particularly problematic in Bohemia, given that large numbers of Mittelschul-educated Germans grew up in villages and towns where no one spoke Czech, in contrast to the more diverse linguistic situation of Moravia where younger educated elites of both nations might encounter each other with more cultural frequency. Chlumecky further insisted that his Czech political counterparts recognized all of this, to the point where they too did not really expect German civil servants would be able to master Czech in their lifetimes, and that the real purpose of the Czech intervention was more staatsrechtlich than purely national, given their goal was to take over the internal administrative apparatus of Bohemia and Moravia for party political reasons. Chlumecky failed to persuade Badeni, however, for the latter wanted to force change, and Chlumecky’s diagnosis was simply an eloquent attempt to defend a status quo that Badeni felt was out of date and out of time. The crucial decisions were ultimately taken in the Ministerrat in a series of closely guarded meetings in February, March, and April 1897. The story of these negotiations is a tangled puzzle of intrigue and mystery. Badeni had to juggle the dynamics of the Ministerrat, on which Count Johann Gleispach and Baron Paul Gautsch more or less represented German interests, balancing what he could persuade the Czechs to accept and what the Germans might stomach, along with what the Emperor himself would support. The final Ordinances for Bohemia issued on April 5 were focused on two crucial issues – the use of language in administrative offices and procedures of Bohemia, and the competency in language facility of the Beamten working in those offices.15 All new officials appointed after 1901 would have to have a working knowledge of both languages. The Czechs insisted that their language should be used by complainants through all administrative levels, if the case began in Czech. The second regulation was an inevitable add-on to the first, since concessions on use inevitably meant that the government had to ensure a cadre of trained officials to implement the new rules. The most controversy surrounded Article 7, which specified the extent to which Czech could or would be used as an innere Amtssprache in Bohemia (would Czech only follow the trail of specific appeals by individual Czech-speaking appellants who were entitled to communicate about their case in Czech, or would local and regional state officials also be able to communicate among themselves in Czech in cases that did not involve a specific individual litigant?)16 15 16

Landesgesetzblatt für das Königreich Böhmen, 1897, 39–43. Badeni launched special debate in the Cabinet on the two ordinances on February 21. Key concerns focused on Badeni’s version of the second paragraph of Section 7, which Gleispach feared would lead to a “total Czechization of the inner civil service.” The Cabinet could not agree, so a subcommittee charged with drafting a compromise that was adopted on February 23. The Czechs found this version of Section 7 too limited, and barraged Badeni with demands for an expanded portfolio of cases in which Czech could be used, which he conceded in rather oblique terms on March 31. See the Ministerratsprotokolle from 21 and 23 February 1897, as well as those from 22 March, 31 March/1April, and 4 April 1897, AVA.

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On March 26 Badeni gave an interview with the German newspaper Bohemia in which for the first time he outlined the basic features of his plans – dual language competency for state officials employed after 1903 – but made it clear that none of the new requirements would apply to civil servants currently employed by the state service, who would be exempted for the course of their careers. He also asserted that it was inevitable that some kind of settlement take place along the lines that his interventions were preparing, and that it would be in the best interests of the Germans if they cooperated with a Cabinet that was in principle sympathetic to their interests. By agreeing to support the ordinances, the Germans would end up with a stable parliamentary coalition with the Young Czechs that would protect the freiheitlich cultural values the Liberals claimed to esteem. He also argued that most of what the new ordinances would prescribe simply confirmed in law what was already happening in social reality, so that the Germans in fact had little of substantive cultural capital to lose. Badeni even offered the further concession that in administrative districts in which the German-speaking population made up the huge majority, not all German officials would in fact be expected to know Czech, a frank admission of the enormous discretionary authority that the Cabinet did in fact possess.17 Having secured Young Czech agreement, Badeni arranged a meeting between German Bohemian leaders Ludwig Schlesinger, Julius Lippert, and Alois Funke, and the Young Czechs on March 23.18 He also met with Otto Steinwender of the Deutsche Volkspartei just before releasing the edicts, and thought that he had Steinwender’s acquiescence.19 Heinrich von Halban later claimed that Badeni believed that over 40 German parliamentary deputies would side with him, or at least tacitly tolerate his decision. But Schlesinger and his colleagues refused to engage in any serious negotiations, fearing the massive recriminations that they would stir up among more radical nationalist forces.20 The most controversial behavior came on the part of the liberal Grossgrundbesitz in Bohemia. Joseph Baernreither was a leading spokesman of the Grossgrundbesitz, and if Badeni had been able to persuade him and his colleagues to tolerate the decrees, he had some hope of putting together the kind of working coalition of moderate liberal German and Slavic parties that, so Badeni hoped, would stitch Austrian politics back together again. Oswald Thun reported that Baernreither had admitted to him that he and the other German leaders had never demanded that Badeni show them the detailed drafts of his ordinances, and thus had lost an opportunity to participate in realistic negotiations.21 17 18 19 20

21

Bohemia, 27.3.1897, 1; Baernreither (1939), 4. Prager Tagblatt, 26.3.1897, 1-2; Kaizl (1909–1914), Vol. 3, 569. Friedjung (1997), Vol. 1, 185. On Halban see Gerhard Dabringer (1997): Der Wissende. Heinrich von Halban und seine Zeit: Diplomarbeit Vienna; and Gerhard Dabringer / Marija Wakounig (1996): “So liegen einmal die Verhältnisse in Österreich, dass man nicht mit rechter Freude ans Werk geht”. Ein Vergleich der Kabinette Fürst Alfred Windisch-Graetz und Graf Kazimierz Badeni: in Österreich Polen. 1000 Jahre Beziehungen, Cracow, 275–294. Ernst Rutkowski (Ed.) (1983): Briefe und Dokumente zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie. Teil 1. Der Verfassungstreue Grossgrundbesitz 1880–1899, Munich, 79.

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Although Baernreither later denied that he had given any encouragement to Badeni, in his private diary during World War I he admitted that the situation was more complex, and that while he had told Badeni that the conceptions behind the drafts were unacceptable, he also continued to negotiate with Badeni, thus giving rise to “Missverständnisse” that may have led Badeni to assume that the situation was more malleable than it was.22 Later, Ernest von Koerber would insist that Badeni had been badly advised by leading German politicians, and that he in fact deserved more credit for his work than was commonly accorded.23 Badeni himself believed that he had fashioned a clever, and for the Germans, palatable deal that would have served their interests in the long run. He was proud that the Czechs had agreed to buy into his strategy and had essentially abandoned their earlier Staatsrecht formalism. He insisted to the German diplomat Karl von Lichnowsky in May that “I have been accused of having given them so much, but in fact I was amazed that I was able to get them to accept so little in comparison with their earlier demands.” This was the context of Badeni’s strong belief that “one can no longer govern without the Czechs, neither my government nor any other Cabinet that will come after me can do so. This is not my fault; the hard fact is that one has to take into account the 80 seats in parliament that the Czechs now have at their disposal.”24 For Badeni when the Germans insisted on their “rights” in Bohemia they were in fact insisting upon superior prerogatives that “could no longer be sustained in their past form.” In essence for Badeni it was inevitable that both languages would have to enjoy parity and equality across the Crownland, and he felt that he had been generous in creating “as many moderating transitional arrangements as possible” which had even irked and upset the Czechs. Badeni also argued that the presumption that he intended to govern against the Germans was highly implausible. As Count Oswald Thun concluded, the internal splits within the German camp made the Germans’ political position difficult for them to sustain and defend.25

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Baernreither: Tagebücher, 1914–1918, 259. I am grateful to Doris A. Corradini for this transcription of B’s wartime diary. See also Alexander Spitzmüller (1955): … Und hat auch Ursach, es zu lieben, Vienna, 34; Kramář (1906), 19f. The correspondence in Rutkowksi suggests that the liberal Grossgrundbesitz was blindsided by the popular uproar generated by radical pan-Germans and the Viennese liberal press. 23 Josef Redlich (2011): Schicksalsjahre Österreichs. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1869–1936. Fritz Fellner / Doris A. Corradini (Ed.): 3 Volumes, Vienna, Vol. 1, 262, 299. It is worth noting that Koerber’s proposals for resolving the Bohemian conundrum, as presented to the Reichsrat in May 1900 and again in his confidential Staatsstreich memorandum to the Emperor later in the same year, would have had much the same result as Badeni was trying to achieve. Koerber admitted to Franz Joseph that “ein sehr starkes Überwiegen der Beamten tschechischer Nationalität in Böhmen” would be the result. Ernst Rutkowski (Ed.) (1991): Briefe und Dokumente zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, Teil 2, Der Verfassungstreue Grossgrundbesitz 19001904, Munich, 392. 24 Oest. 70, A 6731, 19 May 1897, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PAAA). 25 Rutkowski (1991), 79.

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On April 2, the eve of the issuance of the decrees, when it was clear that none of the German factions were willing to openly support Badeni’s plans, he submitted the resignation of the Cabinet to the Emperor. Franz Joseph refused the offer on April 4, and reconfirmed the Cabinet in office, which led Badeni to push forward, hoping that the Germans would eventually back down and return to the negotiating table. Badeni was in fact throwing a lifeline to the aristocratic and high bürgerlich German factions that would have enabled them to sustain some level of credibility by becoming the lynchpins of a new Honoratioren strategy before they became irrelevant, as happened after 1905. Yet in the absence of Herbst and Plener, these factions lacked coherent leadership that would have allowed them to react in anything but atavistic, self-destructive modes. As Count Alois Aehrenthal observed in early December, the Germans lacked strong, credible leaders who had the standing and the courage to pull their factions together and stand up to the terroristic methods of Schönerer and Wolf.26 Unlike the Czechs, who squabbled extensively but found ways to act as a collectivity, and in contrast to the leadership style of Victor Adler for the Social Democrats and Karl Lueger for the Christian Socials, who tightly controlled their new mass parties, the German Bürgerlichen drifted without coherent direction.

The November Uproar: Adler and Lueger Trump Badeni Over the summer Badeni had tried to persuade the Bohemian Germans to enter negotiations involving a complex package of reforms that they had long wanted in the Bohemian Landtag, but on August 23 the German leaders announced their refusal to join these talks. Various ideas for compromise between the Czechs and Germans were floated in the early autumn, but the Germans remained adamant about the sequencing of negotiations, demanding the prior revocation of the April ordinances and an administrative division of the Crownland, that the Czechs would never accept.27 Indeed, the greatest fear of the Czech leaders in the late summer and early autumn was that the Germans would decide to return to the bargaining table, for Kaizl and Kramář knew that there would have to be concessions from the Czech side. In response, the Czechs hoped that Badeni would seize the opportunity to impose a constitutional Staatsstreich by restructuring parliamentary election procedures by Imperial fiat, which Badeni loathed to do. This left him the default option of trying to govern with a majority of Slavic and clerical votes, and Oswald Thun rightly observed to Prince Alain Rohan in late August that the Emperor would not be willing to sacrifice Badeni to the German minority, simply because it was a minority.28 26 27 28

Aehrenthal to his father, 8 December 1897, in: Franz Adlgasser (Ed.) (2002): Die Aehrenthals. Eine Familie in ihrer Korrespondenz 1872–1911, 2 Volumes, Vienna, Vol. 2, 680. NFP, 23.11.1897 (M), 1f. Thun to Rohan, 29 August 1897, in: Rutkowski (1991), 380f.

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The crisis hit in November when the parliament took up the second reading of legislation for the provisional renewal of the Ausgleich with Hungary. When parliament reopened on September 23, the Germans launched an intensive campaign to delay consideration of the Ausgleich legislation through manifold motions of delay. They managed to stall the second reading of the bill interminably, leading the Right to put forward a draconian change of parliamentary procedure, the Lex Falkenhayn, on November 25. As the deliberations in the Abgeordnetenhaus became more intransigent in the aftermath of Julius Falkenhayn’s intervention, the area between the University and the parliament along the Ringstrasse was beset with demonstrations on Friday and Saturday, November 26 and 27. These demonstrations played a key role in the final outcome, but they have never been closely scrutinized. Who exactly were these protestors and what did they want? Police reports on student unrest in Vienna in early November suggest trouble was brewing long before the crisis at the end of the month. In fact the police were aware of cells of pan-German activity, focused around Karl Hermann Wolf, as early as the first week of November, and began summoning possible ringleaders for interviews.29 As the crisis in parliament escalated on November 25 crowds of rowdy students from the University of Vienna began to assemble near parliament, growing in size and number on November 26 and 27. The crowds on the 26th and 27th were in the range of four to five thousand persons, of whom a large percentage were students and workers. Victor Adler mobilized a series of mass meetings of workers on Sunday morning, November 28, sending about 8,000 workers toward the Ring, where they were joined by about 4,000 students and simply bystanders.30 In spite of the public commotion it seems evident, however, that the city was not in a revolutionary situation—most of the protests were over by 10 pm on each evening-and many in the crowds included passersby, including women and children who were more gawkers than protesters. The 118 individuals arrested on November 26 were largely university students and laborers who were the usual stuff of Viennese journées, but also included 21 opportunists who were arrested for hawking special-edition newspapers!31 Karl Lueger was able to use these crowds to threaten loss of control, but it seems improbable that he believed that the situation was as dire as this. What is more likely is that Lueger was genuinely shocked at the symbolic specter of Adler’s cadres taking control of the Ringstrasse. Adler in turn probably viewed the occupation of the Ring as a sweet revenge against Lueger, given that the Christian Socials had defeated all five of the Social Democratic candidates, including Adler himself, in the 5th Curia elections in Vienna for parliament in March 1897. A curious feature of the events of late November was the part played by the Social Demo29 NÖ Statth Präs., J 93 Zl. 8202, 10 November 1897, Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA). 30 The Arbeiter-Zeitung (AZ) insisted that most of the protestors on the 27th and 28th were its clientele. See 28.11.1897, 4; 29.11.1897, 2f. 31 Zl. 8642, 27 November 1897, NÖ Statth Präs.

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crats and the Christian Socials. Victor Adler’s forces played a crucial role by storming the Präsidium of the Abgeordnentenhaus on the morning of Friday, November 26, displacing the Cabinet ministers and other officials on the front podium and refusing to move, in a symbolic action meant to defend the rights of parliament against the Lex Falkenhayn. Adler insisted that the German bourgeois clubs would have been content with verbal protests against the Lex Falkenhayn, and it was only the Social Democrats that had the courage to confront the regime with productive force.32 Heinrich von Halban was convinced that, in the end, most German bürgerlich politicians did not have the stomach to shut down parliament, and that many would have absented themselves from further proceedings, allowing the right wing coalition to push through second and third readings of the Ausgleich provisorium. If we take this as one plausible assessment of the events of November 25-26 – that, in the aftermath of the Falkenhayn motion on the afternoon of November 25, most German bürgerlich politicians were inclined to walk out, which would have left Badeni’s forces in de facto control of the parliamentary floor – it was only the Socialists’ forcible seizure of the parliamentary rostrum on the late morning of November 26 that forced the government to summon the police into the hall, thus leading to the final implosion. By the end of this session eleven Socialist deputies had been evicted for three days, along with Wolf and Schönerer. Had the Social Democrats not intervened in this crucial moment, it is conceivable that President David Abrahamovicz and Vice President Karel Kramář might have regained control of the House, buying Badeni more time to cobble together a face-saving settlement. The final coup de grace was claimed by Karl Lueger. Lueger ended up using the crisis on November 27 to pose as the savior of the German Volk in a city in which such ethnic stridency was never worth much in terms of generating votes, but which did enable Lueger to assume a role that he had long coveted, namely, general spokesman for a more moderate, German-speaking political avant-garde that was both anti-Liberal as well as pro-Dynasty. The rise of the Christian Socials in Vienna, conquering the Rathaus in 1895 and the Lower Austrian Landtag in 1896, shifted the balance of forces within the vestigial survivors of Austrian Liberalism, giving all the more prominence to the conflict-ridden domain of Bohemia. Until Friday, November 26, Lueger’s forces had sat on the sidelines in parliament, watching the other Germans squirm and fuss, with Lueger refusing to commit his forces openly to the German attack on Badeni. Earlier in the month, on November 4, Lueger had signaled his de facto sympathy for the government’s efforts to allow the House to vote on a first reading of the

32 See AZ, 26.11.1897, 1. At the Party Congress in Linz in 1898 Adler took pains to justify the Social Democrats’ actions, which he admitted were “unerhört” in terms of party tactics and could be seen as a kind of Radaupolitik, arguing that this gross act of illegality was necessary to defend the rights of legal parliamentary activity in the face of useless and weak protests of the German Bürgerlichen. Victor Adler (1922–1929): Aufsätze, Reden und Briefe, 11 Hefte, Vienna, Heft 8, 179, 185f.

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Ausgleich legislation, by denouncing Schönerer’s and Wolf ’s tactics and thus earning applause from the Right.33 Later in the month Ernst Vergani in the Deutsches Volksblatt signaled that the German Bohemians had presumed too much and ignored their brethren in Vienna, and in this case Lueger’s views were certainly those of his sometime journalistic helpmate.34 But in the aftermath of the Socialist fronde on November 26, Hermann Biehlolawek and Ernst Schneider joined the debate, deploying anti-Semitic remarks against Heinrich von Halban, and Richard Weiskirchner resigned his post as a parliamentary secretary.35 Neither would have happened without Lueger’s order, signaling that the Mayor had decided to leave the sidelines and join the German obstruction. His own press portrayed him as taking command of the German forces in the final denouement against Badeni and personally forcing the closing of parliament by confronting Badeni in a private interview on the afternoon of the 27th in which he warned Badeni that he could no longer be responsible for public order in the city.36 In fact Lueger had no authority to make such a statement. Nor did he have control over police or gendarmerie in the city, and Badeni certainly knew that. A day later Lueger then seized the moment by announcing Badeni’s resignation to a large crowd in front of parliament late in the afternoon on Sunday, November 28, again without any official authorization to do so. But these transactions assumed a life of their own, with the new popular Mayor calling the now humiliated Minster President to account and heroically keeping the peace and showing the new visibility of the Christian Socials as owners of Vienna. Both of these incidents involving Adler and Lueger seemed to be relatively minor features of the greater drama, but they were highly symbolic nonetheless, for they revealed that the results of Badeni’s own franchise reforms of 1896 had set in motion massive new social forces that would fundamentally reshape the contours of public politics in the Monarchy over the next two decades. That this devolution took place at exactly the same time that one also saw the emergence of a powerful new kind of Alpine Catholic politics, leading to the Christian Social Reichspartei of 1907, was a fateful overlapping of revolutionary change. Politics in Cisleithania would never be the same again, and when the continuing nationalist freeze-up in Bohemia helped break open the system in 1905, the new universal suffrage law empowered the two mass political parties based in Vienna, whose Viennese identity profoundly shaped their views of the nationalist question.

33 NFP, 5.11.1897 (A), 1. 34 “Verlangen denn nicht oft die Deutschböhmen, dass die böhmische Frage einzig und allein Alles beschäftige, und suchten sie nicht bei jeder Lösung irgend welcher deutschen Angelegenheit diese stets nur vom deutschböhmischen Standpunkte zu beurtheilen?” Deutsches Volksblatt, 28.11.1897, 2. 35 Stenographische Protokolle, 1897, XIII. Session, 1827–28. 36 “Die Lage unhaltbar,” and “Christlichsoziales Eingreifen,” Reichpost, 28. 11. 1897, 2–7; NFP, 27. 11. 1897 (A), 2.

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Conclusion Deeply frightened by crowd protests in the capital city, Franz Joseph returned to Vienna on Saturday evening, November 27, and, in a confidential meeting with Count Agenor Goluchowski, he decided that Badeni had to go.37 Up to the last moment on November 27, in spite of his offer of resignation, Badeni may have believed that he would be able to ride the storm out and maintain control.38 But deeply frustrated at Badeni for what the Emperor (unfairly) assumed to be the political mess in which he now found himself, the next day, Sunday, Franz Joseph accepted Badeni’s resignation and that of his Cabinet.39 Badeni was thrown to the panGerman wolves with the government having gained nothing in return, other than peace in the streets around the parliament building.40 The Badeni Crisis had paradoxical effects: given that it was part two of a drama that had begun with the unhappy 1890 Ausgleich negotiations, it made the rest of the Monarchy painfully aware of the intractable nature of the Bohemian civil war. The German noble leader Oswald Thun argued in September 1896 that no one in Vienna understood what was happening in Bohemia, but after Badeni’s machinations this was not a plausible argument.41 In fact, Badeni’s intervention made that civil war one end of a central axis around which the last two decades of the Monarchy’s politics would turn, the other being the rise of the metropolitan area of Vienna as the home of mass, post-bourgeois social and cultural conflict. The crisis infused the German parties of the north with a sense of their own power of resistance, but also dramatized their isolation. No longer did the now ex-Liberals even pretend to be parties with a universalist mission. But such universalism and with it, a stronger sense of the coherence of the Monarchy as a whole, was not lost, it simply shifted to Vienna. As the editors of Vaterland shrewdly observed in late November 1897, the crisis would empower newer and more radical parties with social agendas that had little to do with the ethnic conundrums of Bohemia, namely the Social Democrats and the Christian Socials in Vienna.42 The November events also led to doubts about the Emperor’s capacity to deal with com37

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Martha Schad / Horst Schad (Ed.) (2004): Marie Valerie. Das Tagebuch der Lieblingstochter von Kaiserin Elisabeth von Österreich, 3rd Edition, Munich, 298. Eulenburg reported to Berlin in a confidential telegram mid-day, November 28, that he had just spoken with Goluchowski, who reported that “the decision will be taken this evening. By this he means the decision to dismiss Count Badeni.” Oest. 70, A 13897, 28 November 1897, PAAA. See Friedjung (1997), Vol. 1, 399-400; Josef Penížek (1906): Aus bewegten Zeiten, 1895 bis 1906. Lose Blätter, Vienna, 75f, who reports on a personal conversation with Badeni a few days after Badeni left office. Eulenburg characterized Badeni’s resignation an “abgezwungene Entlassung,” which is what it was. See Oest. 70, A 14063, 1 December 1897, PAAA. Kielmansegg reported on a conversation that he had with Franz Joseph immediately after Badeni’s dismissal, in which the Emperor’s hostility was openly evident; Kielmansegg (1967), 67. Kramář (1906), 30. Rutkowski (1991), 72. Vaterland, 28.11.1897, 1; Prager Tagblatt, 28.11.1897, 3.

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plex crises in a political system that was rapidly changing in fundamental structural terms. Franz Joseph monitored the situation and understood its intricacies, but exerted little policy guidance, other than wishing to Philipp Eulenburg that the government could control elections in Austria the way it controlled them in Hungary.43 Franz Joseph was particularly disturbed that the moderate German factions behaved so timidly toward the radical nationalists led by Schönerer, who were impossible to reason with. Oswald Thun with some bitterness complained in December 1897 that no one had any clear idea of what Franz Joseph wanted to accomplish, and whether he had even stood behind Badeni in his ministerial interventions to begin with. It was no longer sufficient to define patriotism as simply that lack of scandal. Thun was sure that, given the prestige of the Emperor, a public stance in favor of some kind of reform would have a powerful impact, but lacking such a public statement, the Monarchy was fated to drift in circles in a kind of no man’s land of political unrest. Allowing the government to be ruled by what Thun cynically characterized as a “rosary of the Sectionchefs” would lead simply from “one station of the cross to another.”44 Yet this in itself was neither surprising nor novel, since such behavior had marked the Court for decades. What was new in the aftermath of Badeni was the Emperor was now forced to confront a more deeply polarized and far less predictable political-electoral system, and in such circumstances, after toying with the short-term interregnums of the colorless Gautsch and the hapless Franz Thun, he came to accept the need for strong Minister Presidents with complex political skills who had more, not less discretion over the conduct of domestic policy. Koerber, Beck, Bienerth, and Stürgkh were leaders who clearly depended on Franz Joseph’s good will and sufferance, but who also dared to formulate policy options and strategies independent of the Emperor’s prejudices. Badeni operated under the assumption of a formally neutral central administrative state that would reinforce cohesion and belongingness to the shared, or at least commonly occupied civic world of the late Empire. In this sense he would have agreed with Hans von Voltelini that the administrative-legal state was the only common link among the Austrian nations.45 But he was also open to the idea that the (then) big middle class parties might be coopted into a grand bargain, thus preserving for each a reasonable share of a new status quo. He tried the option of enlisting both of the major political blocs in Bohemia in this process, but the Germans manifestly refused to play this political game. And this made the Badeni Affair a curiously positive turn of events in the longer durée of Habsburg history. Traditionally, the crisis has been seen as a nadir, from which the Austrian state could barely recover. Yet, by accelerat43 Oest. 70, A 13358, 13 November 1897, PAAA. 44 Rutkowski (1991), 417. 45 Hans von Voltelini (1901): Die österreichische Reichsgeschichte, ihre Aufgaben und Ziele, in: Deutsche Geschichtsblätter. Monatsschrift zur Förderung der landesgeschichtlichen Forschung Vol. 2 (1901), 107.

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ing the political marginalization of Austrian Liberalism and by forcing the German nationalists in Bohemia to behave as what they had really become—a self-interested regional party whose fractured internal politics made their universal claims less and less plausible—the crisis helped to reshape the forms of constructive possibility followed in the years ahead. As Eulenburg put it to Berlin, “the last vestige of the good, old, quite aged and tame German-Austrian [liberal] party with its loyal attitudes and harmless leaders now belongs to the dead.”46 No longer would the Bohemian Question be allowed to dominate all of the political space of the Empire, as a simply default proposition. Ironically, the more intense that Question became in situ, the less capacity it had to overwhelm all of the rest of Imperial politics. Between 1895 and 1914 it was with increasing difficulty that one could identify party-political “Austrians,” as opposed to Germans, Czechs, Poles, etc., working in the various domains of political activism. Certainly, these ethnic groups did populate the systems of regional and national representation before 1895, but thereafter the Austrian political world was appropriated and re-invented by their clashing interests. The process of ethnic category-construction that began in the late 1860s now came forward full force. But not everyone after 1895 was willing to submerge more complex civic identities into crude nationalist impulses, for there were also powerful forces at work that sought to define politics and social action along different kinds of conceptual axes. As Gary Cohen has argued, “the evolving social and political conflicts that initially engender ethnic solidarity in developing or advanced societies may later produce new differences that divide people who otherwise share distinguishing cultural traits.”47 Yet even among those groups who sought to present and enlarge other kinds of images, invoking regional or localist identities and/or non-ethnic criteria for political loyalty and association, ethnic problems still popped up with annoying regularity. At the same time the careful balance between modulated elite conflict and policy responsiveness that defined the state system between 1861 and 1893 gradually gave way to powerful populist democratic pressures. These created independent and unpredictable variables, as the new social and cultural conflicts heating up in Vienna collided with increasingly tense nationalist politics in the northern regions. The careful balance between elite accountability and systemic legitimacy that functioned well in the 1870s and 1880s was now subjected to high tension stresses that challenged the capacity of the Cabinet to maneuver within conventional boundaries and eventually generated radical policy options. Moreover, life lived beyond the formal political realm was increasingly dynamic and filled with rapid technological and cultural change. The aftermath of Badeni’s revolution was an increasingly volatile system of moving pieces, which chafed under an administrative apparatus with illusory stability, and 46 Oest. 70, A 13960, 29 November 1897, PAAA. 47 Gary B. Cohen (2006): The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague, 1861-1914, 2nd.Ed., West Lafayette, Indiana, 209.

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overlaying both, a Court that, while increasingly defining itself by dynastic memory work, was ever more preoccupied with tensions between the elderly Monarch and his self-assertive Thronfolger. The system was neither bound to fail nor to succeed in the new twentieth century; rather, it had the potential to do both at one and the same time.

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Theodor Herzl between Zionism – and Austrian politics? Herzl’s Zionist diaries as a resource for Austrian history

Theodor Herzl is famous for one reason: his creation of the Zionist movement. The narrative of what caused Herzl to initiate political Zionism is well known. As an assimilated Jew from Hungary, Herzl concluded from his experience of antisemitism in his adoptive Vienna and of the crisis in France unleashed by the Dreyfus Trial that full assimilation of Jews was neither a solution to the problem of antisemitism nor indeed possible—because Jews “sind ein Volk, Ein Volk”.1 As such the only proper solution of the “Jewish Question” was for Jews to emigrate to their own Judenstaat, where they could finally exercise their rights once again as an independent nation that had been denied them for many centuries. The success of Herzl’s self-chosen mission to realize this national home can be gauged by the fact that on his trip to the Holy Land Pope Francis visited the site of Herzl’s grave on what is now called Mount Herzl, in the land of Israel. Few individuals in Vienna 1900 have had, arguably, such a large impact on world affairs as Herzl has. A major document in the history of Zionism is Herzl’s Zionist diary. Started at the dawn of Herzl’s conversion-experience in Paris in 1895 (at Whitsun), the diary extends over Herzl’s entire Zionist career. Initially it shows some of his more outlandish and/or inspired ideas about what he wanted his new movement and the state he wanted created for the Jews to be like, but soon it settles down to be a blow-by-blow account of how Herzl tried and at first apparently failed to realize his goals. Herzl died a broken man, with hardly anything but a ramshackle movement achieved, and no real prospect of a land for the Jewish people, and this adds a great poignancy to the diary, especially as we now know that the movement Herzl started, or at least catalyzed, ended up being a remarkable success. The diary is a rich resource for the history of Zionism, but it is also to be recommended as a source for other subjects, especially Austrian history, both cultural and political. This is because Herzl was not only the “father of Israel”, but was also a prominent figure for contemporaries in Vienna at the turn of the century regardless of his Zionism. Herzl was the star journalist of the Neue Freie Presse due to his feuilletons and his reporting as Paris correspondent, and just as he was beginning his Zionist mission he was made feuilleton editor of the newspaper, one of the most prestigious and powerful positions in Viennese literary circles. As one of the best known journalists in Vienna, he 1

Theodor Herzl (1896): Der Judenstaat, Leipzig/Wien, 11.

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became the target of a number of attempts by various parties antagonized by the Neue Freie Presse’s political stance to lure him away from the clutches of the newspaper, and with his new mission to create a Jewish state, and get international backing for this, Herzl was open at least to considering such offers. This resulted in connections with the main actors of Austrian high politics, including the Austrian premiers Count Casimir Badeni and Ernest Koerber. Herzl had fairly extensive discussions with both, and in Koerber’s case there was active collaboration. This might surprise those who only see Herzl from the Jewish and Zionist perspective, and it also opens up interesting sidelights on Austrian political history around 1900. Herzl’s attitude to Austrian politics, and Austria generally, was not particularly positive. Growing up in Hungarian Budapest, Herzl only came to Vienna as a university student with an ambivalent Hungarian-German national identity. This ambivalence, and the way the emphasis changed in his student years is shown by the fact that on his Nationale he initially claimed German as his “mother tongue”, then, for a period, Magyar, and then, from the summer semester of 1881, German again. It was around this time that Herzl joined the Burschenschaft “Albia”, which had a German Nationalist and anti-“Austrian” tendency. For at least a couple of years Herzl was prepared to belong to this organization that was implicitly hostile to Habsburg Austria, and in this he was typical of many young Jews of his generation. It is unclear just how German-nationalist Herzl was, and after his resignation-cum-rejection from “Albia” in 1883 over Hermann Bahr’s antisemitic (and drunken) tirade at the Wagner wake, Herzl probably reverted to the usual German-liberal combination of cultural chauvinism for all things German and political pragmatism concerning the need to support the Austro-Hungarian Dual Monarchy. 2 On the other hand the radical sentiments of his student youth do appear to have lingered. It is remarkable that his initial semi-public political response to the threat of antisemitism as a political movement mirrored that of so many of his formerly German-nationalist contemporaries, such as Victor Adler. In a letter to Baron Friedrich Leitenberger in January 1893 Herzl suggested that the baron’s worthy efforts for the cause of combatting antisemitism in a polite, liberal association (the Verein zur Abwehr des Antisemitismus) were for nought because entirely misplaced. Quoting himself in a previous letter, Herzl wrote: “‘Auf eine Bewegung antwortet man, wenn man sie nicht unterddrücken kann, mit einer anderen Bewegung.’ Auf den Antisemitismus mit dem Anti-Antisemitismus? Nein, liebster, verehrtester Herr Baron! Die Antwort ist der Socialismus.” 3

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Steven Beller (2004): Herzl, London, 4–6. Theodor Herzl (1983a): Briefe und Tagebücher, Vol. 1, Berlin, 512.

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Herzl around this time also had other ideas about countering antisemitism, which involved Jews fighting duels, mass conversion to Catholicism and indeed complete assimilation. One might say in some respects he was floundering around for a solution to the problem of antisemitism as well as what he saw as the real problems with the ways in which Jews had integrated (or not) into Western and Central European society. It took him some time to come to the revelation (for him) that the best way for Jews to neutralize antisemitism and also really to “become human beings” [“Menschen werden”] was to leave Europe and set up their own state.4 That is a well-known story that is not of central concern here. What is more relevant is that when he contemplated with whom to plead for support for his Zionist campaign, Franz Joseph and the Austro-Hungarian authorities were initially well down on the list, if they were there at all. In the early summer of 1895, when Herzl had his Zionist revelation and began feverishly developing his plans, he envisaged the main colonial sponsors for his Judenstaat being England or the German emperor, William II. After the rejection of his plans by Baron Maurice de Hirsch, Herzl told Hirsch’s secretary, Martin Fürth, in late June that “ein Mann würde meinen Plan…verstehen”—William II.5 Herzl was aware that it might seem strange that a Viennese journalist not appeal to the Austrian emperor first. In a draft letter to Albert Rothschild a couple of days later, he claimed that his plan of appealing first to William II was not meant as a snub to Franz Joseph, but was rather intended to deal with antisemitism at its source: Germany.6 Yet this is difficult to accept fully, as Herzl’s motivation for his Zionism was so clearly conditioned by his direct experience of antisemitism not in Germany, but rather Paris—and Vienna. The antisemitic Christian Social Party’s earthquake-like victory in the municipal election in April 1895, which Herzl witnessed first hand, was almost certainly the catalyst for his subsequent Zionist inspiration.7 Instead it appears most likely that he just did not think Austria-Hungary powerful enough of a sponsor to enable his colonial project, nor indeed that the Austrian emperor, by now into his sixties, had the dynamism or vision to “understand” his idea that Herzl accredited to William II. If there was a power in Central Europe that Herzl thought could truly help his cause it was initially not the Habsburg authorities or dynasty so much as the Rothschild family, which he tried to contact through Vienna’s Chief Rabbi, Moritz Güdemann, and to whom he addressed the first draft of his pamphlet, in the form of a “Speech to the Rothschilds”.8 Herzl also wrote a letter to Otto von Bismarck, asking for his hero’s support.9 There was no reply. The main target of Herzl’s efforts in the summer and autumn of 1895 to gain influence for his new cause 4 5 6 7 8 9

Theodor Herzl (1983b): Briefe und Tagebücher, Vol. 2, Berlin, 764. Herzl (1983b), 202. Herzl (1983b), 205. Beller (2004), 32. Herzl (1983b), 152–201. Herzl (1983b), 142–146.

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was nearer to home: the editorial leadership at his own newspaper, the Neue Freie Presse: Eduard Bacher and Moritz Benedikt. Herzl soon realized Bacher would be dead set against his idea, after a conversation in early September, but he kept hoping that he could convince his bosses of his plan—especially given the crisis caused by the renewed, even greater success of the Christian Socials in the elections of late September 1895. When on 20 October 1895 Herzl had a long conversation with Benedikt about his solution to the Jewish Question, and Benedikt seemed to have a positive response, Herzl thought this walk to Mauer “historic” and a real breakthrough. It was at this point that Herzl thought he would become the “Parnell of the Jews”, so powerful did he think the potential support of his newspaper could be for his cause.10 By then, however, Herzl was also looking for other options, in case the resistance of the ultra-assimilationist Bacher and only slightly less so Benedikt could not be broken. In the entry for 15 October he had written: “Ein Blatt brauche ich unbedingt für die Sache.”11 Consequently, he had met with Isidor Singer about setting up a daily newspaper, but the radical Singer had appeared too far from the position of Herzl, who was not interested in antagonizing the Habsburg authorities but rather championing his solution to the Jewish Problem. Meanwhile, Herzl was also in contact, more or less covertly, with those very authorities. It is perhaps ironic that the first major contact between Herzl and the Austrian government was initiated not by Herzl but by emissaries from the government itself. Already by 20 September Herzl had been visited by Dr. Glogau, “chief administrator of Die Presse”, to ask him if he would be interested in becoming the chief editor of a new newspaper (based on the old Presse).12 While he was trying to persuade his bosses at his paper, and testing the waters with Singer, Herzl was also negotiating with Glogau, and indirectly with Stanislaw Kozmian, a confidant of the Austrian prime minister, Count Casimir Badeni. Badeni had arranged for the informal governmental acquisition of the old Presse to serve as the basis for a new pro-government newspaper, and Herzl, star-journalist of the moment, had been suggested as the chief editor. Herzl reported on 27 October the formal offer from Badeni, via Glogau and Kozmian.13 It appears that the offer was made by the government without any knowledge of Herzl’s new, Zionist cause; rather it was Herzl’s need to further that cause which persuaded him to take the offer seriously, as a way of getting close to the seat of power in at least one major European state. Even then, his initial response was to ask for a 24 hour delay in responding, while he went to Bacher and Bendedikt to try, in effect, to blackmail them into acceding to some sort of support or recognition from them for his solution to the Jewish Question. In the next few days Herzl oscillated between thinking he could get his way at the paper and 10 11 12 13

Herzl (1983b), 256. Herzl (1983b), 253. Herzl (1983b), 252. Herzl (1983b), 257.

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betting that running the new newspaper could strongly connect him to Badeni, potentially “dem Mann, durch den ich den Juden helfen [wollte]”.14 On 27 October Benedikt claimed he personally was sympathetic but could not see the Neue Freie Presse so radically changing its standpoint. On 28 October Bacher let Herzl read to him “The Speech to the Rothschilds”. He also declared himself moved by Herzl’s argument, but doubted the feasibility of the scheme. Even so, Bacher suggested that some way could be found for their supporting publication of Herzl’s idea. There was a formal interview with Badeni—in French—on 30 October, where things seemed to be settled for Herzl joining the new paper. Yet Herzl was still ambivalent, and when on 1 November Herzl met with prospective colleagues to discuss the new paper, he got cold feet: “es wurde mir immer klarer im Gefühle, dass das nicht meine Leute seien, und dass ich nicht mit ihnen gehen könne.”15 Therefore, on 3 November Herzl formally declined Badeni’s offer. As a parting shot, Herzl contradicted Badeni’s inclination not to confirm Karl Lueger saying that if he did not confirm Lueger now, he could never do so, and that when Lueger was not confirmed a third time, “werden die Dragoner reiten”—to which a smiling Badeni responded: “‘Noh!’ Mit einem goguenarden [ironic]Ausdruck”—but Herzl thought he would not be admitted to an interview with Badeni again any time soon after this rejection.16 Almost immediately after choosing the Neue Freie Presse over the Austrian government, Herzl began to regret his decision. By 5 November it was clear that Bacher and Benedikt were backing away from their half-promises about supporting some publicity for Herzl’s Jewish ideas (notoriously, they were to make sure that Zionism was not mentioned in the newspaper until after Herzl’s death), and Herzl wondered whether he had made the wrong choice: “und gerade bei Badeni eher die Autorität gegenüber den Juden hätte erlangen können.”17 In fact not all contact with Badeni was lost. On 19 February Herzl sent a copy of his new pamphlet, Der Judenstaat, to Badeni—the first time in all their contacts that he had revealed his Zionist cause—and he was careful to point out that: “Was ich vorschlage, ist thatsächlich nur die Regulirung der Judenfrage, keineswegs die Auswanderung aller Juden.”18 There was no immediate response, but a few months later, in September, Badeni’s government again approached Herzl about setting up a newspaper. In the first round neither Herzl nor Badeni had wanted to offend or antagonize the Neue Freie Presse, because it was such an influential shaper of German-Liberal opinion. Almost a year later, Herzl was frustrated not only with the Neue Freie Presse but with the whole Viennese press who, in his opinion, had put an embargo on any mention of Zionism. He had even

14 15 16 17 18

Herzl (1983b), 261f. Herzl (1983b), 265. Herzl (1983b), 266f. Herzl (1983b), 268. Herzl (1983b), 303f.

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tried to break the embargo by buying shares in Steyrermühl through Carl Colbert, but to no effect.19 Meanwhile, Badeni’s compromise with Lueger over the Viennese mayoralty had incurred the wrath of the Neue Freie Presse who had become “unangenehm” to the government. Glogau had told Herzl in late September that Badeni, in response, wanted to set up a direct competitor to the Neue Freie Presse, to pressure it. Herzl was not impressed with the idea behind the new paper: “Das Blatt soll liberal-conservativ-antisemitisch, kurz ein Unding sein,” but use exactly the same typography as the Neue Freie Presse—which was also that of the original Presse. Herzl thought this idea stupid and told his confidant and advisor, Philipp de Newlinski, so. Given the way Bacher and Benedikt had so shabbily treated him the year before over the Presse incident, however, reneging on all their promises to help him broadcast his plans, and the Totschweigen of Zionism in the liberal press generally, Herzl told Newlinski, who was an acquaintance of Kozmian, that he would be interested in taking revenge by setting up “ein grosses Blatt”. Newlinski went straight to his fellow Pole, Kozmian, who informed Badeni, who responded positively. The next thing, Kozmian approached Herzl in the Burgtheater, suggesting he speak with Badeni, also in the theatre that evening. Herzl demurred, thinking this premature, but next day he and Kozmian did meet in Kozmian’s room in the Hotel Imperial, with Newlinski present, to negotiate over Herzl’s new paper.20 It appears from Herzl’s report of the meeting that the government was quite prepared to subsidize his paper. Through Kozmian, Herzl reported, “Badeni liess mich fragen, was ich ‘für meine Unterstützung’ wünsche.” And Kozmian was astounded when Herzl said he wanted no money, because he wanted to retain his independence. All he wanted from the government was for them to be helpful with “his idea” (Zionism), then in return his paper would not be “unangenehm” to the government. “Das ist wenig”, replied Kozmian. Herzl, in summing up his demands, now put it in language that would realize a major goal of his cause: “‘Also angenehm!’ erklärte ich, ‘aber Graf Badeni muss den Zionismus unterstützen.’” Herzl was actually pushing against an open door. “Kozmian glaubte das versprechen zu können. Badeni werde die jüdische Kolonisation fördern”, and Herzl saw this as the sudden arrival of the moment he had prophesied in his letter to Badeni back in February when he sent him the copy of Judenstaat, when the Austrian government would support Zionism. Yet it is Herzl’s parenthetical remark to his own apparent achievement that is most striking: “… (parbleu! auch Luegers Wunsch) …” Herzl was now in the position where a Galician Polish count and the leader of Vienna’s antisemtic party would be his major supporters.21

19 Herzl (1983b), 434. 20 Herzl (1983b), 445. 21 Herzl (1983b), 446.

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Perhaps it is just as well that this plan fell through too. Herzl’s idea had been to get a large loan from sympathetic Jewish financiers, primarily Adolf Dessauer, but in early October Dessauer reneged on his promise of a loan of a million Gulden, and Herzl was unable to come up with the money any other way. Newlinski was particularly angry that Herzl would not simply demand money for his project from “Montagu, E. Rothschild usw.” But Herzl would not stoop to this, fearing it might appear that money had been given to him.22 Meanwhile, Badeni and Kozmian were still interested in Herzl’s paper, because, as Kozmian explained— in French—in a meeting in late October, Badeni was going to hold elections either early next year or in the coming months (depending on passage of a budget) and “il a besoin tout de suite d’un grand journal indépendant qui ne lui fasse pas la guerre, et qui le traite avec objectivité”. Kozmian had thus come to see what Herzl wanted to get the paper started. Herzl had refused money, but did he want something else? “‘Voulez-vous une fonction, un titre, une distinction?’” They discussed a decoration, but the one thing Herzl really wanted was not quite on offer: “un mot de l’empereur” in support of the Jews. Herzl envisaged the emperor conferring a decoration on him and then also saying something in support of the Jews, which could then be published. This was going too far for Kozmian: “‘On ne peut pas faire entrer l’empereur à tout propos dans le débat.’” He added, however, “‘L’empereur n’a rien contre les juifs, seulement n’aime pas les agioteurs. Badeni est également plutôt philosémite.’”23 So Kozmian said he would talk again with Badeni to see whether something could be done regarding Herzl’s request for overt words of support from the emperor or the government, and Herzl said he would talk with others about financing for the paper—but in the end Herzl was unable to come up with the money, and the government remained silent about Zionism. For a few years contacts between Herzl and the Austrian government remained dormant. In 1897, Herzl was able to launch a Zionist newspaper, if only a weekly, Die Welt. Ironically, the Sunday edition of the Neue Freie Presse carried an advertisement for the first issue, stuck back on page 21 but a full half-page. The advertisement displayed a large Star of David with a small map of the Levant in the middle of it, and Jerusalem specifically named, but there was no mention of the word Zionism.24 In late May 1899 Herzl had a conversation with Vienna’s Police President Habrda in which Herzl gave his unsolicited advice about how to solve the dual political crisis involving the parliamentary obstruction due to the conflict over the Austrian language laws and the conflict between Austria and Hungary over the Ausgleich renegotiations. His suggestion was characteristically “Austrian”: the main problem was the battle over the language ordinances, and the emperor should summon the German and Czech representatives to discuss the issue in a conference, and then let the conflict run into the sand. Mean22 Herzl (1983b), 448f. 23 Herzl (1983b), 460. 24 Neue Freie Presse, 6.6.1897, 21.

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while the Ausgleich negotiations could go ahead. The language question should be treated as an internal Austrian matter, “die man durch Verhandlungen in die Länge ziehen u. einschlafen lassen kann”.25 There was not much response from Habrda and Herzl devoted himself to his Zionism. In February 1900, however, contacts were taken up again, because of the Austrian authorities’ intervention against the subscription campaign for the Zionist bank. Oskar Marmorek was sent to protest to Count Erich Kielmansegg, who assured Marmorek that there was nothing political, only fiscal questions involved: “Er kenne den Zionismus und mich, halte unsere Bewegung für eine humanitäre ; und auch die kaiserliche Regierung habe gegen uns nichts einzuwenden, soviel er wisse.”26 Nevertheless, Herzl wanted to make sure things had been straightened out, so he requested and was granted an interview with the relatively new prime minister, Ernest Koerber, on this banking matter. The two immediately hit it off. In a series of meetings in the spring of 1900 the conversation soon moved on from the Zionist bank problem to Koerber assuring Herzl that, despite the acceptance of the Christian Social franchise reform in Vienna, he was “wahrlich kein Antisemit”.27 In late March, in an effort to blunt criticism from the Neue Freie Presse, Koerber gave Herzl a draft of a communiqué on the franchise reform question, which Herzl read and edited in a sideroom in Koerber’s office, while Koerber was holding other audiences. Back in the Neue Freie Presse’s office Herzl, as requested by Koerber, asked Benedikt to go easy on Koerber, and he did. The reward for Herzl was an hour long conversation the next day, where, among other topics, Koerber expounded on his relationship with the emperor. As an erstwhile playwright, Herzl was clearly taken with Koerber’s “characteristic” Viennese accent, because—unusually for the diary – he reported Koerber’s conversation as it sounded: “‘Der Kaiser traut sich nit, mit mir so zu reden, wie mit’n Badeni oder Thun, weil er si’denkt, ich leg ihm’s Amt nieder. Die früheren Ministerpräsidenten haben auch immer glei’ g’vipert (gefiebert in Wiener Mundart), wann’s amal vier Tag net zur Audienz g’rufen worden sind. Da haben’s glei’ glaubt: in Ungnade. I dräng’ mi net dazua. I mach’ mei’ Sach’ und er weiss, dass i’s mach’. Er schickt ‘n Schiessl zu mir fragen, ob i Zeit hab’….I rath’ ihm auch manchmal was ab, was er thun will. Aber so dass er net merkt, warum.‘“ Koerber described how he had persuaded the emperor to postpone inviting Reichsrat deputies at Court dinners because it would cause more trouble than it was worth, especially “‘dass der Kaiser mit’n Alter anfangt gesprächig zu werd’n. Er sagt denen Abgeordnteten oder Delegirten was ihm grad einfallt. Nachher ist die Verlegenheit fertig.’” 28 In a conversation in mid-April, Koerber was ruminating on the state of Austria: “ 25 26 27 28

Theodor Herzl (1985): Briefe und Tagebücher, Vol. 3, Berlin, 28f. Herzl (1985), 83. Herzl (1985), 91. Herzl (1985), 100.

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‘Seg’ns’ fuhr er fort, ‘bei uns geht All’s a so. Es fehlt der Ernst. Alles ist marastisch. Mr überlegt si nix früher. (….) ‘Der Ernst fehlt halt bei uns in All’n. In der Bevölkerung grad aso wie bei den Behörden.’”29 It was not just Koerber’s accent which amused and attracted Herzl, however. He clearly saw an opportunity to offer Koerber helpful advice and in return get support for his cause. When Koerber mentioned that he feared a bloodbath in Galicia in the forthcoming elections, Herzl offered to help him get Jewish support there. He even suggested a whole strategy to overcome the crisis over the language problem. Once a new language law was published, the government should hold elections, and appeal to the electorate over the heads of the “Berufspolitiker”. Divisive politics should be countered by an economy-focussed strategy: “ ‘Ein Gegenwarts- und Wohlfahrtsprogram ist nöthig. Es müsste populär sein, zur Einbildungskraft sprechen. Neue inhaltsvolle Schlagworte müssten statt der abgenützten der Sprachpolitiker ausgegeben werden.’” A new “Wirtschaftspartei” should be set up by the provincial Statthalters, in which “neue Männer” from the professional and industrial classes, outside the political establishments, could be brought together and form a new force in Austrian politics. “Kurz: praktische Versöhnung im Verkehr”. Herzl thought Koerber “gepackt” by his description of this new economic strategy, and saw himself helping Austria, and the Jews: “Ich will im Wege einer Beruhigung Oestreichs, an der ich ohne Ehrgeiz oder Vortheilsucht insgeheim mitwirke, das Los der Juden bessern, die Judenfrage lösen. Versteht mich Koerber?” He saw himself as Koerber’s Scheherazade.30 In early May the relationship developed further. Koerber asked Herzl to write a draft speech for the language law he intended to introduce, and gave Herzl a draft of the language bill to help him. In the draft that Herzl wrote, he accepted the right of every subject to be able to communicate with the government in their own language, but he stressed the economic damage that the language conflict had caused, just at the time when technological breakthroughs had brought huge economic gains to the surrounding lands and peoples.31 Koerber only took on a few words from Herzl’s draft, fearing antagonizing the Czechs, but then gave his draft of the speech to Herzl to edit, who noted with approval the key idea of “Bohemian investments” as an incentive to reconciliation. In the end Koerber gave a quite different speech, and the Czechs still went into obstruction. Herzl persisted with his advice to Koerber, sending him a letter pushing the idea of a “Staatspartei…eine Art Centrum”.32 On 23 May Herzl met again with Koerber and laid out his idea of a “Staatspartei” created through the provincial Statthalters, and pleaded for the intervention of the emperor himself in this existential impe29 30 31 32

Herzl (1985), 102. Herzl (1985), 102ff. Herzl (1985), 119f. Herzl (1985), 124f.

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rial crisis. Koerber gave an interesting response: “Er zuckte die Achseln: ‘Der Kaiser ist alt. Ich hab’s ihm wie oft g’sagt. Majestät Sie wollen nach aussen eine energische Politik, wenn man aber gegen irgendeine Partei oder Richtung schärfer auftritt sind Sie dagegen. Wenn man die heikelsten Fragen im Parliament vorbringen muss, ist das nicht durchführbar, dass man beim Geschrei gleich nachgibt. Jetzt kommen noch die kaiserlichen Familiensachen dazu. I weiss oft net, wo mir der Kopf steht.’” Undeterred by this excuse, Herzl persisted with his program, pointing out the strength of the government’s position compared to the political parties: “Die Regierung kann geben, was die Parteien unterwegs nur versprechen. Eisenbahnen, etc. Für einen Franzjosefsorden oder einen ‘Kaiserlichen Rath’ kann man sich in den Wahlen viel einkaufen.’ (Er [Koerber] nickte Ja.)”33 Koerber asked Herzl to draw up a questionnaire for the Statthalters on the potential for a “Staatspartei”, which Herzl did, and then Herzl added his own “political” advice for the potential election campaign. He suggested spreading a rumour that a general would be appointed head of the executive if obstruction continued (which is indeed what happened in Hungary some years later). Herzl justified this underhanded tactic thus: “Für die primitive Einbildungskräfte der Wähler sowohl wie für die Declamationen der Agitatoren ist in den Wahlen ein vorgespiegelter Feind fast ebenso verwendbar wie ein wirklicher. Die Berufspolitiker, die davon leben, dass sie Oesterreich zu grunde richten, verdanken dieser Methode ihre besten Erfolge. Die Agitatoren des Centrums könnten bei den Beschränkteren mit dem drohenden ‘General’, u. bei den Vernünftigen mit der wirklichen Gefahr: der Obstruction, operiren. In den Wahlen ist es wichtiger, dass man gegen etwas oder Jemanden, als für etwas oder Jemanden sei.”34 Koerber chose not to take Herzl’s advice – as such, although much of Koerber’s economic “politics of the bazaar” with the various parties does show similarities in some respects to Herzl’s economic strategy. There was no further meeting until July, by which time neither elections nor a “state party” were needed, because Koerber was able to govern with paragraph 14 of the constitution – the emergency legislation clause. Herzl quoted Koerber citing the emperor: “ ‘Dasch haben Schie schehr gut gemacht,’ citirte er des Kaisers Worte in dem Ton eines zahnlosen alten Mannes.”35 In a further meeting in October another chapter in the relationship, almost a reprise of the Badeni times, opened. Koerber informed Herzl that the “Landeschefs” had told him that there was not much doing in terms of his electoral strategy, and that the emperor was still not giving him full support. Herzl responded by suggesting, somewhat reminiscently, that what Koerber could really do with was “eine grosse anständige Zeitung” to support him. Koerber asked Herzl to explore the idea, and Herzl, without flattery, told Koerber: “Die Politik die Sie 33 Herzl (1985), 126. 34 Herzl (1985), 129. 35 Herzl (1985), 139.

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vertreten, ist die einzige, die in Oestreich eine Zukunft hat—wenn Oestreich überhaupt eine Zukunft hat.” Koerber’s shrug of his shoulders told Herzl that even Koerber did not see much of such a future.36 Nevertheless, a few months later, in early January 1901, Koerber summoned Herzl once more. He complained about the German Progressives as impossible to work with, saying that the Christian Socials “wenigstens arbeiten wollen” and that even the Czechs were open to a deal. Koerber also told Herzl that his idea of a “state party” would not have worked in Austria. “In Ungarn kann sich die Regierung eine einheitliche Partei machen. Bei uns muss man in jeden Kronland mit einer anderen Partei gehen. Also lieber gar nicht interveniren, sonst hat man Alle gegen sich.” But he also informed him that there was money available either for a new pro-government newspaper to challenge the Neue Freie Presse or indeed to buy that newspaper’s owners out.37 There followed in the next weeks yet another attempt to get Herzl set up as the chief editor of a major pro-government newspaper. Again Herzl’s hopes were raised that he could be “freed” from the slavery of working for the Neue Freie Presse. This time it was clear where the money would come from: Richard von Schoeller, the owner of Steyrermühl, and “a group of industrialists” had approached Koerber about founding or acquiring a newspaper to support the government and Koerber had recommended Herzl as prospective chief editor. Count Leopold Auersperg acted as the go-between between Herzl and the group, and on 12 January Herzl was interviewed by Schoeller and another group member, Arthur Krupp. Krupp set out the group’s aims: “Wir wollen weder ein Antisemitenblatt, noch—(mit Betonung)—ein Judenblatt. Dass wir keine Clericalen sind, geht schon daraus hervor (mit einem lachenden Blick auf den Grafen), dass wir Protestanten sind.” Herzl’s comment is noteworthy: “Und das ist die wunderliche amüsante Situation, dass in diesem Oestreich des Niedergangs die protestantische Industriemacht durch Vermittlung eines katholischen Grafen von der Regierung mit einem Juden unterhandelt, zur Schaffung eines Organs der öffentlichen Meinung. Und noch wunderlicher ist, dass nur dieser jüdische Jude im Stande ist, ein reines anständiges Organ zu schaffen, u. dass er das auch thun will.” Just as intriguing is Herzl’s comment about Krupp’s claim that the main purpose of the group was to have a newspaper “um das Publikum aufzuklären” in a way no other journal was doing in Vienna. The “Donau-Oder-Kanal” was an economic necessity, for example, but the Neue Freie Presse would not mention it because they had probably received money from the Rothschild concerns to keep quiet about it. Herzl’s comment: “Und da zeichnete sich mit wunderbarer Deutlichkeit der Gegensatz zwischen der Hochbank, die mir seit Jahren wegen meines Zionismus feind ist, und dieser Industriellengruppe ab, die mich aufsucht.” Protestant industrialists were far more honest than Jewish bankers, apparently.38 36 37 38

Herzl (1985), 149ff. Herzl (1985), 185f. Herzl (1985), 200f.

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Herzl was quite enthusiastic about the prospects of having his own newspaper and wrote out, as requested, a draft contract that emphasized how the newspaper would be modern and take a moderate stance: “sich von allen extremen nationalen, confessionellen und socialen Parteitendenzen fernzuhalten. Es soll gegenüber dem nationalen Hader und den Versuchen, sociale Zerklüftungen herbeizuführen, den Standpunkt des thätigen Bürgerthums vertreten, welches im gesammtösterreichischen Interesse die Entwicklung des modernen Verkehrs, das Aufblühen der Industrie und überhaupt die allgemeine Wohlfahrt durch den Ausbau der wirtschaftlichen Einrichtungen wünscht.”39 Herzl was quite prepared to represent pluralist “all-Austrian” interests against nationalistic divisiveness, in Austria. Negotiations went on for a couple of days, during which Herzl went round to Koerber’s private residence, where Koerber wondered aloud whether the Neue Freie Presse could be bought. To Herzl’s positive answer, he responded: “ ‘Es wär’ eine Erlösung!....Der [Benedikt] verdirbt ja Alles mit seiner Hetzerei und Gehässigkeit. Sogar der Lueger möcht’ scho’ Ruh geben, wann die Neue Press’ net immer wieder anfanget. Er möcht’ sogar jüdische Lehrer anstell’n, wenn drauf ankäm. Aber nein, er wird immer auf g’reizt.’”40 Once again, however, the deal fell through, partly, it appears, because Herzl asked for too much money for himself. It might also have been due to his imperious letter to Schoeller to dissuade him from listening to the other members of the group. In it Herzl, ever the liberal elitist, showed his less democratic side: “Die [Zustimmung Aller] ist nach meinen bescheidenen Ansichten in einem grossen Kreise nie zu erreichen. Wenn sie par impossible erreicht wird, ist sie kein Gewinn. Denn dann tauchen alle möglichen Schwätzer, Besserwisser u. Wichtigthuer auf, die ein vernünftiges zielbewusstes Arbeiten vereiteln. Viele Köpfe kann man nicht unter einen Hut bringen. Fragt man sie vorher, so entsteht nur eine Rederei, vielleicht eine Rauferei, und der Hut geht eher in Stücke, als dass er aufgesetzt wird. Dann muss die führende Intelligenz einfach den Hut aufsetzen und vorangehen, dann laufen die Anderen mit Bewunderung u. Ergebenheit nach. Bewundern Sie die Intelligenz? So hoch kann ich die Menge nicht schätzen. Ich glaube eher, dass sie den Hut bewundern und die Courage, ihn aufzusetzen. So ist es wirklich in der Welt. Ich habe schon vielerlei Menschen u. Körperschaften gesehen, und nie etwas Anderes gefunden. Die grossen Comités sind ebenso faul wie die Republiken.”41 Desultory negotiations carried on until a definitive end in April. In October there was another meeting with Koerber to discuss a Zionist issue, and Koerber complained about the state of Austria, and how the Orient Express showed how backward Austria had become. ‘’ ‘Wenn ich mit dem Orientexpress fahr’, in Deutschland ist er voll. Wie man über die Grenz’ 39 Theodor Herzl (1993): Briefe und Tagebücher, Vol. 6, Berlin, 140. 40 Herzl (1985), 206. 41 Herzl (1985), 208.

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kommt, hört’s Leben auf. Wie nur die Stationen heissen. Da heisst eine Griesskirchen. Dann kommt man nach Ried, da schlaft der Hund.’”42 This was Herzl’s last recorded visit with Koerber. Herzl did continue to communicate with Koerber. He sent him his “Staatsroman”, Altneuland, in December 1902. Koerber also helped him with an introduction to the Portuguese ambassador in May 1903, and in that correspondence Herzl remarked how he had prophesied Koerber’s success as prime minister.43 At the same time, he was clearly frustrated that Koerber had not been able to allow Austria to give Herzl the public support for Zionism that had once seemed on the cards. In September 1903 Herzl sent Koerber a copy of Plehve’s letter supporting Zionism and asked Koerber to support Zionism too. He pointed out that he had been able to gain public official recognition—in Germany, England and Russia for example – everywhere but in Austria, and now hoped “auch von der Regierung meines Vaterlandes in einem Unternehmen unterstützt zu werden, das vom jüdischen Interesse ausgehend, aber darin nicht befangen, den allgemeinen menschlichen Zweck einer grossen Hilfe für eine grosse Noth anstrebt.”44 Koerber does seem to have replied positively, saying he followed Herzl’s Zionist campaign “with interest”, and he appears to have asked Count Agenor Goluchowski, Austro-Hungarian Foreign Minister, to do something for Herzl.45 A letter to Goluchowski in December 1903 was followed eventually by a meeting on 30 April 1904, when Herzl was already deathly ill. They spoke in French, as a pleasantry to Goluchowski. Goluchowski revealed that he himself had great sympathy for the plight of Galician Jewry, supported Herzl’s Zionist idea, which he thought was a practical plan. Indeed Herzl reported that Goluchowski “fand die Unternehmung, die Juden nach Palästina zu führen, so löblich, dass er sagte: nach seiner Meinung sollten alle Regierungen die Sache finanziell unterstützen!” He advised Herzl that he thought the Great Powers would all support Zionism if he could “go big”, obtain a territory in Palestine from the Sultan large enough for 5 or 6 million Jews. When asked by Herzl to lead this effort by the Great Powers, however, Goluchowski demurred, saying that the support of the Hungarian government of Istvan Tisza was “unerlässlich”. Herzl, however, feared Tisza would be unable to break with “seine einflussreichen Grossjuden…, die ihm die liberalen Wahlen machen.” Herzl then complained to Goluchowski about the “Haltung der österreichischen Grossjuden”, how awareness of the Zionist cause had been effectively neutralized by the silence of the Neue Freie Presse. Herzl explained the stance of the paper’s chief editor (his boss):

42 43 44 45

Herzl (1985), 318. Herzl (1985), 565–569. Herzl (1985), 622f. Herzl (1985), 632, 661, 932.

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“Benedikt gebe die Existenz eines jüdischen Volkes nicht [zu], die ich behaupte. ‘La preuve est que j’en suis.’ ‘Et lui’, fragte Golu[chowski], ‘qu’est-ce qu’il est? Protestant?’ ‘Non. Il appartient à une espèce que je n’ai jamais vue: il est authrichien. Je connais des allemands, des polonaises des tchêques—je n’ai jamais vu un autrichien.’ Der österreichische Minister des Auswärtigen lächelte zustimmend.”46

This last meeting of Herzl’s with a high Austrian official shows Herzl’s deep ambivalence about the combination of his Jewish and Austrian identities, but it also implies something about Austrian identity generally, and the character of the Austrian state. On one level it appears absurd for an Austrian publicist, who had been prepared to help counter nationalism through representing the “all-Austrian interest”, to turn around and say there was no such thing as an “Austrian”, even more absurd for the Austrian Foreign Minister to agree, apparently. Yet Herzl was not talking about political citizenship, but rather ethnic nationality. Herzl did not have all that much hope for Austria surviving in the modern era, it is true. In a discussion with the Grand Duke of Baden in September 1898, Herzl had doubted the practicality of Austria-Hungary being turned into a “Staatenbund” because there were no obvious candidates to head the various constituent states. The Grand Duke suggested archdukes, but Herzl doubted this solution: “Der Fall ist anders als in Deutschland. Dieses ist stärker als Staatenbund, Oestreich aber würde schwächer. Es fehlt das einigende Band. Nur die Dynastie ist das. Die Erzherzöge könnten nicht Landesfürsten sondern nur Statthalter sein. Der Fürst muss aus dem Boden herauswachsen.”47 The only thing holding Austria together, in Herzl’s view, was the dynasty, and the mutual self-interest of economic prosperity. Yet these were still quite strong forces, and Herzl saw that in the hands of an adept politician such as Koerber perhaps strong enough. Moreover Herzl was quite prepared to help preserve the Austrian state, help it out of its language crisis, because there was a sense in which Herzl identified himself, and his Jewish cause, with this polyglot, multi-national polity. Herzl became a Jewish nationalist, it is true, but his sense of Jewish national identity was quite malleable. Being Jewish for him was not a racial matter: “wir sind eine historische Einheit, eine Nation mit anthropologischen Verschiedenheiten. Das genügt auch für den Judenstaat. Keine Nation hat die Einheit der Race.”48 There was always room for diversity and plurality within Herzl’s definition of self, nation and state. At times, this could go further. In the middle of his attempts to convert Benedikt—the same Benedikt—to his Zionist cause, Herzl had asserted: “Wir sagen ja, dass wir Oestreicher sein wollen. Die Mehrheit nein, alle Staatsbürger die nicht Juden sind, erklären bei der Wahl, dass sie uns nicht als Deutsch-Oestreicher (Russen, 46 Herzl (1985), 673ff. 47 Herzl (1983b), 607. 48 Herzl (1983b), 281.

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Preussen, Franzosen, Rumänen etc.) anerkennen. Gut, wir ziehen ab, wir werden aber drüben auch nur Oestreicher (Russen etc.) sein. Wir geben unsere erworbenen Nationalitäten so wenig auf, wie unser erworbenes Vermögen.”49 This was on the same walk to Mauer where we started. Had Herzl changed so much since 1895 that he no longer considered “Austrian” any sort of identity in 1904? I do not think so. Instead, his view of what Austria should be was much like how he envisaged his Judenstaat—a place where people could be themselves, and live and work together for the common good despite their many differences. Is it the final irony of Herzl’s relationship with Austrian politics, that he too, “Jewish Jew” though he might be, was like Moritz Benedikt, perhaps not Austrian in ethnicity, but definitively Austrian in spirit? His Judenstaat an idealized form of Austria for the Jews?

49 Herzl (1983b), 255.

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Conrad von Hötzendorf revisited

1935 ehrte die „austrofaschistische“ Grazer Stadtverwaltung Feldmarschall Franz Xaver Josef Conrad von Hötzendorf (11. November 1852 bis 25. August 1925) mit einer Straßenbenennung.1 Sein Urgroßvater Franz war am 4. November 1815 als mährisch-schlesischer Provinzialbuchhaltungs-Rechnungsrat mit dem Prädikat von Hötzendorf in den Adelsstand erhoben worden,2 so dass das dominante Gebäude der Conrad-von-Hötzendorf Straße, die Finanzlandesdirektion, durchaus Sinn macht. Der Namenspatron der Straße, der am 18. August 1910 in den Freiherrn- und am 15. Juli 1918 in den Grafenstand erhoben worden war,3 wurde als Chef des Generalstabs, als Feldmarschall und Inhaber des Großkreuzes des Militär-Maria-Theresien-Ordens auch nach 1918 als der österreichische Kriegs-Heros schlechthin propagiert und gleichsam als österreichischer Hindenburg schmackhaft gemacht. Und nicht nur die Erste Republik, nicht nur der „autoritäre Ständestaat“, sondern auch die Zweite Republik pries noch in den 1960er „ihren“ Conrad, dem sie innerhalb des Bundesheeres eine Kaserne widmete,4 während der Ausmusterungsjahrgang 1975 an der Militärakademie ihn zum Namenspatron5 machte. Dieser Personenkult wurde hagiographisch legitimiert: „Am 18. November 1906 wurde Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf zum Chef des k.  u. k. Generalstabes ernannt. […] Die ,Kriegsschule‘ absolvierte der junger Jägeroffizier mit ,vorzüglichem Erfolge‘. Die Laufbahn eines k. u. k. Generalstabsoffiziers lag vor ihm. Im Jahre 1878 erhielt er bei der Okkupation von Bosnien die Feuertaufe und zeichnete sich auch bei der Niederwerfung des Aufstandes in der Krivošije im Jahre 1882 aus. Weit über den Durchschnitt gebildet – er sprach fließend italienisch, französisch, serbisch, tschechisch, ungarisch, 1 2 3 4

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Karl A. Kubinzky, Astrid M. Wentner (1998): Grazer Straßennamen. Herkunft und Bedeutung, 2. Aufl., Graz, 76f. Peter Frank-Döfering (Hg.) (1989): Adelslexikon des Österreichischen Kaisertums 1804-1918, Wien/Freiburg/ Basel, 59. Frank-Döfering (1989), 276. Erlass über die Benennung der Kasernen des Bundesheeres vom 3. November 1967, Zl. 384.266-Zentr/67. In diesem Erlass wird die Liegenschaft in der Dr. Glatz-Straße 13a, 6010 Innsbruck, als Conrad-Kaserne festgelegt und mit folgender Erklärung in den Kanon der Kasernennamen aufgenommen. „Erbaut 1908 – FM Franz Graf Conrad von Hötzendorf 1852–1925/ G[roß-]K[reuz] des M[ilitär-] M[aria-] T[heresien-] O[rdens], Heerführer des Ersten Weltkrieges.“ Liste der Ausmusterungsjahrgange der Militärakademie Wiener Neustadt, Wikipedia, URL: http://de.wikipedia. org/wiki/Ausmusterungsjahrg%C3%A4nge_der_Theresianischen_Milit%C3%A4rakademie (abgerufen am 24.5.2013).

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polnisch, englisch und russisch –, verkörperte der junge Offizier noch einmal den Typus des altösterreichischen Heerführers […]. Als ‚russischer Gutsbesitzer‘ lernte er aus eigener Anschauung weite Gebiete des Zarenreichs kennen, das er, wie es damals hieß, ,in dienstlichem Auftrag‘ besuchte. Als Taktiklehrer an die Kriegsschule in Wien berufen, verfasste er ein zweibändiges Werk ,Zum Studium der Taktik‘,6 das weite Verbreitung fand. […] Wiederholt zog Conrad bei dem von ihm ganz modern durchgeführten Übungen und Manövern die Aufmerksamkeit des Erzherzog Franz Ferdinand auf sich […]. Dem energischen Erzherzog hatte er auch in erster Linie die Berufung an die wohl verantwortungsvollste Stelle in der Armeehierarchie, als Chef des Generalstabes, zu danken. […] Wenn in den letzten Friedensjahren die Monarchie auf dem militärischen Sektor ausgebaut wurde, so ist dies hauptsächlich das Verdienst Conrads, der es trotz größter Widerstände der ewig streitenden zivilen Behörden, im Kampf mit Ressortministern und Bankgewaltigen, doch durchsetzte, dass die Armee seit 40 Jahren erstmalig im Frieden eine Vergrößerung erfuhr und das Befestigungswesen neuzeitlich ausgestaltet wurde. Er war ein zäher, beharrlicher Vertreter der ,Präventivkriegsidee‘: Österreich-Ungarn sollte es überlassen bleiben, Zeit und Ausmaß der von ihm […] als unabwendbar angesehenen Auseinandersetzung zu wählen. […] Seine Bemühungen scheiterten aber am absoluten Willen des Monarchen, den Frieden um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Und auch der sonst so energische Thronfolger schreckte vor der letzten Konsequenz zurück. […] Als der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand im Jahre 1913 zum ,General-Inspektor der gesamten bewaffneten Macht‘ bestellt wurde, hatte Österreich-Ungarns Wehrmacht dank der energischen Bemühungen des Generalstabchefs Conrad ihre Stellung so weit ausgebaut, dass sie befähigt erschien, auch den letzten Einsatz, wenn er verlangt würde, in Ehren zu bestehen.“7 Herbert Viktor Pateras (1900-1986) Darstellung erschien, mit einem Vorwort des ersten Verteidigungsministers der Zweiten Republik, Ferdinand Graf, im Jahr 1960. Nicht wesentlich von der Einschätzung Pateras unterschied sich die des langjährigen Direktors des Heeresgeschichtlichen Museums Johann Christoph Allmayer-Beck (1918). Der vormalige Berufsmilitär und wortgewaltige Militärhistoriker beeinflusste als Vortragender an der Militärakademie Wiener Neustadt und in den Generalstabskursen bis in die 1980er Jahre das Offizierskorps der Zweiten Republik. In seinem Prunkwerk über die alte Armee Mitte der 1970er war Conrad für ihn „eine taktische Koryphäe“, ein „bedeutender operativer Kopf und militärischer Fachmann von hohem Rang“, der sich den „nicht immer sachgerechten Ansichten des Thronfolgers nicht anzupassen vermochte“ und dessen Furor Austriacus „nicht aus 6 7

Franz Conrad von Hötzendorf (1998): Zum Studium der Taktik, Bd. 1, Einleitung und Infanterie, Wien; ders. (1999): Zum Studium der Taktik, Bd. 2, Artillerie, Cavallerie, vom Gefecht, Wien. Herbert V[iktor] Patera (1960): Unter Österreichs Fahnen. Ein Buch vom österreichischen Soldaten. Farbtafeln und Zeichnungen von Gottfried Pils, Graz/Wien/Köln, 117–120.

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einem Gefühl der Stärke, der überschüssigen Kraft heraus, sondern vielmehr aus einer mit dem Mut der Verzweiflung eingenommenen Verteidigungshaltung“ entsprang.8 Patera, dessen Œuvre der Themenwelt Karl Mays verbunden war und der als Dramaturg im Umfeld von Rudolf Henz (1897-1987), dem Dichter des Dollfuß-Liedes, in der Zweiten Republik beim Österreichischen Rundfunk beschäftigt war, orientierte sich bei seiner Zeichnung des „Heerführers“ an der „ständestaatlichen“ Apologetik, die wiederum direkt an den Heldenkult der österreichischen Kriegspropaganda anknüpfte. 1916 hatte bereits der triefend katholische Apologet der Päpste, Ludwig von Pastor (1854-1926), dem sozialdarwinistisch geprägten „Heros“ Conrad, dessen Fehlleistungen und -einschätzungen 1914 tiefste und nicht mehr wettzumachende Wunden in das k. u. k Berufsoffizierscorps geschlagen hatte, eine Image-Broschüre gewidmet.9 Er stand damit auf einer Ebene mit Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), dessen mediokres Prinz Eugen-Buch direkt aus dem Kriegspressequartier der k. u. k. Armee deszendierte.10 Dies ist kein Zufall, denn in der Armee gab es Bewunderer, die in Conrad „den größten österreichischen Feldherrn seit Prinz Eugen sehen“.11 Es ist evident, dass Patera mit dem promovierten Militärhistoriker Allmayer-Beck nahezu eine kultische Verehrung des Generalstabschefs verband, er also einem Heldenkult verpflichtet war, dessen Pathosformeln auf Weggefährten und Schüler Conrads zurückgingen.12 Für den Juristen und Feldmarschallleutnant, für den Alten Herrn der Akademischen Sängerschaft Gothia zu Graz und illegalen Nationalsozialisten, für den Flügeladjutanten Erzherzog Franz Ferdinands und Mitglied des Großdeutschen Reichstages Carl Freiherr von Bardolff (1865.1953) war Conrad der elegante Kriegsgott schlechthin. „Sein äußeres Bild ist rasch gezeichnet: kleine, sehnige Gestalt, prachtvoller Kopf, klare, blaue, Gedankenreichtum und Güte ausstrahlende Augen, rassisch rein durch und durch. Er war ein schneidiger, unermüdlicher Reiter, zäh und vollkommen anspruchslos in seiner Lebensführung. Gesinnungsmäßig war er gesamtdeutsch eingestellt, aber treuer Österreicher in der Liebe zur Heimat, zu ihrer Tradition, zu ihrer Armee und zu seinem Kaiser. Wenn man die Wertung ,liebenswürdig‘ des femininen Beigeschmacks zu entkleiden vermöchte, könnte man diese Wertung auf ihn anwenden.“13 8 9 10 11 12

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[ Johann Christoph] Allmayer-Beck / [Erich] Lessing (1974): Die K(. u. )K.-Armee 1848-1914, München, 229f. Ludwig von Pastor (1916): Conrad von Hötzendorf. Ein Lebensbild nach originalen Quellen und persönlichen Erinnerungen entworfen, Wien/Freiburg. Hugo von Hofmannsthal (1915): Prinz Eugen der edle Ritter. Sein Leben in Bildern. 12 Original-Lithographien von Franz Wacik, Wien. Hans-Dieter Otto (2012): Verpasste Siege. Tragische Niederlagen der österreichischen Kriegsgeschichte, Salzburg, 189. Es gehört zu den Defiziten der an sich beeindruckenden Arbeit von Anton Holzer, dass er in seiner Darstellung der propagandistischen Inszenierungen Conrad nicht berücksichtigt. Anton Holzer (2007): Die andere Front. Fotografie und Propaganda im ersten Weltkrieg, Darmstadt. Carl Freiherr von Bardolff (1938): Soldat im alten Österreich. Erinnerungen aus meinem Leben, Jena, 89.

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Auch ein anderer „zwielichtiger“ General, Edmund Glaise von Horstenau (1882–1946), umriss die Gefühlswelt dieser Generationen im Umgang mit Conrad markant, denn einerseits war Conrad Absolvent der Militärakademie Wiener Neustadt, und als solcher einbezogen in das „Zusammengehörigkeitsgefühl dieser Neustädter“, die sich von „einem unsichtbaren, aber umso fühlbareren Band“ umschlungen wussten, denn sie waren „ein Orden“,14 zum anderen waren Conrads Schüler an der Kriegsschule „im Krieg 1914/18 seine Divisionäre und Korpskommandanten“.15 Diese Armee erlebte nun aber in den ersten Monaten des Krieges jene entscheidenden Niederlagen an der russischen und der serbischen Front, die ein verantwortungsloser Dilettantismus der militärischen Führung unter Conrad von Hötzendorf und des formalen Oberbefehlshabers Erzherzog Friedrich auslöste. Um seine operativen Fehleinschätzungen zu kaschieren, hielt Conrad zwölf Divisionen vorerst am Balkan zurück, während er die Russen mit unterlegenen Kräften von Galizien aus angriff. Zwischen dem 6. und 12. September griffen Conrads vier Armeen die überlegenen Kräfte der Russen an und verbluteten. 250.000 Soldaten fielen und 100.000 gingen in russische Kriegsgefangenschaft – besonders hoch war der Anteil junger Berufsoffiziere. Mit dem Scheitern des Schlieffen-Plans im Westen und dem Scheitern von Conrads Angriffs-Plan im Osten war der Krieg für das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn letztlich 1914 bereits verloren.16 Evidente Fehlleistungen in der operativen Planung Conrads wurden detachiert: Mangelnde Disziplin bei der Ausführung der Befehle durch untergeordnete Heerführer und der Verrat durch nichtdeutsche Truppenteile wurden ebenso geltend gemacht wie die Hysterie vor russischen Spionen, der österreichische Bürger als „Russophile“ zum Opfer fielen.17 Conrad, der in seiner ersten Periode als Chef des Generalstabs (1906–1911), zu Friedenszeiten also, den Primat der Politik vor dem Militär massiv in Frage zu stellen wusste, wurde schließlich in seiner zweiten Periode (1912–1917) erst angesichts des Scheiterns seiner Offensive 191618 14

Peter Broucek (Hg.) (1980): Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau, Bd. 1, Wien/Köln/Graz, 111. 15 Broucek (1980), 199. 16 Vgl. Hans-Dieter Otto (2012): Verpasste Siege. Tragische Niederlagen der österreichischen Kriegsgeschichte, Salzburg, 194–201. Zur deutschen Situation siehe Eberhard Birk / Gerhard P. Groß (2013): Von Versailles über Paris nach Moskau. Strategische Optionen und Perspektiven des Deutschen Reiches im Spiegel nationaler Machtpolitik, in: Österreichische Militärische Zeitschrift Jg. 51 (2013), 131–139, 132. 17 Richard Lein (2011): Pflichterfüllung oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg (Europa Orientalis 9), Wien; Peter Broucek (Hg.) (2011): Feldmarschallleutnant Alfred Jansa. Erinnerungen. Ein österreichischer General gegen Hitler, Wien/Köln/Weimar, 320; Georg Hoffmann / Nicole-Melanie Goll / Philipp Lesiak (2010): Thalerhof 1914–1936 Die Geschichte eines vergessenen Lagers und seiner Opfer (Mitteleuropäische Schriftenreihe 4), Herne. 18 Manfried Rauchensteiner (1993): Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz/ Wien/Köln, 242f.

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erneut unter die Kontrolle der Politik gestellt. Wenige Monate später wurde er dann als Generalstabschef vom jungen Kaiser Karl abberufen.19 Zu diesem Zeitpunkt waren rund 7,5 Millionen Männer als Soldaten der k. u. k. Armee im Einsatz gewesen, von denen 700.000 gefallen, 600.000 dienstuntauglich und 1,500.000 in Kriegsgefangenschaft geraten waren.20 Conrads menschenverachtende strategische Führung zeigte sich auch an der Südfront. „Die Südtiroloffensive sollte am 1. April beginnen. Conrad hielt sein Kriegsprogramm lange geheim und stellte sich vor, die Italiener in einer Zangenbewegung in der venezianischen Ebene von Südtirol und vom Isonzo aus einzuschließen und so den Krieg gegen Italien zu entscheiden. Er kannte das Terrain aus der Friedenszeit. Die Überprüfung seiner Strategie vor Ort hatte nicht stattgefunden, die Vorschläge von Kennern der Landschaft blieben unberücksichtigt. Das Wetter spielte nicht mit. Es schneite, meterhohe Schneewächten hinderten den Aufmarsch.“21 Feldmarschallleutnant Alfred von Jansa (1884–1963) charakterisiert diese Phase der beginnenden Demontage Conrads in seinen Erinnerungen – die er als politisch Verfemter während der Nazi-Zeit weit ab von jeder militärischen Verwendung schrieb – relativ präzise, doch er bettete seine Darstellung in privates Geraune mit dem stellvertretenden Chef des Evidenzbüros Alois Zobernig (1879-1944) im Sommer 1916 ein: Nach den Gebietsgewinnen der Italiener bei Görz und jenen der Russen in Wolhynien bzw. angesichts der Unzuverlässigkeit „unserer nichtdeutschen Truppen“ und dem Fehlen jeglicher Friedensaussichten, konzentrierte man sich auf die Situation innerhalb des Zweibundes. „Kaiser Wilhelm befände sich willenlos in den Händen Falkenhayns, dessen Position jedoch stark erschüttert sei. Das Vertrauen in Conrad sei ebenfalls stark erschüttert; er habe die Reininghaus geheiratet, was man ihm übel nehme. Die Gesamtlage erscheine düster und aussichtslos. An Hindenburg und Ludendorff klammere sich die letzte Hoffnung.“22 Nach der Katastrophe der Schlacht bei Lemberg und der Stabilisierung der Front durch die deutschen Erfolge unter Hindenburg folgte der katastrophale „Karpatenwinter“ von 1914/15, in dem noch im März 1915 die Temperaturen auf minus 20 Grad sanken und die 2. Armee 40.000 von 95.000 Mann als Verlust durch Erfrierungen zu melden hatte und die physisch und psychisch erschöpften Soldaten nicht einmal mehr durch „das Feuer von hinten“ in den Stellungen zu halten waren.23 Dennoch war die Stimmung im Armee-Ober-Kommando 19 Hubert Zeinar (2006): Geschichte des österreichischen Generalstabes, Wien/Köln/Weimar, 457, 590. 20 Elisabeth Kovács (2004): Untergang oder Rettung der Donaumonarchie? Die österreichische Frage. Kaiser und König Karl I. (IV.) und die Neuordnung Mitteleuropas, Bd. 1, Wien/Köln/Weimar, 258. 21 Kovács (2004), 88, unter Berufung auf den „Bericht der Militärkanzlei Kaiser Franz Josephs vom 24. April 1916“, 84. 22 Broucek (2011), 320f. 23 Verena Moritz / Hannes Leidinger / Gerhard Jagschitz (2007): Im Zentrum der Macht. Die vielen Gesichter des Geheimdienstchefs Maximilian Ronge, Salzburg, 138.

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(AOK) in Teschen angesichts des erstaunlichen Komforts allgemein bestens und Conrad befand sich auch wegen der „in Aussicht gestellten Scheidung seiner Geliebten gerade in einem Stimmungshoch“.24 Militärisch bedingten Grund zu einem gefühlsmäßigen Hoch hatte Conrad aber erst, nachdem am 2. Mai 1915 gemeinsam mit deutschen Verbänden die Durchbruchsschlacht von Gorlice-Tarnów begann, die letztendlich die russische Armee nachhaltig schädigte. Am 3./4. Juni wurde die Festung Przemyśl, am 22. Juni Lemberg zurückerobert, während die russische Armee das von ihr kontrollierte polnische Gebiet zur Gänze räumte. Wiewohl der österreichischen Aufklärung wertvollste Arbeit in der Vorbereitung der Durchbruchsschlacht glückte, wurde nicht Conrad, sondern letztlich Erich von Falkenhayn, von dem die Initiative einer gemeinsamen Operation ausging, als der Vater des Sieges gefeiert, obgleich Conrad den Ruhm durchaus für sich in Anspruch nahm.25 Rund ein Jahr nach Beginn des Krieges war „jeder achte Offizier und jeder zehnte Soldat“26 der k. u. k. Armee gefallen. Gina (Virginie) Conrad, geborene Agujari, adoptierte Karasz, (1879–1961) war in erster Ehe mit dem Grazer Industriellen und Bierbrauer Johann von Reininghaus verheiratet gewesen, ehe sie am 19. Oktober 1915 Conrad ehelichte und zu ihm nach Teschen übersiedelte.27 Ähnlich wie die Frau Ludendorffs, Mathilde, reihte sie sich mit ihren Memoiren unter die Apologeten ihres Mannes,28 dessen Apotheose bereits mit seiner ersten Ernennung als Generalstabschef einsetzte. Aber auch Conrad selbst eiferte Ludendorff nach, indem er ab 1921 (bis zu seinem Tod 1925) einen fünfbändigen Rechenschaftsbericht publizierte, wonach seine militärische Planung am Unverständnis der Politik, des Kaiserhauses und der „Pfeffersäcke“ scheiterte.29 Damit bekam die Nachlassarbeit des österreichischen Generalstabes, das von Glaise von Horstenau und Rudolf Kiszling organisierte Werk über die österreichische Kriegsführung im Ersten Weltkrieg, ein Richtschnur,30 „Der schon in den Denkschriften ausgebreitete Bellizismus mit sozialdarwinistischer Fundierung entsprach auch oder gerade nach der Niederlage Conrads Weltsicht, und so präsentierte er sich in seinem Erinnerungswerk als der verhinderte Retter des Habsburgerreiches. Da er die Schuld am Weltkrieg der Entente und die Verantwortung für die prekäre Lage im Frühsommer 1914 der politischen Führung der Monarchie zuwies, konnte die hagio­

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Moritz et al. (2007), 139. Rauchensteiner (1993), 211. Moritz et al. (2007), 139. Ebd., 140. Gina Gräfin Conrad von Hötzendorf (1935): Mein Leben mit Conrad von Hötzendorf. Sein geistiges Vermächtnis, Leipzig. Franz Conrad von Hötzendorf (1921-1925): Aus meiner Dienstzeit, 5 Bde., Wien. Bundesministerium für Heerwesen und Kriegsarchiv (Hg.) (1930–1938): Österreich-Ungarns letzter Krieg, 7 Textund 7 Kartenbände, Wien.

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graphische Militärgeschichtsschreibung Conrads Selbstdarstellung übernehmen.“31 Verstärkt wurden diese Ausführungen durch die Conrad-Biografien Alfred Wittichs32 und August Urbanskis von Ostymicz,33 bei dessen zweiter Eheschließung Conrad als Trauzeuge fungierte.34 Diese Biografien machten deutlich, dass auch innerhalb des Nationalsozialismus Platz für den Conrad-Kult war. Nach 1955 setzte Oskar Regele diesen Ansatz, termingerecht zur Aufstellung des Österreichischen Bundesheeres, fort.35 Erst Fritz Fellner setzte dieser Darstellungsweise einen massiven Kontrapunkt entgegen, indem er das strategische Genie Conrads in den Wochen zwischen dem Attentat von Sarajewo und dem Kriegsausbruch 1914 rundweg in Frage stellte: „Wenn der erwünschte Krieg tatsächlich ohne ausländische Einmischung geführt werden sollte, so musste er ohne Aufschub begonnen werden, doch Conrad von Hötzendorf, der seit Jahren den Präventivkrieg gegen Serbien gepredigt, ihn vom Zaun zu brechen bemüht hatte, begann, kaum dass der Entschluss gefasst war, schon um Zeitaufschub zu betteln. Dilettantischer ist noch nie ein Krieg vom Zaun gebrochen worden als der Krieg gegen Serbien im Juli 1914, und dieses harte Urteil sollte endlich durch eine militärgeschichtliche Untersuchung von österreichischer Seite untermauert werden.“36 Bereits davor hatte Rudolf Kiszling darauf hingewiesen, dass die detaillierten Planungen des österreichischen Generalstabes unter Conrad für den Kriegsfall gegen Serbien, Russland und Italien in der realen Situation von 1914/15 weitgehend wertlos waren.37 Und Manfried Rauchensteiner beschrieb die Position Conrads innerhalb der Armee des Habsburgischen Reiches am Beginn des großen Revirements unter Kaiser Karl folgendermaßen: „Es war allen bewusst, dass er für die militärische Führung dieses Krieges verantwortlich war. Es hatte versteckt und weniger versteckt Kritik, ja schärfste Kritik gegeben: an seiner Truppenferne, seiner Führung ohne Rücksicht auf die Opfer, seinen Eingriffen in die Innen31

Günter Kronenbitter (2003): „Krieg im Frieden“. Die Führung der k. u. k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906-1914, München, 10. 32 Alfred Wittich (1934): Conrad von Hötzendorf (Colemans kleine Biographien), Lübeck. 33 August Urbanski von Ostymicz (1938): Conrad von Hötzendorf, Graz/Leipzig/Wien. 34 Verena Moritz / Hannes Leidinger (2012): Oberst Redl. Der Spionagefall. Der Skandal. Die Fakten, 2. Aufl., Salzburg, 194. 35 Oskar Regele (1955): Feldmarschall Conrad. Auftrag und Erfüllung 1906–1918, Wien. 36 Fritz Fellner (1994): Die „Mission Hoyos“, in: ders.: Vom Dreibund zum Völkerbund. Studien zur Geschichte der internationalen Beziehungen 1882–1919. Hg. von Heidrun Maschl und Brigitte Mazohl-Wallnig, Wien/München, 112-141, 130f. Charakteristisch für die selektive Wahrnehmung österreichischer Militärgeschichte in diesem Kontext ist zweifellos der durchaus militärgeschichtlich pointierte Band Ludwig Jedlickas (1975): Vom alten zum neuen Österreich. Fallstudien zur österreichischen Zeitgeschichte 1900–1975, St. Pölten/Wien, in dem man zwar im Widerspruch zum Untertiteleine Studie zu Feldmarschall Radetzky oder eine andere zum Ausgleich findet, jedoch keine zu Conrad. 37 Rudolf Kiszling (1974): Franz Graf Conrad von Hötzendorf, in: Walter Pollak (Hg.): Tausend Jahre Österreich. Eine biographische Chronik, Bd. 3, Der Parlamentarismus und die beiden Republiken, Wien, 39–46, 42.

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politik, ja auch an seinen persönlichen Verhältnissen. Und dennoch hatte […] Oberst Theodor Ritter von Zeynek […] wohl wissend, dass der Monarch etwas anderes hören wollte […] gemeint: Jeder Offizier sei ersetzbar, ausgenommen Conrad, ,die überragende Führergestalt Europas‘. In dieser Äußerung ist jenes Übermaß an Anerkennung und Respekt erkennbar, das die Masse der Offiziere Conrad entgegenbrachte. Der neue Chef der Militärkanzlei des Kaisers, Materer,38 […] war einer der wenigen, der keine Rücksichtnahme kannte. Er wollte seinen Beitrag zur Ersetzung des ,Gottähnlichen‘ leisten.“39 Die von Rauchensteiner lediglich referierte Kritik40 markiert bereits die Zeichnung Conrads in der ersten modernen, von Lawrence Sondhaus verfassten Biografie dieses österreichischen Generals als „Architekten der Apokalypse“.41 Sondhausens markante und treffende Zeichnung der Persönlichkeit wurde durch eine neuere Biografie nicht wesentlich ergänzt.42 Die im Schweizer Exil verfassten Aufzeichnungen Kaiser Karls über seine Regierungszeit setzten nahezu unmittelbar mit der „Sprengung des AOK“ ein – und mit der Notwendigkeit Erzherzog Friedrich, der Conrad gegenüber „eine reine Puppe“ war, gemeinsam mit dem Generalstabschef zu entlassen:43 „Conrad […] war auch vor dem Krieg von der ganzen Armee vergöttert. Seit Kriegsbeginn aber vermied es […] Conrad […] den nöthigen Contact mit der Truppe aufrechtzuerhalten, verschloss sich in seinem Büro in Teschen und operierte mit den Divisionen wie mit den Kasterln am grünen Tisch […]. Dann hatte der im 64. Lebensjahr stehende General im Kriege […] eine verhältnismäßig junge, geschiedene Frau ,geheiratet‘.44 Abgesehen davon, dass diese Tat bei einem Großteil der Armee scharf kritisiert wurde, begann im Hauptquartier eine Weiber- und Protektionswirtschaft. […] Sein Reglement für die Fußtruppen und die Gefechtsführung war ein sehr angenehm zu lesender Roman, aber viel zu wenig präzis und beachtete zu wenig den für unseren verhältnismäßig schwachen und von vielen Feinden bedrohten Staat so nothwendigen Verteidigungskrieg. Das Wort ,nur im Angriff liegt das Heil‘ 38

Ferdinand (1908 Ritter von, 1917 Freiherr von) Materer (1862–1919) wurde von Kaiser Karl zum Chef der Militärkanzlei ernannt, aber 1918 aus gesundheitlichen Gründen seines Dienstes enthoben. Vgl. Österreichische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 6, Wien 112. 39 Rauchensteiner (1993), 430. 40 In der massiv erweiterten Neuauflage seines Buches unter dem Titel „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie“ (Wien/Köln/Weimar 2013) spricht Rauchensteiner die Kritik Fellners mokant an (112, 125), will diese „auf ihre Haltbarkeit hin untersuchen“ und referiert schließlich an rund 50 Stellen seines monumentalen Werkes danach Conrads Versagen und damit den von Fellner angesprochenen Dilettantismus. 41 Lawrence Sondhaus (2000): Franz Conrad von Hötzendorf. Architect of the Apocalypse. Boston; deutsche Ausgabe (2003) unter dem Titel: Franz Conrad von Hötzendorf. Architekt der Apokalypse, Wien. 42 Wolfram Dornik (2013): Des Kaisers Falke, Innsbruck. 43 Persönliche Aufzeichnungen Kaiser und König Karls (21. November 1916 bis 24. März 1919), Prangins, 8. September 1920, abgedruckt in: Kovács (2004), Bd. 2, 604–694, 606f. 44 Für den tiefgläubigen Katholiken Karl war die Eheschließung Geschiedener, auch wenn dies bei reformierten Christen möglich ist, keine Heirat, daher setzte es das Wort unter Anführungszeichen.

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hat vielen braven Soldaten unnütz das Leben gekostet. In politischen Sachen war Conrad […] ein großer Dilettant; er war stark deutsch orientiert; dabei schwebte ihm eine Art Trialismus vor: Österreich – Ungarn – Südslavien bei Unterdrückung der anderen Nationen.“ Gedrängt von der deutschen Obersten Heeresleitung gab Kaiser Karl die Anweisung, an der Italienfront „wieder offensiv zu werden.“45 –„Die Planung für die Offensive“, so Manfried Rauchensteiner, „war es, die zum Debakel führte und ein Führungschaos offenbarte. An der Italienfront standen zwei Heeresgruppen: in Tirol und bis Kärnten die Heeresgruppe des früheren Generalstabschef Feldmarschall Conrad sowie jene des Feldmarschall Boroevic, die im Anschluss daran bis zur Piavemündung kämpfte. Beide Feldmarschälle wollten offensiv werden. […] Conrad war mit seiner Idee eines Vorstoßes aus dem Gebirge schon zweimal gescheitert. […] Dann traten am 13. Juni die Armeen von Feldmarschall Conrad an und scheiterten schon am ersten Tag, mit ihrem Versuch, die italienische Front aufzurollen.“ Wie also konnte Conrad dennoch als Heros überleben – nur durch Schuldzuweisungen an nachgeordnete Generäle und an die Politik? Ja, und durch die markante Deklarierung von Verrat. Conrads Planung musste scheitern, wenn sie zeitgerecht in allen Details an die zaristische militärische Aufklärung verraten worden war. Philipp Knightley hat 198646 pointiert darauf hingewiesen: „Oberst Redl, der erste Doppelagent von einiger Bedeutung, ist für die Spionagegeschichte so wichtig geworden, dass man unwillkürlich zögert, Zweifel anzumelden. […] Aber die allgemein akzeptierte Version über seine Enttarnung; seine Festsetzung, sein Tod und das Ausmaß seines Verrats, das heißt, seine Bedeutung als Spion, liest sich ganz so, als sei sie geschrieben worden, um die Schlagkraft der österreichischen Spionageabwehr herauszustreichen und die demütigenden Niederlagen der Donaumonarchie zu Beginn des Krieges zu beschönigen.“47 Knightleys These wird letztlich durch die Studie zum Verrat Redls von Verena Moritz und Hannes Leidinger gestärkt, die nach Auswertung erstmals zugänglicher russischer Quellen zum Fall Redl zu einem markanten Schluss kommt: „Fast zweifelsfrei kann hingegen ein wie immer gearteter Einfluss der Redl-Affäre auf die anfänglichen Niederlagen der Habsburgerarmee gegen Russland ausgeschlossen werden. […] Spätestens seit der Jahreswende 1913/14 änderten sich bestimmte Parameter der Generalstabskalkulationen infolge der wechselnden politischen und militärischen Erwägungen unübersehbar. […] Wichtige infrastrukturelle Einrichtungen und topografische beziehungsweise naturräumliche Gegebenheiten ließen sich mindestens nicht kurzfristig umgestalten, bedeutende 45 Manfried Rauchensteiner (2008): „Das neue Jahr macht bei uns einen traurigen Einzug”. Das Ende des großen Krieges, in: Helmut Konrad / Wolfgang Maderthaner (Hg.): … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Wien, 21–44, 34. 46 Philipp Knightley (1986): The Second Oldest Profession: Spies and Spying in the Twentieth Century, London. 47 Philipp Knightley (1989): Die Geschichte der Spionage im 20. Jahrhundert. Aufbau und Organisation; Erfolge und Niederlagen der großen Geheimdienste, Bern/München/Wien (deutsche Übersetzung von Anm. 46), 54.

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Informationen waren vielfach auf legalem Weg zu erhalten. Der spätere Generalmajor des österreichischen Bundesheeres, Karl Bornemann, der als junger Leutnant noch persönlich mit Alfred Redl zusammengetroffen war, äußerte sich dementsprechend: Die ,Leistungsfähigkeit‘ der aus dem ,Inneren der Monarchie‘ an die Grenzen führenden Eisenbahnlinien waren ,feststehende Größen‘, die die Russen ,ganz ohne Redl‘ kannten, ebenso die ,Friedensdislokation der österreichisch-ungarischen Wehrmacht‘. […] Dass es schließlich für die Donaumonarchie keineswegs nach Wunsch verlief, lag an der verspäteten ,Operationsbereitschaft‘ sowie an der Schwierigkeit, Teile der ,viel zu stark bemessenen Truppenverbände‘ gegen Serbien ,auf den nordöstlichen Kriegsschauplatz‘ zu ,dirigieren‘. An ,diesem Ablauf hatte naturgemäß der Verrat durch Alfred Redl keinen Anteil‘.“48 Dass einer von Conrads Apologeten, August Urbanskis von Ostymicz, später selbst die Auswirkungen des Verrates von Redl relativierte, kann nicht als subtiler Beitrag zur Entzauberung des Mythos Conrad gelesen werden, sondern muss als Selbstschutz Urbanskis interpretiert werden, der sich im Falle Redl nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte. Conrad selbst spekulierte in seinen Schuldzuweisungen mit Dolchstoßlegenden anderer Art. „Ich mache mir den Vorwurf, in die Deutsche Oberste Führung ein zu großes Vertrauen gesetzt zu haben. Dass die deutschen Truppen hervorragend sein werden, davon war ich überzeugt, und diese Überzeugung hat sich auch glänzend bestätigt. Das gleiche setzte ich aber auch bei der Deutschen Obersten Heeresleitung voraus, und das war ein Irrtum.“49 Die grundlegende Planung des Krieges wäre durch das Scheitern des deutschen Angriffs auf Frankreich hinfällig geworden und dieses Scheitern hätte Kaiser Wilhelm zu verantworten, „aber er war kein Feldherr“ und nahm sich daher „auch nur Männer in seine Umgebung, die gleichfalls keine Feldherren waren“.50 In Analogie hielt er sein eigenes Schicksal fest. Als erste Neuerung teilte ihm Kaiser Karl nach dem Tode Kaiser Franz Josephs mit: „Ich werde das Armeeoberkommando übernehmen, aber nicht nur dem Namen nach formell, sondern ich werde es führen.“51 Frappiert von dieser Aussage, hoffte Conrad noch darauf, dass Kaiser Karl diese Ankündigung nicht umsetzen würde, aber er irrte sich: „Am 27. Februar 1917 enthob mich Kaiser Karl von meiner Stellung als Chef des Generalstabes. Nicht lange danach entfernte er auch in Abständen meine Offiziere aus dem Armeekommando und ersetzte sie durch neue, seiner Wahl entsprechenden Kräfte. Es glich einer

48 Moritz et al. (2012), 243. 49 Kurt Peball (Hg.) (1977): Conrad von Hötzendorf. Private Aufzeichnungen. Erste Veröffentlichungen aus den Papieren des k. u. k. Generalstabs-Chefs, Wien/München, 67. 50 Ebd., 68. 51 Ebd., 87.

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völligen Auflösung des ersten Armeekommandos, das seit Kriegsbeginn in ernster, ruhiger und sachgemäßer Arbeit die ganze Schwere der Lage getragen hatte. Kaiser Karl zerstörte damit aber einen wohleingearbeiteten Apparat, dem eine reiche Erfahrung zur Verfügung stand.“52 Subtil verglich er seine Leistungsbilanz mit dem Ergebnis von 1918: „Feind nirgend auf dem Gebiete der Monarchie. Keine Landeshauptstadt vom Feind besetzt (Lemberg, Czernowitz53). Das war die Lage, wie sie militärischerseits den Staatsmännern geboten war zur Zeit, als ich von der Stelle als Chef des Generalstabes enthoben wurde.“54 Und weiter: „Was dann geschah, entzog sich meiner Kenntnis und meinem Einfluss.“55 Die Niederlage hatte also die Monarchen Kaiser Wilhelm und Kaiser Karl zu verantworten und damit deckte sich Conrads Haltung mit jener Kaiser Franz Josephs, der seinem Thronfolger Erzherzog Karl eingeschärft hatte: „Die Verantwortung trägt immer der Monarch“.56 Generalisierend kam Conrad zu einem Schluss, der wiederum auf Kaiser Karl zurückfiel: „Macht der Persönlichkeit. Bei einem kleinen Heere konnte diese wirken (Cäsar, Napoleon, Friedrich, Erzherzog Carl, Prinz Eugen). Bei den Massenheeren kann es nur im Wege der Propaganda geschehen […] Deutschland tat dies (Hindenburg, Mackensen). ÖsterreichUngarn konnte es nicht tun (Erzherzog Friedrich, ich, dynastische Rücksichten, Eifersucht in der Dynastie, Kaiser Karl!).57 Und schließlich diagnostizierte er eine zeitgeistige Entwicklung, der die soldatische Natur zum Opfer gefallen war: „Der Weltkrieg hat nicht einen einzigen bedeutenden Feldherrn produziert, keinen Alexander, keinen Hannibal und Cäsar, auch keinen Prinz Eugen, keinen Friedrich, keinen Napoleon und auch keinen Moltke. Der Krieg wurde durch die Massen und die materiellen Mitteln entschieden. Dass deren Übergewicht bei den Gegnern von Österreich-Ungarn und Deutschland lag, ist ein Werk der Diplomaten der Entente. Sie sind die eigentlichen Sieger, ihnen ist der Sieg zuzuschreiben“.58 Damit konnte er gleichsam die militärischen Fachleute entlasten und die Niederlage dem Versagen der Diplomatie zuschreiben, die gemeinsam mit den Politikern vor 1914 bereits seine Präventivschläge gegen Serbien verhindert hätten.59 52 53

Peball (1977), 73. Peball macht darauf aufmerksam, dass Czernowitz erst am 3. August 1917 endgültig zurückerobert werden konnte. Peball (1977), 326, Anm. 9. 54 Ebd., 82 55 Ebd., 78. 56 Kovács (2004), 55. 57 Peball (1977), 79. 58 Ebd., 78. 59 Ebd., 90.

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„Österreich-Ungarns Fehler war es, das serbische Übel bis zu jener Größe heranreifen zu lassen, die es bereits 1914 hatte.“ Das konnte nur das Werk der „zersetzenden Kräfte im Inneren“ sein, die Conrad schließlich auch benennen zu müssen meinte: „Tschechen, Italiener, Polen, Rumänen, Serben, Magyaren, Sokolisten, Schulvereine etc. Pfaffen, Agitatoren, Presse, Sozialdemokraten, Feindschaft gegen die Armee in Böhmen, nationale Strömungen in der Armee, Sparerei. […] Man glaubte sich bei den irredentistischen und reichsfeindlichen Nationen etc. durchzuschmeicheln, anstatt die loyalen Elemente zu heben und zu pflegen und die widerstrebenden mit aller Energie niederzudrücken. Tschechen, Italiener Serben etc. Aber auch im Inneren mit Sozialisten etc.“60 Basisdemokratisch wies Conrad im Inneren die Schuld zu, indem er festhielt, dass Erfolg und Misserfolg im Kriege „nie die Schuld eines Einzelnen“ sind, sondern eben der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft zukommen.61 Schlussendlich interpretierte Conrad die Niederlage auch als einen der Moderne geschuldeten Verlust an altfränkischer Ritterlichkeit. „Wir haben den Krieg in den Formen altherkömmlicher Sitte, unsere Gegner haben ihn mit allen Kniffen modernen Gaunertums geführt. […] Die Staaten der Entente haben würdelos das ritterliche Kleid ihrer Krieger mit dem schmutzigen Unflat einer niedrigen, verächtlichen […] Propaganda […] besudelt. Das stolze Albion hat sich nicht gescheut, den verworfenen Juden Harmsworth, der diese Propaganda am schamlosesten betrieb, zum Lord Northcliff zu machen“.62 Und diese altfränkische Ritterlichkeit habe verhindert, dass der „brutalsten und skrupellosesten Rücksichtslosigkeit unserer Gegner“ nicht Entsprechendes entgegengesetzt wurde. „U-Bootkrieg nicht von Haus aus rücksichtsloser geführt – Einschränkungen der Luftangriffe in Österreich-Ungarn – Bombardementsverbote.“63 Conrads Kritik am Kaiserhaus, besonders an Kaiser Karl, machten ihn republikskompatibel. Seine Schuldzuweisungen an vorgeblich innere Feinde ermöglichten der alten Armeeführung und ihren Offizieren die Schuld an der Niederlage abzuschieben, ohne den eigenen Anteil an dieser Niederlage einzugestehen. Conrads antidemokratische Positionierung, seine Modernisierungsphobie, sein Rassismus, sein Vulgärdarwinismus und seine Rede von dem „nach unfassbaren Gesetzen sich vollziehenden Daseinskampf “64 müssen als Bodensatz des sich nach 1918 formierenden Revisionismus und Nationalsozialismus im mitteleuropäischen Raum gelesen werden. Sein Festhalten an der Kameradschaft der alten Armee, sein Eintre-

60 Peball (1977), 91. 61 Ebd., 117. 62 Ebd., 111. 63 Ebd.. 64 Ebd., 79.

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ten für die „Obsorge“ und der Dank „für die Armee und die braven Offiziere, die sich vier Jahre lang für Kaiser und Reich geschlagen hatten“, sein Rühmen punktueller militärischer Erfolge und seine antideutschen Spitzen –„[d]ie Deutschen handeln wie ein Jockey, der gleich vom Start weg sein Pferd aufpumpt, das dann beim Tribünensprung zusammenbricht“1 – amalgamieren schließlich nochmals in der Traditionspflege des Bundesheeres der Zweiten Republik. Seit Jahresbeginn 2014 werden innerhalb des Österreichischen Bundesheeres auf Weisung der Ressortleitung Diskussionen geführt, die auf eine Änderung der Innsbrucker Kasernenbenennung nach Conrad hinauslaufen.2

1 2

Peball (1977), 121. Dieter A. Binder (2014): Die Militärhistorische Denkmalkommission. Zur Arbeit der Kommission, in: ders. / Heidemarie Uhl (Hg.): 20 Jahre Militärhistorische Denkmalkommission 1994-2014, Wien, 18–44, 44.

113 Hans Petschar

Der Kaiser Jäger. Die mediale Inszenierung von Theodore Roosevelts Europatour in Wien im April 1910

Die Berichterstattung der „Neuen Freien Presse“ Am Donnerstag, dem 14. April 1910 kündigte die „Neue Freie Presse“3 ihren Leserinnen und Lesern einen zweitägigen Aufenthalt des früheren Präsidenten der Vereinigten Staaten Theodore Roosevelt in Wien an und gab das vorläufige Programm bekannt, das vorab vom österreichisch-ungarischen Botschafter in Washington, Freiherrn Ladislaus Hengelmüller von Hengervár, mit dem amerikanischen Botschafter in Wien, Richard C. Kerens, vereinbart worden war. Mr. Roosevelt werde nach telegraphischer Mitteilung seines Sekretärs am 15. April um 7 Uhr 50 morgens am Westbahnhof eintreffen und dort von Sektionschef Ladislaus Müller von Szentgyörgy in Vertretung des Ministers des Äußeren, Graf Aehrenthal, empfangen werden – sowie vom amerikanischen Botschafter Mr. Kerens, dem österreichisch-ungarischen Botschafter v. Hengelmüller, dem Botschaftssekretär Mr. Georg Barclay Rives und dem Militärattaché Major William H. Allaire. Die amerikanische Kolonie werde durch Generalkonsul Mr. Dunby vertreten sein. Im bereitgestellten Hofwagen werde Roosevelt in sein Quartier, Abb 1: Cartoon of TR’s Reception by Crownd Heads of Europe. 16 mm Film, ca. 1 min. Unbekannter Produzent (1910?). Online: Library of Congress, URL: http://www.loc.gov/item/mp76000182/

3

Der Aufenthalt Mr. Roosevelts in Wien, in: Neue Freie Presse, 14.4.1910, 4.

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Österreich am Vorabend der Republik

das Hotel Krantz fahren. Nach dem Frühstück sei ein zweistündiger Spaziergang durch die Stadt vorgesehen, da Roosevelt den Wunsch geäußert habe, trotz seines kurzen Aufenthaltes ein Gesamtbild von der Stadt und ihren Schönheiten zu erhalten. Im 11 Uhr vormittags sei ein Besuch beim Minister des Äußeren Graf Aehrenthal vorgesehen. Zu diesem wie zu allen offiziellen Besuchen werde Roosevelt den vom Kaiser beigestellten Hofwagen benützen. Um 2 Uhr nachmittags werde Mr. Roosevelt in Privataudienz von Kaiser Franz Joseph empfangen. Die Einladung zu diesem Empfang sei an „Oberst Theodore Roosevelt“4 gerichtet. Das weitere Programm für den ersten Besuchstag sehe eine Fahrt zum Belvedere vor und dort die Abgabe der Karte für den abwesenden Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, die Besichtigung der Spanischen Hofreitschule, des Reitlehrinstitutes am Rennweg und den Besuch der Breitenseer Kavalleriekaserne. Um 8 Uhr abends gäbe der Minister des Äußeren Graf Aehrenthal ein Diner. Das endgültige Besuchsprogramm5 für den Wiener Aufenthalt Roosevelts wurde am 15. April veröffentlicht: Ankunft von Theodore in Begleitung seines Sohnes Kermit Roosevelt am Freitag, 15. April um 6 Uhr 45 mit dem Schnellzug der Südbahn, Bereitstellung einer Hofequipage, Fahrt zum Hotel Krantz und danach die festgelegten Programmpunkte des ersten Tages. Für den zweiten Besuchstag wurde nach dem Diner in Schönbrunn ein Empfang der amerikanischen Kolonie in den Räumen der Botschaftskanzlei im dritten Bezirk festgelegt und am Sonntag um 8 Uhr früh die Weiterreise nach Budapest. Abgesagt wurde aus Zeitgründen ein Ständchen des Wiener Männergesangsvereins als eigener Programmpunkt. Als Einstimmung auf den Besuch, der in den folgenden Tagen ausführlich behandelt werden sollte, bringt die einflussreichste bürgerlich-liberale Zeitung Österreichs am 15. April einen Abriss von Roosevelts Lebenslauf.6 Roosevelt, der als Wildtöter in Afrika für Sensationen gesorgt habe und nun sich auf der Heimreise befinde, wäre in jedem Fall eine Sensation für Wien, das er zum ersten Mal sehe. „Denn Roosevelt spielt in der Gigantomachie seines Vaterlandes eine so vielseitig richtungsbestimmende Rolle, daß er uns als Staatsmann wie als Mensch im höchsten Grade interessieren muß.“7 Man vergesse, dass er „zweimal mit den Befugnissen eines konstitutionellen Souveräns ausgestatteter Präsident des größten Freistaats der Welt gewesen“ sei. Allenthalben habe man „die Empfindung, als wäre er es noch, und der öffentliche Geist behandelt ihn gerne als Souverän auf Reisen“.8 Die Amerikaner erblickten in ihm „die echte, unverfälschte, unerschrockenste, modernste Verkörperung ihres selbstherrlichen Volkswesens“.9 Seine Beliebtheit sei nicht auf seine Partei beschränkt, er habe auch 4 Der Aufenthalt Mr. Roosevelts in Wien, in: Neue Freie Presse, 14.4.1910, 4. 5 Ebd., 9. 6 Ebd., 9f. 7 Ebd., 9. 8 Ebd. 9 Ebd.

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unter den Demokraten Bewunderer. Die akademische Jugend schwärme für den glänzenden Harvard-Boy von ehedem, und das Vertrauen der breiten Mittelklassen habe er durch seinen „entschlossenen, furchtlosen Kampf gegen des Goldes Uebermacht erworben“.10 Es folgt ein kurzer Abriss von Roosevelts politischem Werdegang, seine Ernennung zum 26. Präsidenten der USA am 14. September 1901 und seine Wahl zur zweiten Präsidentschaft. Nach einer Charakterisierung von Roosevelts Botschaften an das amerikanische Volk während seiner achtjährigen Präsidentschaft – „[g]lühende Liebe für die Nation und ihre Zukunft, aufrichtiger Haß gegen die Schädiger. Mit beispielloser Kühnheit kämpft er gegen die furchtbare Trusthydra“11 – kann sich die Zeitung eine weltpolitische Einschätzung von Roosevelt als Politiker nicht verkneifen: „Als Friedensvermittler nach dem russisch-japanischen Krieg gewinnt er den Nobel-Preis, aber von der entnervenden Lehre des ewigen Friedens will der Imperialist Roosevelt nichts wissen.“12 Ausführlich berichtet die „Neue Freie Presse“ am 16. April vom ersten Besuchstag.13 Angefügt an den langen Bericht ist ein Schreiben des Vorstands der Österreichischen Friedensgesellschaft an Roosevelt.14 Im Mittelpunkt des medialen Interesses steht die Audienz bei Kaiser Franz Joseph, die, wie gleich eingangs vermerkt wird, länger als eine halbe Stunde dauerte. Bereits gegen 1 Uhr hatte sich eine Menge Schaulustiger in der Burg versammelt, um Roosevelt zu sehen – unter ihnen ein Berichterstatter der „Neuen Freien Presse“. Um 4 Minuten vor 2 Uhr sei Roosevelt in Begleitung seines Sekretärs von vom Michaelertor kommend in die Hofburg eingefahren, wo er lautstark vom Publikum begrüßt worden sei. Unter der Tordurchfahrt bei der Reichskanzleistiege habe er den Wagen verlassen und sei in Rock und Zylinder, die Handschuhe in der Linken haltend, die Treppe empor gestiegen, um an den Garden vorbei in die kaiserlichen Appartements zu gelangen. Der Flügeladjutant Major Arthur Graf Manzano, so die über die Vorgänge bei Hof stets gut unterrichtete „Neue Freien Presse“, meldete den Besucher beim Kaiser an und geleitete ihn durch den großen Audienzsaal, das Audienzzimmer und den Konferenzsaal bis zum Arbeitszimmer des Monarchen. Der Kaiser wäre ihm bis zur Tür entgegen gekommen und habe ihn mit einem herzlichen Händedruck willkommen geheißen. „Der Kaiser lud Mr. Roosevelt zum Sitzen ein, nahm selbst Platz und blieb im Gespräch mit Mr. Roosevelt über eine halbe Stunde.“15 Die „Neue Freie Presse“, die ihren Leserinnen und Lesern besonders exklusive Hintergrundberichte liefern wollte, setzte fort mit einer ausführlichen Beschreibung des Besuches in 10 Der Aufenthalt Mr. Roosevelts in Wien, in: Neue Freie Presse, 15.4.1910, 10. 11 Ebd. 12 Ebd. Roosevelt erhielt den Nobelpreis 1906 für seine Vermittlungsrolle im Friedensvertrag zwischen Russland und Japan 1905. 13 Der Aufenthalt Mr. Roosevelts in Wien, in: Neue Freie Presse, 16.4.1910, 2–5. 14 Ebd., 5. 15 Ebd, 3.

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der Kapuzinergruft, der Spanischen Hofreitschule und bei den Kaiserhusaren in Breitensee. Stand der erste Teil des Berichts im Banne der kaiserlichen Audienz und des Hofzeremoniells, so stellte die „Neue Freie Presse“ in der Folge ganz den Reiter und den Militär Roosevelt in den Vordergrund. So wird der Besuch bei den Kaiserhusaren in Breitensee, für den nunmehr anstelle der Hofequipage ein Automobil bereitgestellt worden war, als jener bezeichnet, der vielleicht die eigenartigste und interessanteste Stimmung hervorgebracht habe. Die Zeitung betonte das verblüffende Interesse des sichtlich entspannten und vergnügten Roosevelts während des zweieinhalb Stunden dauernden Besuches, bei dem der bürgerliche Gast mit allen militärischen Ehren empfangen und in Mantel und Zylinder durch die Ställe der Kaserne geführt worden war, um schließlich eine Eskadron von 105 Reitern in vollständiger Marschadjustierung abzuschreiten und eine militärische Vorführung derselben präsentiert zu bekommen. Nach der Rückkehr nach Wien empfing Roosevelt doch noch eine Abordnung des Männergesangsvereins im Hotel und um 7 Uhr abends die Wiener und die internationale Presse. Kurz vor 8 Uhr fuhr Roosevelt zum Diner beim Minister des Äußeren Aloys Lexa Graf Aehrenthal. Pflichtgemäß listet die „Presse“ die erschienen Gäste auf. Um 10 Uhr 45 abends verließ Roosevelt das Palais des Grafen Aehrenthal und begab sich in dem vom alteingesessenen Wiener Adel frequentierten Jockeyclub, wo er bis halb zwölf blieb und das Besuchsprogramm des ersten Tages beendete. Auch über den Verlauf des zweiten Tages berichtete die „Neue Freie Presse“ ausführlich. Eingeleitet wird die Berichterstattung mit einem Stimmungsbild Hermann Bahrs über das Erscheinungsbild Roosevelts, der sich am Abend unter die Gäste in der amerikanischen Botschaft gemischt hatte. Bahr bringt in literarischer Form seine eigene Neugier und jene der Wiener zu Papier. Roosevelts Augen, die alles auffangen, ohne etwas über ihn selbst zu verraten, und sein Händedruck hinterlassen einen bleibenden Eindruck bei Hermann Bahr: Es sei „derselbe Händedruck, den tausende von freien Amerikanern beglückt mit nach Hause genommen haben!“ Bahr resümiert: „Roosevelt ist ein vollkommener Außenmensch. Er nimmt offenbar nur auf, frißt die ganze Welt in sich hinein und – wird froh und stark davon.“16 Im Anschluss an Hermann Bahrs Stimmungsbild wird in minutiösen Schilderungen das Besuchsprogramm des zweiten Tages nachgezeichnet. Bereits zu Mittag waren Roosevelt und sein Sohn Kermit von einem Automobilausflug zur Burg Kreuzenstein zurückgekehrt. Nach dem Dejeuner, das der amerikanische Botschafter Kerens im Hotel Bristol zu Ehren Roosevelts gab, wurde Roosevelt von dort über die Ringstraße zum nahegelegenen Palais des Fürsten Max Egon Fürstenberg, des Präsidenten der „Internationalen Jagdausstellung“ geleitet, die nahezu fertiggestellt war und die Anfang Mai eröffnet werden sollte. Vor dem Hotel hatte sich bereits eine Menge Schaulustiger angesammelt, als Roosevelt, etwas später als geplant, 16

Hermann Bahr: Blick auf Roosevelt, in: Neue Freie Presse, 17.4.1910, 2.

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auf die Ringstraße trat. „Mr. Roosevelt lächelte, als er die große Ansammlung sah, und lüftete den Hut, als ihm Hoch=Rufe und Hurras entgegenschallten.“17 Fürstenberg und der Vizepräsident der „Jagdausstellung“ Graf Franz Colloredo-Mannsfeld begleiteten Roosevelt und seinen Sohn Kermit auf der Fahrt in den Prater. Vor dem Südportal der Rotunde wartete seit 3 Uhr ein Empfangskomitee mit Mitgliedern des hochrangig besetzten Ehrenpräsidiums der Ausstellung. Graf Ernst Hoyos, der Chef des Festkomitees übernahm die Führung durch die Ausstellung für den hohen Besuch, der auch filmisch für die Nachwelt dokumentiert werden sollte, wie die „Neue Freie Presse“ vermerkt. „Der Kinematograph stand bereit, um den Moment aufzunehmen, in dem Mr. Roosevelt mit den Präsidenten der Ausstellung, Fürsten Fürstenberg, vorfahren würde. Denn der Besuch Roosevelts soll verewigt und durch ein Ausstellungsbild in der Ausstellung selbst vorgeführt werden. Deshalb begleitete der Kinematograph den Expräsidenten auf dem ganzen Rundgang.“18 Dem Berichterstatter der „Presse“ blieb das besondere Interesse Roosevelts, der bereits im Vorfeld seines Wienbesuchs den Wunsch geäußert hatte, die Ausstellung zu sehen, nicht verborgen. Angetan vom gegenseitigen Einverständnis zwischen den aristokratischen Jagdherren und dem republikanischen Gast, wird dieser gleich vom früheren wieder zum zukünftigen Präsidenten erkoren. „Die Harmonie, welche durch diesen Gedankenaustausch zwischen dem früheren und künftigen Präsidenten und den verschiedenen anwesenden Jagdherren hergestellt worden war, zeigte sich während des ganzen Besuches, der eine Stunde währte.“19 Roosevelt zeigte sich äußert angetan von den einzelnen Länderpavillons, die ihm präsentiert wurden, und überraschte beim bosnischen Pavillon mit der einzigen politischen Anspielung seines Wienbesuchs, indem er sagte: „Hier befinden wir uns im neuesten Österreich, was?“20 Auf die ausführliche Berichterstattung über den Besuch der Jagdausstellung folgt ein höchst formeller Bericht über die Hoftafel in Schönbrunn mit Auflistung aller geladenen Gäste, der Sitzordnung, des Menüs und des musikalischen Begleitprogramms. In krassem Gegensatz zum vollkommen unkommentierten Bericht über das Diner bei Hof steht die Darstellung des Empfangs in der amerikanischen Botschaft. Um 9 Uhr abends traf Roosevelt zum Empfang der amerikanischen Kolonie in den Räumen der Botschaft in der Strohgasse ein. Zahlreiche Fiaker und Automobile hatten in der Strohgasse und den benachbarten Straßen Aufstellung genommen und bezeugten das große Interesse der amerikanischen Landsleute am Empfang des Expräsidenten. Der Berichterstatter der „Neuen Freien Presse“ beschreibt despektierlich den Ablauf des Empfangs als ein demokratisches Chaos, das gegensätzlicher zum Zeremoniell in Schönbrunn nicht sein könnte: 17 Der Aufenthalt Mr. Roosevelts in Wien, in: Neue Freie Presse, 17.4.1910, 3. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd.

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„Der Empfang fand in den vier, sonst als Bureaux benützten Räumlichkeiten im Hochparterre statt, die mit dem Sternenbanner und mit Lorbeerbäumen in Kübeln dekoriert waren. Es waren keine Einladungen verschickt worden, jeder Amerikaner und jede Amerikanerin waren willkommen. Es müssen aber auch viele Nichtamerikaner diese Gastfreundschaft in Anspruch genommen haben, denn so groß wie das Publikum beim Empfang in der Strohgasse war, kann die amerikanische Kolonie unmöglich sein. Es herrschte ein geradezu lebensgefährliches Gedränge und jeder machte in echt demokratischer Weise, was er wollte.“21 Im allgemeinen Gedränge wäre es unmöglich gewesen, im Winterrock oder Abendmantel auszuhalten, die Überkleider wurden abgenommen und in eine Ecke geworfen, wo sie sich türmten. Inmitten der beängstigenden Menschenmasse kam endlich auch der Wiener Männergesangsverein zu seinem Auftritt und gab die bekannten Weisen „Wenn zwei sich gut sind“ von Kremser, das „Wiegenlied“ von Brahms und Orthegravens „Der Jäger aus Kurpfalz“ zum Besten. Roosevelt bedankte sich höflich und begab sich, begleitet von Botschafter Kerens, in ein anschließendes Zimmer, wo „die Zeremonie des ‚Handshaking‘ stattfand, die den eigentlichen Kern des Empfanges bilden sollte“.22

Die Wiener Tagespresse Die ausführliche Berichterstattung in der „Neuen Freie Presse“ über den Aufenthalt Roosevelts in Wien war kein Einzelfall. Auch die übrige Wiener Presse berichtete tagesaktuell und bewies, dass der Besuch Roosevelts in Wien ein Medienereignis ersten Ranges war. Dabei wurde Roosevelt, je nach politischer Blattlinie, durchaus unterschiedlich charakterisiert. Das „Neue Wiener Journal“ berichtet ähnlich ausführlich wie die „Neue Freie Presse“ und ließ von Anfang an keinen Zweifel an der positiven Einschätzung des früheren amerikanischen Präsidenten als überzeugten Demokraten, der in den Vereinigten Staaten für das Volk und gegen die Trusts und gegen den amerikanischen Rassenhass gekämpft habe, sich international um den Frieden bemüht und sich das Wohlergehen der Völker zum Ziel gesetzt habe. Roosevelt werde sich gewiss sehr wohl fühlen in einem Land, das die Herzlichkeit und den Patriotismus, den er habe und liebe, ebenso kenne. Das liberale Blatt wünscht sich Roosevelts „Amerikanismus“, seinen glühenden „Eifer für Demokratie, Gleichheit des Rechtes und der Stände“23 auch für Österreich, er möge ihn als Geschenk zurücklassen, denn dies fände man hier nicht. Das „Neue Wiener Tagblatt“ berichtet in mehreren Stimmungsbildern vom 14. bis zum 17. April sogar noch ausführlicher als die „Neue Freie Presse“ und zeichnete ein überaus positives Porträt Roosevelts, der eine moderne, zugleich „romantische Erscheinung“24 sei. Er komme 21 Der Aufenthalt Mr. Roosevelts in Wien, in: Neue Freie Presse, 17.4.1910, 4. 22 Ebd. 23 Theodore Roosevelt in Wien, in: Neues Wiener Journal 15.4.1910, 1–2, 2. 24 Roosevelt in Wien, in: Neues Wiener Tagblatt 15.4.1910, 1.

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in ein Land, dessen Bewohner die Gabe hätten, „so starke und originelle Persönlichkeiten zu erkennen“,25 und in eine Stadt, die „noch immer inmitten aufregendster Kämpfe, das Gefühl für politische Ästhetik nie eingebüßt“26 habe. Im Gegensatz zum den liberalen Blättern, die Österreich, den Kaiser und den hohen Gast romantisierten, betonte die katholische „Reichspost“, die am 15. April Roosevelt auf der Titelseite ihre Aufwartung machte, ganz andere Werte: ein angesehener, fremder Gast sei dieser Amerikaner, dem „Ehrungen fast wie einem gekrönten Haupte oder einem aktiven republikanischen Präsidenten“27 bereitet würden. Die „Reichspost“ beginnt die Charakterisierung Roosevelts mit kritischen Hinweisen auf die Absage der Papstaudienz und Roosevelts Kontakte zu den Freimaurern in Rom, um schließlich mit einigen Zitaten über die Familie als Zelle des Staates, über die Rolle der Frau und über Roosevelts „Feldzug gegen die Trustmagnaten“28 die christliche Wertehaltung hervorzuheben, die ihn über alle Entfernung allen näher bringe, „die die wahre Freiheit und das Glück ihres Volkes wollen“.29 Und keinesfalls, so die deutschlandfreundliche Reichspost, dürfe vergessen werden, „daß er es war, der mit möglichster Beschleunigung die nordamerikanische Flotte ausbaute und freundschaftliche Beziehungen zu Deutschland knüpfte, um den englischen Übermut nicht in den Himmel wachsen zu lassen“.30 Die einzige österreichische Zeitung, die einen kritischen Bericht über Roosevelt und seinen Wienbesuch bringt, ist wenig überraschend die „Arbeiterzeitung“. Am 16. April erscheint in den Tagesneuigkeiten ein ironischer Kommentar mit dem Titel „In der Nähe“.31 Aus der Ferne stelle man sich den Präsidenten der Vereinigten Staaten vor „als die verkörperte Demokratie, allem äußeren Prunk abhold, allem monarchischen Zeremoniell lächelnd überlegen“.32 In der Nähe, in Wien, lasse sich „Herr Theodor Roosevelt, der einmal Präsident war [...] empfangen, behandeln, begrüßen ganz wie unsere europäischen Potentaten“.33

Roosevelt im Bild Der Widerspruch zwischen dem demokratischen Image des Expräsidenten und seinem so gar nicht republikanischen, sondern höchst herrschaftlichen Empfang in Wien findet ein visuelles Echo in der Boulevardpresse und in den satirischen Blättern. Die „Neue Wiener Zeitung“34 25 Roosevelt in Wien, in: Neues Wiener Tagblatt 15.4.1910, 1. 26 Ebd. 27 Roosevelt in Wien, in: Reichspost, 15.4.1910, 1–2, 2. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Tagesneuigkeiten. In der Nähe, in: Arbeiterzeitung 16.4.1910, 5. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Der Einzug Roosevelts in Wien, in: Die Neue Wiener Zeitung, 15.4.1910, 1–2.

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Abb 2: Der Einzug Roosevelts in Wien, Die Neue Wiener Zeitung 15.4.1910, 1.

bringt am 15. April auf der Titelseite die Karikatur eines amerikanischen Zeichners, der Roosevelts triumphalen Einzug in Wien zeigt: Hoch zu Ross und von einem Trommler in Frack und Zylinder angekündigt, reitet Colonel Roosevelt in Safarimontur und Tropenhelm in Wien ein. In seinem Gefolge befindet sich einer Schar von Afrikanern mit exotischen Tieren – Giraffe, Kamel und Elefant, sowie Löwen und Leoparden, das Großwild, dem Roosevelt in Afrika nachjagte. Links im Bild jubelt das Wiener Bürgertum dem Eroberer zu, im Hintergrund lächelt der Turm des Stephansdoms und breitet seine Arme zum Empfang aus. Am 16. April illustriert die „Neue Wiener Zeitung“ das Zusammentreffen Roosevelts mit Außenminister Aehrenthal und unterstreicht zumindest bildlich die politische Dimension des Besuches, die auch im Blattinneren angedeutet wird: „Unser Titelbild zeigt den Minister Aehrenthal im Gespräch mit Mr. Roosevelt, in dem nicht nur der ehemalige Präsident der nordamerikanischen Union, sondern wahrscheinlich auch der zukünftige Leiter Nordamerikas zu erblicken ist.“35 Die „Neue Wiener Zeitung“ setzt ihre bildliche Darstellung des Roosevelt-Besuches auch am 17. April fort mit einer Darstellung des Besuches in der Spanischen Hofreitschule und einer Straßenszene vor dem Hotel Krantz. Die ausführlichste Bildberichterstattung in der Tagespresse erfolgte in Form von Strich35

Roosevelt beim Grafen Aehrenthal, in: Die Neue Wiener Zeitung, 16.4.1910, 1 u. 3.

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Abb 3: Roosevelt beim Grafen Aehrenthal, Die Neue Wiener Zeitung, 16.4.1910, 1.

zeichnungen, die teilweise Fotografien nachempfunden waren, durch die „Illustrierte Kronenzeitung“.36 Am 14. April erschienen als eine Art Vorankündigung eine Zeichnung, die Roosevelt mit Familie auf der Überfahrt von Afrika nach Europa zeigt, und ein Porträt. Am 15. April folgen eine Genreszene „Mahlzeit in Wildwest“ und eine Zeichnung, die die Ankunft Roosevelts in Wien, der grüßend mit der Hand zum Hut greift, zeigen soll. Am 16. November folgten ein Porträt, eine Genreszene aus Venedig und eine nach einer fotografischen Aufnahme von Carl Seebald gezeichnete Darstellung der Ankunft Roosevelts in der österreichischen Grenzstadt Cervigniano. Am 17. April erschien auf dem Titelblatt eine Genrezeichnung vom Besuch des „Oberst der ‚Rough Rider‘“ bei den Kaiserhusaren und im Blattinneren einen aktiven Kaiser Franz Joseph, der mitten in seinem Arbeitszimmer stehend Roosevelt die Hand schüttelt. Die beiden fiktionalen Darstellungen werden ergänzt durch die Nachzeichnung einer Fotografie, die Roosevelt vor dem Hotel Kranz auf dem Weg zur Audienz beim Kaiser zeigt. Die einzige bekannte repräsentative bildliche Darstellung der Privataudienz Roosevelts bei Kaiser Franz Joseph findet sich einige Tage später am 20. April auf dem Titelblatt des Wochenblattes „Wiener Bilder“.37 Die zeichnerische Darstellung ist den schriftlichen Berichten in 36 Illustrierte Kronen Zeitung, 14.4.1910, 8; 15.4.1910, 3–4; 16.4.1910, 3–6; 17.4.1910, 1–3. 37 Theodore Roosevelt bei unserem Kaiser, in: Wiener Bilder, 20.4.1910, 1. Ein Ausschnitt dieser Zeichnung wur-

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der Tagespresse nachempfunden und zeigt Roosevelt und Kaiser Franz Joseph im Gespräch, Roosevelt mit einer erklärenden Geste, Franz Joseph aufmerksam und nach vorne gebeugt zuhörend. Auch die wichtigsten satirischen Blätter widmen dem Besuch Berichte. „Die Muskete“ bringt eine Karikatur von Fritz Schönpflug, der Colonel Roosevelt im Sturm an der Garde vorbei galoppieren lässt. Neben der Karikatur bringt ein Gedicht die grundsätzliche Problematik für die von Standesdünkeln bei Hof geprägten Wiener auf den Punkt, wie man einen Mann empfangen könne, „der gar nichts ist und nur was kann“.38 Ganz anders präsentiert „Der Kikeriki“39 in einer Karikatur in vier Bildern dem gerade in Wien angekommenen Theodore Roosevelt die politische Lage in Wien. Zunächst werden Roosevelt Abb 4: Roosevelt in Audienz beim Kaiser, Illustrierte Krodie Vertreter der internationalen und nenzeitung, 17.4.1910, 3. der Wiener Presse vorgestellt, die ikonographisch als bürgerlich und jüdisch gezeichnet werden. Auf die Vorstellung eines Herrn Brzesina, dessen Vorfahren bereits Columbus in Amerika begrüßt hätten, wird der große „Sozi Schuhmeier“,40 von dem ganz Ottakring spreche, vorgeführt. Im letzten Bild wird die politische Botschaft vermittelt: Roosevelt besucht das Grab Luegers, auf dem ein Kranz mit der Schleife Wilhelm II. und ein Kranz der Stadt Wien niedergelegt sind. Andächtig lächelnd beugt sich der Kikeriki über das Grab, während Roosevelt die Worte in den Mund gelegt werden: „Schade um Dr. Lueger, solch einen Mann könnte Amerika auch brauchen.“41 Der „Kikeriki“, noch ganz in aggressiver Trauerstimmung um den kürzlich verstorbenen Bürgermeister de auch in die nostalgischen Erinnerungen von des Kammerdieners Eugen Ketterl aufgenommen: Eugen Ketterl (1980): Der alte Kaiser. Wie nur Einer ihn sah. Der wahrheitsgetreue Bericht des Leibkammerdieners Kaiser Franz Josephs I., Wien et al., 141. 38 Roosevelt, in: Die Muskete, 21.4.1910, Beiblatt 1. 39 Präsident Theodor Roosevelt in Wien, in: Kikeriki, 17.4.1910, 8. 40 Ebd. 41 Ebd.

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123 Abb 5: Theodore Roosevelt bei unserem Kaiser, Wiener Bilder, 20.4.1910, 1.

Abb 6: Roosevelt, Die Muskete, 21.4.1910, Beiblatt 1.

Karl Lueger, zeichnet ein mit antisemitischen Anspielungen gespicktes Stimmungsbild in Wien im April 1910, das die Ankunft des Expräsidenten Roosevelt mit dem Tod Luegers direkt in Verbindung bringt.

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Abb 7: Präsident Theodor Roosevelt in Wien, Kikeriki, 17.4.1910, 8.

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125 Abb 8: Expräsident Roosevelt in Wien, Das Interessante Blatt, 21.4.1910, 10.

Abb 9: Roosevelts Aufenthalt in Budapest: Der amerikanische Expräsident mit den Mitgliedern der Interparlamentarischen Friedenskonferenz vor dem ungarischen Parlamentsgebäude, Das Interessante Blatt, 28.4.1910, 8.

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Abb 10: Expräsident Roosevelt in Berlin: Roosevelt verläßt nach seinem berühmt gewordenen Vortrag über Weltkultur an der Seite des amerikanischen Botschafters Hill die Berliner Hochschule, Das Interessante Blatt, 19.5.1910.

Umfangreiche Bildberichte mit Fotografien über den Besuch Roosevelts in Wien brachten einzig die illustrierten Wochenzeitungen „Das Interessante Blatt“42 und „Österreichs Illustrierte Zeitung“43. Beide Massenblätter44 kündigten den Besuch Roosevelts mit Agenturbildern an und brachten vom Wiener Aufenthalt eine Reihe von Fotos, Porträtaufnahmen, Ankunftsszenen vor dem Hotel Kranz, in Breitensee und auf Burg Kreuzenstein beim Grafen Hans Wilczek, der den Besuch von der Firma Lechner fotografisch dokumentieren ließ. „Das 42 Das Interessante Blatt, 14.4.1910, 2; 21.4.1910, 9, 10. Weitere Berichte mit Fotos über Roosevelts Aufenthalt in Ungarn und Berlin erscheinen am 28.4.1910 und am 19.5.1910. 43 Österreichs Illustrierte Zeitung, 17.4.1910, 29; 24.4.1910, 1. 44 Zur Konkurrenz der illustrierten Massenblätter mit der Tagespresse siehe: Anton Holzer (2014): Rasende Reporter. Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945, Darmstadt, 22–35.

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Abb 11–12: Theodor Roosevelt und sein Sohn Kermit während der Zollrevision in der österreichischen Grenzstadt Cervigniano. C. Seebald, Wien. Der Besuch des einstigen amerikanischen Staatsoberhauptes auf dem Schlosse Kreuzenstein, R. Lechner, Wien, Österreichs Illustrierte Zeitung, 24.4.1910, 1.

Abb 13: Graf Wilczek begrüßt Roosevelt auf Burg Kreuzenstein, R. Lechner, Wien, 16.4.1910.

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Interessante Blatt“ brachte in der Folge auch noch weitere Bildberichte aus Budapest, Berlin und den anderen europäischen Stationen von Roosevelts Europatour.

Die amerikanische Sicht auf Österreich-Ungarn Wenn man die Reaktionen der Wiener Presse auf den Besuch Roosevelts in Wien betrachtet, so scheint es, als hätte die nicht alltägliche Visite durchaus eine adäquate und differenzierte Medienberichterstattung in Text und Bild erfahren. Ein Blick auf die amerikanische Berichterstattung und den allgemeinen Kontext, in dem Roosevelts Europatour stand, zeigt, dass dieser Eindruck trügt, ja dass Entscheidendes versäumt wurde. Noch im letzten Jahr seiner Präsidentschaft hatte Theodore Roosevelt eine 10-monatige Safari in Afrika und anschließend eine Tour durch Europa geplant und von seinem Büro organisieren lassen. Das ursprünglich als private Reise geplante Unternehmen entwickelte sich in eine völlig andere Richtung als das Smithonian Institute und private Geldgeber die afrikanische Safari und die Europareise finanzierten. Der bei weitem wichtigste und prominenteste private Geldgeber war Andrew Carnegie, der in Roosevelts Europatour eine Friedensmission sah und sich von ihm und vom deutschen Kaiser Wilhelm II. Unterstützung für seine Bemühungen um den Weltfrieden erwartete. Das wirkliche Großwild, das er jagen sollte, sagte Carnegie dem Präsidenten, wären der deutsche Kaiser, Frankreich, Russland und die großen Tiere im britischen Kabinett.45 Roosevelt blieb Carnegie gegenüber relativ reserviert und konzentrierte sich zunächst auf die Großwildjagd in Afrika, auf die er sich akribisch vorbereitete. Er erfüllte sich mit seinem great adventure einen lang gehegten Traum, als Jäger und Naturliebhaber durch die afrikanische Wildnis zu streifen und – nach seinem Verständnis – gleichsam im Zeitraffer die Stufen der Natur- und Menschheitsgeschichte zu durchlaufen und zu erleben. Seine von den internationalen und den amerikanischen Medien zu einem Großereignis stilisierte Reise bot Roosevelt die Gelegenheit, gegenüber der amerikanischen Öffentlichkeit, die Möglichkeit seines politischen Comebacks zu lancieren und in Europa in öffentlichen Auftritten an den Universitäten in Berlin, Paris und Oxford und in Oslo sein von Imperialismus und „demokratischem Nationalismus“ geprägtes Verständnis der Zivilisationsentwicklung und daraus abgeleitet sein Verständnis des Verhältnisses von Individuum und Staat in einer demokratischen Gesellschaft zu kommunizieren. Noch vor seiner Abreise, die er unmittelbar nach dem Ausscheiden aus dem Amt 1909 antrat, hatte Roosevelt seine europäischen Reden46 vorbereitet: für London eine Rede über „Biological Analogies in History“, für die Pa45 „[T]he ‚big game he should hunt’”: Carnegie an Morley, 20.6.1908, Vol. 167, Carnegie Papers, Library of Congress. Zit. n. J. Lee Thompson (2010): Theodore Roosevelt abroad: nature, empire, and the journey of an American president, New York, 11. 46 Die bereits 1910 publizierten Reden Roosevelts sind ebenso wie Fotografien, Filme und andere Dokumente elekt-

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riser Sorbonne über „Citizenship in a Republic“, für Berlin, wo ihm in Anwesenheit des Kaisers das Ehrendoktorat der Universität verliehen werden sollte, eine Rede über „The World Movement“, sowie im Nationaltheater von Oslo eine kurze Ansprache über „International Peace“ vor dem Nobelpreiskomitee. Roosevelts Einwilligung zu einem informellen Treffen mit König Edward VII. in England und mit Kaiser Wilhelm II. in Berlin führte zu einer Einladungsflut der übrigen europäischen Königshäuser, die von den jeweiligen Außenministerien überbracht wurden. In einem langen Brief an den befreundeten englischen Historiker Sir George Trevelyan47 sollte Roosevelt im Oktober 1911 leicht ironisch seine Eindrücke und Erfahrungen mit den europäischen Regenten und Diplomaten niederschreiben. In Wien48 amüsierte er sich über die Hocharistokraten im Jockeyclub, die in ihm einen Verbündeten sahen, da er in den USA gegen den neuen Geldadel kämpfte. Roosevelt aber schienen sie in einer Welt zu leben, die von der seinen so weit entfernt sei, wie Frankreich vor der Französischen Revolution. Auch die vielen schaulustigen Zuschauer, die auf der Fahrt nach Schönbrunn die Straßen säumten, wären nicht im mindesten bereit gewesen, ihn als Privatperson zu sehen und hätten in ihm, ebenso wie die meisten Staatsmänner, noch immer den großen amerikanischen Führer gesehen, der auch in Zukunft die gleiche bedeutende politische Rolle spielen werde, die er in der Vergangenheit hatte. Roosevelts Aufzeichnungen waren von ihm als private Erinnerungen gedacht, die zu Lebzeiten nicht veröffentlicht werden sollten. Dennoch sorgte er sehr wohl dafür, dass seine Eindrücke aus Europa umgehend den Weg in die amerikanischen Medien fanden. Auf seiner Safari hatte Roosevelt sich noch erfolgreich bemüht, nicht fortdauernd von einer Meute von Journalisten begleitet zu werden. Sein Sohn Kermit, der ihn auf seiner Reise begleitete, dokumentierte die afrikanische Safari fotografisch und Roosevelt selbst verfasste exklusiv Reiseberichte für „Scribner’s Magazine“, an das er die Publikationsrechte für 50.000 Dollar verkauft hatte. Noch 1910 brachte der Verlag Roosevelts Berichte mit Fotografien Kermits als Buch auf den Markt, das alsbald zum Bestseller avancierte.49 Am Ende der afrikanischen Safari, als das Schiff Dal mit den illustren Reisenden im März 1910 Khartoom erreichte, wartete bereits eine Schar von Journalisten, Fotografen und Filmteams, um Roosevelt zu empfangen, allen voran John „Cal“ O’Laughlin von der „Chicago ronisch verfügbar auf der Webseite „Almanac of Theodore Roosevelt“, URL: http://www.theodore-roosevelt.com/ trspeeches.html (abgerufen am 4.11.2014). 47 Theodore Roosevelt an Georg Otto Trevelyan, 1.10.1911, Series 3A, Reel 369, Theodore Roosevelt Papers. (elektronisch verfügbar, URL: http://www.theodore-roosevelt.com/images/research/speeches/trlettergeorgeottotrevelyan.pdf (abgerufen am 4.11.2014). Hier zit. n. Joseph Bucklin Bishop (1920): Theodore Roosevelt and his Time in his own letters, Bd. 2, New York, 185–261. 48 Bishop (1920), 215–217. 49 Theodore Roosevelt (1910): African Game Trails. An account of the African wanderings of an American hunternaturalist, 2 Bde., New York.

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Tribune“, der Roosevelt während des Endes seiner Präsidentschaft als Sekretär gedient hatte.50 O’Laughlin agierte auch während der Europatour als Roosevelts Sekretär, steuerte die Berichterstattung in den USA und inszenierte diese in seinen Reportagen als Triumphzug eines modernen demokratischen Führers durch die alte europäische Welt. Das amerikanische Medieninteresse war enorm, da man fest mit einem Widereinstieg Roosevelts in die Politik rechnete und mit seiner Wiederkandidatur 1912. Ebenfalls noch 1910 publizierte O’Laughlin sein Buch „From the Jungle through Europe with Roosevelt“,51 das gemeinsam mit Roosevelts eigenem Buch über die afrikanische Jagd für lange Zeit die einzige längere Publikation über Roosevelts Reise durch Afrika und Europa blieb. Im „San Francisco Call“ erschien am 16. April ein telegraphisch übermittelter Artikel von O’Laughlin über den Wiener Aufenthalt Roosevelts unter dem Titel „Austria Pays Royal Honors to Roosevelt“,52 datiert mit 15. April. O’Laughlins Resümee des ersten Besuchstags in Wien: „Here in the most aristocratic city in the most aristocratic country in the world, Theodore Roosevelt, a democratic representative of the most democratic republic that ever existed, was received imperially by the government and enthusiastically by the people.“53 Roosevelts Aufenthalt wäre nicht wirklich angenehm für die österreichische Aristokratie, die im Untergang begriffen sei. Roosevelt dagegen verkörpere die triumphierende Macht der Demokratie, die das Volk selbst in sich trage. Dies werde durch das Volk auch wahrgenommen und durch Tausende Menschen unter Beweis gestellt, die Roosevelt vor dem Hotel und in der kaiserlichen Burg jubelnd begrüßt hätten. Ähnliche Berichte mit demselben Tenor erschienen in anderen amerikanischen Blättern und vor allem in der „New York Times“,54 die ausführlich über den Besuch und über das Zeremoniell beim Diner in Schönbrunn berichtete. Insgesamt erscheint Österreich-Ungarn in der gesamten amerikanischen Berichterstattung über Roosevelts Europareise als das rückwärtsgewandteste Land Europas: Von allen besuchten Staaten ist Österreich-Ungarn jener Staat, der den stärksten Gegensatz zu den Vereinigten Staaten darstellt, den man sich vorstellen kann: Aristokratische Herrschaft versus Demokratie, devote Untertanen versus freie Bürger, Monarchie versus Republik, Vergangenheitsorientierung versus Zukunftsorientierung. Nur zu einem Teil wurde dieses mentale Bild einer ganz in der Vergangenheit lebenden Welt von Roosevelts Sprachrohr O’Laughlin geprägt. Einen wesentlichen Beitrag leisteten die österreichisch-ungarischen Diplomaten und die Verantwortlichen bei Hof, indem sie teils jovial, teils devot und verliebt in die Etikette

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Thompson (2010), 101. John Callan O’Laughlin (1910a): From the Jungle through Europe with Roosevelt, Boston. John Callan O’Laughlin (1910b): Austria pays royal honors to Roosevelt, in: San Francisco Call, 16.4.1910, 9. O’Laughlin (1910b), 9. New York Times, 14., 16. und 17.4.1910.

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und das Zeremoniell einen halboffiziellen Staatsbesuch für einen privaten Gast organisierten, den man nicht adäquat einordnen konnte und dem man, wie Roosevelt gegenüber Trevelyan bemerkte, keinen Augenblick während seines Aufenthaltes eine Verschnaufpause gönnte. In seinem Brief an Trevelyan gab Roosevelt nicht nur seinen persönlichen Eindruck von Kaiser Franz Joseph wieder, sondern auch Inhalte der Konversation, die nicht in die Medien gelangten. „The Emperor was an interesting man. With him I had to speak French. He did not strike me as a very able man, but he was a gentleman, he had good instincts, and in his sixty years’ reign he had witnessed the most extraordinary changes and vicissitudes. He talked very freely and pleasantly, sometimes about politics, sometimes about hunting; and after my first interview, when he got up to tell me ‚good-by’ he said that he had been particularly interested in seeing me because he was the last representative of the old system, whereas I embodied the new movement, the movement of the present and the future, and that he had wished to see me as to know for himself how the prominent exponent of that movement felt and thought.“55 Mit der Nichtveröffentlichung des Gesprächsinhaltes zollte Roosevelt dem Kaiser, der ihn als Privatperson in seinem Arbeitszimmer empfangen hatte, einen gewissen Respekt, auch wenn Franz Joseph ihm ganz im Unterschied zu Wilhelm II. als nicht besonders fähig erschien. Der Kaiser hingegen bezeugte, wie aus Roosevelts Aufzeichnungen hervor geht, nicht nur sein Interesse an der Person Roosevelts, sondern auch an seinen politischen Ansichten. Er bewies damit in mancherlei Hinsicht mehr Gespür für die politische Dimension von Roosevelts Besuch in Europa als die österreichischen Tageszeitungen und Diplomaten, die vor allem sich selbst und ihr eigenes politisches Selbstverständnis zelebrierten. Besonders fatal erwies sich für das Image Österreich-Ungarns, dass sich Fremd- und Selbstbild im Wesentlichen deckten: Österreich-Ungarn erscheint in der Wiener Presse im April 1910 nicht anders als in der amerikanischen Presse als eine Welt von gestern, die ganz und gar in der Vergangenheit lebt und sich der Moderne verweigert. Im Unterschied zu allen anderen europäischen Ländern, in denen der Besuch Roosevelts in zahlreichen Fotografien und vor allem in Cartoons und Filmberichten festgehalten wurde, sind aus Wien nur eine wenige fotografische Aufnahmen, die von der Tagespresse als Vorlagen genützt wurden, und kein einziger Filmbeitrag überliefert.56 Während von den Aufenthalten Roosevelts in Paris, Dänemark, Norwegen, Deutschland 55 Bishop (1920), 216. 56 Bezeichnenderweise ist es der (amerikanische?) Vertreter der internationalen Presse, der in der Karikatur des „Kikeriki“ als einziger Journalist eine Kamera in Händen hält. Die in der „Neuen Freien Presse“ beschriebenen Filmaufnahmen durch den Kinematographen sind in österreichischen Archiven nicht erhalten. Im Gegensatz zu Österreich-Ungarn hatte in Berlin Kaiser Wilhelm II. einen eigenen Hoffotografen beauftragt, um den Besuch Roosevelts zu dokumentieren und die Fotos eigenhändig kommentiert. Roosevelt behielt diese als Geschenk. Siehe dazu: Henry F. Pringle (1931): Theodore Roosevelt. A Biography, New York, 517–518.

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und England umfangreiche Filmberichte57 für die amerikanischen Kinos hergestellt wurden, musste ein amerikanischer Filmbericht über Roosevelts Besuch in Wien mit Textinserts das Auslangen finden, die als Zwischentitel zu alten Filmausschnitten mit Kaiser Franz Joseph, die keinerlei Bezug zum Besuchs Roosevelts hatten, eingeblendet wurden. 58 Die amerikanischen Hersteller rächten sich mit einem Titelinsert, das über der amerikanischen Flagge eingeblendet wurde: „AUSTRIA HUNGARY. In Vienna, a democratic representative of a democratic Republic is received imperially by representatives of the most autocratic government in Europe.” 59 Der Besuch Theodore Roosevelts hätte Österreich-Ungarn die einzigartige – und wie die Zukunft zeigen sollte, vielleicht letzte – Gelegenheit geboten, sich der amerikanischen Öffentlichkeit als moderner europäischer Staat zu präsentieren. Die verantwortlichen Politiker,60 der Hof und die bürgerliche Wiener Presse versagten dabei völlig. Im Unterschied zu anderen Ländern gab es keinen offiziellen Fotografen, der die Ereignisse bildlich festgehalten hätte und die Presse begnügte sich mit schriftlichen Berichten und zeichnerischen Darstellungen. Einzig die Bildillustrierten lieferten eine moderne Berichterstattung mit einigen wenigen Fotografien aus Wien, die aber im Wesentlichen auf Ankunfts- und Abschiedsszenen beschränkt blieben. Aber selbst die wichtigsten Bildillustrierten entsandten keine eigenen Fotografen, sondern begnügten sich mit einigen wenigen Aufnahmen der Wiener Fotofirma Lechner. Die Verantwortlichen bei Hof unternahmen alles, um das Zeremoniell hervorzukehren und eine moderne Berichterstattung zu verhindern. Für Kaiser Franz Joseph waren eine Abkehr von der Etikette und ein vergleichsweise formloser Umgang mit Roosevelt, wie ihn der italienische König Viktor Emanuel III. und der deutsche Kaiser Wilhelm II. pflegten, ausgeschlossen. Er tat immerhin sein Möglichstes, um die Form eines Privatbesuches zu wahren und gleichzeitig den Gast in Ehren zu empfangen. Ganz ungewöhnlich und voller Wertschätzung für die Persönlichkeit ließ Kaiser Franz Joseph den passionierten Jäger Roosevelt am Tag nach seiner Ankunft durch Obersthofmeister Alfred Montenuovo zu einer Verlängerung seines Aufenthaltes und zu einer privaten Jagd einladen. Roosevelt, der aufgrund seines festgelegten Programms sich mit dem Ausdruck „herzlichsten und innigsten Dank(es)“61 außer

57 Elektronisch verfügbar in der Library of Congress unter: TR’s return from Africa (2), URL: http://lccn.loc.gov/ mp76000377 (abgerufen am 4.11.2014). 58 (O. J.): Emperor Francis Joseph of Austria greeted by his people, 16 mm Film, 1:18 min., elektronisch verfügbar in der Digital Library Collection „Theodore Roosevelt on Film“ der Library of Congress, URL: http://www.loc.gov/ item/mp76000311/ (abgerufen am 4.11.2014). 59 Emperor Francis Joseph (o. J.). 60 Allen voran der Botschafter in Washington Hengelmüller, der mit Sicherheit Roosevelts Einschätzung ÖsterreichUngarns kannte, sich in der Vorbereitung des Besuches aber vor allem als Botschafter Ungarns gerierte und seine ganze Energie darauf setzte, Roosevelt von Wien möglichst schnell nach Budapest zu lotsen. 61 Roosevelt in Wien, in: Neues Wiener Tagblatt, 17.4.1910, 9.

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Stande sah, die Einladung anzunehmen, sandte im November ein persönliches Erinnerungsstück an den Wiener Hof: ein mit der Nr. 10 bezeichnetes und signiertes Exemplar62 der zweibändigen Prachtedition seiner „African Game Trails“ mit einer persönlichen Widmung an den Kaiser: „To His Imperial and Royal Majesty Franz Josef I Emperor of Austria and Apostolic King of Hungary, one of the foremost of the world’s sportsmen, with the esteem and regard of Theodore Roosevelt Nov Ist 1910”

Abb 14–16: Theodore Roosevelt (1910): African Game Trails, New York, Widmung an Kaiser Franz Joseph I.

Postscriptum Theodore Roosevelts „African Game Trails“ wurden mit noch unaufgeschnittenen Seiten am 12. Jänner 1911 mit dem Provenienzvermerk „Kabinett des Kaisers“ an die k. u. k. FamilienFideikommissbibliothek, die Privatbibliothek des Kaisers abgegeben. Ob Kaiser Franz Joseph die Bände mit der Widmung je vorgelegt worden sind, ist nicht überliefert.

62 Roosevelt (1910), Exemplar Nr. 10, Bd 1, Widmung, Österreichische Nationalbibliothek, Fideikommissbibliothek 45.573. Die habsburgische Familien-Fideikommissbibliothek wird derzeit durch die Österreichische Nationalbibliothek neu katalogisiert und in einem wissenschaftlichen Projekt des Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung erforscht (FWF Projekt P 26943-G18). Ich bedanke mich bei Frau Mag. Michaela Ortner und den Mitarbeitern des Katalogisierungsprojektes für den Hinweis auf das Widmungsexemplar Roosevelts an Kaiser Franz Joseph.

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„Welcher Weg ist einzuschlagen …?“1 Spurensuche nach Isa Strasser, geb. von Schwartzkoppen (1891–1970)

Am Samstag, dem 10. Juni 1922 fand bei der Großmarkthalle in Wien eine Protestaktion statt. Rund 200 Frauen scharten sich um eine Rednerin, die „im Kommunistischen Sinne“ gegen die Teuerung wetterte. Ihr Name war Isa Strasser. Die Versammlung unter freiem Himmel war der Behörde nicht gemeldet, die Agitatorin wurde verhaftet.2 Die galoppierende Inflation führte im Sommer 1922, lange nach der sozialrevolutionären Phase in Österreich, zu spontanen Unmutsäußerungen, vor allem von Frauen.3 Deren Wut und Verzweiflung suchte die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) durch „Teuerungskampagnen“ zu kanalisieren und so weibliche Mitglieder zu gewinnen.4 Isa Strasser begegnete mir bei meinen Arbeiten zur Geschichte der Ersten Republik als eine der wenigen Kommunistinnen, die Anfang der 1920er Jahre in Wien öffentlich in Erscheinung traten.5 Seit Jahren interessieren mich die Geschlechterverhältnisse in gesellschaftspolitischen Bruchzeiten – wie sich ZeitgenossInnen in literarischen und wissenschaftlichen Formaten darüber äußerten respektive wie sie diskutierten, wie die Gesellschaft in Richtung Geschlechtergerechtigkeit zu verändern sei. Im Kontext einer heutigen Lesart erscheinen die gesellschaftspolitischen und sozialen Utopien von feministischen Kommunistinnen wie der Russin Alexandra Kollontai oder die Schrift „Sexualethik des Kommunismus“ der Wienerin Elfriede Friedländer modern und zukunftsweisend.6 Nachdem Friedländer im Sommer 1919 1

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Isa Strasser an Leo Trotzki, 3.6.1929. DÖW, Sammlung Trotzki R/536. Für seine umfassende Unterstützung meiner Spurensuche danke ich Karl Fallend. Maria Wirth stellte mir in solidarischer Weise ihre Interviews mit Jenny Strasser zur Verfügung und half mir mit ihren Quellenkenntnissen weiter – ein herzliches Danke! Wien, 10. Juni 1922, Betreff: Isidora Strasser, Veranstaltung einer Versammlung unter freiem Himmel. Bundespolizeidirektion (BupolDion) Wien, Schober Archiv, Sch. 47, M. Kommunistische Bewegung 1922. Veronika Helfert (2014): Gewalt und Geschlecht in unorganisierten Protestformen in Wien während des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (2014) Band II, 66-82. Wien, 10. Juni 1922, Betreff: Isidora Strasser, Veranstaltung einer Versammlung unter freiem Himmel. BupolDion Wien, Schober Archiv, Sch. 47, M. Kommunistische Bewegung 1922: Allerdings hatte „die Polizeidirektion schon vor einigen Tagen vertraulich Kenntnis“ von dem Vorhaben erhalten. Gabriella Hauch (2011): „Eins fühlen mit den Genossinnen der Welt“. Kampf- und Feiertage der Differenz: Internationale Frauentage in der Ersten Republik Österreich, in: Heidi Niederkofler / Maria Mesner / Johanna Zechner (Hg): Frauentag! Erfindung und Karriere einer Tradition, Wien, 68–75. Elfriede Friedländer (1920): Sexualethik des Kommunismus: Eine prinzipielle Studie, Wien; Alexandra Kollontai

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die junge KPÖ und Österreich in Unfrieden verlassen hatte und die „Revolutionäre Proletarierin“, die Frauenbeilage der KPÖ-Zeitung „Soziale Revolution“, eingestellt worden war, entstand bei mir die Frage, ob mit Strasser eine weitere frauenbewegte intellektuelle Parteiaktivistin in der kleinen männerdominanten KPÖ7 zu entdecken wäre. Bereits nach ersten Recherchen entstand die Idee zu einem Forschungsprojekt, dem ich mich in den nächsten Jahren widmen werde: „Die Strassers. Familiengeschichte/n im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“. Die Lebensverläufe von Angehörigen dieser Familie erschließen Aspekte der Politik-, Ideen-, Kultur- und Geschlechtergeschichte/n der europäischen Linken in der Tradition der Aufklärung und machen deren ambivalente und widersprüchliche Entwicklungen nachvollziehbar. Der Begriff Familiengeschichte/n meint nicht die engen definitorischen Grenzen von Bürgerlichen Gesetzbüchern der Zeit sondern umfasst ebenso wichtige Beziehungen in wechselnden sozialen und politischen Milieus.

Reformpädagogik, Internationalismus und: Krieg dem Krieg! Am 2. Dezember 1912 wurde aus Clothilde Isidore von Schwartzkoppen durch die Zivilehe mit Josef Strasser – Isa Strasser.8 Die 20-jährige Braut stammte aus preußischem Adel, Vater Friedrich Ernst war Offizier, Mutter Frieda eine Freiin von Seebach.9 Der Bräutigam, mit 42 Jahren doppelt so alt wie seine zukünftige Frau, war bereits geschieden,10 ein sozialistischer Intellektueller und „Schriftleiter“ der sozialdemokratischen Tageszeitung „Vorwärts“ in Reichenberg. Beide deklarierten sich als „konfessionslos“. Kennengelernt hatten sie sich im Landerziehungsheim Birkenwerder und als Brücke fungierte dabei Josef Strassers Sohn aus erster Ehe, der 1898 geborene Alexander. Aufgrund zeitlicher und ökonomischer Zwänge

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(1979): Der weite Weg: Erzählungen. Aufsätze, Kommentare. Aus dem Russischen von Gertraude Krueger u. Eva Pilz, Frankfurt am Main. Paul Pasteur (1986): Dans Le Mouvement Ovrier Autrichien 1918–1923. Frauen in der Österreichischen Arbeiterbewegung. Aus der Dissertation von Paul Pasteur, in: Karin Schneider (2003): Bist Du sein guter Kamerad und steht an seiner Seite? Zur KPÖ-Frauenpolitik der Ersten Republik bis zum Verbot der Partei (1918 bis 1933), Wien, 55-89; Karin Schneider (2004): Verborgene Feminismen. Frauenpolitische Denk- und Utopieangebote der österreichischen Arbeiterinnenbewegung der Ersten Republik unter Fokus auf die KPÖ, phil. Diplomarb. Wien. Meldezettel Josef Strasser, Schreiben vom 30.8.2013. Státní Oblastní Archiv Litomerích. Ich danke Jana Stráníková für ihre Hilfestellung. Schriftliche Mitteilung von Michaela Tröbs, 3.9.2013, ZL. 0626012.4321000, 2013/655. Stadtarchiv Coburg. Clotilde Mathilde Louise Martha Isidore, geb. am 29. März 1891. Ihre Geburt wurde als Nr. 1891/117 registriert, die Namensvergabe erfolgte am 16. Mai 1891. In den Meldedaten scheinen differente Schreibweisen auf: Isi/a/dore/a. Gabriella Hauch (2014): „Besiegt ist, wer nie den Kampf aufgenommen, wer ihn nie gewollt“. Nadja Strasser, geb. Neoma Ramm (1871–1955), in: Werner Michael Schwarz / Ingo Zechner (Hg.): Die helle und die dunkle Seite der Moderne. Festschrift für Siegfried Mattl zum 60. Geburtstag, Wien/Berlin, 162–171.

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der Eltern nach deren Scheidung 1906 lebte dieser zeitweise11 in reformpädagogischen Einrichtungen, die Frida Winckelmann, eine „Bekannte“ seiner Mutter Nadja leitete.12 Nach der Schließung ihrer Anstalt in Schloss Drebkau bei Cottbus erhielt die 48-jährige Winkelmann 1912 die Konzession für eine „Erziehungsanstalt“ in ihrem Haus in Birkenwerder nördlich von Berlin.13 Die Klientel der Einrichtung „etwas primitiver Natur“14 bestand aus Kindern deren Eltern geschieden oder verstorben waren sowie von „illegalen Genossen“ erinnerte Karl Radek.15 Die 14-köpfige Schar des Jahres 1913 umfasste Kinder mit evangelischem, jüdischem und griechisch-orthodoxem Glauben und fünf von ihnen hatten die russische Staatsbürgerschaft.16 Darunter befanden sich nicht nur die drei Liebknecht-Kinder oder der Stiefsohn von Karl Radek sondern auch Alexander Strasser.17 Birkenwerder war mehr als ein von reformpädagogisch orientierten Eltern bevorzugtes „Landerziehungsheim“: als offenes Haus geführt, fungierte es als ein Knotenpunkt des sozialen Netzwerkes, das die Zweite Sozialistische Internationale – auch – ausmachte.18 Josef Strasser schien ein Teil davon gewesen zu sein. Mit seiner 1912 publizierten Schrift „Der Arbeiter und die Nation“, das sogenannte „Manifest der österreichischen Radikalen“ – die ihm Kritik von Seiten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP) eingebracht hatte – reüssierte er auf internationaler Ebene. Neben Wladimir Iljitsch Lenin spendete auch Rosa Luxemburg Beifall, die gemeinsam mit dem Karl-Dreigestirn Kautsky-Liebknecht-Radek zum Kreis um Frida Winckelmann zählte.19 Im Spätsommer 1912 lernte Josef Strasser in Birkenwerder die Kindergartenpädagogin Isa von Schwartzkoppen kennen.20 Die Qualifikation für ihre Tätigkeit als Pädagogin hatte der 11

Auf Alexander Strassers Aufenthaltsorte und damit verbundene Auseinandersetzungen seiner Eltern kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, vgl. auch Hauch (2014). 12 Briefe Nadja Strasser an Josef Skaret, o. D. [1910] und 9.11.1911 (samt Beilagen). VGA, Altes Parteiarchiv, M. 39; Josef Strasser (1907): Was kann die „Freie Schule“ noch leisten?, in: Der Kampf Jg. 1 (1907) Heft 11, 494–498. Nadja Strasser (1909): Neue Bahnen in der Erziehung, in: Der Kampf Jg. 2 (1909) Heft 11, 517–521. 13 Heike Stange (2006): Zwischen Eigensinn und solidarischer Zusammenarbeit. Frida Winckelmann, in: Mario Hesselbarth / Eberhart Schulz / Manfred Weissbecker (Hg.): Gelebte Ideen. Sozialisten in Thüringen, Jena, 458– 464. 14 Käte Duncker, in: Stange (2006), 462. 15 Karl Radek (1976): November – eine kleine Seite aus meinen Erinnerungen, in: Archiv für Sozialgeschichte (1962, Band II, Köln, 151 ff, zit. lt. Karin Kuckuk (2009): Karin Kuckuk: Lotte Kornfeld – Biographie einer Vergessenen, in: Karin Kuckuk (Hg.), Im Schatten der Revolution. Lotte Kornfeld – Biographie einer Vergessenen (1896–1974), Bremen 2009, 17–107, 24. 16 Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. ZA II NB, Nr. 447, zit. lt. Kuckuk (2009), 22. 17 Brief Nadja Strasser an Josef Skaret, 9.11.1911 (samt Beilagen).VGA, Altes Parteiarchiv, M. 39. 18 Beziehungen entstanden, die die Turbulenzen des Ersten Weltkrieges, Parteispaltungen und Parteineugründungen mitunter bis nach Nationalsozialismus und Stalinismus überlebten. Vgl. Stange (2006), 459-463. Noch in den 1960er Jahren gab es Treffen der „Damen von Birkenwerder“; Karin Kuckuk (2009), 89, 92. 19 Isa Strasser (1982): Josef Strasser – ein Lebensbild, in: Josef Strasser: Der Arbeiter und die Nation [1912]. Anhang: Schriften zum Austromarxismus, Wien, 101–107, 104. 20 Isa Strasser (1970): Brief an den Leser, in: dies.: Land ohne Schlaf, Wien, 7–10, 8.

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Adelsspross im Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin erworben. Das seit 1874 bestehende Institut zählte zu den Projekten der Bürgerlichen Frauenbewegung, in denen mit Berufsausbildungsgängen die Professionalisierung von sozialpädagogischer, hauswirtschaftlicher und sozialer Arbeit vorangetrieben wurde.21 Den Besuch dieses Institutes interpretierte Isa Strasser später als „Mißgriff “ ihres „konservativen“ Vaters,22 da sie dort nicht nur reformpädagogische Konzepte schätzen lernte, sondern in den „Bann der genialen Pädagogin und Sozialistin“ Frida Winckelmann kam. Von deren Geschichtsunterricht angeregt, begann sie begeistert Nietzsche, Darwin und das „Kommunistische Manifest“ zu lesen.23 Nach der Verehelichung im Dezember 1912 – kurz nachdem die junge Braut volljährig wurde – übersiedelte das Paar im folgenden Jahr nach Wien. Josef Strasser, mit seiner Broschüre politisch als Internationalist positioniert, schien ins Zentrum der Sozialdemokratie der Habsburgermonarchie zu drängen.24 Isa Strasser bezeichnete diese Zeit als ihre „erste[n] Gehversuche in der Arbeiterbewegung“, wo sie „marxistische[s] Gedankengut[s] in der Schule [ihres] Mannes“ lernte, Stunden gab, aber auch im theoretischen Organ der österreichischen Sozialdemokratie „Der Kampf “ publizierte.25 Josef Strasser schrieb in der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ für Zeilenhonorar. Das bedeutete, ihre finanzielle Situation war ebenso prekär, wie die politische Position des einstigen Parteiführers von Nordböhmen als „journalistischer Aussenseiter“ in Wien.26 In der Rückschau stellte Isa Strasser entsprechend fest, dass ihr Mann in Reichenberg „zum ersten und vielleicht zum einzigen Mal in seinem Leben an seinem richtigen Platz“ gestanden war.27 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges sah die beiden von Beginn an in den Kreisen der KriegsgegnerInnen. Isa Strasser als „unverbildet[er] Neuling in der internationalen, völkerbefreienden Sozialdemokratie“ ließ sich ebenso wenig von der Rhetorik der Zweiten Internationale blenden, es ginge gegen den Zarismus, wie ihr Mann.28 Josef Strassers Internationalismus positionierte ihn im Umfeld der „Konferenz von Zimmerwald“ in der Schweiz,29 wo sich 1915 SozialistInnen kriegführender Staaten zusammenfanden und die Losung „Krieg dem Krieg“ entwickelten. Unter ihnen war auch Karl Radek, ein Vertrauter aus Birkenwerder.30 In Wien 21

Sabine Sander (2008): Ein Spaziergang durch das Pestalozzi-Fröbel-Haus um 1908. Vortrag am 23.10.2008, www. ash-berlin.eu/100-Jahre-ASH/rueckblick/doc/6_3_sander.pdf (abgerufen am 30.7.2014). 22 Strasser (1970), 8. 23 Ebd. 24 Claudie Weill (1977): Introduction, in: dies. (Hg.): Nation et lutte de classe. Josef Strasser (1870–1935) et Anton Pannekoek (1973–1960), Paris. 25 Strasser (1970), 8. 26 Isa Strasser: Josef Strasser zu seinem 100. Geburtstag, 7. VGA, Parteiarchiv, L. 24, M. 10. 27 Ebd. 28 Strasser (1970), 8. 29 Ebd.; Strasser (1982), 105. 30 Lotte Kornfehl, eine Birkenwerdener Schülerin fungierte als Kurierin zwischen Exilierten in der Schweiz und deutschen SozialdemokratInnen: Kuckuk (2009), 39–41.

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agierten die Strassers im beschränkten Rahmen des Kriegsleistungsgesetzes und suchten in Vorträgen und Artikeln gegen den kriegsbejahenden Mainstream aufklärend zu wirken.31 Allerdings schätzte Isa Strasser ihr Engagement nüchtern als „Nebengeleis[e]“ ein, „fernab der […] politischen Hauptverkehrsstrasse“.32 Im März 1916 zählte das Ehepaar Strasser zu den Aktiven im Bildungsverein Karl Marx, der die KriegsgegnerInnen in der SDAP versammelte. Von den hier ebenfalls aktiven „Stürmer[n] und Dränger[n]“ des geheimen Aktionskomitees der Linksradikalen hielten sie sich jedoch fern.33 Im vorletzten Kriegsjahr erfuhr Isa Strassers Schilderung des Lebens im Weltkrieg „Stundengeben, Schreiben, Haushaltsplackerei, […] Krankheiten, Sorgen“34 eine Zäsur. Am 3. Juli 1917 wurde Sohn Peter in Jena geboren,35 wo Isas Mutter Frieda von Schwartzkoppen nunmehr lebte.36 Kaum zwei Jahre später kam Tochter Liselotte während der sozialrevolutionären Phase am 30. März 1919 in Wien zur Welt.37

Die 1920er Jahre: „eine höchst ungeruhsame Berg- und Talfahrt“38 Von der revolutionären Stimmung euphorisiert – so ihr Bericht – schrieb Isa Strasser bereits im Wochenbett Artikel über die Ungarische Räterepublik für die Tageszeitung der KPÖ „Soziale Revolution“.39 Die Strassers wurden KPÖ-Mitglieder. Die Ausgabe der „Rote[n] Fahne“ vom 3. Februar 1920 nannte Josef Strasser zum ersten Mal als „Chefredakteur“. Der Wechsel zu der am 3. November 1918 gegründeten KPÖ war dem 49-Jährigen, der rund drei Jahrzehnte in der SDAP gewirkt hatte, nicht leicht gefallen.40 Er hielt die Gründung der neuen Partei für „verfrüht“41 respektive hatte er deren putschistische Politik 1919 verurteilt.42 Isa 31 Strasser (1970), 9; Isa Strasser (1916): Aus einem Volkskrieg, in: Der Kampf Jg. 9 (1916) Heft 10, 359–367. 32 Isa Strasser: Josef Strasser zu seinem 100. Geburtstag, 7. VGA, Parteiarchiv, L. 24, M. 10. 33 Ebd. 34 Strasser (1970), 8. 35 Schriftliche Mitteilung von Michaela Laichmann, 8.6.2010. WStLA, MA 8 – B-MEW-3487/2010. Die Meldedaten zu dieser Zeit sind weder in Jena noch in Wien vollständig erfasst bzw. erhalten. 36 Schriftliche Mitteilung von Constanze Mann, 3.9.2013. Stadtarchiv Jena, Adressbuch Jena. Es handelte sich um eine eher bescheidene Unterkunft. 37 Mitteilung von Michaela Laichmann vom 8.6.2010. WStLA, MA 8 – B-MEW-3487/2010. 38 Strasser (1970), 9. 39 Ebd. 40 Kolportiert ist die Anwerbung Strassers durch den Komintern-Emissär Bela Kun, der ihn „an die Spitze der Kommunistischen Partei“ setzen wollte, was Strasser ablehnte. Zur Frühgeschichte der KPÖ und die Positionierung Strassers, vgl. Hans Hautmann (1971): Die verlorene Räterepublik. Am Beispiel der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs, Wien. 41 Strasser (1970), 9. Dieselbe Position hatten etliche aus Strassers Generation betreff Gründung der KPD: Tania Puschnerat (2003): Clara Zetkin: Bürgerlichkeit und Marxismus. Eine Biographie, Essen, 238–242. 42 Interview mit Jenny Strasser, geführt am 11.6.1982 von Hans Schafranek, 25. DÖW, Interviewsammlung. Josef Strasser bewertete die Toten bei den militanten Auseinandersetzungen am 15. Juni 1919 in der Hörlgasse in Wien als verheerende Folge der KPÖ-Politik.

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Strasser hingegen, mit ihren 28 Jahren begrüßte den Eintritt in die KPÖ: Auf Karl Radeks Ausruf, damals sowjetrussischer Betreuer der KPÖ, „Isa muss mit“, war sie „nicht zu halten“.43 Um die Existenz der vierköpfigen Familie zu sichern, hatte Isa Strasser einen Kindergarten nach der Montessori Methode gegründet und wurde in der kleinen KPÖ schnell zu einer der zentralen Aktivistinnen. Sie engagierte sich in Bildungs- und Frauenfragen und hielt bei der „Ersten Frauenkonferenz“ am 22. Jänner 1921 eines der drei Referate. Sie kandidierte jedoch für keine Leitungsfunktion.44 Die frauenpolitische Ausrichtung der jungen KPÖ – auch im Gegensatz zur SDAP – suchte die Geschlechterdifferenz im Gleichheitsparadigma aufzulösen, dementsprechend gab es keine separate Frauenorganisation45 und frauenspezifische Veranstaltungen sollten vermieden werden.46 Neben ihrem Engagement in der KPÖ war Isa Strasser im ersten Halbjahr 1921 gemeinsam mit ihrem Mann und dessen Nachfolger in Reichenberg Karl Kreibich maßgeblich an der Gründung des deutschsprachigen Teils der KP der Tschechoslowakei beteiligt. Diese entstand im Gegensatz zur KPÖ erst nach einem längeren Diskussionsprozess im sozialdemokratischen Milieu und wurde bei den Parlamentswahlen 1925 zweitstärkste Partei47 – eine Erfolgsgeschichte, von der die KPÖ weit entfernt war. Die Konkurrenz zur Massenpartei SDAP beherrschte die KPÖ-Politik seit ihrer Gründung. Trotzdem bekannte Elfriede Friedländer, Trägerin der Mitgliedsnummer 1: „Wir jungen Kommunisten hatten einen unglaublichen Respekt vor der Österreichischen Sozialdemokratischen Partei und ihren Führern. […] Wir träumten davon, mit ihrer Hilfe ein sozialistisches Österreich aufzubauen […].“48 Diese Bewunderung verwandelte sich in Form der „Sozialfaschismustheorie“ sowie in den innerparteilichen Auseinandersetzungen der 1920er Jahre in ihr Gegenteil.49 Die Konstellation, ältere ehemalige SozialdemokratInnen mit jahrzehntelanger politischer Erfahrung versus jüngere Radikale prägte Anfang der 1920er Jahre die politische Kultur der kommunistischen Parteien Europas.50 In diesem Kontext wurde der gescheiterte

43 Strasser (1970), 9. 44 Die 1. Frauenreichskonferenz, in: Die Rote Fahne, 27.1.1921, 7. 45 Beschlossen am 17. Februar 1919 im Café Viktoria, Wien, in einer „nicht besonders gut besuchten“ Veranstaltung der Frauen: Mitgliederversammlung, in: Die Revolutionäre Proletarierin Jg. 1 (1919) Nr. 4, 2. Auch: Die Frauen in der kommunistischen Partei, in: Die Revolutionäre Proletarierin, 12.4.1919, 1. 46 Die 1. Frauenreichskonferenz, in: Die Rote Fahne, 27.1.1921, 7. 47 Karl Kreibich (1932): 15 Jahre Kampf und Sieg. Eine kleine Skizze der größten Revolution, Prag. 48 Ruth Fischer: Autobiographical Notes, 447, in: Mario Kessler (2013): Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895-1961), Köln/Weimar/Wien, 46. 49 Fritz Keller (1978): Gegen den Strom. Fraktionskämpfe in der KPÖ – Trotzkisten und andere Gruppen 1919-1945, Wien; Hans Schafranek (1988): Das kurze Leben des Hans Landau. Ein österreichischer Kommunist als Opfer der stalinistischen Geheimpolizei, Wien; Finbarr McLoughlin / Hannes Leidinger / Verena Moritz (2009): Kommunismus in Österreich 1918-1938, Innsbruck/Wien/Bozen. 50 W. I. Lenin (1920): Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Moskau. Zur „Vatermord-“ bzw. „Muttermordthese“ in der KP Deutschlands (Clara Zetkin): Puschnerat (2003), 296–299.

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„Märzaufstand“ der (Vereinigten) Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) 192151 für den weiteren Lebensverlauf von Josef und Isa Strasser entscheidend. Der Parteivorsitzende Paul Levi – ehemaliger Sozialdemokrat und Anwalt von Rosa Luxemburg – hatte sich gegen diesen „Putschismus“ gestellt, woraufhin er abgesetzt und aus der KPD ausgeschlossen wurde. Die Kommunistische Internationale (Komintern) reagierte auf innerparteiliche Kritik in dieser Phase des Niedergangs der Revolutionskonjunktur in Zentraleuropa mit steigendem Autoritarismus und verbot oppositionelle Strömungen.52 Das bedeutete, die Zeiten, als etwa die Zentralstelle für Frauenpropaganda der KPÖ aus sechs Vertreterinnen der Mehrheitsposition und zwei der sogenannten „Linken“ bestand,53 waren vorbei. Josef Strasser positionierte sich im Fall der „Märzaktion“ in Deutschland auf Seiten Levis.54 Zwar wurde er als „menschewistisch kompromittiert“ denunziert, blieb jedoch zunächst noch Mitglied des Parteivorstandes55 bis er im April 1921 selbst als Chefredakteur der „Roten Fahne“ zurücktrat.56 Kurz danach erlebte sein Credo „Wider dem Putschismus“ bei einer Diskussion der „Wiener Vertrauensmännerversammlung“ eine herbe Niederlage – nur 15 von 258 Stimmberechtigten stimmten für Strassers Position. Laut Polizeibericht war die Entscheidung „nicht so sehr von grundlegenden Überlegungen geleitet“, sondern vielmehr von der Befürchtung, bei einer Mehrheit für Strasser würden die „finanzielle[n] Zuwendungen aus Deutschland und Russland“ versiegen.57 Strassers innerparteilicher Einfluss sank weiter und am Parteitag 1922 war er der einzige, der gegen die im neuen Organisationsstatut verankerte „Einführung einer Parteivorstandsdiktatur“ stimmte. In den Parteivorstand wurde er nicht mehr gewählt. Josef Strasser erlebte eine neuerliche Marginalisierung und rückte vom Zentrum an die Peripherie, diesmal der kleinen KPÖ. Die Polizei hatte bereits im November 1921 notiert, dass Strasser „seit Monaten von jeder Parteitätigkeit zurückgezogen“ sei,58 er engagierte sich jedoch weiter in Bildungsangelegenheiten.59

51 52

Zur wissenschaftlichen Rezeption des Falles Levi: Kessler (2013), 85–93. Dies war Teil der Autoritarisierungs-Strategie, die – auch in Folge des Matrosenaufstandes von Kronstadt, der das Ende der Einparteienherrschaft in Russland gefordert hatte – oppositionelle Fraktionen innerhalb der Kommunistischen Parteien verboten. 53 Die Frauenreichskonferenz vom 22.1.1922, in: Die Rote Fahne, 27.1.1921, 7. 54 Levi war Ende März eine Woche in Wien und – laut Polizeibericht – permanent in Kontakt mit Strasser. 55 Isa Strasser: Josef Strasser zu seinem 100. Geburtstag, 8. VGA, Parteiarchiv, L. 24, M. 10. 56 Impressum, in: Die Rote Fahne, 20.4.1921, 6, war das letzte Mal „Chefredakteur: Josef Strasser“ vermerkt. 57 April 1921 Wiener Vertrauensmännerversammlung. BupolDion Wien, Schober Archiv, Sch. 37, Gr. II, M. Kommunistische Bewegung. 26./27. 58 23. November 1921, Komm Bewegung in Oes und Ungarn. BupolDion Wien, Schober Archiv, Sch. 37, Gr. II, 1921, M. Kommunistische Bewegung. 59 Josef Strasser, Dienstag 13. Juni 1921, Referentenkurs in Ebreichsdorf, Mittwoch in Floridsdorf; Isa Strasser, Freitag 16. Juni 1921, öffentliche Frauenversammlung über Mutterschaftszwang und Teuerung, in: Mitteilungen der Bildungszentrale, in: Die Rote Fahne, 13.6.1921, 6.

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Es ist nicht nachzuvollziehen, was Josef Strassers KPÖ-interne Marginalisierung für die ökonomische Situation der Familie inklusive des fünfjährigen Peter und der dreijährigen Liselotte bedeutete. Ebenso unklar ist, wie sie sich auf die Position von Isa Strasser in der KPÖ auswirkte. Ihre eingangs geschilderte Verhaftung dokumentiert, dass sie 1922 als Aktivistin der Kampagne gegen die Teuerung fungierte60 und ein Brief des Frauensekretariates der Komintern vom 2. September 1922 belegt, dass sie auch publizistisch arbeitete.61 Die KPD bestellte 3.000 Stück einer von ihr verfassten Frauen-Broschüre und empfahl, auch bei der kommunistischen Partei in der Schweiz anzufragen, da diese „bei ihrer guten Valuta“ sie „sicher gern übernehmen würde“.62 Inhaltlich merkte das Frauensekretariat allerdings an, dass das Kapitel „Alkoholismus“, „bei Weitem nicht“ von so „grundsätzlicher Bedeutung“ für die „Frauenagitation“ sei, wie etwa das Thema „Frau und Gewerkschaften“ und dass beim Thema „Der Kampf gegen den Kindersegen“ „hoffentlich“ keine malthusianische Argumentationen verwendet würde. Die Publikation erschien nicht, aber aus dem Schreiben ging hervor, dass mit Rosi Wolfstein, eine Bekannte von Isa Strasser aus der Zeit in Birkenwerder als Vermittlerin im KPD-Frauensekretariat fungierte.63 Das folgende Jahr 1923 brachte eine Zäsur im Leben von Isa und Josef Strasser. Moskau war auf die periphere Position Strassers in der KPÖ aufmerksam geworden. Lenin schätzte Strasser seit langem und ein Foto zeigt die beiden in lebhafter Diskussion in kleiner Runde während des „II. Komintern-Kongresses“ im Sommer 1920.64 Ende 1922 lud „Freund“ Radek – damals Deutschland-Verantwortlicher der Komintern – Josef Strasser zur Mitarbeit an der Zeitschrift „Die Internationale“ nach Moskau ein. Die Kinder waren bei Großmutter von Schwartzkoppen willkommen und der Entschluss schnell gefasst. Die Art und Weise, wie Peter und Liselotte nach Jena verbracht wurden, verfolgte Kinder und Mutter allerdings lebenslang als negative Erinnerung: Die beiden Kleinen saßen mit der Großmutter vor der Abfahrt im Zug, als Isa Strasser mit dem Versprechen ausstieg, für die „braven und stillen“ Kinder Zuckerln zu besorgen. Der Zug fuhr ab, ohne dass sie wieder zugestiegen wäre.65 Das damit verbundene Trauma des Verlassenwerdens aufgrund des politischen Engagements der Eltern teilten die Strasser-Kinder mit etlichen 60 Genossin Strasser verhaftet, in: Die Rote Fahne, 11.6.1922, 2; Wer gegen die Teuerung ist, wird eingesperrt, in: Die Rote Fahne, 11.6.1922, 5. 61 Frauensekretariat der Kommunistischen Internationale an Isa Strasser, Berlin 2.9.1922. RGASPI, Isa Strasser, 507/3/5/15. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Strasser (1982), 109 [ohne Quellennachweis]. Peter Kulemann erklärte für das Team des Junius-Verlages, dass bereits bei der Veröffentlichung des Fotos kein Quellenverweis recherchiert werden konnte, vgl. E-Mail Kulemann an Gabriella Hauch vom 27.10.2014. An dieser Stelle sei ihm sowie Max Dillinger für ihre Unterstützung gedankt. 65 Interview mit Jenny Strasser, geführt am 30.11.2007 von Maria Wirth, Bänder bei der Autorin; Brief Isa Strasser an Peter Strasser, 14.8.1952. VGA, Nachlass Peter Strasser, Kt. 5, M. 1.

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145 Abb. 1: Josef Strasser (dritter von rechts, stehend) auf dem 2. Kongress der Kommunistischen Internationale in einer Diskussion mit Delegierten und mit W. I. Lenin. (Quelle: Strasser (1982), 109 [ohne Quellennachweis]).

anderen.66 Gleichzeitig ist dieses Verhalten Zeugnis für die Ablehnung des frauenspezifischen bürgerlichen Handlungsspielraumes als Mutter in diesem Milieu und der Überzeugung dieser politischen AkteurInnen, dass das Wohlergehen der Kinder nicht nur im Kreise der Familie hergestellt würde. Die Migration nach Russland erfolgte, so Isa Strasser, bereits ernüchtert: „Die Periode der naiven Parteigläubigkeit lag hinter mir“.67 Damit unterschied sie sich von der Anfang der 1920er Jahre einsetzenden Reisetätigkeit von Intellektuellen, KünstlerInnen und politisch Interessierten, die mit der Erwartungshaltung nach Osten aufbrachen, eine neue vom kapitalistischen Westen klar zu unterscheidende gerechtere Welt vorzufinden.68 Die Strassers reisten ohne Rückfahrkarte und bezogen in Moskau ein kleines, einfaches Zimmer im „Glashaus“ Hotel Lux,69 wie Isa Strasser die herrschende soziale Kontrolle vor Ort rückblickend bezeichnete. Im folgenden Jahr starb Lenin und der Nachfolgekampf respektive die „Stalinisierung“ begann das Leben in Russland zu durchdringen. Josef Strassers Anfangseuphorie versiegte. Er beendete seinen Russischunterricht mit Sarkasmus: Wenn er nicht russisch könnte, müsste er in der Parteizelle nicht für Stalin stimmen. Diese Haltung kombiniert mit seinen Witzen

66 Vgl. die Autobiografie der Tochter des jahrelangen KPÖ-Vorsitzenden Johann Koplenig: Elisabeth Markstein (2010): Moskau ist viel schöner als Paris. Leben zwischen zwei Welten, Wien, 10–14. 67 Strasser (1970), 9. 68 Gabriella Hauch (2014): Revolution schauen. Europäische Intellektuelle auf Reisen in Russland 1920-1928, in: Werkblatt Jg. 30 (2014) Heft 2, 175–182. 69 Strasser (1970), 9.

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über den Komintern-Vorsitzenden Sinowjew degradierten ihn vom Redakteur zum Korrektor der „Internationale“.70 Während Josef „politisch […] scheintot“ war, werkte Isa Strasser als Angestellte der Sozialwissenschaftlichen Abteilung in der Roten Gewerkschaftsinternationale (Profintern).71 Auf deren Gründungskongress im Juli 1921 war auf Druck der Fraueninternationale kurzfristig das Thema Frauen aufgenommen worden.72 Ein zeitgenössischer Hinweis auf die androzentristische Linie der internationalen Gewerkschaftspolitik, auch der Profintern: deren scheinbar geschlechtsneutral formulierte Politik fokussierte auf eine männliche Klientel, eine Tatsache, die von der Historiografie der Arbeiterbewegung lange Zeit reproduziert wurde. Isa Strasser mochte ihre Arbeit, ihren Chef Modest Rubin und viele KollegInnen und auch die Stadt Moskau gefiel ihr.73 Neben zahlreichen Artikeln verfasste sie zwei Broschüren: „Arbeiterin und Gewerkschaft“ (1924) und „Frauenarbeit und Rationalisierung“ (1927).74 Erstere war eine gewerkschaftliche Werbebroschüre für Frauen und polemisierte gegen die „verbürgerlichte Führungsclique“ der Gewerkschaften. Bemerkenswert ist Strassers explizite Verschränkung der Kategorien Klasse und Geschlecht mit Ethnizität, Nation oder Religion, womit sie sich – in heutiger Lesart – als Pionierin des IntersektionalitätsAnsatzes erwies. Im Jahre 1927 wurde Josef Strassers durch die KPÖ „angefordert“, was bedeutete, „nach Wien heimzukehren“. Strasser begrüßte dies „wie ein Internierter die Entlassung“.75 Auch Isa Strasser atmete im Rückblick „erlöst auf “, denn der „Zwang zur Heuchelei oder zum Schweigen, wenn man sich nicht verdächtig machen wollte“, hatte den Aufenthalt in Moskau zusehends unerträglich gestaltet.76 Die Erfahrungen mit Autoritarismus und Kontrolle während ihrer fünf Jahre in Russland, die Durchflutung des alltäglichen Lebens und jedeN ihrer KollegInnen, wenn auch auf differente Art und Weise, reflektierte sie in dem 1970 erschienen Roman „Land ohne Schlaf “.77 Anfang 1928 waren die beiden wieder in Wien. Wann die Kinder von Jena nach Wien übersiedelten, konnte bislang nicht geklärt werden.78 Josef leitete erneut die Redaktion der „Roten 70 Strasser (1982), 106. 71 Strasser (1970); 9. Reiner Tosstorff (2005): Moskau oder Amsterdam? Die Rote Gewerkschaftsinternationale 1920 bis 1937, in: UTOPIE kreativ (2005) Heft 177/178, 704–718, online unter: www.rosalux.de/fileadmin/vls_uploads/ pdf/Utopie_kreativ/177-78tossdorff.pdf (abgerufen am 7.6.2013). 72 Reiner Tosstorff (2004): Profintern: Die Rote Gewerkschaftsinternationale 1920–1937, Paderborn et al., 344f. 73 Strasser (1970), 9. 74 Isa Strasser (1924): Arbeiterin und Gewerkschaft (Bibliothek der Roten Gewerkschaftsinternationale 28), Berlin; Isa Strasser (1927): Frauenarbeit und Rationalisierung, Moskau/Berlin. 75 Strasser (1982), 106. 76 Strasser (1970), 10. 77 Ebd. 78 Interview mit Jenny Strasser, geführt am 11.7.1982 von Hans Schafrank, 25. DÖW, Interviewsammlung; Interview

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Fahne“, Isa Strasser fungierte als Redakteurin – doch die Erleichterung über die Heimkehr wehrte nicht lange. Die politische Situation in der KPÖ ähnelte strukturell der in Moskau, wo kurz vor ihrer Abreise Leo Trotzki, der bedeutendste Opponent der Stalinisierung, aus der KPDSU ausgeschlossen und nach Alma-Ata verbannt worden war. Gleichzeitig wurde in allen Parteien der Komintern eine „gründliche Liquidierung der rechten und versöhnlerischen und der trotzkistischen Strömungen und Überbleibsel“ vorgenommen. Zusehends arbeitsunfähig, weil er für die Inhalte „nicht mit voller Überzeugung einstehen konnte“, legte Josef Strasser seine Funktion in der „Roten Fahne“ nieder.79 Isa Strasser, die Teil der klandestinen „Innerparteilichen Gruppe“ der KPÖ war, zu der auch Raissa Adler, Frau des Individualpsychologen Alfred Adler und Vertraute Trotzkis zählte,80 wurde zuerst aus der Redaktion der „Roten Fahne“, dann gemeinsam mit Martha Nathanson wegen „rechter Abweichungen“ und „ausdrücklicher“ Solidarisierung mit dem Trotzkismus im Juni 1929 aus der KPÖ ausgeschlossen.81 Ihre Korrespondenz dieser Zeit mit Trotzki, u. a. über dessen ihrer Ansicht nach falsches Verhalten gegenüber der „rechten“ Opposition zeugt von Isa Strassers eigenständiger Position sowie von ihrer Vernetzung mit international tätigen kommunistischen Oppositionellen, zu denen auch Rosi Wolfstein, ihre Vertraute aus Birkenwerder, gehörte. Aber auch die Verzweiflung angesichts der prekären ökonomischen Situation der Familie und die Situation ihres Mannes, für den sie bei Trotzki um etwaige Verdienstmöglichkeiten anfragte, gehen daraus hervor.82 Von der Oppositionsszene im kommunistischen Milieu in Österreich – „hoffnungslose Sektiererzirkel“83 – schien sich Isa Strasser seit Ende 1930 zurückgezogen zu haben.84

Ausblick Im Kontext der Situation nach 1929 in Wien blickte Isa Strasser auf die Zeit im Moskauer Hotel Lux als „bequem“ und „sorgenfrei“ zurück. Denn ihrem Mann wurde Ende der 1920er Jahre „das Brot, das man ihm noch übrig gelassen hatte: die sprachliche Korrektur der deutschen Leninausgabe“, entzogen.85 In den folgenden Jahren suchte Isa Strasser das Überleben der Familie zu sichern: Der Aufbau eines Vervielfältigungsbüros, wofür die Sozialdemokratin Therese Schlesinger ein Zimmer ihrer Wohnung zur Verfügung stellte, sowie eines Reklamemit Jenny Strasser, geführt am 30.11.2007 von Maria Wirth, Bänder bei der Autorin. Sie erinnert in beiden Interviews das Jahr 1929 als Rückkehrdatum ihres Ehemannes Strasser. 79 Isa Strasser: Josef Strasser zu seinem 100. Geburtstag, 8. VGA, Parteiarchiv, L. 24, M. 10. 80 Schafranek (1988), 139–145, 149, 151, 166. 81 Tagung des Zentralkomitees der Partei, in: Die Rote Fahne, 21.6.1929, 7. 82 Isa Strasser an Leo Trotzki, 3.6.1929. DÖW, Sammlung Trotzki, R/536. Die Strassers waren mit Trotzki bereits vor dem Ersten Weltkrieg bekannt, sie wohnten nur wenige Häuser entfernt in der Friedlgasse, Wien XIX. 83 Ebd. 84 Schafranek (1988), 261. 85 Isa Strasser: Josef Strasser zu seinem 100. Geburtstag, 10. VGA, Parteiarchiv, L. 24, M. 10.

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büros zusammen mit anderen ehemaligen KommunistInnen, scheiterten. Sie schrieb für viele, auch internationale Zeitungen.86 Spätestens seit 1933 engagierte sie sich wieder in der Sozialdemokratie – hingegen führte für Josef Strasser kein Weg zurück.87 Im autoritären „Ständestaat“ zählte Isa Strasser zu den Revolutionären Sozialisten, bei denen auch Sohn Peter und dessen Frau Jenny aktiv waren.88 Josef Strasser verstarb im Alter von 65 Jahren am 16. Oktober 1935 nach Jahren „zermürbender Existenzlosigkeit und Isoliertheit an schwerer Krankheit“.89 Im Gegensatz zu Peter und Jenny Strasser, die nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus nach Frankreich emigrierten, blieb Isa Strasser bei Tochter Liselotte, die Medizin studierte, in Wien.90 Mit 47 Jahren begann sie eine Ausbildung am Institut für Physikalische Heilmethoden im Krankenhaus der Stadt, 1941 wurde sie Angestellte der Wiener Gebietskrankenkasse.91 Ihre Erlebnisse in der NS-Zeit, etwa ihr Engagement für in Sammelwohnungen internierte Juden und Jüdinnen, wie der sozialdemokratischen Ärztin und Psychoanalytikerin Margarethe Hilferding-Hönigsberg,92 dokumentierte sie in etlichen Artikeln nach 1945.93 Im Jahre 1955 wurde Isa Strasser pensioniert. Nun wandte sie sich künstlerischen Tätigkeiten zu, studierte Klavier, malte und schrieb Gedichte. Und sie gründete den überparteilichen „Altersklub der Weissen Margeriten“, der der Vereinsamung alleinstehender älterer Menschen – realiter Frauen – entgegenzuwirken suchte.94 Nach dem frühen Tod ihrer Kinder

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Joseph Buttinger (1970): Nachwort, in: Strasser (1970), 211–220, 219. „Unterrichtsverband Hernals“, 9. Sektion, Montag, 20.2.1933, 20 Uhr, Lacknergasse 12: Der Aufstieg der Frau von der Küche zur Traktorfahrerin, in: Arbeiter-Zeitung, 19.2.1933, 17; Isa Strasser (1933): Das Ende des Austromarxismus, in: Unser Wort, Prag, Juni 1933 (gez. Austriacus). Abgedruckt in: Strasser (1982), 94–99. Muriel Gardiner (1989): Deckname Mary. Erinnerungen einer Amerikanerin im österreichischen Untergrund, Wien, 61, 96. Isa Strasser: Josef Strasser zu seinem 100. Geburtstag, 10. VGA, Parteiarchiv, L. 24, M. 10. Isa und Lotte Strasser waren Teil der klandestinen Gruppe – darunter auch Ella Lingens –, die sich während der NS-Herrschaft im Anwesen der Familien Motesiczky in der Hinterbrühl traf, vgl. Christiane Rothländer (2010): Karl Motesiczky 1904–1943. Eine biographische Rekonstruktion, Wien/Berlin, 311–313, 327. Peter und Jenny Strasser kehrten 1942 mit Tochter Andrea nach Wien zurück. Peter Strasser wurde nach 1945 u. a Vorsitzender der Sozialistischen Jugendinternationale, Mitglied des Parteivorstandes und Nationalratsabgeordneter der SPÖ. Die Ehe mit Jenny Strasser (1913–2009) wurde 1956 geschieden. Seine zweite Frau Maria, geb. Potocki, war im UngarnAufstand 1956 engagiert und wurde später die Lebensgefährtin von Christian Broda ( Justizminister 1960–1966 und 1970–1983 und ein enger Freund Peter Strassers). Buttinger (1970), 220. Eveline List (2006), Mutterliebe und Geburtenkontrolle – Zwischen Psychoanalyse und Sozialismus. Die Geschichte der Margarethe Hilferding-Hönigsberg, Wien. Zum Beispiel: Isa Strasser (1946): Die Aera Brunner II, in: Arbeiter-Zeitung, 11.5.1946, 2; Isa Strasser (1948): So war es, in: Arbeiter-Zeitung, 10.7.1948, 5. Der Fortsetzungsroman „Tsu Hsi. Chinas letzte Kaiserin“ erschien 1949 im „Linzer Tagblatt“. Isa Strasser: Verein „Altersklub die Weissen Margeriten“. VGA, Nachlass Peter Strasser, Kt.6, M.8.

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– Lieselotte, Ärztin, beging 1949 Suizid95 und Peter starb 1962 an Leukämie – widmete sich Isa Strasser in ihren letzten Lebensjahren der Arbeit an „Land ohne Schlaf “. Es „drängte“ sie, ihre Erlebnisse in Russland, die „mich bis heute nachhaltig bewegen“ niederzuschreiben.96 Die Fahnen ihres Buches korrigierte sie noch im Allgemeinen Krankenhaus in Wien, wo sie überraschend nach einer Blinddarmoperation am 23. August 1970 mit 79 Jahren verstarb.

Abb 2: Isa Strasser in den 1960er Jahren (Quelle: VGA / AZ-Fotoarchiv).

95 Todfallsaufnahme, 27.8.1970. WStLA, Nachlassakt Isa Strasser; Interview Jenny Strasser, geführt am 30.11.2007 von Maria Wirth, Bänder bei der Autorin. 96 Strasser (1970), 7.

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„Mission to Moscow“: Der österreichische Gesandte Otto Pohl in Sowjetrussland/der Sowjetunion (1920–1927)1

I. Schwieriger Start Mit dem Vertrag von Kopenhagen, der im Juli 1920 zustande kam, wurde die Grundlage für die Aufnahme quasidiplomatischer Beziehungen zwischen Österreich auf der einen und Sowjetrussland sowie der Sowjetukraine auf der anderen Seite geschaffen. Angelpunkt der Vereinbarung war die immer noch ungelöste Frage der Repatriierung der beiderseitigen Kriegsgefangenen. Eine geregelte Heimkehr der Betreffenden sollte mit Hilfe nunmehr zu installierender Vertretungen sowohl in Wien als auch in Moskau endlich zu einem Abschluss gebracht werden.2 Anfang 1919 hatten sich Schätzungen zufolge immer noch über 200.000 „Deutschösterreicher“, die während des Krieges in russische Gefangenschaft geraten waren, auf dem Territorium des ehemaligen Zarenreichs aufgehalten. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie waren sie freilich Staatsbürger unterschiedlicher Nachfolgestaaten des Habsburgerreichs geworden. Verschiedene „Angehörigenverbände“ in Deutschösterreich forderten jedenfalls die Heimkehr der betroffenen ehemaligen k. u. k. Soldaten mit großem Nachdruck. Vor diesem Hintergrund sah sich die Regierung in Wien dazu gedrängt, in direkten Kontakt zur Sowjetrepublik zu treten. Sie setzte sich mit diesem Schritt über die Widerstände der Siegermächte des Ersten Weltkriegs hinweg. Die diesbezügliche Ablehnung vor allem seitens der Briten oder Franzosen lag in ihrer eigenen auf Isolation abzielenden Russlandpolitik ebenso begründet wie in dem latenten Misstrauen gegenüber den Absichten einer seit Bestehen der Republik sozialdemokratisch geführten österreichischen Außenpolitik. Anfang August 1920, als die Koalitionsregierung von Christlichsozialen und Sozialdemokraten bereits zerbrochen war, präsentierte Wien einen Kandidaten für die schwierige Position in Moskau: Zum Leiter der Regierungskommission, die für die Heimbeförderung 1

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Der Text ist als Teilergebnis eines vom FWF/Austrian Science Fund geförderten Projektes (P 20477) zu betrachten, das 2013 abgeschlossen wurde. Der Text bis zum Zwischentitel „3. Personalfragen“ wurde von Hannes Leidinger verfasst, der nachfolgende Teil von Verena Moritz. Zum Vertrag von Kopenhagen: Judith Kreiner (1996): Von Brest-Litowsk nach Kopenhagen. Die österreichischen Kriegsgefangenen in Russland im und nach dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung der Kriegsgefangenenmissionen in Russland, Diplomarb. Wien, und Hanns Haas (1980): Das Kopenhagener Abkommen, in: Österreichische Osthefte Jg. 22 (1980) Nr. 1, 32–54.

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der Gefangenen aus dem ehemaligen Zarenreich nach Österreich sorgen sollte, wurde ein Sozialdemokrat bestimmt. Der Abteilungsleiter im Staatsamt für Äußeres3 und Chef des Pressedienstes der Staatskanzlei,4 Otto Pohl, wurde beauftragt, sich im Namen der Bundesregierung der Gefangenenproblematik in Sowjetrussland anzunehmen.5 Österreichische Kommunisten vermuteten jedoch, der sozialdemokratische Neo-Diplomat würde sich in seinem Gastland als „konterrevolutionärer Spion“ gerieren und im Auftrag seiner Partei Kontakte zu den Menschewiki in Russland herstellen. Das SDAP-Mitglied Pohl vermeldete indessen, die „Missionsarbeit […] mit Ausnützung alter persönlicher Beziehungen zu einigen in der Sowjet-Republik einflussreichen Persönlichkeiten“ betreiben zu wollen.6 Die Sowjetregierung zeigte sich mit der Bestellung Pohls jedenfalls zufrieden, umso mehr, als er von Mieczysław Bronski-Warszawski, der seinerseits die sowjetrussische Kriegsgefangenenmission in Wien leitete, als ein Mann beschrieben wurde, den einige prominente österreichische Sozialdemokraten angeblich für „zu links“ hielten.7 Die Tätigkeit von Wiens „Mann in Moskau“ wirkte sich in den folgenden Jahren bis zu seiner Abberufung im Jahr 1927 wesentlich auf die Gestaltung der Beziehungen zwischen Österreich und Russland beziehungsweise der Sowjetunion aus. Trotz vieler Unstimmigkeiten und Krisen, die das bilaterale Verhältnis in dieser Phase kennzeichneten, entwickelte es sich vor allem aufgrund von Pohls persönlichem Einfluss zu einem, das – allen Konflikten und grundsätzlichen Differenzen zum Trotz – auf diplomatischer Ebene von beiden Seiten als korrekt beurteilt wurde. Hervorragende Kontakte konnte Pohl zum Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten (NKID) und insbesondere zu dessen Chef, Georgij Čičerin, herstellen. Die Beziehungen zu dessen Stellvertreter, Maksim Litvinov, blieben allerdings kühl.

II. Heikle Aufgaben Von Beginn an muss Pohl klar gewesen sein, wie schwierig es sein würde, die Erwartungen, die mit seiner Mission verbunden waren, zu erfüllen. Gleich nach seiner Ankunft in 3 4

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Per Oktober 1920 wurde das Staatsamt für Äußeres in Bundesministerium für Äußeres umbenannt. Rudolf Agstner / Gertrude Enderle-Burcel / Michaela Follner (2009): Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959, Wien, 367. Österreichisches Staatsamt für Heerwesen an das Österreichische Kriegsgefangenen- und Zivilinterniertenamt, 17.8.1920. ÖStA, AdR, BKA/KGF 1920: 3‑15/6-21. Missionschef Otto Pohl an das Kriegsgefangenen- und Zivilinterniertenamt, 1.9.1921. ÖStA, AdR, BKA/KGF 1921: 3-1/18. Pohl gab z. B. später an, mit Rakovskij „seit vielen Jahren in guten persönlichen Beziehungen“ zu stehen: Vgl.: Pohl an das Bundeskanzleramt, 23.1.1923. ÖStA, AdR, AAng BKA/AA NPA: (Karton 668) Liasse Russland. Barry McLoughlin / Hannes Leidinger / Verena Moritz (2009): Kommunismus in Österreich 1918–1938, Innsbruck/Wien/Bozen, 42. Bronski zufolge hatten sich vor allem Otto Bauer und Friedrich Austerlitz gegen Pohls Ernennung ausgesprochen. Vgl.: Bronski an Čičerin, Radek, Litvinov, 26.7.1920. AVP RF 04/1/1/5/3.

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­ owjetrussland stellte er nämlich fest, dass sich die Repatriierung der Kriegsgefangenen anS gesichts der vielfach chaotischen Zustände auf dem Territorium des ehemaligen Zarenreichs, oft unklarer Kompetenzverhältnisse, der mangelhaften Infrastruktur und der Behäbigkeit des vorhandenen Verwaltungsapparats nur unter großen Anstrengungen lösen ließ. Ein Zusammenspiel vieler verschiedener Organisationen und Initiativen, die des Öfteren trotz und nicht wegen der sowjetrussischen Instanzen ihre Hilfstätigkeit entfalteten, sorgte schließlich für die Repatriierung der über das Kriegsende hinaus auf dem Territorium des früheren Zarenreichs verbliebenen Kriegsgefangenen. Obwohl seine Arbeit als Leiter der Kriegsgefangenenmission alles in allem erfolgreich verlief, stellten sich die Beziehungen Pohls zum Kriegsgefangenen- und Zivilinterniertenamt in Wien indessen als denkbar schlecht dar. Vor diesem Hintergrund reichte Pohl im August 1921 seine Kündigung als Missionschef ein. Diesem Schritt vorangegangen war die Kritik des Kriegsgefangenen- und Zivilinterniertenamts an der Arbeit des Sozialdemokraten, die sich nicht zuletzt auf dessen Bemühungen hinsichtlich der Ausgestaltung quasidiplomatischer Beziehungen zur RSFSR bezog. Immerhin zeichnete sich im Sommer 1921 das Ende der Repatriierungstätigkeit der Mission ab, was die Frage nach der Verankerung einer nachfolgenden österreichischen Vertretung in Moskau umso wichtiger erscheinen ließ. Pohl machte schließlich die „geänderten innerpolitischen Verhältnisse[n] Österreichs“ dafür verantwortlich, dass die Wiener Stellen auf eine „Einschränkung“ seiner „Aktionsfreiheit“ in Russland hingearbeitet hätten.8 In Wien aber, wo seit Juni 1921 mit dem ehemaligen Polizeipräsidenten Johann Schober ein erklärter Gegner des bolschewistischen Regimes die Bundesregierung anführte, akzeptierte man Pohls Kündigung nicht und konnte ihn – unter anderem mit dem Versprechen einer höheren Gehaltszahlung – zum Bleiben bewegen.9 Nichtsdestoweniger hatte Schober im Mai 1921, damals noch in der Funktion des Wiener Polizeipräsidenten, die Verankerung einer sowjetrussischen Vertretung in der Bundeshauptstadt von einer strengen Kontrolle der künftigen „Missionsmitglieder“ abhängig gemacht. Die Vorteile einer Ausweitung der bilateralen Beziehung in wirtschaftlicher und diplomatischer Hinsicht lagen seiner Ansicht nach allein auf Seite Moskaus.10 Obwohl Mieczysław Bronski-Warszawski bereits zu Jahreswechsel 1920/21 den Abschluss eines Abkommens zur Sicherung eines Verbleibs der Vertretung Moskaus in Wien anzustreben begann, dauerte es bis Dezember 1921, um dieses Ziel zu erreichen.

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Pohl an das Kriegsgefangenen- und Zivilinterniertenamt, 10.8.1921. ÖStA, AdR, BKA/KGF: (Karton 107) 1921: 3-1/18. 9 Ebd. 10 Polizeidirektion Wien an das BM für Äußeres, Zl. Pr. ZIV-1681, 25.5.1921.ÖStA, AdR, AAng BKA-AA NAR: (Karton 318) F7 Russland.

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Allen Schwierigkeiten zum Trotz war das Abkommen mit Russland, das die Wirtschaftsbeziehungen bis 1932 regelte,11 dann Ende des Jahres unterschriftsreif. Mit dem darin festgehaltenen Zugeständnis konsularischer Befugnisse für die Vertretungen Sowjetrusslands und der Sowjetukraine einerseits sowie Österreichs andererseits war ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung De-jure-Anerkennung des bolschewistischen Staates getan. Außerdem hatte man beschlossen, den nunmehrigen „bevollmächtigten Vertretungen“ Handelsabteilungen anzugliedern.12 Erst im September 1922 wurde dann die Bevollmächtigte Vertretung der Republik Österreich installiert. Den betreffenden Stellen in Moskau überreichte Otto Pohl am 5. Dezember dieses Jahres sein Beglaubigungsschreiben, wenngleich der stellvertretende Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Lev Karachan, bereits im Juni 1922 den Abgesandten aus Österreich in einer ausführlichen Rede willkommen hieß.13 Die Frage der beiderseitigen Botschaftsgebäude beziehungsweise die damit verbundenen Kompensationsforderungen der Sowjetregierung einerseits und der Nachfolgestaaten der k.  u. k. Monarchie andererseits ist nur eines von vielen Beispielen für das in den kommenden Jahren oftmals belastete bilaterale Verhältnis. Pohl sah sich mit Aleksandr Šlichter einem ungeduldigen Sowjetrepräsentanten in Österreich gegenüber, der die ehemals zaristische diplomatische Vertretung in der Reisnerstraße in Wien besonders nachdrücklich beanspruchte. Außerdem bekam er es zur selben Zeit in Moskau in dieser Angelegenheit mit dem stellvertretenden Volkskommissar für äußere Angelegenheiten, Maksim Litvinov, zu tun, der sich ebenfalls wenig kompromissbereit gab. Pohl konnte die ganze Angelegenheit erst 1927 einer endgültigen Lösung zuführen und entschied sich vor diesem Hintergrund für ein vom NKID angebotenes Palais in der Moskauer Innenstadt, das von nun an die österreichische diplomatische Vertretung beherbergen sollte. Bei wesentlichen Fragen hinsichtlich der Weiterentwicklung des bilateralen Verhältnisses bewegte sich zunächst ebenfalls wenig. Wenngleich diverse prominente Exponenten des Sowjetregimes, darunter Grigorij Zinov´ev, den Beginn regulärer diplomatischer Beziehungen bereits mit dem Vertrag von Brest-Litovsk verknüpften14 und damit die österreichische Regierung in Sachen „Anerkennung“ unter Druck zu setzen trachteten, negierte Letztere hartnäckig eine derartige Interpretation des Abkommens vom März 1918. Eine De-jure-Anerkennung des Sowjetregimes kam aus österreichischer Sicht noch 1923 nicht infrage. Pohl 11

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Gertrude Enderle-Burcel (2008): Die österreichisch-sowjetischen Beziehungen 1918–1938, in: Gertrude EnderleBurcel / Eduard Kubu / Jiři Šouša / Dieter Stiefel (Hg.): „Discourses – Diskurse“. Essays for – Beiträge zu Mikuláš Teich & Alice Teichova, Prag/Wien, 91–110, 92. Vgl. Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, 21.3.1922, Jg. 1922, 289. Ministerstvo Inostrannych Del SSSR: Dokumenty vnešnej politiki SSSR, tom 5. Moskva 1957–1977, Dok. 17, 436. Der Verweis auf den „Brest-Litovsker Vertrag“ ist insofern erstaunlich, als ihn die Moskauer Regierung ja noch 1918 annulliert hatte.

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gab Litvinov zu verstehen, dass „Österreich in seiner Politik gegenüber Russland auf Mächte Rücksicht zu nehmen habe, die ein Vorgehen Österreichs in diesem Punkt schwerlich zulassen werden“.15 Dieses Argument war nicht neu und schien schließlich – einmal mehr – auch dem Kreml einsichtig. Dennoch erhielt Šlichters Nachfolger, Michail Levickij, den Auftrag, auf die Anerkennung hinzuarbeiten. Den Ukrainer, dem Otto Pohl eine im Vergleich zu dessen Vorgänger „grössere geistige Beweglichkeit“ nachsagte,16 beschrieben indessen seine Kollegen in der Sowjetvertretung als ausgesprochenen Choleriker. Levickij hatte angeblich in aller Öffentlichkeit seine Frau verprügelt und infolge diverser Wutausbrüche die Aufmerksamkeit benachbarter Botschaften in der Reisnerstraße erregt.17 Dass Österreich am 25. Februar 1924 die Anerkennung der Sowjetunion aussprach, war keineswegs ein Verdienst des eigenwilligen Sowjetvertreters in Wien gewesen. Die Alpenrepublik orientierte sich vielmehr am Vorbild Großbritanniens. Noch im Jänner 1924 kündigte der österreichische Außenminister anlässlich einer Rede im Parlament an, dem Beispiel Londons folgen und die Sowjetunion anerkennen zu wollen.18 Eine solche Politik war freilich begleitet von heftigen Diskussionen in der Presse. Konservative Blätter vermochten hierin nicht mehr als einen Kniefall vor dem „ideologischen Feind“ zu sehen, während die „Arbeiter-Zeitung“ (AZ) die Herstellung „normaler“ diplomatischer Beziehungen zu Moskau gewissermaßen als überfällig betrachtete. Die Sorge christlichsozialer Kreise, mit der Zulassung einer „formellen Gesandtschaft“ kommunistischen Agitatoren Tür und Tor zu öffnen, konnte Otto Bauer nicht nachvollziehen. Das Einsickern solcher Elemente ließ sich seiner Meinung nach ohnehin nicht verhindern – unabhängig vom Status der diplomatischen beziehungsweise bevollmächtigten Vertretung der UdSSR in Wien. Außerdem hatten die Sozialdemokraten in Zusammenhang mit den Beziehungen zu Moskau immer auch das Argument der Wichtigkeit der beiderseitigen Handelsbeziehungen ins Treffen geführt, und Pohl hatte sie in dieser Hinsicht wohl bestärkt.19 In Moskau wertete man die Anerkennung durch Österreich jedenfalls als „willkommene Überraschung“ und als „Zeugnis von dem staatsmännischen Geiste des Herrn Bundeskanzlers Dr. Seipel“.20 Ganz offensichtlich hatte man in Hinblick auf Österreichs eingeschränkten außenpolitischen Handlungsspielraum auf größeren Widerstand seitens der Franzosen gerechnet. Intern interpretierte das NKID die Entscheidung Wiens überdies als Versuch vor al15

Zit. nach Verena Moritz / Julia Köstenberger / Aleksandr Vatlin / Hannes Leidinger / Karin Moser (2013): Gegenwelten. Aspekte der österreichisch-sowjetischen Beziehungen 1918–1938, St. Pölten/Salzburg/Wien, 83. 16 McLoughlin et al. (2009), 55. 17 Vgl. Besedovskijs Charakterisierung, der von einem „Zirkusclown ohne Engagement“ sprach. – Grigorij Bessedowsky (1930): Im Dienste der Sowjets. Erinnerungen, Leipzig/Zürich, 78. 18 Journal des Bevollmächtigten Vertreters, 10.1.1924. AVP RF 066/6/103/7183. Die Frage der Anerkennung wurde am 10. Jänner 1924 im Hauptausschuss des Parlaments in Wien diskutiert. 19 Moritz et al. (2013), 86. 20 Zit. nach Moritz et al. (2013), 86.

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lem der Christlichsozialen, den Sozialdemokraten die Möglichkeit zu nehmen, die Forderung nach einer De-jure-Anerkennung der UdSSR zu einer Art „Kampfparole“ zu machen. Offiziell wurde Österreichs Schritt aber geradezu als Widerstandsakt gegen die Entente gewürdigt. In einem in der „Izvestija“ abgedruckten Interview über die Anerkennung der UdSSR durch den Kleinstaat brachte der stellvertretende Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten außerdem zum Ausdruck, dass Moskau mit großem Interesse Österreichs Bemühungen registriere, „die Folgen des schweren ihm aufgezwungenen Friedens“ zu überwinden.21 Schon im kommenden Jahr aber drohte sich das bilaterale Verhältnis nachhaltig abzukühlen. Immerhin hatte Außenminister Heinrich Mataja öffentlich sein Missfallen gegenüber dem Sowjetregime zum Ausdruck gebracht und sich in seiner diesbezüglichen Wortwahl keine merkbare Zurückhaltung auferlegt. Moskau reagiert verstimmt, und Pohl, der im NKID kein Hehl aus seiner persönlichen Geringschätzung des österreichischen Außenministers machte, konnte die Wogen nur mit Mühe glätten. Einigermaßen problematisch für die Beziehungen zwischen dem Kleinstaat und der Sowjetunion erwies sich 1926 dann auch ein geplantes Attentat auf den Sowjetrepräsentanten in Wien, Jan Berzin. Nach Moskaus Dafürhalten ging die österreichische Justiz nicht gerade streng mit den Beteiligten des Komplotts ins Gericht. Auch in diesem Streitfall oblag es Otto Pohl, eine dauerhafte Beeinträchtigung des österreichisch-sowjetischen Verhältnisses zu verhindern.

III. Personalfragen Als im Februar 1924 die De-jure-Anerkennung der UdSSR seitens Österreichs ausgesprochen wurde, stand für die Sozialdemokraten die Berufung Otto Pohls zum ersten regulären beziehungsweise vollwertigen diplomatischen Vertreter Österreichs in Moskau außer Diskussion. In einem im Februar 1924 geführten Gespräch mit dem sowjetischen Bevollmächtigten Vertreter – damals noch Michail Levickij – erklärte Sektionschef Franz Peter gegenüber dem Moskauer Repräsentanten aber, dass Bundeskanzler Ignaz Seipel zunächst nur an die Entsendung eines Geschäftsträgers, nicht eines Botschafters gedacht hatte. Und dieser „Platzhalter“ sollte nach den Wünschen des Kanzlers nicht gerade der Sozialdemokrat Otto Pohl sein. Levickij verlieh daraufhin seinem Missfallen über diese Perspektiven Ausdruck. Interessanterweise riet ihm Peter nun, Vertreter der SDAP von Seipels Absichten zu informieren. Sie würden, meinte der Sektionschef, dann gewiss entsprechenden Druck in Richtung Bundeskanzleramt ausüben. Sogar Außenminister Alfred Grünberger drängte den Sowjetrepräsentanten, Moskau möge das Agrément für Pohl fordern.22 Levickij zog al21

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Zit. nach Alexander Jefremov (1984): Die sowjetisch-österreichischen Beziehungen bis 1938, in: ÖsterreichischSowjetische Gesellschaft (Hg.): Österreich und die Sowjetunion 1918–1955. Beiträge zur Geschichte der österreichisch-sowjetischen Beziehungen, Wien, 38–51, 42. Levickij an Litvinov, 19.2.1924. AVP RF 066/6/103/7/40.

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ler Wahrscheinlichkeit die richtigen Schlüsse aus diesem Verhalten: Seipel hatte Peter und Grünberger aufgetragen, seine angebliche Ablehnung gegenüber Pohls Bestellung zum Botschafter zu ventilieren, um auf diese Weise den Sozialdemokraten eine Art Gegenleistung abzuringen.23 Seipels Taktik ging auf. Levickij informierte Litvinov umgehend über die neuen Entwicklungen.24 Dennoch war im April 1924, als Pohl sich anlässlich eines Wien-Aufenthalts auch zu einem Treffen mit Levickij verabredete, noch keine endgültige Entscheidung getroffen. Obwohl Pohl vom Außenministerium noch im Februar dahingehend informiert worden war, dass seine nunmehrige Stellung als Geschäftsträger lediglich ein Provisorium sei und seine Ernennung zum Gesandten bevorstehe, ging Pohl selbst davon aus, nicht mehr nach Moskau zurückzukehren.25 Er sei, so der bisherige österreichische Repräsentant in der UdSSR, aufgrund seiner Parteizugehörigkeit nicht der Kandidat, den sich die nunmehrige Regierung vorstelle. Jetzt ergriff Levickij die Initiative und lud die Ministeriumsbeamten Franz Peter und Emil Junkar gemeinsam mit Otto Pohl zum Frühstück in der Sowjetvertretung ein, um die Frage des Botschafterpostens zu besprechen. Zu Pohls und Levickijs Überraschung hieß es nun auf einmal, Seipel habe längst eine Entscheidung zu Gunsten Pohls getroffen. Nichtsdestoweniger ging der alte und neue österreichische Repräsentant in der UdSSR davon aus, dass man ihm in der Folge einen „Aufpasser“ zuteilen würde.26 Pohl reiste jedenfalls erst Anfang Juli 1924 in seiner neuen Funktion nach Moskau, um seine Tätigkeit als Repräsentant Österreichs in Moskau aufzunehmen beziehungsweise fortzuführen. Die Umwandlung der bevollmächtigen Vertretung in eine Gesandtschaft war nun auch auf dieser personellen Ebene vollzogen worden. Pohl wurde im Gastgeberland freundlich begrüßt.27

IV. Bewertungen Es stellt sich bisweilen als schwierig dar, anhand der Berichte von und über Pohl den Diplomaten vom Politiker und speziell vom deutlich links orientierten SP-Mann zu trennen. Der österreichische Sozialdemokrat beurteilte die sowjetische Politik einerseits überaus kritisch und differenziert, begegnete ihr aber andererseits mit einem prinzipiellen Wohlwollen, das ihn dann fallweise zum geradezu idealen, weil – so scheint es – „ideologisch willigen“ Adressaten sowjetischer Propaganda machte. Obwohl Pohl nicht selten die „typische bolschewistische Brutalität“ anprangerte und vom diktatorischen Stil der „Kremlherren“ sprach, neigte 23 24 25 26 27

Levickij an Litvinov, 19.2.1924. AVP RF 066/6/103/7/40. Levickij an Litivnov, 27.2.1924. AVP RF 066/6/103/7/45. Gesandtschaftsbericht Moskau Zl. 111/67 Präs. P., 20.2.1924. ÖStA, AdR, AAng BKA-AA NPA: (Karton 42). Levickij an Litvinov, 15.4.1924. AVP RF 066/6/103/7/50. Gesandtschaftsbericht Moskau Zl. III/47 Präs. P., 10.7.1924. ÖStA, AdR AAng BKA-AA NPA: (Karton 42).

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Österreichs Mann in Moskau andererseits in einigen Fällen durchaus dazu, die Gewaltmethoden des Staates zu rechtfertigen.28 Pohls Analysen der Machtkämpfe innerhalb der Partei der Bolschewiki fielen mitunter derart differenziert aus, dass sich daraus schwerlich klare Schlussfolgerungen ziehen ließen. Seine Darlegungen spiegelten nicht nur die tatsächlichen Wirrnisse rund um die Richtungsstreitigkeiten der Bolschewiki sowie den angesichts spärlicher Informationen lückenhaften Kenntnisstand über den Konflikt wider, sondern wohl auch die eigene schwankende Meinung in Bezug auf den seitens der Staatsspitzen einzuschlagenden Kurs. Vor diesem Hintergrund fiel es ihm auch nicht leicht, die Opposition mit ihren Forderungen und Ansichten zu bewerten. Im Unterschied dazu fand er in Bezug auf die Komintern (KI) und speziell für deren Leiter, Grigorij Zinov´ev, einigermaßen deutliche Worte. Pohls Beurteilung zufolge handelte es sich beim KI-Chef sinngemäß um einen beschränkten Vielredner, dessen „unerfreuliche schmierenmässige Theatralik“ nur noch von der „Fettigkeit seines Sprachorgans“ und der „banale[n] Routiniertheit und Unpersönlichkeit seiner Reden“ übertroffen werde.29 Während die Alpenrepublik in der internationalen Presse immer häufiger als „Bolschewikenzentrale“ in Verruf zu geraten drohte und die klandestine „Wühlarbeit“ der Kommunistischen Internationale auf österreichischem Boden auch von den dortigen Behörden als Faktum betrachtet wurde, skizzierte Otto Pohl die KI an der Jahreswende 1924/25 als lästiges Anhängsel des Kremls, von dem Letzterer sich nach Möglichkeit distanzieren wolle. Seiner Ansicht nach „waere [es] der Moskauer Sowjetregierung sicherlich sehr angenehm, wenn es irgendwo in der Welt einen Winkel mit einer genuegend geschuetzten Asyl- und Aktionsfreiheit gaebe, um die III. Internationale dorthin, ohne Prestigeminderung und den Schein des Zurueckweichens uebersiedeln zu lassen“.30

V. Neuorientierungen Obwohl sich die Beziehungen zwischen Österreich und der UdSSR bis Mitte 1927 alles in allem zufriedenstellend entwickelten, nahm der stellvertretende Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten in einem Gespräch mit Otto Pohl Anfang Juli dieses Jahres eine Verschlechterung des bilateralen Verhältnisses vorweg. Da Litvinov in der österreichischen Außenpolitik für gewöhnlich „Londons lenkende Hand“ sah, vermutete er nun, da das sowjetisch-britische Verhältnis an einem Tiefpunkt angelangt war, entsprechende Auswirkungen auf die österreichische Sowjetunionpolitik. Der österreichische Gesandte beschwichtigte.31 Die Juli-Ereignisse des Jahres 1927 wurden in der sowjetischen Presse mit der Aufforderung 28 29 30 31

Vgl. Gesandtschaftsbericht Moskau Zl. 555/8 P., 27.6.1926. ÖStA, AdR, AAng NPA: (Karton 42). Gesandtschaftsbericht Moskau 1924, ohne Datum, ohne Zahl. ÖStA, AdR AAng NPA: (Karton 42). Gesandtschaftsbericht Moskau Zl. 2/8 Präs. P., 2.1.1925. ÖStA, AdR AAng NPA: (Karton 42) . Vgl. Edgard Haider (1975): Die österreichisch-sowjetischen Beziehungen 1918-1938, phil. Diss. Wien, 191.

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an die Arbeiterschaft verbunden, die Regierung zu stürzen. Otto Pohls Versuche, das Bundeskanzleramt in Wien von der Harmlosigkeit der sowjetischen Verbalattacken zu überzeugen, misslangen zunächst. Noch am 23. Juli 1927 charakterisierte er die Reaktion in Moskau auf die Juli-Ereignisse als mehr oder weniger unbeholfen und phrasenhaft. Aufrufe zur Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung in Österreich seien in Kenntnis der tatsächlichen innenpolitischen Verfasstheit des Landes und seiner Positionierung innerhalb des europäischen Mächtekonzerts völlig bedeutungslos. Jene in der Sowjetunion, welche die österreichische Lage kannten, dachten – so Pohl – ohnehin pragmatisch. Deren Analyse entbehrte in weiterer Folge nicht eines gewissen Humors: Die Verwirklichung der Losung von einer Arbeiter- und Bauernregierung in der Alpenrepublik sei gleichbedeutend mit der „Befürwortung einer Koalitionsregierung“, also eines Zusammengehens von Christlichsozialen und Sozialdemokraten. Wie absurd die sowjetischen Meinungen zu den Vorgängen in Österreich zum Teil waren, bewies nach Ansicht des Gesandten auch der Umstand, dass einige Kominternkreise abenteuerlichen Verschwörungstheorien nachhingen. Diesen zufolge war „die Wiener Demonstration […], wenn auch nicht geradezu organisiert, so doch von englischen Provokatoren ausgenützt worden, um Oesterreich die Aufrechterhaltung der Neutralität unmöglich zu machen und durch das Schreckgespenst einer bolschewikischen Arbeiterdiktatur in Mitteleuropa die englische Politik eines antisowjetischen Blocks zu fördern“.32 Der Konflikt zwischen Wien und Moskau konnte in der Folge beigelegt werden. Doch die Abkühlung der Beziehungen war evident. In einer Phase, in der das NKID angesichts der allgemeinen Verschlechterung der sowjetischen Position im internationalen Kontext besonders sensibel auf Zwischentöne achtete, verhielt sich Österreich zwar nach außen hin korrekt, aber doch sehr distanziert. Dieser Eindruck wurde durch eine von Ignaz Seipel im Herbst 1927 in München gehaltene Rede bestätigt, in der er einige Seitenhiebe gegen die Bolschewiki anbrachte. Dennoch waren sowjetische Beobachter der Ansicht, dass Österreich ungeachtet des antisowjetischen Kurses Großbritanniens nicht auf eine Verschlechterung der Beziehungen mit der UdSSR zusteuern wollte.33 Otto Pohl hatte bereits Mitte Juni, bevor die Juli-Ereignisse mit ihren Folgen für die österreichisch-sowjetischen Beziehungen die Zwischenbilanz von Moskaus Außenpolitik für das Jahr 1927 noch schlechter aussehen ließen, eine Analyse der aktuellen Lage in der UdSSR vorgelegt. Dabei widmete er sich vor allem den Auswirkungen der außenpolitischen Misserfolge auf die inneren Verhältnisse sowie den Folgen einer gestiegenen „Kriegshysterie“, welche Anlass gab, einmal mehr nach „Verrätern“ in den eigenen Reihen zu suchen. Seinen Bericht stellte Pohl unter das Motto „Terror und Gegenterror“. Der österreichische Gesandte schilderte darin unter anderem das propagandistische Räderwerk der Bolschewiki, das in Hin32 33

Gesandtschaftsbericht Moskau Zl. 629/8 P., 23.7.1927. ÖStA, AdR, AAng ÖVB 1 Rep Moskau: (Karton 1). Dokumenty vnešnej politiki, Tom, 9, Dok. 246, 470.

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blick auf die Instrumentalisierung der aktuellen Entwicklungen in Gang gesetzt wurde, und er stellte seine Fähigkeit unter Beweis, die Mechanismen der Machtausübung nicht nur zu erkennen, sondern auch ihre Ziele zu antizipieren.34 Stalin hielt er allerdings nicht für den geeigneten Mann, um die anstehenden Probleme, denen sich das „kommunistische Vaterland“ nun gegenüber sah, zu lösen. Dessen „starre, hartnäckige und ideenarme Routine“ erachtete er aber als „Garantie gegen kriegskommunistische Abenteuer nach aussen und im Innern“.35 „Die Ideologen und Professionisten der Weltrevolution“ waren seiner Ansicht nach bereits seit der Jahreswende 1926/27 „kaltgestellt“ worden.36 Die Amtszeit des österreichischen Gesandten, der tiefe Einblicke in die sowjetische Wirklichkeit gewonnen hatte, neigte sich indes ihrem Ende zu. Das NKID vermerkte Otto Pohls Rückkehr aus Wien nach Moskau per 20. Oktober 1927.37 Bereits am übernächsten Tag führte er mit Boris Štejn, Leiter der Abteilung für Zentraleuropa im NKID, ein aufschlussreiches Gespräch, bei dem er seine bevorstehende Abberufung aus Moskau ankündigte. Sie stand laut Pohl in unmittelbaren Zusammenhang mit den Juli-Ereignissen. Seipel, meinte der NochBotschafter, räche sich damit an den Sozialdemokraten, in denen er die Hauptverantwortlichen für die Eskalationen Mitte Juli erblicke. Von der SDAPÖ seien keine Initiativen mit dem Ziel seines Verbleibens in Moskau zu erwarten, da die Partei die Kommunikation mit der Wiener Bundesregierung völlig abgebrochen habe. Darüber hinaus gab Pohl zu verstehen, dass seine Abberufung auch auf Betreiben Londons erfolgen würde. Sie sollte aber erst nach den „Oktoberfeierlichkeiten“ offiziell werden, um den Anschein eines dezidiert unfreundlichen Aktes im Vorfeld des Jubiläums zu vermeiden.38 Außerdem wollte das österreichische Außenministerium verhindern, dass der Botschafterwechsel parallel zur sogenannten „RakovskijKrise“ erfolgte, die das sowjetische Verhältnis zu Frankreich gerade schwer belastete.39 Dem NKID-Mitarbeiter Štejn unterbreitete Pohl außerdem sein Ansinnen, als „Privatmann“ in Moskau bleiben zu wollen. Er hatte vor, zunächst im IMĖ (Abkürzung für Institut K. Marksa i F. Ėngelsa) bei David Borisovič Rjazanov zu arbeiten und sich vornehmlich mit der Geschichte des Jahres 1848 zu beschäftigen.40 34 Gesandtschaftsbericht Moskau Zl. 477/8 P., 14.6.1927. ÖStA, AdR, AAng BKA-AA NPA: (Karton 603). 35 Gesandtschaftsbericht Moskau Zl. 477/8 P., 14.6.1927. ÖStA, AdR, AAng BKA-AA NPA: (Karton 603). Pohl liefert in seinem Bericht einen wichtigen Beitrag zur bis heute kontroversiell diskutierten Frage über die Hintergründe der „Kriegshysterie“. Vgl. dazu auch Viktor Knoll (2000): Das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten im Prozeß außenpolitischer Entscheidungsfindung in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Ludmila Thomas / Viktor Knoll (Hg.): Zwischen Tradition und Revolution. Determinanten und Strukturen sowjetischer Außenpolitik 1917-1941, Stuttgart, 73–155, 125–127. 36 Gesandtschaftsbericht Moskau, 3.1.1927. ÖStA, AdR, AAng ÖVB 1 Rep Moskau: (Karton 1). 37 Kurz-Journal, Juli-Dezember 1927. AVP RF 066/10/107/2/3-4. 38 Gespräch mit Pohl (Štejn), 22.10.1927. AVP RF 04/1/5/71/23. 39 Österreich: Die Beziehungen zur UdSSR, 1.12.1927.AVP RF 066/10/107/3/6-8. 40 Gespräch mit Pohl (Štejn), 22.10.1927. AVP RF 04/1/5/71/23.

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Über die Hintergründe seiner Abberufung informierte Pohl auch Maksim Litvinov persönlich. Er warnte ihn außerdem vor seinem Kollegen Heinrich Wildner, den der scheidende Gesandte als seinen „persönlichen Feind“ bezeichnete. Wildner, so Pohl über seinen Mit­ arbeiter in der Gesandtschaft, sei ein Monarchist, der alle Versuche einer Verbesserung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen bewusst hintertreibe.41 Solche Informationen konnten auch für Konstantin Jurenev nützlich sein.42 Nachdem Jan Berzins Abberufung im September 1927 in Moskau beschlossene Sache war,43 kam Jurenev als neuer Bevollmächtigter Vertreter nach Wien. Dort traf er mehrmals mit Otto Pohl zusammen. Die beiden Männer unterhielten sich nicht zuletzt über die Zukunft Österreichs. Pohl gab sich überzeugt vom baldigen „Anschluss“ des Landes an Deutschland. Dass dieser unumgänglich sei, bestätigte dem Moskauer Diplomaten auch der deutsche Gesandte in der Alpenrepublik. Letzterer aber fügte hinzu, dass dieser deutscherseits gegenwärtig nicht forciert werden könne. Otto Bauer wiederum setzte dem Sowjetvertreter die diesbezügliche Haltung der Sozialdemokratie auseinander. Diese sei zum jetzigen Zeitpunkt gegen einen „Anschluss“.44 In Wien war Otto Pohls Weggang aus Moskau noch geraume Zeit nach seinem tatsächlichen Abzug Gesprächsstoff in diplomatischen Kreisen. Die offiziellen Gründe für Pohls Abberufung waren den Erklärungen des Generalsekretärs im Außenministerium Peter zufolge keineswegs in Pohls politischer Orientierung zu suchen. Peter verwies Stanislav Kalina, einen Mitarbeiter der sowjetischen Gesandtschaft in Wien, vielmehr auf eine Umstrukturierung des diplomatischen Dienstes, die in der diesbezüglichen Personalpolitik des Narkomindel seine Entsprechung fände: Ebenso wie in der UdSSR setze man auch in Österreich nunmehr auf Berufsdiplomaten und nicht auf bloße „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“. Mit Pohls Arbeit sei man zufrieden gewesen und seine Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie habe für die Entscheidung zur Abberufung keine Rolle gespielt. Nun aber sollten ausgebildete Fachmänner das Ruder übernehmen.45 In Pohls Augen lagen die Dinge freilich anders. Die angebliche Umstrukturierung des diplomatischen Korps diente seiner Ansicht nach lediglich dazu, sich unliebsamer Personen zu entledigen – und für Seipel gehöre er eben zu Letzteren.46 Darüber hinaus dürfte auch Pohls jüdische Herkunft seinen Gegnern als Grund für seine „Entfernung“ aus dem diplomatischen 41 Auszüge aus dem Journal Litvinov, Okt. 1927. AVP RF 04/1/5/71/24. 42 Jurenev sollte laut Politbürobeschluss vom 23.6. nach Wien beordert werden. Protokoll Nr. 112 der Sitzung des Politbüros vom 23.6.1927 (Sondernr. 90). RGASPI 17/162/5/51. 43 Vgl. V. V. Sokolov (1990): J. A. Berzin – Revoljucioner, diplomat, gosudarstvennyj dejatel´, in: Novaja i novejšaja istorija (1990 Mart-Aprel´) Nr. 2, 141-159, 158. 44 Journal Jurenev, 28.11.1927. AVP RF 04/1/5/71/16-21. 45 Journal Jurenev, 23.11.–8.12.1927. AVP RF 04/1/5/73/16-21. 46 Journal Jurenev, 1.–28.10.1927. AVP RF 04/1/5/73/1-10.

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Korps gedient haben. Selbst die Polizeidirektion Wien wurde eingeschaltet, um Nachteiliges über den Gesandten herauszufinden.47 In Moskau jedenfalls hatte der scheidende Gesandte eine gute Nachrede. Das bestätigte auch ein Artikel in der „Izvestija“, in dem Pohls Tätigkeit ausdrücklich gewürdigt wurde.48

VI. Positionierungen Unabhängig von den Turbulenzen des Jahres 1927 wurden im Jahresrückblick des NKID die Beziehungen zu Österreich als einigermaßen zufriedenstellend beurteilt. Daran konnte auch der Umstand, dass der designierte neue österreichische Botschafter, Robert Egon Hein, just am 7. November, dem zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution, einer Einladung in die Sowjetbotschaft in Wien nicht nachgekommen war, nichts ändern.49 Heins Fernbleiben wurde in Moskau allerdings als unfreundlicher Akt betrachtet.50 Insofern begann die Tätigkeit des Berufsdiplomaten mit einem durchaus undiplomatischen Fauxpas. Währenddessen stellte sich Heins Vorgänger auf eine neue Tätigkeit ein. Pohl verließ im Jänner 1928 Moskau und begann sich im Auftrag des IMĖ im Ausland um den Erwerb von Dokumenten zu bemühen, welche die Geschichte der Arbeiterbewegung betrafen. Seine diesbezügliche Tätigkeit führte ihn unter anderem nach Paris, wo er Nachlässe sichtete, die Korrespondenzen mit Karl Marx enthielten.51 Allerdings beklagte er sich bereits im März 1928 über finanzielle Engpässe. Er erhielt nur einen Bruchteil der versprochenen Entlohnung. David Rjazanov zählte er in einem Brief nach Moskau seine Ausgaben auf, die freilich nur die notwendigsten Dinge des alltäglichen Lebens betrafen. Nicht einmal seine umfangreiche journalistische „Nebenarbeit“ für einige sowjetischen Zeitungen und Journale, meinte Pohl, sei dazu geeignet, seine pekuniäre Situation zu verbessern.52 1929 dürfte sich die finanzielle Lage des geschassten Gesandten 1929 zum Positiven verändert haben. Damals begann er jedenfalls, die „Moskauer Rundschau“, eine „politisch-literarisch-wirtschaftliche Wochenschrift“ herauszugeben. Die neue Zeitung, die er auch als Chefredakteur betreute, erregte nicht zuletzt in Österreich Aufsehen. Generalsekretär Franz Peter vom Außenministerium in Wien sah sich sogar mehrmals veranlasst, in dieser Causa den Bevollmächtigten Vertreter Moskaus in Wien, Konstantin Jurenev, aufzusuchen. Negativ über die Aktivitäten seines Vorgängers äußerte sich vor allem Egon Hein. Er echauffierte sich 47 Haider (1975), 140f. 48 Haider (1975), 141 und die dem Bericht des Geschäftsträgers Hudeczek beigelegten Artikel der Izvestija sowie der Pravda, in: Gesandtschaftsbericht Moskau Zl. 1211/8 Präs, 29.11.1927. ÖStA, AdR, AAng ÖVB 1 Rep Moskau: (Karton 1). 49 Österreich: Die Beziehungen zur UdSSR, 1.12.1927. AVP RF 066/10/107/3. 50 Lorenc an Jurenev, 8.11.1927. AVP RF 04/1/5/70/8. 51 Pohl an Cobel´, 9.2.1928 und Pohl an Rjazanov, 24.2.1928. RGASPI 71/50/188/3-5. 52 Pohl an Rjazanov, 13.3.1928. RGASPI 71/50/188/20-22.

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über österreichkritische Artikel der „Rundschau“ und verwies zudem auf die angebliche Ablehnung, die Pohls neue Tätigkeit beim gesamten diplomatischen Korps in Moskau erweckt hatte. Außerdem wollte der neue österreichische Botschafter in der UdSSR erkannt haben, dass die Arbeit des Ex-Gesandten keine ungeteilte Zustimmung unter seinen sowjetischen „Auftraggebern“ im NKID hervorrief. Insgesamt konnte er der Zeitung, die „dem Auslande die Möglichkeit geben“ sollte, „sich aus sowjetrussischen Quellen über den sowjetischen Standpunkt direkt zu informieren“, nichts Positives abgewinnen.53 Während Jurenev in seinen Gesprächen mit dem Vertreter des Außenministeriums nicht näher auf die „Causa Pohl“ einzugehen wünschte und Peter riet, die Angelegenheit ganz einfach zu ignorieren, hörte Hein nicht auf, seine Giftpfeile auf den Vorgänger abzuschießen. Dessen Berichte könnten ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass in Wien schließlich sogar die Auszahlung der Pension an den früheren Botschafter in Moskau zur Disposition stand. Einige Zeit später, im Sommer 1934, als Hein bereits abberufen worden war und mit dem nunmehrigen Gesandten Heinrich Pacher bereits ein paar Jahre hindurch ein Mann in Moskau saß, der gewiss keine Sympathien gegenüber wie immer gearteten links stehenden politischen Kräften hegte, geriet Pohl wieder ins Schussfeld des Außenamts in Wien. Diesmal ging es um Pohls Tätigkeit für das „Prager Tagblatt“, die angeblich mit den Konditionen für die Auszahlung seines „Ruhegenusses“ unvereinbar waren.54 Im Sommer 1934 lebte der Österreicher nach eigenen Angaben „zeitweise“ in Paris und hielt sich offenbar nur mehr sporadisch in der Sowjetmetropole auf. Die „Moskauer Rundschau“ war mit Ende 1933 eingestellt worden.55 Für sie hatte er bereits seit längerer Zeit nicht mehr gearbeitet.56 Dass Pohls Engagement für die Zeitung nachgelassen hatte, wurde vom Hein-Nachfolger Heinrich Pacher mit der zunehmend feindseligen Haltung Moskaus gegenüber der Sozialdemokratie in Verbindung gebracht. Diese Position, meinte Pacher, der mit Pohl persönlich gesprochen hatte, habe dem früheren österreichischen Gesandten die Arbeit bei der „Moskauer Rundschau“ gewissermaßen verleidet. Tatsächlich hatte sich Pohl bereits 1930 in einem Gespräch mit dem interimistischen Geschäftsträger der Sowjetbotschaft in Wien, E. Asmus, über die Arbeitsbedingungen bei der „Moskauer Rundschau“ beklagt. Damals ging es allerdings um die laut Pohl fehlende Unterstützung des Verlags Ogonëk für das Anfertigen von Übersetzungen vom Russischen ins Deutsche und um das mangelnde Bemühen, Abonnenten für die Zeitung zu gewinnen. Davon abgesehen dürfte sich der österreichi53 54 55 56

Gesandtschaftsbericht Moskau Zl. 8/ P., 14.5.1929. ÖSta, AdR AAng ÖVB 1 Rep Moskau: (Karton 2). Vgl. Agstner et al. (2009), 368. Die letzte Nummer erschien im Dezember 1933. Nach Auskunft der Bundespolizeidirektion Wien an das Bundeskanzleramt und weiterer Instanzen, die im Mai 1936 erteilt wurde, hielt sich Pohl im Oktober 1932 vorübergehend in Wien auf. Seit Juli 1931 hatte er sich seinen „Ruhegenuss“ an eine Bank in Locarno überweisen lassen. Liasse Personalia Otto Pohl. ÖStA, AdR, AAng NPA: (Karton 388).

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sche Sozialdemokrat aber auch infolge seiner nicht immer „linientreuen“ Berichterstattung Feinde gemacht haben. In der „Moskauer Rundschau“ erschienen beispielsweise Kommentare aus der Feder Maksim Gor´kijs, die durchaus nicht frei von Kritik an der Sowjetpolitik gewesen waren. Die finanzielle Situation des früheren Diplomaten war 1934 offenbar keineswegs rosig. Der Ex-Gesandte wollte in den geringfügigen Honoraren für seine unregelmäßig an die Zeitung in Prag abgelieferten Texte keinen Verstoß gegen die Regeln für den Bezug der Pension erkennen.57 Schützenhilfe bekam er jetzt interessanterweise von Heinrich Pacher. Pohl hatte Pacher Auskunft über seine „Nebentätigkeiten“ erteilt. Der als „deutschnational“ geltende Botschafter, der später keine Berührungsängste gegenüber den Nationalsozialisten hatte, enthielt sich im Zuge seiner Berichterstattung nach Wien antisemitischer Bemerkungen über Pohl. Das ist insofern erwähnenswert, als Pacher sich bei der Charakterisierung sowjetischer Amtsträger vielfach eines zum Teil derben antisemitischen Vokabulars bediente.58 Pacher betonte in der „Causa Pohl“ gegenüber dem Außenministerium in Wien überraschenderweise die Verdienste des Vorgängers, würdigte dessen Fähigkeiten und sah keine Veranlassung, dem Ex-Gesandten die Existenzgrundlage zu entziehen, nur weil dieser den Wiener Instanzen nicht gemeldet hatte, dass er in der Funktion eines „Moskau-Korrespondenten“ mitunter Artikel für eine Zeitung schrieb, die nach Pachers Kenntnis überdies keineswegs als „links“ zu gelten hatte. Darüber hinaus hob der amtierende Gesandte in Moskau hervor, dass Pohl „während der Wiener Kampftage“ – gemeint waren die Februarkämpfe 1934 – nicht in der österreichischen Bundeshauptstadt, sondern in Prag gewesen war und dort in weiterer Folge auch niemals mit den im Exil befindlichen Otto Bauer oder Julius Deutsch zusammengetroffen war. Pacher betonte vielmehr, dass sein Vorgänger sich von den Sozial­ demokraten gewissermaßen entfernt hatte und glaubte auch in der früheren Moskau-Berichterstattung Pohls, die er für das Bundeskanzleramt angefertigt hatte, „immer eher eine oppositionelle Note gegenüber den hiesigen Verhältnissen und Vorgängen“ erkennen zu können.59 Die Pensionszahlungen an Pohl wurden tatsächlich eingestellt, allerdings erst nach dem „Anschluss“.60 Bis 1940 hielt sich Pohl, dessen journalistische Tätigkeit ihn unter anderem

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Gesandtschaftsbericht Moskau Zl. 101/Res., 14.11.1934. ÖStA, AdR, AAng ÖVB 1 Rep Moskau: (Karton 4). Der Akt umfasst ein Konvolut an Vorakten, die bis ins Jahr 1929 zurückreichen und auch die Stellungnahmen Pachers zur Causa aus dem Jahr 1934 enthalten; weiters in diesem Zusammenhang: Journal Polpred, 17.6.1929. AVP RF 066/11/108/61; Journal Asmus, 14.7.–31.7.1930. AVP RF 05/10/59/32/47; Amtsvermerk über die „Moskauer Rundschau“, 28.10.1929. ÖStA, AdR, AAng ÖVB 1 Rep Moskau: (Karton 6). 58 Vgl. Moritz et al. (2013), 129. 59 Gesandtschaftsbericht Moskau Zl. 101/Res., 14.11.1934. ÖStA, AdR, AAng ÖVB 1 Rep Moskau: (Karton 4). Der Akt umfasst ein Konvolut an Vorakten, die bis ins Jahr 1929 zurückreichen und auch die Stellungnahmen Pachers zur Causa aus dem Jahr 1934 enthalten; weiters: Journal Polpred, 17.6.1929. AVP RF 066/11/108/3/61. 60 Vgl. Haider (1975), 142, und Agstner et al. (2009), 368.

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auch in die Schweiz oder nach Spanien und Finnland führte, in Paris auf. In weiterer Folge floh er nach Südfrankreich, wo er unter schwierigsten Bedingungen lebte und seinen Lebensunterhalt als Landarbeiter verdiente. 1941 beging er in Kenntnis seiner offenbar bevorstehenden Auslieferung an die NS-Behörden gemeinsam mit seiner zweiten Frau Selbstmord.61

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Eine Kurzbiografie von Otto Pohl bei Moritz et al. (2013), 453.

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Kelsens Prägung der österreichischen Bundesverfassung

I. Einleitung Hans Kelsen schuf seine Reine Rechtslehre in scharfer Auseinandersetzung mit den juristischen Lehren seiner Zeit. Zum akademischen Aufstieg – und diesen begünstigend – kam hinzu, dass Kelsen auch als praktizierender Jurist intensiv tätig wurde. Seit 1919 ordentlicher Professor der Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Wien konnte Kelsen das österreichische Rechtsleben an zentralen Stellen mitgestalten: Schon im Weltkrieg als Berater des Kriegsministers, dann vor allem von 1918 bis 1920 als Experte der Staatskanzlei und der Konstituierenden Nationalversammlung bei der Vorbereitung des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920. Er war damit der „Architekt“ der von 1920 bis 1933 und wieder seit 1945 geltenden Bundesverfassung, des „B-VG“.1 Es liegt auf der Hand, dass Kelsens methodische Positionen die Bundesverfassung von 1920 mitprägten. Allerdings darf sein Einfluss nicht überschätzt werden. Kelsen konnte keine eigentliche Verfassungspolitik verfolgen; vielmehr hatte er eine legistische Funktion. Es sei ihm darum gegangen – so sagte er 1947 – die ihm „gegebenen politischen Prinzipien in einer rechtstechnisch moeglichst einwandfreien Weise zu kodifizieren und dabei wirksame Garantien fuer die Verfassungsmaeßigkeit der Staatsfunktion einzubauen“.2 Doch allein damit übte Kelsen bestimmenden Einfluss auf die Form der Verfassung und einigen Einfluss auf deren Inhalt aus. Grundsätzlich ist Kelsens Wirkung nur zu verstehen, wenn man Person und Denkstil in die damalige österreichische Rechtskultur einbettet. Das Staatsrecht der Doppelmonarchie war kompliziert, das begann bei der Staatskonstruktion und setzte sich in schwierigen verfassungsdogmatischen Fragestellungen fort. Die positivistische Strömung war in Österreich besonders ausgeprägt. Ihr Hauptvertreter war Kelsens Vorgänger und Lehrer Edmund Bernatzik. Im Vielvölkerstaat konnte man allerdings ohnehin nur Positivist sein.3 1

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Zu Kelsens Anteil an der Verfassungswerdung vgl. zuletzt mit allen Hinweisen Thomas Olechowski (2009): Der Beitrag Hans Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung, in: Robert Walter / Werner Ogris / Thomas Olechowski (Hg.): Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 32), Wien, 211–230. Hans Kelsen (2006): Autobiographie 1947, in: Matthias Jestaedt (Hg.): Hans Kelsen im Selbstzeugnis, Tübingen, 31–94, 69. Vgl. Kelsen (2006), 31–94, 62: „Angesichts des oesterreichischen Staates, der sich aus so vielen nach Rassen, Spra-

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Um 1910 trat eine Gruppe begabter junger Staatsrechtslehrer auf den Plan: Neben Kelsen seine Freunde und Weggefährten Franz Weyr, Adolf Julius Merkl, Alfred Verdross und Leonidas Pitamic. Es entwickelte sich ein charakteristischer Stil der verfassungsdogmatischen Diskussion, der unter Kelsens Einfluss rechtstheoretische Aspekte miteinschloss.4 Kelsen standen diese Diskurse vor Augen. Doch auch umgekehrt beeinflussten Kelsens legislatorische Erfahrungen seine Reine Rechtslehre. Besonders deutlich wird dies bei der Entwicklung der Bundesstaatslehre.5 Eine Entsprechung schließlich liegt in der auf demokratische Weise möglichen Gesamtänderung des B-VG (Art. 44 Abs. 3) und dem wertrelativistischen Demokratiekonzept Kelsens.6 Deutlich wird der Einfluss Kelsens allerdings nicht an bestimmten Inhalten, als vielmehr daran, die Verfassung als Verfassungsrecht operabel zu machen . Die prekäre Situation, in der sich Österreich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs befand, ließ keine neue Verfassung aus einer gemeinsamen Werthaltung zu, das Regelwerk entstand vor den Kulissen eines zusammengebrochenen Reichs und mit wenig Vertrauen in eine österreichische Zukunft. Umso mehr kam es auf die juristische Qualität der Verfassung an: War die Bundesverfassung der einzige gemeinsame Nenner der politischen Kräfte, so musste zumindest sie funktionieren. Dafür nun waren jedenfalls drei Elemente unerlässlich: Die Verfassung als ein System von Rechtsnormen, eine formale Vorkehrung zur Identifikation des Verfassungsrechts und eine Einrichtung zur Kontrolle seiner Einhaltung. Damit ist das Thema der folgenden Skizze umrissen: Worin liegen diese Elemente im Einzelnen und wie ist es heute um sie bestellt?7

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che, Religion und Geschichte verschiedenen Gruppen zusammensetzte, erwiesen sich Theorien, die die Einheit des Staates auf irgendeinen sozial-psychologischen oder sozial-biologischen Zusammenhang der juristisch zum Staat gehoerigen Menschen zu gruenden versuchten, ganz offenbar als Fiktionen. Insofern diese Staatstheorie ein wesentlicher Bestandteil der Reinen Rechtslehre ist, kann die Reine Rechtslehre als eine spezifisch oesterreichische Theorie gelten.“. Ein Beispiel dafür ist die zwischen Weyr, Verdross und Merkl 1916/17 geführte Diskussion um die „Unabänderlichkeit von Rechtsnormen“: Franz Weyr (1916): Zur Frage der Abänderlichkeit von Rechtsätzen, in: Juristische Blätter Jg. 45 (1916) Heft 33, 307–389, 387; Alfred Verdross (1916): Zum Problem der Rechtsunterworfenheit des Gesetzgebers, in: Juristische Blätter Jg. 45 (1916) Heft 40, 471–473, Heft 41, 483–486, und Adolf Julius Merkl (1917): Die Unveränderlichkeit von Gesetzen – ein normlogisches Prinzip, in: Juristische Blätter Jg. 46 (1917) Heft 9, 97–98, Heft 10, 109–111. Vgl. dazu auch Robert Walter (1992): Entstehung und Entwicklung des Gedankens der Grundnorm, in: ders. (Hg.): Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 18), Wien, 47–59, 51. Vgl. dazu Ewald Wiederin (2005): Kelsens Begriffe des Bundesstaats, in: Stanley L. Paulson / Michael Stolleis (Hg.): Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen, 222–246, 231. Vgl. Markus Vašek (2013): Unabänderliches Verfassungsrecht und Revisionsschranken in der österreichischen Bundesverfassung, Wien, 94. Dieser Beitrag ist Oliver Rathkolb gewidmet, der viel zur Kelsen-Forschung beigetragen hat. Vgl. nur Oliver Rathkolb (2009): Hans Kelsen und das FBI während des McCarthysmus in den USA, in: Robert Walter / Werner Ogris / Thomas Olechowski (Hg.): Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit (Schriftenreihe des Hans KelsenInstituts 32), Wien, 339–348; ders. (2000): Hans Kelsens Perzeptionen Freudscher Psychoanalyse, in: Eveline List

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II. Der Gebrauchswert der Verfassung II.1 Der Verfassungsbegriff der Reinen Rechtslehre Die „Verfassung im rechtslogischen Sinn“ ist für Kelsen der vorausgesetzte Geltungsgrund der gesamten Rechtsordnung, also „die Einheit der Rechtsordnung in ihrer Selbstbewegung begründende(n) Grundnorm“, um eine Wendung aus der „Allgemeinen Staatslehre“ zu zitieren.8 Von ihrer Problematik und von den verschiedenen Umschreibungen, die Kelsen der Grundnorm gegeben hat, soll hier aber nicht die Rede sein.9 Vielmehr geht es um die Verfassung als positivrechtlich höchste Stufe der Rechtsordnung. Nach Kelsen habe sie die Funktion, die Organe und das Verfahren der generellen Rechtserzeugung, im modernen Staat also der Gesetzgebung, zu regeln.10 Diesen – also inhaltlich bestimmten – Ausschnitt der Rechtsordnung nennt Kelsen „Verfassung im materiellen Sinn“.11 Diesem Begriff stellt er die „Verfassung im formellen Sinn“ gegenüber. Dabei handelt es sich um Rechtsnormen einer bestimmten – erschwerten – Erzeugungsform. Zwar werde Verfassungsrecht im materiellen Sinn zweckmäßigerweise oft als Verfassungsrecht im formellen Sinn erzeugt, dies müsse aber nicht der Fall sein. Formelles Verfassungsrecht habe die zusätzliche Funktion, die Gesetzgebung positiv oder negativ inhaltlich zu determinieren. Die Verfassung im materiellen Sinn ist ein zwingender Bestandteil jeder Rechtsordnung.12 Weitere Elemente eines Idealtyps moderner Verfassungen gewinnt Kelsen empirisch aus zeitgenössischen Verfassungen, diese Inhalte sind allerdings kontingent: Die Grundrechte als negative Erzeugungselemente, die erschwerten Erzeugungsbedingungen, die Selbstdeutung des Dokuments als „Verfassung“ – oder das Bestehen einer einzigen Verfassungsurkunde.13

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(Hg.): Psychoanalyse und Recht, Wien, 85-91. Das Hans Kelsen-Institut verdankt Oliver Rathkolb außerdem die Beschaffung eines Interviews, das Kurt Rudolf Eissler 1953 mit Kelsen führte. Hans Kelsen (1925): Allgemeine Staatslehre, Berlin, 249. Vgl. auch noch Hans Kelsen (Nachdruck 2010): Die Funktion der Verfassung, in: Hans R. Klecatsky / Rene Marcic (†) / Herbert Schambeck (Hg.): Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd. 2, Wien, 1615–1622, 1622: „Die Funktion der Verfassung ist Geltungsbegründung“. Vgl. Walter (1992), 47. Vgl. für das Folgende Hans Kelsen (1960): Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien, 228. Gelegentlich auch „Verfassung im engeren Sinn“. Vgl. Hans Kelsen (1929a): Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: Veröffentlichungen der Verhandlungen der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer (1929) Heft  5, Berlin, 36–88. Zur Entwicklung und Problematik der Begriffsbildung vgl. Robert Alexy (2005): Hans Kelsens Begriff der Verfassung, in: Stanley L. Paulson / Michael Stolleis (Hg.): Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen, 333–352. Dies gilt auch dann, wenn eine Verfassung, die allenfalls selbst durch Gewohnheit zustande gekommen ist, nicht eine Gesetzgebung, sondern die Gewohnheit als rechtserzeugenden Tatbestand einsetzt. Vgl. Kelsen (1960), 231. Auch „Verfassung im weiteren Sinn“. Vgl. Fußnote 11.

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II.2 Die Normativität der Verfassung „Lex moneat non doceat“ – dieser alte Juristenspruch kommt gerade bei Verfassungstexten oft wenig zur Geltung. Denn Verfassungen sind ja gerne Orte der Selbstvergewisserung eines Staatsvolkes, Beteuerungen gemeinsamer Werte, ja Schriften der Erbauung und Belehrung.14 Freilich kann alles, was zum Inhalt einer Verfassung wird, am Ende eine normative Bedeutung gewinnen. Doch kann eine Verfassung das Gewicht je nachdem stärker darauf legen, Werte zu deklarieren oder aber „Spielregeln“ für die politische Willensbildung bereitzustellen.15 Dass die Grundrechte – in denen am ehesten allgemeine Wertvorstellungen des Verfassungsgesetzgebers zum Ausdruck kommen – im B-VG weitgehend nicht (neu) gefasst, sondern über eine Rezeptionsklausel aus der „Dezember-Verfassung“ von 1867 herübergezogen wurden, lag indessen keineswegs in Kelsens Absicht. Man konnte sich schlicht auf keinen Grundrechtskatalog einigen und beließ es bei den hochentwickelten Abwehrrechten der bürgerlichen Revolution,16 setzte dabei aber freilich den einen oder anderen Akzent.17 Kelsens Talent lag darin, Interessengegensätze verfahrensmäßig zu lösen und mögliche Konfliktfelder vorherzusehen. So entwarf er Regelungen, die sowohl sparsam formuliert als auch relativ präzise sind. Augenscheinlich für den „formalen“ Stil Kelsens ist neben der schnörkellosen und präzisen Sprache vor allem die Vermeidung deklarativer Erklärungen, ganz auf der Linie „Wiener Moderne“. Während Staatskanzler Karl Renner in der Verfassung auch ein volksbildendes Werk sah, das sich selbst durch grundsätzliche Äußerungen deuten sollte,18 maß Kelsen solchen Erklärungen keine rechtliche Funktion zu. Er kritisierte daher jene gegen sein Anraten in das B-VG aufgenommenen einleitenden Bestimmungen, mit denen Österreich zur Republik, zur Demokratie und zum Bundesstaat deklariert wird, als überflüssig, denn ob solches der Fall sei, würde sich erst anhand der jeweiligen Verfassungsnormen zeigen.19 Der Verfassung ist auch keine Präambel vorangestellt. Man könnte mit Marie Theres Fögen davon sprechen, dass die Verfassung ohne Präambel einen Sieg Robespierres über Platon bedeute.20 Der Verzicht darauf ist aber nicht – wie man annehmen könnte – auf Kelsens 14 Vgl. mit vielen Nachweisen Anne Peters (2001): Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin, 70ff. Aktuell denken wir auch an folkloristische Aspekte, wie den ungarischen „Verfassungstisch“. 15 Zum Begriff vgl. zuletzt Theo Öhlinger / Harald Eberhard (2014): Verfassungsrecht, 10. Aufl., Wien, Rz. 15, 43, 89. 16 Vgl. Hans Kelsen (1923): Österreichisches Staatsrecht, Tübingen, 163. 17 Vgl. nur die Reformulierung des Gleichheitssatzes im demokratischen Kontext oder die Aufhebung aller Formen der präventiven Zensur. 18 Vgl. das Schreiben Kelsens an Adolf Schärf vom 6.12.1955, teilweise abgedruckt bei Jacques Hannak (1965): Karl Renner und seine Zeit, Wien, 402ff. 19 Vgl. Hans Kelsen / Georg Froehlich / Adolf Merkl (1922): Die Verfassungsgesetze der Republik Österreich, 5. Teil: Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, Wien, 65. 20 Marie Theres Fögen (2006): Das Lied vom Gesetz, München, 9: „Der 11. August 1792 war ein schwarzer Tag für Platon. Die Constituante in Paris hatte beschlossen, dass ab sofort ‚tous ses décrets seront imprimiés et publiés s a n s p r é a m b u l e ... ‘ Robespierre hatte sich durchgesetzt.“

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Einfluss zurückzuführen. Vielmehr berichtet er, dass eine diskutierte Präambel weggefallen sei, „hauptsächlich aus dem formellen Grund, weil das Bundes-Verfassungsgesetz mangels einer selbständigen Kodifizierung der Grund- und Freiheitsrechte keine vollständige Verfassungsurkunde darstelle. Vielleicht mag aber dazu auch beigetragen haben, daß eine feierliche Eingangsformel bei der Verfassung eines Staates nicht am Platze schien, von dessen Lebensfähigkeit nicht alle an der Beratung der Verfassung Beteiligten völlig überzeugt waren“.21 II.3 Verfassungsrecht als Rechtssatzform Die von Merkl dynamisierte Theorie vom Stufenbau der Rechtsordnung ist ein tragendes Element der Reinen Rechtslehre. Sie setzt an der elementaren Struktur der Rechtsordnung, der Gegenüberstellung der generellen Rechtsnorm und ihrer Vollziehung an.22 Da jede Rechtsordnung eine solche Struktur aufweisen muss, zumindest in ganz basaler Weise, ist dieser Stufenbau apriorisch. In einer modernen, komplexen positiven Rechtsordnung, die ihre Dynamik explizit regelt, kann dieser Stufenbau bedingender und bedingter Rechtsnormen mehr oder weniger ausgeprägt sein. Eine zusätzliche Qualität der Ausdifferenzierung einer Rechtsordnung wird erreicht, wenn zudem noch ein „Rechtsvernichtungszusammenhang“, also ein Stufenbau nach der derogatorischen Kraft eingerichtet wird, mit dafür bestimmten Organen und besonderen Verfahren.23 Schon die Dezember-Verfassung kannte – wie die meisten Verfassungen – den Unterschied zwischen Verfassungsgesetzen und (einfachen) Gesetzen.24 Es herrschte auch weitgehend Klarheit darüber, dass die einfachen Gesetze ihren Geltungsgrund in der Verfassung finden müssen. Hingegen bestand keine Gewissheit darüber, welche Gesetze als Verfassungsgesetze zu erzeugen wären und welche Konsequenzen es hat, wenn ein Gesetz verfassungswidrig erzeugt wird.25 Im alten österreichischen Reichsrat – ebenso wie im deutschen

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Vgl. Kelsen et al. (1922), 63. Damals wurde nicht von einer „Präambel“ gesprochen, sondern von einem „Proömium“, einer feierlichen Eingangsformel. Ausschlaggebend war letztlich Ignaz Seipel. Vgl. Thomas Olechowski (2012): Ignaz Seipel – vom k. k. Minister zum Berichterstatter über die republikanische Bundesverfassung 1920, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs Jg. 2 (2012) Heft 2, 317–335, 335. 22 Vgl. nur Adolf Merkl (1931): Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Alfred Verdross (Hg.): Gesellschaft, Staat und Recht. Festschrift für Hans Kelsen, Wien, 252-294, und Kelsen (1960), 228. 23 Vgl. Clemens Jabloner (2005): Stufung und „Entstufung“ des Rechts, in: Zeitschrift für öffentliches Recht Bd. 60 (2005) Heft 2, 163–185, 171. 24 Vgl. § 15 des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wird, RGBl. Nr. 141/1867. 25 Zum Folgenden vgl. Gerald Stourzh (2003): Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in der Entwicklung des österreichischen Verfassungsstaates 1848–1918, in: Anna Gianna Manca / Luigi Lacchè (Hg.): Parlamento e Constituzione nei sistemi constituzionali europei ottocenteschi – Parlament und Verfassung in den konstitutionellen Verfassungssystemen Europas, Bologna/Berlin, 29–48, 38.

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Reichstag26 – bildete die korrekte Gesetzeserzeugung daher einen ständigen Streitpunkt. In Österreich war der Präsident des Reichsrates ermächtigt, über die Erzeugungsform zu befinden. Allenfalls konnte der Reichsrat mit einfacher Mehrheit beschließen, ob ein Gesetz als Verfassungsgesetz erzeugt werden muss. Einen Mechanismus zur Konfliktlösung stellte die „Dezember-Verfassung“ nicht zur Verfügung. Kelsen machte das Verfassungsrecht verfassungstechnisch operabel, d. h. er effektuierte den Stufenbau der Rechtsordnung im positiven Recht. Kelsen formalisierte also den Verfassungsbegriff. Verfassungsrecht sollte – abgesehen von der qualifizierten Mehrheit – nur zustande kommen, wenn es als „Verfassungsrecht“ bezeichnet wird, und zwar ungeachtet ob seine Erzeugung auf dieser Stufe erforderlich wäre oder nicht. Damit ist klar, dass die bereits auf Verfassungsstufe stehenden Normen nur durch Verfassungsgesetze im formellen Sinn abgeändert werden können, dass es dem Gesetzgeber aber auch freisteht, neues Verfassungsrecht zu erzeugen. Für unser Thema heißt das: Der Begriff der „Verfassung im formellen Sinn“ war also (auch) die Antwort auf eine verfassungstechnische Frage. Eine Besonderheit der österreichischen Bundesverfassung liegt bekanntlich darin, dass formelles Verfassungsrecht nicht nur als Änderung der Verfassungsurkunde, sondern auch in besonderen Verfassungsgesetzen und schließlich in der Form von Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen erzeugt werden kann. Schon die „Dezember-Verfassung“ kannte ja keine einheitliche Verfassungsurkunde. Die Zersplitterung des Verfassungsrechts hat also Tradition. Dazu wird gern gesagt, dass der formalisierte Verfassungsbegriff zu einer Entwertung des materiellen Verfassungsgehaltes geführt habe. Nach einem glänzenden Aperçu Theo Öhlingers nähme „man in Österreich die Verfassung zwar genau, aber nicht ernst“.27 Daran ist bestimmt etwas Wahres, dennoch geht der Vorwurf – soweit er an Kelsen gerichtet wäre – ins Leere. Denn der illusionslose Rechtstechniker sah die Gefahr, dass der (einfache) Gesetzgeber auf die Verfassung stetigen Druck ausübt. Durch die Möglichkeit, Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen zu postieren, sollte gerade der Praxis von Verfassungsdurchbrechungen der Riegel vorgeschoben werden, wie sie später etwa die „Weimarer Verfassung“ belasteten. In diesem Sinn wurde das österreichische Verfassungsrecht sehr wohl „kodifiziert“, freilich nur in einem formalen Sinn.28 26 Vgl. dazu Ewald Wiederin (2004): Über Inkorporationsgebote und andere Strategien zur Sicherung der Einheit der Verfassung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht Bd. 59 (2004) Heft 3, 175–212, 181. 27 Theo Öhlinger (2002): Verfassung und Demokratie in Österreich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Christian Brünner / Wolfgang Mantl / Alfred J. Noll / Werner Pleschberger (Hg.): Kultur der Demokratie. Festschrift für Manfried Welan, Wien, 217–235, 222. 28 Vgl. Wiederin (2004), 180, Fn. 6. Beide verfassungslegistischen Ziele, einerseits die eindeutige Festlegung der Form von Verfassungsrecht und andererseits die materielle Beschränkung dieses Verfassungsrechts auf „verfassungswürdige“ Inhalte, sind nicht zugleich erzielbar. Denn eine Beschränkung des Verfassungsrechts im formellen Sinn würde eine höherrangige Verfassungsnorm voraussetzen, die die Kompetenzen des Verfassungsgesetzgebers inhaltlich

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II.4 Die Garantie der Verfassung Verletzt der Gesetzgeber die Verfassung, indem er sich nicht an die Erzeugungsregel hält, soll ein darauf spezialisiertes gerichtliches Organ, der Verfassungsgerichtshof, ermächtigt sein, das verfassungsrechtlich bedenkliche Gesetz zu prüfen und gegebenenfalls als verfassungswidrig aufzuheben. Die Verfassungsgerichtsbarkeit gilt als Kelsens Meisterstück und wurde wohl auch von ihm so gesehen.29 In institutioneller Hinsicht fügte man die Zuständigkeiten für die Normenkontrolle an die Kompetenzen des alten Reichsgerichts an, das als Staatsgerichtshof zur Geltendmachung der Ministerverantwortlichkeit und als Sonderverwaltungsgerichtshof für Verletzungen von Grundrechten zuständig war. Eigentümlich ist, dass das verfassungspolitische Motiv, eine Normenkontrolle einzuführen, aus dem bundesstaatlichen Aufbau resultierte: Man brauchte ein Organ zur Lösung von Kompetenzfragen. Der heute prävalente Aspekt der Grundrechtskonformität war allenfalls in nuce gegeben und Kelsen kaum bewusst. Das eigentliche P ­ otenzial der Verfassungsgerichtsbarkeit – und die Theorie des Verfassungsgerichts als ­„Hüter der Verfassung“ – entwickelte Kelsen bekanntlich erst später in der Kontroverse mit Carl Schmitt.30 So entstand die europäische Form der Verfassungsgerichtsbarkeit gleichsam en passant. Halten wir also fest, dass sich die Kelsenianische Verfassungsgerichtsbarkeit von jener etwa des Supreme Courts wesentlich unterscheidet: Denn im österreichischen System beschränkt sich die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes nicht darauf, in individuellen Fällen die Unanwendbarkeit des Gesetzes auszusprechen oder Urteile unklarer Bindungskraft zu erlassen, sondern im eigentlichen Sinn als „negativer Gesetzgeber“ zu fungieren. Die Aufhebungen des Verfassungsgerichtshofes müssen im Bundesgesetzblatt bzw. in den Landesgesetzblättern kundgemacht werden, die Aussprüche des Verfassungsgerichtshofes entfalten eine in der Verfassung genau umschriebene Wirkung (Art. 140 B-VG). Es geht also nicht darum, dem Verfassungsrecht im Wege einer Vorrangkonstruktion Geltung im Einzelfall zu verschaffen

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beschränkte. Damit wäre das Problem aber nur um eine Stufe verschoben, weil ja dann diese Kompetenznorm zur Disposition stünde, was wiederum eine noch höhere Kompetenznorm verlangte etc. Der aus diesem Dilemma gezogene Schluss, nur ein „Kodifikationsgebot“ nach dem Muster des Art. 79 Abs. 1 des „Bonner Grundgesetzes“ schüfe Abhilfe, unterschätzt die Dynamik der Verfassungsgesetzgebung. Vgl. hierzu auch: Wiederin (2004), 190. Die in der US-amerikanischen Verfassung gegebene starke Sperre gegen die Erzeugung neuen Verfassungsrechts, die schon formal darin zum Ausdruck kommt, dass die Verfassung nur mittels „amendment“ geändert werden kann, überwälzt die Dynamik der Fortbildung der Verfassung auf das – dann übermächtige – Verfassungsgericht. Kelsen (2006), 31–94, 70: „Der Abschnitt, an dem mir am meisten lag und den ich als mein persoenlichstes Werk betrachtete, die Verfassungsgerichtsbarkeit, hatte in den parlamentarischen Verhandlungen ueberhaupt keine Aenderung erfahren.“ Vgl. zum Folgenden eingehend Ewald Wiederin (2013): Der österreichische Verfassungsgerichtshof als Schöpfung Hans Kelsens und sein Modellcharakter als eigenständiges Verfassungsgericht, in: Thomas Simon / Johannes Kalwoda (Hg.): Schutz der Verfassung (Beihefte zu „Der Staat“ 22), Berlin, 283–315. Hans Kelsen (1931): Wer soll der Hüter der Verfassung sein? in: Die Justiz Bd. VI (1931) Doppelheft 11/12, 576–628.

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– eine Kompetenz wie sie etwa der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Bezug auf das Unionsrecht ausübt –, sondern die Rechtslage zu bereinigen.31 Es ist nicht zu übersehen, dass die Interpretationstheorie Kelsens – rechtswissenschaftliche Interpretation als „Rahmen“ für mögliche Auslegungsergebnisse32 – mit der kassatorischen Prüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten in einem engen Zusammenhang steht, vielleicht sogar davon inspiriert wurde. Verfassungspolitisch ging es dabei um einen nicht zu engen Spielraum des Gesetzgebers, um sein „Ermessen“. Beide Phänomene – die Interpretationstheorie Kelsens wie auch die Beschränkung von Verfassungsgerichten auf die Kassatorik – werden heute oft als zu eng kritisiert.33 Für Kelsen bestand jedenfalls der Sinn einer – juristisch ausdifferenzierten – Verfassungsgerichtsbarkeit eben in genau dieser kassatorischen Funktion. Ohne Frage kann ein Verfassungsgericht auch mit darüber hinausgehenden Zuständigkeiten ausgestattet werden, doch dann haben wir es eben bereits mit einem „Supreme Court“ zu tun.

III. Zur Aktualität des Kelsenschen Erbes III.1 Vorbemerkung Bis zu seinem Weggang aus Österreich im Jahre 193034 nahm Kelsen – neben seinem akademischen Wirkungskreis – die Tätigkeit als Mitglied des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) intensiv wahr.35 Doch trug er auch zur Verfassungsdogmatik bei36 und nahm – im Vorfeld der B-VG-Novelle 1929 – auch intensiv an der Verfassungspolitik Anteil. Den autoritären Tendenzen dieser Novelle – in deren Fassung das B-VG ja 1945 rezipiert wurde – stand er ablehnend gegenüber, in der Regierungsvorlage hatte er sogar eine Gesamtänderung gesehen.37 Die Verfassung 1934 kommentierte Kelsen nicht mehr, und auch nach 1945 trug er nichts mehr zur österreichischen Verfassungsdogmatik und -politik bei, obzwar ja „seine“ Verfassung nun wieder galt. Im Vorfeld der B-VG-Novelle 1964, die der Transformation von Staats31 32 33

Vgl. Jabloner (2005), 171. Vgl. Kelsen (1960), 348. Etwa von Gabriel Nogueira Dias (2013): „Negative Legislator“ in Hans Kelsen‘s work: origin, foundations and limits in the light of the Reine Rechtslehre, in: Clemens Jabloner / Dieter Kolonovits / Gabriele Kucsko-Stadlmayer / Hans René Laurer / Heinz Mayer / Rudolf Thienel (Hg.): Gedenkschrift Robert Walter, Wien, 79–99. 34 Vgl. dazu Rudolf A. Métall (1969): Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien, 55f. 35 Vgl. Robert Walter (2005): Hans Kelsen als Verfassungsrichter (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 27), Wien. 36 Vgl. Ewald Wiederin (2014): Kelsen als praktischer Verfassungsrechtler, in: Nikitas Aliprantis / Thomas Olechowski (Hg.): Hans Kelsen: Die Aktualität eines großen Rechtswissenschafters und Soziologen des 20. Jahrhunderts (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 36), Wien, 109–118. 37 Vgl. für mehrere Aufsätze Hans Kelsen (1929b): Die Verfassungsreform, in: Juristische Blätter Jg. 58 (1929) Heft 21, 445–457, 448.

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verträgen – einem angestammten Thema Kelsens – gewidmet war, versuchte der Leiter des Bundeskanzleramtes-Verfassungsdienst Edwin Loebenstein, Kelsen zu einer Äußerung zu bewegen, was allerdings fehlschlug.38 Doch auch ohne sein weiteres Zutun zeigte das Verfassungskonzept Kelsens erstaunliche Resilienz. Das ist schon deshalb nicht verwunderlich, weil sein Denkstil – wie schon einleitend betont – in die Tradition etwa eines Bernatzik eingebettet war und sich in gewissem Sinn als Verdichtung und rechtstheoretische Verfeinerung dieses älteren Rechtspositivismus verstehen lässt, einer Tradition, die auch heute noch durchaus lebendig ist. Mit Recht kann das B-VG noch immer als Beispiel einer „Spielregel-Verfassung“ genommen werden,39 im Kontrast namentlich zum „Bonner Grundgesetz“ und – noch viel schärfer – etwa zum neuen Grundgesetz Ungarns. Im Großen und Ganzen ist das oben dargestellte Grundgerüst also intakt. Zugesetzt haben der rechtstechnischen Qualität des B-VG sowohl neue verfassungslegistische Stilelemente als auch Tendenzen der neueren verfassungsgerichtlichen Judikatur. III.2 Der Verfassungsstil Mit dem Bekenntnis Österreichs zur „umfassenden Landesverteidigung“ 1975 hielt ein neuer Stil von Beteuerungen, Deklarationen und Beschwörungen Einzug in das B-VG: Die seitdem geschaffenen „Staatsziele und Verfassungsaufträge“40 gelten so verschiedenen Themen wie der Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen, von Frauen und Männern, der sprachlichen und kulturellen Vielfalt, überhaupt der Nachhaltigkeit, dem Tierschutz, dem umfassenden Umweltschutz, der Sicherstellung der Wasser- und Lebensmittelversorgung, der Grundlagenforschung und angewandten Forschung.41 Der 2005 eingeführte besonders lange Art. 14 Abs. 5a B-VG beschwört die Grundlagen der österreichischen Schule 38

Schreiben Edwin Loebensteins an Hans Kelsen vom 23.1.1962. In seiner Antwort vom 4.2.1962 beschränkt sich Kelsen darauf, sein Interesse zu versichern und zu erklären, dass es ihm „infolge anderer dringender Arbeiten nicht möglich sei, die in dem Program [sic] des Bundeskanzleramtes gestellten Fragen innerhalb der gegebenen Frist zu beantworten“. In dieser Form wurde das Schreiben auch im Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst (BKA-VD) empfangen, wie dies dem Verfasser dieses Beitrags erinnerlich ist. Der betreffende Vorakt ist leider einem Wassereinbruch zum Opfer gefallen. Im Konzept findet sich freilich eine fünfseitige eingehende Äußerung Kelsens, mithin doch noch eine verfassungsrechtliche Stellungnahme zum B-VG. Vgl.: Hans Kelsen-Institut, Nachlass Hans Kelsen, Schachtel 21ag.71. In allgemeinen Zusammenhängen nahm Kelsen freilich gelegentlich Bezug auf das B-VG, z. B. Hans Kelsen (1942): Judicial Review of Legislation, in: The Journal of Politics Jg. 4 (1942), 183–200; Hans Kelsen (1962): Der Richter und die Verfassung, in: Das Recht der Arbeit Jg. 12 (1962) Nr. 6, 289–294. 39 Kritisch abwägend, diese Beschreibung als nur „mehr teilweise ausreichend“ bezeichnend: Walter Berka (2014): Verfassungsrecht, 5. Aufl., Wien, Rz. 82. 40 Vgl. Öhlinger et al. (2014), Rz. 89ff. 41 Art. 7 Abs. 2 und 3, 8 Abs. 2, 9a Abs. 1 B-VG; Bundesverfassungsgesetz BGBl. I 2013/111. Vgl. auch Art. 1 des „Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern“, BGBl. I 2011/4 („Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein“).

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in hehrster Verfassungslyrik.42 Nun ist es mit Verfassungsinhalten zwar wie mit den Früchten des König Midas, eine normative Bedeutung ist immer möglich, zumal in richterlicher Hand. So dient das Ziel des „umfassenden Umweltschutzes“ dazu, bei Grundrechtseingriffen den rechtspolitischen Spielraum des Gesetzgebers zu erweitern.43 „Verfassungsaufträge“ – es handelt sich dabei um inhaltlich determinierte Ermächtigungen an den einfachen Gesetzgeber – können dann relevant werden, wenn sie vom Gesetzgeber fehlerhaft ausgeführt werden. Entscheidend bleibt aber, dass der untätige Gesetzgeber nicht verfassungsrechtlich verhalten werden kann, eine Ermächtigung auch auszuüben, sei diese auch noch so dringend formuliert.44 Zwar wird niemand bestreiten, dass es sich um allesamt wichtige Anliegen handelt, doch stehen die pathetischen Formeln in einem deutlichen Missverhältnis zur operativen Funktion als Verfassungsnormen. Jedenfalls können sie den konkreten politischen Willen, wie er in den Bundes- und Landesgesetzen zum Ausdruck kommt, nicht ersetzen. Unverkennbar wohnt all diesen Formeln eine Placebofunktion inne: Sie kosten nichts, verpflichten zu wenig, sollen das Publikum erfreuen – und der Politik das Gefühl geben, tatsächlich etwas geleistet zu haben. Eine andere Anfüllung des Verfassungsrechts erfolgt wiederum aus Prestigegründen: Institutionen drängen auf Aufnahme in die Bundesverfassung, allein damit sie sich dort finden, „nutzloses Verfassungsrecht“ hat dies Bernd-Christian Funk einmal treffend genannt.45 So stehen der Gemeinde- und der Städtebund in Art. 115 Abs. 3 B-VG, neuerdings „anerkennt die Republik die Rolle der Sozialpartner“, und „achtet deren Autonomie“.46 Gelegentlich trägt auch der VfGH zu einem Abbau der Normativität des B-VG bei: In seiner Judikatur ist nämlich die Tendenz festzustellen, den Gehalt von Verfassungsbestimmungen platonisch zu verdoppeln, indem jeweils von einem „Konzept“ der Vorschrift die Rede ist, obzwar ihre bloße Handhabung genügt hätte, um das Auslegungsziel zu erreichen.47 Bedenklich wird diese Praxis, wenn mit Hilfe solcher Konzepte Auslegungsergebnisse begründet werden, die sich aus den Vorschriften selbst durchaus nicht mehr ableiten lassen.48

42 Vgl. zum Folgenden Magdalena Pöschl (2010): Die Zukunft der Verfassung, Wien, 52. 43 VfSlg 12.009/1989 und dazu Karl Weber (1995): Die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen, in: Österreichische Parlamentarische Gesellschaft (Hg.): Festschrift 75 Jahre Bundesverfassung, Wien, 709–725, 721. 44 Vgl. VfSlg 14.453/1996 und dazu Öhlinger et al. (2014), Rz. 90. 45 Bernd-Christian Funk (1991): Nutzloses Verfassungsrecht, in: Heinz Mayer / Clemens Jabloner / Gabriele Kucsko-Stadlmayer / Rene Laurer / Kurt Ringhofer / Rudolf Thienel (Hg.): Staatsrecht in Theorie und Praxis. Festschrift für Robert Walter, Wien, 145–157. 46 Art. 120a Abs. 2 B-VG, eine Regelung mit „dünnem normativen Gehalt“, so Öhlinger et al. (2014), Rz. 105a. 47 VfSlg 11.307/1987, 11.667/1988, 14.372/1995, 17.557/2005. 48 VfSlg 19.632/2012, neuerdings das Erkenntnis vom 29.11.2014, G 30/2014. Ähnliches gilt, wenn der VfGH „Prinzipen“ heranzieht, um explizite Verfassungsbestimmungen nicht anwenden zu müssen, so in VfSlg 15.762/2000.

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III.3 Inflationäres Verfassungsrecht Die Verfassungsentwicklung der letzten Jahrzehnte ist von einer stetigen Zunahme der Normenmenge des Verfassungsrechts geprägt. Sie hat durchaus verschiedene Ursachen: Ganz autochthon – und hier schon als Nachteil qualifiziert – ist die leichte und rechtstechnisch zerstreute Erzeugung von (formellem) Verfassungsrecht. Die sich daraus ergebende Kasuistik führt aber von sich aus zur steten Produktion weiteren Verfassungsrechts. Ein wenn auch begrenzter Gegeneffekt konnte mit der B-VG-Novelle 2008 gesetzt werden, die diesbezüglich eine Frucht des ansonsten weitgehend gescheiterten, zwischen 2003 und 2005 tagenden Österreich-Konvents über eine grundlegende Staats- und Verfassungsreform war.49 Die Judikatur des VfGH mit der oft bis zur Neige ausgereizten Technik der „verfassungskonformen Interpretation“ einfacher Gesetze führt zur „Konstitutionalisierung“ und „Entstufung“ der Rechtsordnung.50 Dazu tritt, dass das Unionsrecht mittels des Anwendungsvorrangs auch Inhalte auf Verfassungsstufe erzeugt.51 All dies trägt dazu bei, dass die Identifikation des Verfassungsrechts – ein wichtiges Anliegen Kelsens – immer schwieriger wird: Doch auch insgesamt verliert die Rechtsordnung ihre Konturen. Sie wird nicht mehr durch ein Korsett von Rechtsatzformen, also abgestuften und distinkten Rechtssorten verwaltet, sondern nur mehr mit Hilfe einer elektronischen Dokumentation mit unbeschränkter Merk- und Suchfunktion zugänglich gehalten. Diese ist dann wiederum die Voraussetzung dafür, dieses System der Rechtserzeugung weiter auszudehnen: An die Stelle einer „rechtlichen Landkarte“ tritt ein „juridisches GPS“.52 III.4 Verfassungskontrolle Das dritte Element – die zentralisierte Garantie der Verfassungskonformität – ist in eine eigenartig widersprüchliche Lage geraten: Auf der einen Seite haben die aufgezeigten Entwicklungen – die hohe Dichte des formellen Verfassungsrechts und die konstitutionalisierte Rechtsordnung – das Gewicht des VfGH merkbar gesteigert. Doch auf der anderen Seite wurde sein Kontrollmonopol durch die Eigenart des Unionsrechts deutlich entwertet. Haben alle Gerichte die Unionsgrundrechte anzuwenden und sind sie ermächtigt, Auslegungsfragen dem EuGH vorzulegen,53 muss der VfGH als ein auf den Grundrechtsschutz spezialisiertes 49 Art. 2 der B-VG-Novelle 2008, BGBl. I 2008/2 (1. Bundesverfassungsbereinigungsgesetz), bewirkte eine Entlastung des formellen Verfassungsrechts, namentlich im Bereich der Staatsverträge. 50 Vgl. zuletzt Pöschl (2010), 12. 51 Vgl. etwa Berka (2014), Rz. 339. 52 Vgl. Andreas Voßkuhle (2010): Das Leitbild des „europäischen Juristen“. Gedanken zur Juristenausbildung und Rechtskultur in Deutschland, in: Rechtswissenschaft Jg. 1 (2010) Heft 3, 326–346, 333. 53 Vgl. zuletzt mit weiteren Hinweisen Meinrad Handstanger (2014): Schutz der Unionsgrundrechte am Beispiel des VwGH, in: Zeitschrift für öffentliches Recht Bd. 69 (2014) Heft 1, 39–58, 46, 54.

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Höchstgericht unter Druck geraten. Vor diesem Hintergrund versuchte der VfGH in einem in der Lehre sehr kontrovers beurteilten Akt der Rechtsfortbildung seinen Zugriff auf die Unionsgrundrechte zu sichern.54 Seine Strategie mag in die Richtung gehen, dass der – überlastete – EuGH späterhin eine Vorprüfung durch ein nationales Verfassungsgericht akzeptieren wird. Derzeit deutet allerdings nichts in diese Richtung.

IV. Schlussbemerkung Die österreichische Bundesverfassung ist also – nimmt man es im Großen und Ganzen – noch immer von Kelsens Denkstil geprägt. Zwar wird mitunter ein diffuses Verlangen nach einer neuen Verfassung laut, doch hat der Österreich-Konvent gezeigt, dass sich an der Differenz der Wertvorstellungen seit 1920 gar nicht so viel geändert hat. Das positive Recht hat es ja an sich, dass alles auch ganz anders geregelt werden könnte. Diskutiert man jede Vorschrift neu, und sei es auch „nur“ ihre Textierung, so brechen sämtliche im positiven Recht eingekapselten Probleme wieder auf. Schlimmstenfalls kann dies zur Vertiefung der Gräben und zu einem gravierenden Akzeptanzverlust der geltenden Bundesverfassung führen. Problematisch ist, dass Österreich als Mitglied der EU nicht nur in zwei Rechtsordnungen, sondern auch in zwei Rechtskulturen steht. Sehen wir indessen das Erbe Kelsens als den wesentlichen österreichischen Beitrag zur universellen Rechtsevolution, so könnte man geradezu zur Ansicht kommen, dass eine größere „Prise“ Kelsen auch dem Unionsrecht guttäte.

54 VfSlg 19.632/2012. Vgl. die Belege bei Handstanger (2014), 46, Fn. 34.

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„Jetzt weiss ich ganz, was das ‚Dritte Reich‘ bedeutet – die Herrschaft schrankenloser, feiger Brutalität.“ Eine Momentaufnahme der Universität Wien im Oktober 1932

Am Freitagnachmittag ist Oliver Rathkolb am Institut für Zeitgeschichte meist gut gelaunt anzutreffen und zum Scherzen aufgelegt. Liegt die gute Laune daran, dass am Ende der Arbeitswoche weniger Menschen am Institut sind? Daran, dass für den Rapid-Fan das Fußballwochenende vor der Tür steht? Oder, dass die Uni-Bürokratie bis Montagmorgen Zwangspause hat? Ich weiß es nicht. Jedenfalls kam Oliver Rathkolb an einem solchen Freitagnachmittag mit einem fröhlichen Pfeifen auf den Lippen in mein Büro und sah auf dem Schreibtisch ein Manuskript liegen, das ihm ins Auge stach.1 Es war ein Text über Josef Hupka, der in der Zwischenkriegszeit Professor für Handels- und Wechselrecht an der Universität Wien war. Ganz selten kam es vor, dass Oliver Rathkolb mich in den letzten Jahren um einen Gefallen gebeten hat. Meist sind es andere, die mit Fragen und Anliegen vor seiner Tür stehen und für die meisten hat er ein paar Minuten Zeit. Diesmal war es umgekehrt: Rathkolb sah den Text und begann zu erzählen, wie er in den 1980er Jahren im Zuge seiner Recherchen zur Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät während des Nationalsozialismus auf Josef Hupka gestoßen war und schon damals einen Text über ihn schreiben wollte.2 Er freute sich darüber, dass jemand die Zeit gefunden hatte, weiter zu Hupka zu arbeiten und bat mich, ihm den Artikel zu schicken – von ForscherInnen-Neid keine Spur, auch das zeichnet unseren Jubilar aus. 1

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Vgl. Klaus Taschwer (2014): Der verlängerte Leidensweg des Josef Hupka, URL: www.academia.edu/6456639/ Der_verl%C3%A4ngerte_Leidensweg_des_Josef_Hupka._Eine_sp%C3%A4te_erste_W%C3%BCrdigung_eines_gro%C3%9Fen_Rechtswissenschafters_und_K%C3%A4mpfers_gegen_den_Antisemitismus_der_als_einziger_Ordinarius_der_Universit%C3%A4t_Wien_in_einem_KZ_umkam._2014 (aufgerufen am 31.07.2015) Ich möchte mich bei Klaus Taschwer bedanken, seine wertvollen Hinweise und kritischen Anmerkungen sind in diesen Beitrag eingeflossen. Vgl. Oliver Rathkolb (1987): Überlegungen zum Exodus der „Jurisprudenz“, in: Friedrich Stadler (Hg.): Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930.1940, Wien/München, 276–303; vgl. ders. (1988): Zur Archäologie über österreichische Juristen im Exil, in: Friedrich Stadler (Hg.): Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien/München, 434–438; vgl. ders. (1989): Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien zwischen Antisemitismus, Deutschnationalismus und Nationalismus 1938, davor und danach, in: Gernot Heiss / Siegfried Mattl / Sebastian Meissl / Edith Saurer / Karl Stuhlpfarrer (Hg.): Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945, Wien, 197–232.

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Wenige Tage später saß ich für mein Dissertationsprojekt – über die Universität Wien im Austrofaschismus und zur Universität Madrid im Franco-Regime – im Archiv der Universität Wien und stolperte über einen Bestand, der sich schnell als einzigartige Dokumentation der Zustände an der Universität Wien im Herbst 1932 herausstellen sollte: Unter der Signatur UAW AK S 185.513 und unter dem Oberbegriff „Studentenunruhen“ fand ich eine Sammlung studentischer Protokolle von Übergriffen im Oktober 1932. Schnell war ich in die Lektüre vertieft und stieß plötzlich auf den Namen Josef Hupka, der mir bis vor wenigen Wochen nichts gesagt hatte. Oben auf lag ein Brief des damaligen Rektors Othenio Abel. Der bekannte Antisemit und NS-Sympathisant Abel schrieb, dass Hupka aus eigener Motivation heraus Studierende unterstützt habe, die im Oktober 1932 Opfer von antisemitischen Ausschreitungen an der Universität Wien wurden.3 Dies tat er, indem er mit ihnen gemeinsam Protokolle über die gewalttätigen Übergriffe verfasste und diese an das Rektorat übermittelte. Hupka war jüdischer Herkunft und deshalb selbst mehrfach Opfer von antisemitischen Anfeindungen geworden. Doch er fand sich mit dieser Opferrolle ganz und gar nicht ab: Als herausragender Rechtswissenschaftler, couragierter Lehrender und „aus privaten Engagement“, wie es stets in den Akten heißt, sammelte er die Protokolle von Studierenden, um die Ausschreitungen an der Universität Wien zu dokumentieren und um dagegen aufzutreten. Jeder einzelne dieser Berichte war mit „Hupka“ gegengezeichnet – der Professor wusste wohl, dass sein Name den studentischen Schilderungen mehr Gewicht verlieh. Da saß ich nun mit einem Schatz aus schriftlichen Erinnerungen und im Zuge der Durchsicht musste ich an Oliver Rathkolb denken – nicht nur deshalb, weil er das Manuskript über Hupka hatte lesen wollen, sondern auch deshalb, weil mir gewisse Parallelen zwischen Hupka und Rathkolb auffielen, insbesondere in ihrer Rolle als öffentlicher Wissenschaftler. Hupka bezog in der Zwischenkriegszeit in Zeitungen regelmäßig pointiert Stellung, verurteilte die antisemitische „Gleispachsche Studentenordnung“ und engagierte sich im Fall Philipp Halsman, einem der auch international bekanntesten Justizskandale der späten 1920er Jahre. Hupka gelang es dabei auch, Sigmund Freud zu motivieren seine Stimme zu erheben.4 Auch Oliver Rathkolb, so wie Hupka studierter Jurist, kann man getrost als einen solchen öffentlichen Wissenschaftler bezeichnen, von denen es unter den ProfessorInnen an der Universität Wien nicht allzu viele gibt.5 Zurück ins Universitätsarchiv: Mir fiel auf, wie überzeugt und energisch sich Josef Hupka

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Vgl. Schreiben von Othenio Abel, Datum und Empfänger nicht überliefert. Vgl. Taschwer (2014), 5. An seinen öffentlichen Positionierungen wird vor allem eines deutlich: Oliver Rathkolb vertritt prononciert die Haltung, dass WissenschaftlerInnen mit ihren Expertisen die breite Öffentlichkeit suchen müssen, um hier auch Spuren zu hinterlassen. Wissenschaft muss für ihn mehr erfüllen, als nur einen Selbstzweck.

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für Studierende einsetzte. Er schrieb Abel einen Brief als Kommentar zu all den gesammelten studentischen Protokollen, in dem es hieß: „Indes dürfte auch schon der hier dargebotene Ausschnitt hinreichen, um ein abschliessendes Urteil zu begründen über den Charakter der seit Jahren immer wiederkehrenden brutalen Ueberfälle, die mit den Studentenschlägereien früherer Zeiten nichts gemein haben, zugleich aber auch über die Unhaltbarkeit eines Systems, das derartige Orgien der Rohheit und ihrer ständigen Wiederholung nicht zu verhindern vermag. Ich bitte Eure Magnifizenz, das hier vorgelegte Material einer eingehenden persönlichen Durchsicht zu unterziehen und ihm im Akademischen Senat die ernste Betrachtung zu verschaffen, die es im Interesse der Ehre und des kulturellen Ansehens unserer Hochschule verdient. Die Legitimation zu dieser Bitte schöpfe ich aus dem Recht und der Pflicht jedes akademischen Lehrers, auch als einzelner das Wesen und die Würde der Universität gegen alle Angriffe zu verteidigen, von welcher Seite immer sie kommen mögen.“6 In einer späteren Korrespondenz betonte Oswald Menghin, Rektor 1935/36 und ebenfalls Nationalsozialist, fast abschätzig, dass Hupkas Engagement eine rein „private Arbeit“ war und nicht im Zuge eines offiziellen Mandats von ihm erfüllt wurde. 7 Auch hier sehe ich eine Parallele zu Rathkolb – nämlich eine Einstellung, die viele Studierende, NachwuchswissenschaftlerInnen und KollegInnen dankbar erfahren haben: Egal, ob es nun in seiner offiziellen Funktion als Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte von 2008 bis 2012 war oder eben oft „nur“ seine persönliche Überzeugung: Oliver Rathkolb gibt Rückendeckung, um offen für Anliegen von anderen einzustehen, wenn er sie für legitim hält. Die Autorität von Gremien zweifelt er dabei nicht offen an. Er weiß vielmehr, sie in die Pflicht zu nehmen. Bei der Art der Quelle, den rasch nach den Ausschreitungen niedergeschriebenen studentischen Erinnerungen, hatte ich mich gefragt, wem ich von diesem Fund – höchst aussagekräftige Akten, die völlig unbekannt und unpubliziert waren – erzählen könnte und wer verstehen würde, was ich da vor mir liegen hatte. Wieder kam mir Rathkolb in den Sinn. Gerne hätte ich ihm gleich davon erzählt, zum einen, weil ich seine Publikationen und sein Engagement im Bereich der Universitätsgeschichte kenne.8 Seine Texte und seine Initiativen haben ForscherInnen gute Dienste geleistet und nicht zuletzt den Nobelpreisträger Eric Kandel 2012 motiviert nach Wien zu kommen und an einer von Rathkolb organisierten Tagung zum Thema Universität Wien und Antisemitismus teilzunehmen.9 Zum anderen hätte ich 6 7 8

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Schreiben von Josef Hupka an Othenio Abel am 28. November 1932. Schreiben von Oswald Menghin an Rudolf Köstler am 27. Jänner 1936. Vgl. u. a. Margarete Grandner / Gernot Heiss / Oliver Rathkolb (Hg.) (2005): Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, Wien; Oliver Rathkolb (Hg.) (2013): Der lange Schatten des Antisemitismus, Wien; ders. (1991): Vertreibung von Wissenschaft und Kultur aus Österreich in den Jahren des Faschismus, in: Ecole française de Rome (Hg.): L’émigration politique en Europe aux XIXe et XXe siècles, Rom, 443­–461. Im Rahmen der von Oliver Rathkolb initiierten Tagung „Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Ausei-

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ihn gern mit dem Fund bekannt gemacht, weil ich weiß, mit welcher Leidenschaft er Historiker ist und gerade NachwuchswissenschaftlerInnen ermutigt ins Archiv zu gehen, dort zu graben und neugierig zu sein. Nicht selten teilt er sogar Akten aus seinen eigenen Recherchen und zeigt so sein Interesse und Anerkennung. Auch das weist ihn als einen vorbildlichen Forscher und Lehrenden aus. So möchte ich meinen Quellenfund Oliver Rathkolb schenken, denn ich glaube er wird ihm gefallen: Es sind unveröffentlichte studentische Protokolle aus dem Jahr 1932. Sie bieten zahlreiche Antworten auf (mehrheitlich noch nicht gestellte) Forschungsfragen zur Universitätsgeschichte. Und vielleicht erfahren sie über diese Festschrift eine breitere Rezeption – auch dieser Wunsch knüpft an Oliver Rathkolbs Publikationspraxis und die mit ihr verbundenen Ziele an: eine größere Öffentlichkeit zu erreichen als bloß FachkollegInnen im Elfenbeinturm des spezialisierten Fachgebiets.

Einleitung Der Titel dieses Artikels ist ein entliehenes Zitat, das aus dem genannten Quellenbestand aus dem Archiv der Universität Wien stammt. Die Dokumente umfassen knapp 200 Seiten und bieten einen Einblick in zehn Tage voller antisemitischer Gewalt und in ganz seltenen Fällen auch von Zivilcourage an der Alma Mater Rudolphina. Man trifft hier auf Akteure, die man schon aus den 1920er Jahren und dann auch gleich wieder im Zusammenhang mit der sogenannten (Selbst-)Gleichschaltung der Universität Wien 1938 kennt. Neu sind die Namen von Studierenden wie Bernhard Schwarz, Rosa Weiss oder Karl Babeluk sowie ein fast unvorstellbar anmutendes Ausmaß an Gewalt, das immer mehr zum universitären Alltag der 1930er Jahre wurde. In über 25 Protokollen lassen sich die Ereignisse zwischen dem 17. Oktober 1932 und dem 26. Oktober 1932 nachlesen. Der Zeitraum wie auch die Quellen haben bis dato kaum Eingang in die österreichische Universitätsgeschichtsschreibung gefunden.10 Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Jahre 1938 bis 1945 lange Zeit im Fokus der HistorikerInnen standen. Bei der bisherigen Erforschung der Zwischenkriegszeit erschienen wohl die Forderung eines Numerus clausus für jüdische Lehrende wie Studierende des Wiener Rektors Karl Diener 1922, die umkämpfte „Gleispachsche Studentenordnung“ 1930, die Fotos der flüchtenden Studierenden aus dem Anatomischen Institut im Mai 1933 oder die Erlässe wie das Hochschuler-

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nandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert“ (11. Oktober 2012) hielt Eric Kandel den Eröffnungsvortrag mit dem Titel „The Creative Interactions of Jews and Christians in Vienna 1900.“ In einer kurzen Textpassage geht der Historiker Walter Höflechner in seinem Werk „Die Baumeister des künftigen Glücks“ auf die Unruhen im Herbst 1932 ein, vgl. Walter Höflechner (1988): Die Baumeister des künftigen Glücks. Fragment einer Geschichte des Hochschulwesens in Österreich vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis in das Jahr 1938, Graz, 429–430.

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mächtigungs- oder das Hochschulerziehungsgesetz der Austrofaschisten, wichtiger.11 Sie sind zumindest zitiert und besprochen worden. Der Oktober 1932 fügte sich sichtlich gut in die Geschichte der Universität Wien ein, irritationslos ist er Teil der Aufzählungen der Ausschreitungen, Demonstrationen und Schließungen in Beiträgen von UniversitätshistorikerInnen geworden. Er ist eindeutig Teil einer größeren, gewaltvollen Tradition der Wiener Hochschule vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Antidemokraten, Antisemiten und Antiliberale prägten diese Hochschullandschaft; nicht selten bekleideten sie die höchsten Universitäts- und auch Staatsämter über alle politischen Zäsuren und vermeintlichen Brüche hinweg. Ziel dieses Artikels ist es, kurz bei den beiden Kalenderwochen 42 und 43 des Jahres 1932 zu verweilen, gerade auch weil es für damalige Studierende bedeutungsvolle Ereignisse gewesen sein dürften. „I was amazed“, schrieb etwa Jesse Zizmor, Psychologiestudent aus New York, der am 17. Oktober 1932 Zeuge der brutalen Ausschreitungen wurde. Er führte in seinem Protokoll weiter aus: „That such activity could be tolerated in a university was beyond my comprehension.“12 Peter Selekowitsch fand nach einer Attacke gegen ihn ebenfalls klare Worte: „Ich fühle mich durch diese Mißhandlung in meiner Freiheit als akademischer Bürger verletzt und beeinträchtigt und stelle die Bitte, Eure Magnifizenz wolle das nötige Verfahren zur Ausforschung der Täter einleiten und diese zur Verantwortung ziehen.“13 Selekowitsch richtete diesen Brief, wie auch Josef Hupka Wochen später, an Othenio Abel. Diese und viele andere der protokollierten Erinnerungen, die Professor Josef Hupka beglaubigte, sind eine seltene Quelle. Ich will ihnen daher den gebührenden Platz einräumen und ausführlich aus ihnen zitieren – nicht ohne zuerst die Vorgeschichte dieser Auseinandersetzungen kurz zu umreißen.

Was geschah im Oktober 1932? Der sogenannte „Simmeringer Blutsonntag“ vom 16. Oktober, an dem es nach einem Angriff auf das Arbeiterheim Simmering durch die Nationalsozialisten zu heftigen Zusammenstößen kam und es Verletzte und Tote gab, bildete den Auftakt und veranlasste nationalsozialistische Studierende, ihren antisemitischen Hass und ihre Gewaltbereitschaft – pseudolegitimiert als Rache – auf akademischem Boden weiter auszuleben. Der 26. Oktober war der letzte Tag in einer Serie von Ausschreitungen gegen vor allem jüdische Studierende an der Universität Wien. Insgesamt wurden 44 Studenten bei der Polizei als verletzt gemeldet; es dürften jedoch wesentlich mehr gewesen sein. Als zwei Momentaufnahmen sollen der 17. und der 26. Okto11 12 13

Vgl. zu den frühen Forderungen nach Zugangsbeschränkungen für sogenannte „Juden“ Reichspost, Nr. 333, 10.12.1922, 1. Protokoll Jesse Zizmor. Schreiben von Peter Selekowitsch an Othenio Abel am 20. Oktober 1932.

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ber, der erste und der letzte Tag der gewaltsamen Übergriffe, über die Protokollauszüge der Studierenden näher betrachtet werden. 17. Oktober 1932 Am Tag nach dem „Simmeringer-Blutsonntag“ wurde Josef Kesselbrenner, Medizinstudent im fünften Semester an der Universität Wien, attackiert. An ihm entlud sich das exzessive Gewaltpotenzial der „Hakenkreuzler“. Er gab zu Protokoll: „Am Montag, d. 17. Oktober 1932 um ca. 10 Uhr v. m., verliess ich mit einem Kollegen, namens Ruben Schwarz, die Universitätsbibliothek. Im Arkadengang kam mir ein Trupp von 40 bis 60 Hakenkreuzlern entgegen. Die 2 Anführer des Trupps forderten mich und meinen Kollegen auf, uns zu legitimieren. Auf meine Frage: ‚Warum? Mit welchem Recht verlangen Sie das?‘ bekam ich keine Antwort. Ich wurde von meinem Kollegen getrennt und im selben Augenblick stürzte sich die Horde, mit Stahlruten, Totschlägern, Gummiknütteln, eisernen Schlagringen, Stöcken etc. bewaffnet, auf mich. Ich wurde abwechselnd von jedem der ‚Helden‘ geprügelt, durch den Arkadengang gehetzt. Meine Hilferufe wurden beantwortet mit ‚Der Jud g’hört erstochen. Habt’s keine Rücksicht mit ihm. Rache für Simmering.‘ Ich lief gegen das Denkmal in der Mitte des Hofs und kam dort zum Fall. Während des Falls wurde mir der rechte Halbschuh vom Fusse gerissen. Als ich nun am Boden lag, wurde ich buchstäblich zertrampelt. Die ‚Helden‘ traten auf meinen Brustkorb herum, stiessen mit ihren Schuhen gegen mein Gesicht, gegen meine Arme und Beine. Trotzdem gelang es mir, mich zu erheben und in den Arkadengang zu fliehen. Die Horde verfolgte mich und im Arkadengang erhielt ich mit einem Schlagring einen furchtbaren Schlag ins rechte Auge, mit der Faust einen Hieb gegen das linke Auge, einen Hieb gegen die Oberlippe und einen gegen die Nase. Ein Hakenkreuzler, der mir entgegenlief, hieb mit aller Gewalt mit einem messerartigen Instrument (es bestand aus einem Griff und einer rechtwinkelig zum Griff abgeflachten Platte) auf meine Schädeldecke ein. Ich konnte mich, aus zahlreichen Wunden blutend, kaum mehr auf den Beinen halten und taumelte, ohne Unterlass geprügelt, durch den Arkadengang. Plötzlich erblickte ich ein paar Schritte vor mir eine Studentin (Rosa Weiss, IX. Thurngasse 11) und ich schrie ihr zu, sie möchte mich retten. Sie schützte mich, indem sie sich vor mich hinstellte und der Bande zurief: ‚Wollt ihr ihn denn ganz erschlagen?!‘ Die Leute liessen nun von mir ab und wir flüchteten in das nahe Buffet. Nach einer Weile kam ein N. S. in Uniform auf mich zu und erbot sich, mich durch einen rückwärtigen Ausgang ins Freie zu bringen. Ich antwortete, dass ich jetzt nicht fähig sei, ihm – wie er wollte – rasch zu folgen. Er aber erklärte: ‚Obwohl Sie verletzt sind, müssen sie jetzt hinter mir laufen, sonst kann ich für alles weitere keine Verantwortung übernehmen.‘ So musste ich, nur mit einem Schuh, ihm nachlaufen, neben mir Fräulein Weiss und hinter mir als Rückendeckung ein zweiter Student, der sich ein Abzeichen ansteckte. Auf dem Weg durch verschiedene Korridore mussten wir öfter wegen nahen

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Lärms stehen bleiben, schliesslich aber kamen wir zu einer Hintertür, die der Führer öffnete. Vorher hatte er uns gesagt: ‚Merken Sie sich: wenn ein S. A. Mann vor Ihnen geht, kann Ihnen nie etwas geschehen.‘ Vor der Tür in der Reichsratstrasse standen ein paar Hakenkreuzler. Unser Führer hob die Hand und rief ihnen zu: ‚Kameraden, dem machts nichts mehr, der hat’s schon.‘ Die Leute lachten – mein Aussehen und der eine unbekleidete Fuss kam diesen Kulturmenschen offenbar besonders lustig vor.“14 Rosa Weiss, die ihren Kollegen Kesselbrenner half, und Ruben Schwarz, der noch hörte wie „Rache für Simmering“ und „Pfui! Der Jud haut z’ruck“ geschrien wurde, bestätigten beide das Bild der haltlosen Brutalität gegen Josef Kesselbrenner, gegen die sie so gut wie machtlos waren.15 Am selben Tag wurden noch weitere Studierende überfallen und verwundet. Die Nationalsozialisten suchten die Konfrontation immer auf sehr ähnliche Weise: Stets in Überzahl sprachen sie KommilitonInnen, meist Männer, an und forderten sie auf, ihre Mitgliedschaft in der Deutschen Studentenschaft vorzuweisen. Konnte man dies nicht, weil man als Jüdin/ Jude, AusländerIn oder gar durch ein politisches Abzeichen als „Linke“/„Linker“ erkennbar war, begannen die NS-Studenten auf die Person loszuschlagen. Da auf universitärem Boden das Tragen von Waffen verboten war, halfen sie sich mit Türklinken, Ketten und anderen Gegenständen. In manchen Fällen schlugen und traten bis zu 20 Nationalsozialisten auf ihr Opfer ein. Die damalige Stimmung in den Hörsälen sowie die Haltung der Professoren und Universitätsangestellten beschrieb der Student Georg Bemberger. Er besuchte am 17. Oktober vormittags das Seminar für politische Ökonomie, als der Bibliothekar (er gab seinen Nachnamen mit „Berns“ an)16 des Instituts verkündete: „Die jüdischen Studenten mögen sich entfernen und zwar besser rasch.“ Bemberger führte aus: „Da ich mir im Moment nicht ganz klar darüber war, ob diese seine Aufforderung gleichbedeutend mit ‚Juden hinaus‘ sei, wogegen ich entschieden protestiert hätte, oder ein wohlgemeinter Rat, der zum Schutze der jüdischen Studenten erteilt wurde, wandte ich mich an Herrn Berns mit der Bitte um Aufklärung. Herr Berns teilte mir mit, dass es nach seiner Meinung opportun sei, das Seminar so bald wie möglich zu verlassen, da bereits kleine Unruhen in der Aula seien.“17 Ob es nun eine wohl­wollende Warnung oder doch ein Befehl war, ist auch aus Bembergers weiteren Angaben nicht herauszulesen.

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Protokoll Josef Kesselbrenner. Vgl. Protokolle Rosa Weiss und Ruben Schwarz. Im Verzeichnis des Personalstandes der Universität Wien (Version des Rektorats, aufliegend im Archiv der Universität Wien) aus dem Studienjahr 1932/33 wird der Bibliothekar „Berns“ nicht angeführt, daher liegen zu ihm keine weiteren Informationen vor. Protokoll Georg Bemberger.

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Elisabeth Schilder gab zur gleichen Situation zu Protokoll, dass einer ihrer Kollegen das schützende Institut aus Angst, vor den Türen verprügelt zu werden, nicht verlassen wollte. Dieser Kollege war vermutlich Georg Bemberger. Die beiden befanden sich am Institut für politische Ökonomie und Gesellschaftslehre, und wie Bemberger meinte, war er der einzige Jude unter den TeilnehmerInnen und befürchtete, den sogenannten „Salzergassen“, also den Spalier stehenden prügelnden Nationalsozialisten, nicht entkommen zu können. Elisabeth Schilder führte an, dass eben jener Bibliothekar Berns zu zwei Kollegen meinte: „Der Jude oben geht nicht freiwillig, also 2 Mann hinauf.“18 Das dürfte Bemberger nicht gehört haben. Tatsächlich wurde er, vermeintlich zu seinem Schutz, von zwei dazu abgestellten Studenten aus dem Institut begleitet und in der Folge in der Aula von dort wartenden Nationalsozialisten verprügelt: „Das Signal ‚Achtung Jude!‘ wurde gegeben und knapp hinter der erwähnten Glastür [...] wurde ich von 5 bis 6 Burschen mit Händen und Füssen auf den Rücken geschlagen. Ich versuchte, mich dagegen zu wehren, sah aber sofort, dass es empfehlenswert sei, mich raschest auf die Strasse zu begeben, da ich eine Uebermacht von etwa 120 [sic!] Menschen vor mir sah. Im nächsten Moment hatte ich aber bereits einen total zerrissenen Mantel und den Hut vom Kopf geschlagen, auf welchen ich eine Risswunde erhielt. Ich wurde von mindestens 10 Leuten gleichzeitig geschlagen und gestossen, so dass ich zu Boden fiel. Auf dem Boden liegend wurde ich weiter traktiert und ein Stück geschleift, wodurch ich Abschürfungen an der Haut erlitt. Erst knapp vor der Aula liess man mich frei und ich konnte nun die Strasse erreichen. Auf der Polizei gab ich den Sachverhalt zu Protokoll.“19 Eines wird bereits aus den Protokollen dieses einen Tages deutlich: Die Provokation ging von Seiten der nationalsozialistischen Studenten aus. Die „Hakenkreuzler“ suchten dabei nicht nur an der Universität Wien, sondern auch an anderen Hochschulen ganz aktiv die gewalttätige Auseinandersetzung. Die nationalsozialistische „Deutschösterreichische TagesZeitung“ (DÖTZ) hingegen, die über beste Kontakte zur Universitätsleitung verfügte, verdrehte die Fakten in bester „Stürmer“-Manier: In den Berichten der DÖTZ hieß es, die „jüdischen Studenten“ hätten die Hochschulkrawalle heraufbeschworen.20 26. Oktober 1932 Ein Teil des studentischen Universitätsalltags für „Jüdinnen“/„Juden“ und „Linke“ in den frühen 1930er Jahren in Wien war es, im Fach Anatomie, wenn sie das Semester akademisch wie körperlich überstehen wollten, nicht nur zwischen zwei Professoren, sondern auch gleich zwischen zwei ideologischen Lagern wählen zu müssen. Im zweigeteilten Institut für Anatomie lasen sowohl der „rote“ Julius Tandler, der mehrheitlich von „den Linken“ gehört wurde, 18 Protokoll Elisabeth Schilder. 19 Protokoll Georg Bemberger. 20 Vgl. Arbeiter-Zeitung, Nr. 290, 19.10.1932, 4.

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als auch Ferdinand Hochstetter. Er wurde vor allem von deutschnationalen und nationalsozialistischen Studierenden geschätzt. Diese politische Trennung konnte man als StudentIn allerdings nicht in allen Lehrveranstaltungen durchziehen und so traf man sich spätestens im Physiologischen Universitätsinstitut in der Schwarzspanierstraße bei Arnold Durig wieder, so auch am Mittwoch, dem 26. Oktober 1932. Bernhard Schwarz, Medizinstudent im dritten Semester, gab zu Protokoll: „Ich begab mich an jedem Tage in die Vorlesung des Prof. Durig über Physiologie und nahm in der vorletzten Bank des Hörsaales Platz. Ich trug das Drei-Pfeil-Abzeichen. Nach ungefähr 6 Minuten – es war dies vor Beginn der Vorlesung – riss mir plötzlich ein Student das Abzeichen, das mit einer Nadel befestigt war, weg. Er langte dabei vom rückwärtigen Gang über die letzte Bank zu mir hinüber. Zugleich schlug er mir auf die Lippen. Seine begleitenden Worte weiss ich nicht mehr. Bald darauf schlug ein zweiter Student von weiter rückwärts mit einer Hundepeitsche nach mir und traf mich auf die Schulter. Ich warf mich darauf zwei Bänke nach vorne, wobei ich auf die vorne sitzenden Studenten fiel. Dann erschollen Rufe wie ‚Hinaus mit ihm‘ und es gelang mir, den Ausgang zu erreichen, wobei ich noch einige Hiebe bekam. Ich ging in das anatomische Institut, um mir die Lippe, die leicht blutete, abzuwaschen. Dort erzählte ich auf eingehendes Befragen den Vorfall. Ich habe aber keinesfalls die Leute aufgefordert, zur Revanche in das Institut des Prof. Durig zu kommen. Es hätte dies auch gar keinen Sinn gehabt. Da ich die Vorlesung von Prof. Durig unbedingt hören wollte, ging ich ungefähr um ½ 11 Uhr in das physiologische Institut zurück und zwar in der Absicht, mich unbemerkt auf die Galerie zu begeben. Ich sah aber bereits auf der Stiege mehrere Studenten stehen, wusste, dass irgend etwas im Zuge sei und gab daher mein Vorhaben auf, indem ich fortging und mich in die Nationalbibliothek begab, wo ich zu studieren pflege. Von den späteren Vorfällen im physiologischen Institute habe ich nicht gesehen, da ich ja auch gar nicht dort war.“21 Zeugen dieser Ausschreitungen waren u. a. auch Simon Brandstetter, Hermann Pfeffer und Samuel Rojak. Brandstetter gab zu Protokoll: „Ich stand dann auch auf und sah, wie ein Student mit einer Hundepeitsche auf Schwarz losschlug. Ich kannte den Angreifer nicht, hörte aber wie einige Zuseher ihm daraufhin zuriefen und zwar etwa: ‚Bravo Babeluk, hoppauf Babeluk‘! Ich verstand zuerst Mameluk, bin mir seither sicher geworden, dass nur der Babeluk gemeint sein konnte. [...] Nach der Vorlesung des Prof. Durig wurde ich im Hof überfallen und geschlagen, sodass ich ohnmächtig wurde. Von den Tätern kenne ich niemanden. Über den Vorfall mit Babeluk könnte ich noch Zeugen ausfindig machen, doch würde ich dies nur dann tun, wenn ich aufgefordert werde.“22 Zwei Wochen später gab Simon Brandstetter zu Protokoll, dass er doch nicht in der Lage sei diese Zeugen zu nennen – warum, das lässt sich hier nur erahnen. Eine naheliegende 21 22

Protokoll Bernhard Schwarz. Protokoll Simon Brandstetter.

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Vermutung ist, dass die anderen KollegInnen durch die Präsenz der Nationalsozialisten an der Universität Wien und die brutalen Ausschreitungen zwischen 17. und 26. Oktober bereits so eingeschüchtert waren, dass sie keine Aussage mehr machen wollten. Einige von ihnen wurden noch auf der Polizeiwachstelle von Nationalsozialisten nach ihren Namen gefragt und mit Konsequenzen bedroht – so ist es zumindest den Protokollen zu entnehmen. Eine weitere Vermutung ist, dass die Schlägereien tatsächlich von „Hakenkreuzlern“ anderer Wiener Universitäten unterstützt wurden und sie aus diesem (möglicherweise taktischen) Grund auch nicht erkannt wurden. In Reaktion auf die Anschuldigungen wurde Karl Babeluk am 14. Dezember 1932 in die Rektoratskanzlei vorgeladen, bestritt aber jede Teilnahme an Ausschreitungen gegen Bernhard Schwarz. Er konterte mit einer Gegenanschuldigung: „Meine Anzeige als Täter dürfte dadurch zu erklären sein, dass ich ein Gymnasium besuchte, an dem viele jüdische Schüler sind (R. G. XVII.) und dass mich daher viele Tandler-Hörer kennen. Die jüdischen Studenten haben meines Wissens die Namen ganz wahllos angegeben.“23 Ein weiteres Protokoll von Hermann Pfeffer zum „Fall Bernhard Schwarz“ ist noch zu erwähnen, da es einer der wenigen Zeugnisse von Widerstand bei Ausschreitungen gegen jüdische Studierende ist.24 Pfeffer schilderte: „Von anderen Studenten aufgefordert, den im Physiologischen Institut bedrohten Studenten beizustehen, verliess ich am 26. Okt. kurz vor 11 Uhr v. m. das Studierlokal des Anatomischen Instituts [an dem sich Schwarz verarzten ließ, Anm.: L. E.] und begab mich mit ihnen dorthin. Bereits im Vorraum des Hörsaals wurden wir von dort postierten Studenten angegriffen, wobei aus der sich entwickelnden schweren Prügelei mehrere erheblich verwundet hervorgingen. Diese Vorgänge, die wenige Minuten dauerten, endeten mit dem Hinauswurf der jüdischen und sozialistischen Studenten auf die Währingerstraße, mit welchen ich mich wieder in das Anatomische Institut begab. Während die Hörer der I. Anatomischen Lehrkanzel sich hinter den Glastüren des Vorraumes aufstellten, begab ich mich allein, da die Situation nicht nach einer neuen Prügelei aussah zur Stiege, wo ich ein paar Minuten verweilte. Ein das Institut verlassender Kollege wurde plötzlich von hinten überfallen, und als ich ihm beistehen wollte, wurde auch ich von hinten niedergeschlagen und verlor das Bewusstsein. Noch bewusstlos wurde ich von der Rettungsgesellschaft auf die 2. Unfallstation gebracht, woselbst eine Gehirnerschütterung festgestellt wurde, an deren Folgen ich noch heute (10. Nov.) laboriere, die mich insbesondere daran hindern, die gewohnte Studienzeit einzuhalten.“25 23 Protokoll Karl Babeluk. 24 Vgl. eine der einzigen bekannten Berichte von jüdischem Widerstand an der Universität Wien Anfang der 1930er Jahre: Benno Weiser Varon (1993): „Die Herrenknochen der Herrenrasse krachten wie alle anderen Knochen ... “, in: Adi Wimmer (Hg.): Die Heimat wurde ihnen fremd, die Fremde nicht zur Heimat. Erinnerungen österreichischer Juden aus dem Exil, Wien, 38–43. 25 Protokoll Herman Pfeffer.

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Othenio Abel notierte zu diesem Versuch, die eigenen KollegInnen zu verteidigen, dass – nachdem Bernhard Schwarz im Anatomischen Institut versorgt wurde – „sich etwa 20– 25 TANDLER-Hörer in das Institut des Prof. DURIG begaben und sich auf dem Gange aufstellten. Gegen Schluss der Vorlesung kam es zu einer Prügelei, bei der es auf beiden Seiten Verletzte gab. Da sich die dadurch verursachte Erregung in das Hauptgebäude übertrug, verfügte ich am gleichen Tag die völlige Schliessung der Universität und sämtlicher Nebengebäude.“26 Die Frage, was die tatsächliche Ursache für die „Erregung“ war, bleibt unausgesprochen: die randalierenden nationalsozialistischen Studenten. Bernhard Schwarz bemühte sich in seinem Protokoll hingegen um Klarstellung, die Studierenden der Anatomie dezidiert nicht aufgehetzt zu haben. Auch Samuel Rojak, Medizinstudent im ersten Semester, beobachtete das Geschehen: „Am 26. Oktober 1932, um ca. 11 Uhr ging ich die Stufen des Physiologischen Instituts hinab. Bevor ich noch ganz unten war, sah ich, noch von der Stiege aus, eine grössere Gruppe N. S. vor der Tür stehen, welche Gruppe einer kleineren Gruppe jüdischer Studenten den Ausgang verwehrte. Ich blieb auf der Stiege stehen und sah ganz genau, wie die Hakenkreuzler in Schwarmlinien standen, und zwar so, dass die Leute der hinteren Reihen in den Zwischenräumen der unmittelbar vorderen Reihe zu stehen kamen. Es waren mehrere solcher Linien. Das ganze machte den Eindruck, dass die Sache nicht nur vorbereitet, sondern genau eingeübt war. Auf ein Kommando schlugen die Nationalsozialisten mit Hundepeitschen und anderen Waffen auf die jüdischen Studenten ein. Auch das Klirren von Scheiben hörte ich. Ich wollte zurück, konnte aber nicht mehr, da schon, von oben einige Hakenkreuzler in weissen Mänteln herabkamen. Aus Furcht vor diesen ging ich ganz hinunter und geriet so in die Gruppe der jüdischen Studenten. Mit dieser Gruppe suchte ich die Tür zu erreichen. Dabei bekam ich einige Hiebe mit Hundepeitschen ab. Knapp an der Tür – ich hatte die Klinke schon in der Hand – verspürte ich am Hinterhaupt heftige Schläge mit einem harten Instrument, wahrscheinlich einer Stahlrute. (Die Leute waren ausser mit Hundepeitschen auch mit solchen Instrumenten – kurze Hülsen, aus denen, wenn man sie schleuderte, Stahlfedern herausschnellten – aber auch mit Ketten bewaffnet). Durch diese Schläge ganz benommen, liess ich die Klinke los und fiel zu Boden. Auf mich stürzten sich nun ca. 6 bis 8 Hakenkreuzler, die mich mit Hundepeitschen etc. weiter bearbeiteten. Mit Mühe konnte ich mich erheben und einem Schritt zur Tür hinaus tun. Da ich stark blutete und Kopfschmerzen hatte, lief ich ins Anatomische Institut, wo mich Dr. Bergmann verband.“27 Andernorts wurde auch Carola Koblitz Zeugin von Schlägereien am Vormittag des 26. Oktober. „Wir trugen keinerlei Parteiabzeichen. [...] Als wir dem Ausgange zugingen, bemerkten wir in der Aula eine Ansammlung von etwa 20 Burschen, die zum Grossteil das 26 27

Schreiben von Othenio Abel, Datum und Empfänger nicht überliefert (siehe Fußnote 3). Protokoll Samuel Rojak.

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n. s. Abzeichen trugen. Unserer höflichen Bitte, uns durchzulassen, wurde nur widerwillig Folge geleistet, wir kamen nur schrittweise in dem Gedränge vorwärts und waren plötzlich eingekeilt. [...] Meine Handtasche ist plötzlich verschwunden, Kappe und Schleier werden mit vom Kopf gerissen. Ich sehe ringsumher verzerrte brutale Gesichter und wiederhole wie unter einem Zwang immer nur die Worte: ‚Bitte, nicht schlagen, nicht schlagen!‘ Da bricht mein Begleiter blutüberströmt zusammen, man haut weiter in der rohesten Weise auf ihn ein, aber auch auf mich, und ich schreie einem der johlenden ‚Edelmenschen‘ ins Gesicht: ‚Es ist eine Schande, eine Frau zu schlagen!‘ Grinsend sagt einer mit Hitlerhemd und Hakenkreuz: ‚Warum haben Sie auch provoziert?‘ Endlich gelingt es uns, dem geheiligten Boden akademischer Würde zu entfliehen. Mein Begleiter hat zwei klaffende Kopfwunden, aus denen das Blut fliesst, mein Mantel ist von oben bis unten blutbespritzt, meine Handschuhe rot und klebrig. Jetzt weiss ich ganz, was das ‚Dritte Reich‘ bedeutet – die Herrschaft schrankenloser, feiger Brutalität.“28 Einer der wenigen Lehrenden, der in die Ausschreitungen eingriff, dürfte Emil Goldmann gewesen sein. Der Professor für Deutsche Rechtsgeschichte erinnerte sich: „Als ich am Mittwoch, d. 26. Oktober 1932 nach Beendigung der für den Vormittag anberaumten rechtshistorischen Staatsprüfung der Kommission Nr. 1 als erster der drei Prüfer auf den grossen, vom Dekanat zum Seminar führenden Gang hinaustrat, um mich zum Dekanat zu begeben, bemerkte ich (angesichts der Tatsache, dass ich bereits während der Prüfung, durch die Glastür des Prüfungssaales hinausgehend, beobachten konnte, wie Gruppen von Studenten einzelnen flüchtenden Studenten nachliefen, musste ich auf eine solche Szene gefasst sein), wie in einer Entfernung von etwa 15 Schritten rechts von der zum Präsidium, der rechtshistorischen Staatsprüfungskommission führende Glastür eine aus etwa 50 Studenten bestehende Gruppe, eng zusammengedrängt, einem Vorgang mit gespannter Aufmerksamkeit zuzusehen schien, der sich in der Mitte des Haufens, für mich nicht erkennbar, abspielte. Aus der Situation wurde mir sofort klar, dass es sich hier um einen Ueberfall einer organisierten Bande auf eine oder einige wenige Personen handeln müsse. Im nächsten Augenblick eilte ich zum Tatort hin, teilte, mich durchzwängend, die Gruppe und musste zu meinem Entsetzen sehen, dass zwei auf dem Boden liegende, blutende Studenten gerade von Mitgliedern der Gruppe misshandelt wurden. Die auf diese Intervention nicht gefassten Täter liessen in diesem Augenblick überrascht von ihren Opfern ab, so dass diese sich mit meiner Hilfe erheben konnten.“29 Auch dieses Protokoll seines Kollegen zeichnete Hupka handschriftlich gegen. Noch viele weitere Beispiele von Auseinandersetzungen und Aussagen könnten hier angeführt werden, doch sollten diese kurzen Ausschnitte ausreichen, um einen Eindruck zu erhalten, was sich in 28 29

Protokoll Carola Koblitz. Protokoll Emil Goldmann.

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der Zeit zwischen 17. und 26. Oktober 1932 an brutalsten nationalsozialistischen Übergriffen abspielte. Bemerkenswert ist, dass die Mehrheit der nationalsozialistischen Akteure in den gesichteten Akten namenlos und so auch straffrei blieb. Auch die Disziplinaruntersuchung gegen Karl Babeluk wurde schlussendlich eingestellt, da laut Rektor Abel „ein Beweis für die Schuld BABELUKs nicht als erbracht angesehen werden kann“.30 Aus dem gesamten Konvolut der Sonderreihe S 185 geht jedenfalls keine einzige Verurteilung gegen einen Studenten hervor. Die Täter konnte man, so hieß es, in keinem Fall ausfindig machen. Resümee Grundsätzlich dürfte nur ein kleiner Teil der von Gewalt Betroffenen ihren Weg zu Josef Hupka gefunden haben. Die aber verfassten mit ihm gemeinsam Dokumente, die es heute WissenschaftlerInnen möglich machen, die Geschichte der Universität Wien um ein wichtiges Mosaikstück zu erweitern. So ergänzen diese Erinnerungen den Korpus der staatlichen wie institutionellen Quellen (wie den Bundesgesetzblättern, den Ministerratsprotokollen, den Verordnungen des Bundesministeriums für Unterricht, den Senatssitzungsprotokollen der Universität Wien), aber auch die damalige mediale Berichterstattung. Sie helfen mit, ein noch schärferes Bild der hohen Präsenz von Nationalsozialisten und ihrer Gewaltbereitschaft lange vor 1938 nachzuzeichnen. Die von Samuel Rojak angesprochene Organisiertheit der „Hakenkreuzler“ nahm ihren Anfang bereits Mitte der 1920er Jahre und wurde auch im Austrofaschismus, trotz Verbots, nie wieder gebrochen. Darüber hinaus eröffnet der Quellenfund weitere Betrachtungsmöglichkeiten und Aspekte: Dass in diesem Bestand Protokolle von Frauen verfasst wurden, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade die Erinnerungen von Studentinnen viel zu selten Eingang in die wissenschaftliche Auseinandersetzung gefunden haben. Die spärliche Quellenlage ist gewiss nur ein Grund dafür. Eine weitere Besonderheit der Akten besteht darin, dass sie das Bild der Opfer von antisemitischen Ausschreitungen ergänzen und zwar um den Aspekt des „sich zur Wehr-Setzens“. Auch wenn die Studierenden der Übermacht der Nationalsozialisten selten erfolgreich etwas entgegenzusetzen hatten, so wird doch in den meisten Erinnerungen betont, dass man sich nicht verstecken wollte. Wie aus den Protokollen ersichtlich, wurden die betroffenen Studierenden oft gefragt, ob sie Juden/Jüdinnen seien, worauf die meisten mit „Ja“ antworteten – ein in der Situation auffälliges Zeichen von Mut und Selbstbewusstsein, v. a. da sie zu dem Zeitpunkt bereits wussten, was eine solche Antwort für Konsequenzen haben konnte. Dieser Aspekt des Widerstandes und der Selbstbestimmtheit ist gerade für das Bild der „linken“ Studierenden der 1930er Jahre längst überfällig gewesen. 30

Schreiben von Rektor Othenio Abel an Josef Schaffer, Datum nicht überliefert.

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Der überschaubare Quellenbestand bietet viele Möglichkeiten für weitere Forschungen. So ist es sicherlich lohnenswert, mehr über die in den Protokollen genannten AkteurInnen herauszufinden, zu recherchieren wie ihre Biografien im Austrofaschismus, aber auch in der Zeit nach der sogenannten (Selbst-)Gleichschaltung der Hochschule verliefen. Emil Goldmann, jener Professor, der am 26. Oktober in die Ausschreitungen eingriff, musste so wie viele andere seiner KollegInnen nach dem März 1938 die Universität Wien unfreiwillig verlassen. Er wurde aus rassistischen Gründen verfolgt, seines Amtes enthoben und zwangspensioniert. Nach seiner Flucht nach Großbritannien lebte er bis zu seinem Tod im Jahr 1942 in Cambridge.31 Für seine Person fehlen ebenso gründlichere biografische Darstellungen wie für viele weitere Betroffene der Ausschreitungen. Um die Bedeutung der Ausschreitungen abschließend auf den Punkt zu bringen und in eine internationale Beziehung zu setzen: Jesse Zizmor, eingangs zitierter Student aus New York, schrieb in seinem Protokoll: „The Austrian National Government does not permit butchery and murder in the streets of Vienna: why does the Austrian National Government tolerate bloodshot and violence in the Halls of the University of Vienna? In America such conditions do not and could not exist.“32 Josef Hupka wiederum schrieb in seinem Brief an Rektor Othenio Abel: „Was sich in den Tagen vom 17. bis zum 26. Oktober 1932 zugetragen hat, zeigt eindringlich, dass es allerhöchste Zeit ist, den akademischen Boden von politischen Terror zu befreien und die Sicherheit der Ehre, des Lebens und der Gesundheit, die hier für einen Teil der Studierenden verloren gegangen ist, mit allen gesetzlich gebotenen Mitteln wiederherzustellen.“33 Dass es ganz anders kommen sollte, konnte Josef Hupka nicht wissen. Josef Hupka floh gemeinsam mit seiner Frau Hermine Hupka 1939 zunächst in die Schweiz, wo sie allerdings kein Exil erhielten. Danach lebten sie in den Niederlanden, bei einem Fluchtversuch im November 1942 hinderte sie ein antifaschistischer Militärpolizist am geplanten Selbstmord. Nach weiteren Monaten im Untergrund wurden sie 1944 verhaftet und von Westerbork nach Theresienstadt deportiert, wo Josef Hupka am 23. April 1944 an den Folgen seiner Inhaftierung starb. Hermine Hupka wurde weiter nach ­Auschwitz/Birkenau deportiert und am 11. Oktober 1944 ermordet.34 Erst im April 2015 wurde an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ein Sitzungszimmer nach dem lange vergessenen Josef Hupka benannt. 31

Vgl. Eintrag zu Emil Goldmann im Gedenkbuch der Universität Wien, URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at (abgerufen am 27.7.2014); Johannes Feichtinger (2001): Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945, Frankfurt/New York, 271f. 32 Protokoll Jesse Zizmor; vgl. auch die Berichterstattung in der New York Times in den Tagen 18.10, 27.10. und 28.10.1932. 33 Schreiben von Josef Hupka an Othenio Abel am 28. November 1932. 34 Vgl. Taschwer (2014), 26.

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Karl Anton Prinz Rohan und der italienische Faschismus in Österreich*

„So sehr auch der österreichische Faschismus einen starken, autoritären Staat anstrebt, so wird er doch immer um eine möglichst pflegsame Behandlung alles Autonomen, mag es territorial oder berufsständisch zum Ausdruck kommen, bemüht bleiben. Es gibt also in Österreich eine bedeutende faschistische Bewegung und einen Vormarsch faschistischen Denkens.“1

Der Verfasser dieser Worte gilt als einer der Förderer des genannten „Vormarsch(es) faschistischen Denkens“ in Österreich.2 Die Wahl der „Österreichischen Faschisten-Zeitung“3 als publizistische Plattform für seinen Beitrag ist signifikant für Prinz Rohans Absichten im Kontext einer von Benito Mussolini ab 1933 verstärkt verfolgten Faschisierung Österreichs. Karl Anton Prinz Rohan wurde 1898 auf Schloss Albrechtsberg bei Melk, dem Landgut seiner Mutter, geboren. Der Erste Weltkrieg und das Fronterlebnis machten auf den jungen Rohan, der von seiner hocharistokratischen Herkunft geprägt war, einen nachhaltigen Eindruck. Mit dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie verlor er „politische Heimat,

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Oliver Rathkolb möchte ich für seine Anregung zur Beschäftigung mit Karl Anton Prinz Rohan danken. Dies hat meine Forschungen zur Verbreitung der Ideologie des italienischen Faschismus in Österreich gewinnbringend bereichert. Hervorhebung im Original, Karl Anton Prinz Rohan (1933): Der Faschismus in Österreich!, in: Österreichische Faschisten-Zeitung. Offizielles Organ der Faschistischen Partei Österreichs, Nr. 2, 20.4.1933, 1f. Vgl. Enzo Collotti (1984): Die Faschisierung des italienischen Staates und die fortschreitende Beeinflussung österreichischer Rechtsgruppen, in: Erich Fröschl / Helge Zoitl (Hg.): Der 4. März 1933. Vom Verfassungsbruch zur Diktatur. Beiträge zum wissenschaftlichen Symposion des Dr.-Karl-Renner-Instituts, abgehalten am 28. Feb. u. 1. März 1983 in Wien, Wien, 149–164, 152. Die Zeitung war das offizielle Organ der Faschistischen Partei Österreichs und dürfte das Nachfolgeblatt von „Der Fascist“ gewesen sein. Weder diesem Parteizusammenschluss noch seinen Blättern war eine erfolgreiche Zukunft beschieden: Die Partei wurde 1932 in der Hoffnung auf italienische Finanzierung gegründet, 1937 von der österreichischen Regierung aufgrund von Änderungen im Vereinsgesetz aufgelöst. Der italienische Gesandte in Wien goutierte dies als einen „sehr angemessen(en)“ Schritt, weil die „ziemlich diskreditiert(e)“ Partei politisch bedeutungslos und nur dem Namen nach faschistisch war, vgl. Salata an Ministero Affari Esteri/Ministero Stampa e Propaganda, Wien, 18.2.1937, in: Archivio Centrale dello Stato (ACS)/Ministero della Cultura Popolare (MCP)/ Direzione Generale Servizi della Propaganda (DGP)/b(usta)16/Austria 1937.

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väterliches Erbe und einen vorgezeichneten Weg durchs Leben“.4 In Anbetracht der Vergänglichkeit der Monarchie, gleichbedeutend mit einem Fehlen eines nationenübergreifenden „Kultur- und Gesellschaftszusammenhangs“, formten sich die wesentlichen Elemente von Rohans „neukonservativem Europabewußtsein“.5 In diesem sollten sich die geistigen Eliten Europas gegen Bolschewismus und Liberalismus zusammenschließen. Im Gegensatz zu seinem Landsmann Richard Graf Nikolaus Coudenhove-Kalergi und dessen „Paneuropa“-Idee setzte sich Rohan für den katholischen Universalismus der konservativen „Abendland“-Idee ein.6 Zu diesem Zweck gründete er 1922 – gefördert vom Priesterpolitiker Ignaz Seipel, dem Staatsrechtslehrer Josef Redlich und dem Dichter Hugo von Hofmannsthal7 – in Wien den Kulturbund mit dem Ziel, „(d)as geistige Leben in Österreich zusammenzufassen, schöpferische und strebende Menschen zur Anregung eines jeden zusammenzuführen“ und das „geistige Leben Österreichs würdig nach außen zu vertreten“.8 Verschiedene Ländergruppen (Europäischer Kulturbund) folgten, was einen europäischen Zusammenschluss unter Einbeziehung Großbritanniens und Russlands auf kultureller Ebene fördern sollte. Von 1925 bis zu seinem erzwungenen Ausscheiden 1936 gab Rohan die Zeitschrift „Europäische Revue“ heraus. Die Beiträge dieses Periodikums spiegelten eine gewisse Offenheit für verschiedene politische Positionen wider, die auch Rohan übernahm. Dennoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass Rohan selbst deutliche Sympathien hatte. Während das Hervorheben antiliberaler Züge der Sowjetunion „wohl eher einer gewissen intellektuellen Koketterie“ zu verdanken war, war seine Wertschätzung für den italienischen Faschismus ernster zu nehmen.9 Dabei tendierte Rohan dazu, sich eine Vorstellung des Faschismus zurechtzuzimmern, die nur teilweise den Tatsachen entsprach.10 Während Coudenhove-Kalergi und sein rivalisierendes Europaprojekt der Zwischenkriegszeit bereits biografisch gewürdigt wurden,11 ist eine lebensgeschichtliche Aufarbeitung von Rohan bisher nicht erfolgt. Durch Rohans profaschistische Orientierung, seine Sympathien für den Nationalsozialismus Mitte der 1930er Jahre und seine antiamerikanischen Äu4 5

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Karl Anton Prinz Rohan (1954): Heimat Europa. Erinnerungen und Erfahrungen, Düsseldorf/Köln, 56. Guido Müller (2005): Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg: das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund (Studien zur Internationalen Geschichte 15), München, 314. Guido Müller (1996): Rohan, Karl Anton Prinz, in: Caspar von Schrenck-Notzing (Hg.): Lexikon des Konservatismus, Graz, 463ff. Müller (2005), 316f. Vgl. die Statuten des Kulturbundes, Karl Anton Prinz Rohan (1921): Kulturbund Wien, Wien. Armin Mohler / Karlheinz Weissmann (2005): Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch, 6. Aufl., Graz, 142. Mohler et al. (2005), 142. Vgl. etwa Anita Ziegerhofer-Prettenthaler (2004): Botschafter Europas. Richard Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien/Köln/Weimar.

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ßerungen nach dem Zweiten Weltkrieg12 konnte er im Verständnis der älteren Forschung zu den Europabewegungen „kein richtiger oder gar repräsentativer Europäer“ sein, weshalb er lange Zeit einer Art damnatio memoriae zum Opfer fiel.13 Trotz einer Habilitationsschrift zu Rohan und dem Europäischen Kulturbund14 blieb die Anzahl weiterer Arbeiten zu Rohan begrenzt.15 Während seine (publizistische) Vermittlungstätigkeit bisher überwiegend aus einem deutschen bzw. europäischen Blickwinkel behandelt wurde,16 folgt der vorliegende Beitrag der Anregung Enzo Collottis, Rohan explizit als Vermittler faschistischer Beeinflussung zu charakterisieren und ihn in Österreich zu verorten.17 Eine grenzübergreifende Sozialisation durch die Habsburgermonarchie zeigt sich beim 1898 geborenen Rohan besonders prägnant, der vor seinem „50. Geburtstag fünfmal die Staatsbürgerschaft und Geldwährungen wechseln“ musste.18 Dementsprechend lässt sich Rohan als ideale transnationale Vermittlerpersönlichkeit stilisieren, denn als Österreicher multinationaler Prägung einer Nachkriegsgeneration „bringt [der Prinz] für seine europäische Mittleraufgabe vorzügliche Eigenschaften mit“. Auch in zeitgenössischer Perspektive wurde also Rohans Zugehörigkeit zum europäischen Hochadel, seine österreichische Herkunft und seine Erfahrung als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg als prädestiniert für seine gesellschaftliche Mittlerrolle gesehen.19 Vor dem Hintergrund der Bestrebungen Mussolinis, Österreich zu faschisieren,20 soll der Stellenwert eines Faschismus-Verfechters wie Rohan mit seinem Kulturbund, welcher eine 12

Karl Anton Rohan (1963): Heiße Eisen: Deutschland, Europa und der Westen, Nürnberg, zitiert bei Guido Müller (2001): Jenseits des Nationalismus? – „Europa“ als Konzept grenzübergreifender adlig-bürgerlicher Elitendiskurse zwischen den beiden Weltkriegen, in: Heinz Reif (Hg.): Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, 2. Bd., Berlin, 235–268, 246. 13 Müller (2001), 245f; sowie Ina Ulrike Paul (2005): Einigung für einen Kontinent von Feinden? R. N. CoudenhoveKalergis „Paneuropa“ und K. A. Rohans „Reich über Nationen“ als konkurrierende Europaprojekte der Zwischenkriegszeit, in: Heinz Duchhardt (Hg.): Der Europa-Gedanke in Ungarn und Deutschland in der Zwischenkriegszeit (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz Beiheft 66), Mainz, 21–45, 25. 14 Vgl. Müller (2005). 15 Bert Riehle (2009): Eine neue Ordnung der Welt. Föderative Friedenstheorien im deutschsprachigen Raum zwischen 1892 und 1932, Göttingen, 24. 16 Vgl. Klaus-Peter Hoepke (1968): Die deutsche Rechte und der italienische Faschismus – ein Beitrag zum Selbstverständnis und zur Politik von Gruppen und Verbänden der deutschen Rechten (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 38), Düsseldorf; Müller (2005) sowie jüngst Matthias Damm (2012): Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik (Extremismus und Demokratie 27), Baden-Baden. 17 Collotti (1984), 152. Rohan sah Österreich hinsichtlich seiner „internationalen Entwicklungsmöglichkeiten […] dazu berufen, den Anfang zu machen“, vgl. Müller (2005), 318. 18 Rohan (1954), 38. 19 Vgl. Ludwig Curtius (1926): Internationale kulturelle Zusammenarbeit, in: Münchner Neueste Nachrichten, Nr. 118, 29.4.1926, zitiert nach Müller (2005), 351. 20 Karl Hans Sailer (Hg.) (1949): Geheimer Briefwechsel Mussolini – Dollfuß, Wien.

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offiziöse Stellung bei der österreichischen Regierung einnahm,21 für die faschistische Propagandastrategie entlang des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes erörtert werden. Schlaglichter aus italienischen und österreichischen Archiven sollen den Umgang der italienischen Faschisten mit einem ursprünglich glühenden Bewunderer des Faschismus mit nunmehr zunehmend nationalsozialistischer Affinität näher beleuchten.

„Europafähiger Edel-Faschismus“ – der italienische Faschismus im Kontext von Prinz Rohans Europakonzeption Rohan entwickelte sich zu einem der wichtigsten katholischen mitteleuropäischen Vertreter der Idee der „Konservativen Revolution“,22 die er mit seiner Schrift „Europa“ 1923/2423 programmatisch begründete.24 „Italiens Zukunft gehörte dem Faschismus“ – diese Folgerung hatte Rohan schon früh gezogen,25 weshalb er das Programm der „Konservativen Revolution“ direkt aus dem italienischen Faschismus entwickelte.26 Wie Klaus-Peter Hoepke in diesem Zusammenhang nachweist, finden sich in „Europa“ bereits zentrale Elemente von Rohans Faschismuskonzeption. Nachdem er diese einmal entwickelt hatte, hielt er an ihr fest. Ungewöhnlich war zudem die Intensität, mit der er das faschistische Vorbild verfocht. In Rohans – hier verkürzt wiedergegebenen – Charakterisierung des Faschismus als revolutionär, konservativ und die Hierarchie „des Geistes über die Tat“ anstrebend, zeigt sich seine Herangehensweise: Durch die Formulierung eher abstrahierender Kategorien gelang es ihm, diese mit selbstdefinierten Wertinhalten zu füllen.27 Aus der „Existenzkrise des Adels“ nach dem Weltkrieg zog Rohan die – durch den eigenen Verlust persönliche – Motivation seiner „europäischen Bewegung“. In „Europa“ schrieb er dem Adel eine neue Führungsaufgabe zu. Anstelle des alten Adels sollte für Rohan eine „Geistesaristokratie“ treten, die sich aus einer neuen Elite von Intellektuellen, Industriellen und Führern zusammensetzte.28 Mit dem Eintreten für Autorität, Hierarchie und Führertum in Verbindung mit der neuen Rolle des Adels verkörperte er „ein nicht eben alltägliches Faschis-

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Müller (2005), 353. Mohler et al. (2005); zur Kritik am Oberbegriff der ‚Konservativen Revolution‘ als unverwechselbare Identität vgl. Stefan Breuer (1990): Die ‚Konservative Revolution‘ – Kritik eines Mythos, in: Politische Vierteljahresschrift Jg. 31 (1990) Heft 4, 585–607. 23 Karl Anton Prinz Rohan (1924): Europa. Streiflichter, Leipzig. 24 Müller (1996), 464. 25 Karl Anton Rohan (um 1970): Skizzenbuch aus sieben Jahrzehnten. Österreichisches im 20. Jahrhundert. Unveröffentlichtes Manuskript, 55, Einfügung 4a, zitiert nach Müller (2005), 328. 26 Müller (2005), 331. 27 Hoepke (1968), 48 sowie 52f. 28 Müller (2005), 336.

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mus-Bild“.29 Dieses wurde treffend als ein „auf hohem intellektuellen Niveau kultivierte[r] […] europafähige[r] Edel-Faschismus“ charakterisiert.30

Prinz Rohan und der österreichische Kulturbund – „Vermittlungsinstitutionen“ für den italienischen Faschismus? Über den kulturellen Anspruch der Begegnungen der nationalen Eliten in Europa hinaus verfolgte Rohan also politische Überzeugungen. Die Propagierung der politischen Ideologie der „Konservativen Revolution“ als antiliberale und antidemokratische Gegenrevolution zu den aufgeklärt-säkularen „Ideen von 1789“ ebenso wie zur Russischen Oktoberrevolution durch Rohan und seinen Kulturbund zeigte starke Affinität zum italienischen Faschismus. Neben Rohans Schriften und den gesellschaftspolitisch relevanten Stellungnahmen des Kulturbunds legen davon die Verbindungen zu den italienischen Faschisten auch Zeugnis ab: diese reichten von der Abhaltung des Kulturbund-Kongresses 1925 in Mailand unter aktiver Teilnahme führender faschistischer Intellektueller bis hin zur Mitwirkung Rohans am faschistischen Volta-Kongress in Rom 1932 zum Thema „Europa“.31 Die universelle Bedeutung des italienischen Faschismus erklärte Rohan vor einem „gesamteuropäischen Erlebnishorizont“. Seine Annäherung an Asvero Gravelli, einen der Vordenker der Faschistischen Internationale, kam also nicht überraschend, da sich die Vorstellungen beider vielfach ähnelten. Rund um den zehnten Jahrestag der faschistischen Revolution schien auch Italien Rohan als Vermittler der faschistischen Ideologie zu adeln: Seine gesammelten Schriften wurden in der „Bibliografia del Fascismo“ gelistet,32 Rohans Artikel 1932 in Gravellis Zeitschrift „Antieuropa“ abgedruckt und er wurde für Vorträge nach Italien geholt. Die Einladung als Herausgeber der „Europäischen Revue“ eines der Hauptreferate am römischen Volta-Kongress 1932 zu halten, kann als ein Höhepunkt seiner publizistischen Anerkennung gesehen werden. Wenige Monate später, bereits nach Hitlers „Machtergreifung“ in Deutschland, entdeckte auch der faschistische Kulturfunktionär Cornelio Di Marzio33 auf einer Österreichreise das 29 Hoepke (1968), 58. 30 Stephan Malinowski (2003): Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin, 305, zitiert nach Paul (2005), 25. 31 Müller (2005), 328 und 466f. 32 Genannt wurde seine Aufsatzsammlung (Umbruch der Zeit, Berlin 1930) jedoch nicht unter Österreich, sondern unter Deutschland, vgl. Confederazione nazionale dei sindacati fascisti professionisti e artisti (1932) (Hg.): Bibliografia generale del fascismo, Vol. I, Roma, 54. 33 Cornelio di Marzio (1896–1944) kam aus der nationalistischen Bewegung, war Mitglied im Direktorium der Partito Nazionale Fascista (PNF), des Faschistischen Großrats und im Nationalrat für Korporationen. In den 1930ern übernahm er eine Schlüsselrolle in der Kulturpolitik des Regimes, vgl. Philip V. Cannistraro (Hg.) (1982): Historical Dictionary of Fascist Italy, Westport, Conneticut/London, 170f.

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Potenzial des Kulturbunds als Bühne für den italienischen Faschismus. Als ehemaliger Generalsekretär der Fasci all’estero,34 der Auslandsortsgruppen der faschistischen Partei Italiens, war er mit Maßnahmen zur Verbreitung der faschistischen Ideologie bestens vertraut und folgerte für Österreich die unbedingte Notwendigkeit einer italienischen Propaganda. Im Bewusstsein der Multiplikator-Funktion des Kulturbunds vereinbarte Di Marzio mit der Kulturbund-Leitung die Abhaltung von jährlich zwei bis drei italienischen Vorträgen. Die Themenwahl und Reisekosten sollten bei den Italienern liegen, während der Kulturbund die Gäste beherbergte. Angesichts der Verbindungen des Wiener Kulturbunds mit den Budapester und Kölner Sektionen erwartete man sich davon auch geografisch weitreichendere Auswirkungen.35 Schon früh stand fest, dass der erste italienische Vortrag in Wien sich mit dem Thema des Korporativismus zu befassen hatte;36 die Wahl des Redners fiel auf Professor Emilio Bodrero.37 Ausschlaggebend dürfte dafür nicht zuletzt die aktive Rolle gewesen sein, die Bodrero in der italienischen Kulturbund-Sektion und auf den Jahreskongressen des Europäischen Kulturbundes einnahm.38 Ende November 1933 sprach dieser im Festsaal des Industriehauses über die „Originalité de l’État Corporatif “. Der Zeitpunkt des Vortrags lag nur wenige Wochen nach den Unterredungen zwischen Mussolini und Dollfuß in Riccione im August 1933, bei denen der italienische Duce seinem österreichischen Gast die „sofortige Faschisierung Österreichs“ mehr als nahelegte. Die geforderte „große politische Rede“ setzte Dollfuß in der programmatischen Trabrennplatzrede vom 11. September 1933 um, in der er einen „sozialen, christlichen, deutschen Staat Oesterreich auf ständischer Grundlage, unter starker, autoritärer Führung“ verkündete.39 Eine österreichische Verfassungsreform mit berufsständischem Aufbau gehörte zum faschistischen Forderungskatalog, womit Bodreros Ausführungen über die Ursprünge des Korporativstaats plakativer Bestandteil dieses Postulats wurden. Die 34 Diese Auslandsparteizellen der PNF hatten sich rund um den Marsch auf Rom in spontaner Begeisterung von ItalienerInnen im Ausland gebildet. Sie sollten als Propagandaorganisationen vor allem, aber nicht nur die ausgewanderten ItalienerInnen ans Mutterland binden und mit faschistischem Gedankengut indoktrinieren; Beate Scholz (2001): Italienischer Faschismus als ‚Export’-Artikel (1927–1935). Ideologische und organisatorische Ansätze zur Verbreitung des Faschismus im Ausland, Diss. Trier, URL: http://ub-dok.uni-trier.de/diss/ diss30/19970213/19970213.pdf (abgerufen am 30.6.2014), 354. 35 Di Marzio an Biagi, Roma, 31.5.1933, sowie der handschriftliche, undatierte Entwurf von Di Marzio, Conferenze in ambienti tedeschi, beide in: ACS/Archivio Famiglie e Persone/Di Marzio Cornelio, b.4. 36 Vgl. Di Marzio, Conferenze in ambienti tedeschi, in: ACS/Archivio Famiglie e Persone/Di Marzio Cornelio, b.4. 37 Emilio Bodrero (1874–1949) war ein faschistischer Intellektueller. Er hatte Lehrstühle für Philosophie in Messina und Padua inne, war in der nationalistischen Bewegung engagiert, 1923 trat er der PNF bei. Mussolini machte ihn 1926 zum Unterstaatssekretär für Unterricht und von 1929 bis 1934 zum Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses, 1934 wurde er in den Senat ernannt. Ab 1940 hatte er den Lehrstuhl für die Doktrin des Faschismus in Rom inne, vgl. Cannistraro (1982), 78. 38 Müller (2005), 310, 350 sowie 363. 39 Vgl. Edmund Weber (Hg.) (1935): Dollfuß an Österreich. Eines Mannes Wort und Ziel, Wien, 19–45, 31.

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Wertschätzung für den faschistischen Emissär drückte die Anwesenheit führender Regierungsmitglieder, allen voran Bundeskanzler Dollfuß’, aus. Breite Besprechungen der Vortraginhalte in regierungsnahen Blättern vergegenwärtigten überdies, dass die Empfänglichkeit für die faschistische Propaganda in Österreich an einem ihrer Höhepunkte angelangt war.40 Als Bodrero exakt sieben Jahre zuvor auf Einladung des Kulturbundes in Wien ebenfalls über die faschistische Ideologie gesprochen hatte, war der Rezeptionskontext ein gänzlich anderer. Dieser Vortrag vom November 1926 fand zwar ebenso große mediale Resonanz,41 entwickelte sich jedoch beinahe zu einem diplomatischen Eklat: Dem öffentlichen Vortrag Bodreros zu den „philosophischen und historischen Voraussetzungen des Faszismus“ wohnten gut 180 Personen bei. Diese setzten sich mehrheitlich aus sozialdemokratischen Parteigängern und anderen Gegnern des faschistischen Systems zusammen, aber auch aus den Gesandten Italiens und Jugoslawiens sowie zahlreichen Mitgliedern der italienischen Kolonie.42 Provozierende Zwischenrufe zu Giacomo Matteotti und Südtirol von Seiten der Vortragsgegner verzögerten den Redebeginn. Die Wortgefechte führten zu Handgreiflichkeiten, woraufhin die bereitgestellten Sicherheitswachen einschreiten mussten. Erst nach der offiziellen Zusicherung, dass der Vortrag abgesagt würde, zogen die „ruhestörenden“ Parteien ab. Als der italienische Gesandte jedoch auf die Abhaltung des Vortrags bestand, behalfen sich die Veranstalter mit einem formalen Kunstgriff: Das Kulturbund-Präsidium demissionierte, um dem anwesenden Vereins-Sekretär die Leitung provisorisch zu übertragen. Dieser erteilte dem umstrittenen Vortragenden schließlich das Wort, woraufhin der Vortrag nun ungestört vor dem verbliebenen Publikum stattfinden konnte. Der nachfolgende, offizielle Protest des italienischen Gesandten, Giacinto Auriti, im Bundeskanzleramt (BKA) sowie gegenüber Bundeskanzler Seipel offenbarte, dass alle beteiligten Stellen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes im BKA die Causa „nicht in glücklichster Weise behandelt“ hätten. Man wehrte sich jedoch gegen den Vorwurf einer nachlässigen Haltung der Exekutive bei diesem Vorfall. Dagegen hätte der Kulturbund es verabsäumt, das BKA zu verständigen, weshalb man die „Bedenken gegen die gerade im gegenwärtigen Augen-

40 Oder wie es die „Reichspost“ ausdrückte: „Der Beifall, der den Ausführungen Professor Bodreros folgte, zeigte die innere Verbundenheit, die zwischen der Gedankenwelt des Redners und seiner Zuhörer bestand“, vgl. Reichspost, 23.11.1933, 4f, 5. Vgl. auch die Beiträge in der Neuen Freien Presse, 23.11.1933, 3, und der Wiener Zeitung, 23.11.1933, 3. Im Gegensatz zu 1926 findet der Vortrag Bodreros in der „Arbeiter-Zeitung“ keine Erwähnung, was zeigt, wie wirkungslos die Presseorgane der Opposition bereits geworden waren. 41 Die „Arbeiter-Zeitung“ prangerte die Dreistigkeit eines faschistischen Vortrags im roten Wien und die faschistische Durchdringung des Vereins an, vgl. Arbeiter-Zeitung, 7.11.1926, 7, sowie 9.11.1926, 2. Die „Reichspost“ stellte sich auf die Seite des Kulturbundes (Ausgabe vom 7.11.1926, 8), neutral verhielten sich „Der Tag“ (7.11.1926, 9f ) und die „Wiener Zeitung“ (9.11.1926, 3f ). 42 Polizeidirektion Wien, Schober an BKA/Abteilung 13, Wien, 7. Nov. 1926, Pr.Zl.IV-4650, in: ÖStA/ADR/AA NPA/Liasse Italien/Karton 553/Fasz. 19/1 (1923-1929) [Italienischer Faszismus im In- und Auslande].

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blick wenig opportune Veranstaltung“ nicht hatte äußern können.43 Der Kulturbund hingegen rechtfertigte sich damit, dass der „überparteilich-unpolitische Charakter des Kulturbundes“ und der „internationale Gelehrtenruf des hervorragenden Historikers“ eine „politische Missdeutung“ dieser „rein wissenschaftlichen Darstellung der Ideologie des neuen Italien“ von Vornherein ausschließen hätte sollen.44 In Rom jedoch nahm man die Angelegenheit „als rein kommunistische Demonstration ohne weitere Wichtigkeit“ hin und verzichtete darauf, Mussolini darüber zu unterrichten.45 Stellt man diesen Aufruhr im Jahr 1926 mit dem Bodrero-Vortrag von 1933 gegenüber, als dessen ideologisch ähnlich aufbereiteter faschistischer Inhalt auf offene Ohren gestoßen war, tritt der veränderte politische Rezeptionskontext in Wien gegenüber der faschistischen Propaganda deutlich zutage. Für diese sollte der renommierte Kulturbund nach Di Marzios Vereinbarungen und Vorstellungen den geeigneten Rahmen darstellen, was er letztlich auch erfüllte. Betrachtet man die dem Auftakt Bodreros folgenden Veranstaltungen im Kulturbund (von 1933/34 bis 1936/37), fällt auf, dass die vereinbarte Anzahl der italienischen Redner nie ausgereizt wurde. In der Regel sprach überhaupt nur ein italienischer Vortragender in französischer Sprache je akademischer Saison, wobei das Jahr 1935/36 mit zwei Referenten aus Italien eine Ausnahme bildete.46 Die Präferenz der italienischen Vortragenden für die französische Sprache weist darauf hin, dass eine Publikumsmaximierung angestrebt wurde, aber auch, dass die italienische Sprache trotz aller Bemühungen bei weitem noch nicht den Verbreitungsgrad des Französischen in Wien erreicht hatte. Eine Barriere zur vollen Entfaltung des Wirkungspotenzials der italofaschistischen Propaganda mochte auch in den sich verändernden politischen Machtverhältnissen in Österreich liegen, die auch auf die Leitungsgremien des Kulturbundes Auswirkungen hatten. Mit der Übernahme der Präsidentschaft des Kulturbund-Vorstandes durch den Bundeskommissar für Kulturpropaganda, Hans Hammerstein-Equord, war 1937 der Verein offiziell in die Kul43

BKA an Gesandten Egger in Rom, Wien, 8.11.1926, Z.15339-13, in: ÖStA/ADR/AA/NPA/Liasse Italien/Karton 553/Fasz. 19/1 (1923-1929) [Italienischer Faszismus im In- und Auslande]. Begründet sah man diese Sicherheitsvorkehrungen in den Anschlägen auf Mussolini, die sich sehr zeitnah zur Wiener Veranstaltung ereignet hatten. Vgl. Polizeidirektion Wien (Schober) an Bundeskanzleramt, Abt. 13, Wien, 8.11.1926, Pr.Z.IV-4650, in: ÖStA/ADR/ AA/NPA/Liasse Italien/Karton 553/Fasz. 19/1 (1923–1929) [Italienischer Faszismus im In- und Auslande]. 44 Gleispach (Präsident Kulturbund) an „Exzellenz“ (Außenamt), Wien, 10.11.1926, in: ÖStA/ADR/AA/NPA/Liasse Italien/Karton 553/Fasz. 19/1 (1923–1929) [Italienischer Faszismus im In- und Auslande]. 45 Gesandter Egger an Bundeskanzler Seipel, Rom, 10.11.1926, in: ÖStA/ADR/AA/NPA/Liasse Italien/Karton 553/Fasz. 19/1 (1923–1929) [Italienischer Faszismus im In- und Auslande]. 46 Immerhin gab es Versuche, das Programm mit Vorträgen zu italienischen Themen zu ergänzen, was durch Propagandamaterial und Kooperationen mit Italien unterstützt wurde, vgl. den Vortrag über den „Segelflug in Italien“ (11.4.1934), Franz Werfels Vortrag über Verdi (28.11.1934) mit Konzert sowie das Alt-Italienisches Passionsspiel, das in Kooperation mit dem Italienischen Kulturinstitut in der Wiener Staatsoper (25.3.1937) aufgeführt wurde, in: Österreichischer Kulturbund (1937): [Aufruf-Veranstaltungen-Statuten], Wien.

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turpolitik der Regierung eingegliedert worden, aber auch der Arbeitsausschuss des Kulturbunds zeigte eine zunehmende Durchdringung mit austrofaschistischen Politikern und regierungsnahen Persönlichkeiten.47 In den frühen 1930ern wurde der Kulturbund also noch als Vermittlungseinrichtung für die Verbreitung der faschistischen Propaganda herangezogen. Unter Dollfuß’ Nachfolger Schuschnigg spiegelte sich in den nicht ausgeschöpften Kulturbund-Vereinbarungen mit den Italienern zunehmend auch die übergeordnete politische Umorientierung Österreichs hin zu den deutschen Nationalsozialisten wider. Ähnlich verhielt es sich mit Rohan selbst: Angesichts seiner fortschreitenden nationalsozialistischen Orientierung,48 die den italienischen Faschisten nicht verborgen blieb, erfolgten Distanzierungsversuche. War Rohan früher noch in die Gunst einer Audienz beim Duce gelangt und angeblich von diesem aufgefordert worden, sich bei ihm bei jedem Rom-Besuch vorstellig zu machen,49 disqualifizierten ihn seine wankelmütige politische Haltung wie auch seine Unzuverlässigkeit während der Völkerbund-Sanktionen50 als faschistischen Propagandisten für die Verantwortlichen von Mussolinis Regime zusehends. Die Reaktionen auf die „Schicksalsstunde Europas“, Rohans letzte Publikation vor dem Zweiten Weltkrieg, zeigen eindrücklich, wie Rohans Einsatz für ein Bündnis von Katholizismus, Faschismus und Nationalsozialismus bei gleichzeitiger Unabhängigkeit Österreichs ihn bei den italienischen Faschisten und den deutschen Nationalsozialisten gleichermaßen diskreditierte.51 Den Nationalsozialisten war das Buch trotz der Befürwortung nationalsozialistischer Grundhaltungen wegen seiner Warnung vor einem neuen Weltkrieg ein Dorn im Auge. Nach Eigenaussage des Aristokraten drohte ihm dafür nach dem „Anschluss“ gar das 47 1937 waren unter anderem Rudolf Henz, Oswald Menghin, Hans Pernter, Heinrich Srbik und Guido Zernatto Mitglieder dieses Ausschusses. Präsidenten des Kulturbundes waren u. a. Dr. Albert Trentini (bis zu seinem Tod 1934), interimistisch Friedrich Schreyvogel, ab 1934 Josef Freiherr von Löwenthal und ab 1937 wie erwähnt Hammerstein-Equord, vgl. Peter Malina (1986): Der „Österreichische Kulturbund“. Ergebnisse einer fragmentarischen Spurensicherung, in: Michael Benedikt / Rudolf Burger (Hg.): Die Krise der Phänomenologie und die Pragmatik des Wissenschaftsfortschritts, München, 250–272, 254f. 48 Ab 1935 war Rohan Mitglied in der NSDAP und SA, vgl. Müller (1996), 464. 49 Rohan an Mussolini, Rom, 5.4.1937 (handschriftlich), in: Archivio Storico Ministero Affari Esteri (ASMAE)/ MCP/b.487/Sottofasciscolo (Sf ). Principe Carlo Antonio di Rohan. 50 Rocco an Bodrero (Senator), Rom, 1.4.1937. Seit einem negativen Artikel zu Italien im „Pester Lloyd“ anlässlich der Sanktionen war Rohan bei der Budapester Gesandtschaft disqualifiziert und wurde als „semidilettantischer Pseudointellektueller“ gehandelt, vgl. Formentini an Ministero Stampa, Budapest, 2.4.1937. Auch der Wiener italienische Gesandte sprach sich, „aufgrund der Unbeständigkeit seiner Haltungen, exzessiver Eitelkeit und fehlendem Einfluss“ und weil er als Gegner der aktuellen österreichischen Regierung gesehen wurde, gegen eine Sonderbehandlung aus, vgl. Salata an Ministero Stampa, Wien, 2.4.1937 (vertraulich), alle drei in: ASMAE/MCP/b.487/Sf. Principe Carlo Antonio di Rohan. 51 Guido Müller (2003): Rohan, Karl Anton, in: Neue deutsche Biographie, 21 Bd., 760f; URL: http://daten.digitalesammlungen.de/bsb00016339/image_776 (abgerufen am 30.6.2014).

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Konzentrationslager.52 Ab 1936/37 hatte Rohans Eintreten gegen den „Anschluss“ Österreichs an Deutschland für Missstimmung in der NSDAP gesorgt.53 Bei der sorgfältigen Prüfung, welche Reaktion auf ein persönlich Mussolini gewidmetes Exemplar opportun wäre, entging dem faschistischen Rezensenten nicht, dass die „Schicksalsstunde“ dem Nationalsozialismus mehr als doppelt so viel Platz wie dem Faschismus einräumte. Trotz mancher Kritikpunkte wurde das Gesamtbild des Buches als „vorsätzlich objektiv und philofaschistisch“ eingeordnet, wodurch der Unterton des Buches es erlaubte, dem Autor im Namen des Duce ein Zeichen des Wohlgefallens zu übermitteln.54 Die gesunkene Wertschätzung beim faschistischen Regime, nicht zuletzt durch die Einmischung der Österreicher angeheizt, äußerte sich beispielhaft anlässlich eines Rom-Aufenthalts von Rohan im April 1937: Rohan hatte um Kontakt zu Persönlichkeiten des Regimes angesucht, um mit Material über wirtschaftliche, politische und soziale Aspekte des Faschismus versorgt zu werden, das er für Zeitungsartikel für wenig bedeutende deutschsprachige Blätter zu verwenden gedachte. Dies ließ den Presseattaché der österreichischen Botschaft, Dr. Kurt Frieberger, aktiv werden, vor der zweifelhaften Vertrauenswürdigkeit seines ehemaligen KulturbundKollegen und dessen „unklarer politischer Haltung“ den Nationalsozialisten gegenüber zu warnen.55 Ganz im Gegensatz zu Frieberger gab Senator Bodrero „warmherzige“ Empfehlungen für Rohan ab,56 dem er bereits 1932 bei der Verbreitung der faschistischen Weltanschauung mittels eines Themenheftes der „Europäischen Revue“ behilflich gewesen war.57 Letztlich behalf man sich mit einem Mittelweg: Mit höflicher Zurückhaltung wurde Rohan mit den gewünschten Unterlagen versorgt. Die Audienzen mit bedeutenden Persönlichkeiten des Regimes wurden ihm aber verwehrt,58 was nicht nur an der österreichischen Intervention 52 53

Nur seine Parteimitgliedschaft sollte ihn verschonen, vgl. Rohan (1954), 303. So musste Rohan auf Druck der deutschen Reichsregierung Ende 1936 auch seine Tätigkeit als Herausgeber für die „Europäische Revue“ beenden, vgl. Müller (2005), 404. 54 Rezension zu „Schicksalsstunde Europas“ (o. D., o. A.) (ca. Dezember 1936) sowie Grazzi (DG Stampa Estera): Appunto per il Gabinetto di S.E. il Ministro (per la Stampa e la Propaganda), 3.12.1936, beide in: ASMAE/ MCP/b.487/Sf. Principe Carlo Antonio di Rohan. 55 Vgl. Ministero per la Stampa e la Propaganda/ DG per il Servizio della Stampa estero, Appunto per il S. E. il Ministro, Rom, 1.4.1937, in: ASMAE/MCP/b.487/Sf. Principe Carlo Antonio di Rohan. 56 Vgl. die beiden Schreiben Bodreros an Rocco vom 29.3.1937, in: ASMAE/MCP/b.487/Sf. Principe Carlo Antonio di Rohan. 57 Bodreros Bekanntschaft mit Rohan ging über die Vorträge im österreichischen Kulturbund hinaus – als aktives Mitglied des italienischen Kulturbundes war er auf den verschieden europäischen Kulturbund-Kongressen mit Gastvorträgen vertreten, vgl. etwa den dritten europäischen Kulturbund-Kongress, der im Oktober 1926 in Wien stattfand, siehe Müller (2005), 363–369. Zur Vermittlungshilfe für das Faschismus-Jubiläumsheft der „Europäischen Revue“ durch Bodrero vgl. Müller (2005), 433. 58 Vgl. Ministero per la Stampa e la Propaganda/DG per il Servizio della Stampa estero, Appunto per il S. E. il Ministro, Rom, 1.4.1937, in: ASMAE/MCP/b.487/Sf. Principe Carlo Antonio di Rohan.

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lag, sondern auch daran, dass man Rohan seine Untreue in kritischen (Sanktions-)Zeiten ankreidete. Obwohl Rohan mitunter als unbedeutend und einflusslos belächelt wurde, belegen die Interventionen noch 1937 sein polarisierendes Potenzial. Gerüchte über seine Reise nach Italien hatten Schuschnigg zufolge für einen Stillstand der laufenden Verhandlungen (Österreichs) mit nationalsozialistischen Kreisen gesorgt. Auch der Duce war bemüht zu betonen, dass er Rohan keine Audienz gewährt hatte.59 Die Zielsetzung, die Person Rohans und seinen Kulturbund als faschistische Vermittlungseinrichtungen in Österreich zu instrumentalisieren, war durchaus vorhanden. Jedoch war diese ebenso den Wertschätzungsnuancen des faschistischen Regimes unterworfen und veränderlich. Die ideologische wie taktische Illoyalität Rohans wurde penibel registriert und entzog ihm im entscheidenden Moment die Gunst der italienischen Faschisten.

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Conversation between the Duce and Chancellor Schuschnigg, in the presence of Count Ciano, Venice, 22nd April, 1937, in: Galeazzo Ciano / Malcolm Muggeridge (Hg.) (1948): Ciano’s diplomatic papers. Being a record of nearly 200 conversations held during the years 1936–42 with Hitler, Mussolini, Franco, Goering, Ribbentrop, Chamberlain, Eden, Sumner Welles, Schuschnigg, Lord Perth, François-Poncet; and many other world diplomatic and political figures. Together with important memoranda, letters telegrams etc., London, 108–115, 109.

202 Gerhard Botz

Der „Christliche Ständestaat“: Weder System noch Faschismus, sondern berufsständisch verbrämte „halbfaschistisch“-autoritäre Diktatur im Wandel Ausgehend von einer durch Ulrich Kluge und mich vorgeschlagenen1 phasenhaften Regimeentwicklung sollen hier Wandlungen2 und Heterogenität3 der Herrschaftspraxis der Regierungen Dollfuß und Schuschnigg verstärkt in den Blick gebracht werden.4 Ein solcher Zugang hat in den letzten Jahren durch eine transnationale Faschismus- und Diktaturenforschung neue Impulse erhalten.5 Längst nicht mehr an alte marxistische Schemata gebunden zeichnet sie sich durch besonderes Interesse an Quellennähe, Differenzierung und Hybridität aus6 und ist (noch) weniger an theoretischen Fragen wie westlichen Totalitarismus- und (neo) marxistischen Faschismustheorien7 interessiert.8 1

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Ulrich Kluge (1984): Der Österreichische Ständestaat 1934–1938. Entstehung und Scheitern, München/Wien, 67–135; und Gerhard Botz (1987): Faschismus und “Ständestaat” vor und nach dem 12. Februar 1934, in: Ders.: Krisenzonen einer Demokratie. Gewalt, Streik und Konfliktunterdrückung in Österreich seit 1918 (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 9), Frankfurt am Main, 220–236; nun auch übernommen von: Julie Thorpe (2010): Austrofascism. Revisiting the „Authoritarian State“ 40 years on, in: Journal of Contemporary History 45.2, 315–343. Dies gilt auch für die „voll“ faschistischen Regime in Deutschland und Italien, siehe etwa: Robert O. Paxton (2004): The anatomy of fascism, New York, 558–559. Siehe Ernst Fraenkel (1974): Der Doppelstaat, Frankfurt am Main; vgl. auch: Michael Wildt (2007): Die Transformation des Ausnahmezustands. Ernst Fraenkels Analyse der NS-Herrschaft und ihre politische Aktualität, in: Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hg.): Fünfzig Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen, 19–24. Aus Gründen räumlicher Beschränkung verweise ich bezüglich der verwendeten grundlegenden Literatur auf: Gerhard Botz (2014): The coming of the Dollfuss-Schuschnigg regime and the stages of its development, in: António Costa Pinto/Aristotle Kallis, (Hg.): Rethinking fascism and dictatorship in Europe, Houndsmill, Basingstock/ New York, 121–153. Sven Reichardt (2007):Neue Wege der vergleichenden Faschismusforschung, in: Mittelweg 36, 16, 9–25; Roger Eatwell (2014): The nature of „generic fascism“: Complexity and reflexive hybridity, in: Pinto / Kallis (Hg.), 67–86. Für Österreich Ansätze bei: Florian Wenninger / Lucile Dreidemy (2013) (Hg.): Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938.Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien/Köln/Weimar; Ilse Reiter-Zatloukal et. al. (Hg.) (2012): Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, Wien/Köln/Weimar; Werner Anzenberger / Heimo Halbrainer (2014) (Hg.): „Unrecht im Sinne des Rechtsstaates“, Die Steiermark im Austrofaschismus, Graz. Zum Teil noch davon ausgehend, jedoch unerlässlich: Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer (Hg.) (2005): Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur. 1934–1938, Wien; und Emmerich Tálos (2013): Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938, Wien/Berlin. Für wertvolle Hinweise danke ich u.a. Lucile Dreidemy (Toulouse), Walter Kissling, Heinrich Berger, Günter Müller und Michaela Pfundner (Wien).

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I. Berufsständische Ideen und Konzepte Wort und Begriff „Stand“ haftet heute etwas von Rückwärtsgewandtheit an, von Sehnsucht nach einer „heilen“ (d.h. vorgeblich stabilen und nach Tradition und Herkommen geordneten) Vergangenheit. Darin spiegeln sich Verunsicherungen wider, wie sie durch beschleunigten Wandel der sozialen und kulturellen Verhältnisse mit der kapitalistischen Modernisierung, Industrialisierung und Urbanisierung in Europa seit dem 19. Jahrhundert einher gingen. Im weitesten Sinn wird die berufsständische Begrifflichkeit von Gesellschaftstheorien verwendet, die rückgreifend auf Vorstellungen (und religiöse Lehren) von einer vor- oder frühmodernen „Gemeinschaft“ und gestützt auf bestehende oder rekonstruierte „funktionale Sozialgruppen“9 (Berufsgruppen, Klassen, „Stände“, Gilden, Genossenschaften u.dgl.) einen (nicht liberaldemokratischen) Interessenausgleich ermöglichen sollen. Damit soll in friedlicher Zusammenarbeit eine (idealisierte) meist „organisch“ gedachte, „klassenlose“ Gesellschaft erreicht werden, unbeschadet der Tatsache, dass eine derartige berufsständische Gesellschaftsreform schon in einer Welt des sich entwickelnden Kapitalismus, des Liberalismus und des Erstarkens von Demokratie und (z.T. radikalen) Arbeiterbewegungen zu (re)agieren hatte.10 Das implizierte unter den gegebenen Umständen Europas seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Erhaltung, Protektionierung und/oder Restaurierung solcher (alter) ständischer Strukturen und eine weitgehende Identifikation mit den Kräften der „alten Ordnung“ (Kirchen, Monarchien etc.). Damit kamen auch agitatorisch gezielt auf die wachsenden Mittel- (und Unter-) Schichten die antikapitalistischen Stimmungen und der Antisemitismus ins Spiel. Wie „Stand“ im Deutschen verweisen auch seine Äquivalente im Englischen (estate) und im Französischen (état) auf ein (in einem größeren Ganzen) Stehendes,11 in letzterem Fall auch auf den „Staat“. Eine Übertragung dessen, was damit gemeint ist, stößt über Sprachwie auch Epochengrenzen hinweg auf Schwierigkeiten. Zudem werden die Begriffsbündel „(berufs)ständisch“ oder einigermaßen äquivalent „korporativ“ und das damit operierende gesellschaftliche und staatliche Gefüge (z.B. „Ständestaat“) von heutigen Politikwissenschaftlern, Soziologen und Historikern nicht selten auch zeitlich und politisch übergreifend für das 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit „Neokorporatismus“ oder „Sozialpartnerschaft“ verwendet.12 Besonders italienische Wissenschaftler sprechen daher (im Hinblick auf den italienischen Faschismus) von diesem meist als „Korporativismus“13, eine Terminologie, die 9 10 11 12 13

Siehe Definition bei Alan Cawson (1993): Corporatism, in: William Outhwaite / Tom Bottomore (Hg.): The Blackwell dictionary of twentieth-century social thought, Oxford et al., 114. Martin Blinkhorn (1990): Introduction. Allies, rivals, or antagonists?, in: Ders. (Hg.): Fascists and conservatives. The radical right and the establishment in twentieth-century Europe, London, 1–13. „Klassische“ Definition: Max Weber (1956): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 1. Halbband, Köln/Berlin, 226–227. Siehe: Howard J. Wiarda (1997): Corporatism and comparative politics. The other great „Ism“, Armonk, NY [u.a.]. Laura Cerasi (2014): Rethinking Italian Corporativism. Crossing borders between corporatist projects in the late

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ich für sinnvoll halte, die aber schwer konsequent durchzuhalten ist. Ein korporati(vi)stisches Gesellschafts-/Politik-Ideal wurde zwar nirgendwo im 20. Jahrhundert voll realisiert, beeinflusste jedoch stark den italienischen Faschismus, in einem beträchtlichen Ausmaß auch das Dollfuß/Schuschnigg-Regime, Francos Spanien, Salazars Portugal und eine Reihe anderer autoritärer Diktaturen, teilweise auch das Programm des Nationalsozialismus (bis etwa 1933/37)14. Eingebettet in die antidemokratische Klimawende seit den 1920er Jahren, die viele der neuen oder durch Wirtschaftskrisen destabilisierten Staaten Europas (westlich der Sowjet-Diktatur und diesseits des Ärmelkanals) erfasste, erfuhren korporati(vi)stische und berufsständische Konzepte eine Hochkonjuktur. Dabei gingen sie auch in allerlei autoritäre Regime und Bewegungen, Politiken und Bestrebungen ein, die einander durchdringend komplexe Mischformen bildeten. Selbst etwa Frankreich und Belgien blieben davon nicht ganz untangiert.15 So glaubte 1934 der rumänische Wirtschaftswissenschaftler und nationalistische Politiker Mihail Manoilescu, dass in Europa das von ihm propagierte Jahrhundert des Korporatismus angebrochen sei.16 Otto Bauer dagegen versuchte im selben Jahr, einen späten, rasch hinfällig werdenden Kompromiss mit dem schon auf dem Weg in die Diktatur befindlichen Dollfuß zu finden. Unter anderem unterschied er eine staatsorientierte (faschistische), wie ich sagen möchte, „korporativistische“ Version vom (christlich-berufsständischen) gesellschaftlichen Korporatismus. Zum einen nahm der austromarxistische Theoretiker den sich auf den revolutionären Syndikalismus berufende Korporativismus Mussolinis und der (radikalen) Heimwehren ins Blickfeld. Sie intendierten explizit die Bändigung der linken Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften. Deren zwangsweise Zusammenfassung mit den Unternehmern in einem von einer Intellektuellenkaste geführten staatlichen Herrschaftsgebilde war schon früher von Otmar Spann formuliert worden und sein „Wahrer Staat“ entfaltete nach dem Ersten Weltkrieg einen weit über Österreich hinaus wirksamen antidemokratischen Sog auf all jene, die unter der Vereinzelung in der „atomisierenden“ Moderne litten und ein funktionales Zusammenspiel der gesellschaftlichen Teile, wie immer diese auch gedacht waren, in einem or-

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Liberal era and the Fascist corporative State, [Manuskript] in: Antonio Pinto (Hg.) [erscheint 2016]: The corporatist waves. Dictatorships and corporatism in Europe and Latin America, Lissabon/London. Paul Nolte (2000): Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, 179–187; siehe auch Kurt Sontheimer (1983): Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik., 2. Aufl., München. Siehe Tabellen bei: António Costa Pinto (2014): Fascism. Corporatism and the crafting of authoriarian institutions in inter-war European dictatorships, in: Pinto / Kallis (Hg.), 87–117, hier 93, und: Paul Pasteur (2007): Les États autoritaires en Europe. 1919–1945, Paris, 203–204. Mihail Manoilescu (1934): Le siècle du corporatisme. Doctrine du corporatisme intégral et pur, Paris; siehe auch: Stanley G. Payne (2001): Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, München/ Berlin, 342–343.

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ganischen „Körper“ anstrebten.17 Dieser Geist prägte auch den Korneuburger Eid von 1930. Damit koinzidierten in der (großen) Land- und Forstwirtschaft auch Ideen eines „agrarischen Korporatismus“, während viele Großindustrielle schon seit den 1920er Jahren Pläne zu einer extraparlamentarischen „Krisenregierung“ erörterten, um Sozialdemokraten und Demokratie zu schwächen bzw. zu zerschlagen.18 Zum anderen analysierte Bauer die aus der katholischen Soziallehre und deren Subsidiaritätsprinzip abgeleiteten berufsständischen Gesellschaftsvorstellungen in der Katholischen Kirche, denen die sich zunehmend vom Parlamentarismus abwendende Christlichsoziale Partei (CSP) mit ihren vorpolitisch-religiösen Vereinen und Verbänden eng verbunden waren. Auch hier plante man, Unternehmer, Bauern, Arbeiter und Beamte in einer „gottgewollten“ Gemeinschaft zu vereinen, Sozialismus und Klassenkampf, Liberalismus und Parteienparlament zu überwinden; dazu bedurfte diese „sozialfriedliche“ Utopie unter den Gegebenheiten nicht ausdrücklich, aber faktisch ebenfalls eines „starken Staats“, auch wenn der faschistische Etatismus und plebiszitäre Akte (wie im Nationalsozialismus) nicht goutiert wurden. Diese ideologische Linie ergab sich aus einer Revitalisierung der alten, bei Theologen und konservativen Politikern kursierenden katholischen Sozialdoktrin und der Enzyklika Rerum novarum (1891). In Konkurrenz mit und gegen Mussolinis Korporations-Gesetzen wurde sie von Pius XI. in Quadragesimo anno (1931) festgeschrieben. Aber diese klassenharmonische „berufsständische Ordnung“ und rückwärts gewandte Gesellschaftsutopie sollte ohne Gewalt und diktatorischen Machteinsatz realisiert werden, was unter den gegeben gesellschaftlichen Umständen nicht realistisch war. Trotz oder gerade wegen dieses inneren Widerspruchs erlangte die Enzyklika von 1931 große Bedeutung bei den Katholiken Südwesteuropas und vor allen zunächst in Österreich und Süddeutschland, dann auch in Ostmitteleuropa. Ihre Übersetzung aus dem Lateinischen19 ins Deutsche ließ beträchtlichen Spielraum, die eher vage Original-Terminologie ins „(Berufs-)Ständische“ zu verschieben, was vom TheologenPolitiker Ignaz Seipel zur Propagierung seiner Auffassungen genutzt wurde. Der Transfer berufsständischer und korporatistischer Ideen (aus dem Vatikan) erfolgte hauptsächlich über Priester, katholische Vereine und religiöses Schrifttum.20 Damit entstand auch, wie in den 17 18

Paul Nolte (2000): 179–180. Siehe: Karl Haas (1978): Industrielle Interessenpolitik in Österreich zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, in: Jahrbuch für Zeitgeschichte 5, 97–123; nunmehr auch: Wolfgang Meixner (2013): Wirtschaftstreibende, Bankiers und landwirtschaftliche Interessenverbände 1930–1938, in: Wenninger / Dreidemy (Hg.), 309–330; Gerhard Senft (2002): Im Vorfeld der Katastrophe. Die Wirtschaftspolitik des Ständestaates: Österreich 1934 – 1938, Wien. 19 Vgl.: Pius PP. XI: Litterae Encyclicae Quadragesimo anno […], URL: http://www.vatican.va/holy_father/pius_xi/ encyclicals/documents/hf_p-xi_enc_19310515_quadragesimo-anno_lt.html (abgerufen 12.1.2015) und: Papst Pius XI: Weltrundschreiben über die gesellschaftliche Ordnung […]. Authentische dt. Übertragung, Berlin 1931, 27-30. 20 Katharina Ebner (2013): Politische Katholizismen in Österreich 1933–1938. Aspekte und Desiderata der Forschungslage, in: Wenninger / Dreidemy (Hg.), 159–221; John W. Boyer (2010): Karl Lueger (1844–1910). Christlichsoziale Politik als Beruf , Wien, 419–435.

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katholischen Milieus nicht nur Österreichs, ein wesentlicher Pfeiler undemokratischen Regierens.

II. Politikprozesse im Regime Welche Art von antiparlamentarischer Regierung bzw. „Ständestaat“ von Dollfuß und seinem Umfeld anvisiert wurden, blieb bis 1933 noch offen und von machtpolitischen Konstellationen abhängig, sofern sie dem eigenen Machterhalt und -ausbau dienten. Erst mit der Türkenbefreiungsfeier am 12. September 1933 und noch deutlicher mit Dollfuß› Trabrennplatzrede am Vortag wurde klar, wohin die politische Reise gehen sollte: einerseits in Richtung einer Revision der Nach-1918er Demokratie im Interesse der alten militärischen und adeligen Eliten, wie das Ernst Rüdiger Starhemberg verkündete, andererseits in Richtung eines an Spann, Mussolini und die Heimwehr angelehnten Zwangskorporativismus, der als Mittel zur Überwindung der tiefen wirtschaftlichen Krise und Bewältigung der bestehenden politischgesellschaftlichen Spaltungen dienen sollte. Ob der Agrartechnokrat Dollfuß tatsächlich die idealisierte frühmoderne Bauernfamilie, die Herr und Knecht scheinbar konflikfrei an denselben Tisch brachte,21 als ein brauchbares Modell für seinen „Ständestaat“ ansah, sollte erst genauer überprüft werden. Aber es entsprach durchaus dem auch in der „Heimatliteratur“ der Zeit konstruierten (Selbst-)Bild alpenvorländischer Bauern (siehe Abbildung 1). Dennoch (oder gerade deswegen) scheint es weder in den Programmschriften des Regimes, noch in den Schulbüchern oder in der an nichtbäuerliche Schichten gerichteten Propaganda häufig auf. Doch im Hintergrund arbeiteten schon der bis dahin wenig bekannte Heimwehrführer Odo Neustädter-Stürmer und der prominente katholische Sozialtheologe Johannes Messner verschiedene Entwürfe aus, die schließlich 1934 in den vom ehemals demokratischen Vorarlberger Christlichsozialen Otto Ender endformulierten Verfassungsentwurf des „Österreichischen Ständestaats“ eingingen.22 Eine Beantwortung der Frage nach dem Faschistischen im Dollfuß-/Schuschnigg-Regime hängt unter anderem entscheidend von der Einschätzung ab, welche Version von korporati(vi) stischer Theorie und Praxis politisch zwischen 1934 und 1938 dominant wurde, jene der Mussolini-Spann-Heimwehr-Version oder die katholisch-konservative. 21

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Ernst Hanisch (2005): Der Politische Katholizismus als ideologischer Träger des „Austrofaschismus“, in: Tálos / Neugebauer (Hg.), 82; kritisch dazu: Gerhard Botz (2015): Dollfuß' Trabrennplatzrede, „harmonische Bauernfamilie“ und die Fiktion des „Ständestaats“, in: Hansjörg Seckauer u. a. (Hg.): Das Vorgefundene und das Mögliche. Festschrift für Josef Weidenholzer, Wien (im Erscheinen). Nunmehr: Helmut Rumpler (2010): Der Ständestaat ohne Stände, in: Reinhard Krammer et.al. (Hg.): Der forschende Blick. Beiträge zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert. Festschrift für Ernst Hanisch zum 70. Geburtstag, Wien, 229–245; und Peter Melichar (2010): Ein Fall für die Mikrogeschichte? Otto Enders Schreibtischarbeit, in: Ewald Hiebl / Ernst Langthaler (Hg.): Im Kleinen das Große suchen. Mikrogeschichte in Theorie und Praxis. Hanns Haas zum 70. Geburtstag, Innsbruck, 185–205.

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207 „Nach getaner Arbeit schmeckt das Mahl“, Taiskirchen 1932 (Fotograf Robert Stenzel), in: Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien. (Ich danke für Hinweis und Genehmigung des erstmaligen Abdrucks Mag. Günter Müller und für die Druckgenehmigung Veronika Maier) Einige ähnliche Fotos aus Österreich und Süddeutschland im Bildarchiv Austria, ÖNB und im Bildarchiv des Volkskundemuseums Wien.

Dabei spielt auch die Selbsteinschätzung der Monopolpartei des Regimes, der „Vaterländischen Front“ (VF), eine Rolle. Die VF wollte in allen politischen, propagandistischen und organisatorischen Belangen allein entscheidungsberechtigt sein, war jedoch praktisch nur begrenzt wirksam. Manoilescu sah in einer solchen „Einheitspartei“ überall die politische institutionelle Basis der neuen autoritären Regimes, die nicht (mehr) eine korporative war,23 und enthüllte damit das wahre Gesicht von „Ständestaaten“. Zweifesohne war die VF dem PNF und der NSDAP nachempfunden und bezog von Italien und Deutschland eine ganze Reihe von organisatorischen Imitaten, (nur leicht modifizierten) Symbolen und Begriffen. Dennoch entsprach sie nicht dem Typus von zeitgenössischen faschistischen Parteien und Bewegungen. Signifikant dafür ist unter anderem das Mitgliederwesen der VF: Ihre Mitgliedschaft war nicht auf Einzelpersonen beschränkt, sondern integrierte (nominell) auch die Heimwehr und die anderen regierungstreuen Verbände und Interessengruppen im Umfeld der zwar aufgelösten, aber personell nachwirkenden CSP. Daher stieg die Mitgliederzahl der VF bis 1938 auf fast 3,3 Millionen – beinahe die Hälfte der Einwohner des Landes! Nach eigenen Einschätzungen waren davon bestenfalls 25% „vaterländisch“ eingestellt.24 Ein derart explosives Wachstum kam aber weder für die Partei Mussolinis oder Hitlers in Frage. So konnten in der NSDAP nur Einzelne Mitglied werden, nicht auch Kollektive. Der Erwerb der Mitgliedschaft musste zudem Zeichen von Freiwilligkeit tragen, auch wenn das nicht 23

Mihail Manoilescu (1938): Le parti unique. Institution politique des régimes nouveaux, Paris; mit anderen Akzenten (5): Ders. (1941): Die einzige Partei als politische Institution der neuen Regime, Berlin. 24 Robert Kriechbaumer (2005) (Hg.): Österreich! und Front Heil! Aus den Akten des Generalsekretariats der Vaterländischen Front, Wien, 333–334.

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immer der Realität entsprach. Ungeachtet des Umstands, dass die NSDAP zusätzlich zu ihrer mobilisierenden und propagandistischen Funktion sich auch als Geldbeschaffungsmaschine bewährte, beschränkten ihre Oraganisationschefs die Gesamtzahl der Mitglieder auf höchstens 10 Prozent der deutschen (oder „ostmärkischen“) Bevölkerung, was der Wahrung ihrer elitären Ansprüche dienen sollte. Der VF waren derartige Hemmungen fremd. Auch sie diente der Geldbeschaffung und Propaganda, darüber hinaus aber vor allem der Postenerlangung und -sicherung für die Normal-Österreicher und als Sprungbrett für die Karrieren ehrgeiziger Individuen und (vorgeblicher) „Patrioten“.25 Das bloß quantitative Kriterium sollte keineswegs, wie das die Historikerin Julie Thorpe getan hat, mit faschistischer Massenmobilisierung verwechselt werden.26. Vom Anfang an, spätestens seit der schrittweisen Ausschaltung des Nationalrats, stützte sich Dollfuß auf außerparlamentarische Maßnahmen, die direkt an die schon vor 1914 im habsburgischen Österreich und während des Weltkriegs geübte, immer wieder (mit §14) den Reichsrat umgehende Regierungspraxis anknüpften. Das kam der autoritär-obrigkeitshörigen Mentalität eines Großteils der kontinuierlich weiterdienenden Beamtenschaft entgegen und sollte der Scheinlegalisierung der Verfassungsbrüche dienen. Sie wurden nun nicht allein mit dem „Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz“ (KWEG), sondern auch im „Außerordentlichen Maßnahmen“-Gesetz vom 24.4.1933 in die Tat umgesetzt. Dieses bezweckte als Kopie von Hitlers Ermächtigungsgesetz (24.3.1933) nicht weniger als die pseudolegale Erlassung der Bundesverfassung 1934 und mit dieser eine extrem autoritäre Konzentration aller gesetzgeberischen Befugnisse bei der Bundesregierung, d.h. beim Bundekanzler. Das geschah auf eine „dermaßen perfide Weise“, dass selbst kühlen Verfassungsjuristen „der Atem stockt“ (Wiederin)27. Legislative und Exekutive standen in einem Naheverhältnis zueinander und waren in der Person des Bundeskanzlers gebündelt, dem auch das Recht eingeräumt wurde, den gesamten politischen Kurs zu bestimmen. Während die „berufsständische Verfassung“ bekanntlich nur in wenigen Bereichen umgesetzt wurde, behaupteten Dollfuß und das Regime, diese Machtkonzentration sei zunächst bloß vorübergehender Natur und werde rückgängig gemacht, sobald der Umbau zum „Ständestaat“ abgeschlossen sei. Dass dies auch 1938 noch nicht in Sicht war, bedeutet, dass im Gegensatz zu Quadragesimo anno das von Spann und der Heimwehr konzipierte autoritäre Modell auf der staatlichen Ebene dominierte und das von Dollfuß und Schuschnigg in den Mund genommene „ständische“ Projekt stärker nur in unterstaatlichen, 25 Unter Verweis auf die VF-Akten: Paul Pasteur (2012): Der Ständestaat, ein autoritärer Staat wie die anderen oder ein Modell?, in: Francesco Saverio Festa et al. (Hg.): Das Österreich der dreißiger Jahre und seine Stellung in Europa, Frankfurt am Main, 115. 26 Thorpe (2011), 325. 27 Ewald Wiederin (2014): Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934, in: Barbara Blümel / Ulrike Felber (Red.), Staats- und Verfassungskrise 1933, Protokolle aus Nationalrat und Bundesrat, 73–97.

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zivilen Bereichen vorhanden war. Insgesamt blieb der „Christliche Ständestaat“ weitgehend ein potemkinsches Dorf. Daher wollten seine politischen Nachfahren nach 1945 nur vom „Experiment des Ständestaats“28 sprechen. Dabei sind drei charakteristische Politikprozesse, die so nicht in der Formalverfassung festgeschrieben waren, erkennbar: 1. Die Herausbildung von zahlreichen Personalunionen: Dieses Merkmal lässt sich auf der Ebene der Staatsregierung besonders deutlich beobachten, wo es, historisch gesehen, auch ein Überbleibsel der Austeritätsregierungen nach 1923 und nach 1932 war, als aus Sparsamkeitsgründen Ministerien und Verwaltungen zusammen gelegt wurden. Personalunionen und Ämterkumulierungen waren auch stark vertreten bei den Verbänden und den Interessensvertretungen (mit Ausnahme jener der Arbeiterschaft!) sowie in den noch oft verbleibenden „patriotischen“ (christlich-konservativen) Organisationen aus der Zeit vor 1933. Aber diese Unionen reiften infolge der mangelhaften Verzahnung in der politischen Praxis nie zur vollen Verschmelzung der Apparate paralleler Institutionen und Büros, wie dies bei den „neuen“ parteistaatlichen Institutionen und den radikalisierenden „Sonderkommissaren“ des NS-Regimes sehr wohl der Fall war. Besonders im österreichischen Sicherheitsapparat kam Kommissären und Kommissariaten ein repressiver, Verunsicherung und informelle (Selbst-)Kontrolle verursachender Einfluss zu. 2. Autoritäre Verschiebung der Entscheidungsfindung auf die jeweils höhere Ebene, im Gegensatz zu den proklamierten Zielen:29 Dieses antidemokratische Prinzip widerspiegelt einen wesentlichen Aspekt der Selbstwahrnehmung des Regimes. Darin manifestierte sich auch die durch große Teile Europas laufende Welle, die auf einen starken Staat, Einschränkung von demokratischen Befugnissen und der in den Revolutionen gewonnen Stärke der Arbeiterbewegungen hinauslief. Sie überrollte nicht nur Staaten schon auf dem Weg in autoritäre, militär- oder monarchodiktatorische bzw. faschistische oder - viel häufiger - hybride Regimes, sondern brachte selbst in west- und nordeuropäischen Demokratien Tendenzen zur Stärkung von Exekutive, politischer Kontrolle und gleitende Übergänge in Präsidialdemokratien (etwa die Regierungen des deutschen Zentrumspolitikers Heinrich Brüning) hervor.30 In diesem Kontext standen die österreichischen Bestrebungen zu einer den Parlamentarismus 28 Siehe dazu: Wolfgang Mantl (2007): Das „Experiment“ des österreichischen Ständestaates, in: Ders. (Hg.): Politikanalysen. Untersuchungen zur pluralistischen Demokratie, Wien/Graz, 243–256, hier 243–249; selbst bei Helmut Wohnout (2004): Middle-class governmental party and secular arm of the Catholic Church: The Christian Socials in Austria, in: Wolfram Kaiser / Helmut Wohnout (Hg.): Politicial catholicism in Europe 1918–45, London/New York, 172–194, hier 182. 29 Unser Staatsprogramm. Führerworte (1935), Wien 61–62; vgl. auch: Maren Seliger (2005): Führerprinzip und berufsständische Vertretung auf kommunaler Ebene? Am Beispiel Wien, in: Talós / Neugebauer (Hg.), 338–356. 30 M. Rainer Lepsius (2007): The model of charismatic leadership and its applicability to the rule of Adolf Hitler, in: António Costa Pinto et al. (Hg.): Charisma and fascism in interwar Europe, London,37–52, hier 42–43.

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einschränkenden Verfassungsreform seit 1928/29 und der (1930 noch scheiterende) Versuch des Obmanns der CSP, Carl Vaugoin, die Heimwehr in die Regierung zu bringen. 3. Rekursivität der Autorisierung, das heißt Scheinlegitimierung einer Entscheidung nicht gemäß den vorgesehenen „ständischen“ Prozeduren, sondern durch die Verlagerung auf eine historisch ältere oder autoritär (als Ersatz) eingesetzte jeweils höhere Instanz. Ein gutes Beispiel ist der (geplante) Wahlmodus des Bundespräsidenten: Aus einem von der „Bundesversammlung“ erstellten Wahlvorschlag von drei Kandidaten sollten alle 4396 Bürgermeister den Bundespräsidenten wählen. Entscheidend aber war, dass viele Bürgermeister ihr Amt einer autoritären Bestellung durch den Bundeskanzler und nicht einer („ständestaatlichen“) Wahl verdankten, zum Teil allerdings auch schon vor 1933 gewählt worden und weiter im Amt geblieben waren. Dazu kam, dass der gesetzgebende Prozess die (ohnehin bloß ansatzweise vorhandene) „berufsständische“ Staatsstruktur nur in wenigen Fällen berücksichtigte und meist aufgrund der Ständestaatsverfassung vom 1.5.1934 von Dollfuß bzw. Schuschnigg her erfolgte.31 Intern gab die Regierung zu, der Grund für diese autoritäre politische Praxis sei hauptsächlich die Angst, den jeweiligen Wahlvorgang nicht in dem von ihr gewünschten Sinn steuern zu können. Daher auch scheute autoritäres Regieren plebiszitäre Akte im Gegensatz zum Nationalsozialismus (bis 1939), der gerade in der Mobolisierung für Abstimmungen eines seiner wirkungsvollsten Herrschaftsinstrumente hatte. Es ist daher Helmut Wohnout zuzustimmen, wenn er statt „Regierungsdiktatur“ heute die Bezeichnung „Kanzlerdiktatur“ für das österreichische Regime vorzieht.32 Diese Kanzler-Orientierung war paradoxerweise eher eine Konsequenz der Schwäche, denn einer durchgehenden Stärke der Herrschaftsstrukturen. So kam es im Dollfuß/Schuschnigg-Regime auch in vier Jahren nie zu einer im eigentlichen Sinn einheitlichen und praktisch so funktionierenden Machtausübung. Man musste sich immer schlecht und recht mit Improvisationen, Kompromissen, Parallelinstitutionen und Verbänden behelfen, was das autoritäre Eingreifen geradezu heraus forderte. Da den gesetzgeberischen (autoritären) Säulen der ständestaatlichen Verfassung, den Beratungsorganen und den als Basis gedachten „Berufsständen“ etc. nur ansatzweise die versprochene Bedeutung zukam, blieb im Bereich des Staates das Autoritätsprinzip dominant, das „ständisch-korporatistische“ Moment jedoch schwach. Typisch für das Regime Dollfuß’ und Schuschniggs war eine Verfasstheit, die sich eher noch aus dem Weiterbestehen berufsständischer Strukturen der alten CSP und ihrer Vorfeldorganisationen denn aus der erlassenen ständischen Verfassung herleitete, worauf der

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Präzise und kritisch: Ewald Wiederin (2012): Christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grundlage, in: Reiter-Zatloukal et al. (Hg.), 31–44; auch: Gerhard Botz (2016): Simulated "Corporatist State" and enhanced authoritarian dictatorship. Dollfuss and Schuschnigg's Austria, in: António Costa Pinto (Hg.) (in Vorbereitung). Helmut Wohnout (2012): Die Verfassung 1934 im Widerstreit der unterschiedlichen Kräfte im Regierungslager, in: Reiter-Zatloukal et al. (Hg.), 17–30, hier 30.

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Sozialhistoriker Ernst Bruckmüller aufmerksam gemacht hat.33 Dies bedeutet, dass es hier ein mit dem „Staat“ verzahntes „ziviles“ Umfeld gab, in dem die alten, schon vorhanden gewesenen Verband-, Bund- und berufsständischen Strukturen weiter liefen, was von der „Austrofaschismus“-Forschung weitgehend übersehen wurde. Daneben brachte das Regime in seinem Ringen um eine Institutionalisierung, die es jedenfalls nie erreichte, zwar eine Reihe von in ständigem Wandel begriffenen Agglomerationen von „vaterländisch“ verankerten Führungspersonen, Interessenvertretern und Organisationstorsi hervor. Hier entwicklete sich ein „stiller“, aber vielfältiger „gesellschaftlicher Korporatismus“; ihm stand jedoch auf der ständestaatlichen Strukturebene, wie schon gesagt, ein wenig ausgebildeter „politische Korporatitivismus“ gegenüber, der zur selben Zeit von der starken autoritären Machtausübung bei weitem in den Schatten gestellt wurde. Beide Strukturelemente waren, wie auch für andere korporati(vi) stisch-autoritäre europäische Regimes der 1930er Jahre, für das Dollfuß/Schuschnigg-Regime typisch, wie der portugisische Sozialwissenschaftler António Pinto betont.34

III. Dollfuß und Schuschnigg: formell „starke“ Führer? Einzelne Heimwehrführer wie Starhemberg versuchten in Nachahmung Mussolinis und Hitlers, sich zu Führern zu stilisieren und dafür bei ihren Anhängern Glauben zu erlangen, doch blieben ihre faktische Machtstellung und ihr Charisma weit hinter denen des Duce oder des „Führers“ zurück. Soweit man Dollfuß überhaupt echtes Charisma35 attestieren kann, wurde dieses in erster Linie von den unteren, überwiegend ländlichen Sozialschichten, die ihm mentalitätsmäßig ähnlich waren,36 auf ihren „Führer“ projiziert und Dollfuß versuchte, dieses Image diskursiv auch von unten aufzubauen. Er war bekanntlich unterdurchschnittlich groß, seine Stimme wirkte quengelig (was sich besonders seit dem Aufkommen des Tonfilms störend ausgewirkt haben dürfte) und seine ganze Erscheinung war wenig eindrucksvoll, linkisch-“kleinbürgerlich“, im Gegensatz zu dem modernisch „antiken“ Heros-Athleten Mussolini,37 der sich auf den Fotos am Strand von Riccione im August 1933 bildmächtig in-

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Ernst Bruckmüller (1995): Die ständische Tradition. ÖVP und Neokorporatismus, in: Robert Kriechbaumer / Franz Schausberger (Hg.): Volkspartei – Anspruch und Realität. Zur Geschichte der ÖVP seit 1945, Wien, 281– 315, 290–292. 34 Pinto (2014), 88–92. 35 Weber (1956), 2. Halb-Bd., 832–873; Vgl. auch Jan Willem Stutje (2012): Introduction, in: Ders. (Hg.): Charismatic leadership and social movements. The revolutionary power of ordinary men and women, New York NY, 1–29; Roger Eatwell (2007): The concept and theory of charismatic leadership, in: António Costa Pinto et al. (Hg.), 3–18, besonders 6–10. 36 Gerhard Jagschitz (1983): Engelbert Dollfuß 1892 bis 1934, in: Friedrich Weissensteiner / Erika Weinzierl (Hg.): Die österreichischen Bundeskanzler. Leben und Werk, Wien, 190-216. 37 Vgl. Alessandra Antola (2013): Photographing Mussolini, Stephen Gundle / Christopher Duggan / Giuliana Pieri (Hg.): The cult of the Duce. Mussolini and the Italians, Manchester/New York, 178–192.

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Dollfuß bei einer Rede 1933/34. Quelle: Bildarchiv des Österreichischen Instituts für Zeitgeschichte, Bildarchiv Austria, Österreichische Nationalbibliothek.

szenieren ließ. So zeigt auch Abbildung 2, wie unbeholfen und gehemmt seine Rednerposen aussahen. Gekünstelt „kindergerecht“ versuchte er auch die Jugend anzusprechen, die sich dennoch, außerhalb der katholischen Kernmilieus, der NSDAP zuwendete.38 Trotzdem scheint Dollfuß auch etwas ausgestrahlt zu haben, was ich das „Charisma des Kleinen“ nennen möchte, das eines Davids, der sich gegen Goliath auflehnt. Dieser Mythos wurde nach seinem „Heldentod“ besonders wirksam.39 In dieser Hinsicht war er die ins Positive gewendete Verkörperung des Verlust- und Kleinheitstraumas, das in Österrreich nach dem Zerfall des Habsburgerreiches nicht nur bei Konservativen herrschte. Als Spitzenfigur eines Kleinstaats war Dollfuß offenbar fähig, Gefühle von Loyalität in manchen Menschen, die sich ebenfalls als „kleine Leute“ empfanden, zu wecken. Er versuchte, vielen seiner Landsleute wieder zum Gefühl der Selbstachtung zu verhelfen. Die Fragwürdigkeit der schon zu 38 39

Halböffentlich zugegeben: Kurt von Schuschnigg (1934): Der Neue Staat, in: Die Grundlagen des neuen Staates, hg. v.d. Vaterländischen Front Oberösterreichs, Linz, 84–95, hier 92–93. Lucile Deidemy (2014): „Ein Toter führt uns an. Führerkult in der österreichischen Diktatur“, in: Anzenberger / Halbrainer (Hg.), 69–86; siehe auch: Werner Suppan (2010): „Er gab für Österreich sein Blut, ein wahrer deutscher Mann“. Engelbert Dollfuß und die austrofaschistische Version des Führertums, in: Benno Ennker / Heidi Hein-Kircher (Hg.): Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, Marburg, 137–156.

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seinen Lebzeiten um seine Person aufgebaute symbolische Politik wurde auch durch die Umstände seiner Ermordung nicht gebannt. Er wurde zum Märtyrer erhoben40 und die VF unter Schuschnigg widmete ihm ein Lied, das geradezu makabre Zeilen enthält und als Ausdruck tiefsten gegenreformatorischen Todeskults zu verstehen ist: „Ihr Jungen, schließt die Reihen gut, / Ein Toter führt uns an. / Er gab für Österreich sein Blut, / Ein wahrer deutscher Mann.“41 Der Text ist dem Horst-Wessel Lied nachempfunden, der späteren Parteihymne der NSDAP. Kirchen wurden nach Dollfuß benannt, Kreuze ihm zu Ehren errichtet und eine ganze Reihe von Erinnerungsbüchern veröffentlicht. Ob die Bezeichnung „starker Diktator“, die António C. Pinto in seiner Analyse der Salazar-Diktatur verwendet hat,42 auch auf Dollfuß und/oder Schuschnigg zutrifft, ist, wenn man die Ämter- und Funktionskumulierungen bedenkt, nicht von vorne herein auszuschließen. Der Bundeskanzler war „Führer“ der Bundesregierung und hatte die von der Weimarer Republik übernommene Richtlinienkompetenz.43 Das machte ihn zum Schnittpunkt vieler Stränge der staatlichen Macht und beinhaltete eine Priorität des autoritären gegenüber dem ständischen Prinzip in der Verfassung vom 1.5.1934. Aber diese Macht war in Wirklichkeit weder gesichert noch „total“. Dollfuß' Spruch „Der Führer bin ich selbst“44 klingt eher nach einem trotzigen Justament als nach der Sicherheit eigener charismatischer Führer-Stärke, die dem traditionell-konservativen Charakter vieler Dollfuß-Anhänger in der VF diametral entgegengesetzt gewesen wäre. Nicht einmal die dem faschistischen Vorbild viel näher stehende Heimwehr brachte solche charismatische Führer (in der jeweils kurzen Zeit, die den rivalisierenden Kandidaten zur Verfügung stand) hervor.

IV. Das Schuschnigg-Regime: bürokratische Erstarrung und partielle Defaschisierung Kurt (von) Schuschnigg, Dollfuß’ Nachfolger, war vom Habitus her ein einer altösterreichischen Offiziersfamilie entstammender katholischer Intellektueller mit traditionellen „gesamtdeutschen“ Vorstellungen. Er unterschied sich von seinem Vorgänger in seinem öffentlichen Auftreten, setzte aber dessen Politik fort, indem er einen Ausgleich innerhalb der am Regime 40 Hierzu und zum Folgenden besonders: Lucile Dreidemy (2014): Der Dollfuß-Mythos. Eine Biographie des Posthumen, Wien/Weimar, passim, vor allem 91–97. 41 Zit. nach Alfred Pfoser / Gerhard Renner (2005): „Ein Toter führt uns an!“, in: Tálos / Neugebauer (Hg.), 338–356. 42 António Costa Pinto (1995): Salazar›s dictatorship and European fascism. Problems of interpretation, Boulder, Colo., 170. 43 Dazu immer noch nützlich: Adolf Merkl (1935): Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, Wien, 152; Erich Voegelin (1936): Der autoritäre Staat, 196–199. 44 Vgl.: Wolfgang Maderthaner / Michaela Maier (Hg.) (2004): „Der Führer bin ich selbst“. Engelbert Dollfuß - Benito Mussolini, Briefwechsel, Wien.

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beteiligten Gruppen anstrebte. Er gab tendenziell Offizieren der ehemaligen Habsburger Armee den Vorzug. Ihr Einfluss wurde, wie in den anderen europäischen Zwischenkriegsdiktaturen, fast allgegenwärtig in den Regierungshierarchien, in Uniformen, Symbolen und öffentlichen Ritualen.45 Im Gegensatz zu seinem Vorgänger griff Schuschgnigg auch wieder mehr auf CSP-Politiker zurück und vermied den prononcierten Österreich-Patriotismus, den Dollfuß in Überwindung seiner anfänglich deutschnationalen Orientierung entwickelt hatte.46 Schuschnigg weigerte sich einerseits, Berlins kulturelle Vormachtstellung anzuerkennen – Österreich war ja der „bessere deutsche Staat“ – , andererseits machte sich sein katholischgesamtdeutsches „Reichs“-Denken auch beim Treffen mit Hitler in Berchtesgaden am 12. Februar 1938 lähmend bemerkbar. Zwei Jahre davor war es ihm gelungen, die paramilitärischen Organisationen einschließlich der Heimwehr aus Schlüsselpositionen innerhalb des Regimes zu verdrängen und 1937 in das österreichische Bundesheer einzugliedern.47 So wurde die Heimwehr, das quasirevolutionäre Element des Faschismus, erst geschwächt und dann vollständig von den Hebeln der politischen Macht entfernt. Schon zuvor hatten die CSP und viele Katholiken Österreichs sich an Quadragesimo anno orientiert,48 hatten Dollfuß und sein „Ständestaat“ sich als Zentrum und missionarisches Vorbild einer neuen katholischen Gegenreformation betrachtet, was im übrigen umgekehrt auch der „Neue Staat“ Salazars für sich reklamierte.49 Überraschender Weise begann der österreichische „Ständestaat“ erst 1936 sich für eine Übersetzung von „Estado novo“ aus dem Portugiesischen zu interessieren.50 Um das, was sich außerhalb der Grenzen Österreichs abspielte, kümmerte man sich in Österreich wenig, es sei denn, es handelte sich um die traditionellen intellektuellen und politischen Brennpunkte, zu allererst im „außenpolitischen Dreieck“, bestehend aus Vatikan, Rom und Berlin, 51 dann auch in Budapest, Prag, München und Warschau. Schon die CSP und das Regime Dollfuß› hatten sich als „weltlicher Arm der Katholischen 45 Robert Kriechbaumer (2002): Ein Vaterländisches Bilderbuch. Propaganda, Selbstinszenierung und Ästhetik der Vaterländischen Front 1933–1938, Wien/Köln/Weimar, 77–271. 46 Grundlegend: Anton Staudinger (2005): Austrofaschistische „Österreich“-Ideologie, in: Tálos / Neugebauer (Hg.), 28–52. 47 Es gibt keine substanziellen Untersuchungen des Schuschnigg-Regimes, außer: Kluge (1984), 67–135 und: Walter Reich (2000): Die Ostmärkischen Sturmscharen. Für Gott und Ständestaat, Frankfurt am Main; siehe auch: Gerhard Jagschitz (1983): Der österreichische Ständestaat 1934–1938, in: Erika Weinzierl / Kurt Skalnik (Hg.): Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik. Bd. 1, Graz, 497–515, hier 505–07, 510–13; Tálos (2013), nur 152–56. 48 Jilo Lewis (1990): Conservatives and fascists in Austria, 1918-34, in: Blinkhorn (Hg.), 98–117, hier 106. 49 Goffredo Adinolfi/António Costa Pinto: Salazar›s ‹New State: The paradoxes of hybridization in the fascist era, in: Pinto/Kallis (2014), 154–175, hier 171–172. 50 Nach einer diplomatischen Anfrage aus Wien, siehe: Pasteur (2012), 118. 51 Siehe den kurzen Überblick: Dieter A. Binder (2014): Österreichs Außenpolitik. Wie faschistisch war die Außenpolitik der ständestaatlichen Diktatur?, in: Anzenberger/Halbrainer (Hg.), 87–99.

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Kirche“ verstanden.52 Diese profitierte von den alten und erneuerten Privilegien und stand eindeutig auch hinter Schuschnigg, was ihr Regime die Brandmarkung als „klerikalfaschistisch“ eintrug. Weitgehend unklar ist noch die reale Bedeutung der Tatsache, dass Schuschnigg im Gegensatz zu Dollfuß sehr wohl mit der Idee spielte, Otto Habsburg eine politische Rolle in Österreich zu verschaffen.53 Die zuletzt gesteigerte und unkontrollierte Vermehrung von „vaterländischen“ Verbänden, halboffiziellen Organisationen, Vereinen und Gruppen stützt die These von Juan J. Linz, dass sich innerhalb des Regimes ein gewisser Pluralismus ausbildete, was auch für andere autoritäre Regimes typisch war.54 Zugleich kam es zu einer wachsenden Stärkung der berufsständischen Quasi-Bürokratien, zu ineffizienten Gemengelagen und zu Überlappungen der verschiedenen Organisationen und Institutionen. Dieser Pluralisierung im halb- und vorstaatlichen Bereich entgegen laufend zeichnete sich auch eine Tendenz zur „Disziplinierung und Versachlichung der Herrschaftsformen“ ab,55 die mit einer wachsenden Militarisierung und Bürokratisierung des Staatsapparats Schuschniggs korrespondierte.56 Diese regimeinternen Prozesse sind als Beginn einer Entfaschisierung des Dollfuß/ Schuschnigg-Regimes zu Gunsten von dessen gesellschaftlich-berufsständischen Komponenten zu deuten.57 Das wurde besonders offenkundig mit der Eliminierung seiner „austrofaschistischen“ Teilkomponente, der Heimwehr, während Schuschniggs „Ostmärkische Sturmscharen“ ein NS-orientiertes Faschismusimitat blieben. Ob dieser Wandel in Richtung des „Christlichen Ständestaats“ gegangen wäre, oder - in einer ganz anderen europapolitischen Situation wie in den 1970er Jahren auf der iberischen Halbinsel - einen demokratisierenden Transformationsprozess hätte einleiten können, bleibt Spekulation. Jedenfalls kann das an der Gesamteinschätzung des diktatorischen Charakters des österreichischen Regimes nichts ändern. Allerdings öffnete das Regime Schuschniggs ab dem Juliabkommen 1936 unter starkem deutschen Druck den Nationalsozialisten zunehmend Einflusspositionen im Staat, in der Presse und in der Wirtschaft, was den „Anschluss“ auch von Innen her vorbereiteten sollte.

52 53

Wohnout (2004), 175. Johannes Thaler (2013): Legitimismus – Ein unterschätzter Baustein des autoritären Österreich, in: Wenninger / Dreidemy (Hg.), 69–85; Schuschnigg (1988), 18–25. 54 Juan J. Linz (1975): Totalitarian and Authoritarian Regimes, in: Fred I. Greenstein / Nelson W. Polsby (Hg.): Handbook of political science, Bd. 3: Macropolitical Theory, Reading, Mass., 175–411, hier 271 und 307–313. 55 Vgl. Weber (1956), 866–873. 56 Ähnlich auch die Schlussphasen in Franco-Spanien, siehe Stanley Payne (2014): Franco. A personal and political biography, Madison, Wisc., Kap. 12-20. 57 Zuerst bei: Botz (1984), 325–327; auch: Ernst Hanisch (1994): Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, 314.

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V. Resumee Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime war eher eine Demobilisierungsdiktatur denn ein massenmobilisierender, sich innen- und außenpolitisch radikalisierender genuiner Faschismus.58 Die immer dominante autoritätsstaatliche Praxis gab zwar auch wenig Raum für die meist unvollendet bleibenden korporati(vi)stischen Institutionen, ließ jedoch in der Gesellschaft gewisse kontrollfreie Rückzugsinseln und Möglichkeiten zu einem individuellen politikfernen oder subversiven Agieren, wozu auch die der Bürokratie nachgesagte „österreichische Schlamperei“ und die Inkonsistenzen des alten und neu entstehenden „berufsständischen“ Korporatismus genutzt werden konnten. Die Geschichte des Widerstands und der illegalen Nationalsozialisten kennt dafür viele Beispiele. Im Regime können, so wie ich den Befunden vieler, einander widersprechender, aber solider Darstellungen etwa von Gerhard Jagschitz, Emmerich Tálos, Helmut Wohnout und Ernst Hanisch59 und bekannter ausländischer Historiker entnehme, zwei Pole, die wechselnde Gewichtungen hatten, ausgenommen werden: vereinfacht gesagt, ein autoritär-berufsständischer und ein faschistischer Pol. Ersteren repräsentierte eine Gemengelage von alten konservativen Partei- und Wirtschaftseliten, habsburgisch-obrigkeitsstaatlich geprägten Staatsbürokratien und Militärs, einem Großteil der ehemaligen immer demokratiefeindlicher gewordenen Christlichsozialen und dem katholischen Klerus. Der letztgenannte Pol bestand vor allem aus den bewegungsartigen Teilen und Landesorganisationen der radikalen Heimwehr, die sich auf aristokratische „Führer“ wie Starhemberg und Emil Fey und deren Klientel stützten und asymmetrisch-volksparteiartig vor allem ländliche und kleinstädtische Mittel- und Unterschichten mobilisieren konnten. Das reichte zwar aus, gegen die linken und (zeitweise) die nazistischen Gegner 1933/34 eine begrenzte Mobilisierung zu erzielen und auch in den folgenden Jahren eine (nach 1935) abnehmende rigide polizeiliche Gewalt und Überwachung auszuüben. Aber als es gegen das Jahr 1938 hin darauf ankam, den Kern der „vaterländischen“ Gefolgschaft bei der Stange zu halten oder gar einen über das „katholisch-konservative Lager“ hinausgreifenden größeren Teil der Österreicher und Österreicherinnen für den Kampf gegen den Nationalsozialismus zu gewinnen, lösten sich die VF und das ganze Regime, abgesehen von einigen Widerstandkernen, nahezu sang- und klanglos auf. Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime war nicht mehr in der Lage oder willens in der internationalen Isolation, in die es geraten war, ernsthaft den Weg einer - ihm allerdings undenkbaren - Redemokratisierung zu gehen oder seine verbleibenden Machtmittel einzusetzen und den erzwungen-begrüßten „Anschluß“ abzuwenden. Die Polarität seines Herrschaftsgefüges kann als Analogie auch zum (frühen) NS-Regime 58 59

Vgl. Paxton (2004),148–171. Zusammenfassend siehe Emmerich Tálos (2005): Das austrofaschistische Herrschaftssystem, in: Talos / Neugebauer (Hg.), 394–420.

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gesehen werden, das sich nach dem noch immer relevanten „Doppelstaat“-Modell von Ernst Fraenkel aus der Symbiose eines alten traditional-ordnungsstaatlichen Herrschaftsprinzips und eines neuen genuin NS-faschistischen maßnahmenstaatlichen Prinzips ergab. 60 Schon allein deshalb erübrigt es sich, auch von einem starren Herrschaftssystem zu sprechen, da dies Stabilität und innere Homogenität voraussetzt; beides war im Dollfuß/Schuschnigg-Regime nur bedingt vorhanden.61 Wie anderere Diktaturen in Europa in der Zwischenkriegszeit und zeitversetzt in Lateinamerika ist es am ehesten als ein Hybrid62 zu beschreiben, in dem Österreich-spezifische vorund antidemokratische Traditionen einerseits und zeitspezifische autoritäre, korporati(vi) stische und faschistische Konzepten, Tendenzen, Bewegungen und politische Projekte andererseits eine - hier nicht zu wertende - Symbiose eingingen. Roger Griffin hat deshalb auch das Dollfuß/Schuschnigg-Regime unter den von ihn geprägten Begriff des „Parafaschismus“ subsumiert.63 Im vollen Sinn faschististisch war der sogenannte „Austrofaschismus“ nicht. Deshalb meine ich, es sollte phasenweise unterschiedlich und (wenn schon zusammenfassend) eher als berufsständisch gefärbte „halb-faschistisch“-autoritäre Diktatur bezeichnet werden.

60 61 62 63

Fraenkel (1974), 233–241. Dies gilt auch für die „voll“ faschistischen Regime in Deutschland und Italien, siehe: Paxton (2004), 558–559. Als „Nebel der Begrifflichkeit“ ähnlich genannt bei: Kriechbaumer (2005) (Hg.), 9–49. Roger Griffin (1991): The nature of fascism, London, Kapitel 5.

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Eine Nazi-Kindheit im Waldviertel

I. Geboren 1940, in Thaya, wuchs ich in einer Nazi-Familie auf.1 Vater und Mutter waren illegale Nationalsozialisten (Eintritt in die NSDAP vor 1938). Mein Vater hat nie verschwiegen, dass er ein Nazi war. Das bereitete mir als Kind keine besonderen Probleme. Mein Vater führte einen Kaufmannsladen, in dem auch meine Mutter mitarbeitete, wo die OrtsbewohnerInnen alles für den Alltag kaufen konnten. Fast alle aus dieser kleinbürgerlichen Schicht im Ort waren Nazis, der Arzt, der Lehrer, die Kaufleute und Handwerker. Was mir allerdings Sorgen bereitete, weil ich vor der Pubertät katholischer Priester werden wollte, war der Makel, dass mein Vater geschieden war – eine Schande in einem katholischen Dorf. Der emotionale Schock kam für mich erst 1993, als ich nach dem Tode meiner frommen, völlig unpolitischen Mutter, die im Alter jeden Tag in die Messe ging, herausfand, dass auch sie Mitglied der NSDAP war. Sie hatte nie darüber gesprochen. Ich war längst Professor für österreichische Geschichte, schrieb seit Jahrzehnten über den Nationalsozialismus. Sie wusste es, wenn sie auch, glaube ich, keine Zeile von mir gelesen hatte. Ich habe sie auch nicht gefragt, weil ich nicht einmal im Traum daran dachte, dass auch sie eine Nationalsozialistin gewesen sein könnte. Sie hatte vier Kinder großgezogen, arbeitete von früh morgens bis spät in der Nacht im Geschäft. Ich erinnere mich an keine einzige politische Bemerkung. Ich habe bis heute keine Erklärung dafür. War es die Scham? Fürchtete sie, dass ich sie moralisch verurteilen würde? Kann man eine formelle Parteimitgliedschaft so verdrängen, dass die Erinnerung völlig ausgelöscht wurde? Warum hob sie dann das Parteibuch auf, während sie den Scheidungsakt meines Vaters nach dessen Tod vernichtete? Hat sie es versteckt und dann vergessen, weil es in ihrer subjektiven Biografie keine Bedeutung hatte?

1

Ernst Hanisch (2011): Was ein Landpfarrer über die Jahre 1938 bis 1945 in seiner Chronik schrieb: Versuch einer dichten Beschreibung, in: Heinrich Berger / Melanie Dejnega / Regina Fritz / Alexander Prenninger (Hg.): Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert, Wien, 265–286.

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II. Ich wuchs in einer Nazi-Familie auf, aber ich erinnere mich an keine Nazi-Erziehung. Ich wurde bereits 1940 getauft, eher ungewöhnlich in einer Nazi-Familie, meine Mutter bestand darauf. Nur mein zweiter Vorname Horst, ein typischer Nazi-Name, erinnerte mich an die NS-Vergangenheit meiner Familie. Aber da ein zweiter Vorname in Österreich nicht üblich war, habe ich diesen Namen nie benutzt – wahrscheinlich auch eine subjektive Verdrängung. Die einzige konkrete Erinnerung an ein Nazi-Ereignis war der Aufmarsch der HJ vor unserem Haus. Ich bewunderte sie, weil sie kurze Hosen, Kniestrümpfe und einen Dolch trugen, während ich ebenfalls kurze Hosen an hatte, aber lange Strümpfe, die, wie bei den Mädchen, mit einem Strumpfbandgürtel gehalten wurden. Das beleidigte meine vierjährige Männlichkeit zutiefst. Vermutlich grüßten wir im Kindergarten, der von den Nazis gegründet wurde, mit Heil-Hitler. Der übliche Gruß im katholischen Dorf war „Grüß Gott“ oder, wenn man dem Priester begegnete, „Gelobt sei Jesus Christus“. Ich frage mich oft, wenn ich ein paar Jahre älter gewesen wäre oder die NS-Herrschaft länger gedauert hätte, ob ich nicht ein begeisterter Hitlerjunge oder gar ein überzeugter Nazi geworden wäre. Meine einzige Hoffnung ist dann mein angeborener Individualismus, der diese Massenverdummung vielleicht nicht ertragen hätte. Seit 1946 war ich ein leidenschaftlicher Messdiener, tauchte ganz und gar in die katholische Welt ein. Die Familie hinderte mich nicht. Der Krieg war verloren, der Nationalsozialismus Vergangenheit, über die kaum geredet wurde. Präsent war noch der Krieg, die vielen Toten im Dorf, die Heimkehrer. Es wurden im Gasthaus weniger Heldengeschichten erzählt als Geschichten der Schlauheit, den direkten Fronteinsatz vermieden zu ­haben. Auch mein verehrter Pfarrer, ein entschiedener Anti-Nazi wie seine Pfarrchronik beweist, sprach kaum öffentlich über den Nationalsozialismus.2 Selbst der Vetter meines Vaters, ein höherer NS-Funktionär (Kreisleiter), der vom Volksgerichthof Wien zu zehn Jahren Kerker verurteilt worden war, versuchte nie, mich zu beeinflussen. Er wurde 1951 entlassen und kehrte als kranker Mann zurück, wohnte mit seiner Frau in einem kleinen Zimmer in unserem Haus. Da er studiert hatte, konnte er mir bei der Lateinaufgabe helfen. Nur zwei seiner Sätze sind mir im Gedächtnis: „Meide die Politik, sie bringt nur Unglück!“ – eine typische Einstellung vieler ehemaliger Nazis. Zum 14. Geburtstag schrieb er mir eine Karte mit einem Satz von Friedrich Schiller: „Männerstolz vor Königsthronen“ – nicht gerade eine nationalsozialistische Parole, wenn man an den Führerkult denkt. Warum habe ich nie meinen Vater oder meinen Onkel nach ihrer NS-Vergangenheit gefragt? Eine Antwort kann ich nur als Historiker geben. Erster Faktor: Es waren die Zeitumstände der „langen fünfziger Jahre“. Es war ein Jahrzehnt des „großen Schweigens“. Wenn doch 2

Florian Schweitzer (Hg.) (1995): 50 Jahre danach. Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit auf dem Lande, Waidhofen.

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ö­ ffentlich über den Nationalsozialismus gesprochen wurde, klang es sehr abstrakt, auch wenn die KZ oder die Judenvernichtung erwähnt wurden. Dem damals offiziellen Opfermythos – Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus – begegnete ich mit Skepsis. Die Familienerfahrungen widerlegten diesen Mythos. Zweiter Faktor: Mein Onkel starb 1956, mein Vater erlitt 1957 einen Schlaganfall, er war gelähmt und verlor buchstäblich die Sprache, er starb 1958. Ich stand voll in der Pubertät. Mich interessierten die Mädchen, das Fußballspiel, die große Literatur. Ich wurde durch die Lektüre der österreichischen Literatur zu einem österreichischen Patrioten. Der Englischlehrer, ein angeblicher Kommunist, machte mich auf die amerikanische Literatur aufmerksam. Ich las mit Begeisterung Ernest Hemingway (seine einfachen englischen Sätze erleichterten die Lektüre) und andere englischsprachige Autoren, ich tanzte leidenschaftlich Rock’n’Roll, der ein neues Körpergefühl vermittelte, ich wollte heraus aus der engen Welt des Dorfes. Fahrradtouren außerhalb von Österreich, Übernachtungen im Heustadel steigerten diese Lust. 1957 war ich ein Monat in England. Es gab keinen Vater-Sohn Konflikt. Ich lebte in einem anderen Universum als mein Vater und mein Onkel. Da sie mich in meinem nicht störten, war ich zufrieden und störte ihres nicht. Und der Holocaust, ein Wort, das es allerdings damals noch nicht gab? Ich kannte keine Juden. Im Ort hatten nie Juden gelebt. Aus der Familie kann ich mich an keine antisemitischen Bemerkungen erinnern. Die Juden begegneten mir nur in der katholischen Kirche, wo wir am Gründonnerstag mit verteilten Rollen aus dem Evangelium vorlasen, jene Teile, wo die Juden als„Gottesmörder“ aufschienen. Am Karfreitag wurde für die „ungläubigen Juden“ gebetet, Gott möge sie aus ihrer „Verblendung“, aus ihrer „Finsternis“ befreien, dass sie Christus als Licht der göttlichen Wahrheit erkennen.3 Dass Jesus Jude war, drang nicht in unser Bewusstsein. Da ich mich mit der Leidensgeschichte von Jesus identifizierte, löste das kaum eine Sympathie für die Juden aus, auch wenn die katholische Kirche die Ermordung der Juden damals entschieden verurteilte. Ich las das Tagebuch der Anne Frank, natürlich war ich berührt, aber die ganze Dimension ihrer Ermordung erfasste ich erst später, als ich in Amsterdam über Karl Marx forschte und das Anne-Frank-Haus besuchte. Ich referierte in der Schule über Franz Kafka, aber auch bei ihm war der Einbruch des Schreckens in den Alltag für mich eher abstrakt. Konkret wurde mein Judenbild erst mit der Arbeit an dem Aufsatz „The Image of the Jew in Austrian Literature since 1945“,4 der 1973 erschien, mein zweiter Aufsatz den ich publizierte.

3 4

Anselm Schott (1957): Das Meßbuch der heiligen Kirche, Wien, 279, 322f. Ernst Hanisch (1973): The Image of the Jew in Austrian Literture since 1945, in: Patterns of Prejudice Jg. 7 (1973), 23–33.

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III. Der Krieg kam in meinen Geburtsort, als der Krieg aus war. Die Gegend bot keine Objekte für Luftangriffe an. Mein Vater war zu alt, um in die Wehrmacht eingezogen zu werden, obendrein nach einem Arbeitsunfall auf einem Auge blind. Niemand aus der engeren Familie war gefallen. Niemand hungerte hier in dem Bauernland. Den Krieg merkte man jedoch bei der Veränderung der Bevölkerung: französische Kriegsgefangene, slawische Zwangsarbeiter, Volksdeutsche aus Südungarn, Bombenflüchtlinge aus dem „Altreich“, später deutsche Soldaten auf der Flucht. Letztere sprengten im nahen Wald ein Munitionsdepot. Die Detonation zerstörte die Fenster im Dorf. Als sich die Nachricht verbreitete, die Rote Armee werde in den Ort einziehen, herrschte Panik. Der Pfarrer schrieb in seine Chronik: „Das war für die Bevölkerung so, als wenn ein Hagelschauer die gesamte Ernte vernichtet hätte, oder ganz Thaya (mein Geburtsort) abgebrannt wäre […] Nach den Schrecknissen des Krieges stand uns offenbar noch Schrecklicheres bevor.“5 Nirgends, nicht nur bei den Nazis, entstand das Gefühl der Befreiung. Der Einzug der Rotarmisten am 9. Mai 1945 hatte sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Die unheimliche Stille, die sich nach der Ablösung der alten und vor der Ankunft der neuen Herrschaft ausbreitete. Im Haus waren alle Fenster geschlossen, die Türen versperrt. Zwischen den Fensterbalken spähte ich hinaus und sah, wie am Nachmittag die russischen Lastautos, Motorräder und Radfahrer durch die Hauptstraße fuhren. In der Küche saßen die Frauen des Hauses voller Angst, auf alt gekleidet, jede mit einem Kind im Arm. Plötzlich drangen einige Rotarmisten ein und riefen: „Wo Mann?“ Dann verschwanden sie. Die wenigen Männer, wie auch mein Vater, hatten sich in den umliegenden Feldern versteckt. Kurze Zeit später begannen die Plünderungen, beteiligt waren neben den russischen Soldaten, Zwangsarbeiter und Einheimische. Soweit ich weiß, wurde im Dorf keine Frau vergewaltigt. In einer Nacht fuhr ein russischer Lastwagen in das versperrte Eichenhaustor, die Eindringlinge plünderten auf der Suche nach Alkohol unser Geschäft. Alle zitterten vor Angst. Das waren die primären Erfahrungen als Kind. Der erwachsene Historiker kann sie sich erklären. 1. In der kollektiven Mentalität wirkte die jahrhundertealte diffuse „große Angst“ vor dem Osten. Seit Jahrzehnten hatte die Angst vor dem Bolschewismus sie konkretisiert. Die NaziPropaganda hatte sie weiter aufgestachelt, die Propagandabilder der vergewaltigten und verstümmelten Frauen in Ostpreußen hatten sich in das „barbarische“ Russenbild eingelagert. Was wir nicht wussten, was erst die neuere Forschung freigelegt hatte: Die sowjetische Kriegspropaganda, jeder Deutsche sei eine unmenschliche Bestie, ein Faschist, die realen Kriegserfahrungen mit dem deutschen Vernichtungskrieg im Osten, das Wissen um die ermordeten 5

Schweitzer (1995), 99.

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Familienangehörigen und Freunde hatten bei den Rotarmisten ein ungeheures Rachebedürfnis aufgebaut, das auch von der Armeeführung nicht mehr gestoppt werden konnte. Wenn auch offiziell Österreich als „befreites Land“ ausgerufen wurde, in das Bewusstsein, in den Gefühlshaushalt der sowjetischen Soldaten konnte das nicht eindringen. 2. Beim Einmarsch in das reichsdeutsche Gebiet erlebten die russischen Soldaten einen Kulturschock. Getragen von der Ansicht, der Kommunismus sei dem Kapitalismus weit überlegen, mussten sie feststellen, dass der Lebensstandart dort auch im Krieg weitaus höher als in der Heimat war. Warum griffen die reichen Deutschen die arme Sowjetunion an? Wertgegenstände, Frauen, Alkohol wurden so als legitime Beute der Sieger angesehen. Die militärische Führung verlor die Kontrolle über die Truppen. Zwar wurden die aufgegriffenen schuldigen Soldaten und ihre Offiziere später bestraft, aber das änderte wenig an ihrem Verhalten. Die angeblich höhere „kommunistische Moral“ konnte sich nicht durchsetzen.6 Nach den Russen kamen im Mai 1945 Hunderte Vertriebene aus der Tschechoslowakei in das Dorf. Tausend deutsche Invaliden und 700 blinde Soldaten machten hier Station.7 Ende 1945 wurde in unserem Nachbarhaus eine Radio- und Wetterstation mit vier Russen eingerichtet. Sie langweilten sich. Mit dem Fahrrad fuhren sie uns Kinder spazieren. Sie waren freundlich, trotzdem spürten wir so etwas wie Angstlust! Die Entnazifizierung meiner Familie griff nicht tief. Mein Vater musste eine finanzielle Sühneabgabe leisten, er wurde für ein paar Tage verhaftet, dann unter Polizeiaufsicht gestellt, die Geschäftsleitung wurde meiner Mutter übergeben. 1949 war alles vorbei. Ein Sittenzeugnis der Gemeinde stellte fest, dass über den Kaufmann Ernst Hanisch nichts Nachteiliges bekannt sei und „keine Strafen vorgemerkt sind“.8

IV. 1959 begann ich mein Studium der deutschen Literatur und Geschichte an der Universität Wien. Dort lehrten ehemalige Nationalsozialisten und zurückgekehrte Emigranten nebeneinander. Keiner von ihnen sprach über die eigenen Lebenserfahrungen. Mein Schwerpunkt lag zunächst bei der Literatur. Ich wollte als leidenschaftlicher Zeitungsleser Journalist werden. Die beiden Germanisten, beide ehemalige Nationalsozialisten, waren von einer lähmenden Langeweile. So verlagerte sich mein Interesse auf die Geschichte. Ich hatte Glück. 1959 war Friedrich Engel-Janosi, jüdischer Herkunft, aber aus religiösen Gründen zum Katholizismus konvertiert, aus den USA nach Wien zurückgekehrt. Er brachte die Aura der Wiener „zweiten Gesellschaft“ aus der Zeit der Monarchie und den Duft der großen Welt in die in-

6 7 8

Barbara Stelzl-Marx (2012): Stalins Soldaten in Österreich. Die Innenansicht der sowjetischen Besatzung 19451955, Wien, 309–465. Schweitzer (1995), 101, 106. Hanisch (2011), 274.

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tellektuell arme Universität.9 Es mag Zufall gewesen sein, dass Engel-Janosi gerade 1959 seine Professur in Wien antrat, dass er später ein Seminar über „Widerstand in der Geschichte“ anbot, es war kein Zufall, dass ich das Thema am „20. Juli 1944“ wählte. Nach meiner Erinnerung bewog mich weniger die Erfahrung mit meinem Nazi-Vater zu dieser Themenwahl als die Frage: Was veranlasste einen Hochadeligen, einen verheirateten hohen Offizier mit Familie zu einem, wenn auch gescheiterten, Attentat auf Hitler. Unbewusst spielte wohl doch meine Nazi-Familie mit. Das Thema „Widerstand“ erlaubte es mir, mich mit der „richtigen Seite“ zu identifizieren. Mein Vortrag war ein Erfolg und Engel-Janosi nahm mich in seinen engeren Schülerkreis auf. Claus Schenk Graf Stauffenberg gehörte zum elitären GeorgeKreis, für den auch Engel-Janosi, wie viele Juden, eine gewisse Sympathie hatte. Auf eine Nebenbemerkung in seiner Vorlesung hin, man müsse das Verhältnis von Stefan George zum Nationalsozialismus näher untersuchen, griff ich zu. Ich schrieb meine Dissertation über „Stefan George und der Nationalsozialismus“, eine von heute her gesehen, ziemlich missglückte Arbeit. Engel-Janosi war methodisch auf die Geistesgeschichte orientiert. Ich teilte diese Vorliebe, weil sie es möglich machte, mein Interesse für die Literatur und die Historie zu verbinden. Dass die internationale Tendenz längst zur Sozialgeschichte drängte, habe ich damals nicht mitbekommen. Erst später lernte ich Carl Schorske persönlich und sein Werk kennen, was mir eine ganz andere Form der Geistesgeschichte aufschloss – als „social and intellectual history“.10

V. 1964 ging ich mit Erika Weinzierl, die sich gerade mit Studien zum katholischen Antisemitismus und über die Katholischnationalen profiliert hatte, nach Salzburg. Sie beauftragte mich, das Verhältnis zwischen den Sozialkatholiken und den Sozialisten im 19. Jahrhundert zu untersuchen. Das Thema beschäftigte mich viele Jahre. Ich kannte das katholische Denken, in die marxistische Theorie musste ich mich erst einarbeiten. In den sechziger Jahren setzte in der Geschichtswissenschaft und im öffentlichen Diskurs ein Paradigmenwechsel ein. Der undogmatische Marxismus wurde für viele Intellektuelle attraktiv. Die Sozialwissenschaften übten eine große Anziehungskraft aus. Die 68er-Bewegung kritisierte jede, auch die universitäre Autorität. Innerkatholisch hatte das „Zweite Vatikanische Konzil“ die dogmatische Enge der Kirche aufgebrochen. Meine Position in dieser Umbruchsphase kann ich im Rückblick so definieren: - Ich wurde ein Marxerxperte ohne Marxist zu sein. Davor bewahrte mich die Wissenschaftstheorie von Karl R. Popper. Dieses kritische Potenzial leitet mich bis heute, das 9 10

Friedrich Engel-Janosi (1974): „.., aber ein stolzer Bettler. Erinnerungen, Graz. Carl E. Schorske (1980): Fin de Siècle Vienna. Politics and Culture, New York.

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Misstrauen gegenüber jeder Dogmatik. Das stärkte später auch meine Skepsis gegenüber dem „linquistic turn“ und dem radikalen Konstruktivismus.11 - Ich gehörte zur 68er-Generation, war aber kein 68er-Aktivist. Das revolutionäre Pathos war mir fremd, als Popperianer setzte ich auf Evolution. Den Aufstand gegen die eigenen Naziväter konnte ich nachvollziehen, aber gegen den toten Vater kann man schlecht revoltieren. Herbert Marcuse freilich, dem ich in Salzburg begegnete, hatte mich fasziniert. Die „sexuelle Revolution“ sah ich als Befreiung von der verstaubten, verschrobenen katholischen Sexualmoral. - Methodisch ging der stärkste Einfluss von der Bielefelder Schule, von Hans-Ulrich Wehler, von der Historischen Sozialwissenschaft, ergänzt durch die französische Annales-Bewegung aus. Das Paradigma „Gesellschaftsgeschichte“ – die gleichgewichtige Dimension von Wirtschaft, Politik, Kultur – überzeugt mich bis heute und bestimmte auch meine Studie über den Nationalsozialismus. 1975 erschien mein erstes Buch „Konservatives und Revolutionäres Denken. Deutsche Sozialkatholiken und Sozialisten im 19. Jahrhundert“.12 Aus diesem Umkreis entstand meine Habilitationsschrift „Der kranke Mann an der Donau. Marx und Engels über Österreich“.13 Der vornehme, marxistische Schumpeter-Schüler Eduard März, ein Heimkehrer aus den USA, schrieb das Vorwort.

VI. Bis Ende der siebziger Jahre war bei mir das Thema „Nationalsozialismus“ wissenschaftlich verschwunden. Nun tauchte es mit Vehemenz wieder auf. Konkret und auf die Region bezogen, wo ich wohnte, auf Salzburg. Es war wenige Jahre vor der „Waldheim-Krise“, es lebten noch viele alte Nazis in Salzburg, der Zugang zu den Archiven war schwierig. Ich konnte noch hohe NS-Funktionäre interviewen, das brachte empirisch wenig, aber ich gewann Einblick im ihre Mentalität. Niemand verteidigte die NS-Herrschaft als Ganzes, nur einzelne Teilbereiche. Niemand hatte aber auch ein Schuldgefühl. Sie waren alle anständig. Bei meinen Vorträgen saßen damals meist auch einige alte Nazis im Publikum, die meine Kompetenz bestritten, weil ich die NS-Zeit nicht selbst erlebt habe. Warum griff ich damals, das NS-Thema auf? Es war wohl das Erinnerungsjahr 1978, vierzig Jahre „Anschluss“, das mich motivierte. Der damals führende NS-Forscher Gerhard Botz wurde nach Salzburg berufen. Wir beide bildeten ein Tandem, das zwischen Tür und Angel Meinungen austauschte. Er war zuständig für Wien 11 12 13

Ernst Hanisch (1996): Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Kulturgeschichte Heute, Göttingen, 212–230. Ernst Hanisch (1975): Konservatives und Revolutionäres Denken. Deutsche Sozialkatholiken und Sozialisten im 19.Jahrhundert, Wien. Ernst Hanisch (1978): Der kranke Mann an der Donau. Marx und Engels über Österreich, Wien.

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und Gesamtösterreich, ich für Salzburg. Beide hatten wir Naziväter. Das wurde zwar kaum erwähnt, war aber wohl nicht unwichtig. Mein Theoriedesign bestand aus der damals vieldiskutierten Modernisierungstheorie. Wie weit hatte der Nationalsozialismus in Österreich modernisierende Effekte ausgelöst? Weiters das Bemühen, die verschlafene Landesgeschichte in eine sozialwissenschaftlich aufgerüstete Regionalgeschichte umzuwandeln. Die französischen Annales hatten gezeigt, dass eine genaue, dichte Analyse einer Region neue historische Erkenntnisse bringen konnte.14 Hinzu kam dann die von dem norwegischen Sozialwissenschaftler Stein Rokkan angeregte Zentrum-Peripherie-Problematik, in meiner Version als Metropole (Wien) – Provinz (Salzburg) – Spannungen mit ihren österreichspezifischen Dimensionen.15 Nicht zuletzt war es die von dem führenden deutschen Zeitgeschichtler Martin Broszat ausgelöste Debatte über die Historisierung des Nationalsozialismus.16 Mit diesem Theoriepaket begann ich die Arbeit über die NS-Herrschaft in Salzburg. Mir ging es primär um die theoretisch inspirierte Rekonstruktion der NS-Herrschaft als Gesellschaftsgeschichte. Ich war und bin noch immer überzeugt, dass man den Nationalsozialismus nicht allein vom Holocaust her erklären kann, aber diesen ebenso wenig aus dem Auge verlieren darf. Ich wollte die Dynamik dieser NS-Herrschaft in der Provinz erklären, jene „kumulative Radikalisierung“ (Hans Mommsen) die letztlich zu den beispiellosen Verbrechen des Regimes führte.17 Vieles blieb bei diesem Ansatz ausgespart. Die Opfer wurden zwar angesprochen, aber zu wenig genau analysiert, das hatte die nächste Forschergeneration kritisiert und nachgeholt. Mein Beispiel für die „kumulative Radikalisierung“ war das „Zigeunerlager“ in Salzburg. Roma und Sinti waren schließlich die größte Opfergruppe in Österreich, mehr als zwei Drittel von ihnen wurden ermordet. In meinem Buch entwickelte ich zwei theoretische Leitfiguren. 1. Die Entprovinzialisierungsthese: Die erste Phase der NS-Herrschaft in Salzburg kann als tendenzielle Entprovinzialisierung interpretiert werden. Dieser Aufstand der Provinz richtete sich zunächst gegen Wien (kosmopolitisch, jüdisch, arrogant). Die Parteielite, das Besitz- und Bürgertum, die kleinbürgerlichen Schichten hofften die Enge, das ökonomisch Beschränkte der Provinz loszuwerden. Wie es der Salzburg NS-Chefideologie formulierte: „... arbeiten mit den Mitteln des Reiches! Schluß mit der Kleinkrämerei …“.18 Die Provinz 14

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Andrè Burguière (2009): The Annales School. An Intellectual History, London; Ernst Hanisch (2000): Die Geschichte denken: Marc Bloch, in: Ulrich Müller (Hg.): Im sechsten Jahr des Drachen. Lektüre-Empfehlungen für das neue Jahrhundert, Göppingen, 13–22. Stein Rokkan (1970): Citizens, Elections, Oslo. Martin Broszat (1988): Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in: Hermann Graml / KlausDietmar Henke (Hg.): Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München. Ernst Hanisch (1997): Gau der guten Nerven. Die nationalsozialistische Herrschaft in Salzburg 1938–1945, 2. Aufl., Salzburg. Hanisch (1997), 11.

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erwartete ökonomische und politische Erfolge, ohne das eigene kulturelle Selbstverständnis aufzugeben. Man konnte von Blut und Boden träumen und dennoch die Landwirtschaft vehement technifizieren. 2. Die These einer „regressiven Modernisierung“: Der Industrialisierungsprozess wurde verstärkt; der Westen konnte sich gegenüber Wien deutlich profilieren; der Urbanisierungsund Bürokratisierungsprozess beschleunigte sich; der Agrarsektor verlor personell wie wertschöpferisch an Bedeutung; die Säkularisierung – Trennung von Staat und Kirche – hatte zunächst großen Erfolg; die Verbesserung der Transportwege, die Automobilisierung, der Einsatz moderner Kommunikationsmittel, die Einbeziehung entlegener Gebiete in den ökonomischen „Markt“, die entschiedene Leistungsgesinnung zeigten modernisierende Effekte. Doch es war nur eine regressive, eine kastrierte, eine halbe Moderne. Am deutlichsten zeigte sich das beim massiven Einsatz der Sklavenarbeit. Der wissenschaftlich verbrämte Rassismus förderte nicht einen rationalen Denkstil, sondern gebar einen neuen Mystizismus – der zu schwer vorstellbaren Verbrechen führte. Die pluralistischen gesellschaftlichen Strukturen wurden zerschlagen zugunsten einer fiktiven arischen „Volksgemeinschaft“. Der Ausnahmezustand löste die im Recht gegründeten menschlichen Beziehungen weitgehend auf. Die moderne Kunst wurde zerstört, zugunsten eines zwanghaften, überholten klassisch-romantischen Ideals. Kurz: Die Regression forderte Millionen Opfer. Ich ging von einem sozialwissenschaftlichen Theoriepool aus. Aber im Hintergrund stand unbewusst mein Nazivater: Ein Foto, das ihn in der Parteiuniform zeigt, das überdeutlich das neue Selbstbewusstsein des Provinz(klein-)bürgers ausdrückte; ein Satz, den ich im Ohr habe: Mein geschäftlich unbegabter Vater träumte davon, dass er bei einem deutschen Sieg im Weltkrieg eine größere Firma im Osten hätte leiten können. Die Vertreibung und Ermordung der Ostvölker erwähnte er dabei nicht. Die Nazi-Familie motivierte auch meine primäre Fragestellung: Was brachte die Menschen dazu, in die NSDAP einzutreten? Herkunft, Klasse, Religion, politische Einstellung vor dem Eintritt, Hoffnung auf Verbesserungen der Lebenschancen, Erfahrungen mit der ökonomischen Krise, mit dem chaotischen politischen System der Erste Republik, Karrieregeilheit, Machtlust und und? Ich wollte nicht mein wissenschaftliches Leben lang den Nationalsozialismus erforschen. Aber bei allen anderen meiner Bücher über die Geschichte des 20. Jahrhunderts – „Männlichkeiten“, eine Biografie des Politikers und Intellektuellen Otto Bauer, jetzt: „Österreichische Landschaften“ – stieß ich immer auf den Nationalsozialismus. Ich werde dieses Thema wohl nicht mehr los werden.

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Ein glamouröser Fall am Sondergericht Feldkirch

Für Kriminal-Oberassistent Eduard Röhlin von der Gestapo-Außenstelle Bregenz1 gab es im Sommer 1942 viel zu tun. Die Gendarmerie hatte gemeldet, dass bei der Dornbirner Firma Herrburger & Rhomberg, einem der führenden Textilunternehmen des Landes, möglicherweise Schwarzschlachtungen stattfinden würden. Daraufhin begab sich Röhlin am 7. Juni nach Dornbirn in die Dienststelle der Gendarmerie, wohin er den bei Herrburger & Rhomberg tätigen Fabriksarbeiter Alois Bröll – die Quelle des Gerüchts – vorgeladen hatte. Bröll berief sich in seinem Bericht auf eigene Beobachtungen bzw. auf Gerede unter der Belegschaft. Es ging darin um Fleischlieferungen, die der Leiter der Betriebsküche, die seine Firma unterhielt, vermutlich über den Leiter des Ernährungsamtes beim Landratsamt in Feldkirch beziehe. In der Küche werde Fleisch gekocht – der Geruch verrate es –, aber es werde dann eingedost. Offiziell sei die Werksküche seiner Firma nur eine Suppenküche, für die Belegschaft gäbe es gar kein Fleisch. Dieses verschwinde in einer versperrten Kammer bzw. werde unter der Hand an einige auserwählte Betriebsangehörige verteilt. Einige Tage später, am 12. Juni, vernahm Röhlin den Nachtwächter von Herrburger & Rhomberg, der Brölls Anschuldigungen im Wesentlichen wiederholte, allerdings meinte, dass die Suppe für die Firmenangehörigen zwar einmal pro Woche ein bisschen Fleisch enthalte, seiner Meinung nach aber viel zu wenig für die Fleischmarken im Wert von 50 Gramm, die man wöchentlich abgeben müsse.2 Für Röhlin wog das, was er in Erfahrung gebracht hatte, schwer genug, um den für die Suppenküche verantwortlichen Platzmeister Erwin Amann zu verhaften. Er durchsuchte auch das Lebensmittellager von Herrburger & Rhomberg, wo er über 500 kg Fleisch- und Wurstwaren entdeckte – ein Vorrat, der angesichts der kriegsbedingten Lebensmittelrationierung verdächtig war: Die Firma brachte mit ihrer Suppenküche nicht viele Fleischmarken zusammen, und die mussten beim nächsten Einkauf ja wieder abgegeben werden. Amanns Erklärungen, wonach er sich das Fleisch vom Landratsamt zuweisen lasse, das – da es sich

1

2

Genau genommen handelte es sich um das Grenzkommissariat Bregenz, das zugleich Außenstelle der Staatspolizeistelle Innsbruck war. Wilfried Beimrohr (2002): „Gegnerbekämpfung“ – Die Staatspolizeistelle Innsbruck der Gestapo, in: Rolf Steininger / Sabine Pitscheider (Hg.): Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 19), Innsbruck/Wien/München/Bozen, 131–150, 138. Gestapo/Greko Bregenz, Vermerk, 30.5.1942; Vernehmungsniederschrift (Alois Bröll), 7.6.1942; Vernehmungsniederschrift (Franz Walch), 12.6.1942. Vorarlberger Landesarchiv (VLA), LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 1–4.

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um solches minderwertiger Qualität aus Notschlachtungen handle – um die halbe Markenmenge und zum Teil sogar ganz markenfrei zu beziehen sei, überzeugten nicht.3 Zwei Tage nach Amann, am 15. Juni, ließ Röhlin einen zweiten Verdächtigen vorläufig in Bregenz in Gewahrsam nehmen: Leopold Bachmann, dem im Ernährungsamt B im Landratsamt Feldkirch schon seit längerem allein die Erfassung und Verteilung des sogenannten Freibankfleisches im Kreis unterstand.4 Bereits in der ersten Einvernahme ging es um zweierlei Dinge. Bachmann musste erklären, wie er bei diesem außertourlich anfallenden Fleisch, für das die Großküchen von Unternehmen und Kriegsgefangenenlagern im Kreis als potenzielle Abnehmer vorgesehen waren, konkret agierte; er musste sich aber auch zu Stofflieferungen äußern, die er bzw. seine weiblichen Schreibkräfte via Erwin Amann von Herrburger & Rhomberg – völlig regulär, wie er versicherte – bezogen hatten.5 Neben den beiden Inhaftierten führte Röhlin innerhalb der nächsten Tage mit acht weiteren Personen offizielle Vernehmungen durch. Er sprach mit Bachmanns Ehefrau, mit jenen vier Landratsangestellten, die zusammen mit Bachmann Stoffe eingekauft hatten, mit dem Dornbirner Metzger, der für Herrburger & Rhomberg immer das Fleisch zerlegte, mit der Köchin der Firma, und auch den Firmenleiter Theodor Rhomberg ließ er vorladen. Erwin Amann hatte zu Protokoll gegeben, dass er jedes Mal, wenn Bachmann ihm ein Stück notgeschlachtetes Vieh anbot, die Erlaubnis seines Chefs für den Einkauf eingeholt habe. Dieser habe auch die Stoffgeschäfte mit dem Landratsamt genehmigt. Theodor Rhomberg bestätigte die Aussagen seines Platzmeisters, den er als äußerst verlässlich beschrieb. Er sei wie Amann von der Korrektheit aller Vorgänge ausgegangen, schließlich dürfe man beim Ernährungsamt doch erwarten, dass es die Bestimmungen richtig anwende.6 Alle bisherigen Ergebnisse fasste Röhlin nun für die Gestapo-Zentrale in Innsbruck in einem Ermittlungsbericht zusammen. Weil nur die Suppenküche existierte, habe sich Erwin Amann mit Wissen seines Chefs, der es nicht verhinderte, zwischen Juli 1941 und Mai 1942 3 4

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Gestapo/Greko Bregenz, Vernehmungsniederschrift (Erwin Amann), 12.6.1942 u. 15.6.1942. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 5–7, 12–16. OStA beim LG Feldkirch an GenStA beim OLG Innsbruck, Bezug: Fernmündl. Berichtsauftrag, 14.7.1942. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 5 (Staatsanwaltschaft Feldkirch, Handakten mit Hauptakt), Bl. 1–7. Gestapo/Greko Bregenz, Vernehmungsniederschrift (Leopold Bachmann), 15.6.1942. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 10–11. Gestapo/Greko Bregenz, Vernehmungsniederschrift (Cilli Speckle), 16.6.1942; Vernehmungsniederschrift (Rosa Demattia), 16.6.1942; Vernehmungsniederschrift (Herta Büchel), 16.6.1942; Vernehmungsniederschrift (Grete Wiedemann), 16.6.1942; Vernehmungsniederschrift (Leopold Bachmann), 17.6.1942; Vernehmungsniederschrift (Ing. Theodor Rhomberg), 18.6.1942; Vernehmungsniederschrift (Albert Model), 18.6.1942; Vernehmungsniederschrift (Maria Hämmerle), 18.6.1942; Vernehmungsniederschrift (Leopold Bachmann), 20.6.1942; Vernehmungsniederschrift (Mathilde Bachmann), 20.6.1942. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 17–30.

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„ohne jeden Anspruch“ elf Stück Großvieh, drei Schweine und ein Kalb von Bachmann zuteilen lassen. Auch sei die Befolgung der bestehenden Bestimmungen, wonach für Freibankfleisch der halbe Markenwert zu verrechnen war, zum größten Teil unterblieben. Dadurch sei der Bevölkerung „im Laufe eines Jahres ungeheure Mengen frischen Fleisches“ vorenthalten worden bzw. „eine entsprechende Einsparung“ beim Schlachtvieh sei unterblieben. Röhlin verknüpfte diese Schlussfolgerung mit einem Hinweis auf die Stimmung in der Bevölkerung, die „zur Zeit stark von der Lebensmittel-Zuteilung ab[hänge]“ – eine Anspielung auf die im Frühjahr 1942 erfolgte Herabsetzung der Lebensmittelzuteilungen. Die darüber reichsweit auftretende Unzufriedenheit mit der Versorgungslage7 war auch den beiden Firmenangehörigen, deren Aussagen am Anfang der Gestapo-Untersuchungen standen, deutlich anzumerken gewesen. Mit Sicherheit, fuhr Röhlins Bericht fort, sei darüber hinaus anzunehmen, dass zwischen den Stoff- und der Bevorzugung bei den Fleischlieferungen ein Zusammenhang bestand, zumal der Kleinverkauf von Herrburger & Rhomberg im Normalfall den Betriebsangehörigen und deren Familien vorbehalten blieb. Bei den Textilwaren waren zudem weitere Unregelmäßigkeiten ans Tageslicht gekommen. Die Schreibkräfte im Umfeld von Bachmann hatten übereinstimmend gestanden, für ihre eingekauften Stoffe zwar bezahlt, aber großteils keine Kleiderkartenpunkte abgegeben zu haben (während Erwin Amann darauf bestand, sie stets von Bachmann in vollem Umfang erhalten zu haben). Dazu passte, dass gemessen an seinen nachgewiesenen Bestellungen auch die Kleiderkarten von Bachmann selbst, seiner Frau und ihren beiden Söhnen einen viel zu hohen Punktewert aufwiesen, wie die Kontrolle ergab. Hierüber befragt, hatte sich Bachmann bei den Verhören in Widersprüche verwickelt und schließlich zugegeben, bereits verwendete Kleiderkartenpunkte, die an das Landratsamt zurückgeschickt worden waren, unrechtmäßig beschafft und für sich und seine Kolleginnen verwendet zu haben.8 Insgesamt – bilanzierte Röhlin seine Eindrücke – trachte Bachmann mehr zu verbergen als Amann. Auch eine politische Einschätzung der drei Hauptverdächtigen durfte nicht fehlen. Über sie hieß es am Ende des Berichts: „Bachmann ist seit März 1938 Parteianwärter, jedoch ehemaliger Marxist, der das ihm seitens des Landesernährungsamtes […] geschenkte Vertrauen gröblich missbraucht hat. Über Amann, der Parteigenosse ist und seit 1934 der SA. angehört, ist in keiner Beziehung Nachteiliges bekannt. Der Betriebsführer Rhomberg ist illegaler Kämpfer und Kreissportführer. Nachteiliges liegt auch gegen ihn nicht vor.“9 7 8

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Heinz Boberach (Hg.) (1984): Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938–1945, Bd. 9, Herrsching, 3504f. Bei einer späteren Vernehmung nahm er dieses Eingeständnis wieder zurück. LG Feldkirch (LGRat Dr. Morscher), Vernehmung des Beschuldigten Leopold Bachmann, 29.6.1942. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 47–51. Gestapo/Greko Bregenz, Ermittlungsbericht, 21.6.1942. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 35–36.

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Tatsächlich hatte die Gestapo mit dem 45-jährigen Theodor Rhomberg nicht nur ein Mitglied der Vorarlberger Wirtschaftselite, sondern auch eine exponierte Figur der nationalsozialistischen Bewegung der 1930er Jahre im Visier. Das 1795 gegründete Unternehmen Herrburger & Rhomberg gehörte zu jenen big players, die den Aufstieg Vorarlbergs zu einem Industrieland – mit Dornbirn als dessen Zentrum – wesentlich mitgestaltet hatten. Die Firma betrieb außer ihren lokalen Standorten weitere Spinnereien und Webereien in Tirol sowie eine Wiener Zweigstelle. Auch in den schlimmsten Jahren der Weltwirtschaftskrise beschäftigte sie selten weniger als 1.000 Menschen, von denen jedoch nur der kleinere Teil in Dornbirn arbeitete. Ende 1941 umfasste die Belegschaft am Hauptsitz 150 Männer und 190 Frauen.10 Neben ihrem Nimbus als ökonomischer Drehscheibe erwarb sich Dornbirn, die jüngste, mit ihren 16.650 EinwohnerInnen dennoch größte Stadt des Landes, in den frühen 1930er Jahren einen zweifelhaften Ruhm als „braunes Nest“: Hier befand sich während der legalen und illegalen Zeit der Sitz der Landesleitung der NSDAP, nahezu sämtliche Spitzenpositionen rund um den ebenfalls von hier stammenden Gauleiter Anton Plankensteiner befanden sich bis zum „Anschluss“ in Dornbirner Hand, von hier aus formierte sich die Vorarlberger SA, nach Dornbirn weisen die Anfänge der Vorarlberger SS und nirgendwo sonst in Vorarlberg nahmen die Tumulte und der Terror der Jahre 1933/34 ein schlimmeres Ausmaß an. Was dem Nationalsozialismus in Dornbirn den Rücken stärkte, war die Haltung der Fabrikanten. Im völkischen Lager verwurzelt, entwickelten sie sich zu entschiedenen Nationalsozialisten. Dank ihrer gesellschaftlichen Position waren die Spielräume für die Unterstützung der NSBewegung groß. Sie agierten als Geld- und vor allem Arbeitgeber im Hintergrund; über alle Systembrüche des 20. Jahrhunderts hinweg übernahmen die Fabrikanten aber auch Ämter und Funktionen, um im Sinne ihrer Weltanschauung bzw. im Interesse ihrer Unternehmen in die Politik einzugreifen. In der Zeit der Illegalität war es Theodor Rhomberg, der am stärksten direkt mitmischte (im Unterschied zu einigen anderen aus dem Kreis der Dornbirner Fabrikanten aber Vorstrafen und Haft entging): Bis ihn die ständestaatlichen Behörden 1935 absetzten, leitete der begeisterte Sportler den als Knotenpunkt der NS-Bewegung einschlägig ausgewiesenen Vorarlberger Schiverband – die Grundlage für seinen späteren Aufstieg zum NS-Landessportführer –, und 1934 fungierte er für ein halbes Jahr als Stellvertreter des in Wöllersdorf inhaftierten Gauleiters.11 Nach dem „Anschluss“ tat sich ein weiteres Familienmitglied in Sachen öffentlichem Engagement besonders stark hervor: Rhombergs Bruder Lo-

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Ingrid Böhler (2005): Dornbirn in Kriegen und Krisen 1914–1945 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 23), Innsbruck/Wien/Bozen, 64; Monatsbericht über den Stand der Gemeinschaftsverpflegung (Herrburger & Rhomberg), 26.11.1941. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 3 (ohne Bez.), Bl. 40. Böhler (2005), 57, 71–75, 123–149. Hierzu auch die Karteikarten von Theodor Rhomberg. Tiroler Landesarchiv (TLA), Verbände und Parteien, Parteistatistische Erhebungen 1939 sowie Erinnerungsmedaille 13.3.1939.

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renz, Leiter der Wiener Zweigstelle der Firma, reüssierte als ranghoher wirtschaftspolitischer Multifunktionär.12 Auch der 1906 geborene, seit dem „Anschluss“ als Zellenleiter für die Partei tätige Erwin Amann darf zum harten Kern der NS-Aktivisten im „braunen Nest“ gezählt werden. Parteiinterne Erhebungen aus dem Jahr 1939 datieren seinen Eintritt in die SA auf April 1933, sie belegen außerdem eine Arreststrafe und führen ihn als einen jener ortsbekannten Nazi-Anhänger, die im Gefolge des „Juliputsches“ 1934 bei einer „Strafaktion“ von Heimatwehrmännern schwer verprügelt wurden.13 Ins Bild passt, dass Amann, der infolge der Weltwirtschaftskrise in seinem erlernten Beruf als Steinmetz keine Arbeit mehr gefunden hatte, bei einem weiteren Dornbirner Textil-Großunternehmen mit einschlägiger Personalpolitik beschäftigt gewesen war, bevor er 1938 bei Herrburger & Rhomberg anfing.14 Beim Parteianwärter Leopold Bachmann waren die Dinge komplizierter. Seine Annäherung an die NSDAP – so darf wohl angenommen werden – erfolgte eher aus Gründen der Anpassung; nicht zuletzt weil für den 50-Jährigen, der 1910 in Feldkirch in den Kommunaldienst eingetreten war, die Machtübernahme der Nazis eine berufliche Krise auslöste. In jungen Jahren, von 1918 bis 1925 Mitglied der sozialdemokratischen Partei und in der Zeit auch als Gemeindevertreter wirkend, leitete Bachmann von 1919 bis 1938 das Arbeitsamt seiner Heimatstadt. Unter den Nazis verlor er zunächst den Leiterposten, im März 1939 schließlich den Arbeitsplatz.15 Mit Ausbruch des Krieges machte sich in der öffentlichen Verwaltung jedoch rasch ein drückender Mangel an qualifiziertem Personal bemerkbar, der dem zweifachen Familienvater zu einem Comeback verhalf. Mit Jahresbeginn 1940 erhielt er eine Anstellung im Landratsamt. Dort gab man sich überzeugt, dass Bachmann „die ‚neue Zeit‘ und ihre Forderungen zu verstehen gelernt“ habe. Bald schon avancierte er im Ernährungsamt in die Position eines stellvertretenden Abteilungsleiters.16 12 13 14 15

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Siehe Fußnote 30. Karteikarten von Erwin Amann. TLA, Verbände und Parteien, Parteistatistische Erhebungen 1939 sowie Erinnerungsmedaille 13.3.1939; Böhler (2005), 143f. LG Feldkirch (LGRat Dr. Morscher), Vernehmung des Beschuldigten Erwin Amann, 26.6.1942. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 42–46. Personalbogen, 31.1.1940 und 15.7.1940; Bürgermeister der Stadt Feldkirch an den Landrat des Kreises Feldkirch, 11.12.1939; Arbeitsamt Bregenz an den Landrat des Kreises Feldkirch, 30.3.1940; Landrat des Kreises Feldkirch an Leopold Bachmann, 12.3.1942. VLA, BH Feldkirch, Personalakt Bachmann Leopold. In den Quellen wird seine Position unterschiedlich bezeichnet. Landrat des Kreises Feldkirch an Leopold Bachmann, 12.12.1939; Landrat des Kreises Feldkirch an Landeshauptmannschaft Vorarlberg, 12.12.1939; Fragebogen zur Dienstzeitberechnung für die Beantragung des Treudienst-Ehrenzeichens, 10.12.1941. VLA, BH Feldkirch, Personalakt Bachmann Leopold; Gestapo/Greko Bregenz, Vernehmungsniederschrift (Reg. Dir. a. D. Leo Graf ), 19.10.1942. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 91. Zum Ausbau der öffentlichen Verwaltung in der Kriegszeit siehe Ulrich Nachbaur (2000): Gesetzgebung und Verwaltung, in: Franz Mathis / Wolfgang Weber (Hg.): Vorarlberg. Zwischen Fußach und Flint, Alemannentum und Weltoffenheit (Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945/Schriftenreihe des Forschungsinstitu-

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Springen wir nun wieder in den Sommer 1942: Obwohl die Gestapo ihre Ermittlungen noch nicht abgeschlossen hatte, wurde mit dem oben erwähnten Bericht die Angelegenheit dem Landgericht Feldkirch übergeben, dazu gehörte auch die Überstellung der beiden Gefangenen am 24. Juni in die dortige Haftanstalt.17 Während nun Röhlin in den kommenden Tagen weitere Spuren verfolgte und Zeugen befragte, bahnte sich in der Haftanstalt eine Katastrophe an. Leopold Bachmanns Gesundheit war schon seit vielen Jahren durch ein neuralgisches Leiden beeinträchtigt.18 Dem Gefängnis, wo ihn seine Frau nicht besuchen durfte, den Gestapo- und richterlichen Verhören hielt sie nicht stand. Als ihn am 30. Juni auch noch das Kündigungsschreiben des Landrates erreichte,19 Erwin Amann jedoch tags darauf auf freien Fuß gesetzt wurde,20 geriet er offenbar vollends in Panik. Er fühlte sich verfolgt, von allen verraten, zum allein Schuldigen abgestempelt, weinte viel und klagte über unerträgliche Schmerzen. Am Morgen des 6. Juni, knapp einen Monat nach seiner Einlieferung, fand ihn das Wachpersonal erhängt in seiner Zelle.21 „Angst vor einer größeren Gefängnisstrafe“ habe ihn zu dieser Tat getrieben, meinte Röhlin.22 Durch Bachmanns Tod konzentrierte sich für die Staatsanwaltschaft Feldkirch der Fall nun auf die Klärung der Frage, welche Gesetzesverstöße den beiden verbliebenen Hauptverdächtigen nachgewiesen werden konnten. Im Wesentlichen ging es dabei um zwei Punkte: Erstens stand zwar schon unzweifelhaft fest, dass Amann mit Rhombergs Billigung widerrechtlich ca. 2.000 kg Frischfleisch bezogen hatte. Davon war ein geringer Teil konserviert worden. Die Nachforschungen hatten allerdings noch nicht klären können, wohin der Rest (ca. 1.500 kg) verschwunden war. Davon hing jedoch ab, ob das für die Anklage relevante Tatbestandsmerkmal der Böswilligkeit vorlag. Zweitens stand wegen der großzügigen Stofflieferungen der Verdacht der Anstiftung zum Amtsmissbrauch im Raum.23 Aufgrund dieser tes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg 6/4), Wien/Köln/Weimar, 464–521, 487f. 17 Gestapo/Greko Bregenz an OStA beim LG Feldkirch, 24.6.1942. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 38. 18 Personalbogen, 31.1.1940; Leopold Bachmann an LR Dr. Otto, 17.11.1941. VLA, BH Feldkirch, Personalakt Bachmann Leopold. 19 Behändigungsschein, 30.6.42. VLA, BH Feldkirch, Personalakt Bachmann Leopold. 20 OStA beim LG Feldkirch an Herrn Ermittlungsrichter beim Sondergericht hier, 1.7.1942. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 53. 21 VLA, Kriminalstelle Feldkirch: Tagebuch 1942, Tagebuchnummer 441. Bachmann hinterließ zahlreiche, mit Datum versehene Notizen und Nachrichten an seine Familie. Kreuz und quer auf kleine Zettel geschrieben, zeugen sie von seiner zunehmenden Verzweiflung und inneren Zerrüttung. Siehe hierzu VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 58-59 (Abschriften), 79 (Kuvert mit Originalen). 22 Gestapo/Greko Bregenz, Vorläufiger Ermittlungsbericht, 7.7.1942. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 61-64. 23 OStA beim LG Feldkirch an GenStA beim OLG Innsbruck, Bezug: Fernmündl. Berichtsauftrag, 14.7.1942. VLA,

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zweiten inhaltlichen Dimension des Verfahrens ergab sich für die Staatsanwaltschaft eine „Nebenfront“: Ohne einen persönlichen Vorteil daraus zu ziehen, hatte Bachmann dafür gesorgt, dass Angestellte des Landratsamtes markenfrei Stoffe beziehen konnten. Wie sich jedoch im Laufe der Nachforschungen herausstellte, zählten darüber hinaus Verwandte und Bekannte zum Kreis der Nutznießer. Dadurch kam neben Amann und Rhomberg ein Duzend weiterer mutmaßlicher Beteiligter ins Spiel.24 Der Versuch, Licht in all diese Dinge zu bringen, erwies sich als komplexes, für Verzögerungen anfälliges Unterfangen. Viel Zeit kostete etwa, dass die Landesbauernschaft TirolVorarlberg als Gutachterin hinzugezogen wurde. Sie sollte beurteilen, wie hoch der Schwund des Freibankfleisches infolge der Weiterverarbeitung zu den bei Herrburger & Rhomberg vorgefundenen Wurst- und Fleischwaren zu veranschlagen war.25 Außerdem dauerte es Monate bis bei der Gestapo Bregenz die Protokolle von zwei Vernehmungen, die in Trier bzw. Berlin erfolgten, eintrafen. Es handelte sich dabei um die Befragung von Gästen der Feldkircher Wirtin Rosa Katzenmeyer. Die Bekannte Bachmanns hatte nicht nur selber Stoff erhalten, sondern sich auch als Vermittlerin für zwei, damals bei ihr wohnende Familien aus dem „Altreich“ betätigt.26 Erst Mitte August 1943 konnte die Staatsanwaltschaft Feldkirch dem Reichsjustizministerium den über 20-seitigen Entwurf einer Anklageschrift gegen Erwin Amann und Theodor Rhomberg, in der auch die Ermittlungsergebnisse detailliert ausgeführt waren, sowie ein Begleitschreiben, das die geplanten Maßnahmen gegen Amann, Rhomberg und die übrigen Beteiligten erklärte, vorlegen.27 Bis dorthin hatten sich die vorgesetzten Dienstbehörden – das Reichsjustizministerium in Berlin als oberste und die Generalstaatsanwaltschaft in Innsbruck als mittlere Instanz – wiederholt nach dem Stand des Verfahrens und den Gründen, die einem Abschluss im Wege standen, erkundigt.28 Die Rechtsprechung unterlag vielfältiger Kontrolle durch das NS-Regime: In gewisser LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 5 (Staatsanwaltschaft Feldkirch, Handakten mit Hauptakt), Bl. 1–7. 24 OStA beim LG Feldkirch an Landrat in Feldkirch, 9.9.1943. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 5 (Staatsanwaltschaft Feldkirch, Handakten mit Hauptakt), ohne Paginierung im Fasz. hinten. 25 OStA beim LG Feldkirch an Landesernährungsamt Abt. A, Salzburg, 21.3.1943; Landesbauernschaft Tirol-Vorarlberg, Innsbruck, an OStA beim LG Feldkirch, 17.7.1943. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 93, 98. 26 Gestapo/Greko Bregenz an OStA beim LG Feldkirch, 13.4.1943 (darin enthalten zwei Vernehmungsprotokolle, Trier, 9.12.1942, bzw. Berlin, 31.3.1943). VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 94–97. 27 OStA beim LG Feldkirch an RMJ durch GenStA beim OLG Innsbruck, 10.8.1943. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 5 (Staatsanwaltschaft Feldkirch, Handakten mit Hauptakt), Bl. 20-40. 28 Die erste diesbezügliche Nachfrage stammte von der Generalstaatsanwaltschaft und datierte vom 1.9.1942, die letzte vor der offiziellen Anklageerhebung vom 5.8.1943. GenStA beim OLG Innsbruck an OStA beim LG Feldkirch, 1.9.1942; RMJ an OStA beim LG Feldkirch, 5.8.1943. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 5 (Staatsanwaltschaft Feldkirch, Handakten mit Hauptakt), Bl. 8, 43.

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Weise im Widerspruch zum Prinzip des „Führerstaates“ blieb zwar die Unabhängigkeit des Richter, verstanden als ausschließlich dem Gesetz bzw. eigenen Gewissen verpflichtete Weisungsungebundenheit, formal unangetastet. Allerdings relativierte sich die richterliche Freiheit – neben der politischen Selbstinstrumentalisierung – durch verschiedene Druckmittel. Den gravierendsten Eingriff stellte dabei die im April 1942 geschaffene Möglichkeit der Amtsenthebung von Richtern dar, die in der Ausführung ihrer Tätigkeit zu wenig regimekonform agierten. Als wichtigster diesbezüglicher Hebel fungierten jedoch die Staatsanwaltschaften: Die Anklagebehörde übte auf den Verlauf eines Strafverfahrens entscheidenden Einfluss aus, stand aber im Unterschied zu den Richtern in einem weisungsabhängigen Verhältnis zum Reichsjustizministerium. Die Staatsanwaltschaften hatten umfassende Berichts- und Mitteilungspflichten zu erfüllen, um eine linientreue Durchführung der Strafprozesse mit strenger Bestrafung und massiver Generalprävention zu garantieren bzw. zu beaufsichtigen und eventuell durch Einzelweisungen zu korrigieren. Genaue Vorgaben regelten, wann Ermittlungsverfahren aufgrund bestimmter Delikte (darunter das Gros der Straftatbestände, die vor Sondergerichten zu verhandeln waren) bzw. Tätergruppen (darunter BeamtInnen und Parteimitglieder) nach Berlin gemeldet werden mussten, wobei der Berichtsweg über die Generalstaatsanwaltschaften führte.29 Auch im vorliegenden Fall war das Reichsjustizministerium unmittelbar nachdem die Staatsanwaltschaft Feldkirch das Verfahren übernommen hatte, im Juli 1942 in Kenntnis gesetzt worden: „Ein Beamter des Ernährungsamtes Feldkirch (Vorarlberg) wurde von der Gestapo verhaftet. Er hat angeblich der Firma Herburger [sic] & Rhomberg ein übergroßes Kontingent an Rindvieh zugeschoben. Ebenso hat er Kleiderkarten gestohlen. Gestapo teilt mit, daß die Erhebungen noch im Zuge sind, daß sich aber bereits verschiedene Paten gemeldet haben. Der Firmeninhaber Rhomberg soll in Wien in der Wirtschaft eine große Rolle spielen.“ 30 Der Umstand, dass dem Reichsjustizministerium 13 Monate später die Anklageschrift zuging, diente also dem Zweck vorschriftsgemäß zu informieren, v. a. jedoch um das Einver-

29 Oskar Gerhard Vurgun (2014): Die Staatsanwaltschaft beim Sondergericht Aachen, rechtswiss. Diss. Salzburg, 184–241. 30 GenStA beim OLG Innsbruck, Tagesmeldung [vermutl. Transkript der fernmündlichen Mitteilung], 24.6.1942. Bundesarchiv (BA) Berlin, Reichsjustizministerium, R 3001/163264, Bl. 5 (ursprünglich Bl. 1). Theodor Rhomberg wurde hier offensichtlich mit seinem in Wien ansässigen Bruder Lorenz, ebenfalls Firmenteilhaber, verwechselt. Dieser war in der NS-Zeit Wiener Ratsherr, Leiter der Fachgruppe Baumwollweber des Großdeutschen Reiches, stellvertretender Leiter der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie, Leiter der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie in der Ostmark, leitender Vizepräsident der Industrie- und Handelskammer, Leiter der Wirtschaftskammer Wien und Niederdonau sowie stellvertretender Gauwirtschaftsberater. Peter Melichar (2004): Verdrängung und Expansion. Enteignungen und Rückstellungen in Vorarlberg (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 19), Wien/München, 104.

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ständnis – es traf kurze Zeit darauf ein31 – zur beabsichtigten Führung des Verfahrens einzuholen. Die Anklage gegen Erwin Amann und Theodor Rhomberg lautete auf Verbrechen nach § 1 Abs. 1 der „Kriegswirtschafts-Verordnung“ (KWVO). Demnach war, „wer Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, beiseiteschafft oder zurückhält und dadurch böswillig die Deckung dieses Bedarfs gefährdet“, mit Zuchthaus oder Gefängnis zu bestrafen, in besonders schweren Fällen drohte sogar Todesstrafe.32 Der Vorwurf der Anstiftung zum Amtsmissbrauch durch Amann wurde hingegen mangels Beweisen fallengelassen. In seinem Begleitschreiben übernahm der Staatsanwalt Röhlins Sichtweise, wonach Bachmann „offensichtlich von beiden der Gewissenlosere“ war und höchstwahrscheinlich Amann, „der übrigens gut beschrieben und auch Zellenleiter […] war, in die ganze Sache hineingezogen“ habe. Aus Gründen der Verfahrensvereinfachung wurde auch auf die Verfolgung einer weiteren strafbaren Handlung verzichtet: Herrburger & Rhomberg hatte die Zahl der in ihrer Suppenküche verköstigten Personen zu hoch angegeben, was einen Verstoß gegen ein weitere, mit der Kriegswirtschaft in Zusammenhang stehende Strafbestimmung, die „Verbrauchsregelungs-Strafverordnung“ (VRStVO), darstellte. Bei neun der insgesamt zwölf Personen, die wegen unzulässigem Stoffbezugs im Visier waren, verzichtete die Staatsanwaltschaft angesichts geringer Mengen auf eine gerichtliche Strafverfolgung (informierte jedoch den Landrat als zuständige Behörde, damit diese allenfalls Ordnungsstrafen verhängen konnte); lediglich für drei stellte sie einen Strafantrag wegen eines Vergehens nach der VRStVO beim Einzelrichter des Landgerichts Feldkirch.33 Bei Delikten nach § 1, Abs. 1 KWVO waren hingegen nicht die ordentlichen, sondern die Sondergerichte zu befassen. Diese bestanden im „Altreich“ bereits seit 1933 als Instrument zur Verfolgung politischer Gegner. Während dem im Jahr darauf gegründeten Volksgerichtshof die Ahndung des eigentlichen politischen Widerstands (Hoch- und Landesverrat) zugedacht war, oblag den Sondergerichten die rasche und massenhafte Aburteilung politischer BagatelleDelikte (im Wesentlichen partei- und regierungskritische Äußerungen). Ab 1938 vergrößerte sich ihre inhaltliche Kompetenz mehrfach: zunächst auf die strafrechtliche Verfolgung von unpolitischen Gewalt- und Sittlichkeitsverbrechen,34 mit Kriegsbeginn schließlich auf etliche neue 31 32 33

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RMJ an OStA beim LG Feldkirch, 24.8.1943. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 5 (Staatsanwaltschaft Feldkirch, Handakten mit Hauptakt), Bl. 46. Reichsgesetzblatt, Teil 1, 1942, Nr. 29, 147f. OStA beim LG Feldkirch an RMJ durch GenStA beim OLG Innsbruck, 10.8.1943; OStA beim LG Feldkirch an Landrat in Feldkirch, 9.9.1943. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 5 (Staatsanwaltschaft Feldkirch, Handakten mit Hauptakt), Bl. 20-21, bzw. ohne Paginierung im Fasz. hinten. Zur VRStVO siehe auch weiter unten. Wenn die Anklagebehörde mit „Rücksicht auf Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat oder die in der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilung“ als geboten ansah, konnte sie nun jedes Verbrechen vor dem Sondergericht anklagen. Zit. n. Martin Achrainer (2002): „Standgerichte der Heimatfront“: Die Sondergerichte in Tirol und Vorarlberg, in: Rolf Steininger / Sabine Pitscheider (Hg.): Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit (Innsbrucker For­schungen zur Zeitgeschichte 19), Innsbruck/Wien/München/Bozen, 111–130, 112.

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Strafbestimmungen, die Delikte (sog. „Kriegsverbrechen“) umfassten, die die Stabilität der „Inneren Front“ gefährdeten. Die Ausweitung der Tätigkeit der Sondergerichte auf diese mit massiven, häufig bis zur Todesstrafe reichenden Strafdrohungen verbundenen sog. „Kriegsverordnungen“, zu denen auch die KWVO zählte, ließ sie in der Kriegszeit „zur wichtigsten justiziellen Repressionsinstanz auf der regionalen Ebene“ werden.35 In der „Ostmark“ wurden Sondergerichte erst Anfang 1939, zunächst an den Oberlandesgerichten, d. h. für Westösterreich in Innsbruck, ab September d. J. an allen Landgerichten, somit auch in Feldkirch, eingerichtet. Neben der Wahlzuständigkeit für beinahe jedes Delikt bzw. dem definierten Zuständigkeitsbereich für bestimmte Straftatbestände galten des Weiteren eigene verfahrensrechtliche Vorschriften. Deren Zweck bildete, den buchstäblichen „kurzen Prozess“ zu ermöglichen, der dem von den Nazis hochgehaltenen „gesunden Volksempfinden“ entsprach. Um dies zu gewährleisten, wurde bei Sondergerichtsurteilen auf den Instanzenzug verzichtet, einzig über eine Nichtigkeitsbeschwerde durch den Oberreichsanwalt ließen sie sich eventuell abändern. Einem straffen, schnellen Verfahren sollte also die unmittelbare Sühne der Tat folgen. Die Realität sah freilich anders aus. So wie sich das bisherige Verfahren zunächst durch die umfangreichen Ermittlungen in die Länge gezogen hatte, bereitete nun die Durchführung der Hauptverhandlung enorme Schwierigkeiten. Am 10. September 1943 erhob Oberstaatsanwalt Herbert Möller als Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht Feldkirch offiziell Anklage, doch die für 7. Oktober 1943 angesetzte Verhandlung musste auf unbestimmte Zeit vertagt werden.36 Das Gericht hatte erfahren, dass beide Angeklagten mittlerweile eingerückt und damit den „zivilen“, d. h. sowohl den ordentlichen als auch den Sondergerichten entzogen waren. Theodor Rhomberg diente als Hauptmann der Wehrmacht an der Ostfront, Erwin Amann als Unterwachtmeister der Schutzpolizei der Reserve bei einem SS-Polizei-Regiment in den besetzten Gebieten in Italien.37 Was die Sache nicht einfacher machte: Rhomberg unterstand nun der Gerichtsbarkeit der Wehrmacht, Amann jedoch der SS- und Polizeigerichtsbarkeit. Anträge, das Verfahren, da es keine militärischen Belange betraf, dennoch dem Sondergericht Feldkirch zu überlassen, wurden zunächst von beiden jeweils zuständigen Gerichten negativ beantwortet.38 Weil es je35

Achrainer (2002), 113; Roland Staudinger (1994): Politische Justiz. Die Tiroler Sondergerichtsbarkeit im Dritten Reich. Am Beispiel des Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat, Schwaz, 40–60. Zum Tatbestands-Katalog mit ausschließlicher Zuständigkeit der Sondergerichte siehe auch Vurgun (2014), 45f. 36 OStA als Leiter der Anklagebehörde beim SG, Anklageschrift, 10.9.1943; SG beim LG Feldkirch, Beschluss, 30.9.1943. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 123–134, 101. 37 Johanna Amann an SG beim LG Feldkirch, 26.9.1943; Herrburger u. Rhomberg an SG beim LG Feldkirch, 27.9.1943. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 100, 104. 38 Gericht der Wehrmachtsdienststelle Feldpostnr. 39347 an SG beim LG Feldkirch, 28.10.1943; Dienststelle der F.P. Nr. 58985 an SG beim LG Feldkirch, 8.11.1943. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 104–105.

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doch kaum Sinn ergab, dasselbe Verfahren zweimal durchzuführen, wollte das für Rhomberg zuständige Divisionsgericht zunächst den Schuldspruch von Amann vor dem SS- und Polizeigericht abwarten.39 Wohl aus ähnlichen Überlegungen beschloss dieses aber Ende Jänner 1944 das Verfahren gegen Amann doch wieder an das Sondergericht Feldkirch abzutreten.40 Auch im Verfahren gegen Theodor Rhomberg wechselte mehr oder weniger zeitgleich die Zuständigkeit. Infolge seiner angegriffenen Gesundheit war Rhomberg zu einer in Bregenz stationierten Einheit versetzt worden, wodurch sich der Fall mitverschob.41 Dieses neue Militärgericht entschied schließlich im Juni ebenfalls die Rücküberweisung des Falls an das Sondergericht. Den Anlass lieferte, dass Hauptmann Rhomberg ohnedies mit 30. Juni aus der Wehrmacht entlassen werden sollte.42 Das Sondergericht wurde jedoch nicht mehr tätig. Es ist anzunehmen, dass man in Feldkirch über die Schwere von Rhombergs Erkrankung, ein Gehirntumor, an dem er am 7. November verstarb, im Bilde war.43 Hingegen unternahm das Sondergericht, nach einem weiteren geplatzten Termin im Mai, umfangreiche Anstrengungen, um nun beim dritten Anlauf für die Anwesenheit Erwin Amanns bei der für 3. Oktober fixierten Hauptverhandlung zu sorgen.44 Es klappte. Auch erschienen elf der dreizehn geladenen ZeugInnen. Nach dem Ende der Beweisaufnahme beantragte der Staatsanwalt ein Jahr Zuchthaus. Der dreiköpfige Richtersenat verurteilte Amann jedoch nicht wegen eines Verbrechens nach der KWVO, sondern wegen eines Vergehens nach § 1 Abs. 1 VRStVO45 und reduzierte das geforderte Strafmaß auf eine achtmonatige, im Vollzug wesentlich weniger harte Gefängnisstrafe.46 Der Wechsel der Strafnorm kam zustande, weil § 1 Abs. 1 KWVO (im Unterschied zur VRStVO) die Kombination des Tatbestandsmerkmals der Gefährdung des lebenswichtigen Bedarfs, der Tathand-

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Gericht der 256. Inf. Division an das für die FPNr. 59243 a zuständige Kriegsgericht, 28.10.1943. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 2 (Gericht der Divsion Nr. 418, Untersuchungsakten in der Strafsache gegen Theodor Rhomberg, Hauptmann), Bl. 16. SS- u. Polizeigericht XXXI Verona, Verfügung, 26.1.1944. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 108. Gericht der Lw.-Felddivision St. L. 39/44, Verfügung, 28.2.1944. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 2 (Gericht der Divsion Nr. 418, Untersuchungsakten in der Strafsache gegen Theodor Rhomberg, Hauptmann), Bl. 20. Gericht der Division Nr. 418, Zweigstellte Innsbruck, Bericht des Gerichtsherrn, 15.6.1944. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 2 (Gericht der Divsion Nr. 418, Untersuchungsakten in der Strafsache gegen Theodor Rhomberg, Hauptmann), Bl. 36. Todesbescheinigung. VLA, BG Dornbirn, Verlassenschaften, A566/P232/44. Protokoll der öffentlich geführten Sitzung des SG beim LG Feldkirch, 9.5.1944; Einheit der F. P. Nr. 59243 A an LG Feldkirch, 25.8.1944. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 114, 122. Reichsgesetzblatt, Teil 1, 1941, Nr. 135, 734f. Protokoll der öffentlich geführten Sitzung des SG beim LG Feldkirch, 3.11.1944. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 138–140. Die Untersuchungshaft war in die Strafe einzurechnen.

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lung des Vernichtens/Beiseiteschaffens/Zurückhaltens sowie eine subjektive Böswilligkeit vorsah. Die Richter relativierten die Anklageschrift jedoch in entscheidenden Punkten: Während es dort etwa hieß, dass bei der Hälfte des zugewiesenen Fleisches ungeklärt geblieben war, was Amann damit gemacht hatte, nahmen die Richter in ihrer Urteilsbegründung diese 1.000 kg als Abfall, der bei Freibankfleisch eben besonders hoch ausfiel, an. V. a. aber sahen sie es nicht als gesichert an, dass Amann böswillig gehandelt hatte, „weil eben […] nicht sicher bewiesen werden kann, dass das Gegengeschäft […] Fleisch gegen Stoffe […] getätigt wurde“.47 Die Richter verknüpften „Böswilligkeit“ hier ausschließlich mit der Frage, ob die Begünstigungen durch das Ernährungsamt auf „kriminelle“ Weise angebahnt worden waren, worin sie nicht nur von der Auffassung der Staatsanwaltschaft, sondern ebenso von einer extrem weiten Auslegung des Begriffs, die das Reichsjustizministerium empfahl, abwichen.48 Für den Beschuldigten hätte die Verhandlung jedenfalls schlechter laufen können. So sah es auch der Generalstaatsanwalt. Ihm erschien das Urteil zu milde, wie er nach Berlin berichtete. „Mit Rücksicht darauf, dass die Vorgänge schon längere Zeit zurückliegen, möchte ich aber vorschlagen, keine Nichtigkeitsbeschwerde anzuregen.“ „Sehr milde. Maßnahmen erübrigen sich aber“, schrieb jemand im Reichsjustizministerium handschriftlich dazu.49 Indem sich Erwin Amann wieder zu seiner Einheit begab und dort auch blieb, da die Vollstreckung der Gefängnisstrafe „zwecks Bewährung bei der eigenen Truppe bis Kriegsende ausgesetzt“ wurde,50 ging dieses aufwändige, vom Selbstmord Bachmanns in seiner Anfangs- und dem Tod Rhombergs in seiner Schlussphase überschattete Verfahren auf letztlich höchst unspektakuläre Weise zu Ende. Wie Martin Achrainer u. a. anhand eines Vergleichs verhängter Todesstrafen aufzeigt (30 in Innsbruck, 71 im viel kleineren Gerichtsbezirk Salzburg), besaßen Sondergerichte trotz permanenten Drucks und vielfältiger Kontrolle seitens des Reichsjustizministeriums „ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und einen gewissen autonomen Spielraum“.51 Jedoch sind weder die Rechtsprechungspraxis der Richter noch die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft am Sondergericht Feldkirch bislang systematisch untersucht worden. Höheren Orts wurde das Urteil gegen Amann für milde gehalten; aber galt das auch vor Ort? Wie häufig reduzierten die Richter das Strafmaß dermaßen deutlich? Kam es öfter vor, dass sie sich in so wesentli47 SG beim LG Feldkirch, Urteil, 3.11.1944. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), Bl. 141–143. 48 Zur Problematik der Definition von „Böswilligkeit“ siehe Vurgun (2014), 260f. 49 GStA Innsbruck an den RM der Justiz, 21.11.1944. BA Berlin, Reichsjustizministerium, R 3001/163264, Bl. 27 (Rückseite). 50 SS- u. Polizeigericht XXXI Verona, Verfügung, 20.2.1945. VLA, LG Feldkirch, Verschiedenes, KLS 15/1944, Fasz. 6 (Erwin Amann u. a. wg. § 1 Abs. 1 KWVO), ohne Paginierung im Fasz. vorne. Zur „Bewährung an der Front“ siehe Vurgun (2014), 416f. 51 Achrainer (2002), 126.

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chen Dingen wie der Strafnorm über die staatsanwaltlichen Vorstellungen hinwegsetzten? Wie groß war also der Misserfolg der Anklagebehörde? Sollte es tatsächlich so gewesen sein, dass das Sondergericht Amann günstig behandelte, könnte dann ein Zusammenhang zu seinem Status als verdientes Parteimitglied bestanden haben? Oder zum Faktum, dass er für ein äußerst angesehenes Unternehmen gearbeitet hatte? Theodor Rhomberg war zwar als Beschuldigter aus dem Verfahren vor der Hauptverhandlung ausgeschieden, aber änderte sich die Ermittlungspraxis bei Angehörigen der Partei- und/oder Provinzelite? All diese Fragen lassen sich nicht beantworten. Wir wissen nicht, wie das Sondergericht andere Verstöße gegen die KWVO ahndete; es fehlt aber auch ein Vergleich mit dem sonstigen Agieren der in diesem Verfahren tätigen Amtspersonen. Zwar konnte die Forschung zeigen, dass die Sondergerichte das angepeilte Ziel einer schnellen Strafjustiz generell nicht erfüllten;52 zu prüfen wäre trotzdem, wie sehr die Verfahrensdauer hier das übliche Maß überschritt. Ginge es lediglich nach dem Umfang des Akts, sprengte der Fall jedenfalls den Rahmen. Unter den knapp 300 Verfahren, die das Sondergericht Feldkirch in den Jahren seines Bestehens abwickelte, findet sich kaum ein zweites, bei dem ähnlich viele Unterlagen angehäuft wurden. Dieser Umfang verdankte sich in erster Linie den ausufernden Ermittlungen, die aber letztlich wenig prozessrelevante Ergebnisse hervorbrachten. So interessierten sich die Richter beispielsweise weder für die von der Gestapo minutiös erhobenen und akribisch in die Anklageschrift aufgenommenen Details, wie Amann mit den illegalen Fleischvorräten umgegangen war, noch für das von der Staatsanwaltschaft zusätzlich in Auftrag gegebene Gutachten der Landesbauernschaft. Genauso wenig brachten letztlich die komplizierten Nachforschungen über die nach Feldkirch gelieferten Textilien. Sollte dahinter die Hoffnung gesteckt haben, Amann bzw. seinem Chef doch noch Bestechung nachweisen zu können, war die Mühe jedenfalls umsonst gewesen. Zumindest im Hinblick auf die Art und Weise, wie die Ermittlungen durchgeführt wurden, bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass jeder Hinweis auf „Klassenjustiz“ fehlt.

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Staudinger (1994), 141f; Michael Löffelsender (2012): Strafjustiz an der Heimatfront. Die strafrechtliche Verfolgung von Frauen und Jugendlichen im Oberlandesgerichtsbezirk Köln 1939–1945 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 70), Tübingen, 90.

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Die Ambivalenzen (nicht nur) der Wissenschaftsgeschichte Der Biochemiker Ernst Waldschmidt-Leitz (1894–1972) an den Prager Hochschulen

„Wichtig sind die Grautöne. Man muss wegkommen von Schwarz-Weiß-Bildern, alle Facetten gehören auf den Tisch gelegt – Menschen bleiben ambivalent, sie haben eine menschliche Seite.“1 (Oliver Rathkolb)

Die Geschichte der modernen Naturwissenschaften wird von der engeren Wissenschaftsgeschichte noch immer stiefmütterlich behandelt. Dabei fanden gerade auf diesen Gebieten im 20. Jahrhundert äußerst dramatische, dynamische Entwicklungen statt, die im Sinne der technologischen wie auch etwa der medizinischen „Modernisierung“ Um- und Durchbrüche herbeiführten, die nicht nur den Blick auf die Welt, sondern auch diese selbst veränderten. Bisher scheint die Geschichte der Physik, der Biologie oder der Chemie jedoch das exklusive Territorium in diesen Disziplinen geschulter ForscherInnen zu sein, die sich in einer späteren Karrierephase mit der Geschichte ihres Faches oder verwandter Fächer beschäftigen. Diese Forschungen bringen oft interessante Einblicke in die Entwicklung dieser oder jener Wissenschaft und werden im besseren Fall auch in Zusammenhang mit den gesellschaftlichen oder politischen Tendenzen der jeweiligen Zeit gesetzt.2 Dennoch drängt sich bei der Lektüre dieser Werke nicht selten der Eindruck auf, dass der Zugang des Historikers/der Historikerin zu den Themen der Wissenschaftsgeschichte ein anderer ist oder sein sollte. Welche Fragen interessieren uns als HistorikerInnen bzw. erscheinen uns relevant? Ausgehend davon, dass die Geschichtswissenschaft, und damit auch die Wissenschaftsgeschichte, sich im Wesentlichen mit den Handlungen einzelner oder mehrerer Menschen in ihren jeweiligen Zeit- und Gesellschaftskontexten sowie den Auswirkungen dieses Handelns beschäftigt, rücken vor allem die Persönlichkeiten ins Blickfeld, die die Entwicklung ihrer Fächer prägten. Relevant erscheinen hier neben der biografischen und engeren fachwissenschaftlichen Komponente auch 1 2

Zitiert nach: Wolfgang Schreiber (2013): NS-Vergangenheit der Wiener Philharmoniker. Im Schatten der Klänge, in: Süddeutsche Zeitung, 11.3.2013, 10. Vgl. unter anderem die großangelegten Forschungen zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Siehe die Sammelbesprechung von Mitchell G. Ash (2010): Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin Jg. 18 (2010) Heft 1, 79–118.

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die größeren Kontexte, in denen sie sich bewegten – als ForscherInnen wie als Mitglieder der gesellschaftlichen Elite. Dazu gehört nicht zuletzt die Einordnung der Forschungsergebnisse in den jeweiligen fachwissenschaftlichen Zeitkontext. Die naturwissenschaftliche Forschung produziert seit dem späten 19. Jahrhundert eine Vielzahl an Publikationen mit einem immer höheren Spezialisierungsgrad. Die Frage nach der wissenschaftlichen Relevanz der publizierten Ergebnisse, ihrem Innovationspotenzial, nach der Möglichkeit ihrer praktischen Umsetzung oder der fachübergreifenden Kommunikation wird allerdings kaum gestellt. Die Wissenschaftsgeschichte wie auch die eigentliche Forschung akzeptiert dabei stillschweigend den „Siegerdiskurs“, nämlich, dass nur diejenigen Ergebnisse und Wege der Forschung die „richtigen“ waren, die sich schließlich (aus nicht weiter thematisierten Gründen) durchsetzten und zum Bestandteil des Kanons bzw. der (industriellen, medizinischen usw.) Praxis wurden. Andere Ansätze werden im besseren Fall mit Vergessen bestraft oder als Irrtümer abgetan, im schlechteren bisweilen als gezielte Manipulationen oder Betrug bezeichnet (wovon selbstverständlich auch und gerade die Naturwissenschaften nicht frei sind). Die Realität war bzw. ist jedoch oft wesentlich komplexer. Dies wollen wir im folgenden Beitrag am Beispiel eines markanten Segments der (krebs­ orientierten) Enzymforschung und eines ihrer Prager Protagonisten – in aller gebotenen Kürze – demonstrieren. So wird zumindest in Ansätzen deutlich werden, dass auf diesem Feld eine fast unvorstellbar breite euroamerikanische Diskussion stattfand, deren Ergebnis zur fraglichen Zeit noch völlig unklar war. Dennoch wird der Chemiker Ernst WaldschmidtLeitz der Nachwelt – in der Vermittlung der Wissenschaftsgeschichte – als Betrüger präsentiert, der seine Forschungen mit dem Ziel, Krebs enzymatisch aus dem Blutserum zu diagnostizieren bzw. diesen gar enzymatisch zu bekämpfen, manipuliert habe, um „schnelle und spektakuläre Erfolge in der Krebstherapie“3 zu erzielen. Ähnlich fragwürdig ist jedoch aus unserer Sicht das Vorgehen der WissenschaftshistorikerInnen in diesem Fall. Denn ohne die zumindest kursorischen Untersuchung der Motivcluster der einzelnen Beteiligten (wissenschaftliches Interesse, Verteidigung eigener bisheriger Forschungsergebnisse, Prestige, Wettbewerb um beträchtliche Projektmittel, politischer Machtkampf ) und ohne die Berücksichtigung der internationalen Kontexte in einer längerfristigen Perspektive erscheint es schwierig, eindeutige wertende Urteile zu formulieren. Wer also war Ernst Waldschmidt-Leitz?4 Der in Würzburg geborene Biochemiker studierte in den Jahren des Ersten Weltkriegs Chemie in München, Freiburg i. Br. und in Frank3 4

Ute Deichmann (2001): Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit, Weinheim, 344. Für Basisinformationen siehe: Clement Wachter (2009): Waldschmidt-Leitz, Ernst, in: ders.: Die Professoren und Dozenten der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen 1743-1960, Erlangen, 299f.

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furt a. M. und erhielt bereits 1917 eine Assistentenstelle in dem staatlichen Chemischen Laboratorium der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die er bis 1928 bekleidete. Die Person, die Waldschmidt-Leitz wissenschaftlich prägte, war sein Lehrer Richard Willstätter, einer der berühmtesten Organiker jener Zeit und Nobelpreisträger von 1915.5 Bei diesem Mann, der Kokain und später vor allem Chlorophyll chemisch entschlüsselte und dann seit Anfang der 1920er Jahre seine Energie der Enzym-Problematik widmete, promovierte Waldschmidt-Leitz 1920 „Über Rizinuslipase“6 und habilitierte sich schließlich 1924 über „Die Enzyme“.7 Waldschmidt-Leitz blieb seinem jüdischen Lehrer, zu dessen wichtigsten Schülern er zählte, auch nach dessen erzwungenem Weggang von der Universität 1925 treu und publizierte mit ihm gemeinsam noch bis zum Ende der 1920er Jahre.8 Sein 1926 erschienenes Werk über die Wirkung und Eigenschaften von Enzymen brachte Waldschmidt-Leitz internationales Ansehen und etablierte ihn als eine der profiliertesten Persönlichkeiten der deutschen und internationalen Enzymforschung. Die 1929 erschienene, erweiterte englischsprachige Ausgabe wurde in den Vereinigten Staaten sehr positiv rezipiert, nicht zuletzt weil das Werk in der Tradition der Willstätter-Schule stand.9 In Deutschland fand der junge Privatdozent zur selben Zeit wissenschaftliche Anerkennung durch die Aufnahme seines Beitrags über Proteine in das Lehrbuch der organischen Chemie von Victor Meyer und Paul Heinrich Jacobson.10 Waldschmidt-Leitz gehörte allgemein zu den fleißigsten Autoren auf dem Felde der organischen und Biochemie (nicht nur) der Zwischenkriegszeit. Seine Publikationsplattformen im Bereich der Enzymforschung waren vor allem die international anerkannten „Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft“ (14 Beiträge in den Jahren 1925-1930) sowie die nicht weniger bedeutende „Zeitschrift für physiologische Chemie“ (23 Beiträge in den Jahren 1924-1931). Seine Studien wurden darüber hinaus auch in britischen und US-amerikanischen Zeitschriften veröffentlicht.11 5

Vgl. Helmuth Albrecht (1990): Willstätter, Richard: Badische Biographien NF 3, Stuttgart 1990, 296–299, wo auch Willstätters antisemitische „Verdrängung“ aus der Münchner Universität beschrieben wird. 6 Ernst Waldschmidt-Leitz (1920): Über Rizinuslipase, München. 7 Ernst Waldschmidt-Leitz (1926): Die Enzyme. Wirkungen und Eigenschaften, Braunschweig. 8 Vgl. Richard Willstätter et al. (1928): Untersuchungen über Enzyme, Bd. 2, Berlin, wo z. B. die gemeinsame Studie: Richard Willstätter / Ernst Waldschmidt-Leitz (1923): Über Pankreaslipase, in: Zeitschrift für physiologische Chemie 125 (1923), 132–191, neu abgedruckt wurde. 9 Ernst Waldschmidt-Leitz (1929): Enzyme. Actions and Properties, New York. Um die Übersetzung und hauptsächlich die Erweiterung der Daten machte sich Robert P. Walton von der Columbia University verdient. Earl R. Norris von der University of Washington publizierte eine sehr positive Besprechung des Buches im Journal of ­Chemical Education (1929), 815. 10 Ernst Waldschmidt-Leitz (1928): Lehrbuch der organischen Chemie. F. Proteine, in: Victor Meyer / Paul Heinrich Jacobson (Hg.): Lehrbuch der organischen Chemie 2. Bd., 5. T., Leipzig (zweite Ausgabe 1929). 11 Nach Poggendorffs biographisch-literarischem Handwörterbuch für Mathematik, Astronomie, Physik (1939): S– Z, Bd. VI. 1923–1931, T. 4, Berlin, 552f. Die Bibliografie von Waldschmidt-Leitz ist sehr umfangreich, der „Poggendorf “ nimmt jedoch nur die deutschen Zeitschriften wahr. Im Fragebogen der Prager Deutschen Universität

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Seine Leistungen wurden mit der Erteilung des gerade gegründeten, prestigeträchtigen „Paul-Ehrlich-Preises“ im Jahre 1930 gewürdigt.12 Als ihm der Preis am 14. März 1930 verliehen werden sollte, gehörte Waldschmidt-Leitz allerdings schon nicht mehr dem Münchner Milieu an: Bereits am 23. Dezember 1927 war er zum a. o. Professor für Biochemie und zum Vorstand des Instituts für Biochemie an der Deutschen Technischen Hochschule Prag (DTH) berufen worden. Von seinen Schülern, die ihn von München nach Prag begleiteten, war der US-Amerikaner Arnold Kent Balls der vielleicht wichtigste. Balls kam 1928 von der Columbia University nach Deutschland, um bei Willstätter und Waldschmidt-Leitz die Enzym-Problematik eingehender zu studieren.13 Bevor er Ende 1931 zurück in die Vereinigten Staaten ging, wo er zum Leiter des Enzyme Research Laboratory of the Bureau of Agricultural and Industrial Chemistry of the U. S. Department of Agriculture in Washington D. C. wurde, habilitierte er sich bei Waldschmidt-Leitz in Prag 1930 über die Spaltung von Peptiden.14 Seinem Lehrer blieb er auch nach der Rückkehr in die USA freundschaftlich verbunden. Ein deutlicher Beleg dafür ist ein gemeinsamer umfangreicher Text von 1935 über die Enzyme im Kontext der chemischen und biologischen Methoden in der Lebensmittelchemie.15 Balls war aber keineswegs der einzige US-Amerikaner, der mit Waldschmidt-Leitz zusammenarbeitete. Schon 1933 hatte er gemeinsam mit dem Krebsforscher Ellice McDonald16 von den Cancer Research Laboratories der University of Pennsylvania eine Studie über Enzyme

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finden wir 1937 die summarische Angabe: „Etwa 120 wissenschaftliche Veröffentlichungen ab 1921 in folgenden Zeitschriften: [...] Chemistry and Industry, Proceedings of the Royal Society, Science, [...] Physiological Reviews.“ Eine Auswahl seiner breiter angelegten Texten erschien dann als ein kleines Buch: Ernst Waldschmidt-Leitz (1931): Vorträge aus dem Gebiete der Eiweißchemie, Leipzig.   „Der Paul-Ehrlich-Geldpreis für 1930 wurde in Höhe von 3000 RM dem Leiter des Biochemischen Institutes der Technischen Hochschule in Prag, Herrn Prof. Ernst Waldschmidt-Leitz zuerkannt, als Auszeichnung dafür, daß er die Immunitätsforschungen Paul Ehrlichs erfolgreich fortgesetzt hat durch seine Untersuchungen über die proteolytischen Enzyme tierischer Organe, namentlich durch die Klarlegung der spezifischen Proteolysen.“ Vgl. Klinische Wochenschrift Jg. 9 (1930) Heft 7, 336. Die goldene Paul-Ehrlich-Medaille erhielt damals Karl Landsteiner für die Entdeckung der menschlichen Blutgruppen (gleichzeitig mit dem Nobelpreis). Die Paul Ehrlich-Stiftung wurde 1934 durch die Nationalsozialisten zerstört und enteignet. Vgl. die Broschüre über die Paul Ehrlich-Stiftung (2014), URL: www.uni-frankfurt.de/44568122/PE-Broschuere (abgerufen am 15.8.2014). Seine Dissertation von der Columbia University gehört in den USA zu den wiederholt publizierten Klassikern des Faches: Arnold Kent Balls (1920): The occurrence of aluminium, and its absorption from food, in dogs, Peeskill/ New York. W. Z. Hassid (1970): Arnold Kent Balls 1891–1966. A Biographical Memoir, National Academy of Sciences Washington D. C., URL: http://www.nasonline.org/publications/biographical-memoirs/memoir-pdfs/balls-arnoldk.pdf (abgerufen am 15.7.2014). Ernst Waldschmidt-Leitz / Arnold Kent Balls (1935): Enzyme, in: Aloys Böhmer et. al (Hg.): Handbuch der Lebensmittelchemie II, 2. Allgemeine Untersuchungsmethoden. Chemische und biologische Methoden, Berlin, 704–834. Zu Ellice McDonald vgl. die Biografie der Familien Campbell und McDonald: James K. McDonell / Robert B. Campbell (1997): Lords of the North, Ontario, 282f.

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in Tumoren publiziert.17 Gerade diese Arbeit stand am Anfang seines Forschungsinteresses für die Problematik der biochemischen Diagnostik oder gar der Bekämpfung von Krebs.18 Obwohl Waldschmidt-Leitz’ Ergebnisse in Deutschland in den frühen 1940er Jahren angegriffen oder zumindest relativiert wurden, erachtete McDonald, nach dem Zweiten Weltkrieg Direktor der Biochemical Research Foundation of the Franklin Institute Newark in Delaware, die gemeinsame Studie als weiterhin so wichtig, dass er 1948 eine englische Übersetzung veröffentlichte.19 Waldschmidt-Leitz pflegte aber in den 1930er Jahren nicht nur Fachkontakte zu den Universitäten und Laboratorien der Ostküste; vielmehr publizierte er 1932 und noch einmal 1934 eine Übersicht über die Fortschritte der Enzymforschung in der neu gegründeten „Annual Review of Biochemistry“ der Stanford University.20 Waldschmidt-Leitz’ auswärtige Beziehungen beschränkten sich allerdings nicht nur auf die USA bzw. den angelsächsischen Raum,21 sondern reichten bis nach Indien und in die Sowjetunion.22 In diesem Lichte überrascht es also nicht sehr, dass er für diese Zeit untypisch intensive Kontakte auch zu seinen Prager tschechischen Fachkollegen pflegte. Die Basis dafür war das seit Mitte der 1930er Jahre international wachsende Interesse an der Erforschung der vermeintlich für die Krebs-Tumore spezifischen Enzyme.23 Auch in Prag hegte man die Hoffnung, Krebs so in der Frühphase diagnostizieren oder gar mit einer Enzymtherapie heilen zu können. 17

Ernst Waldschmidt-Leitz / Ellice McDonald (1933): Über Enzyme in Tumoren, in: Zeitschrift für physiologische Chemie 219 (1933), 115–127. Vgl. auch Ellice McDonald (1934): The Chemistry of Cancer, The Lancet 224 (1934), 1478–1482, wo er sich u. a. auf diese Studie stützt. 18 Diese Problematik wurde in McDonalds Labor in Anknüpfung an die Studie Waldschmidt-Leitz / McDonald (1933) weiter erforscht: Leopold Weil / Mary A. Russell (1934): A Manometric Micromethod for Arginase Determination. Enzymatic Study of Blood Arginase in Rats, in: Journal of Biological Chemistry 106 (1934), 505–513. 19 Ernst Waldschmidt-Leitz / Ellice McDonald (1948): Notes from the Biochemical Research Foundation. On Enzymes in Tumors, in: Journal of the Franklin Institute 245 (1948), 449–453; dies. (1948): Notes from the Biochemical Research Foundation. On Enzymes in Tumors. Experimental Part, in: Journal of the Franklin Institute 245 (1948), 535–540. 20 Vgl. Ernst Waldschmidt-Leitz (1932): Enzymes, in: Annual Review of Biochemistry Jg. 1 (1932), 69–88; ders. (1934): Enzymes, in: Annual Review of Biochemistry Jg. 3 (1934), 39–58. 21 Im Jahre 1936 tritt er als hochgelobter „invited speaker“ beim „Annual General Meeting of the The Society of the Food Industry“ in London auf. Vgl. H. D. Kay (1972): A Short History of the Food Group, in: Journal of the Science of Food and Agriculture Jg. 23 (1972), 127–160, 131. 22 Der im Archiv der Karls-Universität Prag aufbewahrte Personalbogen von Waldschmidt-Leitz von 1937 informiert über die Erteilung der Ehrenmedaille der Biochemical Society of India im Jahre 1932, die offenbar mit Waldschmidt-Leitz’ (nicht realisierter) Berufung zum Direktor des Biochemischen Instituts am Indian Institute of Science in Bangalore zusammenhing, sowie über die Ehrenmitgliedschaft in der Society of Biologists of India 1936. Ferner gibt es einen Hinweis darauf, dass er, wie im Übrigen auch andere westliche Forscher, in der ersten Hälfte der 1930er Jahre „Vorlesungen in Moskau auf Einladung des Volkskommissariats für Volksaufklärung der UdSSR“ gehalten habe. Vgl. dazu den Eintrag Waldschmidt-Leitz, Ernst, in: Hermann A. L. Degener (1935): Wer ist’s? Unsere Zeitgenossen, 10. Ausgabe, Berlin, 345. 23 Vgl. als zeitgenössische Betrachtung: Jaroslav Heyrovský (1938): Polariographic Research on Cancer, in: Nature 142 (1938), Heft 3590, 317–319; als negativistischer Blick der Historikerin: Deichmann (2001), 336–348.

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Neben dem Prager Team von Waldschmidt-Leitz betätigte sich in dieser Zeit auch eine Gruppe tschechischer Forscher am Physikalisch-Chemischen Institut der tschechischen Naturwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität um den späteren Nobelpreisträger (1959) Jaroslav Heyrovský in der Krebsdiagnostik durch die Identifizierung spezifischer Enzyme. Die von Heyrovský in den 1920er Jahren entwickelte, analytische Methode der „Polaro­ graphie“, die auf der Bestimmung der spezifischen elektrolytischen Reaktionen verschiedener Stoffe basierte, wurde in dieser Zeit in mehrere Richtungen getestet.24 Die Hauptrichtung ihrer Anwendung lag zwar in der Metallurgie, schon vor der Mitte der 1930er Jahre erwies sich aber auch ihre biochemisch-medizinische Applikation als vielversprechend.25 Heyrovskýs Assistent Rudolf Brdička vermutete, die polarografische Reaktion auf Krebs entdeckt zu haben, und publizierte mit Heyrovskýs Unterstützung zu diesem Thema seit 1937 eine Reihe von Studien in den USA.26 Etwa zur gleichen Zeit, 1937, wurde Waldschmidt-Leitz Direktor des großen Chemischen Instituts an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Deutschen Universität Prag (DUP). Dieses hatte seit dem unerwarteten Abgang Hans Meyers27 Anfang 1936 unter der kommissarischen Leitung des Direktors des Instituts für physikalische Chemie, Johann Böhm, gestanden. Der wichtige Posten des Lehrstuhlinhabers wurde relativ schnell (und im Grunde traditionell) mit dem Professor der DTH Waldschmidt-Leitz neubesetzt, und alles deutet darauf hin, dass Letzterer gute Beziehungen zu Böhm wie auch zu seinen Kollegen aus der tschechischen Naturwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität knüpfte. Zu diesem Zeitpunkt war Waldschmidt-Leitz bereits ein international bekannter Wissenschaftler, der unter anderem in zwei wichtigen deutschen Fachzeitschriften dem Herausgeber-Gremium angehörte.28 Die Entscheidung war also unstrittig. Allerdings gab es bereits zu diesem Zeitpunkt noch einen Prätendenten im Institut, der sich Hoffnungen auf den Lehrstuhl gemacht hatte: 24 Auf Deutsch wurde diese Methode erstmals 1936 vorgestellt: Jaroslav Heyrovský (1936): Polarographie, in: Wilhelm Böttger et. al (Hg.): Physikalische Methoden der Analytischen Chemie, Leipzig, 260–322. 25 Aus diesem Grund wurde Heyrovský seit dem Jahre 1934 wiederholt für den Nobelpreis nicht nur in der Kategorie Physik (diesen erhielt er 1959), sondern auch für Chemie oder Medizin vorgeschlagen. 26 Rudolf Brdička (1937): Application of the Polarographic Effect of Proteins in Cancer Diagnosis, in: Nature 139 (1937), 330; ders. (1938): The Polarographic Sero-Reaction for Cancer, in: Nature 142 (1938), 617, vgl. weiters seinen Beitrag in: The Journal of Physical Chemistry 35 (1938), 89. Erst nach dem Kriege erwies sich diese Reaktion als zu wenig krebsspezifisch, sodass (gegen Heyrovskýs Überzeugung) diese Forschungslinie in der Tschechoslowakei in den 1950er Jahren schließlich verlassen wurde. Vgl. Jiří Koryta (1990): Jaroslav Heyrovský, Praha, 48. 27 Zu dem 1942 in Theresienstadt gestorbenen Hans Meyer und dem Chemischen Institut der Deutschen Universität Prag in dieser Zeit vgl. Jiří Pešek / David Šaman (2009): Hans Meyer – klíčová postava pražské německé universitní chemie prvé třetiny 20. století [Hans Meyer – die Schlüsselpersönlichkeit der Prager deutschen Universitätschemie des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts], in: AUC-HUCP Jg. 49 (2009) Heft 1–2, 43–92, 76–86. 28 Es handelte sich um „Hoppe-Seyler‘s Zeitschrift für physiologische Chemie“ und das „Journal für praktische Chemie“ (nach dem Krieg umbenannt in „Makromolekulare Chemie“).

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­ onrad Bernhauer, a. o. Professor der Biochemie, glühender Nationalsozialist und Schüler K des später nach Theresienstadt deportierten Meyer. Bernhauer war seit 1934 a. o. Professor und Leiter der biochemischen Abteilung im Universitätsinstitut und wurde Ende des Jahres 1937 mit der Vertretung des Lehrstuhls von Waldschmidt-Leitz an der DTH beauftragt, wo er 1941 schließlich ein Ordinariat erhielt. Allerdings blieb er, ein Experte für die technische Verwendung von Bakterien und in diesem Rahmen ein erfolgreicher Penicillin-Forscher,29 dem Usus entsprechend weiterhin an der DUP als Dozent tätig. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei wurden die naturwissenschaftlichen Institute der DTH und der Deutschen Universität Prag zwar zusammengelegt, die Universitätsprofessur hatte aber weiterhin mehr Prestige als ihr Äquivalent an der DTH. So intrigierte Bernhauer, der ehemalige Aktivist der Sudetendeutschen Partei und nunmehr der NSDAP, SSHauptsturmführer und bis zur Erlangung des Ordinariats NS-Gaudozentenführer, fleißig gegen den in seinen Augen erfolgreicheren Kollegen. Bereits 1938 stufte er ihn in seiner für die Reichsorgane zusammengestellten Bewertung aller Dozenten der Fakultät mit der relativ schlechten Note 3 ein, mit dem Kommentar: „krasser Egoist“.30 Dieser „Egoist“ war immerhin bereit, die Tradition des „Nicht-Kommunizierens“ mit den Kollegen aus der tschechischen Karls-Universität zugunsten der beide Seiten interessierenden Forschung zu durchbrechen. Die gegenseitige Rezeption, etwa zwischen WaldschmidtLeitz und Brdička, war schnell und positiv. So finden wir etwa in einem Aufsatz Brdičkas in „Nature“ vom 20. Februar 1937 einen Hinweis auf eine Studie von Waldschmidt-Leitz, die noch im Druck lag,31 während Waldschmidt-Leitz in seinem im Juni 1938, also mitten in der Sudetenkrise, publizierten Beitrag „Über diagnostisch verwertbare Veränderungen im Serum bei Krebs“32 nicht nur Brdičkas Arbeiten in „Nature“ und in der „Biochemischen Zeitschrift“ wiederholt zitierte, sondern explizit von einer Zusammenarbeit der beiden Institute schrieb.33 Ein weiterer Aufsatz vom Herbst 1939, den Waldschmidt-Leitz gemeinsam mit Karl Mayer über die „Erfahrungen zur polarographischen Krebsdiagnose“34 publizierte, stützt sich eben29 Deichmann (2001), 313. 30 Amt W. Verzeichnis der Dozenten und Assistenten der Deutschen Hochschulen in Prag mit politischer Beurteilung, Deutsche Universität Prag – naturwissenschaftliche Fakultät, Person Nr. 18. Bundesarchiv, Bestand R-4901 (Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung), Sign. 12880. 31 Es ist bisher nicht gelungen, diese Studie zu identifizieren. 32 Ernst Waldschmidt-Leitz (1938): Über diagnostisch verwertbare Veränderungen im Serum bei Krebs, in: Angewandte Chemie Jg. 51 (1938) Heft 22, 324–327. 33 Waldschmidt-Leitz (1938), 325f: „Aufbauend auf den beschriebenen Ergebnissen hat R. Brdička in Zusammenarbeit mit unserem Institut den Versuch unternommen, die Sulfhydrylaktivität normaler und carcinomatöser Seren mit Hilfe der polarographischen Meßmethode nach J. Heyrovský zu bestimmen.“ 34 Ernst Waldschmidt-Leitz / Karl Mayer (1939): Erfahrungen zur polarographischen Krebsdiagnose, in: Zeitschrift für physiologische Chemie 261 (1939), 1–19. Diese Studie wurde durch die International Cancer Research Foundation in Philadelphia finanziert.

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falls auf eine Reihe von Brdičkas Arbeiten aus den Jahren 1937 und 1938. Höchstwahrscheinlich war gerade dieser „Verrat“ an dem deutschen Isolationismus der Grund für die Abwertung von Waldschmidt-Leitz in den Augen Bernhauers. Dieses Bild einer regen deutsch-tschechischen Zusammenarbeit in Zeiten großer politischer Umwälzungen und Kriegskonflikte sollte jedoch keineswegs zu einer übertriebenen Idealisierung der Beteiligten verleiten. Waldschmidt-Leitz war ein international erfahrener Pragmatiker, der für seine hochdotierten Projekte klare Erfolge brauchte. Nur so konnte er seine Position an der Spitze eines großen Instituts verteidigen und auf weitere finanzielle Unterstützung aus Berlin hoffen. Über seinen Charakter und seine engere Biografie ist bisher wenig bekannt. In die NSDAP wurde er entweder 1934 oder 1939 aufgenommen, für beide Daten finden sich Hinweise.35 Ersteres Datum wäre recht heikel, da er als Professor der DTH tschechoslowakischer Staatsbürger war und die Mitgliedschaft in der damals in der Tschechoslowakei verbotenen Partei ihn seine Stelle oder gar Freiheit hätte kosten können. In den Besatzungsjahren war er überdies förderndes Mitglied der SS.36 Als „Antifaschist“, wie ihn sein Kollege Böhm in einem Tätigkeitsbericht für die Moskauer Akademie der Wissenschaft in der Nachkriegszeit bezeichnete, kann er daher also nicht gerade betrachtet werden.37 Über die Gründe des NSDAP-Beitritts von Waldschmidt-Leitz lässt sich jedoch zumindest spekulieren: So war er einer der wichtigsten Schüler Willstätters, mit dem er bis 1933 eng zusammenarbeitete und von dem er protegiert wurde. Im Jahre 1934 hatte der alte, dem NSRegime gegenüber offen kritische38 Nobelpreisträger versucht, Deutschland illegal zu verlassen, und wurde dabei durch die Gestapo verhaftet.39 Es folgten fünf Jahre der Internierung, während derer Willstätter im Ausland wiederholt ausgezeichnet wurde. 1939 wurde er dann polizeilich in die Schweiz abgeschoben. Diese mehr als 20 Jahre währende Verbindung mit Willstätter war ein Umstand, der für Waldschmidt-Leitz und seine Position an der Fakultät, besonders seit der Übernahme der Prager Deutschen Universität in die Reichsverwaltung im Jahre 1939, gefährlich war.40 35

Deichmann (2001), 343. Alena Míšková (2007): Die Deutsche (Karls-) Universität vom Münchener Abkommen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Universitätsleitung und Wandel des Professorenkollegiums, Praha, 323, berichtet, dass er zum 1.4.1939 unter der Nr. 7.188.098 in die NSDAP aufgenommen worden sei. Zugleich weist sie darauf hin, dass in den Unterlagen des tschechoslowakischen Innenministeriums der Nachkriegszeit die Angabe stehe, dass Waldschmidt-Leitz bereits zum 1. Februar 1934 unter der Nr. 3.402.180 in die NSDAP aufgenommen wurde. 36 Míšková (2007), 323. 37 Vgl. „Bericht über meine Tätigkeit seit 1938“ (undatiert), 6. Archiv AV ČR, Bestand Jan ( Johann) Böhm, I. c, 1945. 38 Vgl. Reinhard Rürup (2008): Schicksale und Karrieren: Gedenkbuch für die von den Nationalsozialisten aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vertriebenen Forscherinnen und Forscher, Göttingen, 43f. 39 Albrecht (1990), 298 meint, dass er privat arbeiten durfte. C. M. Jacottet spricht in der Einführung der Studie von Jany Renz (1973): Richard Willstätter 1872–1942 und seine Bedeutung für die Entwicklung der Chemie, in: Helvetica Chimica Acta 56 (1973), 1–14, 1, von seiner Inhaftierung. 40 Zur Übernahme der Deutschen Universität Prag in die Reichsverwaltung vgl. Míšková (2007), 82–93. Zur Vor-

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Die Probleme endeten daher nicht mit dem erwähnten schlechten Zeugnis bezüglich der politischen Vertrauenswürdigkeit: Vielmehr wurde dem NSDAP-Mitglied WaldschmidtLeitz, der im Herbst 1938 wie viele andere seiner Kollegen vor der Mobilisierung in die tschechoslowakische Armee von Prag nach München geflohen war,41 der Beitritt in den NS-Dozentenbund verwehrt. In der – offensichtlich nach seinem Berufungsverfahren erfolgten und für einen politischen Verband eher seltenen – Begründung heißt es, dass „die meisten seiner Arbeiten einer experimentellen Überprüfung nicht standgehalten“ hätten: „Noch in letzter Zeit hat sich Waldschmidt in ziemlich unverantwortlicher Weise mit Fragen des Krebsproblems auseinandergesetzt, von denen er seiner Bildung nach gar nichts verstehen kann. Trotzdem hat er die sogenannte ‚Prager Krebsdiagnose’ publiziert, die ebenfalls einer wissenschaftlichen Überprüfung in keiner Weise standgehalten hat.“42 Es darf die Frage gestellt werden, wie der Reichsdozentenführer Dr. Walter Schulze, ein Facharzt für Chirurgie, so tiefe Einblicke in die biochemische Krebsforschung gewinnen konnte. Eine Erklärung könnte vielleicht seine freundschaftliche Beziehung zu dem Rektor der DTH (und späteren Gaudozentenführer Sudetenland bzw. stellvertretenden Reichsdozentenführer) SS-Oberführer Alfred Buntru und besonders zu der schon erwähnten „mächtigsten Person der Universität“,43 dem NS-Gaudozentenführer Protektorat Böhmen und Mähren Konrad Bernhauer, bieten. Grund zum Neid gab es sicher genug: So hatte Waldschmidt-Leitz bereits 1934 und nochmals 1938 von der DFG „Beihilfen für die Strukturermittlung verwandter Eierweißstoffe aus Fischsperma“ erhalten. Sein Ziel war es, „ein Verfahren zur chromatographischen Trennung von Peptidgemischen zu entwickeln“.44 Es liegt die Vermutung nahe, dass bei der Erteilung der erneuten Förderung unter anderem die Tatsache eine Rolle spielte, dass WaldschmidtLeitz zusammen mit dem Wuppertaler Industrie-Chemiker Fritz Ziegler 1938 in den USA ein Patent für die Trennung von Amylase und Protease erhielt.45 Vor allem spielte jetzt die – seit den 1930er Jahren intensiv betriebene – biochemische geschichte vgl.: Jiří Pešek (2003): Die Prager Universitäten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: Versuch eines Vergleichs, in: Hans Lemberg (Hg.): Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, München, 145–166. 41 Míšková (2007), 51. 42 Vgl. Der Reichsdozentenführer SS-Brigadeführer Dr. Walter Schulze in München an Oberregierungsrat Dr. Max Demmel im Reichserziehungsministerium, 7.2.1940, zitiert nach Deichmann (2001), 343. Es handelte sich offensichtlich um eine Reaktion auf die Studie: Enst Waldschmidt-Leitz / Karl Mayer (1939): Erfahrungen zur polarographischen Krebsdiagnose, in: Zeitschrift für physiologische Chemie 261 (1939), 1–19, in der der Begriff „Prager Serum-Rk.“ vorkommt. 43 Míšková (2007), 78. 44 Deichmann (2001), 288. 45 Vgl. „US2121459 A“ vom 21. Juni 1938 (eingereicht am 17. August 1935). Vgl. auch: Ernst Waldschmidt-Leitz / Fritz Turba (1940): Verfahren zur Trennung von Peptidgemischen, in: Journal für praktische Chemie 156 (1940), 55–64.

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Krebsforschung wieder eine zentrale Rolle. Diese wurde durch den wissenschaftlich wie politisch mächtigen jungen Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für Biochemie,46 den Nobelpreisträger von 1939 Adolf Butenandt, auf der Basis der proteingestützten Krebs­ theorie von Fritz Kögl angeführt, und Waldschmidt-Leitz gehörte zu jenen Forschern, die diesen Strang der Forschung tatkräftig unterstützten.47 Nicht zuletzt aufgrund der bisherigen Prager Forschungen48 war er davon überzeugt, dass „sich im Serum von Karzinom-Patienten D-Peptidasen nachweisen ließen, d. h. Enzyme, die D-Peptide, also Ketten aus den hier gehäuft vorliegenden D-Aminosäuren, abbauen sollten“. Diese Hypothese fand auch bei Butenandt Anklang.49 Waldschmidt-Leitz erhielt also „vom DFG/Reichsforschungsrat Apparate sowie 28.000 RM für Untersuchungen über D-Peptidasen im Serum von Carcinomkranken“.50 Ein Vergleich zeigt, in welcher Größenordnung sich die Forschungsförderung51 bewegte: So wurde 46 Zu Butenands Tätigkeit in den Kriegsjahren vgl. Robert N. Proctor (2000): Adolf Butenandt – Nobelpreisträger, Nationalsozialist und MPG-Präsident. Forschungsprogramm „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“, Berlin, hier besonders 9. 47 Vgl. Ernst Waldschmidt-Leitz / Karl Mayer (1939): Über sterische Auslese durch Peptidasen in normalen und carcinomatösen Seren (Vorläufige Mitteilung), in: Zeitschrift für physiologische Chemie 262 (1939), IV–VI. Es muss allerdings angemerkt werden, dass die so genannte „Abderhalden-Reaktion“ in seinen Studien keine direkte Rolle spielte. Zu Abderhalden vgl. u. a. Michael Kaasch / Joachim Kaasch (2001): Emil Abderhalden: Ethik und Moral in Werk und Wirken eines Naturforschers, in: Andreas Frewer / Josef N. Neumann (Hg.): Medizingeschichte und Medizinethik, Frankfurt/New York, 204–246. 48 Eine Übersicht der geleisteten Forschung publizierte Rudolf Brdička nach dem Kriege in London: Rudolf Brdička (1947): Polarographic cystine and protein tests, in: Research (1947) Heft 1, 25–36. 49 Achim Trunk (2004): Rassenforschung und Biochemie. Ein Projekt und die Frage nach dem Beitrag Butenandts, in: Wolfgang Schieder / Achim Trunk (Hg.): Adolf Butenandt und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Wissenschaft, Industrie und Politik im ‚Dritten Reich‘, Göttingen, 247–285, 259 (hier auch das Zitat). Zur Problematik der Diagnose bzw. zur Heilung von Krebs durch Enzyme vgl. Adolf Butenandt (1940): Neue Beiträge der biologischen Chemie zum Krebsproblem, in: Angewandte Chemie 53 (1940), 345f. Dieser Aufsatz wurde (ohne Veränderung) in die vierbändigen, durch die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) herausgegebenen gesammelten Schriften Butenands, der 1960–1972 Präsident der MPG war, aufgenommen: Adolf Butenandt (1981): Das Werk eines Lebens, Bd. I/2, München, 498–521. 50 Deichmann (2001), 341. Míšková (2007), 225, spricht davon, dass Waldschmidt-Leitz und seine Assistenten gleich an mehreren Projekten für den Reichsforschungsrat gearbeitet hätten. Achim Trunk informiert über „das durch den Reichsforschungsrat ab 1943 geförderte und in die Dringlichkeitsstufe S eingeordnete Forschungsvorhaben von Waldschmidt-Leitz über D-Proteasen (D-Peptidasen) und ihre Bedeutung; Kartei des Reichsforschungsrats, BA Berlin, R 26 III, Nr. 6, Bl. 122“. Vgl. Achim Trunk (2003): Zweihundert Blutproben aus Auschwitz. Ein Forschungsvorhaben zwischen Anthropologie und Biochemie (1943–1945) (Forschungsprogramm „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“ 12), Berlin, 18–20. 51 Über die Ergebnisse dieser Forschung wissen wir sehr wenig. Die jüngste, heute bekannte Veröffentlichung dieser Forschungsgruppe der Kriegsjahre stammt aus dem Jahre 1941: Ernst Waldschmidt-Leitz / Johann Ratzer / Fritz Turba (1941): Chromatographische Zerlegung der Abbaustufen von Clupein, in: Journal für Praktische Chemie 158 (1941), 72–78. Waldschmidt-Leitz hat in diesen Jahren zu dieser Thematik wiederholt auch in Prag und in Wien referiert: Ernst Waldschmidt-Leitz (1940): Über eine neuartige Fermentwirkung im Serum bei Krebs, Che-

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etwa dem großen Wiener II. Chemischen Universitäts-Laboratorium mit einer Kapazität von 350 studentischen Arbeitsplätzen, das jährlich 40.000 RM für Sachkosten benötigte, nach dem Ausbruch des Kriegs mit der Sowjetunion das Budget auf 13.500 RM gekürzt.52 Die unter anderem von Waldschmidt-Leitz verfolgte Linie der deutschen Krebsforschung wurde allerdings bereits im Sommer 1940 aus den USA angezweifelt53 und geriet schließlich ab 1944 auch in Deutschland in die Kritik.54 Dazwischen wurde in Deutschland jedoch eine lebhafte und sachliche Diskussion auf breiter Basis geführt.55 Die Debatte setzte sich nach Kriegsende auch in anderen europäischen Staaten und in den USA fort, bis die Fortschritte der klinischen Chromatografie diese Forschungslinie vollständig überflüssig machten.56 Waldschmidt-Leitz selbst wurde in diesem Zusammenhang bereits 1940/41 durch eine vergleichsweise nichtige Affäre in beträchtliche Probleme gebracht, die unter anderem die Machtkämpfe im nationalsozialistischen Wissenschaftsbetrieb anschaulich demonstriert. Ausgelöst wurde sie durch einen journalistischen Beitrag auf den Seiten 5 und 6 der „Wiener Illustrierten“ Nr. 38 vom 17. September 1941, in dem unter dem Titel „Krebs ist heilbar“ plakativ und vor allem reichlich bebildert über die Forschungen von Waldschmidt-Leitz und seinem Team berichtet wurde (bezeichnenderweise findet sich trotz der nicht weniger als revolutionär zu bezeichnenden Überschrift auf dem Titelblatt kein Hinweis auf diesen Aufsatz): mische Gesellschaft der deutschen Hochschulen in Prag, Sitzung am 23. Januar 1940, Bericht in: Angewandte Chemie 53 (1940), 132; ders. (1941): Über d-Peptidase bei Carcinomen, Vortragsveranstaltung des Vereins Deutscher Chemiker im NSBDT, Wien 17. Mai 1941, in: Angewandte Chemie 54 (1941), 228. Vgl. auch das Referat über seinen Wiener Vortrag von K. Kratzl in: Österreichische Chemiker-Zeitung 44 (1941), 201f. 52 Vgl. den Brief des Direktors des II. Chemischen Univ.-Laboratorium, Prof. Ernst Späth an den Berliner Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 10. Dezember 1941. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Kurator d. wiss. Hochschulen in Wien, Aktenzeichen 6150 A: 1940–1944. 53 F. Lipmann / O. K. Behrens / E. A. Kabit / D. Burk (1940): The Determination of the Total D-Amino acid Content of Human Tumors and Normal Tissues by Means of D-Amino Acid Oxidase, in: Science Jg. 91 (1940) Heft 2349, 21-23; O. K. Behrens / F. Lipmann / M. Cohn / D. Burk (1940): The Non-Specificity of Amino Acid Configuration In Malignant Tissue Hydrolysates, in: Science Jg. 92 (1940), Heft 2376, 32–34. 54 Theodor Wieland / Wolfgang Paul (1944): Bestimmung von l- und d-Glutaminsäure im Hydrolysat von BrownPearce-Tumoren mit 15Glutaminsäure, in: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 77 (1944), 34–44. 55 Erwähnt sei eine breit angelegte, an die Polemik von 1940 anschließende systematische Kritik der Ergebnisse (nicht nur) von Waldschmidt-Leitz aus dem Pathologischen Institut der Universität München: Hans Bayerle (1992): Malignes Wachstum und d-Peptidspaltende Enzyme. (Eine Übersicht über Arbeiten von E. Waldschmidt-Leitz, E. Abderhalden, H. Bayerle, H. von Euler, H. Herken und Mitarbeitern), in: Zeitschrift für Krebsforschung 52 (1942), 341–348. Diese Kritik nahm allerdings die positiven Ergebnisse von Hans W. Schmidt aus der chemischen Abteilung des Pathologischen Instituts der Universität Berlin gar nicht zur Kenntnis. Schmidt beurteilte dabei die Arbeiten von Waldschmidt-Leitz sachlich und begeisterte sich für die Forschungen von Rudolf Brdička. Vgl. Hans W. Schmidt (1940): Erfahrungen zur polarographischen Krebsdiagnose im enteiweißten Serum, in: Zeitschrift für Krebsforschung 50 (1940), 390–406. Wesentlich kritischer war Schmidt in seinem Beitrag: Ist das Serumpolarogramm bei Erkrankungen des Magens differentialdiagnostisch von Bedeutung?, in: Klinische Wochenschrift 21 (1942), 198–201. 56 Vgl. Trunk (2003), 49.

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„Der von der DFG beauftragte Berliner Mauritius-Verlag fertigte Photos von WaldschmidtLeitz und seinem Institut an, die mit Beschriftungen versehen wurden, die so propagandistisch waren, daß Waldschmidt-Leitz ihre Veröffentlichung zunächst untersagte.“57 Dennoch explodierte Anfang 1942 eine gewaltige Affäre, in der von einem „katastrophalen Ereignis“ die Rede war. Insbesondere ein Foto mit der Beschriftung „Nun ist auch Krebs therapeutisch zugänglich“ hatte den Kurator der deutschen wissenschaftlichen Hochschulen in Prag, Gustav Ehrlicher, verärgert.58 Er war der Meinung, die Öffentlichkeit könnte durch diese Worte wie auch und vor allem den Titel des gesamten Textes in Unruhe versetzt werden.59 Auch der SS-OberstGruppenführer und Generaloberst der Polizei, Chef der Deutschen Ordnungspolizei und seit dem 4. Juni 1942 Nachfolger Reinhard Heydrichs als stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Kurt Daluege, der gerade die Situation nach dem Attentat auf seinen Vorgänger „bewältigte“ und den tschechischen Widerstand (unter anderem in Lidice und Ležáky) dezimierte, nahm sich für den Fall Waldschmidt-Leitz im Sommer 1942 (und damit fast ein Jahr nach der Veröffentlichung des problematischen Artikels) offensichtlich genug Zeit, um in einem Brief an den Reichserziehungsminister aus politischen Gründen die Versetzung des Prager Professors an eine andere Institution zu verlangen, „da jede Schädigung des deutschen Ansehens in diesem Raume vermieden werden muß“.60 Das Ministerium beauftragte daraufhin den Berliner Pharmakologen Wolfgang Heubner mit einem Gutachten: „Heubner kam zur Auffassung, dass die Schuld an dem ‚katastrophalen Ereignis’ (der Veröffentlichung des Artikels) dem Verlag, der DFG, der Auslandsstelle der Reichsärztekammer, den Mitarbeitern von Waldschmidt-Leitz und erst zum Schluß diesem selber zukomme.“61 Die Affäre endete dann – höchstwahrscheinlich durch die Vermittlung von Waldschmidt-Leitz‘ Förderern aus dem KWI – glimpflich: Er wurde mit einer Warnung des Reichsministers vom 3. Dezember 1942 „ausreichend und vertretbar“ bestraft.62 Diese Affäre ist in drei Hinsichten interessant. Zunächst bietet sie, wie angedeutet, ein Bild der NS-Polykratie bzw. ein Beispiel dafür, wie die jeweils höchsten politischen Instanzen für die Konkurrenzkämpfe innerhalb der wissenschaftlichen Institute bzw. zwischen ihnen instrumentalisiert wurden. So liegt die Vermutung nahe, dass hinter dieser Intrige Konrad Bernhauer und seine SS-Seilschaft standen, die Waldschmidt-Leitz als ein Mitglied der Ber57 58

Deichmann (2001), 342ff, vermittelt diese Affäre auf der Basis einer umfangreichen Recherche in den Amtsakten. Der Jurist Gustav Ehrlicher war seit 1935 Ministerialrat im preußischen Kultusministerium, seit 1939 Kurator der Universität Bonn und übernahm 1942 den Posten in Prag. 59 Vgl. Deichmann (2001), 342ff, Brief Ehrlichers an den Reichserziehungsminister vom 9. Juli 1942. 60 Deichmann (2001), 342ff, Brief Dalueges an den Reichserziehungsminister vom 22. Juli 1942. 61 Deichmann (2001), 343. 62 Vgl. Reichminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an den Kurator der deutschen wissenschaftlichen Hochschulen in Prag, 3.12.1942 betr. Waldschmidt-Leitz. Bundesarchiv, Bestand R 31, Sign. 690.

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liner „Butenandt-Gruppe“ aus Prag zu beseitigen versuchten: Als günstiger Moment erwies sich dabei offensichtlich der Wechsel der Machtgarnituren im Protektorat. Bernhauer hatte zudem noch die persönliche Motivation, die prestigeträchtigere Universitätsprofessur von Waldschmidt-Leitz zu übernehmen. Zweitens war diese Affäre offenbar so ernst, dass Waldschmidt-Leitz seit Beginn der Kontroverse keine Seite mehr über „seine Enzyme“ publizierte – der letzte diesbezügliche Aufsatz stammt aus der ersten Hälfte des Jahres 1941.63 Gleichzeitig wurden seine Studien jedoch in den USA weiterhin rezipiert. So wurde 1942 in New York ein Forschungsüberblick unter dem Titel „Advances in Enzymology“ publiziert, der sich u. a. ausführlich allen wichtigen Arbeiten von Waldschmidt-Leitz seit dem Anfang der 1920er Jahre bis zum Jahr 1941 widmete.64 Trotz der erwähnten Förderung seiner Forschungen über D-Peptidasen seit 1943 gibt es keine Hinweise auf weitere Publikationen in diese Richtung. Als Erklärung für die Publikationspause dieses bis dahin wissenschaftlichen „Großproduzenten“ bietet sich entweder ein (selbst auferlegtes?) Publikationsverbot infolge der genannten Affäre an oder die Beschäftigung mit geheimen, kriegswichtigen Aufträgen. Für die zweite Variante – die enzymatische Bearbeitung der Zellulose – gibt es zumindest konkrete Hinweise.65 Der dritte Aspekt, der diese Affäre interessant erscheinen lässt, führt uns zu den Ausgangsüberlegungen dieses Aufsatzes zurück und betrifft die Klippen und Aufgaben der Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Ausgangspunkt war die Verurteilung der enzymatischen Krebsforschung allgemein und diejenige aus dem Labor von Waldschmidt-Leitz im Besonderen als „wissenschaftliche Fälschung“, die „auf schnelle und spektakuläre Erfolge in der Krebstherapie ausgerichtet“ gewesen sei.66 Zugespitzt formuliert, förderte also die DFG in dieser Betrachtung die genannten Forschungen nicht nur, sondern regte zusammen mit staatlichen Stellen deren Verwertung für die Kulturpropaganda im Ausland an. Interessanterweise erhält diese auf dünner Basis angelegte Beurteilung darüber hinaus eine ganz eigene Dynamik: So wird in der Folge schon, ohne nähere Argumentation oder die Beibringung weiterer Belege, von 63

Nach der Serie seiner Studien über die D-Peptidiase, die mit dem Text beendet wurde: Ernst Waldschmidt-Leitz / Rudolf Hatschek / Rudolf Hausmann (1940): Über d-Peptidase im Serum, in: Zeitschrift für physiologische Chemie 267 (1940), 79–90, wurde nur noch der oben zitierte Aufsatz über Chromatografische Zerlegung von Clupein im „Journal für Praktische Chemie“ (1941) veröffentlicht. 64 F. F. Nord / C. H. Werkman (Hg.) (1942): Advances in Enzymology and Related Areas of Molecular Biology, Bd. 2., New York, 71–82. 65 Waldschmidt-Leitz wurde im Januar 1944 auf eine Liste von Experten gesetzt, die das Ersatzlebensmittel-Projekt „Biosin“ wissenschaftlich begleiten sollten. Es fehlt aber jeder Beleg, ob dies wirklich geschah. Vgl. Deichmann (2001), 350. Nach dem Krieg erinnerte sich der bereits genannte Johann ( Jan) Böhm in seinem für die Moskauer Akademie der Wissenschaften verfassten Bericht: „Waldschmidt-Leitz, derzeit in Österreich, arbeitete nicht kriegswissenschaftlich, sondern für die Zelluloseindustrie, Zellwolle.“ Vgl. „Bericht über meine Tätigkeit seit 1938“ (undatiert), 6. Archiv AV ČR, Bestand Jan ( Johann) Böhm, I. c, 1945. 66 Vgl. Deichmann (2001), 344.

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vorsätzlichem Betrug bzw. „Selbsttäuschung oder Täuschung“ gesprochen67 – und das, obwohl die Affäre mit der „Wiener Illustrierten“ auf Basis der verfügbaren Quellen zunächst relativ sachlich beschrieben wird.68 Der Knackpunkt scheint hier, wie im Übrigen nicht selten, eine mangelhafte Quellenkritik zu sein. Es ist äußerst befremdlich, dass unkritisch die Interpretation von Akteuren übernommen wird, die ganz offensichtlich eigene Interessen verfolgten.69 Es ist sicher nicht abwegig, bei einem so hoch politisierten und prestigeträchtigen Thema auch Manipulation oder gar Betrug zu vermuten. Schließlich hatte das nationalsozialistische Regime die Bekämpfung dieser tödlichen Krankheit zu einer Priorität auf dem Feld der Medizin gemacht: „Krebsforschung wurde während des Nationalsozialismus auf vielen Gebieten stark gefördert. Die Förderung nahm während des Krieges drastisch zu [...] Etwa ein Drittel der von der DFG zwischen 1940 und 1945 an Physiologische Chemiker vergebenen Forschungsgelder wurde für Krebsforschung bewilligt.“70 Die Problematik der enzymatischen Krebs-Diagnose und Krebs-Bekämpfung war jedoch Mitte der 1930er Jahre wie angedeutet keine reine NS-Angelegenheit, sondern ein international sehr intensiv bearbeitetes Feld (Wettbewerbsarena), auf dem nicht nur die DFG, sondern vor allem die amerikanischen Institutionen (exemplarisch die International Cancer Research Foundation in Philadelphia) in der Forschungsförderung sehr aktiv waren. Hier geht es also weniger um die Rehabilitierung eines extrem tüchtigen und politisch sehr anpassungsbereiten Chemikers71 als vielmehr um die Frage, ob die gesamte 25-jährige Forschungsarbeit deutscher, amerikanischer und tschechischer Wissenschaftler, ihre Experimente, Kooperationen, Publikationen und Diskussionen mit einem geschichtspolitischen Veto als nichtig oder gar als Betrug bezeichnet werden können oder dürfen.72 67 Deichmann (2001), 512. Vgl. auch Ulrich Charpa  /  Ute Deichmann (2004): Vertrauensvorschuß und wissenschaftliches Fehlhandeln – Eine reliabilistische Modellierung der Fälle Abderhalden, Goldschmidt, Moewus und Waldschmidt-Leitz, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 27 (2004), 187–204, wo nur die Thesen von 2001 zugespitzt publiziert wurden, ohne neue Argumente zu liefern. Siehe ebenfalls die Dissertation von Simone Wenkel (2013): Die Molekularbiologie in Deutschland von 1945 bis 1975. Ein internationaler Vergleich, Diss. Köln, URL: http://kups.ub.uni-koeln.de/5515/1/Dissertation_SW.pdf (abgerufen am 1.10.2014), 160, die unter Berufung auf die Schriften Ute Deichmanns von einer „teilweise fragwürdigen Forschung zur Struktur von Proteinen“ spricht. 68 Deichmann (2001), 342. In dem Aufsatz Charpa/Deichmann et al. (2004), 197, ist bereits – wider besseres Wissen – davon die Rede, dass Waldschmidt-Leitz „seine ungesicherten spektakulären Ergebnisse und Heilungsversprechen ‚marktschreierisch’ in die Presse“ gesetzt und damit „gegen einen ungeschriebenen Verhaltenskodex deutscher Professoren“ verstoßen habe. 69 Charpa et al. (2004), 194 und 200. 70 Deichmann (2001), 336. 71 Waldschmidt-Leitz dozierte bis Ende April 1945 in Prag, am Kriegsende floh er nach Wien. Ende 1946 bekam er einen Lehrauftrag für Chemie in Erlangen, 1951 einen Lehrauftrag für organische Chemie an der TH München und 1955 den dortigen Lehrstuhl für Biochemie. Bis zu seinem Tod 1972 publizierte er weiterhin regelmäßig (allein in den Jahren 1946 bis 1955 etwa 70 Studien) und wurde intensiv rezipiert. 72 In diesem Zusammenhang lässt sich auch die angewandte Definition von Betrug mindestens hinterfragen: „Wis-

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Gerade im Bereich der Wissenschaftsgeschichte, auch jener, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt, sollte eben nicht nur die politisch-ideologische Ebene und die mit dieser einhergehende Quellenbasis berücksichtigt werden. Vielmehr ist es notwendig, auch die spezifischen Fachkontexte zu berücksichtigen, d. h. konkrete wissenschaftliche Veröffentlichungen, den zeitgenössischen wie auch unmittelbar anschließenden Fachdiskurs und die allgemeinen Charakteristika und Rahmenbedingungen jeder modernen Wissenschaft, deren Fortschritt keineswegs so linear verläuft, wie bisweilen angenommen wird. Vielmehr gehören Sackgassen, Irrtümer und Umwege zum normalen Entwicklungsprozess jeder Wissenschaft.73 Wie es Waldschmidt-Leitz und sein Co-Autor Rudolf Hatschek im Mai 1940 in Antwort auf ihre Kritiker formulierten: „Wir sind uns bewußt, daß unabhängig von unserer Stellungnahme und der anderer eine Klärung und der Fortschritt nur von umfangreichen und vielseitigen Versuchen zu erwarten ist.“74 Dieses Diktum sollte auch die moderne Wissenschaftsgeschichtsschreibung respektieren.

senschaftlicher Betrug ist eine im jeweiligen zeitgenössischen Kontext vermeidbare Fehlhandlung mit Schadensfolgen, für die − angesichts des weiteren Umgangs mit Gegenevidenzen − Täuschungsabsichten die plausibelste Erklärung liefern. Da Absichten aufgrund ihres mentalen Charakters nicht direkt nachweisbar sind, ist der in diesem Zusammenhang oft geforderte Absichtsnachweis methodisch leer.“ Ute Deichmann (2004): Proteinforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten von 1930 bis 1950 im internationalen Vergleich. Ergebnisse 21, in: Carola Sachse (Hg.): Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“, München, URL: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/Ergebnisse/Ergebnisse21.pdf (abgerufen am 7.8.2009). 73 Es ist symptomatisch, dass einer der Kritiker von Waldschmidt-Leitz’ Ergebnissen, der Münchner Pathologe Hans Bayerle, seinen polemischen Aufsatz mit den Worten abschließt: „Es ist verständlich, daß eine Theorie oder ein Forschungsergebnis dann größere Beachtung findet, wenn möglichst viele Einzelerscheinungen auf Grund dieser Theorie und dieses Forschungsergebnisses eine Erklärung finden. Darüber hinaus muß man sich aber der Schwierigkeiten und Mängel bewußt bleiben. Denn gerade die Kenntnis der Mängel ebnet die Wege zum Fortschritt.“ Bayerle (1942), 348. 74 Ernst Waldschmidt-Leitz / Rudolf Hatschek (1940): Bemerkungen zur vorstehenden Arbeit von H. Bayerle und F. H. Podloucky, in: Zeitschrift für Physiologische Chemie 264 (1940), 196f, hier 197.

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Von der ländlichen Peripherie ins regionale Zentrum Ärztliche Karrierechancen infolge von Arisierungen und politisch motivierten Vertreibungen im Gesundheitswesen des Verwaltungsbezirkes Horn/Niederösterreich

Arisierung bedeutet im Gesundheitswesen die Verdrängung und Vertreibung der jüdischen Ärzte, Zahnärzte, Dentisten und Apotheker aus ihren Arztpraxen und Apotheken durch systemkonforme Ärzte. Gesetze und Verordnungen bestätigten die nach dem „Anschluss“ vielfach unter Zwang einsetzende Verdrängung der jüdischen Ärzte. Sofort wurden die als jüdisch klassifizierten Ärzte und StudentInnen an der Universität Wien entlassen bzw. vom Studium ausgeschlossen.1 Die „Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“ vom 31. Mai 1938 versetzte alle jüdischen Sanitätspersonen zwangsweise in Pension.2 Am 1. Juli 1938 wurde jüdischen Ärzten die Kassenzulassung entzogen.3 Entsprechend der Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938, veröffentlicht in Österreich am 2. August 1938, erlosch die Approbation jüdischer Ärzte mit 30. September 1938.4 In Wien waren nur noch 370 „Krankenbehandler“ für jüdische Patienten zugelassen.5 Alleine in Wien waren entsprechend dem „Reichsbürgergesetz“ 1935 („Nürnberger Gesetze“) insgesamt 3.200 von den

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Michael Hubenstorf (1989): Medizinische Fakultät 1938–45, in: Gernot Heiss / Siegfried Mattl / Sebastian Meissl / Edith Saurer / Karl Stuhlpfarrer (Hg.): Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 43), Wien, 238f; Judith Merinsky (1980): Die Auswirkungen der Annexion Österreichs auf die Medizinische Fakultät der Universität Wien im Jahre 1938, phil. Diss. Wien. Heinz Arnberger (1991): Dokumentation. Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums vom 31. Mai 1938. Am Beispiel eines Verfahrens, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Jahrbuch (1991), 80–87. Michael Hubenstorf (1988): Kontinuität und Bruch in der Medizingeschichte. Medizin in Österreich 1938 bis 1945, in: Stadler Friedrich (Hg.): Kontinuität und Bruch 1938–1945–1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, Wien, 299–332, 312f; ders. (1987): Österreichische Ärzteemigration 1930–1940, in: Friedrich Stadler (Hg.) Vertriebene Vernunft. I. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien/München, 359f. Herbert Rosenkranz (1978): Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945, Wien, 126. Hubenstorf (1988), 313; Renate Feikes (1993): Veränderungen in der Wiener jüdischen Ärzteschaft 1938, geisteswiss. Diplomarb. Wien. Zu den ideologischen „rassehygienischen und rassepolitischen“ Vorgaben der NS–Gesundheitspflege vgl. Klaus-Dieter Mulley (2008): Niederdonau: Niederösterreich im Dritten Reich 1938–1945, in: Stefan Eminger / Ernst Langthaler (Hg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Bd 1: Politik, Wien/Köln/ Weimar, 73–102, 90.

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insgesamt 4.900 Ärzten betroffen, das waren etwa 65 Prozent der Wiener Ärzteschaft.6 In Niederösterreich unterlagen 170 jüdische Ärzte, das sind etwa 15 Prozent aller Ärzte dem Berufsverbot.7 An der medizinischen Fakultät der Universität Wien wurden 173 Professoren und Dozenten, unter ihnen 26 aus politischen Gründen – überwiegend Ständestaatsanhänger, die anderen als Juden – entlassen.8 Die Arisierungen bewirkten in Wien einen eminenten Mangel an praktischen Ärzten und Fachärzten.9 Auch draußen am Land wurden jüdische Mediziner aus ihren Positionen entfernt und zur Aufgabe der Praxen genötigt. Zu den Arisierungen kam die Relegation von Ärzten aus politischen Gründen und zwar hauptsächlich wegen ihrer Funktionen im Ständestaat. Eine Typologie dieser Verdrängungsvorgänge kann im Rahmen der vorliegenden Fallstudie über die Zwangspensionierung und Vertreibung der Gemeinde- und Amtsärzte im Verwaltungsbezirk Horn nur beispielhaft geleistet werden. Immerhin zeigen sich bei dieser durch ihre amtliche Stellung umschriebenen Gruppe trotz aller individuellen Einzelfälle gewisse Strukturmuster, und zwar in Hinblick auf die Entlassung und Vertreibung selbst wie auch bezüglich der Karrierechancen, die sich den systemkonformen Ärzten aus der Vertreibung ihrer Kollegen eröffneten.10 Ergänzend dazu lässt sich der Stellenwert der Personalrochaden für die politische Einfärbung der regionalen Ärzteschaft analysieren. Sodann wird die Entnazifizierung im regionalen Gesundheitssystem angeschnitten. Schließlich sind die Biografien der vertriebenen Juden nachzuzeichnen, ob ihnen die rettende Flucht ins Ausland gelang oder ob sie ermordet wurden. Zur Sprache kommt auch die weitere berufliche Entwicklung der aus politischen Gründen relegierten Ärzte. Untersuchungseinheit ist der politische Bezirk Horn mit seinen damals 17 Sanitätsgemeinden. Hauptsächliche Informationsbasis bildet ein mittlerweile skartierter Aktenbestand der Bezirkshauptmannschaft Horn über die Personal­ entscheidungen bei den beamteten und kommunalen Ärzten der Jahre 1945 bis 1948. Die Akten für die Jahre 1938 bis 1944 wurden vermutlich schon zu Kriegsende vernichtet.11 Die Personalverhältnisse in den kommunalen Spitälern Horn und Eggenburg sowie bei den nicht öffentlich beschäftigten praktischen Ärzten bleiben für eine Folgeuntersuchung reserviert. In keinem der Spitäler waren jüdische Ärzte beschäftigt und auch unter den praktischen Ärzten und Zahnärzten des Horner Bezirkes gab es keinen Arisierungsfall. Ein Exkurs behandelt die 6 7 8 9 10

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Hubenstorf (1988), 312. Hubenstorf (1988), 313. Karl Mühlberger (1998): Enthebungen an der medizinischen Fakultät (der Universität Wien) 1938–1945, in: Wiener medizinische Wochenschrift Jg. 110 (1998) Heft 4–5, 115f. Robert Jütte (2011): Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen, 84. Peter Malina / Wolfgang Neugebauer (2000): NS-Gesundheitswesen und -medizin, in: Emmerich Tálos / Ernst Hanisch / Wolfgang Neugebauer / Reinhard Sieder (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien, 696–720, 701. BH Horn, VII-80, Sanitätspersonal; eine Kopie der relevanten Akten beim Verfasser.

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beiden Arisierungsfälle unter den Dentisten. Der Verwaltungsbezirk Horn war wie das übrige Waldviertel abgesehen von Krems a. d. Donau und der Industriezone um Gmünd-Groß Sieghart agrarisch-ländlich geprägt.12 Die Landstädte Horn, Eggenburg und Drosendorf sowie die Zentralorte Geras, Weitersfeld, Pernegg oder Langau lebten beinahe ausschließlich von ihrer Servicefunktion für ihre agrarische Umgebung, Horn war zusätzlich Standort des Gymnasiums und einer Aufbaumittelschule. Eine Ausnahme in diesem Spektrum bildeten nur der Eisenbahnknotenpunkt Sigmundsherberg sowie die florierende Sommerfrische Gars am Kamp. Der Verwaltungsbezirk war in 17 Sanitätsgemeinden, davon Horn und Eggenburg jeweils in einen Stadt- und einen Landsprengel eingeteilt. Die Ärzte bildeten mit den Advokaten, Richtern, Lehrpersonen, größeren Geschäftsleuten und Gewerbeinhabern eine schmale landbürgerliche Schicht in agrarisch-ländlicher Umgebung. Das Landbürgertum war traditionell deutschnational orientiert, doch unter den Lehrpersonen, der Beamtenschaft sowie den Ärzten stieg der christlichsoziale Anteil zunehmend an.13 Aus dieser Konkurrenz erklären sich auch die Verhaftungen und Dienstentlassungen von Funktionären des Ständestaates aus der Bildungsschicht sofort nach dem „Anschluss“.14 Bei der Landtagswahl vom 24. April 1932 als letzter demokratischer Wahl der Ersten Republik stimmten im Verwaltungsbezirk Horn 51,8 Prozent für die Christlichsozialen, 18,8 Prozent für die Sozialdemokraten, 1,6 Prozent für die Großdeutsche Volkspartei, 6,9 Prozent für die Ständische Bauernvereinigung und 21 Prozent für die Nationalsozialisten. 15 Die „kleine“ jüdische Kolonie der Horner Judenschaft ist auf ortsgeschichtlicher Basis gut aufgearbeitet. Die überwiegend aus südmährischen Gemeinden zugewanderten Juden der Stadt Horn konnten 1874 eine eigene Kultusgemeinde bilden und 1878 den jetzt noch bestehenden, jedoch mehrmals devastierten Horner Friedhof anlegen.16 Das Gros der Horner 62 Bürger mosaischen Glaubens bildeten 1934 etwa ein Dutzend Handels- und Gewerbeleute, drei Angestellte und der Arzt, Dr. Ferdinand Steinitz, alle samt Familien. Der Amtsarzt Dr. 12 13

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Herbert Knittler (Hg.) (2006): Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 47), Waidhofen a. d. Thaya. Dazu Oliver Rathkolb (1988): Politische Entwicklung des Waldviertels von 1918 bis 1938. Eine Forschungsskizze, in: Friedrich Polleroß (Hg.): 1938 Davor-danach. Beiträge zur Zeitgeschichte des Waldviertels (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 30), Pölla, 11–30, 18. Markus Holzweber (2009/2010): Akt geprüft – Milderungsgrund abgelehnt ... Maßnahmen gegen „unliebsame“ Pädagogen an den Mittelschulen Niederösterreichs im Jahre 1938, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich N. F. 75/76 (2009/2010), 50–207; Robert Kurij (1987): Nationalsozialismus und Widerstand im Waldviertel. Die politische Situation 1938–1945 (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 28), Horn, 26–28. (1932): Ergebnis der Landtagswahlen in Niederösterreich vom 24. April 1932, Wien, 57 und 63, 80. Erich Rabl (1996): Die Juden in Horn, in: Friedrich Polleroß (Hg.): „Die Erinnerung tut weg“. Jüdisches Leben und Antisemitismus im Waldviertel (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 37), Waidhofen a. d. Thaya, 183– 220, 185–191; Christoph Lind (2013): Kleine jüdische Kolonien. Juden in Niederösterreich 1782–1914 (Geschichte der Juden in Niederösterreich von den Anfängen bis 1914 3.1). Wien, 51–53, 118–120.

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Bruno Langbank und seine Gattin waren katholisch, der Rechtsanwalt Dr. Georg Perger und seine Familie evangelisch.17 Neun jüdische Familien besaßen ein eigenes Wohn- und Geschäftshaus. Die jüdischen Familien der Stadt Eggenburg lebten vor 1938 als „Kaufleute, Viehhändler, Leder- und Fellhändler, Beamte, einer von ihnen war Rechtsanwalt, ein anderer Bauingenieur. Sie waren wohlhabend und hatten auch Hausbesitz.“18 Ähnlich war die Berufsstruktur im ländlichen Zentralort Weitersfeld. Die sonst über die Landgemeinden verstreuten Juden waren Inhaber kleiner Gemischtwarenhandlungen, Vieh- und Getreidehändler, aber auch arme Hausierer mit Textilien und Bedarfsartikeln. Insgesamt lebten im Verwaltungsbezirk Horn laut Volkszählung 1910 226 Staatsbürger mosaischen Glaubens oder 0,55 Prozent der Bevölkerung, im Jahre 1934 nur noch 135 oder 0,33 Prozent der Bevölkerung.19 Die Zahl der von den Nürnberger Rassegesetzen betroffenen Staatsbürger nicht mosaischen Glaubens ist nicht bekannt. Der traditionell sowohl deutschnational wie christlichsozial motivierte Antisemitismus äußerte sich nach dem „Anschluss“ in einer feindseligen Ausgrenzung der Juden aus dem sozialen Leben.20 Die regionale Presse schürte die judenfeindliche Stimmung mit drastischen Drohungen wie: „Jüdische Rechtsanwälte stehen unter Aufsicht und jüdische Ärzte erhielten eine Aufschrift, damit Fremde sie als Juden erkennen“.21 Die niederösterreichischen Juden innerhalb einer 50 km-Grenze zur Tschechoslowakei wurden im Vorfeld der „Sudetenkrise“ kollektiv nach Wien abgeschoben, in Horn und in Eggenburg am 18. September 1938.22 Auch aus Weitersfeld wurden 13 Juden nach Eggenburg und weiter nach Wien deportiert; die Weitersfelder Familie Hirschenhauser war schon kurz vorher nach Prag übersiedelt.23

Arisierung der Praxen: Gemeindeärzte und Amtsärzte Von den 17 Gemeindeärzten des politischen Bezirkes Horn wurden nach dem „Anschluss“ 1938 vom Dienst enthoben und zwangspensioniert: als Juden Dr. Ferdinand Steinitz in Horn (Sanitätsgruppe II Horn-Umgebung unter der Obmannschaft des Bürgermeisters von Mold), Dr. Leo Scheuer in Sigmundsherberg und Dr. Wilhelm Schenker in Pernegg; 17

Rabl (1996), 197f; Bruno und Ehefrau Felicia (sic!) Langbanksind 1906 aus der mosaischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Anna L. Staudacher (2005): „meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben“. 18000 Austritte aus dem Judentum in Wien 1868–1924: Namen – Quellen – Daten, Frankfurt am Main. 18 Burghard Gaspar (1996): Zur Geschichte der Juden in Eggenburg seit dem Spätmittelalter, in: Polleroß (Hg.), 159–182, 163. 19 (1915): Spezialrepertorium der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder. I. Niederösterreich, Wien, 35; (1935): Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Niederösterreich, Wien, 23. 20 Friedrich Polleroß (1993): 100 Jahre Antisemitismus im Waldviertel (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 15), Krems. 21 NÖ Land Zeitung, 23.3.1938. 22 Christoph Lind (2004): „Der letzte Jude hat den Tempel verlassen“ Juden in Niederösterreich 1938 bis 1945, Wien, 20f und 120f; Rosenkranz (1978), 92. 23 Bericht vom 15. Dezember 1952, BH Horn XI–748/1/1952.

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als Ständestaatsfunktionäre „politisch untragbar“ Dr. Alfred Weinberger in Röschitz und Dr. Robert Willvonseder in Weitersfeld.24 Auch der Horner Amtsarzt und Bezirkssanitätsrat Dr. Bruno Langbank wurde wegen seiner jüdischen Herkunft zwangspensioniert. Zu diesen politisch motivierten Eliminierungen kamen im Laufe des Jahres 1938 die mit Krankheit und Alter begründeten, vermutlich auch politisch unterlegten Pensionierungen der Gemeindeärzte Dr. Richard Minarz in Gars am Kamp und Dr. Arnold Hartl in Horn (Gemeindearzt Horn-Stadt); dazu die krankheitsbedingte Pensionierung des Eggenburger Gemeindearztes Dr. Alfons Wartmann.25 Alle Änderungen zusammengenommen betrafen etwa die Hälfte der in öffentlichen Funktionen tätigen Ärzte. Die Relegierungen lösten in ihrer Gesamtheit und Wechselwirkung eine ungeheure Dynamik der Postenneubesetzung aus, die in einer nationalsozialistischen Einfärbung des öffentlichen Ärztewesens endete. Vorbereitet wurde die Verdrängung der jüdischen Ärzte durch die am 21. März 1938 von der Landeshauptmannschaft Niederösterreich angeordnete Eidesleistung der Gemeindeärzte, von der die jüdischen Ärzte ausgeschlossen wurden,26 und „sich bis auf weiteres jeglicher Dienstleistung zu enthalten“ hatten.27 Schon eine im Zusammenhang damit stehende amts­ interne Liste der „Gemeindeärzte im Verwaltungsbezirk Horn“ ergänzt die jüdischen Ärzte nur noch handschriftlich bzw. erwähnt sie nicht mehr28 (siehe Tabelle 1). Gleichzeitig mit dieser Vertreibung der jüdischen Ärzte begann die Absetzung der als Ständestaatsrepräsentanten unerwünschten Gemeindeärzte. Die personelle Lage auf dem Gesundheitssektor wurde bald so unübersichtlich, dass die Landeshauptmannschaft Niederösterreich am 26. März 1938 den Bezirkshauptmannschaften auftrug, „alle Veränderungen unter den Sanitätspersonen, welche bisher vorgekommen sind oder künftig stattfinden sollen, (Ärzte, Apotheker, Zahntechniker etc.) ehestens anher zu berichten“.29 Die Bezirkshauptmannschaft war selbst nur unzureichend über die ohne ihr Zutun vollzogenen Personalrochaden informiert und konnte erst in ihrer Antwort vom 2. Mai 1938 eine Zwischenbilanz liefern.30 Dabei zeigte sich, dass die jüdischen Gemeindeärzte der attraktiven Sanitätssprengel Horn II und Sigmundsherberg 24 Bericht der BH Horn an die Landeshauptmannschaft N. Ö. als Antwort auf den – allerdings nicht im Wortlaut vorliegenden – Erlass v. 21. März 1938. BH Horn VII-80/179/1; Bericht vom 2. Mai 1938 BH Horn an die Landeshauptmannschaft unter Bezugnahme auf Auftrag vom 26. März 1938. BH Horn VII-80/124/1938. 25 Zu Wartmann siehe Kurt Herbert Linsbauer (2008): Eggenburger Sammlerraritäten von A-Z, Eggenburg, 400. 26 Bericht der BH Horn an die Landeshauptmannschaft N. Ö. als Antwort auf Erlass v. 21. März 1938. BH Horn VII-80/179/1. 27 Diese Formulierung findet sich im beinahe zeitgleichen Erlass an die Wiener Bezirksbehörden vom 24. März 1938 und hatte sicherlich auch für Niederösterreich Geltung. Hubenstorf (1988), 313. 28 Undatierte Liste „Gemeindeärzte im Verwaltungsbezirk Horn“, im Zusammenhang mit der von der Landeshauptmannschaft am 21. März 1938 verlangten Eidesleistung der Gemeindeärzte, zu der die jüdischen Ärzte nicht mehr zugelassen waren. BH Horn VII-80/179/1/1938. 29 BH Horn VII-184/1938. 30 BH Horn VII-124/1938.

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(Eisenbahnknoten!) Dr. Steinitz und Dr. Scheuer zu diesem Zeitpunkt bereits vom Dienst enthoben und in den Ruhestand versetzt waren; den „gemeindeärztlichen Dienst“ führten am 2. Mai 1938 in Horn-Umgebung der bisherige Horner Spitalsarzt Dr. Hans Hartl jun. und in Sigmundsherberg der praktische Arzt aus dem benachbarten Walkenstein Dr. Johann Gassner.31 Sowohl Hartl als auch Gassner konnten sich in der einmal erreichten Position dauerhaft halten. Dr. Hans Hartl wurde 31. März 1939 als provisorischer Gemeindearzt für die Sanitätsgruppe Horn-Umgebung bestellt;32 seine Definitivstellung erfolgte am 1. November 1952.33 Dr. Gassner erhielt in einem regulären Bewerbungsverfahren auf seinen Antrag vom 15. Jänner 1939 Anfang März 1939 die Stelle als Gemeindearzt der Sanitätsgruppe Sigmundsherberg.34 Für das vergleichsweise geringer dotierte Pernegg hingegen fand sich kein benachbarter Interessent. Dort blieb der jüdische Arzt Wilhelm Schenker im Mai 1938 vorerst in Funktion.35 Nachdem die „Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“ vom 31. Mai 1938 die Zwangspensionierung der in einem öffentlich-rechtlichen oder privatrecht­ lichen Dienstverhältnis zum Staat, Gemeinde oder Ortsgemeindeverband stehenden jüdischen Ärzte anordnete,36 versah der Geraser Gemeindearzt Dr. Heinrich Habl im Sommer 1938 den gemeindeärztlichen Dienst in Pernegg.37 Dr. Habl musste außerdem bis 1946 den zum Militärdienst eingezogenen Langauer Arzt Dr. Markowitsch vertreten.38 Die Sanitätsgemeinde Pernegg wurde daher auf Geras und Horn-Umgebung aufgeteilt, wobei der Markt Pernegg selbst mit den Nachbardörfern zu Horn geschlagen wurde. Die Arisierung brachte damit eine immense Verschlechterung der ärztlichen Versorgung. Denn der Pernegger Sanitätssprengel war vom Horner Boden aus durch den Pernegger Graben bei den schlechten Straßenverhältnissen und beim kriegsbedingten Treibstoffmangel mit Pferdegespann von Horn aus nur schwer zu betreuen. Wenn Gemeindearzt Hartl jun. in einem entfernten Dorf mit dem Auto oder einem Pferdefuhrwerk eine Krankenvisite absolvierte, meldeten sich im Gasthaus stets weitere örtliche Klienten oder kamen selbst ins Gasthaus zur Behandlung.39 31 32 33

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BH Horn VII-124/1938. BH Horn VII-80/174/1939. Erich Rabl (1997): Die Horner Ärztefamilie Hartl, in: Erich Rabl / Gilbert Zinsler (Hg.): Die Apotheke. 400 Jahre Landschaftsapotheke Horn. Ausstellung der Stadt Horn im Höbarthmuseum, 24. Mai bis 2. November 1997, Horn, 126–140, 136. BH Horn VII-18/31/1939. Der Nachruf auf den am 10. September 1950 verstorbenen Med. Rat Hans Gassner enthält keinen Hinweis auf den im Holocaust ermordeten Vorgänger Dr. Scheurer; vgl. Waldviertler Post, 24.9.1950. BH Horn VII-124/1038. Arnberger (1991), 81. Aktennotiz vom 17. Juni 1938 über die Betreuung Perneggs durch Habl. BH Horn VII-80/ohne Zahl. Berthold Weinrich / Erwin Plöckinger (1990): Niederösterreichische Ärztechronik. Geschichte der Medizin und der Mediziner Niederösterreich, Wien, 443; Markowitsch war anschließend bis 1951 wieder Langauer Gemeindearzt; vgl. ebenda, 594. Rabl (1997), 134f.

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Erst 1947 erhielt die Sanitätsgemeinde Pernegg wieder einen eigenen Arzt.40 Auch Walkenstein verlor auf Kriegsdauer seinen eigenen praktischen Arzt. In ganz Niederösterreich wurden bis spätestens 18. August 1938 insgesamt 23 jüdische Gemeindeärzte entlassen.41 In diesem Klima der Entrechtung legten die jüdischen Ärzte auch ihre Privatpraxen zurück und verließen die oft seit Jahrzehnten innegehabten Wirkungsstätten.42 Als erster ist der mittlerweile suspendierte „frühere Gemeindearzt“ von Pernegg Dr. Wilhelm Schenker laut Bericht vom 17. Juni 1938 „nach Klosterneuburg verzogen“.43 Dr. Steinitz meldete nach seiner amtlich erfolgten Versetzung in den Ruhestand mit dem 15. August 1938 seine Praxis in Horn ab.44 Er ist am nächsten Tag nach Wien übersiedelt.45 Der frühere Horner Amtsarzt und Bezirkssanitätsrat Dr. Bruno Langbank verlegte am 6. August 1938 seinen Wohnsitz nach Wien-Mauer.46 Von der kollektiven Vertreibung der Juden aus dem Verwaltungsbezirk Horn am 19. September 1938 war in der Stadt Horn kein Arzt mehr betroffen. Dr. Scheuer – seit 1924 Gemeindearzt von Sigmundsherberg – zögerte die Preisgabe der Privatordination lange hinaus.47 Erst am 20. September 1938 gab er die Stilllegung seiner Praxis und der Hausapotheke seit Anfang September bekannt.48 Er war tags zuvor über Eggenburg nach Wien abgeschoben worden. Nicht überliefert ist in den genannten Fällen eine eventuelle Arisierung der Praxiseinrichtung. Haus und Garten von Dr. Leo und Ilse Scheuer in Sigmundsherberg wurden vom Staat arisiert und verwaltet, was die Gemeinde Sigmundsherberg erst 1948 der Bezirkshauptmannschaft meldete.49 Der Besitz wurde nach dem „1. Rückstellungsgesetz“ mit Bescheid vom 16. Februar 1950 an die beiden Kinder des Arztehepaares Leo Scheuer und Ilse Adler, geb. Scheuer, in Woodville, North South Australia, rückgestellt.50 Weiteres „entzoge-

40 Gemeindearzt 1947–1972 war der vormalige Gemeindearzt von Frischau/Fryšava in Südmähren, Dr. Rudolf Drescher, vgl. Weinrich et al. (1990), 354. 41 Lind (2004), 18. 42 In dieser für sie aussichtslosen Lage verübten wenige Tage nach dem Anschluss der Bürgermeister und der Kaufmann Guttmann von Geras Selbstmord. Maria Mayr-Bitter (1994): Das Jahr 1945 im Bezirk Horn (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 31), Waidhofen a. d. Thaya, 22f. 43 BH Horn VII-80, ohne Zahl. 44 Schreiben Steinitz vom 9. August 1938 an die BH Horn, BH Horn VII-80/433/1938. 45 „Liste der im Sinne der szt. Nürnberger Gesetze rassisch Verfolgten“, erstellt von der Stadtgemeinde Horn, BH Horn XI-164, Stammzahl 112/1953. 46 Schreiben an die BH Horn vom 3. August 1938, BH Horn VII-80/427.I/1938. Der anerkannte Arzt Langbank wurde bei schweren Krankheiten von den Gemeindeärzten zu Rate gezogen; Eggenburger Zeitung, 28.5.1937. 47 Scheuer war schon vor dem Ersten Weltkrieg in Walkenstein und in Sigmundsherberg als Bahnarzt tätig; Weinrich et al. (1990), 682. 48 BH Horn VII-580/28/1938. 49 Bericht des Sigmundsherberger Bürgermeisters vom 18. September 1948 an die Bezirkshauptmannschaft zu Zl. BH IX-644/1948 über den Arisierungsfall. BH Horn IX-123 Sonderbestand „Pflichtanmeldung“ und „Freiwillige Anmeldung entzogener Vermögen“. 50 BH Horn Sonderbestand IX-123 „Rückstellung entzogener Vermögen“.

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nes Vermögen“ von Juden oder der unten genannten katholisch-vaterländischen Systemgegner wurde im Horner Bezirk weder vom Geschädigten noch von Rückstellungspflichtigen gemeldet.

Zwangspensionierungen von Aktivisten des Ständestaates Die Zwangspensionierung der im Ständestaat politisch engagierten Ärzte erfolgte in allen Fällen unter Druck örtlicher und regionaler nationalsozialistischer Machthaber und zwar zumeist unmittelbar nach dem „Anschluss“. Diese rigorose Vertreibung der „politisch untragbaren“ Systemgegner steigerte den traditionellen Konkurrenzkampf zwischen deutschnationalen/nationalsozialistischen und katholisch-konservativen Bildungseliten der Landstädte seit dem beginnenden 20. Jahrhundert. Ein besonders dramatisches Vergleichsbeispiel kennt man aus Gmünd, wo der praktische Arzt Eduard Michl wegen seiner Tätigkeit für die Vaterländische Front drei Monate Arrest erhielt.51 Ähnliche Verhältnisse hat Markus Holzweber für die politische Säuberung der mittleren Schulen Niederösterreichs von ständestaatlichen Aktivisten nachgewiesen.52 Auch dort begannen die Entlassungen mit örtlichen und regionalen parteipolitische Zwangsmaßnahmen und wurden in den nächsten Schritten legalisiert. Was den Bezirk Horn betrifft, so wurde der Ständestaatsfunktionär Dr. Alfred Weinberger, seit 1919 Gemeindearzt der Sanitätsgemeindegruppe Röschitz, „durch die Kreisleitung der NSDAP sogleich nach der Machtübernahme wegen seines politischen Verhaltens als Mitglied der Bezirksleitung der Vaterländischen Front enthoben, führt[e] jedoch vorläufig die Agenden weiter“.53 Weinberger wich schließlich dem Druck; er wechselte schon im Juni 1938 an das Spital der Barmherzigen Brüder in Wien54 und übernahm im Oktober 1938 in Wien eine arisierte Arztstelle, davon noch unten.55 Die aus ihren Ordinationen vertriebenen katholisch-vaterländischen Ärzte Niederösterreichs gingen größtenteils nach Wien, um dort das „Vakuum in der medizinischen Versorgung aufzufüllen“.56 Die Verdrängung Weinbergers setzte eine Kettenreaktion an Statusveränderungen in Gang. Anfangs wurde Röschitz vertretungsweise vom benachbarten Straning als Vorort des Sanitätssprengels Eggenburg-Land mitbetreut. Von Mitte Juni bis Mitte August 1938 ist Dr. Erich 51 52 53 54 55 56

Heinz Arnberger (Bearb.) (1987): Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich 1934–1945. Eine Dokumentation; Bd. 3, Wien, 20f; ein Retzer Vergleichsbeispiel ebenda, 43. Holzweber (2009/2010), 50–207. Bericht der BH Horn an die Landeshauptmannschaft N. Ö. als Antwort auf Erlass v. 21. März 1938. BH Horn VII-80/179/1. Weinberger war laut Bericht vom 17. Juni 1938 im Spital der Barmherzigen Brüder in Wien tätig. Seine Privatpraxis in Röschitz legte er per 31. Dezember 1938 zurück. BH Horn VII-80 und Akt o. Zl. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, BM f. Inneres, Gauakt Alfred Weinberger 109.924. Ich danke Frau HR Dr. Gertrude Enderle-Burcel für die Hilfe bei der Konsultation des Aktenbestandes. Michael Hubenstorf (1987): Österreichische Ärzte-Emigration, in: Stadler (Hg.), 359–415, 383; ders. (1988), 313.

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Hamberger aus Straning als Röschitzer Stellvertretender Gemeindearzt genannt und seit dessen Übersiedlung nach Gars am Kamp sein Straninger Nachfolger Dr. Matthias Roller vom 15. August 1938 bis Februar 1939 gleichfalls in dieser Funktion.57 Zuletzt wurde am 19. Jänner 1939 „Pg.“ Dr. Arthur Kreyer von seiner bisherigen Vertragsstelle Groß Riedenthal im Weinviertel nach Röschitz versetzt; bei dieser Gelegenheit wurde die „nicht lebensfähige Gemeindearztensstelle Straning zu Röschitz“ geschlagen und die Sanitätsgemeinde Eggenburg entsprechend verkleinert.58 Kreyer erhielt durch diese Anordnung des Gauärzteführers Dr. Richard Eisenmengers eine ertragreiche Pfründe. Der bisherige Straninger Arzt Dr. Roller musste prompt im Februar 1939 seine Gemeinde verlassen; er fand als Gemeindearzt von Rossatz in der Wachau eine neue Anstellung. Als der Straninger Bürgermeister 1939 die Wiederbesetzung der Ordination urgierte, wurde er vom Landrat Dr. Hans Streb mit dem Bescheid brüsk abgewiesen, Straning sei „für einen eigenen Arzt eine viel zu kleine Gemeinde und im Dritten Reich würden für die allgemeine Großraumplanung sämtliche Ärzte zum Einsatz gebraucht“.59 Dr. Kreyer stieg in weiterer Folge mit seinen hervorragenden Parteiverbindungen weiter in der Hierarchie als Gemeindearzt von Eggenburg in den Jahren 1944 bis 1945.60 1945 flüchtete er mit seiner Familie vor der Roten Armee.61 Er ist nicht mehr zurückgekehrt. – Die verkleinerte Sanitätsgemeinde Eggenburg-Umgebung, nunmehr unter der Obmannschaft des Bürgermeisters von Kattau, wurde am 16. November 1938 mit „Pg.“ Dr. Herbert Niedoba besetzt.62 Damit auch der aus dem Wiener Spitalsdienst gekommene 26-jährige Niedoba eine gute Pfründe erhielt, musste der seit 1930 in Eggenburg als praktischer Arzt neben den Gemeindeärzten wirkende Dr. Franz Kuscher, laut Gendarmeriebericht von 1947 „als ein großer Gegner der NSDAP bekannt“, seine Ordination auflösen, seine Wohnung Eggenburg Luegerring 4 an Niedoba übergeben und am 12. Juni 1938 nach Wien abwandern.63 Diesen Dienst erwies Kreisleiter Hofmann, ein Eggenburger, seinem Parteigenossen Niedoba, den er 1938 in die Stadt holte. Niedoba erreichte schließlich sogar, dass seiner Sanitätsgemeinde Eggenburg-Land wieder Straning und die Nachbarortschaften zugeschlagen wurden und Kreyer in Röschitz nur noch das Dorf Wartberg aus dem Sprengel Eggenburg-Land behielt.64 Offenbar behauptete sich da ein poli57 58 59

Weinrich et al. (1990), 662. BH Horn VII-21/31/1939. Im Schriftwechsel werden auch die Interventionen eines „Dr. Kretz aus Berlin“ erwähnt. Aussage des Bürgermeisters Ferdinand Schneider im Rückstellungsverfahren der Straninger „Doktorhäuser“. BH Horn IX-105 61/G/1955; Amt d. NÖ. Landesregierung L.A. IV/6-16.415/3-V-1955. 60 Weinrich et al. (1990), 547. 61 Liste der unter das Verbotsgesetz 1945 fallenden Flüchtlinge aus dem Verwaltungsbezirk Horn vom 26. Oktober 1945; aus Eggenburg waren sechs Familien geflüchtet. BH Horn II-563/1938. 62 BH Horn VII-334/2/1939; Weinrich et al. (1990), 628. 63 Auskunft Kurt Linsbauer, Eggenburg, aufgrund der Gendarmerieberichte, 8. Juli 2014. Angaben zu Kuscher vgl. Weinrich et al. (1990), 555. 64 Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands, Bezirksstelle Niederdonau, am 15. März 1939 an den Landrat in Horn. BH Horn VI-38/4.

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tischer Günstling gegen den anderen. Auch Niedoba, „Funktionär der allg. SS“, flüchtete 1945 mit seiner Familie vor der Roten Armee.65 Niedoba war als belasteter Nationalsozialist 1947 im Anhaltelager Glasenbach. Die Personalrochade hatte also in Eggenburgeine mehrjährige Ausdünnung der ärztlichen Versorgung bewirkt. Nach Auflösung der Sanitätsgemeinde musste die Straninger Gemeinde die ihr eigenen „Doktorhäuser“ am 2. Dezember 1941 unentgeltlich der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt für den geplanten, aber nie realisierten Aufbau eines „NSV-Musterkindergartens“ überlassen. Die Zustimmung des Bürgermeisters erzwang Kreisleiter Karl Hofmann in Anwesenheit von Landrat Dr. Streb unter der „Drohung mit Strafkompagnie und Lager“.66 Die „Doktorhäuser“ wurden erst 1955 der Gemeinde rückgestellt. Spätestens seit 1944, sicher aber 1945, war Röschitz wieder auf seinen eigenen Sprengel reduziert und Straning bildete wieder den Vorort des Sprengels E ­ ggenburg-Umgebung. Röschitzer Arzt war seit dem Wechsel Kreyers nach Eggenburg 1944 Dr. Hans Weninger, bis dahin 1940 bis 1944 Militärarzt und aufgrund seiner Sozialisation kein Nationalsozialist. Die zweite politisch motivierte Zwangspensionierung betraf Dr. Robert Willvonseder, der „als politisch untragbar ebenfalls von der Kreisleitung enthoben“ wurde,67 und „an dessen Stelle Dr. Emil[ian]Weymann aus Riegersburg gesetzt“ wurde.68 Der Wechsel vom praktischen Arzt im agrarischen Riegersburg zum vorläufig provisorischen Gemeindearzt des Zentralortes Weitersfeld war ein schöner Karrieresprung. Weymann ist in den Amtsunterlagen 1938 nicht als Nationalsozialist verzeichnet. Er wechselte schon Anfang Jänner 1939 von Weitersfeld als Gemeindearzt nach Gablitz.69 Gemeindearzt von Weitersfeld war vom 22. Dezember 1941 bis 1971 Dr. Karl Hofbauer, ebenfalls kein Parteimitglied. Hofbauer betreute während des Krieges auch die verwaiste Arztensstelle in Riegersburg sowie die Sanitätsgemeinde Hardegg a. d. Thaya im angrenzenden Verwaltungsbezirk Hollabrunn mit Zweit- und Dritt­ ordinationen. Damit brachten auch in diesem Falle die Vertreibung eines Arztes und eine kriegsbedingte Vakanz eine Verschlechterung der ärztlichen Versorgung.70 Alle diese Umbesetzungen vollzogen sich unter Mitwirkung des Kreisleiters und des Gauamtes Niederdonau des N. Ö. Ärztebundes, was die Bezirkshauptmannschaft lediglich mit dem „Ersuchen“ an das 65 Liste der unter das Verbotsgesetz 1945 fallenden Flüchtlinge aus dem Verwaltungsbezirk Horn vom 26. Oktober 1945; BH Horn II-563/1938. 66 BH Horn IX-204/123/1954 und IX-105 61/G/1955; Amt d. NÖ. Landesregierung L.A. IV/6-16.415/3-V-1955. 67 Bericht der BH Horn an die Landeshauptmannschaft N. Ö. als Antwort auf Erlass v. 21. März 1938. BH Horn VII-80/179/1. 68 Bericht vom 2. Mai 1938 BH Horn an die Landeshauptmannschaft zum Auftrag vom 26. März 1938. BH Horn VII124/1938; Willvonseder war seit 1. März 1933 provisorischer und seit 11. Februar 1938 definitiver Gemeindearzt von Weitersfeld. Weinrich et al. (1990), 793; Definitivstellung BH Horn VII-119/59/1938. Zu Willvonseders Aktivität in der Vaterländischen Front vgl. Eggenburger Zeitung, 18.6.1937. 69 BH Horn VII-36/60/1939; Weymann war seit 14. Dezember 1934 Riegersburger Gemeindearzt, vgl. Weinrich et al. (1990), 789. 70 Weinrich et al. (1990), 473f.

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Gauamt quittierte, „bei weiteren parteiamtlichen Maßnahmen über ärztliche Personalangelegenheiten auch das Einvernehmen mit dem hiesigen Amte zu pflegen“.71 Zu ergänzen ist, dass auch die beiden krankheits- bzw. altersbedingt begründeten Pensionierungen von Dr. Richard Minarz und Dr. Arnold Hartl mit großer Wahrscheinlichkeit unter politischem Druck beschleunigt wurden. Beide Pensionierungen erfolgten auffälliger Weise knapp nach dem „Anschluss“. Der 67-jährige Garser Medizinalrat Dr. Richard Minarz wurde vom 25. März bis 22. Mai 1938 krankheitshalber durch den Wiener Dr. Josef Horejs vertreten. Vergeblich versuchte er seine Position zu halten. Er trat seinen Dienst wieder an und bewarb sich am 4. Juni 1938 als Anwärter für die Mitgliedschaft in der NSDAP. Doch schon am 27. August ist ein von örtlichen Nationalsozialisten gepuschter Konkurrent, der oben erwähnte bisherige Straninger Gemeindearzt Dr. Erich Hamberger in Gars als praktizierender Arzt nachgewiesen. Minarz wurde am 17. September 1938 pensioniert und Hamberger auf Drängen des Garser Bürgermeisters Anton Höltl und nach einem einstimmigen Beschluss der Gemeindeverwalter von Gars sowie der eingemeindeten Ortschaften per 30. Dezember 1938 als Gemeindearzt bestätigt.72 Als Garser Gemeindearzt bewarb sich 1938 außerdem der seit 1927 in der Marktgemeinde wirkende Dr. Anton Sommer, geb. 1900, der aber nach eigenen Angaben „aus politischen Gründen“ nicht zum Zug kam.73 Dr. Sommer ist übrigens auf der schon erwähnten behördeninternen Übersicht „Gemeindeärzte im Verwaltungsbezirk Horn“ vom Frühjahr/Frühsommer 1938 handschriftlich als Garser Gemeindearzt zusätzlich zu dem noch amtierenden Dr. Minarz eingetragen,74 er war offenbar als Nachfolger Dr. Minarz’ vorgesehen, wurde dann aber zugunsten Hambergers zurückgestellt. Dr. Sommer war sodann 1940 bis 1943 Arzt bei der Marine und nahm anschließend seine Garser Praxis wieder auf. Aus Sorge um den sozialen Status war Dr. Sommer seit Jahresmitte 1938 Parteianwärter und seit 1943 Mitglied der NSDAP. Weiterhin „bekannte er sich als Katholik und half nachweislich Personen, die damals verfolgt wurden“, bescheinigte ihm der Horner Amtsarzt am 23. Februar 1957 im Ansuchen um die schließlich am 7. Jänner 1957 erfolgte Ernennung zum Medizinalrat. Dr. Sommer wurde nach dem frühzeitigen Tod Hambergers 1953 Garser Gemeindearzt. Ein politischer Hintergrund ist auch bei der Pensionierung des Horner Stadtarztes Dr. Arnold Hartl mit 15. Juni 1938 anzunehmen. Der schon seit einigen Jahren krankheitsbe71

Schriftwechsel im Zusammenhang mit der Pensionierung Weinbergers, Schreiben vom 31. Dezember 1938. BH Horn VII/78/821/1938. 72 Schreiben der Marktgemeinde Gars an die Bezirkshauptmannschaft Horn, 27. August 1938, BH Horn VII247/13/1938 und 16/14/1939. 73 Curriculum vitae 1957, im Zusammenhang mit der vom Bürgermeisteramt Gars am 7. Jänner 1957 beantragten Ernennung Sommers zum Medizinalrat. BH Horn, I/S-1/3. 74 Liegt im Akt „Parteizugehörigkeit der Amtsärzte und deren Zulassung im Amte für Volksgesundheit der NSDAP, Erhebung der Landeshauptmannschaft Niederdonau vom 29. November 1938, BH Horn VII-743/80/1938.

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dingt geschwächte Arnold Hartl reichte kaum zufällig „in den ersten Tagen des März“ 1938 um die Pensionierung ein, was nach Aussage seiner Nachkommen auch auf seine „nicht rein arische Abstammung“ zurückzuführen war. Arnold Hartl quittierte seine Praxis nur unter der Voraussetzung einer Nachfolge seines Sohnes Dr. Hans Hartl, der jedoch, wie oben ausgeführt, bereits im Mai 1938 nach der Vertreibung des jüdischen Arztes Scheuer die Planstelle Horn-Umgebung vertretungsweise erhielt und sie 1939 „in provisorischer Diensteigenschaft“ übernahm. Den damit frei werdenden städtischen Horner Sanitätssprengel erhielt ohne Ausschreibung der bisherige (seit 1925) Gemeindearzt von Brunn a. d. Wild, Dr. Norbert Loimer. Seine „Versetzung nach Horn wurde von der Landeshauptmannschaft Niederdonau unter Zl. VII/3-60-1938 am 20. Jänner [1939] amtlich durchgeführt“.75 Dr. Loimer hatte eine wichtige Rolle bei den örtlichen Brunner Wahlkundgebungen zur „Volksabstimmung“ 1938 über den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich gespielt.76 Er ist am 17. Juni 1938 und am 13. Februar 1939 als Kreisärzteführer von Horn genannt.77 Loimer ist 1941 knapp 50-jährig an den Folgen einer Infektion verstorben. Als Loimers Nachfolger in Brunn a. d. Wild wurde Dr. Rudolf Kraus ernannt, der seit 1939 bei der NSDAP war.

Arisierung der Praxen: Dentisten In rascher Folge wurden auch die Praxen der beiden jüdischen Dentisten arisiert. Der Garser Zahntechniker Otto Mahler meldete beim Gendarmerieposten Gars am 19. Mai 1938 seine seit 1929 innegehabte Betriebsstätte wegen Übersiedlung nach Wien ab. Der Gendarmerieposten bestätigte, dass Mahler infolge Praxisauflösung sämtliche Geräte abmontiert hatte.78 Mahler war von der Gemeindeverwaltung am 2. Mai 1938 zwecks Vermögensdeklaration vorgeladen worden. Sein Bekenntnis: „Ich habe keinerlei Vermögen. Mein einziger Besitz besteht in der Einrichtung meiner Wohnung und meines Zahnateliers“.79 Außerdem drängte schon der Konkurrent Dentist Otto Hapta, der die Chance nützte, seine Wirkungsstätte aus dem doch peripher gelegenen St. Leonhard am Hornerwald mit seiner armen waldbäuerlichen Bevölkerung in die florierende Sommerfrische Gars am Kamp zu verlegen. Hapta war rasch am Zug. St. Leonhard meldete er am 13. April 1938 ab, Gars wurde ihm nach amtsärztlicher Überprüfung der Betriebsstätte bereits am 2. Mai 1938 genehmigt.80 Dazu die „Eggenburger Zeitung“ am 3. Juni 1938: „Der jüdische Dentist Otto Mahler hat sein zahntechnisches Atelier 75 76 77 78 79

Schreiben des BH Horn an den Bürgermeister von Brunn a. d. Wild, 2. Februar 1939. BH Horn VII-39/a/1939. Er war Redner einer ersten und Leiter einer zweiten Wählerversammlung. Eggenburger Zeitung, 8.4.1938. BH Horn VII-184/2/1938; Weinrich et al. (1990), 576. Niederschrift und Bestätigung vom 19. Mai 1938, BH Horn VII-80/210/1938. Protokoll aufgenommen in der Gemeindekanzlei Gars a. K. am 3. Mai 1938 mit der Unterschrift Mahlers. Archiv der Marktgemeinde Gars am Kamp, Schriftwechsel 1938. 80 BH Horn VII-80/219/1938.

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aufgelassen. Dafür haben wir einen neuen, nicht unbekannten arischen Zahntechniker; Otto Hapta, der von St. Leonhard kam, seine Praxis bereits ausübt und sich großen Zuspruches erfreut.“ Hapta war seit 24. März 1938 Garser Gemeinderat.81 Der Zahntechniker Arthur Grünwald hatte als verfolgter Jude seine Rodingersdorfer Betriebsstätte bereits Ende März 1938 eingestellt und am 31. Mai 1938 abgemeldet. Die Praxis führte seither Anton Bertoldini, der schon bisher gemeinsam mit Grünwald in Rodingersdorf gearbeitet hatte, aber erst am 5. Mai um die Befugnis ansuchte und sie am 15. Oktober 1938 erhielt.82 Bertoldini ordinierte allerdings neben seiner Wiener Praxis in Rodingersdorf nur sonntags; am 9. Juni legte er „mit deutschem Gruß“ seine Rodingersdorfer Praxis zurück.83

81

82 83

Gabriele Nechwatal (1990): Der Nationalsozialismus und seine Auswirkungen im Bezirk Horn in den Jahren 1938–1945, geisteswiss. Diplomarb. Wien, 136. In Gars war neben Hapta schon seit 14. November 1936 der Zahntechniker Leopold Inquart zugelassen. Standesvertretung der befugten Zahntechniker Nieder-Österreichs am 3. Juni an die BH Horn, BH Horn VII-269/1/1938. BH Horn VII-80/280/1/1938. BH Horn VII-250/4/1938; weiters BH Horn VII-80/299/1939.

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Ein strukturelles Muster Tabelle 1 Gemeindeärzte im Verwaltungsbezirk Horn – amtliche Erhebung Frühjahr/Frühsommer193884 Gemeindearzt Dr. Karl Markowitsch Dr. Johann Gassner Dr. Alfred Wallner Dr. Alfred Weinberger Dr. Heinrich Habl Dr. Arthur Jonke Dr. Arnold Hartl Dr. Richard Minarz Dr. Norbert Loimer Dr. Franz Schmuttermeier Dr. Erich Hamberger

Gemeinde Langau Walkenstein Eggenburg/Spital Röschitz Geras Japons Horn Gars Brunn an der Wild Drosendorf

wörtliche Antwort noch nicht Anwärter 13.6.1938 ja, 1.1.1935 [Ständestaatsaktivist] [keine Angabe] Anwärter --Anwärter 4.6.1938 ja, Feber 1934 ja, Mai 1938

wechselt 1938/45 nach --Sigmundsherberg Eggenburg zwangspensioniert Mitbetreuung Pernegg --pensioniert pensioniert Horn ---

Straning

ja, 1.5.1938

Dr. Karl Till Dr. Emilian Weymann Dr. Leo Scheuer [Dr. Ferdinand Steinitz] [Dr. Wilhelm Schenker] [Dr. Robert Willvonseder] Dr. Anton Sommer, [war als Garser Gemeindearzt vor-gesehen] Dr. Johanna Nagl [für Fratting, Südmähren?]

Altenburg Riegersburg Sigmundsherberg (Horn) [Pernegg] [Weitersfeld)]

ja, Juli 1938 [keine Angabe] [verfolgter Jude] [verfolgter Jude] [verfolgter Jude] [Ständestaatsaktivist]

Mitbetreuung Röschitz dann Gars --Weitersfeld zwangspensioniert zwangspensioniert zwangspensioniert zwangspensioniert

Gars

ja V. 38 [Anwärter 1938, Mitglied 1943]

Drosendorf

nein, sondern Mitglied d. SdP (Ortsgruppe Fratting)

---

[Horn]

[verfolgter Jude]

zwangspensioniert

[Dr. Bruno Langbank Amtsarzt und Bezirkssanitätsrat]

84 Quelle: Undatierte Liste „Gemeindeärzte im Verwaltungsbezirk Horn“, entstanden im Zusammenhang mit der von der Landeshauptmannschaft am 21. März 1938 verlangten Eidesleistung der Gemeindeärzte, zu der die jüdischen Ärzte nicht mehr zugelassen waren.BH Horn VII-80/179/1/1938. Die Eintragung „wörtliche Antwort“ bezieht sich jeweils auf die dem Akt beliegenden „Erklärung“ der Ärzte. Die Eintragungen in eckiger Klammer und die Rubrik „wechselt nach“ sind vom Verfasser ergänzt. SdP = Sudetendeutsche Partei.

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Die Personalrochaden infolge der Vertreibung der jüdischen und systemunerwünschten Ärzte sowie der Nachbesetzungen vakanter Posten infolge Ablebens und Pensionierungen (Wallner statt Wartmann, Bernhauser statt Loimer, Weninger statt Kreyer) ergeben ein strukturelles Muster. Im Zuge dieser Umgruppierungen avancierten im Verwaltungsbezirk Horn zumeist junge Ärzte von der agrarischen Peripherie bzw. aus dem subalternen Spitalsdienst in gut dotierte Posten der regionalen Zentren Horn, Eggenburg, Gars, Weitersfeld und Sigmundsherberg. Die Wechselfälle lassen sich je nach Entfernung in drei Kategorien unterteilen: Die Versetzungen auf einen Posten in direkter Nachbarschaft bei weiterer Mitbetreuung der bisherigen Ordination erfolgten im April/Anfang Mai 1938 von amtswegen zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der verwaisten Sanitätsgemeinde. Dieser in weiterer Folge durch Definitivstellungen bestätigte Wechsel war nicht an nationalsozialistische Mitgliedschaft gekoppelt; nur im Falle Wallner/Eggenburg liegt sie vor; die Aufsteiger Gassner/Sigmundsherberg und Hartl jun./Horn dankten mit Parteibeitritt, Weymann und sein Nachfolger Rudolf Hofbauer in Weitersfeld traten nicht der NSDAP bei. Versetzungen über weitere Distanzen innerhalb des Landkreises erforderten eine bewährte Parteimitgliedschaft oder zumindest eine Protektion durch Sanitätsgemeinde und Kreis (Loimer von Brunn a. d. Wild nach Horn und Hamberger mit dem politisch geschobenen Wechsel von Röschitz nach Gars).85 Interessenten aus anderen Verwaltungsbezirken wie Kreyer/Eggenburg und Niedoba/Eggenburg sowie der aus Vitis kommende Bernhauser/Horn bedurften massiver Intervention von Bürgermeister, Kreis und Gau. In ihrem Falle handelt es sich um aktive Parteimitglieder, für die auch Sanitätssprengel zusammengelegt oder willkürlich durch Versetzungen vergrößert wurden. Dieses Geschacher um Posten und Pfründen ihrer vertriebenen und verdrängten jüdischen und systemunerwünschten Kollegen blieb nicht ohne Auswirkungen auf die politische Haltung der Gemeinde- und Amtsärzte der Anschlussära 1938 bis 1945 (siehe Tabelle 2 und Grafik 2). Sechs von ihnen waren Altparteimitglieder der NSDAP, davon Loimer, Schmuttermeier, Kreyer und Niedoba illegal zwischen 1933 und 1938; Wallner hat seine 1938 einbekannte Mitgliedschaft ab „1.1.1935“ abgeleugnet; ebenso Bernhauser mit der niedrigen Mitgliedsnummer unter 6.000.000.86 Zur Absicherung oder Erreichung ihrer Position sind jedoch in der Anschlussära weitere sieben Gemeinde- bzw. Amtsärzte der Partei beigetreten, Till, Kraus, Hamberger, Hartl, Wimmer, Gassner und Frundsberg.87 Nicht in den Registrierungsblättern „zur Verzeichnung der Nationalsozialisten gemäß § 4 des Verbotsgesetzes 1947“ des Bezirkes

85 Die Mitgliedschaft in der NSDAP ist den Registrierungslisten entnommen. BH Horn, Registrierungslisten. 86 Die 1938 zusätzlich zu Schmuttermeier in Drosendorf genannte, vermutlich für das südmährische Fratting/ Vratĕnin zuständige, Ärztin Dr. Nagl wird in der Aufstellung nicht berücksichtigt. 87 Angabe für Frundsberg nach Registrierungsakten. Wegen seiner steilen Karriere 1938 Stellvertretender Amtsarzt in St. Pölten, dann Amtsarzt in Horn ist auch bei Frundsberg frühere Parteimitgliedschaft anzunehmen.

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Horn verzeichnet sind Markowitsch, Habl und Hofbauer; der später nach Gablitz übersiedelte Weymann war nach dem Selbstzeugnis von 1938 nicht Parteimitglied. Markowitsch war den ganzen Krieg eingerückt, seine Ordination in Langau wurde von Weitersfeld aus mit betreut.88Auch der 1944 für Röschitz ernannte Weninger war kein Parteimitglied.

88 Markowitsch wurde während seiner dreimonatigen Heersdienstleistung am 11. Februar 1939 vom Weitersfelder Gemeindearzt Dr. Maximilian Weymann vertreten. BH Horn VII-80/ 71/1939.

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Wie ging nun die Zweite Republik mit diesem Erbe um? Stichwortartig: Zwei schwer belastete Ärzte sind während des Krieges oder knapp nach dem Krieg verstorben (Loimer und Schmuttermeier). Die durch massive Protektion in den Bezirk eingeschleusten Ärzte gingen oder mussten gehen, das waren die ohnehin vor der Roten Armee geflüchteten Eggenburger Gemeindeärzte Kreyer und Niedoba, der als Loimers Nachfolger von Vitis zugezogene Horner Gemeindearzt Bernhauser und der von St. Pölten gekommene Amtsarzt Frundsberg.89 Dieser Gruppe wurden die illegale respektive frühe Parteimitgliedschaft, ihr politisches Engagement in der NS-Zeit und ihre geringe Absicherung im lokalen Umfeld zum Verhängnis. Aus dieser Gruppe der Zugezogenen konnte sich lediglich Frundsberg mit Spezialisierung seit Jänner 1946 als Zahnarzt erneut etablieren. (Eine Ausnahme bildet auch politisch vorbelastete praktische Horner Arzt Rudolf Hochsteger, der mit Hilfe eines katholischen Netzwerkes bleiben konnte.) Die hier im Horner Bezirk „heimischen“ Gemeindeärzte und der Eggenburger Spitalsleiter Wallner hingegen konnten bleiben, wobei sie alle zwar registrierungspflichtig, aber „minderbelastet“ im Sinne des „Nationalsozialistengesetzes“ 1947 waren. Zur kontinuierlichen Fortführung der ärztlichen Versorgung wurden zusätzlich zu den minderbelasteten Ärzten die Sanitätsgemeinden Drosendorf und Langau interimistisch mit geflüchteten südmährischen Ärzten besetzt, die aber nach aufopferungsvollem Dienst (Typhus-

89

Frundsberg war vom 13. April 1940 bis 1945 Horner Amtsarzt. Weinrich et al. (1990), 406.

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epidemie!) 1946 als Ausländer entlassen und durch Kriegsheimkehrer ersetzt wurden. Aber auch unter den erst nach 1945 ernannten Gemeindeärzten waren mehrere „minderbelastete“ ehemalige Nationalsozialisten, wie jener von Straning, Walkenstein, Brunn. d. Wild und Drosendorf. 1948/49 waren damit von amtierenden 17 Gemeindeärzten mindestens neun ehemalige Nationalsozialisten, aber keiner „belastet“ entsprechend dem „Verbotsgesetz“ 1947.90 Im politischen Milieu der Zweiten Republik wandte sich die Waldviertler Ärzteschaft, auch die ehemaligen Nationalsozialisten, überwiegend der ÖVP zu.91 Aus größerer Distanz betrachtet handelt es sich beim nationalsozialistischen Zwischenspiel um eine weitere Volte im Prozess der regionalen Elitenbildung von der deutschnationalen Dominanz der Jahrhundertwende über die christlichsozialen Terraingewinne der Vorkriegsperiode bzw. im Ständestaat und die nationalsozialistische Einfärbung bis zur ÖVP-Dominanz der Nachkriegsperiode.

Tabelle 2: Gemeindeärzte des Verwaltungsbezirkes Horn bei Kriegsende und im Entnazifizierungsverfahren92 Name

Gemeinde

Entnazifizierungsverfahren minderbelastet mb mb keine Registrierung verst. 18.7.45

Entnazifizierungsverfahren belastet

Altenburg Brunn/Wild Drosendorf

Parteibindung 1945 NS NS NS

Till Karl Kraus Rudolf Schmuttermeier Franz Kreyer Arthur

Eggenburg-Stadt

NS

mb?

amtsintern 1945 als „illegal“ be-zeichnet amtsintern 1945 als „illegal“ bezeichnet; Lager Glasenbach 1947

Niedoba Her- Eggenburg-Umgebert bung

NS

nach behördlicher Aussage „illegal“

90 Unter den zu Jahresende 1949 im Horner Bezirk wohnhaften, gemäß § 17, Abs. 2, VG 1947, in der Registrierungsliste als „belastet“ verzeichneten Personen befand sich kein Arzt. Aufstellung auf Anordnung des Militärkommandanten von Krems, 13. Dezember 1949, BH Horn XI-42/199, liegt bei I-6/10-V. 91 Das Werben der ÖVP um die ehemaligen Nationalsozialisten hat der Horner Gymnasialdirektor Hans Kapitan im lebensgeschichtlichen Interview plastisch dargestellt. Erich Rabl (1986): Nationalsozialismus und russische Besatzungszeit im Bezirk Horn. Ein Gespräch mit Hans Kapitan, in: Das Waldviertel 35 (