Balduin von Ford: Sermones
 9782503546551, 9782503563305

Table of contents :
Einleitung 11
Leben 11
Werke 16
Die Sermones 18
Inhalt der Sermones 21
Quellen der Sermones 22
Bedeutung der Sermones 23
Beurteilung durch die Nachwelt 25
Balduins theologische Lehre 26
Bibliographie 31
Abkürzungen 31
Ausgaben und Übersetzungen von Balduins Werken 32
Sammelausgabe 32
Tractatus diversi 32
De sacramento altaris 33
De commendatione fidei 33
Liber de sectis hereticorum et orthodoxe fidei dogmata 33
Briefe 34
Artikel über Balduin in Lexika 34
Werke, die ausschließlich von Balduin handeln 34
Werke, die längere Abschnitte über Balduin beinhalten 36
Sonstige verwendete Literatur 36
Quellentexte 36
Sekundärliteratur 39
SERMONES 41
Sermo 1 (Traktat XVI ) – Die Schönheit der Nazaräer 43
Der Name der Nazaräer 45
Die Reinheit der Nazaräer 46
Der Glanz der Nazaräer 50
Die rosige Farbe der Nazaräer 53
Die Schönheit der Nazaräer 59
Sermo 2 (Traktat IV ) – Der Gehorsam 63
Die doppelte Auferstehung 63
Der Gehorsam und das Lied Christi 66
Das geistliche Saitenspiel 70
Die geistliche Harfe 74
Die fünf geistigen Sinne 78
Die Berührung durch den Glauben 78
Der Geruch 82
Der Geschmack 83
Das Gehör 83
Das Sehen 84
Die zehn Saiten der geistlichen Harfe 84
Der doppelte Gehorsam 85
Sermo 3 (Traktat XI) – Die Kreuzigung des alten
Menschen 89
Der dreifache Mensch: der irdische, fleischliche und
geistliche Mensch 92
Der irdische Mensch 96
Der fleischliche Mensch 100
Fortsetzung 104
Der sinnenhafte Mensch 107
Sermo 4 (Traktat 1) – Das Altarssakrament 115
Sermo 5 (Traktat XII ) – Für die Vorsteher 135
Sermo 6 (Traktat I (letzter Teil) und II ) – An die
Priester 145
Sermo 7 – Der Gehorsam 157
Sermo 8 – Predigt über das heilige Kreuz 183
Sermo 9 (Traktat III ) – Warum Gott im Licht des
Evangeliums geliebt werden muss 199
Die gegenwärtige und zukünftige Liebe zu Gott 201
Gott muss in seinen Wohltaten mit ganzem Herzen
geliebt werden 204
Gott muss in seinen Verheißungen mit ganzer Seele
geliebt werden 207
Gott muss in seinen Urteilen mit ganzer Kraft geliebt
werden 209
Gott muss in seinen Geboten mit dem ganzen Geist
geliebt werden 212
Sermo 10 (Traktat IX/ii) – Die Sanftmut 221
Wir müssen aus Ur in Chaldäa ausziehen 223
Der dreifache Zustand unserer fleischlichen Natur 224
Die Sanftmut des Menschen sich selbst gegenüber 226
Die Sanftmut des Menschen dem Nächsten gegenüber 231
Die Sanftmut des Menschen Gott gegenüber 234
Sermo 11 (Traktat X/i) – Das Siegel der Liebe Gottes 241
Sermo 12 (Traktat VIII ) – Die Liebe 251
Sermo 13 (Traktat VII ) – Zu Mariä Verkündigung 263
Gegrüßt seist du, voll der Gnade! 264
Die dreifache Gnade der Schönheit 266
Die Gnade der Anmut 269
Die Gnade der Beliebtheit 271
Die Gnade der Ehre 271
Der Herr ist mit dir 272
Du bist gesegnet unter den Frauen 273
Und gesegnet ist die Frucht deines Leibes 280
Sermo 14 (Traktat V) – Predigt zur Aufnahme der
heiligen Maria in den Himmel 283
Fortsetzung 288
Die dreifache Unruhe 297
Sermo 15 (Traktat XV) – Das Leben in Gemeinschaft 301
1. Teil 301
Das gemeinschaftliche Leben des Vaters, des Sohnes
und des Heiligen Geistes 303
Die Gemeinschaft der Engel 309
2. Teil 310
Die dreifache Gemeinschaft der Natur, der Gnade
und der Verherrlichung. Zunächst aber
die Gemeinschaft der Natur, zu der die
Gemeinschaft der Schuld hinzukommt 310
Die Liebe 312
Die Gemeinschaft der Gnade 313
Die Gemeinschaft der Gnade führt zum
Gemeinschaftsleben 316
3. Teil 322
Die gegenseitige Liebe im Gemeinschaftsleben 322
Die Gemeinschaft der Gnade 326
Die Gemeinschaft der Gnade und der Verherrlichung 330
Sermo 16 (Traktat IX/i) – Über die selige Armut 337
Das leere Urteil 342
Die Aufgeblasenheit der leeren Hoffnung 344
Die leere Aufgeblasenheit der Begierde 348
Sermo 17 (Traktat IX/iii) – Anlässe zum Trauern 353
Der erste Grund für die Trauer 356
Der zweite Grund für die Trauer 358
Der dritte Grund für die Trauer 360
Der vierte Grund für die Trauer 361
Der fünfte und sechste Grund für die Trauer 364
Die besonderen Tränen der Gerechten 366
Sermo 18 (Traktat VI ) – Die Kraft und
Wirksamkeit des Wortes Gottes 369
Das Wort Gottes ist lebendig 371
Es ist wirksam 372
Es ist durchdringend 372
Die Scheidung zwischen Seele und Geist 375
Fortsetzung 378
Die Scheidung der Seele 379
Fortsetzung über die Scheidung von Seele und Leib 382
Die Scheidung des Geistes allein 383
Über die Scheidung der Zerknirschung 384
Der Leib der Sünde und seine Scheidung 386
Die Scheidung zwischen Mark und Mark 387
Das Mark der Gerechtigkeit, ihr Fett und ihre Fülle 387
Fett, Fettgewebe und Mark des Unrechts 389
Es liegt nicht in unserer Vollmacht, das Begehren des
Bösen zu verhindern 391
Drei Dinge, die die Freude und den Abscheu vor dem
Bösen zur Vollendung führen 393
Das Fleisch, die Knochen und das Mark der Sünde 396
Sermo 19 (Traktat IX/iv) – Predigt über die
Verachtung des Reichtums 403
Sermo 20 (Traktat X/ii) – Das Elend und die Armut
des Menschen wegen seiner Schuld 409
Sermo 21 (Traktat XIII ) – Die Liebe Gottes ist
ausgegossen in unsere Herzen 413
Sermo 22 (Traktat XIV ) – Ansprache an die
Mönche über die geordnete Liebe 421
Indices435
Index der heiligen Schrift 437
Index der Quellen 451

Citation preview

Balduin von Ford SERMONES

CORPVS CHRISTIANORVM IN TRANSLATION

4

CORPVS CHRISTIANORVM Continuatio Mediaeualis XCIX

Baldvini de Forda Sermones EDIDit David N. Bell

TURNHOUT

FHG

Balduin von Ford SERMONES

Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen von Hildegard Brem, O. Cist.

H

F

© 2012, Brepols Publishers n.v., Turnhout, Belgium All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording, or otherwise, without the prior permission of the publisher. Printed on acid-free paper.

D/2012/0095/169 ISBN 978-2-503-54655-1

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Leben Werke Die Sermones Inhalt der Sermones Quellen der Sermones Bedeutung der Sermones Beurteilung durch die Nachwelt Balduins theologische Lehre

11 11 16 18 21 22 23 25 26

Bibliographie Abkürzungen Ausgaben und Übersetzungen von Balduins Werken Sammelausgabe Tractatus diversi De sacramento altaris De commendatione fidei Liber de sectis hereticorum et orthodoxe fidei dogmata Briefe Artikel über Balduin in Lexika Werke, die ausschließlich von Balduin handeln Werke, die längere Abschnitte über Balduin beinhalten Sonstige verwendete Literatur Quellentexte Sekundärliteratur

31 31 32 32 32 33 33 33 34 34 34 36 36 36 39

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Inhaltsverzeichnis

SERMONES

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Sermo 1 (Traktat XVI) – Die Schönheit der Nazaräer Der Name der Nazaräer Die Reinheit der Nazaräer Der Glanz der Nazaräer Die rosige Farbe der Nazaräer Die Schönheit der Nazaräer

43 45 46 50 53 59

Sermo 2 (Traktat IV) – Der Gehorsam Die doppelte Auferstehung Der Gehorsam und das Lied Christi Das geistliche Saitenspiel Die geistliche Harfe Die fünf geistigen Sinne Die Berührung durch den Glauben Der Geruch Der Geschmack Das Gehör Das Sehen Die zehn Saiten der geistlichen Harfe Der doppelte Gehorsam

63 63 66 70 74 78 78 82 83 83 84 84 85

Sermo 3 (Traktat XI) – Die Kreuzigung des alten Menschen Der dreifache Mensch: der irdische, fleischliche und geistliche Mensch Der irdische Mensch Der fleischliche Mensch Fortsetzung Der sinnenhafte Mensch

92 96 100 104 107

Sermo 4 (Traktat 1) – Das Altarssakrament

115

Sermo 5 (Traktat XII) – Für die Vorsteher

135

Sermo 6 (Traktat I (letzter Teil) und II) – An die Priester

145

89

Sermo 7 – Der Gehorsam 157 Sermo 8 – Predigt über das heilige Kreuz

6

183

Inhaltsverzeichnis

Sermo 9 (Traktat III) – Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss Die gegenwärtige und zukünftige Liebe zu Gott Gott muss in seinen Wohltaten mit ganzem Herzen geliebt werden Gott muss in seinen Verheißungen mit ganzer Seele geliebt werden Gott muss in seinen Urteilen mit ganzer Kraft geliebt werden  Gott muss in seinen Geboten mit dem ganzen Geist geliebt werden

199 201 204 207 209 212

Sermo 10 (Traktat IX/ii) – Die Sanftmut Wir müssen aus Ur in Chaldäa ausziehen Der dreifache Zustand unserer fleischlichen Natur Die Sanftmut des Menschen sich selbst gegenüber Die Sanftmut des Menschen dem Nächsten gegenüber Die Sanftmut des Menschen Gott gegenüber

221 223 224 226 231 234

Sermo 11 (Traktat X/i) – Das Siegel der Liebe Gottes

241

Sermo 12 (Traktat VIII) – Die Liebe

251

Sermo 13 (Traktat VII) – Zu Mariä Verkündigung Gegrüßt seist du, voll der Gnade! Die dreifache Gnade der Schönheit Die Gnade der Anmut Die Gnade der Beliebtheit Die Gnade der Ehre Der Herr ist mit dir Du bist gesegnet unter den Frauen Und gesegnet ist die Frucht deines Leibes

263 264 266 269 271 271 272 273 280

Sermo 14 (Traktat V) – Predigt zur Aufnahme der heiligen Maria in den Himmel Fortsetzung Die dreifache Unruhe

283 288 297

Sermo 15 (Traktat XV) – Das Leben in Gemeinschaft 1. Teil Das gemeinschaftliche Leben des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes Die Gemeinschaft der Engel

7

301 301 303 309

Inhaltsverzeichnis

2. Teil Die dreifache Gemeinschaft der Natur, der Gnade und der Verherrlichung. Zunächst aber die Gemeinschaft der Natur, zu der die Gemeinschaft der Schuld hinzukommt Die Liebe Die Gemeinschaft der Gnade Die Gemeinschaft der Gnade führt zum Gemeinschaftsleben 3. Teil Die gegenseitige Liebe im Gemeinschaftsleben Die Gemeinschaft der Gnade Die Gemeinschaft der Gnade und der Verherrlichung

310

310 312 313 316 322 322 326 330

Sermo 16 (Traktat IX/i) – Über die selige Armut Das leere Urteil Die Aufgeblasenheit der leeren Hoffnung Die leere Aufgeblasenheit der Begierde

337 342 344 348

Sermo 17 (Traktat IX/iii) – Anlässe zum Trauern Der erste Grund für die Trauer Der zweite Grund für die Trauer Der dritte Grund für die Trauer Der vierte Grund für die Trauer Der fünfte und sechste Grund für die Trauer Die besonderen Tränen der Gerechten

353 356 358 360 361 364 366

Sermo 18 (Traktat VI) – Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes Das Wort Gottes ist lebendig Es ist wirksam Es ist durchdringend Die Scheidung zwischen Seele und Geist Fortsetzung Die Scheidung der Seele Fortsetzung über die Scheidung von Seele und Leib Die Scheidung des Geistes allein Über die Scheidung der Zerknirschung Der Leib der Sünde und seine Scheidung Die Scheidung zwischen Mark und Mark Das Mark der Gerechtigkeit, ihr Fett und ihre Fülle

369 371 372 372 375 378 379 382 383 384 386 387 387

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Inhaltsverzeichnis

Fett, Fettgewebe und Mark des Unrechts Es liegt nicht in unserer Vollmacht, das Begehren des Bösen zu verhindern Drei Dinge, die die Freude und den Abscheu vor dem Bösen zur Vollendung führen Das Fleisch, die Knochen und das Mark der Sünde

389 391 393 396

Sermo 19 (Traktat IX/iv) – Predigt über die Verachtung des Reichtums

403

Sermo 20 (Traktat X/ii) – Das Elend und die Armut des Menschen wegen seiner Schuld

409

Sermo 21 (Traktat XIII) – Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen

413

Sermo 22 (Traktat XIV) – Ansprache an die Mönche über die geordnete Liebe

421

Indices

435

Index der heiligen Schrift

437

Index der Quellen

451

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Einleitung

In diesem Band werden zum ersten Mal Werke des mittelalterlichen Zisterzienserautors Balduin von Ford in deutscher Sprache herausgegeben. Balduin dürfte den meisten Lesern unbekannt sein, darum soll er hier kurz vorgestellt werden.

Leben Balduin wurde um 1125 in Exeter, Devonshire, geboren1. Über seine Herkunft wissen wir wenig. Nach Gervasius von Canterbury, dem Chronisten der Abtei Canterbury, stammte er aus einfachen Verhältnissen2 . Das wird jedoch angezweifelt, da Balduins Mutter nach einer Überlieferung lateinische Texte lesen konnte – was bei einer Mutter der sozialen Unterschicht höchst unwahrscheinlich wäre3. Er soll in Italien Recht studiert haben. Der Eindruck, den er machte, muss sehr gut gewesen sein, denn der ZisDie Einleitung stützt sich vor allem auf David N. Bell, Einleitung zu: Baldwin of Ford, Spiritual Tractates – ed. D. N. Bell (Cistercian Fathers, 38, 41), Kalamazoo, 1986 (2 Bände). Aber auch andere Quellen zum Leben Balduins, die im Literaturverzeichnis aufgelistet sind, wurden benützt. 2  „In Exonia ex infimo genere natus…“ – „Er wurde in Exeter aus ganz niedrigem Geschlecht geboren.“ (Gervasius von Canterbury, Historical Works – ed. W. Stubbs (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores, 73), London, 18791880, vol. 2, S. 400). 3  Baldwin of Ford, Spiritual Tractates – ed. D. N. Bell (Cistercian Fathers, 38, 41), Kalamazoo, 1986, S. 9. 1 

11

Einleitung

terzienserpapst Eugen III. bestellte ihn zum Hauslehrer für den Neffen Gratian von Papst Innozenz II.4. Nach dem Tod Eugens ist Balduin jedoch vor 1160 nach England zurückgekehrt und in den Dienst des Bischofs Robert von Exeter getreten. Um 1161 wurde er unter dessen Nachfolger Bartholomäus5 Archidiakon in Totnes. In diese Zeit fällt der tragische Kampf von Erzbischof Thomas Becket von Canterbury mit König Heinrich II. von England um die Rechte und Freiheit der englischen Kirche. Sicherlich ließ dieses Ringen auch den jungen Balduin nicht unbeeinflusst. Ist es ein Zufall, dass er zeitgleich mit dem Märtyrertod Beckets um 1169/1170 in das englische Zisterzienserkloster Ford6 eintrat? Bereits um 1175 ist er als Abt dieses Klosters bezeugt. Weit bekannt war er als guter Kanonist, er leistete einen wesentlichen Beitrag zur Kodifizierung des englischen Kirchenrechts und wurde darum von den Päpsten seiner Zeit immer wieder engagiert und bei Streitigkeiten zu Rate gezogen. Er war auch Legat von Papst Lucius III. in England7. Am 10. August 1180 wurde Balduin Bischof von Worcester. In dieser Zeit kam er in engeren Kontakt mit dem englischen König Heinrich II., auf den er durch seine Entschiedenheit und seinen tiefen Glauben großen Eindruck machte8. Durch seinen Einfluss Vgl. Einleitung zu Baudouin de Forde, Le sacrement de l’autel – ed. J. Morson, trad. E. de Solms, intr. J. Leclercq (SC, 93-94), Paris, 1963, S. 2. 5  Bartholomäus von Exeter († 1184) war selbst ein bedeutender Kanonist wie Balduin und Bischof von Exeter von 1161 bis zu seinem Tod. Er sprach sich für die Einsetzung von Thomas Becket zum Erzbischof von Canterbury aus und war selbst nach dessen Tod eine der führenden Persönlichkeiten des englischen Episkopates. 6  Das Zisterzienserkloster Ford ist ein Tochterkloster der ersten englischen Zisterzienserabtei Waverley und wurde 1141 besiedelt. 7  J.-M. Canivez, „Baudouin de Ford“, in Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique, Paris, 1937, vol. I, S. 1285. 8  W. L. Warren, Henry II, Berkeley, 1973, S. 555. Aus diesen Jahren ist ein dramatisches Ereignis überliefert, das seine Entschiedenheit und Glaubenstreue deutlich zum Ausdruck bringt: Als man an einem Sonntag, noch dazu am Fest der hl. Maria Magdalena, einen Mann hängen wollte, verbot er das energisch. Das rettete dem Verurteilten das Leben, denn anschließend intervenierte der König und verfügte die Freilassung. Vgl. dazu Roger von Hoveden, Chronica – ed. W. Stubbs (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores, 51), London, 1869, vol. 2, S. 286. 4 

12

Einleitung

wurde er im Dezember 1184 zum Erzbischof von Canterbury erhoben. Seiner Ernennung war ein Tauziehen im englischen Klerus und vor allem mit den Mönchen von Christ Church vorausgegangen, die ihre eigenen Kandidaten durchbringen wollten. So war sein Wirken als Erzbischof leider schon vor Amtsantritt belastet. Dieser Streit mit dem benediktinischen Kathedralklerus kam auch nach seiner Inthronisation nicht zur Ruhe. Die Mönche von Christ Church warfen ihm unrechtmäßige Einsetzung vor, er aber tadelte ihr eher bequemes und luxuriöses klösterliches Leben, das seinen hohen Ansprüchen an diese Berufung nicht entsprach9. Leider eskalierte der Streit durch den Wunsch Balduins, in Hackington nahe bei Canterbury eine seinem Vorgänger, dem Märtyrerbischof Thomas Becket, geweihte Kirche zu errichten. Die Mönche leisteten erbitterten Widerstand, weil sie – zu Recht oder zu Unrecht – in diesem eigenmächtigen Vorgehen des Erzbischofs einen ersten Schritt zu ihrer Entmachtung als Kathedralkapitel sahen. Balduin aber gab nicht nach und verhängte nach manchem Hin und Her über das aufmüpfige Kloster das Interdikt, das über ein Jahr dauerte und erst durch persönliche Vermittlung des Königs und seines Hofes schließlich beendet werden konnte10. Das ganze damalige Abendland wurde durch den Streit polarisiert. Ähnliche Härte bewies Balduin, als er gegen den Willen des Konventes den intelligenten, doch selbstsüchtigen und tyrannischen Roger Norrey zum Prior ihres Klosters bestellte11. Diese unnachgiebige und harte Haltung, dieser Mangel an pragmatischem Augenmaß in der Leitungsaufgabe war wohl der

A. L. Poole, From Domesday Book to Magna Carta 1087-1216 (The Oxford history of England, 3), Oxford, 1986², S. 221. Vgl. dazu auch die Einleitung zu den Spiritual tractates: Baldwin of Ford, Spiritual Tractates – ed. D. N. Bell (Cistercian Fathers, 38, 41), Kalamazoo, 1986, S. 13. 10  Details und genauere Angaben zu finden bei David N. Bell: Baldwin of Ford, Spiritual Tractates – ed. D. N. Bell (Cistercian Fathers, 38, 41), Kalamazoo, 1986, S. 13. 11  Vgl. J.  E. Sayers, „Peter’s throne and Augustine’s chair, Rome and Canterbruy from Baldwin to Robert Winchelsey“, Jounal of Ecclesiastical History 51/2 (2000), S. 249-266. 9 

13

Einleitung

Grund, warum Gerald von Cambrai12 , der Balduin sehr gut kannte, zwar seine innere Ausgeglichenheit, seinen Mut und Edelmut pries, dabei aber bemerkte, Balduin sei „ein besserer Mönch als Abt, ein besserer Abt als Bischof und ein besserer Bischof als Erzbischof“ gewesen13. Allerdings war Balduin nicht der einzige Erzbischof von Canterbury, der mit seinem Kathedralkapitel schwere Kämpfe auszutragen hatte, das mag ihn ein Stück weit entlasten. Die Kirche in diesem Land und besonders der Hauptsitz Canterbury hatte seit der Gründung durch den Benediktinermönch Augustinus († 604 oder 605) eine ganz besondere Gestalt: Augustinus war als Mönch von Papst Gregor dem Großen aus seinem Kloster am Aventin in Rom zu den Angeln geschickt worden. So ist es nicht erstaunlich, dass er auch in England zuerst ein Benediktinerkloster gründete und es dann zum Zentrum seiner Missionsarbeit im Land machte. Seither hatte der Erzbischof von Canterbury nicht ein Kapitel von Kanonikern seiner Wahl um sich, wie es in den Bistümern üblich ist, sondern die Benediktinerabtei Christ Church, deren Titular­ abt er offiziell auch war. Er hatte sich aber seine Mönche nicht ausgesucht und die Mönche ihn oft auch nicht, obwohl sie ihren Abt vom Recht her wählen durften. Doch mischten sich da fast immer auch andere Persönlichkeiten ein – die anderen Bischöfe, der König usw. – und das auch mit einem gewissen Recht, da der Abt ja zugleich Primas von England und nicht bloß der Obere des Klosters war. Die Mönche von Christ Church verteidigten stets eifersüchtig ihr Vorrecht, als Kathedralkloster auf die Leitung der Diözese und die Kirche im ganzen Land Einfluss nehmen zu können. Sie hatten sogar das Recht, im Fall der Sedisvakanz den Kapitelsvikar zu stellen und die ganze Kirchenprovinz zu verwalten. Daher beobachteten sie alle Versuche, in der Umgebung eine Gerald von Cambrai oder Gerald von Wales (ca. 1146 – ca. 1223) war Begleiter von Balduin von Ford auf seiner Reise durch Wales 1188. Wiederholt wurde er zum Bischof gewählt, tragische Umstände verhinderten immer seine Bestätigung. Er war ein bedeutender Schriftsteller und wichtiger historischer Zeuge für die englische Kirche an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert. 13  Vgl. Gerald von Cambrai, Itinerarium Kambriae 2, 14 – ed. J. F. Dimock (Rerum britannicarum medii aevi scriptores, 21), 1868, vol. 6, S. 149. 12 

14

Einleitung

andere Kirche als Kollegiatskirche mit Kanonikern zu gründen, mit großem Argwohn. Ähnlich unzufrieden mit der Lage – wenn auch aus entgegengesetzten Gründen – waren die Suffraganbischöfe der Kirchenprovinz und der Archidiakon der Erzdiözese Canterbury, die meist nicht gewillt waren, einfache Mönche bei der Leitung der Diözese mitwirken zu lassen und ihnen in gewissen Fällen sogar zu gehorchen! So waren Konflikte schon in der Struktur dieser Diözese vorprogrammiert! In Canterbury soll der Plan eines Kollegs in Hackington mit Kanonikern übrigens bereits auf Anselm von Canterbury und Thomas Becket zurückgehen14. Ob diese tatsächlich damit eine Alternative zu Christ Church initiieren wollten, wissen wir nicht, es wäre aber angesichts dieser belastenden Umstände durchaus verständlich gewesen. Wie auch immer – Anselm und Thomas Becket setzten ihren Plan nicht durch, während Balduin hartnäckig und kämpferisch darauf bestand. Seine Nachfolger wiederum übernahmen während des ganzen 13. Jahrhunderts nicht nur den Bischofssitz, sondern auch diese Spannungen, und es verging kaum ein Jahr, in dem nicht die Vertreter der beiden streitenden Parteien in Rom vorstellig wurden, um ihren Standpunkt zu verfechten. J. Sayers schreibt: „At the papal Curia, Canterbury became synonymous with lawsuits and appeals“15. Die Eroberung von Jerusalem im Jahr 1187 durch Saladin war der Anlass für den dritten Kreuzzug. Balduin von Ford predigte ihn in England und Wales ab 1188 und trieb mit Nachdruck und Härte die Abgaben ein, die zur Finanzierung dieses Unternehmens eingesammelt wurden. Gleichzeitig nützte er diese Gelegenheit, um den Einfluss der Kirche von Canterbury auch in diesem Teil des Landes zu demonstrieren und zu stärken. Im Jahr 1189 leistete er dem sterbenden König Heinrich II., dem Mörder Vgl. zu all dem J. E. Sayers, „Peter’s throne and Augustine’s chair, Rome and Canterbruy from Baldwin to Robert Winchelsey“, Jounal of Ecclesiastical History 51/2 (2000), S. 249-266. 15  „An der päpstlichen Kurie wurde Canterbury gleichbedeutend mit Gerichtsverfahren und Berufungen.“ (J. E. Sayers, „Peter’s throne and Augustine’s chair, Rome and Canterbury from Baldwin to Robert Winchelsey“, Jounal of Ecclesiastical History 51/2 (2000), S. 253). 14 

15

Einleitung

von Thomas Becket, geistlichen Beistand auf dem Totenbett und krönte anschließend seinen Sohn Richard Löwenherz zum König von England. Im April 1190 begleitete Balduin König Richard auf den Kreuzzug und starb – traurig und entrüstet über die moralische Verwilderung im Kreuzfahrerheer – am 19. November 1190 vor den Toren von Akko an einer Seuche.

Werke Balduin soll zeit seines Lebens geschrieben haben. Es entspricht offensichtlich seinem Charisma, religiöse Fragen ins Wort zu bringen und allgemeingültige Antworten auf sie zu suchen und zu finden. Überliefert sind uns allerdings fast nur Werke aus der Zeit, bevor er Bischof wurde. Dann war er durch andere Probleme zu sehr beschäftigt und fand weniger Gelegenheiten zum Schreiben. Als Lehrer, Abt und Bischof war Balduin von Ford immer als Verkünder des Glaubens tätig, der seine Darlegungen in Predigten, Hirtenschreiben oder Traktaten zum Ausdruck brachte. So verwundert es nicht, dass von ihm zahlreiche Sermones überliefert sind16. Außerdem sind zwei längere Traktate erhalten: „De sacramento altaris“ – „Über das Sakrament des Altares“17 und „De commendatione fidei“ – „Empfehlung des Glaubens“18. Zeit seines Lebens verfasste er zahlreiche Briefe, von denen uns nur wenige überliefert sind19. Siehe Übersicht im Text weiter unten. Erschienen in einer kritischen Ausgabe der „Sources Chrétiennes“: Baudouin de Forde, Le sacrement de l’autel – ed. J. Morson, trad. E. de Solms, intr. J. Leclercq (SC, 93-94), Paris, 1963. 18  Lateinische kritische Ausgaben im selben Band wie die Sermones: Balduinus de Forda, De commendatione fidei – ed. D. N. Bell (CCCM, 99), Turnhout, 1993, S. 343-458. Es existiert eine englische Übersetzung: Baldwin of Forde, The Commendation of Faith – trans. D. N. Bell, J. P. Freeland (Cistercian Fathers, 65), Kalamazoo, 2006. 19  Genauere Angaben ebenfalls im Literaturverzeichnis. 16  17 

16

Einleitung

Insgesamt ist es schwierig, einen Durchblick durch die sehr unterschiedlichen Angaben über die Werke Balduins in diversen Bibliothekskatalogen, Handschriften, Artikeln und Ausgaben zu gewinnen. In einem Artikel behandelt Bell20 diese komplizierte Frage. Er stellt fest, dass dieselben Schriften oft unter verschiedenen Namen kolportiert werden, wodurch die Zahlen sehr divergierend sind. Ebenso werden Ausschnitte bisweilen als eigene Werke überliefert oder Schriften zu demselben Thema später zu einem einzigen Werk vereinigt. All das erschwert den Überblick. Natürlich sind auch Texte verloren gegangen, sodass wir manche Titel nur aus alten Katalogen kennen, von denen überdies nicht alle gleich zuverlässig sind. Zusammenfassend formuliert Bell: „There is no doubt that the archbishop was … responsible for many more works than have been edited and published to this present time, but there is equally no doubt that the lengthy catalogues of Pits, Henriquez, de Visch, Tissier and Canivez are misleading as to their number.”21 Sehr erfreulich ist, dass ein Werk, das Bells Artikel aus dem Jahr 1984 noch nicht genauer identifizieren konnte22 , inzwischen aufgefunden und an einer deutschen Universität herausgegeben werden konnte: „Liber de sectis hereticorum et orthodoxe fidei dogmata“23. Es zeigt den Erzbischof von Canterbury als streitbaren Verfechter des Glaubens.

D.  N. Bell, „The Corpus of the Works of Baldwin of Ford“, Cîteaux 35 (1984), S. 215-234. Dieser Artikel ist für einen genauen Überblick sehr zu empfehlen. 21  „Es besteht kein Zweifel, dass der Erzbischof für viel zahlreichere Werke verantwortlich ist, als bisher erschienen sind und veröffentlicht wurden. Doch besteht ebenso kein Zweifel, dass die langen Kataloge von Pits, Henriquez, de Visch, Tissier und Canivez in ihrer Länge irreführend sind.“ (D. N. Bell, „The Corpus of the Works of Baldwin of Ford“, Cîteaux 35 (1984), S. 226). 22  D.  N. Bell, „The Corpus of the Works of Baldwin of Ford“, Cîteaux 35 (1984), S. 222f. 23  Genauere Angaben im Literaturverzeichnis. 20 

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Die Sermones Uns sind heute 22 Sermones überliefert. Sie finden sich eingestreut in die zwölf Manuskripte der Werke Balduins, die uns zur Verfügung stehen. Nur fünf dieser Manuskripte überliefern größere Sammlungen, und kein einziges beinhaltet alle. Wir haben mehrere Textzeugnisse, die bis ins 12./13. Jahrhundert zurückgehen, und können feststellen, dass damals im Wesentlichen dieselben Werke Balduins bekannt waren, die uns auch heute noch zugänglich sind. Die Sermones sind – damals unter der Bezeichnung „Traktate“– 1855 in der Serie von Migne, Patrologia Latina 204, erschienen. Allerdings waren dem Herausgeber damals noch nicht alle Textzeugen bekannt. Die Ausgabe von Migne folgt dem Manuskript T1 (Troyes, Bib. Man. 876) aus dem 13. Jahrhundert, das schon Bertrand Tissier in der Mitte des 17. Jahrhunderts als Grundlage für seine Ausgabe genommen hatte. Es stammt aus Clairvaux. Die neue Ausgabe von David N. Bell im Corpus Christianorum continuatio mediaevalis 99 dagegen stützt sich auf das Manuskript P (Paris, Bib. Nat. lat. 2601 aus dem späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert), das 18 Sermones überliefert. Es kommt möglicherweise aus der Benediktinerabtei Bec in der Normandie24. Die anderen Sermones sind aus anderen Manuskripten dazugenommen. Wenn man diese beiden Ausgaben vergleicht, so fällt einem sofort die veränderte Bezeichnung „Traktate“ (bei Migne) und „Sermones“ (bei Bell) sowie die andere Nummerierung auf. Auch im Wortlaut gibt es manche Unterschiede, die auf die verschiedenen Manuskripttraditionen zurückgehen. Ferner ist die Länge der

David N. Bell weist in seinem Artikel „The Corpus of the works of Baldwin of Ford“, S. 221, darauf hin, dass diese Handschrift nach den Untersuchungen von P. Guébin (P. Guébin, „Deux sermons inédits de Baldwin, archevêque de Canterbury 1184-1190“, Journal of Theological Studies 13 (1912), S. 571-574) nicht vollendet worden zu sein scheint. Das ist natürlich sehr schade, denn sonst wären uns vielleicht auch einige verlorengegangene Sermones erhalten geblieben. 24 

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einzelnen Traktate und Predigten verschieden, und mehrere im Manuskript T1 gesondert überlieferte Predigten sind in P zu einem einzigen Traktat zusammengefasst25. Die heutige 15. Predigt über das Leben in Gemeinschaft existiert in alten Handschriften als drei gesonderten Predigten26. All das weist auf eine intensive redaktionelle Arbeit hin, die im Lauf der Zeit von den Abschreibern geleistet wurde: Sie fassten öfters mehrere Predigten in ein einziges Werk zusammen, wenn es inhaltlich passte. So kommen wir der von Pits27, Tissier und später Canivez28 angegebenen Zahl von 33 Sermones näher. Dennoch bleibt es wahrscheinlich, dass einige Texte im Lauf der Geschichte verloren gegangen sind. Für den Leser mag es interessant sein zu wissen, ob er es nun mit Traktaten, also schriftlichen Abhandlungen, oder Sermones, Predigten, zu tun hat. Der Länge und der Sprache nach sind die meisten in der vorliegenden Gestalt sicher eher Traktate, doch mag ihnen eine vorausgehende Predigt zugrunde liegen. Und die Redaktionsgeschichte gibt uns eine plausible Erklärung für die übermäßige Länge mancher Sermones. Vielleicht hat Balduin auch selbst die eine oder andere Predigt später überarbeitet und zu einem Traktat ausgebaut. Ob einzelne Sermones von vornherein als Traktate geschrieben wurden, können wir heute nicht mehr entscheiden. Es fällt bei den Sermones auf, dass Leser und Hörer kaum persönlich angesprochen werden. Das kann an der redaktionellen Arbeit liegen, vielleicht aber auch auf die Wesensart Balduins zurückgehen, der in seiner Lehrtätigkeit auf der Sachebene 25  Vgl. dazu genauere Angaben in der Einleitung zu den Spiritual Tractates (Baldwin of Ford, Spiritual Tractates – ed. D. N. Bell (Cistercian Fathers, 38, 41), Kalamazoo, 1986, S. 18-20) und in der Einleitung zur kritischen Ausgabe (Balduinus de Forda, Opera – ed. D. N. Bell (CCCM, 99), Turnhout, 1991, S. VII-XXVI). 26  D.  N. Bell, „The Corpus of the Works of Baldwin of Ford“, Cîteaux 35 (1984), S. 215-234. 27  Lateinische kritische Ausgaben im selben Band wie die Sermones: Balduinus de Forda, De commendatione fidei – ed. D. N. Bell (CCCM, 99), Turnhout, 1993, S. 343-458. Es existiert eine englische Übersetzung: Baldwin of Forde, The Commendation of Faith – trans. D. N. Bell, J. P. Freeland (Cistercian Fathers, 65), Kalamazoo, 2006. Bell gibt hier auch die genauen bibliographischen Hinweise. 28  J.-M. Canivez, „Baudouin de Ford“, in Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique, Paris, 1937, vol. I, S. 1286.

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blieb und den unmittelbaren Kontakt zu seinen Hörern nicht allzu sehr suchte. Die meisten Sermones sind sicher in der klösterlichen Zeit Balduins entstanden, vielleicht als Produkte der Lehrtätigkeit des Autors als Abt. Darauf weisen auch die monastischen Themen hin, um die es geht. In die spätere Zeit als Bischof passen allerdings die Sermones 5 und 6, da in ihnen Priester als Zuhörer vorausgesetzt werden, die in den damaligen Zisterzienserklöstern nur eine kleine Minderheit bildeten. In diesen beiden Sermones werden auch die Hörer direkt angesprochen. Interessant ist, dass Sermo 4 „De sacramento altaris“ in einer Handschrift aus dem Lambeth-Palace der Erzbischöfe von Canterbury die Überschrift trägt: „Incipit exhortatio venerabilis Balduini archiepiscopi cantuariensis ad sacerdotes de sacramento Dominici corporis“ – „Anfang der Ermahnungen des ehrwürdigen Balduin, Erzbischof von Canterbury, an die Priester über das Sakrament des Herrenleibes.“ Diese Überschriften sind in der Regel erst später hinzugefügt worden. Dennoch wäre es denkbar, dass auch dieser Sermo aus der Zeit Balduins als Erzbischof stammt. Thematisch würde das gut passen, doch lässt es sich nicht beweisen. Pierre-Yves Emery, Mönch von Taizé und vielfacher Übersetzer zisterziensischer Schriften, gibt in der Einleitung zur seiner Balduinsausgabe29 an, dass Sermo 8 in den Jahren 1179-1180 an Augustinerkanoniker gehalten wurde. Es entzieht sich aber meiner Kenntnis, woher er diese Information hat.

Baudouin de Forde, Beauté de la vie monastique et autres sermons – ed. P.-Y. Emery (Pain de Cîteaux, série 3, 21), Oka (Québec), 2004. Vol. I, S. 8. 29 

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Inhalt der Sermones Die Sermones Balduins haben ganz charakteristische Themen, die seine Interessen und seine Vorlieben deutlich zeigen: Seligpreisungen Über die Milde (Sermo 10) Über die heilige Armut (Sermo 16) Warum man trauern soll (Sermo 17) Über die Kraft und Wirksamkeit des Gotteswortes (Sermo 18) Liebe Sermo aus dem Licht des Evangeliums über die Gottesliebe (Sermo 9) Über das Siegel der Liebe Gottes (Sermo 11) Über die Liebe (Sermo 12) Über die Liebe Gottes, die in unseren Herzen ausgegossen ist (Sermo 21) An die Mönche über die geordnete Liebe (Sermo 22) Priestertum und Eucharistie Über das Sakrament des Altares (Sermo 4) An die Vorsteher (Sermo 5) An die Priester (Sermo 6) Ordensleben Über die Schönheit der Nazaräer (Sermo 1) Über den Gehorsam (Sermo 2) Über den Gehorsam (Sermo 7) Über das Leben in Gemeinschaft (Sermo 15) Über die Verachtung des Reichtums (Sermo 19) Verehrung der Gottesmutter Zu Mariä Verkündigung (Sermo 13) Zu Mariä Aufnahme in den Himmel (Sermo 14) Geistliches Leben Über die Kreuzigung des alten Menschen (Sermo 3) Über das heilige Kreuz (Sermo 8) Über die Kraft und Wirksamkeit des Gotteswortes (Sermo 18) Über das Elend und die Bedürftigkeit des Menschen wegen der Schuld (Sermo 20)

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Besondere Bedeutung für unsere Zeit hat Sermo 15 über das Leben in Gemeinschaft. Darin preist Balduin in tiefsinniger, bildreicher Sprache und mit vielen Beispielen aus der Heiligen Schrift und aus der Natur die Berufung des Menschen zur Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott und untereinander30.

Quellen der Sermones Hauptquelle für Balduins Predigten ist wie für alle seine Werke die Heilige Schrift. Besonders auffällig ist, dass eine von ihnen sogar ausdrücklich die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes zum Thema hat (Sermo 18). Doch auch in zahlreichen anderen ist – wie schon gesagt – ein Schriftwort das Leitmotiv, das dann durch die ganze Abhandlung hin Wort für Wort erläutert wird. Dabei ist der Autor freilich der allegorischen Auslegung des Mittelalters verpflichtet, sodass heutige Leser sich oft schwer tun, seinen Interpretationen zu folgen. Auch wenn der Autor nicht direkt die Heilige Schrift zitiert, ist doch seine ganze Sprache biblisch geprägt, fast bei jedem Satz hört man Schriftworte im Hintergrund. Durch die Verwendung biblischer Bilder werden die Aussagen des Autors anschaulich, freilich fehlt ihm die zarte Poesie, mit der ein Bernhard von Clairvaux biblische Gedanken miteinander zu einem Ganzen verweben konnte. Es fällt auf, dass Balduin vor allem die Psalmen und die vier Evangelien zitiert, da sie ihm durch den täglichen Gottesdienst besonders vertraut waren31. Ebenso ist Balduin den Kirchenvätern verpflichtet, doch ist er beim Zitieren aus ihren Werken vergleichsweise sparsam. Er ko-

Dieser Traktat ist im Jahr 2010 als Kleinschrift in vollem Wortlaut und mit einer Einleitung im Verlag Schnell&Steiner erschienen: Balduin von Ford, Leben in Gemeinschaft – Sr. M. H. Brem, O. Cist (texte zur zisterziensischer Spiritualität), Regensburg, 2010, 48 S. 31  Vgl. Einleitung zu den Spiritual Tractates: Baldwin of Ford, Spiritual Tractates – ed. D. N. Bell (Cistercian Fathers, 38, 41), Kalamazoo, 1986, S. 24. 30 

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piert sie auch nicht, sondern geht mit ihren Gedanken „in schöpferischer Treue“ um32 . Besonders verpflichtet ist er Augustinus. Unter den Zisterzienservätern nimmt Bernhard von Clairvaux mit seiner Lehre über die Liebe33 eine besondere Stellung ein. An nicht wenigen Stellen kann man hinter den Formulierungen des Autors die Worte Bernhards hören. Ihm und seinen Sermones über das Hohelied entnimmt er auch häufig die Schlusswendung aus Röm 9,5: „…der als Gott über allem steht. Ihm sei Lobpreis in Ewigkeit. Amen.“ Sicherlich hat Balduin manche Gedanken über das Leben in Gemeinschaft Aelred von Rievaulx zu verdanken, dem er vielleicht noch persönlich begegnet ist. Seine Lehre über Maria dagegen hört sich wie ein Echo von Anselm von Canterbury an34. Die klassische Bildung Balduins zeigt sich in Zitaten antiker Schriftsteller, die aber nie exakt ausgewiesen werden. Diese Zitate entsprachen übrigens dem damaligen Geschmack35.

Bedeutung der Sermones Die Schriften des Zisterzienservaters Balduin von Ford gehören zu den Perlen zisterziensischer Literatur. Jean Leclercq nennt ihn treffend einen Schriftsteller ersten Ranges unter den Zisterzienservätern36. Das gilt in besonderer Weise für die Sermones, die leBaudouin de Forde, Le sacrement de l’autel – ed. J. Morson, trad. E. de Solms, intr. J. Leclercq (SC, 93-94), Paris, 1963, S.  44 und Baldwin of Ford, Spiritual Tractates – ed. D. N. Bell (Cistercian Fathers, 38, 41), Kalamazoo, 1986, S. 23-28. 33  Baldwin of Ford, Spiritual Tractates – ed. D. N. Bell (Cistercian Fathers, 38, 41), Kalamazoo, 1986, S. 25-28. 34  Baldwin of Ford, Spiritual Tractates – ed. D. N. Bell (Cistercian Fathers, 38, 41), Kalamazoo, 1986, S. 27. Besonders gilt das für Sermo 13. Er spiegelt eine Oratio Anselms wider, in der dieser Maria als „superspeciosa“, „supergratiosa“ und „supergloriosa“ nennt. 35  Baldwin of Ford, Spiritual Tractates – ed. D. N. Bell (Cistercian Fathers, 38, 41), Kalamazoo, 1986, S. 27-28. 36  Baudouin de Forde, Le sacrement de l’autel – ed. J. Morson, trad. E. de Solms, intr. J. Leclercq (SC, 93-94), Paris, 1963, S. 1. 32 

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bensnäher sind als die theologischen Abhandlungen. Wie bei den meisten Zisterzienserautoren sind nicht theoretische Spekulationen, sondern Alltagserfahrungen im Kloster Ausgangspunkt seiner Darlegungen. Ihr Ziel ist es, den Hörern oder Lesern die hohe Würde des Menschen und seine die Zeit überdauernde Berufung vor Augen zu stellen, ihnen Mut zu machen und sie zu größerer Treue hinzuführen. Es gibt fast in jedem Sermo Abschnitte, die die Lage des Menschen, seine Erfahrungen mit Gott und mit sich selbst meisterhaft auf den Punkt bringen und so modern formuliert scheinen, als stammten sie von einem Zeitgenossen. Auch das Ziel des Menschen und seines Strebens kann Balduin einprägsam und begeisternd vor Augen stellen. Allerdings muss der Leser diese Kostbarkeiten selber heraussuchen. Wie bei vielen mittelalterlichen Autoren stehen dazwischen auch wieder andere Texte, die uns wegen ihrer mittelalterlichen Exegese oder ihrer unrealistisch strengen Ideale weniger ansprechen. Natürlich könnte auch das zu einem Anlass werden, das Gespräch mit dem Autor zu suchen, um aus seinem Kontrastbild vielleicht blinde Flecken unserer Zeit und Mentalität klarer zu sehen. Eine interessante Frage, die eingehender zu untersuchen sich lohnen könnte, wäre der Zusammenhang zwischen dem Denken Balduins, wie es in seinen Schriften zum Ausdruck kommt, und seinem dramatischen und tragischen Lebensschicksal. Wo sind die Wurzeln seiner praktischen Härte und Unnachgiebigkeit, seines Scheiterns als Erzbischof trotz seines edlen Sinnes und seines tiefen Glaubens zu suchen? Aus welchen seiner Einstellungen erwächst die tiefe Tragik, die über seinem Leben liegt: Er, der so ansprechend, tief und begeisternd über die Berufung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott und untereinander zu schreiben wusste, war in der Praxis nicht imstande, die ihm anvertrauten Menschen zu einer solchen Gemeinschaft der Gnade, verbunden durch das Band des Friedens, hinzuführen? Jedenfalls lohnt sich die Beschäftigung mit Balduin von Ford. Möge er in unserer Zeit zu einem Segen werden für alle, die sich von ihm zu einer entschiedenen Nachfolge Christi anregen und

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für ein bewusstes Leben in der Gemeinschaft mit Gott und untereinander auf den Wegen des Evangeliums begeistern lassen!

Beurteilung durch die Nachwelt Die Beurteilung Balduins durch seine Zeitgenossen und die Nachwelt ist sehr widersprüchlich. Dieser Widerspruch weist auf eine Persönlichkeit hin, die zwei sehr gegensätzliche Seiten in sich trug. Wer den Akzent auf sein persönliches asketisches Leben, seine Klugheit, seinen Glauben und sein literarisches Talent legte, pries den Abt und Erzbischof als vorbildlichen Mann. Er war bis zu seiner Bestellung zum Erzbischof von Canterbury weit über den Zisterzienserorden hinaus berühmt als einer der besten Kanoniker seiner Zeit und wurde Papst Alexander III. sogar als Anwärter auf den Kardinalshut empfohlen37. Das Menologium Cisterciense lobt seine Tugenden, Tissier gibt ihm den Titel „der Ehrwürdige“ und Henriquez machte ihn gar zum Heiligen38. Die Historiker dagegen blicken mehr auf die Streitigkeiten und Unruhen, die der Erzbischof während seiner ganzen Amtszeit auszutragen hatte, seinen Hang zum Polarisieren und seine taktische Unklugheit. Als Beispiel mag die Einschätzung von A.  L. Poole gelten. Er bezeichnet Balduin als „a distinguished scholar and deeply religious man, (but)…injudicious and too austere to be a good leader“39. 37  „Magister Balduinus, abbas Fordenus, quamvis eum non viderimus, a toto ordine Cisterciensi de multimoda literatura, honestate et religione potissimum commendatur.“ – „Magister Balduin, der Abt von Ford, wird – auch wenn wir ihn nicht persönlich kennen – vom ganzen Zisterzienserorden wegen seiner vielfältigen Schriften, seines guten Lebenswandels und seines Glaubens sehr empfohlen.“ (D. N. Bell, „The Ascetic Spirituality of Baldwin of Ford“, Cîteaux 31 (1980), S. 228). 38  Jean Leclercq, Einleitung zu: Baudouin de Forde, Le sacrement de l’autel – ed. J. Morson, trad. E. de Solms, intr. J. Leclercq (SC, 93-94), Paris, 1963, vol. I, S. 3. 39  “Einen hervorragenden Gelehrten und tief religiösen Mann, doch unvernünftig und zu streng, um ein guter Führer zu sein.“ (. L. Poole, From Domesday Book to Magna Carta 1087-1216 (The Oxford history of England, 3), Oxford, 1986², S. 221).

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Balduins theologische Lehre Balduin steht in der dritten Zisterziensergeneration, und er schreibt etwa zwanzig bis vierzig Jahre nach Bernhard von Clairvaux40, Aelred von Rievaulx41, Guerric von Igny42 und Wilhelm von St. Thierry43. Das ist keine lange Zeit, und doch hat sich in den Themen, den Fragestellungen und der Art, wie sie beantwortet werden, manches inzwischen geändert. Balduin ist ein interessantes Bindeglied zwischen der ganz biblisch und patristisch orientierten Theologie der Kirchenväter und der systematisch vorgehenden Scholastik. Fast alle seine Sermones und Traktate gehen von Versen der Heiligen Schrift aus und sind, genau genommen, ausführliche und mit vielen Bildern angereicherte Kommentare dieser Schriftworte. Darin steht Balduin noch auf dem Boden des 12. Jahrhunderts. Seine Vorgangsweise, die ziemlich systematisch und logisch ist, und seine Argumentation, die von menschlichen Erfahrungen und bekannten Tatsachen ausgeht und dann mehr schlussfolgernd als assoziativ voranschreitet, weist schon auf die Bernhard von Clairvaux (1090-1153) war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des 12. Jahrhunderts. Sein Charisma war es, Menschen für das klösterliche Leben zu begeistern, besonders im Zisterzienserorden, und er gründete selbst von seinem Kloster Clairvaux aus 67 Abteien in ganz Europa. Seine Sermones, Traktate und Briefe basieren ganz auf der Bibel und den Kirchenvätern, formulieren sie aber neu in einer kunstvollen, tiefen, bildhaften und ansprechenden Weise, sodass er ein maßgeblicher geistlicher Lehrer nicht nur für seine Zeitgenossen, sondern für die ganze abendländische Kirche wurde. 41  Aelred von Rievaulx (um 1110-1167) war Abt von Rievaulx an der Grenze zwischen England und Schottland. Seine besondere Begabung war der Aufbau einer herzlichen liebevollen Gemeinschaft in seinem Kloster. Als geistlicher Schriftsteller schildert er in großer Aufrichtigkeit seinen Weg zu Gott, der nicht direkt und ohne Brüche verlief, und seine Freude über das Mönchsleben. Er hat mit seinen Gedanken sicher seinen Landsmann Balduin beeinflusst. 42  Guerric von Igny (1070/80-1157) war zunächst Domherr in Tournai, dann Mönch und Schüler Bernhards von Clairvaux. Später wurde er zweiter Abt von Igny. Als geistlicher Schriftsteller besticht er durch die Tiefe seiner Gedanken und die Schönheit der Sprache. 43  Wilhelm von St- Thierry (1075/80-1148) ist einer der bedeutendsten Theologen des 12. Jahrhunderts und Freund des hl. Bernhard. Ursprünglich Benediktiner und Abt der Abtei St. Thierry bei Reims trat er 1135 zu den Zisterziensern über und wurde Mönch in Signy. 40 

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neue Denkweise hin, die sich im 13. Jahrhundert in der Scholastik voll entfalten sollte. Hier ist der Einfluss Abaelards und der sich allmählich durchsetzenden aristotelischen Logik deutlich zu spüren. Eine sehr ausführliche und wertvolle Darlegung der theologischen Lehre Balduins liefert David N. Bell in seinem Artikel: „The ascetic spirituality of Baldwin of Ford“44. Es ist interessant, dass auch in der theologischen Lehre des Autors zwei sehr verschiedene Seiten seines Wesens zum Ausdruck kommen. Man könnte vom asketischen und vom kontemplativen Balduin sprechen. Einerseits betont er als Mönch die Bedeutung des geistlichen Strebens, des mühevollen Gehorsams, des inneren Kampfes, des Kreuztragens, ja der Kreuzigung und Abtötung des alten Menschen, andererseits findet er wunderbare, innige Bilder für die Liebe, für die Freude, die in der Gemeinschaft mit Gott und untereinander erfahren werden kann, und für seine Sehnsucht nach einer tiefen und herzlichen Vereinigung mit Gott. Es ist klar, dass in der christlichen Spiritualität diese zwei Wirklichkeiten aufeinander bezogen sind und einander ergänzen wie die beiden Seiten einer Medaille, doch sind sie bei Balduin besonders stark und gegensätzlich ausgeprägt. Sie spiegeln sich sogar im Ton seiner Sprache, die je nach Thema melodisch, weich und werbend oder hart, entschieden und unnachgiebig sein kann. Übrigens ist der Stellenwert, den die Liebe in den Ausführungen Balduins einnimmt – von den 22 erhaltenen Sermones handeln fünf, also fast ein Viertel, ausdrücklich davon – noch ganz auf der Linie des 12. Jahrhunderts. Dieses ist nicht umsonst als Jahrhundert der Liebe in die Geschichte eingegangen, da in ihm so viele Werke über die Liebe geschrieben wurden wie in

44 

Genauere Angaben dazu im Literaturverzeichnis.

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allen Jahrhunderten vorher zusammen45. Im Übrigen bevorzugt er Themen, die für das klösterliche Leben von Bedeutung sind. Er hat eine sehr hohe Auffassung vom monastischen Leben, wie gleich der erste Sermo zeigt, es ist für ihn die Hochform christlichen Daseins und die beste Vorbereitung auf die künftige Herrlichkeit. Es läutert die Herzen der Mönche, sodass sie schon hier auf Erden in der Kontemplation Gott schauen dürfen46. Dass die Eucharistie in seinen Ausführungen einen breiten Raum einnimmt, mutet wie ein Vorspiel auf das eucharistisch geprägte 13. Jahrhundert an. Neben zwei Sermones spricht auch ein eigener langer Traktat, der oft als sein Hauptwerk bezeichnet wird, von diesem Geheimnis. Eine wichtige Frage ist für ihn dabei der Glaube an die wahre Gegenwart Christi, und er setzt Leser voraus, die an dieser Herausforderung für unseren Glauben interessiert sind und bewusst um ihn ringen. Seine Beschäftigung mit dem Geheimnis des Altares ist von tiefer Ehrfurcht geprägt – auch darin ist er ein Wegbereiter der eucharistischen Frömmigkeit. J. Leclercq nennt ihn bei seiner Einleitung zur französischlateinischen Ausgabe dieses Werkes in den Sources Chrétiennes einen Vertreter „anbetender Theologie“47. Der Autor interpretiert in diesem Traktat alle Worte der Heiligen Schrift, die von der Eucharistie handeln; dadurch nähert er sich diesem Geheimnis auf originelle Weise und unter Gesichtspunkten, die später in der Scholastik nicht mehr so im Mittelpunkt stehen48. In dieser Zeit Das 12. Jahrhundert war die Zeit des aufblühenden Minnesanges an den Fürstenhöfen, und diese Begeisterung für die Poesie der Liebe spiegelt sich im religiösen Bereich in zahlreichen theologischen und spirituellen Veröffentlichungen zu diesem Thema. Allein bei den Zisterzienserautoren schrieben beispielsweise unter anderem Bernhard von Clairvaux (De diligendo Deo, Predigten zum Hohen Lied), Aelred von Rievaulx (Speculum Caritatis), Wilhelm von St. Thierry (De natura et dignitate amoris), und Balduin von Ford (mehrere Sermones) über die Liebe. 46  Vgl. dazu auch den Artikel von J. Morson: J. Morson, „Baldwin of Ford: a Contemplative“, Collect. Ord. Cisterc. Reform. XXVII (1965), S. 160-164. 47  J. Leclercq, „Une théologie admirative“, in Baudouin de Forde, Le sacrement de l’autel – ed. J. Morson, trad. E. de Solms, intr. J. Leclercq (SC, 93-94), Paris, 1963, S. 49ff. 48  Zum Beispiel finden wir in diesem Traktat beim Kommentar zum Wort „gratias egit“ – „er dankte“ eine wunderschöne Meditation über die Eucharistie als Danksagung und die Dankbarkeit als ihre bleibende Frucht. 45 

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setzte sich nämlich die Vorgangsweise durch, theologische Themen nicht mehr in ihrem Bezug zur Heiligen Schrift zu behandeln, sondern in einer straffen Gliederung nach eher abstrakten Gesichtspunkten, geordnet nach „Quaestiones“– „Fragen“ und „Responsa“ – „Antworten“. Balduin ist ebenso wie Wilhelm von St. Thierry ein Intellektueller. Wahrscheinlich erklärt sich daraus, dass beide ein Werk über den Glauben verfasst haben, da ihnen der intellektuelle Umgang mit Glaubensfragen sehr wichtig und die Gefahren des Zweifels und Unglaubens aus eigener Erfahrung durchaus bekannt waren. Die Art und Weise, wie Balduin sich mit dem Glauben auseinandersetzt, zeigt an, dass seit dem Auftreten Abaelards der Vernunft ein neuer Stellenwert für die theologische Erkenntnis eingeräumt wurde. Zwar stand Balduin wie die anderen Vertreter monastischer Theologie der aufgeklärten Bildung sehr kritisch gegenüber. Doch weisen seine Gedankengänge darauf hin, dass er selbst sehr wohl gelernt hatte, seinen Verstand zu gebrauchen. In der Commendatio fidei versucht er zu beweisen, dass der Glaube nicht nur die Grundlage unserer Gottesbeziehung ist, sondern dass ein verantwortungsvoller Umgang mit unserem Glauben den Verstand nicht zerstört, sondern stärkt49. Der Verstand dagegen ist sehr hilfreich und nützlich, wenn er sich auf die Bereiche beschränkt, die ihm angemessen sind. Er kann eine sehr wertvolle Hilfe sein, um den Glauben intellektuell zu durchleuchten und eine „ratio fidei“ – eine „Begründung für den Glauben“ zu geben. So werden Zweifel überwunden und neue Zugänge für suchende Menschen eröffnet. „What Baldwin intends to do is to use the meticulous techniques of nascent scholasticism, apply them to the faith, use them to confound its critics, demonstrate how reason may properly be applied and reestablish the authority of God and his scriptural revelation as the unshakeable rock in which the church is built.

David N. Bell, in seiner Einleitung: Baldwin of Forde, The Commendation of Faith – transl. D. N. Bell, J. P. Freeland (Cistercian Fathers, 65), Kalamazoo, 2006, S. 30ff. 49 

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That is the purpose of The Commendation of Faith”50. Vermutlich ist auch das Ringen um den Glauben an die wahre Gegenwart Christi in der Eucharistie auf die neue Betonung und Bewertung der Vernunft zurückzuführen. Bernhard und die älteren Zisterzienserväter scheinen hier kein Problem gesehen zu haben51! Wenn auch Balduin sicher kein Dichter war, so war er aber sehr wohl ein begabter Schriftsteller. Seine Sprache ist knapp, prägnant und treffend. Er liebt elegante Formulierungen und tiefsinnige Wortspiele, die sich dem Gedächtnis einprägen und den Leser zum Schmunzeln bringen. Leider lassen sich nicht alle beim Übersetzen übertragen. Auch sonst ist ihm der Klang seiner Ausführungen wichtig, und man spürt, dass er an ihnen gearbeitet und gefeilt hat. Balduin liebt auch einen klaren Aufbau und übersichtliche Sätze. So ist er meist leicht zu lesen und zu verstehen. Meisterhaft sind bei diesem Autor die aufrichtigen und lebensnahen Schilderungen menschlicher Erfahrungen, die er oft in sein Werk einbringt und auf deren Hintergrund er die Worte der Schrift oder die Fragen des Glaubens behandelt. Hier können sich auch heutige Leser gut wiederfinden und auf diese Weise in einen echten Dialog mit diesem Mönch und Bischof des 12. Jahrhunderts treten.

„Balduin beabsichtigt, die scharfsinnigen Techniken der entstehenden Scholastik zu gebrauchen, sie auf den Glauben anzuwenden, sie zu benützen, um dessen Kritiker zu beschämen, zu beweisen, wie der Verstand sauber gebraucht werden kann, und die Autorität Gottes und seiner Offenbarung in der Heiligen Schrift wieder herzustellen als den unerschütterlichen Felsen, auf dem die Kirche gebaut wurde. Das ist das Ziel der ‚Commendatio fidei‘.“ (Baldwin of Forde, The Commendation of Faith – transl. D. N. Bell, J. P. Freeland (Cistercian Fathers, 65), Kalamazoo, 2006, S. 18f). 51  Bernhard von Clairvaux grenzt die Stellung von Vermutung, Vernunft und Glaube sehr prägnant und übersichtlich ab in seinem Buch „Über die Besinnung“ 5, 3.5 (BCSW I), 781-783. Hier bewertet er auch die Vernunft als wertvolle Hilfe im Glauben, sie muss sich bloß davor hüten, in versiegeltes Glaubensgut einzudringen. Das entspricht durchaus dem Standpunkt Balduins. Ein Unterschied besteht vielleicht darin, dass sich Bernhard infolge der anderen Zeitumstände noch weniger gedrängt sah, den Glauben gegenüber Zweiflern rationell zu begründen. 50 

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Bibliographie

Abkürzungen Im folgenden Band werden die biblischen Bücher im lateinischen Text mit den aus der Vulgata üblichen Kürzeln wiedergegeben, im deutschen Text nach allgemeinem Brauch mit den Abkürzungen gemäß der Einheitsübersetzung. Die Zählung richtet sich auch im deutschen Text nach der Zählung der Vulgata, da er ja die Wiedergabe der lateinischen Stellen ist. Wo der Wortlaut der Vulgata im Sinn deutlich vom Wortlaut der Einheitsübersetzung abweicht, wurde im deutschen Text nach der Stellenangabe ein „V“, d.h. „gemäß der Vulgata“ gesetzt. Weitere Abkürzungen: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke I – X, BCSW Innsbruck. Corpus Christianorum Series Latina, Turnhout. CCSL Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis, CCCM Turnhout. Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, CSEL Wien. Patrologia Latina, Paris. PL Sources Chrétiennes, Paris. SC

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Bibliographie

Ausgaben und Übersetzungen von Balduins Werken52 Sammelausgabe Opera Balduini Fordae in Anglia quondam Abbatis, postea Cantuariae Archiepiscopi – ed. B. Tissier (Bibliotheca Patrum Cisterciensium, V), Bonnefontaine, 1662.

Tractatus diversi Reuerendissimi in Christo patris, ac domini, d[omi]ni Balduini, Cantuariensis archiepiscopi, de uenerabili, ac diuinissimo altaris sacramento, sermo deuotissimus: sacrae[que] scripturae floribus undiquaq[ue] respersus (Early English Books 1475-1640, 59:3), Cambridge, 1521. [Lateinischer Text von Traktat 1 und 2]. Balduinus Cantuariensis archiepiscopus, Tractatus diversi – ed. J.-P. Migne (PL, 204), Paris, 1855, col. 403-572. Baudouin de Forde, Traités – ed. R. Thomas (Pain de Cîteaux, 35-40), Chimay, 1973-1975 (6 Bände). [Lateinischer Text und französische Übersetzung von Traktat 1 bis 16]. C. Waddell, „The Treatise ‘On the Common Life’ by Baldwin, Archbishop of Canterbury and Quondam Abbot of Ford“, Liturgy 0.C.S.0. 11/1 (1977), p.  19-65. [Englische Übersetzung mit einer hilfreichen Einleitung zu Traktat 15]. Balduino de Ford, Tratados espirituales – ed. Monasterio Trapense de Nuestra Señora de los Angeles (Padres Cistercienses, 14), Azul (Argentina), 1989. Baldwin of Ford, Spiritual Tractates – ed. D.  N. Bell (Cistercian Fathers, 38, 41), Kalamazoo, 1986 (2 Bände). Balduinus de Forda, Sermones – ed. D.  N. Bell (CCCM, 99), Turnhout, 1991, p. 5-339. Baudouin de Forde, Un traité  : L’ éloge de la foi  ; deux sermons: L’obéissance. La sainte croix – ed. J. Doutre, P.-Y. Emery (Pain de Cîteaux, série 3, 20), Oka (Québec), 2003. 52 

Nach D. N. Bell, Spiritual Tractates, ergänzt durch neuere Werke.

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Bibliographie

Baudouin de Forde, Beauté de la vie monastique et autres sermons. Tome I – ed. P.-Y. Emery (Pain de Cîteaux, série 3, 21), Oka (Québec), 2004. Baudouin de Forde, Grâce et Beauté de la Vierge Marie et autres sermons. Tome II – ed. P.-Y. Emery (Pain de Cîteaux, série 3, 22), Oka (Québec), 2004.

De sacramento altaris Balduinus Cantuariensis archiepiscopus, Liber de sacramento altaris – ed. J.-P. Migne (PL, 204), Paris, 1855, col. 641-774. Baudouin de Forde, Le sacrement de l’autel – ed. J. Morson, trad. E. de Solms, intr. J. Leclercq (SC, 93-94), Paris, 1963. [2 Bände mit durchlaufender Nummerierung, lateinischer Text und französische Übersetzung]. Balduino de Ford, Sacramento del Altar – ed. Monasterio Trapense de Nuestra Señora de los Angeles (Padres Cistercienses, 3), Azul (Argentina), 1978. [Spanische Übersetzung; ein Artikel dazu ist erschienen von R. Summers in Cistercian Studies 15 (1980), S. 295-300].

De commendatione fidei Balduinus Cantuariensis archiepiscopus, Liber de commendatione fidei – ed. J.-P. Migne (PL, 204), Paris, 1855, col. 573-640. Balduinus de Forda, De commendatione fidei – ed. D. N. Bell (CCCM, 99), Turnhout, 1991, p. 343-458. Baudouin de Forde, Un traité  : L’ éloge de la foi  ; deux sermons: L’obéissance. La sainte croix – ed. J. Doutre, P.-Y. Emery (Pain de Cîteaux, série 3, 20), Oka (Québec), 2003. Baldwin of Forde, The Commendation of Faith – ed. D. N. Bell, J. P. Freeland (Cistercian Fathers, 65), Kalamazoo, 2006.

Liber de sectis hereticorum et orthodoxe fidei dogmata Balduinus Cantuariensis Archiepiscopus, Liber de sectis hereticorum et orthodoxe fidei dogmata – ed. J. L. Narvaja (Rarissima Mediaeualia, 2), Münster, 2008.

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Werke, die längere Abschnitte über Balduin beinhalten Viel weiterführendes Material kann man in den beiden folgenden unveröffentlichten Dissertationen finden: C. J. Holdsworth, Learning and Literature of English Cistercians 11671214, with special reference to John of Ford, Cambridge University, Ph.D. diss., 1959. B. E. A. Jones, The Acta of Archbishops Richard and Baldwin: 1174-1190, University of London, Ph. D. diss., 1964. Andere Werke: J. C. Davies, „Giraldus Cambrensis and Powis“, Montgomeryshire Collections 49 (1946), S. 179-194. C. Duggan, Twelfth-Century Decretal Collections and Their Importance in English History, London, 1963, S. 110-115. C. Foreville, L‘Eglise et la royauté en Angleterre sous Henri II Plantagenet, Paris, 1943, S. 533-55. D. Knowles (Hg.), The Heads of Religious Houses, England and Wales 940-1216, Cambridge 2001², xlvii + 360 S. C. H. Lawrence (Hg.), The English Church and the Papacy in the Middle Ages, Stroud, 1999 (reprint), vii + 265 p. A. L. Poole, From Domesday Book to Magna Carta 1087-1216 (The Oxford history of England, 3), Oxford, 1986², xv-541 S. H. Pryce, „Gerald’s journey through Wales“, Journal of Welsh Ecclesiastical History 6 (1989), S. 17-34. W. L. Warren, Henry II, Berkeley, 1973, 693 S.

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Sermo 1 Traktat XVI Die Schönheit der Nazaräer

(Die Nazaräer waren) reiner als Schnee, glänzender als Milch, rosiger als altes Elfenbein, schöner als Saphir (Klgl 4,7).

1.  Die Schönheit der Nazaräer beschreibt ein Prophetenwort. Es erhebt sie mit wunderbaren Lobsprüchen, preist sie mit wunderbaren, ehrenden Bezeichnungen und preist sie überschwänglich. Es lobt an den Nazaräern die Reinheit, es lobt auch den Glanz und lobt ebenso die rosige Farbe. Obwohl diese drei zur Schönheit gehörena und die anmutige Schönheit vermehren, so lobt dieses Wort am Schluss trotzdem noch die Schönheit selbst gleichsam mit ihrem Namen. 2.  Und all das lobt es nicht einfach, nicht absolut, sondern im Vergleich, um es durch das Nebeneinanderstellen lobwürdiger Dinge mehr und mehr erstrahlen zu lassen. Es wird mit ihnen nicht in Ebenbürtigkeit gleichgestellt, sondern darüber gestellt durch die Ehre hervorragender Würde. Voller ist nämlich der Lobpreis, wenn das Hervorragende überragt, das Bestechende hervorsticht; und vollkommen ist der Lobpreis dann, wenn Lob für etwas hinsichtlich seiner Kraft und eigenen Verdienste schon

Vgl. Gregor der Grosse, Moralia in Iob XXXII, xxii, 46 (CCSL 143B, 1663-1664). a 

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in sich selbst zutrifft, es aber die anderen lobwürdigen Güter noch an Lob übertrifft. 3.  Gelobt wird an den Nazaräern die Schönheit, nicht die des Leibes, sondern des Lebenswandels; nicht der Ruhm des Fleisches, sondern des Geistes, der Tugend und der Anständigkeit. Freilich besitzt der Ruhm des Fleisches in den Augen des Fleisches eine gewisse Anmut, doch ist er vergänglich, trügerisch, wie geschrieben steht: Trügerisch ist Anmut, vergänglich die Schönheit (Spr 31,30). Was ist denn eine vergängliche Schönheit anderes als eine schöne Vergänglichkeit? Oder was ist trügerische Anmut anderes als anmutiger Trug? Anmutig ist sie, aber trügerisch; trügerisch, aber anmutig. Den Zuschauern gefällt sie voll Anmut, doch täuscht sie die Gaffer und betrügt die Augen der Sehenden mit Blendwerk. 4.  Falls man aber durch die Schärfe des inneren Auges in das Innerste des menschlichen Leibes blicken könnte, was ist dann die Schönheit des Leibes anderes als ein Deckmantel für Hässlichkeit, als ein Vorwand für versteckte Schande und Beschämung? Hinter dem Ruhm des Fleisches verbirgt sich nämlich eine heimliche Entstellung (2 Kor 4,2), die zu nennen man sich schämt. Ja, auch nur daran zu denken flößt dem Menschen Abscheu ein. Der Mensch ist nämlich Verwesung, der Menschensohn ein Wurm (Ijob 25,6). Wenn es aber so ist, ja, weil es so ist, was ist dann die Schönheit eines Menschenkindes anderes als die Schönheit eines Wurmes? Was ist ein schöner Mensch anderes als schöne Verwesung? Was ist schließlich ein stolzer Mensch anderes als stolze Verwesung? Oder was ist ein adeliger Mensch anderes als ein edler Spross wertloser Verderbnis? Er könnte mit dem seligen Ijob zur Verwesung sagen: ‚Mein Vater bist du!‘, ‚Meine Mutter, meine Schwester!‘, zum Wurm (Ijob 17,14). 5.  Die körperliche Schönheit ist also zwar ruhmreich vor den Menschen, nicht aber vor Gott. Ja, ihr fehlt das Verdienst einer Tugend, und sie hat keine Hoffnung auf Vergeltung. Der innere Schiedsrichter, Gott, der die Herzen prüft (Spr 24,12), liebt die innere Schönheit. An die Königstochter wendet sich der Prophet mit den Worten: Der König verlangt nach deiner Schönheit (Ps 44,12). Und damit dem Frager klar ist, wo sich diese Schönheit findet – nämlich im Inneren – fügt er hinzu: Aller Ruhm der Kö­

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1. Die Schönheit der Nazaräer, 2-6

nigstochter liegt in ihrem Inneren, ihr Gewand ist durchwirkt mit Gold (Ps 44,14) und so weiter. Die Schönheit der Nazaräer liegt also im Inneren, nicht im Äußeren.

Der Name der Nazaräera 6.  Sie haben diesen Beinamen von der Blume der Heiligung, nicht der Blume des Feldes, der Blume des Fleisches: Alles Fleisch ist ja wie das Gras, und all seine Schönheit ist wie die Blume auf dem Feld (Jes 40,6). Es steht geschrieben: Der Gerechte blüht wie die Palme (Ps 91,13) und weiter: Gepflanzt im Hause des Herrn, gedeihen sie in den Vorhöfen unseres Gottes (Ps 91,14). Und eine andere Schriftstelle sagt: Treibt Blüten wie die Lilie und blühet voll Anmut (Sir 39,9). Wo blüht die Lilie? Christus wird in Nazareth empfangen, eine Blume mit der Blüte der Jungfräulichkeit und der Heiligkeit. Über Christus spricht nämlich der Vater: An ihm wird meine Heiligkeit erblühen (Ps 131,18 V). Und Christus sagt von sich: Ich bin eine Blume auf der Wiese und eine Lilie der Täler (Hld 2,1). Im Buch der Weisheit liest man: Treibt Blüten wie die Lilie! (Sir 39,19). Christus sagt: Seid heilig, weil auch ich heilig bin! (Lev 11,44b). Diesen Lilienduft atmen und verströmen alle Nazaräer. Denn alle, die zur Zeit des Gesetzes Nazaräer waren, waren, vom Herrn geheiligt, Vorbilder Christi und stellten durch ihren Verzicht und ihr Verhalten im Voraus die Menschen dar, die in Zukunft Christus nachfolgen sollten: Sie tranken keinen Wein, kein Bier und keine berauschenden Getränkec. Für Balduin steht hinter der nun folgenden Meditation die Bibelstelle Mt 2,23 im Hintergrund: ‚Denn es sollte sich erfüllen, was durch die Propheten gesagt worden ist: Er wird Nazoräer genannt werden‘. Dabei fließen für den Evangelisten in diesem Wort zwei verschiedene Worte und Bedeutungen ineinander: Nazaräer – Bewohner von Nazareth, und Nasiräer – Prophet, Gottesmann. Darum leitet Balduin im folgenden Abschnitt 6 aus der Bezeichnung Nazaräer die Forderung ab, ein wahrer Nazaräer darf weder Wein noch berauschende Getränke zu sich nehmen, die in Ri 13,7 für Simson als gottgesandten Retter galt. b  Vgl. 1 Petr 1,16. c  Vgl. Ri 13,7. a 

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7.  Doch enthielten sich auch die Söhne Jonadabs des Weines. Jonadab befahl nämlich seinen Söhnen, keinen Wein zu trinken. Und diese gehorchten tatsächlich der Stimme ihres Vaters. Darum spricht der Herr: Niemals soll es Jonadab an einem Nachkom­ men fehlen, der in meinem Dienst steht (Jer 35,19). Wenn es nach dem Wort des Herrn niemals Jonadab an einem Nachkommen fehlen soll, der in seinem Dienst steht (ebd.), so sind folglich in diesen unseren Tagen die Menschen, die Christus nachfolgen und in seinem Dienst stehen, die Söhne Jonadabs. Christus ist nämlich der wahre Jonadaba, bereit und willig zum ganzen Gehorsam, was im Namen Jonadab anklingt. Bereit ist jeder, der zu Gott sagt: Willig bringe ich dir mein Opfer dar (Ps 53,8). 8.  Ein Nazaräer und zugleich bereitwillig ist derjenige, dessen Stimme im Psalm erklingt: Mein Fleisch blühte wieder auf. Frei­ willig werde ich ihm ein Danklied singen (Ps 27,7). Der Ausdruck freiwillig bezieht sich auf den Geist, denn wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit (2 Kor 3,17). Dass er vorher sagt: Mein Fleisch blühte wieder auf (Ps 27,7), bezieht sich nicht auf den gegenwärtigen Ruhm des vergänglichen Fleisches, das wie eine Blume auf dem Feld istb, sondern auf die Hoffnung auf die herrliche Auferstehung und auf die Blume des geheiligten Fleisches, das mit sei­ nen Leidenschaften und Begierden gekreuzigt (Gal 5,24) wird.

Die Reinheit der Nazaräer 8

9.  Der Verzicht der Nazaräer und der Söhne Jonadabs war Zeichen, Beispiel und Vorbild. Es war für sie ein Zeichen zur Heiligung, für uns ein Beispiel zur Nachahmung und ein Vorbild zur Belehrung. Dadurch werden wir nämlich in geistlicher Weise zum dreifachen Verzicht herangebildet. 10.  Drei Dinge gibt es nämlich, die den Geist des Menschen durch trunkenes Vergessen und vergessliche Trunkenheit der LieVgl. Hieronymus, Liber interpretationis hebraicorum nominum (CCSL 72, 57-61); Augustinus, Enarrationes in Psalmos 70, i, 2 (CCSL 39, 941). b  Vgl. Jes 40,6. a 

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1. Die Schönheit der Nazaräer, 7-12

be Gottes entfremden: die Liebe zur Seele, die Liebe zum Fleisch und die Liebe zur Welt. Damit ist gemeint die Liebe zum Eigenwillen, die Liebe zur fleischlichen Lust und die Liebe zur Nichtigkeit der Welt. Die Liebe zur Welt ist nichtig, die Liebe zur Lust vergnüglich, die Liebe zum Eigenwillen starrsinnig. 11.  Umso starrsinniger und lebendiger nämlich die Seele sich selbst liebt und gewissermaßen an sich hängt, umso schwerer kann sie von sich selbst weggerissen, weggezogen oder abgesondert werden. Kaum kann ja die Seele etwas anderes mehr lieben als den eigenen Willen und das eigene Urteil. Wenn sie darum von ihrem eigenen Willen zurückgezogen wird, wird sie gleichsam von sich weggerissen, und wie eine Verletzte quält sie sich krank, als wäre ihr eine Wunde zugefügt worden. Die Liebe zum Eigenwillen ist Wein, der die Seele berauscht und alle ihre Sinne in Verwirrung bringt, zum Beispiel das Ohr, damit es nichts vom Gehorchen hört, und die Augen der Unterscheidung, damit sie die Wahrheit nicht sehen. Auch die übrigen Sinne schwächt sie in ihren Diensten, indem sie mitten unter sie den Geist des Schwindels mischta. 12.  Das ist nicht der Wein, den man einer Aufforderung gemäß den Traurigen geben soll, sondern der, den man einer anderen Aufforderung gemäß den Königen nicht geben darf b. Die Trauerndenc und jene, die Sünden des Eigenwillens beweinen, werden vom Wein der Zerknirschung (Ps 59,5) berauscht und getränkt mit dem Wein, der das Herz des Menschen erfreut (Ps 103,15) mit der Verheißung und der Hoffnung auf Vergebung. Selig sind nämlich die Trauernden, denn sie werden getröstet werden (Mt 5,5). Von solchen Menschen wird gesagt: Gebt berauschenden Trank dem, der traurig ist, und Wein denen, die im Herzen verbittert sind (Spr 31,6). Im Gegensatz dazu wird gesagt: Gib den Königen, Lemuël, gib den Königen keinen Wein zum Betrinken, denn kein Geheimnis gibt es mehr, wo Trunkenheit herrscht, sie könnten beim Trinken die Urteile Gottes vergessen (Spr 31,4-5).

Vgl. Jes 19,14. Vgl. Spr 31,4-5. c  Vgl. Mt 5,5. a 

b 

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13.  Der Wein des Eigenwillens wurde geklärt und ausgepresst in der Kelter des Ungehorsams, aus einer sauren Traube, die unsere Väter gegessen habena, und den Söhnen werden die Zähne stumpf. Adam, der Vater des Ungehorsams, hat diesen Wein des Eigenwillens gemischt und seinen Söhnen den Becher des Todes eingeschenkt, als wollte er sagen: Trinkt alle daraus! (Mt 26,27). Und immer noch trinken aus ihm alle Sünder der Erdeb. Christus dagegen, der nicht gekommen ist, seinen Willen zu tun, sondern den des Vatersc, schenkte den Kelch des Gehorsams – und zwar des Gehorsams bis zum Todd – ein und sagte zu uns: Trinkt alle daraus! (ebd.). Trinkt von dem – sagte er – was ich euch anbiete, nicht was Adam angeboten hat. 14.  Die ungläubigen und ungehorsamen Juden brachten dem Herrn, der am Kreuze hing und nach ihrem Heil dürstete, einen Wein, wie er ihrem bösen Tun entsprach. Als er aber davon gekos­ tet hatte, wollte er ihn nicht trinken (Mt 27,34). Er war nämlich nicht damit einverstanden und enthielt sich wie ein Nazaräer des Weines. Dieser stammte nämlich von einer galligen Traube und von dem Weinstock Sodoms, aus der Gegend Gomorras (Dtn 32,32). 15.  Dieser Wein des Eigenwillens und des Ungehorsams wird den Nazaräern und den Söhnen Jonadabs verboten. Sie dürfen nicht davon trinken. Gut ist es nämlich für den Menschen, diesen Wein nicht zu trinken. Das wissen alle, die ihren Eigenwillen ganz aufgegeben haben, die sich nicht dem eigenen Ich anvertrauen, sondern hingeben, um sich von einem fremden Urteil führen zu lassene. Immer zittern sie davor, von sich aus und gleichsam durch sich selbst etwas zu wollen. Darum binden sie sich mit den Fesseln des Gehorsams, schränken sich durch die Gesetze der klösterlichen Zucht ein, wenden ihren Willen der Bindung zu und machen die Freiheit zur Knechtschaftf: Das alles aber um Christi Willen, damit ihre Knechtschaft in Christus frei und die Vgl. Jer 31,29. Vgl. Ps 74,9. c  Vgl. Joh 6,38. d  Vgl. Phil 2,7. e  Vgl. Regel des heiligen Benedikt 5, 12 (SC 181, 466). f  Vgl. Gal 2,4. a 

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1. Die Schönheit der Nazaräer, 13-18

Bindung freiwillig sei. Umso freier sind sie nämlich in Christus, je mehr sie sich durch die Ablegung eines eigenen Gelübdes dazu verpflichtet haben, ihm zu gehorchen. Das ist der erste, das ist der hauptsächliche Verzicht der Nazaräer. 16. Das berauschende Getränk der fleischlichen Lust ist ebenfalls in der Kelter des Ungehorsams gepresst, gleichsam aus der Frucht des verbotenen Baumes. Es sah die Frau nämlich den Baum, dass er eine Augenweide war und es köstlich wäre, von dem Baum zu essena. Hier wurden die Gaumenlust, die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augenb geboren. Auf dieses berauschende Getränk verzichten die Nazaräer, die nicht so für den Leib sorgen, dass die Begierden erwachenc. Durch Verzicht, Selbstbeherrschung und Disziplin tragen sie das Todesleiden Jesu an ihren Leibd. Sie verzichten auch auf alles, was berauschen könnte, da sie die vielfältigen Verirrungen des Weltlebens fliehen, kein Vertrauen auf vergängliche Dinge haben und allen Ruhm der Welt gleichsam mit Füßen treten, indem sie die Erde aus der Ferne betrachtene. 17.  In der Vollkommenheit dieses dreifachen Verzichtes besteht die Reinheit der Nazaräer, und diese Reinheit glänzt heller als der Schnee. Schneeweiß ist die Farbe deren, die verzichten, doch unterscheidet sich jeder, der verzichtet, vom anderen, der auch verzichtet, und seine Reinheit von der Reinheit des anderen wie die Vollkommenheit von der Unvollkommenheit. Daher steht geschrieben: Wenn Gott im Himmel die Könige prüft, wird es auf dem Zalmon schneeweiß (Ps 67,15). 18. Alle, die sich die Welt auf erlaubte Weise zunutze machenf, sind gleichsam weiß wie Schnee. Doch jene, die sich die Welt nicht zunutze machen, sind weißer. Die Reinheit der ersten besteht darin, auf Unerlaubtes zu verzichten, die Reinheit der zweiten, sich auch beim Erlaubten einzuschränken. Die ersten Vgl. Gen 3,6. Vgl. 1 Joh 2,16. c  Vgl. Röm 13,14. d  Vgl. 2 Kor 4,10. e  Vgl. Jes 33,17. f  Vgl. 1 Kor 7,31. a 

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machen sich viele Sorgen und Mühena, weil sie vieles außer Gott lieben und nicht um Gottes willen, auch wenn sie nichts mehr lieben als Gott. Ihre Liebe ist geteiltb. Denn das Maß der Liebe, das für vergängliche Dinge aufgewandt wird, wird der Vollkommenheit der göttlichen Liebe entzogen. Immer ist das nämlich weniger, was zerstreut, als was zur Einheit gesammelt ist. Das in viele Läufe geteilte Wasser hat in den einzelnen weniger Kraft. So ist es auch mit der Liebe. Daher gilt das Wort, das zwar von der sinnlosen Liebe gesagt wird, auch für die Liebe selbst: Der Geist, gespalten in zwei, zerstreut sich nach beiden Seiten. Die Liebe zur einen jedoch entzieht der andern die Kraft. (Ovid)c 19.  Sammeln wir also die ganze Liebe zur Einheit, damit sie sich nicht in vielerlei aufspaltet; und rufen wir alle Gefühle und alle Zuneigung der Liebe aus der Vielzahl zurück, sodass die ganze Kraft der Liebe auf das Eine und zum Einen hin läuft; nämlich auf jenes Eine, das der ganzen Liebe würdig ist, dem die ganze Liebe gebührt, für das auch bei entsprechender Liebe die ganze Liebe kaum ausreichen kann oder eben nicht kann. Ein tatsächliches Unrecht geschieht nämlich, wenn ein Teil dem entzogen wird, dem das Ganze gebührt. Das ist die Reinheit, weißer als der Schnee. Nach dieser Reinheit sehnte sich vielleicht der Beter, der da sprach: Wasche mich, dann werde ich weißer als der Schnee (Ps 50,9).

Der Glanz der Nazaräer 20.  Die Nazaräer werden durch diesen Ruhmestitel geehrt, dass man sie reiner nennt als der Schnee; und um den Ruhm auf die Spitze zu treiben, wird hinzugefügt: sie seien glänzender als Milch (Klgl 4,7). Öl, Milch, Fettgewebe enthalten Fett und Glanz. Das ist die Barmherzigkeit, von der der Herr sagt: Barmherzigkeit will ich, nicht Schlachtopfer (Hos 6,6). Glanz und Süße der Milch beVgl. Lk 10,41. Vgl. 1 Kor 7,34. c  P. Ovidius Naso, Remedia Amoris 443. a 

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1. Die Schönheit der Nazaräer, 18-24

sitzen jene, die den Nöten der Bedürftigen barmherzig zu Hilfe kommen, um von deren Milch getränkt und von ihrer tröstenden Brust (Jes 66,11) gesättigt zu werden. 21.  Es gibt nun körperliche und geistige Bedürfnisse. So verlangt der Leib nach vielen Stützen für seine Bedürfnisse, er verlangt nach vielen Heilmitteln für seine Schwäche. Es verlangt auch die Seele nach dem, was sie braucht zum geistlichen Trost und zum wahren Heil. 22. Häufig lassen sich die Gerechten, die dem Fleisch nach schwach sind, bei den körperlichen Bedürfnissen der Nächsten mehr von Mitgefühl und Liebe bewegen; sie verlangen mehr danach, einen Hungernden zu speisen als einen vom Weg der Wahrheit Abirrenden zurückzuführen. Einfühlsamer, glaube ich, werden sie dort schwach, wo sie sich selber im Ertragen kraftlos fühlen; Sie lassen sich gleichsam vom Beispiel des eigenen Hauses belehren und lieben es, mit der Armut um Christi Willen Mitleid zu habena, die um Christi Willen zu erleiden sie nicht fähig sind. 23.  Jene aber, die sich um Gottes willen eifersüchtig um die Seele des Nächsten bemühen, werden durch die geistlichen Bedürfnisse mehr im Herzen bewegt, wenn sie mit den Schwachen schwachb und von Sorge um die verzehrt werden, die unter einem Ärgernis leiden. Unter geheimen Tränen und im geheimen Zwiegespräch mit Gott beten sie für die Feinde und weinen; wegen fremder Sünden trauern und klagen sie; und mit herzlicher Liebe und innigstem Mitgefühl empfehlen sie ihre Nächsten, die unwissend umherirren, Gott, dem sie in seinem Geist dienenc, unter Tränen und Seufzen. 24. Oft scheinen sie jedoch bei körperlichen Bedürfnissen sozusagen hart und gefühllos. Vielleicht können sie, da sie selbst freiwillig unter der Armut leiden, bei den anderen ihretwegen weniger mitleiden. Sie halten Armut nämlich nicht für ein Elend, sondern für einen Weg zum Heil. Als sicherer sehen sie es an, maßvoll unter Mangel zu leiden als Überfluss zu haben. Und für Vgl. Ijob 30,25. Vgl. 2 Kor 11,29. c  Vgl. Röm 1,9.

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erbarmungswürdiger halten sie die Reichen, die in ihrem Überfluss zugrunde gehen, als die Armen, die um ihres Heiles willen eine Zeitlang darben. 25.  Die wahre Barmherzigkeit jedoch hat mit beiden Bedürfnissen Mitleid, größeres jedoch mit den größeren und kleineres mit den kleineren. Großes Erbarmen ist es, mit den Nächsten mitzufühlen, wo sie Not leiden, doch viel größeres Erbarmen ist es zu sorgen, dass sie nicht zugrunde gehen. Ein tiefes Gefühl des Erbarmens besteht darin, zu trauern über das Böse, das Menschen erleiden, doch ein noch tieferes Gefühl darin, über das Böse zu trauern, das Menschen tun. 26.  Ein Beispiel für dieses doppelte Erbarmen gab Christus selbst. Der Herr sah nämlich die Menge, die schon fast zusammenbrach, und er sprach: Ich habe Mitleid mit der Menge! (Mk 8,2). Durch die Brotvermehrung deutete er durch eine leibliche Wohltat das Geheimnis geistlicher Gnade an. Als er aber die Stadt Jerusalem sah, weinte er über sie und sprach: Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest… (Lk 19,42). Und als er weinte, fügte er auch hinzu, warum sie dieses Weinen verdiente, indem er sagte: Jetzt aber bleibt es vor deinen Augen verborgen (ebd.). Eine solche Klage muss man über jeden Reichen anstimmen, der den Frieden in dieser Zeit zu seinem Verderben missbraucht: Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir Frieden bringt (ebd.). Als der Herr zu seinem Leiden geführt wurde, wandte er sich an die Frauen, die dabei standen und weinten. Er sagte: Ihr Frauen von Jerusalem, weint nicht über mich; weint über euch und eure Kinder! (Lk 23,28). 27.  Größer ist nämlich der Eifer für die Seelen als das herzliche Mitgefühl für die Leiden des Leibes. Das zweite glänzt wie Milch, der erste aber wie Öl, das sich über alle Flüssigkeiten erhebt. Das zweite ist wie das äußere Fett beim Opfer, der erste das innere. Das zweite ist den Reichen vertraut, die barmherzig das Ihre austeilen, der erste passt besser zu den Nazaräern. Hier findet sich nämlich das innere Mark aufrichtiger Nächstenliebe. Wozu muss man nämlich die Nächsten, die an derselben Natur teilhaben, mehr lieben, als damit sie an der gemeinsamen Herrlichkeit Anteil erhalten? Daher leuchten die Nazaräer, die dem Eifer für

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1. Die Schönheit der Nazaräer, 24-30

die Seelen den Vorzug geben, die Bedürfnisse des Leibes aber in keiner Weise verachten, gleichsam in doppeltem Glanz: Um weißer zu sein als Milch, besitzen sie ständig den Glanz der Gnade und der Herrlichkeit vor Gott. Er sagt ja: Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden (Mt 5,7). 28.  Jene, die sich zum Gemeinschaftsleben verpflichtet haben, die im zukünftigen Leben alles gemeinsam haben werden, teilen in dieser Zwischenzeit das Ihre so miteinander, dass sie nichts für sich übrig haben wollen, was anderen nützen könnte. Ja, sie halten alles für überflüssig, was nicht in die gemeinsame Gnade eingebracht wurde. Nichts wollen sie als Eigentum besitzen, wie sie nichts Fremdes an sich reißen sollen.

Die rosige Farbe der Nazaräer 29.  Bei der Beschreibung des Antlitzes der Nazaräer wird eine Farbe nach der anderen aufgemalt. Nach dem Weiß und dem Glanz fügt man rot hinzu, damit ihr Gesicht durch die Anmut des Weißes hell strahlt und durch die Anmut des Rots heiter gestimmt ist. 30.  Die rote Farbe im Gesicht der Nazaräer ist gewöhnlich ein Zeichen für Hitze oder Scham. Rosig sind die Nazaräer, da sie durch das Feuer der Hingabe glühen und durch ehrenhafte Zurückhaltung erröten. Voll Eifer ereifern sie sich für das Gesetz Gottes, sie glühen nicht nur im Streben nach der Tugend, sondern sie lieben voll Feuer die Schönheit der Ehrenhaftigkeit. Empfindsam sind ihre Sinne, bei allem Bösen erröten sie. Alles Unehrenhafte verabscheuen sie; bei allem Ungehörigen schämen sie sich. Schamhaft und ehrenhaft sind alle ihre Sinne; sie schämen sich, Unehrenhaftes zu sehen; sie schämen sich, nicht nur über sich, sondern auch über andere Schändliches zu hören; sie schämen sich, Schändliches zu sagen; sie schämen sich auch, es zu denken, wie geschrieben steht: Einen Bund schloss ich mit meinen Augen, nie eine Jungfrau lüstern anzusehen (Ijob 31,1). Sie schämen sich ebenso, Schändliches getan zu haben, wie der Apostel über einige

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sagt: Welchen Gewinn hattet ihr damals? Es waren Dinge, deren ihr euch jetzt schämt (Röm 6,21). 31. Zu wenig ist es beim Lob der Nazaräer, sie nur rosig zu nennen, ohne sie sogar dem alten Elfenbein vorzuziehen. Elfenbein ist, wie man sagt, das Gebein des Elefanten. Der Elefanta ist ein Tier, aufgebaut aus Knochen, stark und fest, sodass er sogar Kriegsmaschinen und hoch aufgerichtete Bollwerke aushält. So steht es mit der Kraft der Heiligen, sie haben wie das Elfenbein in ihren Knochen den Ruhm der Festigkeit, der Stärke und der Schönheit. Wenn das Fleisch schwach istb, um die Schwäche der Gerechten ins Wort bringen zu können, warum sollte dann der Knochen ihre Stärke nicht zum Ausdruck bringen? Von ihnen steht doch geschrieben: Der Herr behütet alle ihre Knochen (Ps 33,20). 32. Altes Elfenbein ist die Stärke der Gerechten, wie es bei den alten Gerechten unter dem Gesetz war, und wie es auch jetzt bei denen ist, die sich als ihre Nachahmer erweisen. Es gab bei den alten Gerechten eine große Ernsthaftigkeit im Verhalten, eine große Reife, eine große Beständigkeit des unerschütterlichen Geistes. Bei Hartem und Unwürdigem, das sie für ihr Gesetz ertragen mussten, besaßen sie eine unerschütterliche und unbesiegliche Geisteskraft. Durch keine äußere Widerwärtigkeit, keine menschliche Bosheit, keine Ungerechtigkeit, keine Schmach, keinen Schrecken, keine Beschämung konnten sie von der Ehrfurcht vor ihrer heiligen Religion abgebracht werden. Daher sprach einer von ihnen, der die übrigen Gerechten in sich verkörpert so: Den gan­ zen Tag steht mir meine Schmach vor Augen, und Scham bedeckt mein Gesicht wegen der Worte des lästernden Spötters, angesichts des Feindes und Verfolgers. Das alles ist über uns gekommen, und doch haben wir dich nicht vergessen, uns von deinem Bund nicht treulos abgewandt. Unser Herz ist nicht von dir gewichen (Ps 43,16-19). 33.  Das geschah freilich unter dem Gesetz, das doch keinen vollkommen machtc. Es fehlte ihm nämlich noch die evangelische Vgl. Bestiarium – ed. F. Unterkircher (Graz 1986), 34. Vgl. Mt 26,41. c  Vgl. Hebr 7,19. a 

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1. Die Schönheit der Nazaräer, 30-34

Vollkommenheit. Noch war nicht gesagt worden: Wenn du voll­ kommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen (Mt 19,21). Noch wurde gesagt: Auge für Auge, Zahn für Zahn, Strieme für Strieme (Ex 21,24-25), noch nicht: Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin! (Lk 6,29). Noch war der Welt nichts bekannt von den durch Christus vom Himmel herab gebrachten und in Christus verkündeten heiligen Räten vollendeter Vollkommenheit; Räten, die nicht alle fassen können: die Jungfräulichkeit zu wahren und Gott zu weihen, die freiwillige Armut um Christi willen auf sich zu nehmen, die Liebe zum letzten Platza und die Verachtung der Würden, der Verzicht auf Rache, die Verzeihung jeglichen Unrechts, der Verzicht auf Streit beim Rückfordern seines Eigentums, die Hintansetzung des Vaters, der Mutter und aller Freunde, darüber hinaus noch des eigenes Ichs, die Feindesliebe, die Hingabe des Lebens für die Freunde, auch wenn sie uns feindlich gesinnt sein sollten, das Ertragen jeglichen Unrechts, von Schmähungen, Lästerungen, Widerwärtigkeiten, schließlich alles Harten und Unwürdigen um der Ehre und Liebe Christi willen, und zwar das fröhliche Ertragen in der Freude des Heiligen Geistes, wie geschrieben steht: Sie aber gingen weg vom Hohen Rat und freuten sich, dass sie gewürdigt worden waren, für seinen Namen Schmach zu erleiden (Apg 5,41). Diese und ähnliche Räte christlicher Vollkommenheit waren zwar manchen alten Gerechten von Gott geoffenbart, aber dennoch nicht im Gesetz veröffentlicht worden. Das blieb nämlich Christus vorbehalten, der dem Gesetz die Vollkommenheit geben und dennoch das Gesetz nicht aufheben sollteb. 34.  Guter Jesus, wenn du erlaubst, möchte ich dir eine Frage stellen: Wie konntest du uns das antun? (Lk 2,48). Wir hofften, dass du bei deinem Kommen in die Welt unsere Lasten aufheben und deinen Zorn mäßigen würdestc, dass du als Menschgewordener menschlich würdest, oder zumindest menschlicher als gewöhnlich. Nun aber häufest du Last auf Last und legst auf das Schwere Vgl. Regel des heiligen Benedikt 7, 49 (SC 181, 484). Vgl. Mt 5,17. c  Vgl. Ps 84,4. a 

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noch Schwereres. Oder waren die Hände des Mose nicht schwer genuga? Oder bist du dafür gekommen, um uns mit Skorpionen zu züchtigenb? Oder nicht doch, um unser Joch zu erschweren? Die Freunde dürfen wir nicht lieben und die Feinde nicht hassen? O, du Erfinder neuer Gesetze, wer kann deine Worte anhörenc? Oder suchst du nach einem Anlass, uns ins Verderben zu stürzen? Ist nicht Jesus dein Name? Bist du nicht unser Gott, ein Gott, der uns Rettung bringt? (Ps 67,21). Also nicht Verderben? Keineswegs! 35.  Wozu befiehlst du mir, die Feinde nicht zu hassen, ja sie sogar zu liebend? Wie kann ich das? Sieh doch, wenn ich durch ein kleines Schimpfwort erregt wurde, koche ich innerlich, ich erhitze mich, mein Herz brennt auf Rache, die Zunge hat schnell eine Schmähung bereit. In dieser Zwischenzeit kenne ich Gott nicht; deine Gesetze sind mir nicht bekannt. Du aber sagst: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein (Mt 5,22). Sollte ich zu meinem Bruder sagen: Du Dummkopf! oder Du Narr! (ebd.), so erschreckst du mich noch mehr. Dann bin ich nämlich dem Gericht oder dem Feuer der Hölle verfallen! Und du hast deine Befehle gegeben, damit man sie genau beachtet (Ps 118,4). 36.  Ja, um die Wahrheit zu bekennen: ich kann Wohltaten durchaus vergessen, Unrecht aber nicht. Ich bin so sehr ein Kind des Zornese, dass ich es nicht fertig bringe, nicht zu zürnen. Oder bist du, Jesus, vielleicht erzürntf? Unter dir steht es mir nicht frei, weder zu zürnen, noch mich gegen den Feind auch nur ein wenig zu ereifern, noch im Herzen zu brummen oder zu murren. Woher kommt mir die Fähigkeit, mein Herz zu beruhigen, sodass ich gar nicht erregt und allem Unrecht gegenüber wie gefühllos werde? Woher kommt uns die Fähigkeit zu tun, was du von uns willst, dass wir es tun, und zu leiden, was du willst, dass wir es leiden, wenn nicht du, Gesetzgeber, deinen Segen dazu gegeben hast? Woher kommt uns die Fähigkeit, wenn du uns nicht mit Segen Vgl. Ex 17,12. Vgl. 3 Kön 12,11 und 14. c  Vgl. Joh 6,61. d  Vgl. Mt 5,44. e  Vgl. Eph 2,3. f  Vgl. Jes 64,5. a 

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1. Die Schönheit der Nazaräer, 34-38

und Glück (Ps 20,4) zuvorkommst, wenn wir nicht in deiner beglückenden Liebe bleiben, der auch das Bittere süß und das Harte leicht, und in der allein dein Joch nicht drückend und deine Last leicht sinda. 37.  Denn was ist schwer für den, der liebtb? Denn was auch an Schwererem aufgetragen wird, es ist geringer als die Hingabe der Liebe. Die Liebe ist nämlich langmütigc, sie ist stark, sie lässt sich nicht durch eine Last ermüden, noch durch eine Bürde zu Boden drücken. Sie erträgt alles, hält allem stand (1 Kor 13,7). Und wenn sie auch heilige Scham kennt, so ist sie doch voller Ehrfurcht gleichsam unverschämt. Sie errötet nämlich über das Schändliche, nicht aber über die Worte Christi, nicht über die Schmach Christid, nicht über das Beispiel Christi. Christus, der zum Gesetz die Vollkommenheit hinzugefügt hat, erfüllte in sich, was er zu tun lehrte, und zwar in dem Maß, als es sich gehörte, und er stellte sich selbst als Vorbild dare. 38.  Was aber Christus selbst tat und zu tun lehrte, mag zwar für die Welt verächtlich erscheinen, dennoch kann ihm die Zierde wahrer Ehre nicht fehlen. Die Armut Christi und seine Demut gelten in der Welt als gering. Für die Armen Christi ist nämlich auch die Welt selbst gering, und sie bringen einander gegenseitig Verachtung entgegen: Die Welt, die sie verachtet, wird auch von ihnen selbst verachtet. Dass die Welt jedoch verachtet, ist hoffärtiger Stolz, dass sie verachtet wird, edle Demut. Die wahre Demut Christi hat offensichtlich die Erscheinungsweise edlen Stolzes an sich. Sie weigert sich nämlich, unter dem Joch der Sünde zu dienen, und wagt es, alle Eitelkeit der Hoffart und den Nacken des aufgeblasenen Stolzes durch die ihr eigene Kraft mit Füßen zu tretenf.

Vgl. Mt 11,30. M. Tullius Cicero, Orator x, 33, vgl. auch Bernhard von Clairvaux, Über die Bekehrung 21, 38 (BCSW IV, 239). c  Vgl. 1 Kor 13,4 und 7. d  Vgl. Hebr 11,26. e  Vgl. Joh 13,15. f  Vgl. Sir 24,11. a 

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39.  Wer Christus vollkommen nachfolgt, ist sich seiner Stellung bewusst, in der er nach dem Bild Gottes, ihm ähnlicha, erschaffen wurde. Er denkt auch an den Preis, um den er vom Sohne Gottes erkauft wurdeb. Aus Ehrfurcht vor seiner Würde erhebt er sich in adeliger Gesinnung über die Überheblichkeit, die jeder Würde unwürdig ist. Er hält sich seines Adels für unwürdig, die Eitelkeit weltlicher Ehre zu lieben, und die Verheißungen Gottes, die alles überragen, was wir ersehnenc, nicht zu lieben. Daher steht über die Kirche geschrieben: Ich mache dich zum ewigen Stolz (Jes 60,15). Und von den Dienern Gottes wird gesagt: Den Reichtum der Völker werdet ihr genießen, mit ihrem Ruhm könnt ihr euch brüsten (Jes 61,6). Was ist denn der Reichtum der Völker, oder was ihr Ruhm, wenn nicht das, was sie lieben? Sie verlassen sich ganz auf ihren Besitz und rühmen sich ihres großen Reichtums (Ps 48,7). Ihr Ruhm besteht in ihrer Schande, bei denen, die Irdisches im Sinn haben (Phil 3,19). 40.  Es steht geschrieben: Alle, die Grundstücke besaßen, ver­ kauften ihren Besitz, brachten den Erlös und legten ihn den Apos­ teln zu Füßen (Apg 4,34-35). Zu Recht zu Füßen, denn er verdiente, mit Füßen getreten zu werden, da es unwürdig war, ihn auch nur mit den Händen anzufassen. Ein Ausspruch des Petrus lautet: Silber und Gold besitze ich nicht (Apg 3,6). Ein Ausspruch, der der Vorrangstellung des Ersten der Apostel, des Ersten der Kirche würdig war. Was haben Petrus und Silber oder Gold gemeinsam? Petrus sagt doch: Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür bekommen? (Mt 19,27). Er fragt nach dem Lohn, doch es wird ihm weder Silber versprochen noch Gold. Das verachtete er nämlich, da er sich mit dem Ruhm der Völker brüsteted. Auch Paulus verachtete ihn, da er sagt: Wenn wir Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen (1 Tim 6,8). Er schämte sich nicht der Armut Christi, aß sein Brot nicht umsonst (2 Thess 3,8), sondern er mühte und plagte sich und arbeitete Tag und Nacht (ebd.). Er schämte sich auch nicht der Demut Christi, Vgl. Gen 1,27. Vgl. 1 Kor 6,20. c  Vgl. Oration vom 20. Sonntag im Jahreskreis. d  Vgl. Jes 61,6. a 

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1. Die Schönheit der Nazaräer, 39-44

als er sprach: Wir sind sozusagen der Abschaum der Welt geworden, verstoßen von allen (1 Kor 4,13) und weiter: Zum Schauspiel sind wir geworden für Gott, für Engel und Menschen (1 Kor 4,9). 41.  Rosig sind also die Nazaräer, die vollkommenen Jünger Christi, wegen der doppelten Schande und ihres Errötens (Jes 61,7). Ihr Rot übertrifft umso mehr altes Elfenbein, je mehr ihre Vollkommenheit die alten Gerechten übertrifft. Sie waren umso stärker, je mehr sie sich wahrhaft mit Eifer um die christliche Zucht bemühten.

Die Schönheit der Nazaräer 42.  Noch einmal fügt sich Lob an Lob, und Ehre häuft sich auf Ehre. Schöner als Saphir (Klgl 4,7) sind sie, so heißt es. In wunderschöner Reihenfolge wird die Schönheit der Vollkommenheit dargelegt. Die erste Stufe der Vollkommenheit besteht darin, sich von aller Befleckung des gegenwärtigen Lebens rein zu bewahrena, soweit das die Gebrechlichkeit des Menschen erlaubt. Die zweite Stufe besteht darin, die Sorge für den Nächsten in keiner Weise zu vernachlässigen, soweit es eine Möglichkeit des Menschen gibt, zu raten oder zu helfen. Die dritte Stufe besteht darin, in der Glut heiliger Hingabe und mit der Röte heiliger Scheu Hartes und Unwürdiges tapfer auszuhalten, soweit es die Schwäche des Menschen zulässt. Die vierte Stufe darin, sowohl beim Tun des Guten als auch beim Ertragen des Bösen das Auge der Absicht immer auf Gott zu richten und alles auf seine Verherrlichung auszurichten, soweit es die Möglichkeit des Menschen erlaubt. 43. Die erste Tugend ist die vollkommene Unschuld sich selbst gegenüber. Die zweite volles Erbarmen dem Nächsten gegenüber, die dritte unbesiegliche Geduld dem Feinde gegenüber, die vierte ein reines und einfaches Bewusstsein lauterer Absicht Gott gegenüber. 44.  Die erste Tugend wird verwirklicht entweder durch gläubige Hintansetzung seiner selbst oder durch strenge Barmherzigkeit a 

Vgl. Jak 1,27.

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ebenso sich selbst gegenüber, die zweite durch gütige Liebe, Liebe zum Nächsten, die dritte durch geduldige Liebe, Liebe zum Feind, die vierte durch überragende Liebe, Liebe zu Gott. Diese letzte beseelt die übrigen, damit sie Tugenden sind, sie festigt und erfüllt sie, damit sie nicht nutzlos sind. Soviel nämlich einer auch Gutes getan, soviel er ebenso Böses erduldet haben mag, alles wird als nutzlos und fruchtlos, weder als gefestigt noch als lobenswert beurteilt werden, wenn er das Auge seiner Absicht nicht darauf richtet, Gott zu gefallen im Lichte der Lebenden (Ps 55,13), wenn er nicht die Ehre Gottes so sucht, dass er nicht auf eigenen Ruhm aus ist. 45.  Im Herzen der Nazaräer findet sich die Reinheit der Absicht wie die Schönheit der Augen in einem hübschen Gesicht. Die schmückende Anmut und den Ruhm des menschlichen Antlitzes vermehrt nichts so sehr wie die Anziehungskraft der Augen. In einem anziehenden Gesicht ist die Anmut der Augen nämlich der Höhepunkt der Schönheit und der Höhepunkt der Anziehungskraft selbst. So ist auch die hauptsächliche Schönheit eines guten Werkes eben die Reinheit der Absicht. Das aber ist die Schönheit des Saphirs. 46.  Der Saphir hat nämlich die Farbe des Himmels, er ahmt das Aussehen des klaren und heiteren Himmels nach. Er ahmt eben die Reinheit des Himmels nach, doch erreicht er sie nicht ganz; er wird nämlich von dessen größeren Reinheit besiegt. Schöner ist nämlich die Reinheit des Himmels als die des Saphirs. So hat die gläubige und lautere Absicht mit der Hoffnung auf die himmlischen Güter und der Sehnsucht nach ihnen bei manchen die Reinheit des Saphirs, der das Aussehen des Himmels nachahmt, bei anderen jedoch bringt er die Reinheit des ganz klaren Himmels in noch größerer Schönheit zum Ausdruck. 47.  Es gibt nämlich solche, die Gott ganz rein lieben, nicht so wie die übrigen mit ihnen, sondern vor den übrigen. Andere jedoch vor den übrigen, doch trotzdem mit den übrigen. In den ersten ist eine einzige Liebe, in den zweiten ist eine höchste Liebe. Eine höchste Liebe schließt eine andere Liebe nicht aus. Eine einzige Liebe dagegen lässt sich mit einer zweiten Liebe nicht vereinbaren. Reiner ist sie in ihrer Art, weil sie die Vermischung mit einer untergeordneten Art nicht annimmt.

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1. Die Schönheit der Nazaräer, 44-50

48.  Jene, die Gott vor den übrigen, doch mit den übrigen lieben, schauen bei dem, was sie entweder leiden oder tun, mit dem Auge der reinen Absicht oft und oft auf Gott. Er hat im Herzen den ersten Platz bei ihrer Liebe inne. Sie hoffen vertrauensvoll, dass sich die Verheißungen Gottes an ihnen erfüllen und ersehnen es vor allem und über alles. Doch weil sie manches in nutzloser Weise lieben, in dem sie Gott nicht lieben, da sie es nicht in rechter Weise um Gottes willen lieben, deswegen wenden sie oftmals das Auge vom Blick auf die Vergeltung im Himmel anderswohin, zu dem nämlich, was sie in nutzloser Weise lieben. Wo nämlich deine Liebe ist, dort ist auch dein Auge (Sprichwort)a. Darum hoffen, wünschen und beten sie, dass sich ihre Sehnsucht in dem, was sie lieben, nach ihren Vorstellungen erfüllt. Und während nicht das ganze Herz nach oben gerichtet wird, neigt es sich wenigstens ein bisschen nach unten. 49.  Jene aber, die nur Gott und was zu Gott gehört, rein lieben, erweisen sich in dem Maß als schöner als Saphir, in dem sie reiner in der lauteren Absicht sind. Immer denken sie an die himmlischen Güter zusammen mit dem Propheten, der zu Gott sprach: Was ich im Herzen erwäge, stehe dir immer vor Augen (Ps 18,15). Dieser sprach in der Sehnsucht, das Auge seiner Absicht möge nicht zu Nichtigem abgleiten: Wende meine Augen ab, da­ mit sie nichts Nichtiges sehen (Ps 118,37). Er legt die Reinheit seiner Sehnsucht dar und spricht: Mein Herz sprach zu dir: ‚Dich suchte mein Angesicht!‘ Dein Angesicht, Herr, will ich suchen (Ps 26,8). Die Reinheit der Hoffnung bringt er jedoch zum Ausdruck mit den Worten: Darum hat der Herr mir vergolten, weil ich gerecht bin und meine Hände rein sind vor seinen Augen (Ps 17,25). 50.  Die Nazaräer stehen in dieser großen Reinheit ihrer Absicht, Sehnsucht und Hoffnung. Sie schauen gleichsam immer Gott, und sie werden in der Herrlichkeit ihrer Schönheit immer von ihm angeschaut, als das Werk der Hände (Ps 18,2)b dessen, der sich stets seiner Werke freut (Ps 103,31). Gegenseitig schauen sie a  Vgl. H. Walther, Lat. Sprichwörter u. Sent. d. Mittelalters (Göttingen 1967), 5, 431, Nr.  32036; Richard von St. Viktor Beni. min. XIII (SC 419, 124-126); Adam von Perseigne, Epistola IX (SC 66, 160). b  Vgl. Ps 27,5 und 110,7; Jes 5,12.

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also einander an und werden durch das gegenseitige Anschauen beglückt. Denn der Prophet sagt: Die Augen des Herrn blicken auf die Gerechten (Ps 33,16). Und der Gerechte spricht: Meine Augen schauen stets auf den Herrn (Ps 24,15). Seht, jetzt schon in der Gegenwart schauen die Nazaräer in gewisser Weise Gott, Auge in Auge. Seht, jetzt schon nehmen sie die Freuden der zukünftigen Schau vorweg. Seht, jetzt schon beginnen sie die Seligkeit zukünftiger Sättigung zu kosten, um vollständiger gesättigt zu werden, wenn die Herrlichkeit Gottes erscheinta, der als Gott über allem steht. Ihm sei Lobpreis in Ewigkeit (Röm 9,5).

a 

Vgl. Ps 16,15.

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Sermo 3 Traktat XI Die Kreuzigung des alten Menschen

Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben (Röm 6,6).

1.  Christus hat für uns gelitten und uns ein Beispiel gegeben, damit wir seinen Spuren folgen (1 Petr 2,21). Er hat am Kreuz gelitten, damit die Tugend der Geduld in uns durch das Geheimnis des Kreuzes vollendet wird. Wir müssen nämlich leiden und so den gerechten Lohn für unsere Taten erhaltena. Daher wird auch uns von Christus auferlegt, das Kreuz zu tragen, wenn er sagt: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach (Mt 16,24). 2.  Sein Kreuz, sagt er, soll er auf sich nehmen, nicht das meine. Es gibt nämlich das Kreuz, das durch den Leib Christi geweiht wurde, und das allein Christus bestiegen hat. Er allein ist frei un­ ter den Toten (Ps 87,6), weil er weder der Sünde verfallen war noch dem Zwang unterlag, sterben zu müssen. Über ihn hatte der, der die Gewalt über den Tod hat (Hebr 2,14), keine Machtb, sondern er

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Vgl. Lk 23,41. Vgl. Joh 14,30.

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wurde geopfert, weil er selbst es wollte (Jes 53,7). Das Kreuz Christi ist daher das Kreuz eines Unschuldigen und Gerechten; eines, der nicht durch das Kreuz gereinigt oder gerechtfertigt wurde, sondern der durch das Kreuz reinigt und rechtfertigt. 3.  Es gibt auch ein anderes Kreuz, nicht das des Gottmenschen, sondern des schuldigen Menschena, der eben murrt und beim Dulden ungeduldig ist. Und es gibt noch ein anderes Kreuz, das des schuldigen Menschen, der zur Umkehr bereit ist, ein Bekenntnis ablegt und zu hören bekommt: Heute noch wirst du bei mir im Paradies sein (Lk 23,43). Von der Notwendigkeit, sein Kreuz auf sich zu nehmen, wird niemand ausgenommen, niemand entschuldigt. Es tragen die Bösen ihr Kreuz: Der Frevler leidet viele Schmerzen (Ps 31,10). Und es tragen auch die Guten ihr Kreuz: Der Gerechte muss viel leiden (Ps 33,20). 4.  Die Bösen tragen ihr Kreuz: niemals aber freiwillig, fröhlich und heiter. Denn sie wollen sinnlose Dinge, die sie ganz unsinnig lieben, erwerben, vermehren und bewahren. Freiwillig nehmen sie viele und große Mühen auf sich, viele und böse Bedrängnisse (Ps 70,20). Doch weil sie lieber für die Welt als für Christus leiden, ist ihre Geduld wertlos, und sie haben bei Gott weder Anspruch auf Verdienst, noch Hoffnung auf Lohn. Verderben und Unheil sind nämlich auf ihren Wegen, und den Weg des Friedens kennen sie nicht (Röm 3,16-17b). 5.  Sie könnten freilich selig sein, wenn sie das dem Wahren zuwendeten, was sie für den Wahn aufwenden. So aber sind sie freiwillig unglücklich: Und sie sind umso unglücklicher, je mehr sie meinen, selig zu sein. Denn da sie sich für selig halten, meiden sie das Unglück nicht, das sie freiwillig ertragen, wie das Kalb Ephraim, das es gelernt hat, das Dreschen zu lieben (Hos 10,11). Wegen der Hoffnung auf wertlose Spreu liebt das Kalb die Mühe des Dreschens. Zu Recht wird dieses Geschlecht dem unvernünf­ tigen Vieh gleich, dem Pferd und Maultier, die keine Erkenntnis ha­ ben (Ps 48,13 und 21V). In Zaum und Zügel muss man ihre KinnDas lateinische Wortspiel „Homo Dei“ – „homo rei“ – „Gottmensch“ – „schuldiger Mensch“ lässt sich leider nicht ins Deutsche übertragen. b  Vgl. Ps 13,3. a 

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 2-7

lade zwängena, denn sie kommen dir, Gott, nicht näher. Er wird sie ins Feuer werfen, in ihrem Elend werden sie nicht durchhalten (Ps 139,11V). Sie laufen nämlich von Elend zu Elend und verdienen sich Strafen mit Strafen. Du, Herr, wirst uns behüten und uns vor diesen Leuten für immer erretten (Ps 11,8). 6. Die Bösen tragen häufig ihr Kreuz unter Zwang. Von Gott gezüchtigt schlagen sie nämlich gegen den Stachel ausb und murren, mit ihrem eigenen Urteil entschuldigen sie sich, geben der Gerechtigkeit Gottes die Schuld und zischen nörgelnd wie bedrängte Schlangen. Den anderen gegenüber, die solches nicht dulden, fühlen sie sich besser und meinen, solche Schläge nicht verdient zu haben. Von ihnen steht geschrieben: Wie ein Wagen­ rad ist das Herz des Toren (Sir 33,5), es trägt Heu und murrt. Das Murren des Wagenrades macht die Last nicht leichter, es murrt und trägt dennoch. So verhält sich auch der Tor, bedrängt von der Last der Trübsal. Durch seine Ungeduld ist er sich selber eine Qual, er ist sich selber zur Last; und er ist wahrhaft wie Heu: Heute steht es auf dem Feld und wird morgen ins Feuer geworfen (Mt 6,30). 7.  Der Tor spricht Törichtes, der Mund der Narren sprudelt Torheit hervor (Spr 15,2V). Was ist denn törichter, als sich im Unglück zu überheben, sein Maul bis zum Himmel aufzureißenc, sogar in der Schwäche seine eigene Schwäche nicht anzuerkennen und Gott in seinem Zorn zum Zorn zu reizen? Wie viel angemessener sprechen jene, die im Unglück mit dem seligen Ijob sagen: Wie es dem Herrn gefallen hat, so ist es geschehen! Gelobt sei der Name des Herrn! (Ijob 1,21V). Von solchen Menschen steht geschrieben: Sie tragen Frucht noch im Alter und sind voll Geduld. Sie verkünden: Gerecht ist der Herr, unser Gott; an ihm ist kein Unrecht (Ps 91,15-16).

Vgl. Ps 31,10V. Vgl. Apg 9,5. c  Vgl. Ps 72,9. a 

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Der dreifache Mensch: der irdische, fleischliche und geistliche Mensch

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8.  Das Kreuz, das die Bösen tragen, willig oder unwillig, stammt von Bösen: es ist das verdiente Kreuz für die, die das Kreuz verdienen. An diesem Kreuz wird der alte Mensch gekreuzigt, doch nicht mitgekreuzigt. Als der Apostel nämlich zuvor vom Kreuz Christi gesprochen hatte, fügte er hinzu: Unser alter Mensch wur­ de mitgekreuzigt (Röm 6,6), und zeigt damit, dass der alte Mensch mit Christus, das heißt, für Christus gekreuzigt werden muss. Der alte Mensch – wer ist das, wenn nicht jener, der da spricht: Ich bin gealtert inmitten all meiner Gegner (Ps 6,8). Wer sind seine Feinde, inmitten derer er alterte, wenn nicht seine Hausgenossena? Ganz gewiss hat der neue Mensch dieselben Hausgenossen und zwar als Freunde, die Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes. Zu ihnen sagt er auch: Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage (Joh 15,14). 9.  Der alte Mensch ist jedoch ganz anders: Die Feinde des Menschen werden nämlich seine Hausgenossen seinb. Der alte Mensch ist ein böser und ungerechter Mensch, wie ich selber es bin, der da spreche. Denn auch ich bin inmitten all meiner Gegner gealtertc. Ich spreche nicht nur von jenen Feinden, die außerhalb von mir sind, unter denen ich bei den Einwohnern von Kedar wohnen muss (Ps 119,5), sondern ich meine vor allem jene Feinde, die in mir sind, die im Land meines Herzens und im Land meines Fleisches wohnen. Dort wohnen nämlich die Kanaanäer, Jebusiter und Perisiter, und sie wurden meine Feinded. Ich aber wurde mir selbst zum Feind wie ein böser Mensch und ungerechter Mann. So kann ich zu Recht sowohl für mich als auch gegen mich beten und sprechen: Rette mich, Herr, vor dem bösen Menschen, vor dem ungerechten Mann beschütze mich! (Ps 139,2). Rette mich, Herr,

Vgl. Eph 2,19. Vgl. Mt 10,36. c  Vgl. Ps 6,8. d  Vgl. Ps 138,22. a 

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 8-12

vor mir selber! Es gibt nämlich keinen, den ich nach dir mehr fürchten müsste als mich. 10.  Wer stellt nämlich meiner Seele so nach wie ich? Wer ist ein solches Hindernis für mein Heil wie ich? Wer ist so bedacht auf meinen Untergang wie ich? Wer schmeichelt mir so verführerisch, damit ich zugrunde gehe, wie ich? Wer trachtet mir sosehr nach dem Lebena, um es mir zu rauben? Wer sinnt darauf, mir meinen Lohn zu entreißenb? Wer nur, Herr, ist darauf aus, mir jenes wunderbare, von dir verheißene Erbe zu entreißen – so wie ich? Wer hasst meine Seelec mit mehr ungerechtfertigtem Hass als ich? Ich aber tue das alles ohne Grundd! 11.  Was hast du mir denn Böses getan, meine Seele? Von dir kommt es, dass ich lebe; von dir kommt es, dass ich höre, dass ich sehe, dass ich Kraft habe, dass ich gesund bin; von dir kommt es, dass ich fühle, dass ich erkenne, dass ich Geschmack am Gutene habe. Ja, wäre ich da nur geschmackvoll und nicht eher geschmacklos! Bin ich nicht undankbar, nicht böse und böswillig, da ich das Unrecht liebe und dich hasse? Wer nämlich das Unrecht liebt, hasst seine Seele (Ps 10,6). O meine Seele, da geschieht doch großes Unrecht, wenn ich dich hasse. Dich, die du mich liebst! Wenn ich aber dich hasse, wie kann ich dann mich nicht hassen? Ja, was bist du denn anderes als meine Seele und mein Leben? Mit welchem Recht könnte ich dich nicht lieben, mein Leben und mein einziges Gut? 12.  Wehe mir, wenn du durch meine Schuld für immer untergehst und ich für immer mit dir! Wenn du untergehst, wem könntest du dafür mit mehr Recht die Schuld geben als mir, gegen wen mit mehr Berechtigung erzürnt sein als gegen mich? Wenn ich untergehe –  (was Gott verhüte!)  – wem soll ich die Schuld Vgl. Ps 39,15. Vgl. Ps 61,5. c  Vgl. Joh 12,25. d  Vgl. Ps 34,19 und 65,5. e  Das lateinische Wort „sapere“ wird von den Autoren des Mittelalters in einem viel umfassenderen Sinn gebraucht als heute. Es bedeutet, Geschmack am Guten zu haben, weise zu sein. Nicht umsonst lautet das lateinische Wort für Weisheit „sapientia“. a 

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geben: dir oder mir? Falls mir und dir, dann wehe mir und dir zugleich! Wenn ich durch deine Schuld böse bin und es verdiene unterzugehen, mit welchem Grund könnte ich dann dich lieben, du Grund meines Untergangs? Wenn mir das bevorstehen sollte, dann wäre es für mich besser, wenn ich nie geboren wärea. Was für ein Rat bleibt für mich übrig, bevor ich untergehe, damit ich nicht untergehe? Denn wenn ich einmal untergegangen bin – (was ferne seib)  – was kann ich dann weiter tun, als bloß zugrunde gehen? Herr und Gott, von da an wütet dein Zorn! (Ps 75,8). Von da an bleibt kein Rat, keine Klugheit, keine Weisheit, kein Ausweg mehr: Der Untergang wird andauern, wenn er einen einmal ereilt hat! 13.  Ich weiß, was ich tuec, bevor ich untergehe, ja, um nicht unterzugehen: Ich rufe zu Gott, dem Höchsten, zu Gott, der mir Gutes getan hat! (Ps 56,3). Der Höchste ist Gott, und ich stecke in der Tiefe der Sünde. Es braucht einen lauten Schrei, sonst wird er mich nicht hören, weil er der Höchste ist. Ich werde meine Ungerechtigkeiten Gott sagen, der ohne Vorleistung den Frevler gerecht macht. Ich werde dem Herrn ein Bekenntnis ablegen, denn er ist gutd. Ich werde mich selbst anklagen und mich nicht schonen: Gegen mich selbst soll sich meine Rede richten (Ijob 10,1). Wie ein Bußfertiger, der von Schmerz ergriffen ist, will ich in der Bitterkeit meiner Seele sprechen. Ich sage zu Gott: Verurteile mich nicht! (Ijob 10,2). Selber will ich mich richten, selber mich verurteilen. Herr, verurteile du mich nicht; lass zu, dass in diesem Fall ich mich abmühe! Einmal hast du dich für unser Heil abgemüht, hast Mühsal und Trübsal angesehen, um uns in deine Hand zu nehmene. 14.  Guter Jesus, es entspricht nicht deinem Namen, einen zu verurteilen, der sich selber verurteilt, einen zu verderben, der sich richtet. Erlöser nennt dich die Welt, nicht Verderber. Du wirst Vgl. Mk 14,21. Vgl. Regel des heiligen Benedikt 11, 12 (SC 182, 516); 28, 2 (SC 182, 550-552). c  Vgl. Lk 16,4. d  Vgl. Ps 117,1. e  Vgl. Ps 9,14; vgl. Bernhard von Clairvaux, Predigt am Mittwoch der Karwoche 11 (BCSW VIII, 199-201). a 

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 12-15

den Bösen freilich ein böses Ende bereitena, doch nur, wenn sie in ihrer Bosheit verharren. Ich will nicht in ihr verharren. Sag also zu meiner Seele: Ich bin deine Hilfe (Ps 34,3). Meine Seele, magst du auch viel Schuld auf dich geladen haben und wegen der vielen Vergehen sehr ängstlich sein, leuchtet dir nicht die Hoffnung auf Vergebung auf im beglückenden Namen des gütigen Jesus? Was lässt du dich von Traurigkeit verzehren? Warum schmachtest du in Bitterkeit dahin? Hast du etwa keinen Ratgeber? Gibt es denn keinen Balsam in Gilead, ist dort kein Wundarzt? (Jer 8,22). Wa­ rum bist du betrübt, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dem Heil meines Ant­ litzes und meinem Gott (Ps 41,6 und 12; Ps 42,5). 15.  Wenn ich mich in meinem Selbstgespräch trösten möchte, so würde meine Seele den Galgen und würden meine Knochen den Tod vorziehen (Ijob 7,15). Zum Ekel ist mir nämlich mein Le­ ben geworden (Ijob 10,1). Kein Wunder! Mein Leben ist nämlich schlecht, und ich bin ein alter Mensch, dem Tode nahe: ein böser Menschb und ein ungerechter Mann; ein irdischer Mensch, der das Bild der Welt an sich trägtc; ein fleischlicher Mensch, verkauft unter die Sünde, ein sinnenhafter Mensch, der nicht versteht, was vom Geist Gottes kommtd, ein Mensch, der dem Tod verfallen ist und das Kreuz verdiente: und nicht bloß ein einziges Kreuz! Anders ist nämlich das Kreuz, das dem irdischen Menschen gebührt, ein anderes dem fleischlichen, und wieder ein anderes dem sinnenhaftenf. Und ich bin als ein einziger Mensch das alles; alle diese drei sind in mir, dem einen. Alle ihre Gedanken richten sich Vgl. Mt 21,41; vgl. auch Augustinus, Sermo 164, x, 14 (PL 38, 901-902). Vgl. Ps 139,2. c  Vgl. 1 Kor 15,49. d  Vgl. 1 Kor 2,14. e  Vgl. Mt 26,66. f  Dem lateinischen Ausdruck „animalis“ entspricht die deutsche Übersetzung „sinnenhaft“ nur ungenügend. Gemeint ist nach der mittelalterlichen Anthropologie die mit Sinnen und Instinkten ausgerüstete Seele –„anima“, das Lebensprinzip, das alle Lebewesen besitzen, im Gegensatz zum Geist, der nur dem Menschen zuteil wurde. Er macht den Menschen zum Ebenbild Gottes und steht unter dem Einfluss des Geistes Gottes. Wenn ein Mensch folglich nur „animalis“ ist, dann bleibt er auf der natürlichen, sinnenhaften Ebene stehen und ist für die Eingebungen des Gottesgeistes unempfänglich. a 

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gegen mich auf Böses. Sie wohnen in mir und verbergen sich, beob­ achten genau meine Schritte (Ps 55,6f.V). 16.  Wie hart und schwer, wie erbärmlich und erbarmungswürdig ist die Lage des Menschen! Unsere Feinde sind nämlich lebendig, sie haben Macht über uns gewonnena; und unsere Feinde sind wir selber, die irdischen, fleischlichen und sinnenhaften Menschen! Kein Friede, keine Sicherheit wird uns von uns zuteil, bis wir am Kreuz hängen und zusammen mit Christus gekreuzigt werdenb, damit der von der Sünde beherrschte Leib in uns ver­ nichtet werde und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben (Röm 6,6). Nein, der Sünde gestorben werden wir für Christus leben, und aus Feindeshand befreit, ihm furchtlos dienen in Heiligkeit und Gerech­ tigkeit vor seinem Angesicht all unsre Tage (Lk 1,74-75).

Der irdische Mensch

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17. Zuerst müssen wir in uns den irdischen Menschen kreuzigen, dann den fleischlichen und zuletzt den sinnenhaften. Dann müssen wir den neuen Menschen anlegen, der nach Gott geschaffen istc. Wenn der Apostel vom irdischen Menschen spricht, so sagt er: Der Erste Mensch stammt von der Welt und ist irdisch; der Zweite Mensch stammt vom Himmel, und ist himmlisch (1 Kor 15,47). Ebenso: Wie wir nach dem Bild des Irdischen gestaltet wur­ den, so werden wir auch nach dem Bild des Himmlischen gestaltet werden (1 Kor 15,49). 18.  Der irdische Mensch ist der alte Mensch. Sein Ursprung liegt in den Tagen der Vorzeitd, in den Tagen der Übertretung Adamse. Sein Bild tragen alle, die Irdisches im Sinn haben (Phil 3,19), die nur an Dinge denken, die zu dieser Welt gehören, wie sie der Welt gefallen können, die irdische Güter und irdischen Ruhm zu sehr lieben. Vgl. Ps 37,20. Vgl. Gal 2,19. c  Vgl. Eph 4,24. d  Vgl. Mi 5,1. e  Vgl. Röm 5,14. a 

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 15-22

19.  Wie das Bild des irdischen Menschen aussieht, das zeigt uns der Psalmist mit den Worten: Der Mensch ist dem Nichtigen ähnlich geworden (Ps 143,4V). Der von Gott abgewandte Mensch, der das Nichtige liebt und Nichtiges tut, ist selbst nichtig, ja er ist ein Nichtsnutz. Wie seine Taten sind, so ist auch der Täter. Wie der Mensch im Äußerlichen ist, in der Tat, die er vollbringt, so ist er auch bei sich im Herzen, wo er seine Taten plant. In seiner Tat drückt sich nämlich wie in einem Spiegel dessen Urheber aus. 20.  Im Menschen war vor dem Sündenfall das Bild der Wahrheit, ja, das Bild Gottes, der die Wahrheit ist. Nach der Sünde ist das Bild der Wahrheit jedoch in ihm entstellt, und ihm ist das Bild der Nichtigkeit eingeprägt. Ja, er ist dem Nichtigen ähnlich geworden (ebd.). Weil er nicht in der Wahrheit ist (vgl. Joh 8,44), sind seine Tage wie ein flüchtiger Schatten (ebd.). Als dieses Abbild geht der Mensch nämlich zugrunde (Ps 38,7V). 21.  Siehst du jetzt, wie der irdische Mensch, der der Habgier frönt, das Abbild Gottes hintangestellt und das Bild der Münze zu lieben begonnen hat, deren Wert in einem Irrtum und in der törichten Meinung der Menschen besteht? Eine Münze, die das Bild und die Aufschrifta eines Menschen trägt, macht der Mensch gleichsam als Bild und Abbildb des Menschen. Er vertauscht die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottesc mit dem Abbild eines vergänglichen Menschen, dient lieber dem Geschöpf als dem Schöpferd durch den Irrtum der Habgiere, die Götzendienst ist (Kol 3,5). Was sind denn Silber und Gold mit dem Prägemal öffentlichen Münzgeldes anderes als Abbilder von Königen und Werke von Menschenhandf? 22.  Das sind, du Geizhals, das sind deine Götter, die du mit ganzem Herzen, ganzer Seele und deinem ganzen Denken liebstg, die du durch ganz besondere Ehre verehrst, auf die du vertraust, Vgl. Mk 12,16. Vgl. Gen 1,26. c  Vgl. Röm 1,23. d  Vgl. Röm 1,25. e  Vgl. Eph 5,5. f  Vgl. Ps 134,15. g  Vgl. Mt 22,37; Mk 10,30; Lk 10,27. a 

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auf die du in jeder Notlage deine ganze Hoffnung setzt? Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz (Mt 6,21). Es wird aber die Zeit kommen, in der von solchen Menschen gesagt wird: Wo sind ihre Götter, auf die sie ihr Vertrauen gesetzt haben? Die das Fett ihrer Schlachtopfer essen, die den Wein ihrer Trankopfer trinken? Sie sollen vortreten und euch helfen und in Gefahr euch beschützen (Dtn 32,37-38). 23.  Der Lebenswandel des irdischen Menschen vollzieht sich nicht im Himmela, sondern auf Erden. Er blickt nämlich nicht zum Himmel auf, sondern hat beschlossen, seine Augen auf die Erde zu richtenb: Er leckt Erdenstaubc, er isst Erde alle Tage seines Lebensd. Mein Leib klebt an der Erde (Ps 43,25V), ich bin in tie­ fem Schlamm versunken und habe keinen Halt mehr (Ps 68,3). Er hat seine Füße nämlich nicht auf festen Grund gestellte. Ständig dringt er ins Innere der Erde einf, bis er von der Erde verschlungen wirdg wie Datan und Abiram. Für die Erde streitet er, für die Erde kämpft er, bis man dem Frevler die Grube gräbt (Ps 93,13) und bis er in der Erde begraben wird, um sich in Erdenstaub aufzulösen, wie er aus Erdenstaub gebildet isth. 24.  Doch überhebt er sich während seines ganzen Lebens in seiner Pracht. Er beneidet andere um ihr Glück, so weit entfernt von der Liebe, wie er voll ist von Begierde. Er ist nicht gütig, er ist nicht geduldig, sondern ehrgeizig und eifersüchtig. Er tut Böses und sucht seinen Vorteil, nicht die Sache Jesu Christii. Sein Herz ist beschwert, er liebt Nichtiges und sinnt auf Lügenj. Sein Mund redet böse Worte, und seine Zunge stiftet Betrug ank. Er stammt von der Erde und redet irdisch. Armut fürchtet er ständig, und Vgl. Phil 3,20. Vgl. Dan 13,9; Ps 16,11. c  Vgl. Jes 49,23; Ps 71,9. d  Vgl. Gen 3,14. e  Vgl. Ps 39,3; 1 Petr 5,10. f  Vgl. Ps 62,10. g  Vgl. Num 16,30. h  Vgl. Gen 3,19. i  Vgl. Phil 2,21. j  Vgl. Ps 4,3. k  Vgl. Ps 49,19. a 

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 22-26

zur Vorsorge für die Zukunft bewahrt er, was er vermehren soll, und vermehrt er, was er bewahren soll. Er sorgt für alle denkbaren Notfälle vor, vom Duft des Gewinns ist seine Nase ständig voll, ebenso seine Rechte von Bestechunga. Jegliche Kunst, um die Einnahmen zu vermehren, bezeichnet er als Klugheit, er schmäht die Armut: In seiner Einschätzung bedeutet das Wort Armut so viel wie Schande. Alle seine Güter bringt er sicher unter; er stellt sich ständig die Hoffnung auf ein längeres Leben vor Augen, solange, bis ihm gesagt wird: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast? (Lk 12,20). Denn im Tod nimmt er das alles nicht mit, seine Pracht steigt nicht mit ihm hinab (Ps 48,18). Dieser Mensch ist ein Freund der Welt und wird zum Feind Gottesb. Er ist es, der gegen Christus ruft: Weg mit ihm, kreuzige ihn! (Joh 19,15). Die irdisch Gesinnten waren es nämlich, die da sagten: Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben. Dann werden die Römer kommen und uns unsere heilige Stätte und das Volk nehmen (Joh 11,48). 25. Noch ist der Neid des irdischen Menschen Christus gegenüber nicht zur Ruhe gekommen. Er verfolgt nämlich Christus in uns, damit Christus nicht in uns lebe. Wenn jemand also Christus angehört, wappne er sich mit dem Eifer des Selbstschutzes gegen die Verfolger Christi. Rufen wir also einander um Christi willen gegen den Feind Christi zu: Weg mit ihm, kreuzige ihn! (Joh 19,15). Doch welche Anklage sollen wir gegen diesen Menschen erheben? (vgl. Joh 18,29). Er ist ein Mensch, der nicht zu Gott seine Zuflucht nahm; auf seinen großen Reichtum hat er sich verlassen und auf seine Ohnmacht gebaut (Ps 51,9). Weg mit ihm, kreuzige ihn! (Joh 19,15). Wenn du ihn freilässt, bist du kein Freund Gottes (vgl. Joh 19,12)! Wie er gehandelt hat, so soll man an ihm handeln. Er hat gekreuzigt, so soll er nun auch gekreuzigt werden: er hat nämlich das Kreuz verdient und ist des Todes schuldig! (Mt 26,66). 26.  Wie sieht denn das Kreuz dieses Menschen aus – fragst du? Ich glaube, es besteht in der Geringschätzung der Welt. Diea  b 

Vgl. Ps 25,10. Vgl. Jak 4,4.

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ses Kreuz wird gleichsam aus zwei Balken gezimmert: der Geringschätzung des irdischen Besitzes und der Geringschätzung des irdischen Ruhmes. Es liebt der irdische Mensch ja beides, da er auf seine Kraft vertraut und sich seines großen Reichtums rühmta. Der Welt vertraut er: sie soll ihn rettenb, wenn sie kann. Von Menschen, die die Welt gering achten, werde er auf dem Kreuz ausgespannt, ja ganz ausgespannt der Länge und Breite nach. In der Geringschätzung des irdischen Ruhmes –  das heißt in der freiwilligen Gewöhnlichkeit  – soll es in die Höhe aufgerichtet werden. Das ist nämlich seine Höhe: der irdische Ruhm, durch den er erhöht werden möchte. In der Geringachtung des irdischen Besitzes – das heißt, in der freiwilligen Armut – wird er der Breite nach ausgestreckt. Das ist nämlich seine Breite: der irdische Besitz, durch den er sich nach rechts oder links ausbreiten möchte. 27. Auf dieses Kreuz muss der irdische Mensch gehängt werden. Hier soll er ausgestreckt werden, hier soll er ausgestreckt sterben, nach seinem Tod begraben werden und nichts dazutun, dass er wieder auferstehtc. Zerstören soll ihn Gott vielmehr bis ans Ende, packen und herausreißen aus seinem Zeltd, ihn entwurzeln aus dem Land der Lebenden; sein Andenken werde von der Erde ausgetilgt, denn dieser Mensch dachte nie daran, Gnade zu üben; er verfolgte den Gebeugten und Armen (Ps 108,15-16).

Der fleischliche Mensch 28e.  Es gibt ein anderes Kreuz, auf das der fleischliche Mensch gehängt werden soll. Denn wenn auch derselbe Mensch irdisch und fleischlich ist, so besteht offenkundig doch aufgrund der Bezeichnung und der verschiedenen Liebe ein gewisser Unterschied.

Vgl. Ps 48,7. Vgl. Mt 27,43. c  Vgl. Ps 40,9. d  Vgl. Ps 51,7. e  Zu Abschnitte 28 bis 39 vgl. Augustinus, De ciuitate Dei XXII, 23 (CCSL 48, 845-846). a 

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 26-31

29.  Der Apostel spricht vom Gesetz der Sünde, von dem unse­ re Glieder beherrscht werden (vgl. Röm 7,23). Dabei sagt er unter anderem: Ich bin Fleisch, das heißt: verkauft an die Sünde (Röm 7,14). Wer an die Sünde verkauft ist, ist gewissermaßen ein Sklave und nicht vollständig frei. Er tut nämlich nicht das Gute, dass er will, sondern das Böse, das er nicht willa. Und wenn er das Böse ganz will und das Böse tut, ist er bereits Sklave der Sünde, weil er sündigt. Wer nämlich die Sünde tut, ist Sklave der Sünde (Joh 8,34). Er ist bereits vollständig an die Sünde verkauft wegen der Zustimmung des Willens, und er erhält den Sold des unerlaubten Vergnügens. 30.  Die sündigen Leidenschaften wirken ja in unseren Glie­ dern und bringen dem Tod Frucht (Röm 7,5). Diese Leidenschaften fühlen wir alle, Gute und Böse, gemeinsam, wenn auch nicht in gleicher Weise, doch nicht alle von uns stimmen ihnen zu. Wer aber fühlt und nicht zustimmt, ist nicht ganz frei von Schuld. Das Böse, das er nicht will, das tut er ja. Denn beim Empfinden der Leidenschaft der Begierde begehrt er Böses und will zugleich Böses nicht begehren. Er tut daher das Böse, das er nicht will, denn das Böse begehren ist etwas Böses. Wer aber das Böse begehrt und nicht zustimmt, der tut gewissermaßen Böses, insofern als er Böses begehrt; aber da er nicht zustimmt, führt er es in gewissem Sinn dennoch nicht aus, da er, versucht von der Begierde, gleichsam gegen seinen Willen erleidet, was er nicht erleiden möchte. 31.  Daher spricht der Apostel, wenn er begehrt, aber nicht zustimmt, von zweierlei: dass er das Böse tut, das er nicht will, und dass er es nicht ausführt. Was ich nicht will, sagt er, das Böse, das tue ich (Röm 7,19). Das heißt, ich begehre es und will es nicht begehren. Und dann bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde (Röm 7,20). Es ist, als wollte er sagen: Ich will nicht begehren und stimme der Begierde nicht zu; sondern ich fühle gegen meinen Willen das Gesetz der Sünde, von dem meine Glieder beherrscht werden (Röm 7,23). Es regt sich nämlich

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Vgl. Röm 7,19.

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in mir, sodass es von mir gefühlt wird, doch es erregt mich nicht so sehr, dass ich ihm zustimmea. 32.  Daher hat der Gerechte, wenn er von seiner Begierde versucht wird, eine Entschuldigung, auch wenn sie nicht ausreicht, dass er ganz frei ist von Schuld. Auf die Frage, warum er den Kitzel des Fleisches im Fleische fühlt, obwohl er nicht zustimmt, hat er eine Antwort: Das bin nicht mehr ich, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde (Röm 7,20). Die Leidenschaften der Glieder zu fühlen oder nicht zu fühlen, das steht nicht immer in unserer Macht; die Zustimmung aber steht so in unserer Macht, wie sie nicht ohne unseren Willen geschieht. 33.  Wer jedoch manchmal fühlt, aber nicht zustimmt, hat im Herzen festgelegt, ganz und gar nicht zuzustimmen, und in seiner Sehnsucht wünscht er, die Versuchung ganz und gar nicht zu fühlen. Doch was er fühlt, ist der Schwäche zuzurechnen, dass er aber nicht zustimmt, der Stärke; und dass er wünscht, ganz und gar nichts zu fühlen, entspringt dem Streben nach Frieden und Sicherheit. 34.  Manchmal aber möchte einer, der beschlossen hat, nicht zuzustimmen, dennoch eine solche Versuchung fühlen, weil von der Versuchung selbst irgendein Ergebnis erhofft und erwartet wird. Als umso glorreicher gilt nämlich der Sieg, je stärker die Versuchung war, der widerstanden wurde. Deshalb wollen manche fühlen, die nicht zustimmen wollen, um ohne Zustimmung zu fühlen und der Versuchung Widerstand zu leisten. 35.  Gefährlich ist es jedoch, eine solche Versuchung freiwillig herbeizuwünschen, bei ihrer Ankunft sie jedoch nicht –  soweit es einem gegeben ist – sofort zurückzuweisen. Sicherer ist es nämlich, nicht versucht zu werden, als nicht mit der Versuchung mitzugehen. Offen bleibt nämlich der Ausgang des Krieges, und nach beiden Seiten offen ist der Sieg je nach der Entscheidung des Kampfes. Daher lehrt uns der Herr, so zu beten, wenn er sagt: a  In den nächsten Abschnitten bringt Balduin tiefsinnige Auslegungen zum lateinischen Wortspiel „sentire“ und „consentire“, das sich im Deutschen leider nicht entsprechend wiedergeben lässt. Wer nur „fühlt“, aber mit seinem Willen nicht innerlich „mitgeht“, „mitfühlt“, leistet der Versuchung Widerstand. Vgl. dazu auch Bernhard von Clairvaux, Brief 42, 23 (BCSW II, 477-481).

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 31-38

Betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet (Mt 26,41). Denn der Ausspruch des Propheten: Erprobe mich, Herr, und versuche mich! (Ps 25,2) gehört zu jener Versuchung, mit der die Gerechten von Gott versucht werden. Er versucht seine Erwähltena, um herauszufinden, dass sie seiner würdig sind. 36.  Wer aber vom Fleisch versucht wird und der Versuchung nachgibt – das heißt, wer die Leidenschaften fühlt und ganz und gar zustimmt  – ist ein umso fleischlicherer Mensch, je mehr er so für seinen Leib sorgt, dass die Begierden erwachenb. Er stimmt nicht dem Geist gegen das Fleisch zu, sondern gibt dem Fleisch nach, dessen Begehren sich gegen den Geist richtetc. 37.  Ein solcher Mensch liebt Wein und Salböl (Spr 21,17), Müßiggang, Sicherheit und Sattheit. Er wünscht, sich in Purpur und feines Leinen zu kleiden und Tag für Tag herrlich und in Freu­ den (Lk 16,19) zu tafeln. Was seine Augen begehren, wird ihnen nicht verweigert. Alle seine Begierden befriedigt er im Ansturm der Lust. Was den Genüssen des Fleisches nicht dient, hält er für unnütz. Er hält es für seinen Anteil, das Gute in diesem Leben zu genießend. Keinen anderen Vorteil hat er von all seinen Mühen, in denen er sich anstrengt unter der Sonne (Koh 1,3). Was das Ziel eines fleischlichen Menschen ist, wird im Gleichnis des Evangeliums vom reichen Prasser und armen Lazarus gezeigt, wo es heißt: Der Reiche starb und wurde begraben in der Unterwelt (Lk 16,22). Und über Babylon steht geschrieben: Im gleichen Maß, wie sie in Prunk und Luxus lebte, lasst sie Qual und Trauer erfahren (Offb 18,7). 38.  Besser ist es daher für uns, einen solchen Menschen dem Tod zu übergeben zum Verderben seines Fleisches (1 Kor 5,5), als sich mit ihm in die tiefste Grube (Ps 54,24) hinabstürzen zu lassen. Daher muss unser Fleisch abgetötet und gekreuzigt werden, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde (Röm 6,6) gemäß dem Ausspruch des Propheten, der zum Herrn sagt: Durchbohre mein Fleisch in Ehrfurcht vor dir (Ps 118,120V). Vgl. Weish 3,5. Vgl. Röm 13,14. c  Vgl. Gal 5,17. d  Vgl. Lk 16,25. a 

b 

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SERMONES

39.  Da jedoch zum fleischlichen Menschen gesagt wurde: Da­ bei ist Zucht dir verhasst (Ps 49,17), ist kein Kreuz geeigneter als die Strenge der Disziplin gemäß der Regel, durch die der fleischliche Mensch gekreuzigt wird. Für ihn ist die Disziplin, die er nicht mag, eine Kreuzigung. Die Disziplin nach der Regel ist nämlich ein Kreuz, das aus den Vorschriften über Fasten und Enthaltsamkeit wie aus zwei Balken gezimmert ist. Das Fasten mäßigt die Feinschmeckerei, und die Vorschrift über die Enthaltsamkeit im Bereich aller Sinne zügelt die Ausschweifung der Seele und des Leibes: und gerade darin lebt jeder fleischliche Mensch.

Fortsetzung 40.  Die Ausschweifung kann in uns so gezügelt und die Feinschmeckerei so gemäßigt werden, dass keine Zustimmung erfolgt zu den sündigen Leidenschaften, die in unseren Gliedern am Werk sind. Doch geschieht es nicht so, dass das Gesetz in unseren Gliedern ganz und gar nicht gefühlt wird. Die Begierde nämlich, die uns angeboren und wohlbekannt ist, kann durch lange Übung in der Disziplin und Beharrlichkeit in der geistlichen Ertüchtigung bei gerechten Menschen geschwächt und vermindert werden, sodass sie nicht die Oberhand gewinnt; ganz und gar ausgelöscht kann sie jedoch nicht werden: doch bleibt die Freiheit des Gottesgeistes unberührt, dessen Gnade durch kein Gesetz eingeschränkt wird. So kann er reiche oder sogar überreiche Frucht hervorbringen bei denen er es will und insoweit, als er es will. 41. Doch so wie inmitten der Söhne Israels noch Heiden zurückgeblieben sind, damit der Herr durch sie Israel erziehen konnte, und der Jebusiter nicht aus Jerusalem hinausgeworfen werden konntea, so wohnt die Begierde des Fleisches ständig im Land unseres Leibes oder unseres Herzens, damit wir durch sie erzogen werden. Und es fehlt uns niemals ein Feind, gegen den wir kämpfen müssen. Ein Kriegsdienst ist nämlich das Leben des Menschen auf Erden (Ijob 7,1). Diese Begierde ist unsere Schwacha 

Vgl. Ri 1,21.

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 39-44

heit, die uns ständig uns selber vor Augen stellt, damit wir uns nicht auf uns selber verlassen. Sie zeigt uns nämlich, wie wir in uns und aus uns heraus sind. 42.  Wer nun von der Schwachheit versucht und besiegt wird, beweist, dass er über die Maßen schwach ist. Denn nachweislich ist er schwächer als die Schwachheit, von der er besiegt wird. Jener aber, der von der Schwachheit versucht, aber nicht besiegt wird, ist einerseits schwach, insofern, als er die Schwachheit fühlt. Andererseits fühlt er aber auch die ihn stützende Kraft, durch die er der Schwachheit nicht zustimmt, denn die Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung (2 Kor 12,9). 43.  Wenn es einem Heiligen aber von oben gegeben ist – wie der seligsten Jungfrau, besonders nach der Herabkunft des Geistes, wie man gläubig annimmt  – in diesem sterblichen Fleisch ganz und gar keine böse Begierde mehr zu fühlen, so ist dies eine seltene oder einzigartige Gnade und bringt ebenso eine seltene und einzigartige Herrlichkeit. Wenn einer so ist, dann kämpft er nicht mehr, sondern er triumphiert, ja er herrscht und hat überströmenden Frieden: Frieden von der Zustimmung, Frieden vom Gefühl; er hat seinen Gürtel nicht mehr zum Kampf angelegt, sondern abgelegt zum Triumph. Wer den Gürtel anlegt, sagt der König Israels, soll sich nicht rühmen wie einer, der ihn bereits ablegt (3 Kön 20,11). Doch wer kann sich rühmen, ein reines Herz zu habena? Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre, und die Wahrheit ist nicht in uns (1 Joh 1,8). 44.  Wie sich derjenige zu Recht schämt, der von der Schwachheit besiegt wird, so ist der, der die Schwachheit besiegt, anscheinend ohne Ruhm. Was ist denn die Schwachheit anderes, als was ihr Name ausdrückt? Was ist sie anderes als Schwachheit, als Hinfälligkeit, als Unfähigkeit? Was für ein Ruhm ist es denn oder was für eine Kraft, die Schwachheit zu besiegen? Freilich ist der Ruhm groß und ist die Kraft groß, wenn wir, obgleich schwächer als die Schwachheit, die Schwachheit dennoch besiegen. Aber das ist nicht unser Ruhm und unsere Kraft, sondern die des Herrn der

a 

Vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos 129, 2 (CCSL 40, 1856).

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Kräfte, der der König des Ruhmesa ist, der in seinen Erwählten gerühmt wird und sein Erbarmen in den Schwächen der Heiligen verherrlichtb, sodass es auch heißt: Denn du bist der Ruhm ihrer Kraft (Ps 88,18V). 45.  Wenn wir abwägen, was wir von uns aus können, die wir selbst der Schwachheit nicht mit unseren Kräften Widerstand leisten können, so ist unsere Kraft ganz und gar nichtig. Doch der Prophet sagt: Dem Herrn vertraue ich, ich werde nicht schwach werden (Ps 25,1). Und ebenso: Der Herr ist die Kraft seines Volkes (Ps 27,8). Wenn aber unser Gott unsere Kraft und unsere Stärke ist, ist unsere Kraft größer, als wir selber sind: ja, was sollten wir selbst nicht können in ihm, der alles kann? Was können wir nicht in der allmächtigen Kraft? Alles, sagt Paulus, vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt (Phil 4,13). Wenn also die Schwäche besiegt wird, weil die Stärke nicht die unsere ist, so ist auch das Lob nicht das unsere. Da die Kraft nicht die unsere ist, ist auch der Ruhm nicht der unsere. Zu vollem Recht wird der Ruhm dem gezollt, durch dessen Kraft der Sieg errungen wurde. Der Herr der Kräf­ te ist nämlich der König der Herrlichkeit (Ps 23,10). Der Herr ist mächtig im Sieg: der Herr mächtig im Kampf (Ps 23,8). Daher sagt der Prophet: Meine Stärke und mein Lob ist der Herr (Ps 117,14), die Stärke im Kampf, das Lob im Sieg. Der Herr ist es ja, der für uns kämpft; der Herr ist es, der in uns siegt, der für uns kämpftc: Der Herr ist es, der in uns siegt. 46.  Wenn aber in uns Schwäche zu spüren ist, der wir nicht zustimmen, wird der Leib der Sünde zerstört, damit wir nicht Sklaven der Sünde bleiben (Röm 6,6). Wenn man unter dem Leib der Sünde richtig die Zustimmung zur Sünde versteht, dann wird der Leib der Sünde tatsächlich zerstört, wenn man der Begierde, die einen versucht, nicht zustimmt. Der fleischliche Mensch jedoch ist gleichsam ein Mensch der Sünde und ein Sohn des Ver­ derbens (2 Thess 2,3). Er hat einen Leib der Sünde, da ihm die Begierde gleichsam zur Seele geworden ist und die Zustimmung Vgl. Ps 23,10. Vgl. Ps 16,7 und 30,22. c  Vgl. Ex 14,25 u.a. a 

b 

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 44-50

gleichsam zum Leib. Und indem man der Begierde voll zustimmt, belebt man gleichsam den Leib der Sünde, und man dient bereits der Sünde. 47. Vielleicht scheint jemandem die Begierde besser zum Fleisch zu passen als zur Seele, da sie zum Fleisch gehört, dessen Begehren sich gegen den Geist richtet (Gal 5,17); die Zustimmung dagegen mehr zur Seele als zum Fleisch. Die Zustimmung geschieht nämlich im Willen, und der zustimmende Wille findet sich in der Seele. Bei einem geistlichen Menschen ist es tatsächlich so, bei dem die Sinnlichkeit von der Vernunft geleitet wird und sich ihm, seinem Vorgesetzten, als der gleichsam geringere Teil unterwirft. Beim fleischlichen Menschen aber ist es nicht so: da ist es nämlich umgekehrt und die Reihenfolge verdreht: Der Wille des Geistes unterwirft sich der Begierde des Fleisches durch seine Zustimmung. So erweist sich der, der zustimmt, als geringer als der, dem er zustimmt. Die Begierde bewegt nämlich die Seele, sodass sie fühlt, was sie vorher nicht fühlte. Wenn sie aber erregt fühlt und bewegt zustimmt, fällt sie aus ihrer Würde heraus, verlässt ihren Platz und unterwirft sich dem, der geringer ist als sie. Sie empfängt ihr Leben gleichsam von dort, wo die Bewegung herkommt: Nun handelt sie nicht mehr als Geist, sondern leidet als Fleisch. Daher wird sie nicht zu Unrecht dem Leib ähnlich. 48.  Durch das Gesetz der Disziplin wird die Zustimmung blockiert und der Leib der Sünde (Röm 6,6) vernichtet. Das Fleisch wird gezüchtigt, sodass die Vernunft nicht dem Fleisch nach dem Gesetz des Fleisches untergeordnet ist, sondern das Fleisch nach dem Gesetz der Vernunft der Vernunft dient. Daher sagt der Apostel: Ich züchtige und unterwerfe meinen Leib (1 Kor 9,27). 49.  Das sei zum fleischlichen Menschen gesagt.

Der sinnenhafte Mensch 50.  Was der sinnenhafte Mensch ist, kann man den Worten des Apostels entnehmen. Er sagt nämlich: Der sinnenhafte Mensch aber lässt sich nicht auf das ein, was vom Geist Gottes kommt. Tor­

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heit ist es für ihn, und er kann es nicht verstehen, weil es nur mit Hilfe des Geistes beurteilt werden kann. Der geisterfüllte Mensch urteilt über alles, ihn aber vermag niemand zu beurteilen (1 Kor 2,14-15). 51.  Der fleischliche Mensch unterscheidet sich vom irdischen Menschen offenbar durch den besonderen Gegenstand seiner Liebe. Letzterer liebt die Erde, ersterer die Werke des Fleisches. Der sinnenhafte Mensch wird dagegen an seinem Sinnen und seinem Gefühlsantrieb erkannt. Sinnenhaft ist er durch sein Sinnen, weil er keinen Geschmack für das hat, was vom Geist Gottes kommt (1 Kor 2,14). Sinnenhaft ist er durch seinen Gefühlsantrieb, weil ihm das nicht schmeckt, was vom Geist Gottes kommt (ebd). An den geistlichen Gütern wird nämlich der sinnenhafte Mensch geprüft. Dort wird jeder Sinnenhafte geprüft. 52.  Es hört der sinnenhafte Mensch die Worte Gottes, doch er versteht sie vielleicht nicht, weil er sinnenhaft denkt. Oder wenn er sie vielleicht versteht, wendet er sogleich voll Ablehnung, Widerwillen oder Verachtung sein Ohr ab. Torheit ist es für ihn (1 Kor 2,15), weil er sinnenhaft ist. Daher sagt der Apostel: Das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit (1 Kor 1,18). Jenem nämlich, der nicht an das Kreuz glaubt, ist das Wort vom Kreuz Torheit (1 Kor 1,18), weil er in seinem Sinnen sinnenhaft ist. Er lebt in seinem nichtigen Denken, sein Sinn ist verfinstert (Eph 4,17f.). Wer aber an das Kreuz Christi glaubt und das Beispiel des Gekreuzigten nicht nachahmt, für den ist das Wort, er solle sein Kreuz für Christus tragen, Torheit, da er eben auf diese Weise sinnenhaft ist, nicht mehr in seinem Sinnen, sondern in seinem Gefühlsantrieb. 53.  Wer in seinem Sinnen sinnenhaft ist, der ist unwissend und dem Irrtum verfallen, er geht in der Finsternis und weiß nicht, wohin er gerät (Joh 12,35). Sein unverständiges Herz wurde verfins­ tert (Röm 1,21). Die im Geheimnis verborgene Weisheit Gottes hält er für Torheita, die Weisheit dieser Welt aber, die vor Gott Torheit ist, nennt er Klugheit. Er hält jeweils das eine für das andere: Das Gute bezeichnet er als schlecht und das Schlechte als a 

Vgl. 1 Kor 3,19.

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 50-55

gut. Er stellt die Finsternis als Licht hin und das Licht als Finsternis; er stellt das Süße als bitter hin und das Bittere als süßa. 54.  Wer im Gefühlsantrieb sinnenhaft ist, ist ohne Liebe, den Gefühlsantrieb der göttlichen Liebe empfindet er nicht in sich. Mit einem harten, unzähmbaren und unempfindsamen Herzen ist er entweder lau, starr, gefühllos oder ratlos. Die Übungen des geistlichen Kriegsdienstes hasst, verabscheut, verachtet oder vernachlässigt er. Zu Beginn seiner Nachtwachen steht er nicht auf, vor dem Angesicht des Herrn, seines Gottes, schüttet er sein Herz nicht wie Wasser ausb; feurige Ergriffenheit und verborgenen Jubel fühlt er nicht im Herzen; er stößt keine heiligen Seufzer aus und glüht nicht in gläubiger Sehnsucht; er hat keine Freude am Gesetz des Herrn, wird durch heilige Betrachtungen nicht entflammt, nicht in der Beschauung über sich hinausgehoben; Er sitzt nicht einsam und schweigt, um sich über sich zu erhebenc. Er bittet nicht, um zu empfangen, sucht nicht, um zu finden, und klopft nicht an, damit ihm geöffnet wirdd. Mit Gotteslob beschäftigt er sich nicht und lässt nicht bei sich Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder erklingen zusammen mit den anderen, die aus vollem Herzen zum Lob des Herrn singen und jubelne. Wie ein Kranker mit einem Magenleiden und einem schlechten Geschmack im Mund ekelt ihm vor der geistlichen Speise, vor der Speise, die nicht verdirbt, sondern die für das ewige Leben bleibt (Joh 6,27). Jedes Essen verabscheut seine Seele: er ist nämlich den Pforten des Todes nahef. 55.  Der sinnenhafte Mensch wird mehr an seiner Seeleg als an seinem Leib erkannt. Einen sinnenhaften Leib haben während ihres Lebens in diesem sterblichen Fleisch nämlich nicht nur

Vgl. Jes 5,20. Vgl. Klgl 2,19. c  Vgl. Klgl 3,28. d  Vgl. Mt 7,8. e  Vgl. Eph 5,19. f  Vgl. Ps 106,18. g  In diesem Absatz spielt der Autor mit den Begriffen „animalis“, „anima“ und „animal“, die im lateinischen eng verwandt sind, aber im Deutschen durch drei verschiedenstämmige Wörter wiedergegeben werden müssen. a 

b 

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die sinnenhaftena, sondern auch die geistigen Lebewesen. Unser Leib empfängt nämlich in seinem gegenwärtigen Zustand seine Sinnenhaftigkeit von der Seele wie auch die übrigen Tierleiber. Von seiner Masse belastet ist er schwer und gewichtig und verschiedenen Leidenschaften und Verführungen ausgeliefert, dem unausweichlichen Tod verfallen und – um auch nur kurze Zeit zu leben – angewiesen auf Nahrung, Pflege und Heilmittel. Bald blüht er auf, bald verblüht er; und gerade beim Aufblühen wendet er sich zum Verblühen wie ein altes Kleid, das – wenn es geflickt wird – mehr und mehr alt und schäbig wird. 56.  Der Apostel schreibt jedoch: Wenn es einen sinnenhaften Leib gibt, gibt es auch einen geistigen (1 Kor 15,44). Man darf nicht glauben, er habe das im Zweifel gesagt. Der Apostel war nämlich bei dem nicht unsicher, was keinem zweifelhaft sein kann: Es steht ja fest, dass es einen sinnenhaften Leib gibt; und es muss feststehen, dass es auch einen geistigen Leib gibt. Das eine lehren die Erfahrung mit den Dingen von selbst und unsere gemeinsame Schwäche; das zweite legen uns die Glaubenserkenntnis und das Vorbild der Auferstehung Jesu Christi nahe: Aber zuerst kommt nicht das Geistige; zuerst kommt das Sinnenhafte, dann das Geisti­ ge (1 Kor 15,46). 57.  So wird unser Leib vergeistigt werden, wenn dieses Vergängliche sich mit Unvergänglichkeit bekleidenb und wenn das Sterbliche vom Leben verschlungen werden wirdc, wenn unser Zelt abgebrochend, wenn der Tempel, der wir sinde, eingeweiht und die Außenwand des Tempels mit goldenen Kränzen geschmücktf, wenn unser Fleisch wie Erz beständig und unvergänglich wie ein harter Felsen sein wirdg, für jeden Anlass zur Verletzung, für jedes

a  Im Lateinischen Wortspiel: „animale corpus“ – „der sinnenhafte Leib“ und die „animales“ – „die Tiere“, wörtlich: „die „Sinnenhaften“. b  Vgl. 1 Kor 15,53. c  Vgl. 2 Kor 5,4. d  Vgl. 2 Kor 5,1. e  Vgl. 1 Kor 3,16. f  Vgl. 1 Makk 4,57. g  Vgl. Ijob 6,12.

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 55-60

Ungestüm der Leidenschaft und jede Macht der Versuchung unerreichbar und unzugänglich. 58a. Es wird der geistige Leib in seiner Kraft herrlich sein, leicht und beweglich; nicht mehr auf Nahrung angewiesen wie nach der Sünde und vor der Sünde, von jeglicher Knechtschaft der Vergänglichkeitb und Bedürftigkeit befreit; nicht in die Natur des Geistes verwandelt, sondern in höchster Freiheit ohne jeden Widerspruch dem Geist untertan. 59.  Inzwischen aber haben der sinnenhafte und der geistige Mensch einen sinnenhaften Leib gemeinsam und unterscheiden sich voneinander mehr nach dem Zustand des Geistes als des Leibes. Im Herzen wird nämlich der sinnenhafte Mensch vom geistigen auf geistige Weise gekreuzigt. Kreuz aber ist der Eifer für Gott entsprechend der Erkenntnis. Erkenntnis und Eifer sind nämlich die Waffen, die wir bei unserem Feldzug einsetzen, sie sind nicht fleischlich, sondern mächtig durch Gott, um Festungen zu schleifen; mit ihnen bewaffnen wir uns und reißen wir alle hohen Gedanken­ gebäude nieder, die sich gegen die Erkenntnis Gottes auftürmen. Wir nehmen alles Denken gefangen, so dass es Christus gehorcht (2 Kor 10,4-5). 60. Zu bemerken ist bei diesen Worten des Apostels das Hohe, das sich gegen die Erkenntnis Gottes auftürmt. Was ist aber dieses Hohe, wenn nicht das, worüber es heißt: Strebt nicht hoch hinaus? (Röm 11,20). Das ist die Höhe des sinnenhaften Menschen, der in seinem verblendeten Denken lebt. Die Höhe des Kreuzes aber ist die Erkenntnis Gottes, die alles Denken gefangen nimmt, so dass es Christus gehorcht (2 Kor 10,5). Die Breite des sinnenhaften Menschen ist der sinnenhafte Gefühlsantrieb. Er schweift nämlich über unerlaubte Gefilde auf den breiten Weg, der ins Verderben führtc. Die Breite des Kreuzes dagegen ist der Gefühlsantrieb der Hingabe in der Weite der Liebe.

a  Vgl. Augustinus, De ciuitate Dei XXII, 21 (CCSL 48, 841-842); Bernhard von Clairvaux, 4. Predigt über das Hohelied 6 (BCSW VIII, 789-791). b  Vgl. Röm 8,21. c  Vgl. Mt 7,13.

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61a. Es gibt aber einige, die zwar Eifer für Gott haben; aber es ist ein Eifer ohne Erkenntnis (Röm 10,2). Andere haben Gotteserkenntnis, aber keinen Eifer. Doch muss, um den Umriss des Kreuzes aus zwei Balken zu malen, der Eifer mit der Erkenntnis und die Erkenntnis mit dem Eifer verbunden werden, damit die Hingabe nicht ohne Besonnenheit und die Besonnenheit nicht ohne Hingabe ist. Rein ist ein Lebewesen nämlich dann, wenn es wiederkäut und gespaltene Hufe hatb. 62. Eine Hingabe ohne Besonnenheit versucht durch die Inangriffnahme unmöglicher Dinge oft Gott; die Unwissenheit in nützlichen Dingen nimmt sich entweder Unpassendes heraus oder unterlässt Passendes. Eine Besonnenheit ohne Hingabe dagegen irrt sich zwar nicht im Wissen um nützliche Dinge, doch irrt sie in der Wahl: Sie sieht Besseres und billigt es, aber sie folgt dem Schlechteren. Nicht kleiner ist der Irrtum, das Schlechtere zu wählen, als das Bessere nicht zu kennen. Durch sein eigenes Urteil verurteilt sich jeder, der durch die Wahl als recht beurteilt, was er im Urteil verurteilt. Und in jedem der beiden Fälle klagt sich jeder der Torheit an, der ohne zwingende Notwendigkeit anders wählt, als er denkt. 63c. Zum Anschauen einer sichtbaren Gestalt genügt nicht das innere Licht der Augen ohne die Hilfe des äußeren Lichtesd, wie umgekehrt das zweite nicht ohne das erste ausreicht. Das Licht unterstützt das Licht, damit etwas Sichtbares gesehen werden kann. Nichts sehen kann ein verschlossenes Auge am Mittag, und nichts sehen kann ein offenes Auge in der Finsternis der Nacht. 64e. Etwas Ähnliches hat die Besonnenheit ohne Hingabe oder die Hingabe ohne Besonnenheit an sich. Zur Anschauung des unsichtbaren Gottes wollen und hoffen wir geführt zu werden. Zwei Augen brauchen wir, um deren Erleuchtung der Beter Vgl. Bernhard von Clairvaux, 49. Predigt über das Hohelied 5 (BCSW VI, 165-167). b  Vgl. Dtn 14,6. c  Vgl. auch Balduin von Ford, Sermo 21, 9-12. d  Diese Sehtheorie geht auf Augustinus zurück. e  Vgl. Bernhard von Clairvaux, 23. Predigt über das Hohelied 8 (BCSW V, 335-337). a 

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3. Die Kreuzigung des alten Menschen, 61-65

den Herrn bittet mit den Worten: Erleuchte meine Augen, damit ich nicht entschlafe und sterbe (Ps 12,4). Das Auge der Besonnenheit ohne das Licht der Hingabe oder das Auge der Hingabe ohne das Licht der Besonnenheit sieht nicht – genauso wenig wie ein Auge, das sich im Licht schließt oder im Dunkeln öffnet. 65.  Verbinden müssen wir daher die Besonnenheit mit der Hingabe und die Hingabe mit der Besonnenheit, damit in uns die Liebe mit der Erkenntnis und die Erkenntnis mit der Liebe überreich werden nach dem Rat des Apostels, der da sagt: Eure Liebe soll immer noch reicher an Erkenntnis und Verständnis wer­ den, damit ihr beurteilen könnt, worauf es ankommt. Dann wer­ det ihr rein und ohne Tadel sein für den Tag Christi (Phil 1,9-10). Wer jedoch Wissen besitzt und keine Liebe hat, ist aufgeblasen von seiner Erkenntnisa. Ohne Liebe aber ist weder die Größe der Erkenntnis, noch die Verachtung der Welt, noch die Zucht der Disziplin etwas in den Augen Gottesb. Allein die Liebe kann den Ruhm des Kreuzes für sich beanspruchen. In ihr müssen wir uns im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus rühmenc, der über alles geliebt und gepriesen sei in alle Ewigkeit. Amend.

Vgl. 1 Kor 8,1. Vgl. 1 Kor 13,1-3. c  Vgl. Gal 6,14. d  Vgl. Röm 9,5. a 

b 

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Sermo 4 Traktat I Das Altarssakrament

1.  Das Sakrament vom Leib und Blut des Herrn ist wegen seiner Würde und ehrfurchtgebietenden Größe würdig, von Würdigen würdig behandelt, würdig dargebracht, würdig empfangen und würdig verwaltet zu werden. Groß und unvorstellbar ist die Würde dieses Sakramentes – wer könnte an sie herankommen? Groß ist sie über alles Vorstellungsvermögen unseres Verstandes, über alles Maß unserer Fassungskraft. Ja, groß ist der Lösepreis der Welt, ein Preis, der keinen Preis hat, ein preisloser Preis, der von keiner Schätzung eingestuft werden kann. Wahrhaftig groß, sagt der Apostel, ist das Geheimnis des Glaubens: Es wurde offenbart im Fleisch, gerechtfertigt durch den Geist, geschaut von den Engeln, verkündet unter den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit (1 Tim 3,16). 2.  Dieses Sakrament ist Opfer der Wahrheit: nichts an ihm ist vorgemacht, nichts an ihm vorgetäuscht, nichts hinterhältig, nichts aufgetakelt, nichtsa, was durch magisches Blendwerk überschattet ist, sondern wahre Lauterkeit und lautere Wahrheit: Wahrheit in dem, was sich erschließt, und Wahrheit in dem, was sich verschließt.

Vgl. zu Punkt 2 und 3 Wilhelm von St. Thierry, Epistola ad Rupertus Tuitiensis (CCCM 88, 51-52). a 

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3.  Es erschließt sich uns die sichtbare und wahre Gestalt des Brotes. Vor der Wandlung ist die wahre Substanz des Brotes da, doch wird sie bei der Wandlung durch die machtvolle Kraft der Worte in das wahre Fleisch Christi übergeführt und verwandelt. Nach der Konsekration ist der ganze Christus unter der sichtbaren Gestalt verborgen. Er machte die Finsternis zu seinem Versteck (Ps 17,12), und der Prophet sagt zu ihm: Wahrhaftig, du bist ein verborgener Gott, Israels König und Retter (Ps 45,15). 4.  Verborgen war Christus von Anfang an im Schoß des Vaters. Verborgen war er dann in der Knechtsgestalt, die er annahm. Verborgen ist er jetzt im Sakrament, das er selbst eingesetzt hat. Verborgen im Schoß des Vaters findet ihn der Glaube. Ebenso verborgen findet ihn der Glaube im Menschen mitten unter den Menschen. Es findet ihn der Glaube auch verborgen im Sakrament. 5. Ein großer Glaube bringt die Gnade großer Vertrautheit bei Gott. Wo sie einer gefunden hat, hat er Zugang zu ihm, und mit vertrauter Kühnheit dringt er wie ein Hausgenosse selbst in sein Inneres, selbst in sein Schlafgemach vor. Er meint, sich nicht fern halten zu müssen von denen, die sein Haus bewachen, nicht von den Türhütern, nicht von den Kammerdienern: zuversichtlich tritt er ein voll Vertrauen, aber auch voll Ehrfrucht gegenüber den Geheimnissen der göttlichen Ratschlüsse. 6.  Und was ist erstaunlich daran, wenn Gott seine Ratschlüsse dem Glauben seiner Getreuen anvertraut? Teilen nicht auch Könige und Fürsten über die Völker ihren Getreuen das Geheimnis ihrer Beschlüsse mit? Treu ist Gott und ohne jede Ungerech­ tigkeit (Dtn 32,4). Seine Getreuen liebt er ohne Ungerechtigkeit, wenn sie ihm die Treue halten und ihren Dienst in Treue verwalten. Alle seine Werke geschehen nämlich in Treue (Ps 32,4). Ohne Treue aber ist es unmöglich, dass ihm etwas gefällta. 7.  Gott prüft jedoch seine Getreuen und Erwählten, um herauszufinden, dass sie seiner würdig sind. Er prüft ihren Glauben; er prüft auch die Hoffnung, und er prüft auch die Liebe. Doch nun ist die Rede vom Glauben, der auf viele Weisen von Gott ge-

a 

Vgl. Hebr. 11,6.

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4. Das Altarssakrament, 3-11

prüft und vor allem in diesem Sakrament für die Erprobung geschult wird. 8. Gott beschloss in seinem ewigen Ratschluss, die Welt durch den Tod seines eingeborenen Sohnes zu erlösen und den Heiland sowie das Heil in die Welt zu senden, kein anderes Heil als den Heiland selbst. Was er beschlossen hat, das hat er auch verheißen; und er hat seinen Ratschluss seinen Gläubigen geoffenbart. Zugestimmt hat der Glaube der Heiligen: sie haben geglaubt und auf die Erfüllung der Verheißung gewartet. 9.  Gott aber ließ auf seinen Gesalbten warten. Wieso er auf ihn warten ließ? Ihm ist sein Geheimnis bekannt, er weiß es. In der Zwischenzeit jedoch wurde der Glaube der Gerechten geschult. Was Gott verheißen hat, wollte er auf viele Weisen zur Erprobung des Glaubens verdunkeln und durch verschiedene symbolische Vorausdarstellungen und heilige Zeichen ausdrücken. Jene alte Feier der gesetzlich vorgeschriebenen Opfer, durch das Gesetz angeordnet und von den Propheten gebilligt, war nämlich ein gewisser Anklang an die gegebene Verheißung und eine geheimnisvolle Vorausdarstellung der zukünftigen Erfüllung. So sollte das, was wunderbar verheißen war und später wunderbar verwirklicht werden sollte, das Zeugnis von Gesetz und Propheten besitzen und durch die beständige Wiederholung der Opfer niemals aus dem Gedächtnis entschwinden. 10.  In diesen Vorzeichen des Zukünftigen wurde der Glaube zum Dienst an der Ehre Gottes geschult, damit er nicht im Nichtstun ermatte, im Eifer seiner Hingabe erkalte und durch Vergessen von seiner hoffnungsvollen Erwartung ablasse. Und wenn ein Glaubender bei sich erwägen sollte, was das für ihn bedeute, so hatte die gläubige Hingabe immer etwas Sicheres, was im Bewusstsein des Glaubens verborgen blieb und in der Hoffnung auf die Verheißung verschlossen verwahrt wurde. 11.  Und das alles war so, bis der Schatten weichen und die Wahrheit hervortreten sollte. Es kam nämlich der, der da kommen solltea, es kam der Heilige Israels: Als Menschgewordener

a 

Vgl. Mt 11,14 und 21,9; Joh 6,14; Hebr 10,37; Offb 1,4; 1,8 und 4,8.

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erschien er auf der Erde und hielt sich unter den Menschen aufa. Er zeigte der Welt die Pfade zum Lebenb und fuhr nach Erfüllung der Aufgabe, für die er gekommen war, in den Himmel auf, wo er auch jetzt ist und zur Rechten Gottes sitztc. 12.  Bevor er in den Himmel auffuhr, wollte er seine Jünger und die übrigen Gläubigen, die danach kommen würden, nicht in Zweifel oder Verzweiflung stürzen bezüglich seiner Hilfe, da seine leibliche Gegenwart ihren Augen entzogen war. Darum tröstete er sie mit den Worten: Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt! (Mt 28,20). 13.  So ist also unser Jesus bei uns! Warum sollte ich ihn nicht unseren Jesus nennen, da er doch uns geschenkt istd? Ein Sohn ist uns geschenkt (Jes 9,6). Nicht zu Unrecht eignete sich jener Beter eben den Namen Jesu an, als er sagte: Ich will jubeln über den Herrn, und mich freuen über Gott, meinen Jesus (Hab 3,18). Dieser unser Jesus, mit dem uns Gott alles geschenkt hat (Röm 8,32), erträgt es nicht, fern von uns zu sein. Er liebt uns so sehr, wie er, die Weisheit des Vaters, es selbst ausdrückt: Meine Freude ist es, bei den Menschen zu sein (Spr 8,31). Bei uns war er, als er im Fleische lebte, bevor er für uns starb. Bei uns war er auch im Tod insofern, als seine leibliche Gegenwart noch nicht von der Erde weggenommen war. Bei uns war er nach dem Tod, als er sich den Jüngern durch viele Beweise (Apg 1,3) zeigte. Bei uns ist er auch jetzt bis zum Ende der Welt (Mt 28,20), bis wir bei ihm sein werden, denn wir werden immer beim Herrn sein (1 Thess 4,16). Seht, wie sehr uns Jesus liebte! 14.  Weder Tod noch Leben können ihn von uns trennen in seiner Liebef, mit der er uns liebt. Deshalb darf uns weder Tod noch Leben von seiner Liebe trennen. Wer verdient denn unsere Liebe, wenn nicht er? Ja, wen müssen wir so lieben wie ihn? Denn Vgl. Bar 3,38. Vgl. Ps 15,11. c  Vgl. das Apostolische Glaubensbekenntnis. d  Vgl. Jes 9,5. e  Vgl. Bernhard von Clairvaux, 17. Predigt über das Hohelied 7 (BCSW V, 252f). f  Vgl. Röm 8,38f. a 

b 

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4. Das Altarssakrament, 11-16

um über das Übrige zu schweigen: wenn wir nicht undankbar und böse sind, muss uns das genügen: er selbst liebt uns. Nichts anderes schuldet man doch einem Liebenden mehr als die Erwiderung der Liebe. Wer liebt, wünscht geliebt zu werdena, und das doch mit vollem Recht! Wer aber geliebt zu werden wünscht, ohne zu lieben, bei dem wäre es erstaunlich, wenn er auch nur in seinem eigenen Urteil vom Vorwurf, ungerecht zu sein, freigesprochen würde. Wahr ist jedoch das Urteil: Wer einen Liebenden nicht liebt, ist selbst unwürdig, geliebt zu werden. Wer aber Jesus nicht liebt, der unterlässt das zu seiner eigenen großen Gefahr. Er verdient die Verwünschung und den Fluch des Apostels, der da sagt: Wer unseren Herrn Jesus Christus nicht liebt, sei verflucht! Marána tha! (1 Kor 16,22). Im Gegensatz dazu verkündet er: Gnade und unvergängliches Leben sei mit allen, die Jesus Christus, unseren Herrn, lieben! (Eph 6,24). 15.  Jesus hat uns eben zuerst geliebt (1 Joh 4,10), und um unserer Liebe nicht entzogen zu sein, ist er immer bei uns bis zum Ende der Welt (Mt 28,20). Der Herr der Heerscharen ist mit uns, der Gott Jakobs ist unsre Burg (Ps 45,8). Seitdem der Gott Jakobs, der betrog und mit ihm rang, zu unserer Burg geworden ist, ist der Herr der Heerscharen durch die Annahme unseres Fleisches mit uns (Ps 45,8), wie er selbst für einen Gerechten bezeugt: Ich bin bei ihm in der Not (Ps 90,15). Und der Gerechte spricht zu ihm: Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir (Ps 22,4). Mit uns ist er als Immanuelb gegen jene, die uns bedrängen und über unser Unheil frohlocken: mit uns ist er in gefährlicher Not, als verteidigende Zuflucht, als schützende Hilfe, in jeder Wohltat des Trostes und der Unterstützung. 16. Auf diese Weise war er auch bei den alten Gerechten. Jetzt aber ist er bei uns durch das Geheimnis der Menschwerdung in der Schicksalsgemeinschaft der gemeinsamen Natur. Und Jesus ist noch nicht zufrieden mit diesem Ziel der Liebe, dass er einfach Vgl. Augustinus, Confessiones II, ii, 2 (CCSL 27, 17-18); Aelred von Rievaulx, De spiritali amicitia III, 82 (CCCM 1, 334). b  Vgl. Mt 1,23. a 

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bei uns ist. Durch ein noch engeres Band zieht er uns an sich und vereint uns mit sich auf wunderbare Weise durch das Sakrament der Vereinigung, damit er in uns ist und wir in ihm, wie er selbst sagt: Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir, und ich bleibe in ihm (Joh 6,57). 17. Christus, der in uns bleibt, lebt aber in uns, entsprechend dem Apostelwort: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir (Gal 2,20). Wenn aber Christus in uns lebt, dann wohnt auch der Geist Gottes in uns, entsprechend demselben Apostel: Wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm. Wenn Chris­ tus in uns ist, dann ist zwar der Leib tot aufgrund der Sünde, der Geist aber ist Leben aufgrund der Gerechtigkeit. Wenn aber der Geist dessen in uns wohnt, der Jesus von den Toten auferweckt hat, dann wird er, der Christus Jesus von den Toten auferweckt hat, auch unseren sterblichen Leib lebendig machen durch seinen Geist, der in uns wohnt (vgl. Röm 8,9-11). Daher sagt auch der Herr selbst: Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben (Joh 6,55). 18.  In diesem Sakrament ist daher unser Leben mit Christus verborgen in Gotta. Hier sind das ewige Leben und das wahre Heil verborgen, das den Alten verheißen und uns geschenkt wurde, das in uns offenbar werden wirdb, wenn Gott kommt, um in­ mitten seiner Heiligen gefeiert und im Kreis aller derer bewundert zu werden, die den Glauben angenommen haben (2 Thess 1,10). Ja, Großes hat der Herr an uns getan (Ps 125,3). Was er den Alten verheißen hatte, hat er uns zu einem großen Teil bereits geoffenbart. Geoffenbart wurde uns in diesem Sakrament die Wahrheit des alten Ratschlusses, über den der Prophet sagt: Herr, dein alter Ratschluss möge wahr werden (Jes 25,1V)c. Hier ist die Wahrheit der Verheißungen Gottes, die Wahrheit der Zeichen, die Wahrheit der Opfer, die Wahrheit der schattenhaften Umrisse. Schließlich ist hier die Wahrheit selbst, Christus, der spricht: Ich bin die Wahrheit (Joh 14,16). Vgl. Kol 3,3. Vgl. Kol 3,4. c  Vgl. Hieronymus, In Isaiam VIII, xxv (CCSL 73, 325). a 

b 

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4. Das Altarssakrament, 16-21

19.  Diese Wahrheit war Pilatus unbekannt, als er fragte: Was ist Wahrheit? (Joh 18,38). Und er ging hinausa. Wer hinausgegangen ist, mögen draußen bleiben; wenn der Ungläubige weggehen will, soll er weggehen (1 Kor 7,15). Damit aber wir nicht draußen bleiben und unseren Anteil bei den Ungläubigen habenb, wollen wir in den Tempel Gottes kommen (vgl. Ps 72,17) und unter der Führung des Glaubens auf die Machterweise des Herrn eingehen (Ps 70,16V). Im Glauben an dieses Sakrament wollen wir auf den Machterweis Gottes warten, bei dem nichts unmöglichc, dessen Wort allmächtig und stets wahrhaftig ist und dem das Können stets zur Verfügung steht, wenn er will. 20.  Genügen soll uns zum Bezeugen dieses Glaubens, dass Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheitd, seinen Jüngern gesagt hat: Nehmt, das ist mein Leib (Mt 26,26). Wenn die menschliche Weisheit in unserem Herzen murrt, so möge die Treue zum Glauben ihr Murren zum Schweigen bringen. Erweisen wir den Worten Gottes Ehre in demütigem Glauben; bringen wir diesem so ehrwürdigen Sakrament und der so außergewöhnlichen Gnade jegliche Ehrfurcht entgegen, mit reinen Händen (2 Kön 22,25; Ijob 22,30) und einem lauteren Leben. Dieses Unterpfand seiner Liebe hat uns Jesus nämlich in seiner Güte hinterlassen, als seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzu­ gehen (Joh 13,1). Er wollte, dass sich der Glaube und die Liebe der Seinen bewähren und machte deshalb dieses Sakrament zu einem gewissen Ort der Anfechtung, an dem sich die üben konnten, nach deren Bewährung er verlangte. 21.  Vor allem kämpfen Glaube und menschlicher Verstand miteinander. Das wird unter ihnen ausgefochten, damit der eine dem anderen das Auge ausreißt. Es gibt kein Ende dieses Kampfes bis zur Ächtung des jeweils anderen. Es hat nämlich der menschliche Verstand sein Auge, und ebenso hat der Glaube das seine. Das Auge des Verstandes ist gleichsam trüb, und oft kann er das Sichtbare und vor Augen Liegende nicht sehen. Das Auge des Glaubens Vgl. Joh 18,29. Vgl. Ps 72,17. c  Vgl. Lk 1,37. d  Vgl. 1 Kor 1,24. a 

b 

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aber ist scharf, mit dem die unsichtbare Wirklichkeit Gottes erkannta und eingesehen werden kann. 22.  Bezüglich der Kraft des Sakramentes ist der Geist stumpf, das Auge des Verstandes trüb, jedes körperliche Sinnesorgan abgestumpft. Die Hand ist neugierig und eifrig im Betasten, doch kann sie durch ihre Sorgfalt nichts anderes entdecken, als was gewöhnlich zu solchem Brot gehört. Die Erfahrung des Geschmackssinnes und das angestrengte Schauen der Augen geben durch Geschmack und Farbe, Beschreibung und Gestalt und die übrigen Umstände dem Denken ein, dass es Brot ist und nicht Fleisch. Der zu Rate gezogene Verstand antwortet eben das, was er als Überzeugung durch fleischliche Überlegungen und als Erfahrung durch die Sinne des Körpers in sich trägt. Das Auge des menschlichen Verstandes kann eben die unsichtbare Wirklichkeit Gottesb nicht begreifen, wenn es nicht mit der Salbe der Gnade bestrichen und vom wahren Licht erleuchtet wird, über das geschrieben steht: Das Gebot des Herrn ist lauter, es erleuchtet die Augen (Ps 18,9). 23.  Und wenn dich dein Auge – so spricht der Herr – zum Bö­ sen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! (Mt 18,9). Das kann man beim Auge des menschlichen Verstandes unstrittig erkennen. Für die Treue im Glauben ist es oft ein Anstoß, doch wenn es zum Bösen verführt, muss man es ausreißenc. Es ist nämlich besser, mit nur einem Auge –  dem Auge eines gesunden Glaubens – in das Leben zu gelangen, als mit zwei Augen – dem des Glaubens und dem des menschlichen Verstandes – in das Feuer der Hölle geworfen zu werden (Mt 18,9). Gleichsam zweiäugig ist nämlich der, welcher von menschlicher Weisheit geleitet wird und den Glauben ihretwegen nur zu dem Teil annimmt, in dem er offenbar mit menschlichen Erkenntnissen übereinstimmt. 24.  Unser Glaube aber hat ein gewichtigeres Zeugnisd als das der menschlichen Vernunft: Er stützt sich nämlich auf die Autorität Gottes, die freilich höchste Vernunft und jeglicher menschVgl. Röm 1,20. Vgl. Röm 1,20 c  Vgl. Mt 18,9. d  Vgl. Joh 5,36. a 

b 

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4. Das Altarssakrament, 21-26

lichen Vernunft unvergleichlich überlegen ist. Nicht dürfen wir das als sicherer ansehen, was die menschliche Vernunft dem Herzen eingibt, als was der Heilige Geist, der in alle Wahrheit führta, durch eine geheime Inspiration unterbreitet. Er öffnet nämlich das Ohr des Herzens und spricht in sanftem Säuselnb die Einfachheit der Frömmigkeit und das Geheimnis des Glaubens aus. Mit den Einfachen spricht er (Spr 3,32V), und wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes (Joh 8,47). Nicht Fleisch und Blut (Mt 16,17), nicht fleischliche Weisheit und irdisches Sinnen offenbarten Petrus das Geheimnis des Glaubens, sondern der himmlische Vater im Him­ mel (Mt 16,17). 25.  So stützt sich also unser Glaube auf die Wahrheit und hat Ursprung und Fundament vom wahrhaften Gott selbst her, zu dem der Beter sagte: Der Ursprung deines Wortes ist Wahrheit (Ps 118,160). Gott täuscht nämlich nicht, denn er ist die höchste Wahrheit. Er wird nicht getäuscht, denn er ist die höchste Weisheit. Er wird auch nicht schwach, denn er ist die höchste Kraft. Was er gesagt oder vorhergesagt hat, das wird auch geschehenc. Für ihn ist es ebenso leicht zu tun, wie es für ihn leicht ist zu sagen, dass es geschehen soll. Wie er es dargelegt hat, so wird es sein, und jeder seiner Ratschlüsse wird Bestand habend. Und wenn er selbst etwas beschlossen hat, wer könnte das ins Wanken bringen? So muss also unser Glaube eine sichere Stütze haben: Er irrt nicht durch Vermutungen, er schwankt nicht wie bei etwas Zweifelhaftem, er zögert nicht wie bei etwas Unsicherem, er wankt nicht, er wackelt nicht, er verändert sich nicht; nein, er steht auf einem sicheren Felsen, auf dem Grundstein, den niemand wegrücken kann: Christus Jesus (1 Kor 3,11). 26.  Wenn der Glaube Erfahrung des Heils (Lk 1,77) ist, warum sollte man dann nicht sagen können, dass er Sicherheit hate? Ich weiß, spricht der selige Ijob, dass mein Erlöser lebt! (Ijob 19,25). Vgl. Joh 14,26. Vgl. 3 Kön 19,12. c  Vgl. Jes 14,24. d  Vgl. Jes 46,10. e  Vgl. Balduin von Ford, De commendatione fidei XIII, 4-5 (CCCM 99, 361-362). a 

b 

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Ich weiß, sagt Martha zu Jesus, alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben (Joh 11,22). Und über den Bruder sagt sie: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Letzten Tag (Joh 11,24). Ich weiß, sagt der Apostel, wem ich Glauben geschenkt habe und bin überzeugt (2 Tim 1,12). Und über Abraham sagt er: Er zweifelte nicht im Unglauben, sondern wurde stark im Glauben, und er erwies Gott Ehre, fest davon überzeugt, dass Gott die Macht besitzt zu tun, was er verheißen hat (Röm 4,20-21). 27. Hat also der bewusste Glaube keine Sicherheit? Wer könnte das sagen? Nur einer, der nicht glaubt oder nur lau glaubt. Falls sich aber der Glaube auf die höchste Autorität, Wahrheit und Sicherheit stützt, so schließt er durch die Autorität die Täuschung, durch die Wahrheit den Irrtum und durch die Sicherheit den Zweifel aus. Wer aber ungläubig zweifelt, der ist einem Ungläubigen sehr nahe. 28.  Beim Zweifel haben nämlich offensichtlich beim Menschen die Sünde des Unglaubens und das Verbrechen des Glaubensabfalls begonnena. Als der Versucher an die Frau herantrat, begann er mit einer Frage, die Zweifel weckteb: Warum hat Gott zu euch gesagt: Ihr dürft nicht essen? (vgl. Gen 3,1) und so weiter. Als die Frage an das Herz der Frau anklopfte, ließ sie sich gleichsam vom Zischen der Schlange anhauchen und das Gift der Schlange einhauchen, sie blähte sich auf und ging ihr auf den Leim. Sie neigte ihr Herz sogleich dem Zweifel zu, da sie sich sagte: Viel­ leicht werden wir doch nicht sterben? (Gen 3,3V)c. 29.  Den im Herzen empfangenen Zweifel brachte sie in einem Wort des Zweifels zum Ausdruck. Sie zog das Wort, das Gott gesprochen hatte, in Zweifel. Im Herzen der Frau wurde es wie ein beliebiger Fall behandelt. Der überhebliche Verstand der Frau saß wie ein Richter zu Gericht oder auf dem Lehrstuhl des Verderbens Vgl. zu den folgenden vier Punkten Balduin von Ford, De commenda­ tione fidei LXXXVIII, 3-5 (CCCM 99, 436); Bernhard von Clairvaux, 1. Predigt zum Fest Mariä Verkündigung 7-8 (BCSW VIII, 108-113). b  Wörtlich „mit einer Frage, die Zweifel mit sich trug“. c  Balduin zitiert den Vulgatatext von Gen 3,1 wörtlich: „damit wir nicht sterben“, deutet ihn hier aber in einer Weise, die sich verborgen im Text andeutet: „Vielleicht werden wir doch nicht sterben“. a 

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4. Das Altarssakrament, 26-31

(Ps 1,1); das Wort, das Gott gesprochen hatte, wurde wie ein Angeklagter in die Mitte geführt. Als Ankläger trat die Schlange auf. Sie beschuldigte das Wort der Lüge und meinte gleichsam das Verbrechen der Täuschung, als sie sagte: Nein, ihr werdet nicht sterben (Gen 3,4). Es ist also so, als würde sie sagen: Falsch ist das mahnende Wort, in dem Gott den Tod angedroht hatte. 30.  Da blickte die bisher zweifelnde Frau, die noch nicht den Anstoß zum endgültigen Fall erhalten hatte, sondern schwankend war wie eine fallende Wand, wie eine Mauer, die einstürzt (Ps 61,4) –  noch war sie irgendwie unschlüssig, ob sie die Drohung Gottes oder die Einflüsterung des Teufels glauben sollte – in dieser Zwischenzeit auf den Baum, von dem die Rede war. Sie sah, dass es köstlich wäre, von ihm zu essen, dass er schön für die Augen und eine Augenweide wara. Da der Anblick des Baumes verführerisch war, wirkte all das wie eine Zeugenaussage zugunsten der Partei des Anklägers. Kein Zeichen des Todes war nämlich am Baum zu sehen, wodurch man hätte erkennen können, dass der Ankläger falsch ausgesagt oder dass Gott nichts Falsches gesagt hatte. Dazu kam noch, dass die Frau von Natur aus das Leben liebte, das die Schlange neu versprach, und ebenso den Tod nicht liebte, den Gott androhte. Dem Vertrauten – das Leben kannte sie ja aus Erfahrung, den Tod aber kannte sie nicht  – folgte sie auch eher dorthin, wohin sie ihre Liebe und Erfahrung zogen. So wurde sie zuletzt besiegt und streckte ihre Hand nach dem Bösen ausb. So wurde sie verführt und zuerst von einer Frage zum Zweifel und dann vom Zweifel zum Unglauben geführt, sodass sie das für falsch hielt, was Gott vorhergesagt hatte. So wurde sie überzeugt, sodass sie mit der Begierde begann, zur Zustimmung gelangte und sich herausnahm, was Gott verboten hatte. 31.  Inzwischen befreite der überhebliche Verstand, der zu Gericht saß, die Frau von der Furcht vor dem Tod; er bestätigte nicht Gott in seinen Worten, sondern beschuldigte ihn in einem überheblichen Urteil des Betrugs. Auf diese Weise verwandelte die Frau die Ehre des Glaubens, die sie den Worten Gottes schuldig a  b 

Vgl. Gen 3,6. Vgl. Ps 54,21.

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war, zur Verherrlichung des Verführers, dem sie glaubte, während sie Gott nicht glaubte. 32.  Dem überheblichen Verstand stand der überhebliche Wille bei, der Gott die Ehre des Gehorsams entzog und sich freiwillig durch den Ungehorsam dem Versucher unterwarf. Verdorben wurde daher der Verstand bei der Frau durch die Überheblichkeit, weil sie an der Zuverlässigkeit des Wortes zweifelte. Es ist nämlich nicht recht, an Gottes Worten zu zweifeln, und gottlos ist es, seinem Wort nicht zuzustimmen. 33.  Der Mensch ist ja durch das Urteil des Verstandes und die Freiheit des Willens nach dem Bilde Gottes, ihm ähnlich, geschaffen wordena. Von Natur her war es deshalb angemessen, dass er sich in dem, was er von Gott empfangen hat, ihm unterwerfen musste, sodass er ihm immer untertan sein wollte, von dem er das Sein empfangen hatte. So sollte er den Verstand vor ihm demütigen, sodass er all seinen Worten glaubte; und ebenso den Willen, sodass er allen seinen Geboten gehorchte. Treuer Glaube demütigt ja den Verstand im Menschen und Gehorsam den Willen. 34.  Die Überheblichkeit des menschlichen Verstandes dagegen, der die Glaubenstreue verweigert und es nicht versteht, sich unter den Glauben zu demütigen, ist verwerfliche Blindheit des Herzens und Gott verhasst, weil er nicht zu glauben bereit ist, was er nicht zu begreifen vermag. Als der Herr dem Blindgeborenen das Augenlicht gabb, wurden die ungläubigen Pharisäer noch mehr verblendet: …und ihre Augen erblindeten, so dass sie nichts mehr sahen (Röm 11,10; Ps 68,24). Der Herr aber deutete die Neuheit dieses so großen Wunders gegen sie und sprach: Um zu richten, bin ich in diese Welt gekommen: damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden (Joh 9,39). Damit die durch den Stolz Blinden durch die Gnade der Demut sehen und die durch den Stolz Sehenden durch die Verborgenheit der Gnade nicht sehen. Und in der Folge fügt er hinzu: Wenn ihr blind wäret, hättet a  Vgl. Gen 1,26; vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Gnade und den freien Willen 4, 10-11 (BCSW I, 189-191) und 9, 28 (BCSW I, 213-215) und an vielen anderen Stellen; vgl. auch Balduin von Ford, Sermo 7, 33. b  Vgl. Joh 9.

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4. Das Altarssakrament, 31-38

ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde (Joh 9,41). 35.  Gut ist die Blindheit, wenn einer in sich selbst nichts Großes sieht und gläubig unwissend bleibt, wo einem das Wissen nicht erlaubt ist. Deshalb müssen wir bei den himmlischen Geheimnissen und göttlichen Sakramenten jeden ungläubigen Zweifel aus unserem Herzen vertreiben und alles neugierige Fragen zum Schweigen bringen, sodass der Glaube, der sich der Wahrheit bewusst ist, ebenso gläubige Unwissenheit kennt. Die unbegreifliche Weisheit Gottes kann nämlich in die Enge des menschlichen Verstandes nicht eingezwängt werden. 36.  In diesem Sakrament muss sich der menschliche Verstand ganz unter den ehrfürchtigen Glauben erniedrigen. So war es nämlich angemessen, und der Heilsplan zu unserer Erlösung erforderte das, dass das Bild Gottes, das durch die Überheblichkeit des Verstandes entstellt wurde, in diesem Sakrament unserer Erlösung durch die Demut des Verstandes wiederhergestellt werden sollte. Daher soll der Mensch seinen Verstand vor Gott ganz demütigen und von diesem Sakrament das glauben, was der Herr zu glauben vorgeschrieben hat, als er sprach: Das ist mein Leib (Mt 26,26). 37.  Er soll das fest glauben; er soll es ohne jeden Zweifel glauben, und er soll es treu bekennen. Wenn es für den menschlichen Verstand unmöglich, wenn es nach der menschlichen Weisheit unglaubwürdig erscheint, so soll das Wahre im bewussten Glauben auch sicher bleiben aus Ehrfurcht vor dem Worte Gottes. Glauben soll der Mensch Gott mehr als sich selbst. Glaubend soll er sich Gott anvertrauen, sodass sich auch Gott ihm anvertrauen kann. Glaubend soll er seinen Geist Gott anvertrauen, damit sein Geist mit Gott vertraut werde. Glaubend soll er seinen Verstand Gott anvertrauen und sich selbst verleugnen: Wie er es von Gott gehört hat, so soll er urteilen und jenem folgen, der da sagt: Ich urteile, wie ich es höre (Joh 5,30). 38. Christus hat uns jedenfalls durch sich selbst ein Beispiel dieser zweifachen Demut gegeben: der Demut des Urteils und der Demut des Willens. Über die Demut des Urteils steht geschrieben: Ich urteile, wie ich es höre (Joh 5,30). Und vom Propheten wird gesagt: In der Erniedrigung wurde seine Verurteilung aufge­

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hoben (Apg 8,33; Jes 53,8). Über die Demut des Willens sagt er: Ich bin nicht gekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat (Joh 6,38). 39. Christus lebt nicht aus sich heraus und wirkt nicht aus sich heraus, sondern durch den Vater, wie er selber sagt: Von mir selbst aus kann ich nichts tun (Joh 5,30). Wie er als Sohn vom Vater her ist, so hat er es auch vom Vater, zu urteilen, zu wollen und zu wirken; doch ist er dabei dem Vater ebenbürtig. Daraus soll der Mensch lernen, der nicht aus sich, sondern von Gott geschaffen ist, nichts von sich her zu beurteilen, sondern von Gott her; nichts von sich her zu wollen und nicht von sich her zu wirken, und das ganz besonders bei dem, was im Hinblick auf das Heil wirkt oder mitwirkt. 40.  Dieses Opfer, von dem nun die Rede ist, ist nicht nur ein Sakrament zur Heiligung, sondern es enthält in sich auch ein Beispiel zur Nachahmung. Sakrament ist es durch das Geheimnis des Glaubens; Beispiel ist es als Vorbild zur Nachahmung. Sakrament ist es für die Demut des Verstandes, Beispiel für die Demut des Willens. Denen gereicht das Sakrament zum Nutzen, die das Beispiel nachahmen. Wer das Beispiel nicht nachahmt, dem gereicht auch das Sakrament nicht zum Nutzen. 41.  Das Vorbild für das Leben wird nicht nur durch dieses Opfer vorgeschrieben, sondern war in der Gestalt dieses Sakramentes schon lange im Voraus dargestellt. Im Gesetz des Mose wird nämlich geboten, am zehnten Tag des siebten Monats feierlich ein Opfertier darzubringen, dessen Fleisch außerhalb der Stadt verbrannt und dessen Blut in das Heiligtum hineingebracht wird. Denn es ist, wie der Apostel sagt: Die Körper der Tiere, de­ ren Blut in das Heiligtum gebracht wird, werden außerhalb des La­ gers verbrannt (Hebr 13,11). Der Tag aber, an dem dieses erwähnte Opfer dargebracht wird, heißt Versöhnungstag, und die Schrift fügt bezüglich dieses Tages hinzu: Jede Person, die sich an diesem Tag nicht Enthaltung auferlegt, soll aus ihren Stammesgenossen ausgemerzt werden (Lev 23,29). 42.  Diese feierliche Opfergabe ist Christus, dessen Fleisch im Feuer der Bedrängnis und der qualvollen Züchtigung verbrannt wurde, die er für uns auf sich genommen hat. Zu unserem Heil

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4. Das Altarssakrament, 38-44

lag ja die Züchtigung auf ihm (Jes 53,5), und er wurde außerhalb des Lagers (Hebr 13,11) verbrannt: eben außerhalb der sinnlosen weltlichen Lebensweisea, die Gott Widerstand leistet. Heilig ist er nämlich, makellos, abgesondert von den Sündern und erhöht über die Himmel (Hebr 7,26). Verbrannt wurde sein Fleisch außerdem im Feuer des Leidens außerhalb von Jerusalem, der Stadt, die die Propheten tötet und die Boten steinigt, die zu ihr gesandt sindb. Sein Blut wurde in das Heiligtum hineingebracht, da er nicht mit dem Blut von Böcken und jungen Stieren, sondern mit seinem eige­ nen Blut ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen ist und so eine ewige Erlösung bewirkt hat (Hebr 9,12). Dargebracht wurde dieses Opfer am Versöhnungstag, nämlich zur Zeit der Gnade, von der der Apostel sagt: Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt sind die Tage der Rettung (2 Kor 6,2). 43.  Doch was hat es damit auf sich, dass es vom Versöhnungstag heißt: Jede Person, die sich an diesem Tag nicht Enthaltung auferlegt, soll aus ihren Stammesgenossen ausgemerzt werden? (Lev 23,29). Wie kann der Tag der Enthaltung der Tag der Versöhnung sein? Ist vielleicht Enthaltung Versöhnung? Oder wie kann Enthaltung nicht Versöhnung bedeuten, wenn jede Person, die sich an diesem Tag nicht Enthaltung auferlegt (ebd.), ausgemerzt werden soll? Besser ist es da freilich, sich an diesem Tag Enthaltung aufzuerlegen, als aus dem Volk Gottes ausgemerzt zu werden. Die Kör­ per der Tiere, deren Blut in das Heiligtum gebracht wird, werden nämlich außerhalb des Lagers verbrannt (Hebr 13,11). 44.  Die Seelen jener Menschen, die sich nämlich nicht durch die Zucht Enthaltung auferlegen wollen, können nicht in den Himmel aufgenommen werden. Dann nämlich wird das Blut in das Heiligtum gebracht, wenn die Seele in den Himmel aufgenommen wird. Die Seele wird in der Heiligen Schrift häufig durch das Blut symbolisch dargestellt, und die Schrift selbst verschweigt uns den Grund für diese Symbolik nicht, da sie sagt: Die Seele des Fleisches sitzt ganz und gar im Blut (Lev 17,11). Daher spricht der Herr zum Wächter über das Haus Israel, der einem Schuldigen a  b 

Vgl. 1 Petr 1,18. Vgl. Mt 23,37.

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seine Schuld nicht vorhält, von der Seele in der Symbolik des Blutes: Von dir fordere ich Rechenschaft für sein Blut (Ez 3,18). 45.  Von der Notwendigkeit christlicher Zucht wird keiner ausgenommen, keiner entschuldigt, keine Lebenslage, kein Geschlecht, kein fortgeschrittenes Alter, kein Stand, keine Würde, keine Macht. Jede Seele wird nämlich ausgemerzt, die sich an die­ sem Tag (Lev 23,29) nicht Enthaltung auferlegt. Dazu passt, was im Psalm geschrieben steht: Lernt die Zucht, damit der Herr nicht zürnt und ihr nicht ausgemerzt werdet, weit weg vom rechten Weg (Ps 2,12). Gewiss wird der ausgemerzt, der keine Zucht gelernt hat. Daher sagt der Apostel: Wenn ihr außerhalb der Disziplin steht, dann seid ihr Söhne des Ehebruchs (Hebr 12,8V). Ihr gehört dann nicht Christus an, sondern dem Teufel, der Ehebrecher und nicht Bräutigam ist. 46.  Durch die Zucht leiden wir aber mit Christus, wie wir durch die Barmherzigkeit mit unserem Nächsten leiden. Mitleidiges Erbarmen ist ja immer wohlwollend, wenn auch aus Mangel an Vermögen nicht immer wohltätig. Daher besteht es bisweilen nur im Willen, denn von Werken der Barmherzigkeit ist der entschuldigt, dem die Möglichkeit dazu nicht zur Verfügung steht. Das Mitleiden in der Zucht kann aber nicht bloß im nackten Willen angerechnet werden, denn sie muss von denen, die sich zum Christennamen bekennen, sowohl in der Sache als auch in der Erfahrung der Bedrängnis um Christi Willen auf sich genommen werden. Denn da wir uns alle in vielen Dingen verfehlen (Jak 3,2), ist keiner frei von Schuld und kann darum auch nicht frei von Strafe bleiben. 47.  Jeder aber, der sich durch die Schuld verfehlt, braucht eine Strafe. Wer aber eine Strafe braucht, sie jedoch nicht auf sich nimmt, wer also gleichsam betrügerisch handelt, der leugnet die Schuld. Wie beim weltlichen Gericht – so legen es die Rechtsexperten fest – ein Streitfall durch Leugnung bisweilen doppelt so schwerwiegend wird, so geschieht es auch beim Gericht Gottes. Nur ziehen sich alle, die von Gott gerichtet werden sollen, nicht die doppelte Strafe zu, sondern sie werden mit ewigem Verderben bestraft (2 Thess 1,9), fern vom Antlitz des Herrn und seiner strah­ lenden Pracht (Jes 2,10V).

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4. Das Altarssakrament, 44-51

48.  Das Übersehen der Strafe ist gleichsam eine gewisse Art, die Schuld zu leugnen. Gott sieht wegen der Buße über die Sünden der Menschen hinwega; Wenn der Mensch die Buße übersieht in einem gegenseitigen Hinwegsehen, dann wird Groll geboren: Im Lauf der Zeit entwickelt sich ewige Feindschaft mit der Gefahr verborgenen Hasses, und so ist sie von Dauer. 49.  Wir schulden uns selbst Christus, der den gemeinsamen Rechtsfall von uns allen geführt und für uns gezahlt hat, wie er selber sagt: Was ich nicht geraubt habe, das erstattete ich (Ps 68,5). Eben das, was er für uns gezahlt hat, das verlangt er von uns – wer könnte es ihm entreißen? Eine große Summe an Leiden wurde Gott geschuldet für die Erlösung des Menschengeschlechtes. Wie der selige Augustinus sagtb, müssen wir jeder zu dieser Summe unseren Beitrag leisten, bis sie nach erfolgter Sammlung ganz vollendet und Gott beglichen wird. Besitzer von Äckern und Grundstücken zahlen gewöhnlich für den Staat oder die Staatskasse eine bestimmte Steuer, je nach der Größe ihres Besitzes. So müssen auch wir das geschuldete Maß an Leiden gleichsam in eine Staatskasse einzahlen, ein jeder einen größeren oder kleineren Betrag je nach dem Maß seiner Kräfte und je nach Alter, Würde und Stand. Was wäre gerechter, als dass der Mensch für Christus leidet, für den Christus gelitten hat? Daher sagt der Apostel: Ich ergänze in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt (Kol 1,24). Wir sind also nicht dem Fleisch verpflichtet, so dass wir nach dem Fleisch leben müssten. Wenn ihr nach dem Fleisch lebt, müsst ihr sterben (Röm 8,12-13). 50.  So ist das Todesurteil denen gegenüber ausgesprochen, die nach dem Fleisch leben, aber noch nicht vollzogen. Noch können wir es durch Buße und Zucht abwenden. Wenn es aber vollzogen wird, dann wird es durch keine Berufung aufgehoben werden können, durch keinen Kunstgriff und keine Ausflucht wird man es vermeiden oder ihm entkommen können. 51. Christus gegenüber, der für uns gelitten hat, müssen wir nicht nur Furcht, sondern auch Scham empfinden, wenn wir a  b 

Vgl. Weis 11,24. Vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos 61, 4 (CCSL 39, 774).

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verzärtelt leben und wenn wir so für unseren Leib sorgen, dass die Begierden erwachen (Röm 13,14). Denn wenn der Herr –  und ein solcher Herr – am Kreuze hängt und dort für seinen Diener hängt, der böse Diener aber, der Schläge verdienta, es sich gut gehen lässt, ist das dann nicht beschämend, ist das dann nicht lächerlich? Wenn Christus am Kreuze hängt und spricht Mich dürstet! (Joh 19,28), unsere Herzen aber täglich durch Rausch und Trunkenheitb belastet sind, ist das dann nicht schändlich, ist das dann nicht verwerflich? Im Volksmund pflegt man zu sagen: Das ist kein faires Spiel! Gewiss ist das Leiden Christi kein Spiel, noch einem Spiel ähnlich. Wir aber halten unser Leben für ein Spiel, für irgendeine Gaukelei, die Gelegenheit zum Spielen gibt. 52.  Noch leben wir auf der Welt wie auf dem Schlachtfeld, wo Christus, unser Herr, für uns getötet wurde. Wer dieses Schlachtfeld verlässt und keine Wunde, keine Schwellung und kein Leiden trägt, wird als Feigling angesehen werden. Wir sind doch durch seine Wunden geheilt wordenc! Unser Herr ist für uns in der Schlacht gefallen – wenn wir unverletzt entkommen, wenn unser Leib gesund und unversehrt ist, werden wir dann nicht verurteilt werden, weil wir Verrat begangen haben und am Tod Christi schuldig sind? Schuld am Tod Christi waren auch jene, die ihn töteten, die mit seinem Tod einverstanden waren, und die Helfer, die ihn kreuzigten. Ebenso ist der gewissermaßen am Tod Christi schuldig, der die Kraft seines Todes in sich durch ein schlechtes Leben aushöhlt. Wenn er auch nichts dazu beigetragen hat, dass Christus gestorben ist, so trägt er doch dazu bei, dass er – was ihn betrifft  – vergeblich gestorben ist. Der Tod Christi bringt ihm nämlich kein Heil, und das Kreuz Christi nützt ihm nichts, wenn er sein Kreuz nicht trägtd und sich so selber ins Verderben stürzt. 53.  Wenn das Kreuz Christi, das uns zum Tragen auferlegt wird, unserer Genusssucht widerspricht und unsere Genusssucht dem Kreuz, wie können dann jene entschuldigt werden, die die Vgl. Lk 12,48. Vgl. Lk 21,34. c  Vgl. Jes 53,5. d  Vgl. Lk 14,27; Joh 19,17. a 

b 

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4. Das Altarssakrament, 51-55

Genusssucht lieben, sodass sie nicht als Feinde des Kreuzesa verurteilt werden? Von solchen Menschen sagt der Apostel: Sie leben als Feinde des Kreuzes Christi. Ihr Ende ist das Verderben, ihr Gott der Bauch; ihr Ruhm besteht in ihrer Schande; Irdisches haben sie im Sinn (Phil 3,18-19). 54.  Jene Menschen, die – wie gesagt – am Tod Christi schuldig sind, nicht als Täter, Befürworter oder Henker beim Tod Christi, sondern als Verächter seines Todes, die das Sakrament der Gnade in sich aushöhlen, vereiteln damit den Ratschluss des Höchsten (Ps 106,11). Jene, die sich des Segens des Himmels und der unaussprechlichen Gnade unwürdig machen, die es sich gut gehen lassen und das Geheimnis des Kreuzes verhöhnen, die den Sohn Gottes mit Füßen tretenb und das Blut des Bundesc für befleckt ansehen, in dem er geheiligt ist, schmähen auch den Geist der Gnade! 55.  Ein dem Fleisch verfallenes Leben ist Unrecht gegen Gott, Schmähung des Kreuzes und eine riesige Schande für die ganze Dreifaltigkeit! Unrecht ist es gegen den Vater, dass man den Sohn mit Füßen trittd; Unrecht gegen den Sohn, dass man sein Blut gleichsam beschmutzt; und Unrecht gegen den Heiligen Geist, dass man die Gnade verschmäht.

Vgl. Phil 3,18. Vgl. Hebr 10,29. c  Vgl. Ex 24,8; Mt 26,28; Mk 14,24; Hebr 9,20. d  Vgl. Hebr 10.29. a 

b 

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Sermo 5 Traktat XII Für die Vorsteher

Gebt acht auf euch und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist zu Aufsehern bestellt hat, damit ihr als Hirten für die Kirche Gottes sorgt, die er sich durch das Blut seines eigenen Sohnes erworben hat (Apg 20,28).

1.  Das Wort des Apostels richtet sich an euch, ihr Priester Gottes, Diener unseres Gottes (Jes 61, 6). Euch wird gesagt: Gebt acht auf euch und auf die ganze Herde! (Apg 20,28). Zuerst auf euch, dann auf die Herde. Es muss jeder auf sein eigenes Heil achten, der die Sorge für fremdes Heil auf sich nimmt. Ein diszipliniertes Leben gehört sich für uns, denen die Strafgewalt über die Lebensdisziplin anvertraut ist. Bei sich selbst anfangen und sich selbst nicht vernachlässigen sollen alle, die zuerst für sich selbst Rechenschaft ablegen müssen. 2.  Gebt acht auf euch! heißt es. Gebt acht, was ihr entsprechend eurer schwachen Natur seid, was nach der Rolle des euch gegebenen Auftrages, was nach der Würde der empfangenen

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Vollmacht, was nach der Niedrigkeit des geschuldeten Dienstes. Gebt acht, was ihr mit den anderen, was wegen der anderen, was über den anderen und was ihr schließlich unterhalb der anderen seid. 3.  Mit den anderen: was seid ihr da anderes als Menschena, ähnlich leidensfähig wie die anderen, in Sünden empfangenb und dem Zwang, sterben zu müssen, unterworfen? Wenn ihr auch durch die Gnade von Sünden befreit seid, seid ihr dennoch noch nicht unanfällig für Versuchungen, noch nicht unüberwindlich; denn ihr könnt noch versucht und von Versuchungen bezwungen werden, seid ihr doch von Schwachheit umgebenc, sodass ihr mit den Schwächen der anderen mitfühlen könntd. So sollen Vorsteher nämlich sein: sie können mitleiden, weil sie selbst auch leiden können. Daher, weil ihr Menschen seid, seid ihr schwach wie Menschen nach der Natur eurer schwachen Verfassung. 4.  Nach der Rolle des euch wegen der anderen gegebenen Auftrags seid ihr Engel, Boten des Friedens (Jes 33,7), denen Gott das Wort von der Versöhnung anvertraute (2 Kor 5,19), damit ihr mit dem Apostel sagen könnt: Wir sind also Gesandte an Christi statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen! (2 Kor 5,20). Denn dass ihr Boten seid, zeigt Maleachi mit den Worten: Die Lippen des Pries­ ters bewahren die Erkenntnis, und aus seinem Mund erwartet man Belehrung; denn er ist der Bote des Herrn der Heere (Mal 2,7). 5.  Wenn ihr aber Engel, Boten, seid, muss euer Lebenswandel im Himmel stattfindene. Ihr lebt nämlich nicht im Fleisch, sondern im Geistf, als dienende Geister, ausgesandt, um denen zu helfen, die das Heil erben sollen (Hebr 1,14). Gesendet seid ihr aber von Gott, der die Geister zu seinen Boten und loderndes Feuer zu seinem Diener machtg. Und ihr werdet als Diener Gottes zu Recht Vgl. Jak 5,17. Vgl. Ps 50, 7. c  Vgl. Hebr 5,2. d  Vgl. Hebr 4,15. e  Vgl. Phil 3,20. f  Vgl. Röm 8,9. g  Vgl. Ps 103,4. a 

b 

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5. Für die Vorsteher, 2-8

nicht nur als loderndes Feuer, sondern auch als brennendes Feuer bezeichnet: lodernd wie die Seraphima, wie Vertraute Gottes, brennend und erleuchtend aber für die Herzen der Untergebenen, sodass sie, entflammt von der Glut eures feurigen Wortes, ebenso brennen und sich vor seiner Glut nicht verbergenb. 6.  Da also die Priester des Herrn wegen der Ähnlichkeit des Dienstes den Engeln an die Seite gestellt und Engel genannt werden können, müssen sie ständig nach der Gemeinschaft mit den guten Engeln streben und die Ähnlichkeit mit den bösen Engeln ebenso fliehen. Da böse Priester eben keine guten Engel sind, kann man sie richtiger mit den bösen Engeln vergleichen, die vom Himmel gestürztc nicht in der Wahrheit standend und die Ehre ihrer Engelwürde verloren haben. 7.  Wenn der des Himmels würdige Lebenswandele der heiligen Priester mit dem Himmel verglichen werden kann, sind dann nicht jene, die von der erhabenen Stufe eines des Priesters würdigen Lebenswandels zu einem unwürdigen und weniger hochstehenden Leben herabgestürzt sind, offenbar so verdorben wie die Engel, die vom Himmel fielenf? Wenn sie auch niemals auf jenem erhabenen Gipfel der Tugenden gestanden hatten, so haben sie dennoch den Platz verloren, den sie hätten haben und einnehmen können und sollen, doch es nicht verdienten. Offenbar sind sie nämlich von dort herabgestürzt, wo sie wären, wenn sie nicht böse wären, und wo die sind, die nicht so sind. 8.  Damit also nicht auch ihr fallt, gebt acht, dass ihr nicht bloß Engel, Boten seid in Bezug auf die anderen, sondern sogar Götter seid über ihnen: das gilt aufgrund der Würde der empfangenen Vollmacht. Kommt eure Vollmacht vom Himmel oder etwa von den Menscheng? Sie kommt nicht von den Menschen, a  Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiarum siue Originum libri VII, v, 24 – W. M. Lindsay, Oxford, 1911. b  Vgl. Ps 18,7. c  Vgl. Offb 12,9. d  Vgl. Joh 8,44. e  Vgl. Phil 3,20. f  Vgl. Offb 12,9. g  Vgl. Mt 21, 23-25.

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sondern von Gott. Wer kann denn Sünden vergeben außer Gott alleina? Und doch ist euch die Vollmacht gegeben, Sünden zu vergeben, denn der Gott der Götter, der Herr, spricht (Ps 49,1) und hat zu euch gesagt: Alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein (Mt 18,18). 9.  In dieser eurer Vollmacht aber macht ihr ständig Gott auf Erden gegenwärtig. In dieser Vergegenwärtigung des einen wahren Gottes werdet ihr Götter genannt und seid ihr Götter, wie geschrieben steht: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter, ihr alle seid Söh­ ne des Höchsten (Ps 81,6), damit durch euren Dienst Gott immer unter denen gegenwärtig ist, die ihn suchen, nicht nur in der Gegenwart seiner Majestät, sondern auch in der Vergegenwärtigung seiner Autorität und Vollmacht. 10.  Gebt acht, welch große Ehre ihr ihm schuldig seid, der euch einen so ehrenwerten Namen gegeben hat. Durch diesen Namen verdient ihr Furcht und Ehrfurcht: Furcht als Richter und Ehrfurcht als Väter; Furcht wegen eurer Vollmacht, Ehrfurcht wegen eurer Heiligkeit. Wenn jemandem von euch diese Heiligkeit fehlt – was ferne seib – dann fürchte er sich, denn Gott ist der Richter. Er fürchte sich, denn Gott steht auf in der Versammlung der Götter, im Kreis der Götter hält er Gericht (Ps 81,1). Wenn er nämlich die Könige des Himmels prüft (Ps 67,15V) – das sind jene, die sich und andere leiten sollen – dann hält er Gericht über die Götter. 11.  Er kennt nämlich die Seinenc, und seinen Augen können jene nicht verborgen bleiben, die ihren Vorteil suchen, nicht die Sache Jesu Christid. Denn jene, die bei jedem Festmahl den Ehren­ platz und in der Synagoge die vordersten Sitze haben möchten, die sich auf den Straßen und Plätzen gerne grüßen und von den Leuten Rabbi nennen lassen (Mt 23,6-7), die bezahlte Knechte, die Diebe und Räuber sind, die nicht durch die Tür hineingehen (Joh 10,1),

a  b 

u.a. c  d 

Vgl. Mt 9,6. Vgl. Regel des heiligen Benedikt 11, 12 (SC 182, 516); 28, 2 (SC 182, 550-552) Vgl. 2 Tim 2,19. Vgl. Phil 2,21.

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5. Für die Vorsteher, 8-14

die Geldwechsler, die im Tempel Tauben verkaufena, die stumme Hunde (Jes 56,10 und Phil 3,2), die schlechte Arbeiter sind: Dieses ganze Geschlecht von Göttern gehört offensichtlich zu den falschen Göttern. Standbilder von Priestern sind sie nämlich, wie die Götzenbilder und abscheuliche Götzen (Ez 16,36) im Tempel. Wie die Anbetung des einen wahren Gottes im Götzendienst einem Götzen auf ungehörige Weise erwiesen wird, so beanspruchen sie die den Göttern – nämlich den heiligen Priestern – geschuldete Ehre auf ungehörige Weise, da sie sich selbst die Ehre nehmen und nicht von Gott berufen wurden wie Aaronb. 12.  Dennoch ist bei jedem Priester der Dienst heilig und das Sakrament der Priesterweihe der Verehrung würdig. Wir haben nicht das Recht, die Gesalbten des Herrn anzutastenc und die zu richten, die von Gott als Richter eingesetzt wurdend. Es gibt einen, der untersucht und der richtet (Joh 8,50V). Gott ist es nämlich, der die Götter richtete! 13.  Ihr aber, Priester des Herrnf, die ihr, wie es sich für Diener Christi gehört, eurer Vollmacht Ehre erweist in aller Gerechtigkeit und Heiligkeitg, gebt acht auf eure Würde, wie groß sie ist! Denn ihr seid mehr als Menschen, denn ihr seid Engel, Boten Gottes und gleichsam als Engel Erntearbeiter, die aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt haben (vgl. Mt 13,39-41). Dazu seid ihr aber noch mehr als Engel, denn ihr seid Götter: wie dem Namen, so auch eurer hervorragenden Würde nach. 14.  Ihr habt auf die Würde geachtet und darauf, worin ihr mehr seid als die anderen. Gebt jetzt acht –  ich sage es noch einmal – gebt acht auf eure Niedrigkeit, die Verpflichtung zum Dienst und worin ihr unter den anderen steht. Wenn ihr es hören wollt, soll es der Prophet sagen, was ihr seid, denn er spricht zum Herrn mit den Worten: Von den Früchten deiner Werke wird die Vgl. Mt 21,12. Vgl. Hebr 5,4. c  Vgl. Ps 104,15. d  Vgl. Apg 10,42. e  Vgl. Ps 81,1. f  Vgl. Jes 61,6. g  Vgl. Lk 1,75. a 

b 

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Erde satt. Du lässt Gras wachsen für das Vieh, auch Pflanzen für den Dienst der Menschen (Ps 103,13-14V). Seht, was ihr seid: Vieh und Diener der Menschen! Von einer solchen Höhe seid ihr in eine solche unterste Tiefe hinabgestürzt worden, wie geschrieben steht: Sie steigen zum Himmel empor und fahren hinab in die tiefste Tiefe (Ps 106,26). Denn auch an anderer Stelle steht geschrieben: Die Riesen seufzen unter den Wassern zusammen mit ihren Bewoh­ nern (Ijob 26,5). Ihr seid wie Riesen von hochgewachsener Gestalt im Vergleich zu den übrigen entsprechend eurer hervorragenden Würdea, ihr seufzt unter den Wassern der Völker, belastet mit vielerlei Sorgen und Mühen. So hoch der Himmel über der Erde istb, so hoch stehen die Götter über dem Vieh. Das ist es: ihr über euch selbst. Ihr seid nämlich Götter und Vieh. 15. Als Götter, Führer der Menschen, gebt vor allem acht darauf, wie mühevoll es ist, Menschen zu führen und der Eigenart vieler zu dienenc, sich allen anzupassen, auf alle einzustellen, sodass sich die Herren aller dennoch in nichts von den Sklaven unterscheiden. Daher spricht der Apostel: Obwohl ich von nie­ mand abhängig war, habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht (1 Kor 9,19). Und ebenso steht geschrieben: Je größer du bist, desto mehr bescheide dich in allem (Sir 3,20). Als wollte er sagen: Entsprechend der Größe der Würde muss auch das Maß der Demut ausfallen. Demut in der Ehre ist eine Ehre für die Ehre und eine Würde für die Würde. Jede Würde verdient nicht einmal den Namen Würde, wenn sie dem Niedrigen ausweicht. Die Demut dagegen genügt sich selbst für ihre Ehre; Ehre ohne Demut aber liefert sich der Beschämung aus. 16. Achten sollen also alle, die in Ehren stehen, dass sie sich in allem nach dem Beispiel Christi demütigend. Obwohl er der Erste war, wurde er als Lehrer der Demut wie ein Sklavee und neigte

a 

869).

Vgl. Gregor der Grosse, Moralia in Iob XVII, xxi, 31 (CCSL 143A, 868-

Vgl. Jes 55,9. Vgl. Regel des heiligen Benedikt 2, 31-32 (SC 181, 448-450). d  Vgl. Augustinus, Sermo 30, vii, 9 (CCSL 41, 387-388). e  Vgl. Lk 22,36; Phil 2,7. b  c 

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5. Für die Vorsteher, 14-19

sich bis zu den Füßen seiner Jünger niedera. Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott und Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave (Phil 2,5-7). Auch ihr seid Götter: Entäußert euch und werdet wie Sklaven, um einstweilen Menschen wegen der Menschen zu sein, Schwache wegen der Schwachen, wie jener, der gesagt hat: Wer leidet un­ ter seiner Schwachheit, ohne dass ich mit ihm leide? Wer kommt zu Fall, ohne dass ich von Sorge verzehrt werde? (2 Kor 11,29). 17.  Das Land der unterworfenen Völker wird euch, wenn ihr auf die Gabe aus seid, Gras wachsen lassen für das Viehb, auch Pflanzen bei den zeitlichen Gütern, die man euch schuldet. Ihr aber, was seid ihr schuldig? Zunächst all das Eure, zuletzt euch selbst. Alles, was ihr könnt, alles, was ihr seid; zuletzt euer Leben für das Leben derer, die euch anvertraut sind – und zwar sehr gerne, wie es jener tat, der da spricht: Ich aber will sehr gern alles aufwenden und mich für euch aufreiben (2 Kor 12,15). Also seid ihr Schuldner, nicht nur gleichsam eines Teiles der euch anvertrauten Herde, sondern der ganzen Herde, der Gebildeten und Ungebil­ deten (Röm 1,14). Für alle müsst ihr doch Rechenschaft ablegenc. 18.  Gebt daher acht auf die ganze Herde, in der euch der Hei­ lige Geist zu Aufsehern bestellt hat (Apg 20,28). An sie richtet sich diese Predigt. Sie nehmen sich nicht eigenmächtig diese Würde, sondern werden von Gott berufen, so wie Aarond. Sie haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt (1 Kor 2,12). Denn alle, die sich vom Geist dieser Welt leiten lassen, sind nicht vom Heiligen Geist eingesetzt, noch von Gott erwählt worden wie Aaron, den er erwählt hat, sondern sie haben sich selbst ihren Namen in ihren Ländern gegeben (vgl. Ps 48,12V). 19.  Was sind das für Namen? Vielleicht Ehrennamen, Würdenamen: Archidiakon, Bischof, Erzbischof und ähnliche. Große Namen sind das. Viele, die diese Namen noch nicht besaßen, Vgl. Joh 13,5. Vgl. Ps 103,14. c  Vgl. Regel des heiligen Benedikt 2, 34.37.38 (SC 181, 450). d  Vgl. Hebr 5,4. a 

b 

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aber zu besitzen wünschten, was noch nicht ihr eigen war, haben sich gleichsam selbst ernannt, um sie zu besitzen. Sie haben sich so genannt mit lautem Geschrei, vielleicht durch Gefälligkeiten, vielleicht durch Geschenke, vielleicht durch Schmeicheleien oder auf andere Weise, wie sich jene gewöhnlich ihren Namen geben, die nicht dazu berufen sind. Gott hat sie nicht berufen und daher auch weder gerecht gemacht, noch verherrlichta. Denn sie suchen die Ehre von den Menschen, nicht aber die Ehre, die von dem einen Gott kommtb. Selbst wenn sie bei den Menschen als ruhmreich und glorreich gelten, sind sie vor Gott ein Schandfleck, denn er hat sie verworfen (Ps 52,6). 20.  Ihr aber seid nicht so, da euch der Heilige Geist zu Aufse­ hern bestellt hat, damit ihr als Hirten für die Kirche Gottes sorgt (Apg 20,28). Euer Name und die Begründung für euren Namen mahnen euch an eure Pflicht, in der euch anvertrauten Sorge nichts zu vernachlässigen, sondern ihr sollt genug, ja übergenug Acht geben und achtsam sein, um für die Kirche Gottes als Hirten zu sorgen. 21.  Das ist nämlich euer Dienst entsprechend der doppelten Aufgabe des Vorstehers: leiten und zurechtrücken in Gerechtigkeit und Recht. Durch diese Tugenden wird der Thron Gottes nämlich gestützt oder zurechtgerückt, wie geschrieben steht: Ge­ rechtigkeit und Recht sind die Stützen deines Throns (Ps 88,15). Und an anderer Stelle: Gerechtigkeit und Recht rücken seinen Thron zurecht (Ps 96,2V). Durch eure Gerechtigkeit und euren Rechtspruch muss der Thron Gottes gestützt werden bei denen, die sich noch nicht als Thron für den thronenden Gott erwiesen haben: das heißt, bei denen, die noch nicht damit begonnen haben, sich Gott durch den Gehorsam zu unterwerfen. Gestützt werden muss er in denen, die begonnen haben zu gehorchen, damit sie nicht erschlaffen; und gestützt werden muss er auch bei denen, die gefallen sind, damit sie sich wieder aufrichten, denn der Herr hält sie fest an der Hand (Ps 36,24).

a  b 

Vgl. Röm 8,30. Vgl. Joh 5,44.

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5. Für die Vorsteher, 19-23

22. Auf eure Gerechtigkeit und eurer Recht sind die Augen aller gerichtet. Euer Leben ist nämlich ein Spiegel der Heiligkeit, ein Vorbild der Rechtschaffenheit und ein Prägmal der Gerechtigkeit. Menschen vielerlei Aussehens, die in der Kirche sind, sehen dort, was sie nachahmen und wem ähnlich zu werden sie wünschen sollten. Hier wird das Leben der Untergebenen wie weiches Wachs geprägt, damit es das eingeritzte Bild durch die Prägung der Heiligkeit aufnimmt. 23.  Liebt Gerechtigkeit, ihr Herrscher der Erde! (Weish 1,1). Wenn ihr Christus liebt, so liebt auch die Gerechtigkeit. Er selbst ist von Gott für uns zur Weisheit und zur Gerechtigkeit gemacht worden (1 Kor 1,30). Er, der die Sünde nicht kannte, wurde für uns sogar zur Sünde, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden (2 Kor 5,21). Christus wurde zum Opfer für die Sünde; Christus hat die Kirche durch sein Blut erkauft. Diese so erkaufte Kirche hat er euch anvertraut. Er setzte in euch Vertrauen, damit durch euch das Herz ihres Mannes auf sie vertraut (Spr 31,11). Wie ihr also Christus liebt, so bewahrt auch seine Braut in eurer Treue, setzt euch für sie ein, nicht um euret-, sondern um ihretwillen, damit ihr sie als reine Jungfrau (2 Kor 11,2) Jesus Christus, unserem Herrn, entgegenführen könnt, der als Gott über allem steht. Ihm sei Lobpreis in Ewigkeit. Amen (Röm 9,5).

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Sermo 6 Traktat I (letzter Teil) und II An die Priester

1.  Ihr Priester des Herrn (Jes 61,6), hütet euch vor den Genüssen des Fleisches, vor dem sinnlosen Lebena der Welt. Macht eurem Dienst Ehre, ihr, die ihr wie Lichter inmitten der Welt leuchtet (Phil 2,15). Jagt der Gerechtigkeit nachb, lernt Zucht! (Ps 2,12). Um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden. Verherrlicht also und tragt Gott in eurem Leib! (1 Kor 6,20). Ihr tragt ja das To­ desleiden Jesu an euch (vgl. 2 Kor 4,10). In allem erweist euch als Diener Christic, tragt die Zeichen Jesu an eurem Leibd und die Prägung für seinen Dienst in Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung, in Reinheit und Nüchternheite, in Geduld und Demut, in jeglicher Heiligkeit und Heiligung, damit alle, die euch sehen, erkennen können, wem ihr angehört, und damit sich das Prophetenwort an euch erfüllt: Ihr alle aber werdet „Priester des Herrn“ genannt, man sagt zu euch „Diener unseres Gottes“ (Jes 61,6). Und ebenso: Jeder, der sie sieht, wird erkennen: Das sind die Nachkom­ men, die der Herr gesegnet hat (Jes 61,9). 2.  Preist den Herrn, ihr Priester des Herrn! (Dan 3,84). Preist ihn, der euch mit allem Segen des Himmels gesegnet hat (Eph 1,3), Vgl. 1 Petr 1,18. Vgl. Röm 9,30. c  Vgl. 2 Kor 6,4. d  Vgl. Gal 6,17. e  Vgl. 1 Tim 2,15. a 

b 

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der das Haus Aaron gesegnet hat (Ps 113,12). Geheiligt werde Gott in euch, damit er in euch so in Erscheinung tritt, wie er ist: hei­ lig, unschuldig und makellos (vgl. Hebr 7,26). Keinesfalls soll sein Name euretwegen gelästerta, noch euer Dienst durch euch getadelt werdenb. Euer Leben mitten in einer verdorbenen und verwirrten Generation (Phil 2,15) soll so sein, dass jene, die euch sehen, sagen können: Wahrhaft, das sind „Priester des Herrn“! (Jes 61,6); wahrhaft, das sind „Diener“ unseres „Gottes“ (vgl. Röm 13,6); wahrhaft, das sind Jünger Jesu Christi, Mitarbeiter der Apostel; wahrhaft das sind die Nachkommen, die der Herr gesegnet hat (Jes 61,9). 3. Achtet auf die Würde des Sakramentes, das euch übertragen ist zur Darbringung und zur Verwaltung. Eure Hände, denen ein so ehrfurchtgebietendes Sakrament zur Berührung gegeben wird, seien rein von aller Befleckungc durch schmutzige Gaben, damit euer Anteil nicht bei denen sei, an deren Händen Schandtat klebt. Auch ist ihre Rechte voll von Bestechung (Ps 25,10). Tretet mit gewaschenen Händen zum Altar Gottes, nähert euch ihm zusammen mit dem, der da spricht: Ich wasche meine Hände in Unschuld; ich umschreite, Herr, deinen Altar (Ps 25,6). 4.  Euer Mund bleibe rein, um zu verkosten, wie gütig der Herr ist (Ps 33,9), um die Eucharistie zu empfangen, eben das lebendige Brot, das vom Himmel herabkommt (Joh 6,33). Es gehört sich nicht, dass der Mund des Priesters durch einen Meineid befleckt wird, nicht durch falsches Zeugnis, nicht durch Lüge, nicht durch Schmähreden, nicht durch nichtiges Geschwätz oder durch zum Gelächter reizende Worted beschmutzt wird, die nicht zur Sache passen, nicht, dass er sich zu Beschimpfungen und Schmähungen gegen die Feinde öffnet. Im Mund des Priesters seien Danksagung und Lobpreis, Gebete, Fürbitten und Flehrufee. Über eure Lippen

Vgl. Röm 2,24. Vgl. 2 Kor 6,3. c  Vgl. 2 Kor 7,1. d  Vgl. Regel des heiligen Benedikt 6, 8 (SC 181, 472). e  Vgl. 1 Tim 2,1; vgl. dazu auch Bernhard von Clairvaux, Sentenz 3, 101 (BCSW IV, 593-595), ähnlich in der 25. Predigt über verschiedene Themen (BCSW IX, 395ff) und 107. Predigt über verschiedene Themen (BCSW IX, 779ff). a 

b 

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6. An die Priester, 2-7

komme kein böses Wort, sondern nur ein gutes (Eph 4,29), das denen, die es hören, Gnade und Stärkung bringt. Es geschehe, was Gott mit den Worten ausspricht: Durch mein Lob werde ich dich zähmen, damit du nicht zugrunde gehst (Jes 48,9V). Durch dieses Lob gezähmt spricht er: Ich will den Herrn allezeit preisen; immer sei sein Lob in meinem Mund (Ps 33,2). Durch das Gotteslob muss der Mund gezähmt werden, damit er nicht durch die Möglichkeit zu ungezähmtem Reden zu Bösem und Schändlichem erschlafft. Unrein und gemein darf der Mund nicht sein, mit dem die heilige Kommunion berührt werden muss. 5.  Liebe Brüder, wir wollen unerschütterlich festhalten und ohne Zweifel an das glauben, was uns bezüglich dieser heiligen Kommunion die Autorität Gottes und der heiligen Väter zu glauben vorlegt. In diesem Opfer ist die Kraft unserer Versöhnung enthalten, der Lösepreis unserer Erlösung, die verborgene Wahrheit, um unseren Glauben zu erproben. Die Lebensweise Christi wird vergegenwärtigt, um Vorbild für unser Leben zu sein. Als Christus dieses Opfer einsetzte und den Jüngern anvertraute, sprach er daher: Tut dies zu meinem Gedächtnis! (Lk 22,19). Tut, was ich tue, bringt dar, was ich darbringe, lebt so, wie ich es lehre. Empfangt daraus ein Beispiel für das Leben und das Sterben, das ich euch durch mein Vorbild gebe. 6.  Dieses Sakrament bewirkt in uns, dass Christus in uns lebt und wir in ihm. Es bewirkt in uns, dass wir, wie Christus für uns gestorben ist, auch selber in Christus oder für Christus sterben. Alle aber, die in Christus oder für Christus sterben, entschlafen mit Vertrauen und haben einen wunderbaren Lohn hinterlegta. Die Herrlichkeit der Auferstehung wird ihnen verheißen und aufgespart, denn der würdige Empfang dieses Sakramentes ist die heilbringende Vorbereitung dafür. In seiner Kraft wird Gott unse­ ren armseligen Leib verwandeln in die Gestalt seines verherrlichten Leibes (Phil 3,21). 7.  Was ist würdig genug als Dank an Gott für eine so große Gnade, die er uns geschenkt hat? Für eine so große Ehre, was wollen wir ihm dafür geben? Ob er uns wohl liebt – das ist eine müa 

Vgl. 2 Makk 12,45.

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ßige Frage, da er uns als Zeichen der unermesslichen Liebe, die in ihm ist, das Brot des ewigen Lebens und den Kelch immerwährenden Heilesa reicht. 8.  Daher ist es gerecht, dass wir – soweit es die menschliche Schwäche erlaubt – dieses so wunderbare Geschenk Gottes, diese außerordentliche Wohltat würdig und ehrfürchtig empfangen, um sie wie unseren Augenstern zu behütenb – ja mehr als unseren Augenstern – wie unser Leben, wie unser Heil, wie die Hoffnung und das Unterpfand für unsere Auferstehung und Herrlichkeit. 9.  Was wir durch Gleichgültigkeit statt Ehrfurcht vor diesem so großen Sakrament bisher gesündigt haben, wollen wir zukünftig durch eine größere und hingebungsvollere Sorgsamkeit wieder gutmachen. Die Fehler der früheren Zeit und unseres bisherigen Lebens wollen wir durch einen ehrenvolleren Vorsatz und reiferen Beschluss ersetzen, und die Zeit nutzen; denn diese Tage sind böse (Eph 5,16). 10.  Seht, wie gefährlich unsere Zeiten sind, wie abtrünnig und verdorben die Menschenkinder in ihrem Streben (Ps 13,1) sind. Voll ist die Erde von Unrecht. Wie in den Tagen des Noachc alles Fleisch von seinem Weg abgeirrt war, so ist es auch jetzt. Bevor damals aber das Wasser der Sintflut über die Erde kam, ging durch die bösen Taten der Menschen eine geistliche Sintflut voraus. So zeigte sich in der Schuld der Menschen schon, wie die künftige Strafe des Gerichtes aussehen würde. Sturzbäche der Ungerechtigkeitd waren über die Ufer getreten; alle, die in den tiefen Was­ sern waren, näherten sich Gott nicht (Ps 31,6). Deshalb deckten sie die Fluten zu, sie sanken in die Tiefe der Ungerechtigkeit wie Steine (Ex 15,5). 11.  Während der Abgrund der Sünden nach dem Abgrund der Gerichte Gottes riefe und der Schrei an die Ohren des Gottes der Heere drang f, brachen alle Quellen des gewaltigen Abgrunds Aus dem ersten Eucharistischen Hochgebet. Vgl. Dtn 32,10; Ps 16,8. c  Vgl. Gen 6,12. d  Vgl. Ps 17,5. e  Vgl. Ps 41,8. f  Vgl. Ps 17,7. a 

b 

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6. An die Priester, 7-13

auf, und die Schleusen des Himmels öffneten sich (Gen 7,11). So vertilgte der Herr alles Fleisch vom Erdbodena. Er setzte den Bogen als Bundeszeichen in die Wolkenb, damit der Mensch von den Wassern der Sintflut nichts mehr für sich zu befürchten habe, und doch sollte er sich fürchten! Gott spannte seinen Bogenc und richtete ihn her, er hat denen, die ihn fürchteten, ein Zeichen auf­ gestellt, damit sie zu ihm fliehen können vor dem Bogen (Ps 59,6). In der Erinnerung an das vergangene Gericht flößt er Schrecken vor der Zukunft ein: Eben in diesem Bogen, den Gott in die Wolken setzte, erscheinen in verschiedenen Farben das Zeichen des Bundes und das Zeichen des Schreckens: das Gericht des Wassers und das Gericht des Feuers. Vor dem Gericht des Wassers und der Furcht davor befreite uns das Zeichen des Bundes; dennoch ist die Erwartung des Gerichts furchtbar und das Feuer wütend, das die Gegner verzehren wird (vgl. Hebr 10,27). 12.  Seht, jetzt schon bildet sich in der Lebensweise der Menschen die Gestalt des künftigen Gerichtes ab. Das Feuer der Gier, der Lust und der Bosheit ist mitten unter den Völkern entbrannt, und die Bewohner der Erde werden weit und breit ausgeplündert, als stände der Weltenbrand bereits kurz bevor. Wenn er kommt, wird die Gestalt der Strafe der Schuld entsprechen. So, wie jetzt die Schuld ist, so wird auch die Strafe sein. Das Leben der Bösen ist nämlich Feuer, und auch die Strafe der Bösen wird Feuer sein. 13. Auch das Leben der Gerechten ist Feuer, und ebenso wird ihre Herrlichkeit Feuer sein. Jetzt brennen die Gerechten im Feuer der göttlichen Liebe, das der Herr auf die Erde zu werfen gekommen istd und von dem er möchte, dass es brenne. Ein Feuerherd ist nämlich in Zion, und ein glühender Ofen wird in Jerusalem seine. Brennen werden die Gerechten auch in Zukunft, doch wie die Seraphimf brennen und leuchten werden sie wie die Sonne (vgl. Vgl. Gen 7,4. Vgl. Gen 9,13. c  Vgl. Ps 7,13. d  Vgl. Lk 12,49. e  Vgl. Jes 31,9. f  Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiarum siue Originum libri VII, v, 24 – W. M. Lindsay, Oxford, 1911. a 

b 

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Mt 13,43) vor dem Angesicht des Herrn; und sie werden erstrahlen im Glanz der Heiligen (Ps 109,3). Das wird ihre Herrlichkeit sein, dass sie wie Leuchten strahlen und brennen: durch die Liebe brennen sie für sich im Inneren, und als Vorbild für die anderen leuchten sie nach außen. 14.  Die Bösen werden ebenfalls in der Zukunft brennen, doch auf andere Weise. Über sie sagt der Prophet zum Herrn: Du lässt sie glühen wie einen feurigen Ofen, sobald du erscheinst (Ps 20,10). Sie brennen auch jetzt schon, denn es heißt über sie: Sie alle sind Ehebrecher. Ihre Herzen sind wie ein angeheizter Backofen (Hos 7,4). Und über die Bösen wird durch den Psalmisten gesagt: Feuer ist auf sie gefallen, und sie haben die Sonne nicht gesehen (Ps 57,9V). Das Feuer, in dem die Bösen brennen, erleuchtet nämlich nicht, sondern es blendet, so sehr, dass es nicht erlaubt, die Sonne zu sehen. Daher werden sie auch in den letzten Tagen mit geängstigtem Herzen innerlich stöhnen und sagen: Das Licht der Gerechtigkeit strahlte uns nicht, und die Sonne ging nicht für uns auf (Weish 5,6). 15. Auch die Zeichen, die dem Tag des Gerichts vorangehen werden, gleichen in ihrer Gestalt unseren gegenwärtigen Verhaltensweisen: Wie sie in sichtbarer Form kommen werden, so zeigen sie sich in geistiger Form schon in uns. Es steht geschrieben: Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut, ehe der Tag des Herrn kommt, der große und schreckliche Tag (Joel 2,31). Was am Firmament des Himmels Sonne und Mond sind, das sind in der Kirche Gottes die Lebensordnung der Vorsteher und das Leben der Untergebenen; auch die kirchliche Autorität und die weltliche Gewalta. Der Mond ist geringer als die Sonne, und er leuchtet nicht von sich aus, sondern durch die Sonne. So steht auch das Leben der Untergebenen unter dem Leben der Prälaten, durch die sie entzündet und erleuchtet werden müssen. Zu ihnen wurde nämlich gesagt: Ihr seid das Licht der Welt (Mt 5,14). 16.  Bei den Vorstehern aber, die unwissend sind und irren, die blind sind und Führer von Blinden (Mt 15,14), verwandelt sich die Sonne in Finsternis. Daher verwandelt sich im Leben der UnterVgl. Gelasius I, Epistola VIII (seu XII). Ad Anastasium Imperatorem – Jaffé, Regesta pontificum Romanorum I (21885), p. 85. a 

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6. An die Priester, 13-20

gebenen der Mond in Bluta: nämlich in Blut der Verdorbenheit und Grausamkeit. Es heißt doch: Die Liebe wird bei vielen erkal­ ten (Mt 24,12) und die Ungerechtigkeit überhand nehmen: Das Blut steigt an vom See bis an die Zügel der Pferde (Offb 14,20), bis zu den Vorstehern der Völker, Bluttat reiht sich an Bluttat (Hos 4,2). 17.  Bei uns finden die Laien nicht, was sie nachahmen sollten; sie finden, was sie verfolgen möchten. Sie verfolgen uns mit Verleumdungen, sie verfolgen uns mit Unrecht, sie verfolgen uns mit Schaden, mit Schmähungen, mit Widerwärtigkeiten; zuletzt verfolgen sie uns auch mit dem Schwert. 18. Kürzlich erst hat uns die Wut der Verfolger am Haupt verwundet, die den seligen Thomas, den Gesalbten des Herrn, unseren Erzbischof, wegen seiner machtvollen Verteidigung der kirchlichen Freiheit bis in den Tod verfolgt haben. Und wenn es wahr ist, was sich wegen dieses Anlasses als Gerücht verbreitet hat und das Gewissen vieler ängstigte, dann war unser ungeordnetes Leben die Brutstätte dieses so großen Übels und lieferte den Zunder für diesen großen Hass. Es betrachtete uns nämlich nicht jedermann als Diener Christi und als Verwalter von Geheimnissen Gottes (1 Kor 4,1), aber jeder wird sein eigenes Urteil zu tragen haben, wer auch immer er ist. 19. Unwürdig schienen wir der alten Privilegien, die von den Römischen Oberhirten und früheren edlen Königen für den Frieden und die Freiheit der Kleriker aus Gnade gewährt wurden. Keinesfalls aber wegen ihrer Ehrwürdigkeit! Wir waren gewiss unwürdig: am Verdienst des Lebens gemessen waren wir ganz und gar unwürdig! Dennoch ist bei jedem Priester der priesterliche Dienst immer heilig, und ehrenwert das Sakrament des Priestertums. 20.  Nun komme uns jene Zeit in den Sinn, da der Edomiter Doëg fünfundachtzig mit dem Ephod bekleidete Priester mit dem Schwert durchbohrteb. Wir erinnern uns an die früheren Tage und an das Blut des Zacharias, Barachias Sohn, der zwischen dem a  b 

Vgl. Joel 2,31. Vgl. 1 Kön 22,18.

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Tempelgebäude und dem Altar ermordet wurdea. Es haben auch unsere Zeiten manche Beispiele gotteslästerlicher Grausamkeit, doch die Größe vieler Verbrechen kann man verzeihen im Vergleich mit einer einzigen Untatb. Gott weiß, wie groß die Bosheit des Feindes im Heiligtum ist (Ps 73,3V). Alle Schlechtigkeit unserer Zeit, mag sie jetzt auch vielfältig und überreich sein, ist im Vergleich mit einer einzigen Tat gerecht. Ja, es ist eine einzige Tat: Doch in der einen Tat sind viele Verbrechen enthalten. Erfinderisch ist nämlich die Bosheit und bei ihrer Ausübung ideenreich, sodass der vollendeten Schlechtigkeit nichts abgehen sollte: sie hat das ganze Werk der Ungerechtigkeit in äußerster Bosheit zur Vollendung geführt. 21.  Sollte jedoch unser ungeordneter und zuchtloser Lebenswandel einen Anlass für dieses so große Übel geboten haben – wie mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist – was für einen Rat sollte man dann geben außer dem: Schreien wir zum Herrn, unserm Gott, bis er uns gnädig ist (Ps 122,2). Barmherzig ist er nämlich und reich an Güte (Ps 102,8). Was ist heilsamer, was ehrenwerter, als dass wir unser Leben zu Zucht und Ordnung zurückrufen und uns in allem als Diener Gottes erweisen (2 Kor 6,4), damit jene, die uns verfolgen und als Übeltäter schmähen, unser gutes Leben sehenc, sich daran erbauen und durch unser Beispiel selber zur Buße zurückgerufen werden? 22.  Wenn nämlich das Licht selbst Finsternis ist, wie groß muss dann die Finsternis sein (vgl. Mt 6,23). Wenn wir dazu in der Kirche Gottes stehen, dass unser Leben durch Werke des Lichtes den anderen leuchtet, wir aber noch in Werken der Dunkelheit leben, was Wunder, wenn dann unsere Untergebenen ohne Wissen und Einsicht im Dunkel lebend, selbst blind und noch mehr erblindet durch unser Beispiel? Wird dann nicht von unseren Händen Rechenschaft für ihr Blut geforderte? Wird dann nicht jener selige Vgl. Mt 23,35. Offenbar denkt Balduin an den Mord an Thomas Becket, dem Erzbischof von Canterbury, im Jahr 1170. c  Vgl. 1 Petr 2,12. d  Vgl. Jes 9,2. e  Vgl. Gen 9,5; Ez 3,18.20. a 

b 

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6. An die Priester, 20-24

Märtyrer, der sein Leben für uns gab, gegen uns Klage erheben? Wird dann nicht sein Blut vom Ackerboden gegen uns schreiena, und werden wir dann nicht alle vor dem Richterstuhl des strengen Richters an seinem Tod schuld sein? Ist er nicht für unsere Schuld gestorben? Ist er nicht durch unsere Schuld gestorben? Wenn diese auch nicht den Anstoß gab für seinen Tod, so lieferte sie doch einen Anlass. Wenn wir weiter sündigen – so darf man meinen – wird er für uns nicht länger Patron für die Gerechtigkeit, noch Fürbitter für die Vergebung, sondern Ankläger oder Zeuge für die Rache sein! 23.  In den Übeln, die wir durch das gerechte Urteil Gottes erleiden, gibt es keinen, gegen den wir zu Recht aufgebracht sein könnten, außer gegen uns selbst. Wir haben Schlimmeres verdient und ertragen nicht einmal, was unserem Verschulden entspricht. Uns muss man zu Recht anlasten, und es gereicht uns zur Gefahr, dass die weltliche Gewalt Urteile in kirchlichen Angelegenheiten für sich beansprucht; dass sie sich durch die kirchliche Autorität nicht leiten lässt; dass sie den Rat der Kirche nicht nützt, ihm gegenüber nicht willig, sondern unwillig ist; dass das Schwert des Petrus stumpf wird; dass die Schlüssel des Petrus nicht geachtet werden; dass die Sakramente der Kirche verachtet werden; dass der heilige und furchteinflößende Name Gottes verachtet und im Meineid vergeblich in den Mund genommen wird; dass den heiligen Einrichtungen der Kirche nicht die schuldige Ehrfurcht gezollt wird; dass den kirchlichen Amtsträgern die geschuldete Ehre nicht erwiesen wird und dass der ehrenwerte Name der heiligen Religion verächtlich gemacht wird. 24.  Für das alles – und sehr viel Derartiges – wird von uns Rechenschaft gefordert, denn es ist unseren Sünden zuzuschreiben. Unsere Wege und unsere Abwege haben uns das angetan. Gott ist aber mächtig genug, seine Braut, die er für sich haben möchte, aus den Händen der Verfolger zu befreien, wenn er möchte. Ein wenig nur ist er erzürnt: Sie aber haben zum Bösen geholfen (Sach 1,15). Das tut jene Macht offensichtlich, um die Kirche zu unterwerfen, um ihr nicht selber unterworfen zu sein. Doch was sagt die a 

Vgl. Gen 4,10.

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Schrift? Dann wird es dem Haufen all der Völker, die gegen Ariël kämpfen, gehen wie in einem Traum, einer nächtlichen Vision (Jes 29,7). 25. Erschreckendes und Entsetzliches ist heute auf Erden geschehen. Durch die verkehrte Ordnung der Dinge erhob sich nämlich der Mond über die Sonne und steht nicht in seiner Ordnung. Doch was sagt die Schrift? Die Sonne erhob sich, und der Mond stand in seiner Ordnung (Hab 3,11 vet. lat.a). Möge sich die Sonne erheben und wieder an ihren Platz gerufen werden, möge das Leben der Priester in seine Ordnung zurückkehren. Möge es geordnet sein, möge es diszipliniert sein; dann wird auch der Mond in seiner Ordnung (ebd.) stehen. Von da an wird das Leben der Untergebenen geordnet und diszipliniert sein, zufrieden mit seinen Grenzen. 26.  Was gehört sich mehr für die (durch die Priesterweihe) in ihre Ordnungb eingesetzten Priester, als dass sie geordnet leben? Wie groß ist der Missbrauch, sowohl bei den Taten wie bei den Namen, wenn jene, die als Geweihte bezeichnet wurden, sich als ungeordnet erweisen? Da der Prophet sagt: Der Mond wird in sei­ ner Ordnung stehen (vgl. Hab 3,11), bedeutet dies, dass der Mond, der geringer ist als die Sonne, eine Ordnung hat. Denn auch im Leben der Untergebenen wird die Ordnung der Disziplin verlangt, wie viel mehr dann im Leben der Vorsteher? Ihnen fällt es zu, alles geordnet zu tun und die Lebensweise der anderen durch ihr Urteil zu ordnen. Thron Gottes sind sie nämlich, auf ihnen thront Gott und fällt seine Urteile. Über diesen Thron spricht der Vater bezüglich des Sohnes mit den Worten: Sein Thron habe Be­ stand vor mir wie die Sonne (Ps 88,38). Und er fügt hinzu: …und wie der Mond, der auf ewig vollendet ist (ebd.). 27.  In dieser Ordnung wird Gott die Herrlichkeit der Gerechten vollenden. Der Thron Gottes wird bei den Vorstehern und Vollkommenen wie die Sonne sein, weitaus leuchtender als der Mond und weitaus erhabener; Der Mond aber wird bei den Vgl. Hieronymus, In Abacuc prophetam II, iii (CCSL 76A, 637). Balduin spielt hier und in den folgenden Sätzen mit der lateinischen Bezeichnung für Priesterweihe „Ordo“ und den anderen Bedeutungen desselben Wortes: Ordnung, Disziplin. a 

b 

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6. An die Priester, 24-27

Untergebenen und jetzt noch weniger Vollkommenen dann voll­ endet sein auf ewig (ebd.), doch vollendet in seiner Ordnung (Hab 3,11). Zu dieser Herrlichkeit führe uns Gott – einen jeden in sei­ ner Ordnung (ebd.). Ihm sei Lobpreis in Ewigkeit (Röm 9,5).

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Sermo 7 Der Gehorsam

Wahrhaftig, Gehorsam ist besser als Opfer, Hinhören besser als das Fett von Widdern. Denn Trotz ist ebenso eine Sünde wie die Wahrsagerei, Widerspenstigkeit ist ebenso wie der Frevel des Götzendienstes (1 Kön 15,22-23).

1.  Wie groß der Wert des Gehorsams ista und wie schlimm im Gegensatz dazu das Übel des Ungehorsams, prägt sich täglich unseren Sinnen ein, wird unseren Herzen nahegelegt, unseren Augen vorgelegt und unseren Ohren dargelegt, damit der Mensch nicht den Gehorsam übersehen kann, den er nicht geringschätzen darf. Alles im Himmel droben und auf der Erde unten (Dtn 4,39) wird durch das Gesetz des Gehorsams und durch Vollmacht regiert, es umarmt und bewahrt die Regel des auferlegten Gesetzes, wie geschrieben steht: Nach deiner Ordnung dauert der Tag, denn dir ist alles dienstbar (Ps 118,91). 2.  Des Schöpfers Wille nehmen auch jene wahr, die gar nicht wahrnehmen können; Jene, die nicht hören, hören seine Stimme (Joh 10,3); die nicht mit Vernunft begabt sind, befolgen vernünftig seine Winke und bewahren sie treu. Die Winde und das Meer gehorchen ihmb, ebenso Feuer und Hagel, Schnee und Eis, der Sturmwind, der sein Wort vollzieht (vgl. Ps 148,8). Gerecht ist es

a  b 

Vgl. Regel des heiligen Benedikt 71, 1 (SC 182, 668). Vgl. Mt 8,27.

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ja, dass jene sein Wort tun, die sein Wort gemacht hat, und alles seinen Willen tut, was sein Wille gemacht hata. 3. Allein das vernunftbegabte Geschöpf entzog sich diesem allgemeingültigen Gesetz; es schüttelte das Joch des Gehorsams von seinen Schultern ab und wies zurück, was alle übrigen Geschöpfe in einmütiger und unverletzlicher Hingabe bewahren. Beschämt wird daher der menschliche Stolz durch den Vergleich mit allen anderen Dingen, und die ganze Welt klagt das Vergehen unseres Ungehorsams an und verwirft ihn. Die ganze Schöpfung ruft gleichsam: „Schäme dich, Mensch, schäme dich, Mensch!“ 4b. Es ist bekannt, wie Jona nach Empfang des Auftrags, nach Ninive zu gehen und dessen Zerstörung in vierzig Tagen anzukündigen, vor diesem Auftrag davonlief und nach Joppe hinabging, weit weg vom Antlitz des Herrn. Dabei vergaß er das Wort des Propheten: Wohin könnte ich fliehen vor deinem Geist, wohin mich vor deinem Angesicht flüchten? (Ps 138,7). Als er dort ein Schiff bestiegen hatte, das nach Tarschisch fuhr und im Schiff schlief, erhob sich plötzlich ein gewaltiger Sturmc. Als er immer stärker wurde, beschlossen die Seeleute, das Los zu werfen. Da das Los auf Jona fiel, warf man ihn ins Meer, und ein Walfisch verschlang ihn. Der Herr befahl dem Walfisch, und er spie Jona aus. Endlich führte Jona durch die Gewalt der ihn bedrängenden Elemente das Gebot des Herrn aus. 5.  Ihr seht, wie alle Elemente hier ihrem Schöpfer bereitwillig Gehorsam leisten, außer Jona. Er befahl den Winden (Mt 8,26), das Meer aufzuwühlen; dem Meer, das Schiff und die Seeleute zu bedrängen – solange, bis sie das Los warfen – dem Los, dass Jona aus dem Schiff geworfen wurde; dem Walfisch danach, Jona zu verschlingen und wieder auszuspeien. Scheinen sie nicht alle Jona seinen Ungehorsam vorzuwerfen, ihn zu tadeln und gemeinsam zu schelten? „Schäme dich, Jona! Schäme dich, Jona!“ sprechen die Winde, „Schäme dich, Jona!“ spricht das Meer, „Schäme dich, Jona“, spricht das Los; „Schäme dich, Jona“ spricht der Walfisch. a  Leider kann das Wortspiel: „Alles macht sein Wort, was sein Wort gemacht hat“ im Deutschen nicht entsprechend übersetzt werden. b  Zu Abschnitt 4, vgl. Jon 1-3. c  Vgl. Apg 27,18.

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7. Der Gehorsam, 2-9

6. Auf diese Weise erheben sich alle Geschöpfe für den Willen des Schöpfers; sie beschämen unseren Ungehorsam und legen gegen uns Zeugnis ab. Dabei werden sie jedoch nicht nur Zeugen sein, sondern auch Rächer und Ankläger gemäß dem Wort: Kämpfen wird für ihn der Erdkreis gegen die Verblendeten! (Weish 5,21V) und ebenso: Denn die Schöpfung, die dir, ihrem Schöpfer, dient, wird zur Strafe gegen die Schuldigen wüten (Weis 16,24 und 5,23). Sie wird wüten, heißt es. Dabei klingt der übergroße Zorn an, gleichsam ein gewisser Eifer der Elemente, die das Unrecht gegen den Schöpfer rächen wollen. 7.  Daher kommt es, dass Himmel und Erde und was in ihnen ist als Zeugen gegen unseren Starrsinn von den Propheten angerufen werden. Von Mose: Hört zu, ihr Himmel, ich will reden, die Erde lausche meinen Worten (Dtn 32,1). Von Jesaja: Hört, ihr Himmel! Erde, horch auf! (Jes 1,2) und kurz danach: Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis (Jes 1,3). Von Jeremia: Selbst der Falke am Himmel kennt seine Zeiten; Turteltaube, Schwalbe und Storch halten die Frist ihrer Rückkehr ein; mein Volk aber kennt nicht die Rechtsordnung des Herrn (Jer 8,7). 8.  Freilich: Was Mensch oder Engel gegen Gott fehlten, war Schuld des Ungehorsams oder des Stolzes; und was dagegen als Strafe zu Recht von Gott gegen Menschen oder Engel verhängt wurde, war Ahndung und Strafe für Stolz oder Ungehorsam. Stolz ist es nämlich, was den aus dem Himmel gestürzten Engel zu ewiger Verbannung in die Dunkelheit verdammtea, während er sich anmaßend und unverschämt gegen Gott erhob und in ungeordneter Weise danach verlangte, dem Höchsten gleich zu sein. Derselbe Stolz verwickelte in der Folge den Menschen in die gleiche Schuld. Er ließ sich von dem, den Gott vorher hinausgeworfen hatte, zur Sünde anstiften, und Gott stürzte den Menschen in dieses Tal der Tränenb, in diesen Jammer der Verbannung. 9.  Dieser Stolz ist es auch, der Saul von Königsthron stürzte, als er sich gegenüber dem Wort des Herrn nicht als gehorsam era  b 

Vgl. Jes 14,12-14. Vgl. Ps 83,7.

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wiesa. Der Herr hatte ihm nämlich geboten, Amalek zu bekämpfen und keinen zu schonen, sondern Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel (1 Kön 15,3) zu töten. Als Saul jedoch gegen Amalek auszog, schonte er die fetten Herden und den mächtigen König Agag als starkes Zeichen und Beweis für den Sieg. Deshalb erging das Wort des Herrn an Samuel: Es reut mich, dass ich Saul zum König gemacht habe. Denn er hat sich von mir abgewandt und hat meine Befehle nicht ausge­ führt (1 Kön 15,10-11). 10.  Als Samuel nun zu Saul kam, sagte Saul zu ihm: Gesegnet seist du vom Herrn. Ich habe den Befehl des Herrn ausgeführt (1 Kön 15,13). Und Samuel erwiderte: Und was bedeutet dieses Blö­ ken von Schafen, das mir in die Ohren dringt, und das Gebrüll der Rinder, das ich da höre? Saul antwortete: Man hat sie aus Amalek mitgebracht (1 Kön 15,14-15), um sie unserem Gott zu opfern. Er wollte, wie es die allgemeine Gewohnheit der Sünder ist, auf die anderen abwälzen, dass man sie herbeigebracht hatte, und mit dieser Entschuldigung sein Unrecht bemänteln, dass man sie ja Gott opfern wollte. Samuel aber antwortete: Hat der Herr an Brand­ opfern und Schlachtopfern das gleiche Gefallen wie am Gehorsam gegenüber der Stimme des Herrn? Wahrhaftig, Gehorsam ist besser als Opfer, Hinhören besser als Fett (1 Kön 15,22) und so weiter. 11.  Doch sind das vielleicht nur die Opfer von Schafen und Herden, denen er den Gehorsam vorzog? Wer würde das glauben? Gering nur wäre die Empfehlung und eines so wunderbaren und lobwürdigen Gutes ganz unwürdig, wenn er den Gehorsam durch den Vergleich mit diesen Opfern empfehlen wollte, besonders, da sie Gott offenkundig verschmäht und zurückweist nach jenem Wort: Soll ich denn das Fleisch von Stieren essen und das Blut von Böcken trinken? (Ps 49,13) und: An Schlacht- und Speiseopfern hast du kein Gefallen (Ps 39,7); ebenso: Schlachtopfer willst du nicht (Ps 50,18). Daher werden wir mit Notwendigkeit zu den geistigen Opfergaben geschickt: vor allem wir, zu deren Belehrung dies ge-

a 

Vgl. 1 Kön 15,3.

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7. Der Gehorsam, 9-14

schrieben wurdea und für die bekanntlich nur geistige Opfer in Betracht kommen. 12. Gegenüber Saul, der den Gehorsam in seinem Urteil den fleischlichen Opfern hintansetzte, wird klar dargelegt, dass der Gehorsam besser sei. Für die Geisterfüllten aber, für die das Wirken des Geistes gedeutet wird, wird in einem tiefer verborgenen Geheimnis die Wahrheit geistlicher Erkenntnis mitgeteilt. Sie sind nämlich Könige, an die das Wort Gottes erging: Nun denn, ihr Könige, kommt zur Einsicht, erkennt es, ihr Richter der Erde! (Ps 2,10). Der geisterfüllte Mensch urteilt über alles, ihn aber vermag niemand zu beurteilen (1 Kor 2,15). Oder sind die nicht Könige, die vom Geist Gottes geleitet werdenb, die Söhne Gottes sind, die aus Gott geboren sind (Joh 1,13), die schließlich Söhne des Reiches sind? Ohne Zweifel sind sie Könige wie auch Gesalbte des Herrn, gesalbt mit heiligem Öl wie der König Saulc. 13.  Saul war nämlich im Guten, das er in sich trug und das er nach außen tat, das Urbild der Guten. Im Bösen jedoch das Urbild der Bösen. Doch wird dem Gesalbten des Herrn (1 Kön 24,7d) befohlen, Amalek zu schlagen, ein Volk, das Israel feind ist durch alteingesessenen Hass und langjährige Feindseligkeiten, das ihnen auch Widerstand geleistet hatte, als sie von Ägypten heraufgezogen warene. Wir brauchen nicht außerhalb von uns selbst danach zu suchen, wer dieser Amalek ist. In uns wohnt er nämlich. Zu ihm gehören die sinnenhaften und fleischlichen Regungen und Antriebe, die in uns sind. Der Sache und dem Namen nach leckt er Staub und hat Irdisches im Sinnf; sein Bereich ist das irdische Denken, das den um vieles besorgten Geist belastet (Weish 9,15). 14.  Feind ist dieses Volk für die Söhne Gottes, daher muss alles, was zu ihm gehört, vernichtet werden: auch das Kleinvieh und das Großvieh, damit in uns nichts bleibt, was irgendwie unvernünftig und töricht ist, nichts Tierisches oder Primitives. Nicht Vgl. 1 Kor 2,13. Vgl. Röm 8,14. c  Vgl. Ps 88,21; 1 Kön 10,1. d  Vgl. 1 Kön 15,3. e  Vgl. Ex 17,8-16. f  Vgl. Ps 71,9; Phil 3,19. a 

b 

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einmal der überaus mächtige König von Amalek darf verschont werden; sondern die Aufgeblasenheit des Starrsinnes und jede Form des herrschenden Stolzes soll gemäß dem Befehl getötet werden. Da Saul dies nicht tut, macht er sich des Ungehorsams schuldig; doch um nicht gehorchen zu müssen, schiebt er irgendeinen Grund vor. Wir wollen uns ausdenken, wenn es uns vielleicht gelingt, was Saul gedacht haben mag, um nicht zu gehorchen. Doch woher sollen wir uns das ausdenken, wenn es nicht aus den Worten der Schrift selbst mit Gottes Hilfe erschlossen werden könnte? 15. Als Saul von Samuel zurechtgewiesen war und seine Schuld bekannte, antwortete er: Ich habe gesündigt; ich habe mich vor dem Volk gefürchtet und auf seine Stimme gehört (1 Kön 15,24). Er gibt Furcht als Entschuldigungsgrund an, dass er nämlich durch Furcht dazu verleitet wurde, im Widerspruch gegen den Gehorsam zu gehorchen. Er hat es vorgezogen, Gott nicht zu gehorchen, um dem Volk zu gehorchen. Dem Volk zu gehorchen aber war er bereit, weil er sich fürchtete. Weswegen er jedoch das Volk fürchtete, darüber schweigt die Schrift. Was auch immer er gefürchtet hat, sei es das Murren oder den Abfall des Volkes, sei es eine Gefahr für sein Leben oder seine Ehre, sei es sonst etwas, er hat sich jedenfalls gefürchtet. Und er faselte sich in seinem Herzen vor, durch Ungehorsam das vermeiden zu können, was er fürchtete. 16.  Wer nämlich aus Furcht fehlt, sucht durch die Sünde zu vermeiden, was er fürchtet. Und indem er die Gefahr flieht, setzt er seine Hoffnung auf die Lügea und wählt in der Sünde eine Zufluchtsstätte zu seiner Befreiung. So wird er getäuscht und verdient, getäuscht zu werden. Denn was der Frevler fürchtet, kommt über ihn (Spr 10,24). Auch meinte Saul, den Herrn durch die Erstlinge aus der Beute von Amalek besänftigen oder ehren zu können. Und auch hier glaubte er – ähnlich wie ein Wahrsager oder Märchenerfinder – etwas, was er nicht wusste. Was hätte nämlich zur Anklage geführt, die Schuld des königlichen Ungehorsams

a 

Vgl. Jes 28,15.

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7. Der Gehorsam, 14-19

gleiche der Sünde der Wahrsagerei, wenn nicht etwas Ähnliches an ihm wäre? 17.  Deshalb kam Samuel, der Prophet des Herrn, zur Ansicht, Saul habe durch den Irrtum seines eigenen Urteils etwas angenommen, was er nicht wusste, und durch die böse Freiheit seines Eigenwillens sich etwas herausgenommen, was er nicht durfte, und er klagte ihn zugleich wegen seiner Torheit und seines Ungehorsams an. Torheit ist nämlich immer eine Begleiterin des Ungehorsams und weicht nie von seiner Seite. Um aufzuzeigen, wie groß die Schuld des Ungehorsams oder der Torheit war, zeigte Samuel zuerst, wie groß die Tugend des Gehorsams ist und empfahl sie mit besonderem Lob: sie sei allen Opfern vorzuziehen, nicht bloß den fleischlichen, sondern auch den geistigen, die durch die fleischlichen symbolisiert werden. 18.  Es gibt aber ein Opfer der Zucht. Sie baut unter einem heiligen Lehrer die Herrschaft im Menschen auf und ordnet sie, züchtigt und unterwirft das Fleischa, teilt dem Geist aber die Herrschaft zu: Kommen unerlaubte Regungen auf, so zerschmettert sie diese, die bereits entstandenen Gefühle verurteilt sie in gerechter und wachsamer Kontrolle. So bringt sie den Menschen, der durch die lang anhaltende Übung ständiger Zucht richtig geordnet ist, als wohlduftendes Ganzopfer dar. Zu diesem Opfer gehört das Opfer der Buße. Dieses Opfer empfiehlt der Prophet mit den Worten: Das Opfer für Gott ist ein zerknirschter Geist (Ps 50,19). Das ist wirklich ein lobwürdiges Opfer, und ohne dieses verlässt sich jeder vergeblich auf größere Opfer. 19.  Es gibt auch das andere Opfer der Barmherzigkeit, das der Herr selbst mit den Worten empfiehlt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer (Mt 9,13b). Daher will Gott Barmherzigkeit, wie er selbst über sich bezeugt, und fast nichts will er sosehr, fast nichts nimmt er lieber an als die Barmherzigkeit. Das kann man jedenfalls daraus leicht erkennen, dass zwar jede Tugend den Menschen zur Gerechtigkeit hinführt, diese jedoch wegen ihres hervorragenderen Verdienstes in besonderer Weise die allgemeine Bea  b 

Vgl. 1 Kor 9,27. Vgl. Hos 6,6.

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zeichnung Gerechtigkeit erlangt hat nach dem Wort: Er teilte aus und gab den Armen, seine Gerechtigkeit hat Bestand für immer (Ps 111,9). Und der Herr sagte im Evangelium, als er über das Almosengeben sprach: Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen (Mt 6,1). Über dieses Opfer wurde im Psalm gesagt: Bringt Opfer der Gerechtigkeit dar (Ps 4,6). 20.  Dieses Opfer wird durch das Fett dargestellt, wenn es heißt: Hinhören ist besser als das Fett von Widdern (1 Kön 15,22). Denn ohne dieses Fett ist alles, was als Buße für die Sünden auf sich genommen oder was an Seufzen und Tränen ausgegossen wird, mager und trocken, es gefällt Gott nicht. Von diesem Fett sollte das Herz voll sein, das ersehnte jener Beter glühend, der da sprach: Wie von Fett und Mark sei voll meine Seele! (Ps 62,6V). 21.  Es überstrahlt und übertrifft also dieses Opfer der Barmherzigkeit die Opfer der Buße, so als läge in ihm deren Kraft und Fett. Jene, –  die Buße  – ist dringender nötig zum Heil in dem Sinn, dass es ohne sie kein Heil geben kann. Diese – die Barmherzigkeit  – aber findet mächtiger und wirksamer Barmherzigkeita beim Gott der Barmherzigkeit. Über jene steht geschrieben: Wer nicht jeden Tag sein Kreuz trägt, der kann nicht mein Jünger sein (Lk 14,27 und 9,23). Wenn wir nicht mit ihm leiden, sagt der Apostel, werden wir auch nicht mit ihm herrschen (Röm 8,17; 2 Tim 2,12). Lernt Zucht, sagt der Prophet, damit der Herr nicht zürnt! (Ps 2,12V) und so weiter. 22.  Bei der Buße zieht man sich die ewige Verdammung zu, wenn man sie nicht ständig in Leib und Geist an sich trägt. Bei der Barmherzigkeit jedoch reicht es, wenn das Vermögen nicht ausreicht, mit dem Leidenden Mitleid gehabt zu haben. Auch der selige Paulus, der die Zucht so betonte, dass nach seinem Wort all jene keine Söhneb sind, die diese ausschließen, vergleicht die Barmherzigkeit mit der Zucht und sagt: Die körperliche Übung nützt nur wenig, die mitleidige Liebe aber ist nützlich zu allem: Ihr ist das gegenwärtige und das zukünftige Leben verheißen. (1 Tim 4,8). a  b 

Vgl. Mt 5,7. Vgl. Hebr 12,8.

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7. Der Gehorsam, 19-27

23.  Unter den Opfergaben muss man somit die Opfer um Christi Willen verstehen. Dass es in der Mehrzahl Opfer (1 Kön 15,22) heißt, kommt von der doppelten Buße her: der des Leibes und des Geistes. Mit dem Fett jedoch wird das Öl der Barmherzigkeit angedeutet. Denn Gehorsam ist besser als Opfer, Hinhören besser als Fett (ebd.). Der Gehorsam ist auch selbst das Opfer, von dem in den Psalmen geschrieben steht: Das Opfer des Lobes ehrt mich (Ps 49,23). Opfer des Lobes wird der Gehorsam genannt, weil er allein es versteht, Gott zu loben und zu ehren. 24.  Großes Verdienst haben, wie vorhin gezeigt wurde, die Opfer eines gezüchtigten Leibes und eines zerknirschten Geistesa. Doch kommt es manchmal vor, dass die Verkehrtheit einer falschen Absicht ihr Verdienst aushöhlt. Die meisten sehen die Anerkennung der Menschen als Lob für ihre Enthaltsamkeit anb, wie der Herr bezeugt: Sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten (Mt 6,16). 25.  Es gibt auch solche, bei denen die innere Buße etwas von begangener Schuld an sich hat, weil sie eine Einbuße des früheren Ruhmes, des Geldes oder eines irdischen Vorteils fürchten. Und um nicht lang nach einem Beispiel zu suchen, gibt Saul nach dem Bekenntnis seiner Sünde gleich in der Folge an, was ihn zu dieser Buße veranlasst habe. Zu den Worten: Ich habe gesündigt! fügte er nämlich sogleich hinzu: Erweise mir aber vor den Ältesten des Volkes Ehre (1 Kön 15,30). 26.  Barmherzigkeit und Frömmigkeit sind sehr verdienstvoll, wie geschrieben steht. Doch bei der Übung weiß manchmal die linke Hand, was die rechte tutc. Die Opfer aber, die mit diesem Ziel Gott dargebracht werden, werden von ihm nicht nur nicht angenommen, sondern sie sind ihm lästig und verhasst, und er schätzt sie ein wie die Opfer der Erstlinge von Amalek. 27.  Das Lob des Gehorsams aber steigt keinesfalls zu einem Vergleich mit solchen Opfern herab. Es wird diesen Opfern, selbst wenn diese mit einfachem Auge und reiner Absicht dargebracht Vgl. Ps 50,19. Vgl. Mt 6,2; 6,5 und 6,16. c  Vgl. Mt 6,3.

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werden, mit Recht vorgezogen. Um nämlich von der Buße zu schweigen, die – wie wir vorhin gezeigt haben – geringer ist als die Barmherzigkeit, hat die Barmherzigkeit Liebe, und zwar zum Nächsten. Wer fremde Nöte für seine eigenen hält, wer bei der Bedrängnis eines Armen von hilfsbereitem und werktätigem Mitleid ergriffen wird, hat offenkundig bereits die Nächstenliebe erlangt, wenngleich sie noch weit jener Vollkommenheit unterlegen ist, die der Gehorsam hat. 28a.  Der Gehorsam ist nämlich selbst der ständige Gefährte jener hervorragenden Liebe, die Gott gilt: immer steht er ihr bei, ja er besteht in ihr und führt alle – nicht bloß – Gebote, sondern auch Ratschläge Gottes hingebungsvoll und eifrig aus. Wenn je­ mand mich liebt, spricht der Herr, wird er an meinem Wort fest­ halten (Joh 14,23). Und kurz darauf: Wer mich nicht liebt, hält an meinen Worten nicht fest (Joh 14,24). Es liebt also Gott nur, wer den Worten Gottes gehorcht; und er kann nur dann vollkommenen Gehorsam haben, wenn er vollkommene Liebe hat. 29.  Oder genügt es für die Empfehlung des Gehorsams nicht, dass er der unzertrennliche Begleiter der Liebe ist und dass die Liebe ihn nicht auch nur einen Schritt von ihrer Seite weichen lässt? Die Liebe nimmt die Worte vom Mund Gottes entgegen, legt sie auf die Schultern des Gehorsams, wirkt mit ihm mit und trägt einen Teil der Last mit ihm; ja, was an ihm Last ist, wird durch die Tugend der Liebe nicht nur leichtb, sondern sogar beglückend und süß. Beglückend und angenehm ist diese Gemeinschaft: wie die Liebe den Gehorsam, so macht auch der Gehorsam die Liebe empfehlenswert. Denn keinesfalls kann jemand gehorchen, wenn er nicht liebt; und er versteht noch nicht zu lieben, wenn er das Gehorchen verweigert. 30  So groß ist das Verdienst des Gehorsams, dass ohne ihn weder Zucht noch Barmherzigkeit vor Gott Gnade findenc können. Denn nutzlos ist die Buße und unfruchtbar das Erbarmen, wenn einer durch sie nicht Gott gehorchen will. Zu Recht überVgl. zu diesem Abschnitt Balduin von Ford, Sermo 9, 39. Vgl. Mt 11,30. c  Vgl. Lk 1,30. a 

b 

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7. Der Gehorsam, 27-33

strahlt daher dieses Opfer die anderen Opfer, und ganz richtig wird gesagt, dass Gehorsam besser ist als Opfer, Hinhören besser als das Fett von Widdern (1 Kön 15,22). Er allein gibt ja der Liebe ihre Weihe und wird in der Liebe Gott geweiht, ja, ohne ihn kann nichts in würdiger Weise Gott geweiht werden. 31. Zu Recht haben wir gesagt, dass er als Opfer des Lobes (Ps 49,23) bezeichnet wird, da er allein, wie vorhin gesagt wurde, Gott zu loben und zu ehren versteht. In ihm hat das Lob jeglichen guten Werkes und seine ganze Tugendhaftigkeit Bestand. Obwohl wahre Barmherzigkeit nicht ohne Gehorsam sein kann, so empfiehlt dennoch der Gehorsam die Barmherzigkeit und nicht die Barmherzigkeit den Gehorsam: wie die Gottesliebe die Nächstenliebe empfiehlt und nicht die Nächstenliebe die Gottesliebe, obwohl es keine Nächstenliebe ohne Gottesliebe geben kanna. 32.  Doch was bedeutet es, dass es heißt: Gehorsam ist besser als Opfer mit der Hinzufügung: Hinhören besser als das Fett von Widdern? (1 Kön 15,22). Wiederholt er dabei nicht nutzlos, was er gesagt hatte, sodass gehorchen und hinhören ganz dasselbe sind? Irgendein Unterschied besteht: dazu zwingt uns die Unterscheidung der Wörter selbst. Gehorsam scheint nämlich mehr den Willen, Hinhören eher das Urteil und die Einsicht auszudrücken. 33.  So schuf Gott den Menschen und adelte ihn bei der Erschaffung mit einer zweifachen Ehreb: mit der Freiheit des Willens und der Würde des Urteilens: beim einen schuf er ihn als sein Bild, beim anderen als sein Abbildc. Diese doppelte Ehre bei der Erschaffung des Menschen hatte der Prophet vor Augen, wenn er sagte: Mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt (Ps 8,6) und so weiter. Und da Gott nichts tun wollte, ohne es sogleich in die Gesetze und gewissermaßen in die Klausur des Gehorsams einzuschließen, lehrte er, dass der eine von ihnen – das heißt, der Wille – der Vernunft gehorchen sollte, der Vernunft aber gab er sich selbst als Lehrer. a  Vgl. Augustinus, De uera religione XLVI, 88 (CCSL 32, 244); Bernhard von Clairvaux, Über die Gottesliebe 8, 25 (BCSW II, 115-117). b  Vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Gnade und den freien Willen 9, 28-30 (BCSW I, 213-217). c  Vgl. Gen 1,26-27.

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34.  So hat sich der menschliche Wille nach dem Beschluss seines Schöpfers in allem, wie es recht ist, nach dem Spruch der Vernunft zu richten: doch nur unter der Bedingung, dass die Vernunft nichts durchzusetzen versucht, was dem Willen Gottes widerspricht. Doch auch das widerspricht nicht den Regeln des Gehorsams. Das ist ja gerade die Regel des Gehorsams, dass ein Schüler, der dem Lehramt zweier Personen untersteht, nicht gehalten ist, das Gebot des Geringeren zu erfüllen, wenn es dem Gebot des Höheren widerspricht. 35.  Der Mensch, der somit von Gott mit doppelter Ehre wunderbar gekrönt wurde, muss Gott für die empfangenen Geschenke doppelte Ehre erweisen, so wie derselbe Prophet sagt: Bringt dar dem Herrn Ruhm und Ehre! (Ps 28,2V). Er muss nämlich seinen Willen dem Willen des Schöpfers und sein Urteil dessen Urteil unterstellen und unterwerfen. Und der Mensch hat sich unter diesem Schutz der empfangenen Ehren zu erfreuen, damit er in ihnen nicht seinen Schöpfer entehrt, wenn er etwas gottlos im Widerspruch zum Willen Gottes will oder über seine Urteile dumm und ungerecht denkt. Sonst –  falls er sich gegen den gütigen Schöpfer durch das erhebt, was er aus der Hand seiner Freigebigkeit empfangen hat – begeht er auf verabscheuungswürdige Weise die verwerfliche Beleidigung der Undankbarkeit. In der wunderbaren Ordnung der Gerichte Gottes geschieht dann Folgendes: Wer seinen Willen oder sein Urteil in unverschämter Weise über den Willen und das Urteil des Schöpfers setzt, erleidet mit Sicherheit bei seinen Versuchen den Verlust dieser Gaben. Da der Wille, der nicht so will, wie Gott will, keinesfalls heil, noch der Verstand, der nicht denkt und sinnt, wie Gott sinnt, unversehrt sein kann, kommt es so weit, dass beide sogleich verdorben und geschwächt werden in einem Menschen, der sich mit ihnen auf eine Kraftprobe gegen Gott einlässt. 36.  Blind werden daher die Vernunft und der Wille des Menschen mit Sicherheit, wenn sie von der höchsten Vernunft und dem höchsten Willen abfallen, von denen sie abstammen, und es verschmähen, sich erleuchten zu lassen. Es gibt ja nun gar nichts mehr, von dem sich der blinde Mensch führen lässt, dessen Füh­ rer erblindet (Mt 23,16) sind: der Wille, da er nicht von der Ver-

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7. Der Gehorsam, 34-39

nunft erhellt, und die Vernunft, weil sie nicht von Gott erleuchtet wird. Nun hat der Mensch nichts Heiles mehr, da sein Wille geschwächt und die Vernunft durch den Stolz verdorben ist. Trotzdem überhebt er sich immer noch, als wäre er gesund, obwohl von der Fußsohle bis zum Scheitel des Kopfes kein heiler Fleck an ihm ist (Jes 1,6V). 37.  Durch die Füße werden in der Heiligen Schrift die Willensantriebe symbolisiert – das ist wohl bekannt – wie zum Beispiel: Er behütet die Schritte seiner Frommen (1 Kön 2,9) oder: Er machte meine Füße schnell wie die der Hirsche (Ps 17,34). Mit dem Haupt aber, in dem der Sitz der Weisheit ist, wird die Vernunft bezeichnet. Es ist nicht bedeutungslos – so glauben wir – dass gesagt wurde: Bis zum Scheitel des Kopfes (Jes 1,6) und nicht: Bis zum Kopf. Unter dem Scheitel des Kopfes verstehen wir das Urteil der Vernunft, denn wie am Scheitel die Haare, so entspringen im Urteil der Vernunft die Gedanken und fließen hinunter. Daher ist von der Fußsohle bis zum Scheitel des Kopfes kein heiler Fleck (vgl. Jes 1,6V) an dem, der weder den Willen der Vernunft noch die Vernunft Gott unterwirft. 38.  Und doch missbrauchen die meisten Menschen die Wohltaten und Gaben Gottes und ziehen ihren Willen dem Willen Gottes vor. Sie lassen sich von ihren Sehnsüchten und Begierden leitena. Auch ihre Vernunft unterwerfen sie nicht bloß dem Urteil Gottes nicht, sondern benützen sie zum Unrecht gegen Gott und verwandeln sie in ein Anklageinstrument gegen die Urteile und Gebote Gottes. Da sie diese in vielfacher Weise angreifen, verdammen sie diese mit vielen Worten auf dem Thron ihrer Urteilssprüche, als wären sie an vielen Verbrechen schuld. Bald werfen sie ihnen vor, nutzlos, bald unehrenhaft, bald grausam zu sein. 39.  Daher kommen jene täglichen Verleumdungen gewisser Menschen, die das ganze kontemplative Leben für nutzlos erklären und ihre Sabbate verlachenb. „Was soll es“, sagen sie, „dass die Mönche den ganzen Tag und die ganze Nacht (Jes 62,6) beten und psallieren, als würde Gott ein ein- oder zweimal gesprochea  b 

Vgl. 2 Petr 3,3. Vgl. Klgl 1,7.

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nes Gebet nicht merken? Vielleicht ödet Gott ihr so unerträgliches Gemurmel sogar an? Oder was soll es, dass sie so viel in den Kreuzgängen nachsinnen?“ Daher verkünden sie den von ihnen gefällten Urteilsspruch: „Nutzlos“ – so sagen sie – „ist ihr ganzes Leben“, und nach einem Wort des Propheten, der solche Menschen schilt: Nutzlos ist, wer Gott dient (Mal 3,14V). 40.  Doch fällt der Prophet über sie sein Urteil mit den Worten: Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen (Jes 5,20). Denn sie klagen solche Menschen nicht nur wegen solcher Bestrebungen an, sondern billigen und empfehlen ganz und gar ihre eigenen Bestrebungen und ihr eigenes Sinnen. Sie haben nämlich einen Richter, der ihnen günstig gesinnt ist, – ihre Vernunft  – er gibt ihren Vorhaltungen leicht seine Zustimmung. Doch was der Prophet von ihrem Sinnen hält, wollen wir nun hören: Unsere Jahre werden im Nachsinnen wie ein Spinnengewebe! (Ps 89,9). Jedes derartige Nachsinnen ist das Werk einer Spinnea: das Weben sinnloser Netze; und was man mit diesem Mühen und Nachsinnen erreicht, sind Fliegen, Mücken oder Ähnliches. Was sonst üben die Kinder dieser Welt (Lk 16,8) als spinnenartiges Nachsinnen? Oder was sonst sind die Früchte ihres Nachsinnens außer Fliegen und Mücken? 41.  Das Leben der Kontemplativen aber, das sie tadeln, ist in sich selbst das Leben der Heiligen, das Leben der Engel, das Leben des Himmels. Was tun sie denn anderes, sowohl jene, die jetzt schon bei Christus sind, als auch jene, die in Zukunft bei ihm sein werden, nach dem Gericht, wenn Gott seine Braut krönt, als das Antlitz Gottes zu schauen, zu betrachten und einmütig Gott zu loben? Wohl denen, sagt der Prophet, die wohnen in deinem Haus, Herr, ewig werden sie dich loben (Ps 83,5). Doch wir wollen auch hören, was ein anderer Prophet sagt: Auf deine Mauern, Jerusa­ lem, stellte ich Wächter. Weder bei Tag noch bei Nacht dürfen sie schweigen. Ihr, die ihr an den Herrn denkt, schweigt nicht, und lasst ihm keine Ruhe! (Jes 62,6-7). Gott will nicht, dass man ihn in Ruhe lässt, er wünscht sich, aufdringlich angebettelt zu werdenb. a  b 

Vgl. Jes 59,5V. Vgl. Lk 11,5-8.

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7. Der Gehorsam, 39-44

42.  Wie eine junge Schwalbe sagt jemand, rufe ich, ich will nachsinnen und gurren wie eine Taube (Jes 38,14). Wenn eine junge Schwalbe mit geschwätziger Unverschämtheit ihre Mutter um Nahrung anbettelt, lässt sie diese nicht in Ruhe, bis sie etwas empfangen hat. Ich will nachsinnen und gurren wie eine Taube (Jes 38,14). Alles Nachsinnen der Taube ist Liebe und Einfachheit, und dass sie sich häufig ereifert, ist nicht ohne Milde und Liebe: Sie bereitet sich aus den Flügeln des Feindes eine Zufluchtsstätte. Daher rufen die Scharen der kontemplativen Heiligen wie eine junge Schwalbe, damit sich Gott wenigstens wegen der Aufdringlichkeit ihres Rufensa erhebt und ihnen gibt, was sie brauchen. Sie gurren aber beim Nachsinnen wie eine Taube, da sie mit allen ihren Kräften der Liebe Gottes ergeben sind. 43.  Es gibt auch viele, die in der Unbesonnenheit ihrer Vernunft darüber klagen, die Räte, die Gott gibt, seien unehrenhaft. So halten jene, die nach dem Augenschein urteilen, den Namen der um Christi willen angenommenen Armut für eine Schande und etwas Unehrenhaftes. Für diese Menschengruppe passt jener prophetische Fluch: Weh denen, die das Licht als Finsternis und die Finsternis als Licht darstellen! (Jes 5,20V). Mit Licht bezeichnet der Apostel die ehrenhaften Werke, mit Finsternis dagegen die unehrenhaften, wenn er sagt: Lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag (Röm 13,12-13). Sie stellen das Licht als Finster­ nis und die Finsternis als Licht dar (Jes 5,20), wenn sie in ihrem verkehrten Urteil das Ehrenhafte als unehrenhaft verurteilen. Im Gegensatz dazu schreiben sie dem Unehrenhaften – nämlich Ess- und Trinkgelagen, Albernheiten und den übrigen ähnlichen Werken der Finsternis – großen Reiz und große Ehre zu. 44.  Nach ihnen war das Leben und Verhalten des Sohnes Gottes unehrenhaft, der über das Maß jeglicher menschlichen Geduld hinaus, in verächtlicher Armut, in den Schmähungen der Beschimpfungen und zuletzt durch die Strafe des schändlichsten Todes sein Leben vollendete. Ja, tatsächlich ist ihnen das Kreuz

a 

Vgl. Lk 11,8.

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Christi ein Ärgernisa, das sie zwar bei der Person Christi selbst nicht verspotten, doch bei den Armen Christi verhöhnen. 45.  Ebenso gibt es solche –  wie oben gesagt  –, die die Räte Gottes als hart und grausam kritisieren. Um ihre Klagen in die Mitte zu stellen: „Ist das Wort nicht hartb, das uns den Rat gibt, Vater und Mutter sowie Brüder und Schwestern zu verlassenc? Ist es nicht hart, sich nur an den Willen eines anderen Menschen zu halten, auf seine Wünsche zu verzichten und den Reichtum gegen Armut einzutauschen?“ Vielen scheint all das grausam und unerträglich: nicht bloß solchen, die nichts von all dem angerührt haben, sondern auch sehr vielen unter denen, die das Joch des Herrn probeweise zu tragen versucht haben. 46.  Welch ein Wunder ist es dann, wenn ihnen jenes Joch zur Last wird, wenn sie sich weigern, dem Herrn zu glauben, der da sagt: Mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht (Mt 11,30). Denn es kann mir oder einem anderen, der wirklich glaubt, nicht eingeredet werden, dass sie dem Herrn glauben, der dies sagt. Würden sie nämlich glauben, so hätten sie auch verkostet, dass der Herr köstlich ist (Ps 33,9). Sie sind von der Wolke ihres Unglaubens blind gemacht worden, während sie den Herrn für unzuverlässig halten; und wie sie die Worte des Herrn einschätzen, so erfahren sie sie auch. Und ich glaube, es als sichere Wahrheit verkünden zu können, dass nicht nur bei ihnen, sondern fast bei allen Menschen, die zugrunde gehen, die Ursache für ihren Untergang im Unglauben gelegen hat. 47.  Würden sie nämlich glauben, dass das Joch des Herrn tatsächlich nicht drückt, wie es tatsächlich ist und vom Herrn zugesagt wurde, wie könnte es dann sein, dass nicht die ganze Menge um die Wette liefe, strömte, ja sogar flöge, um sich ihm zu unterstellen? Aber als ihr Glaube ist nicht nur das zu bezeichnen, was im Bekenntnis enthalten ist, da es auch den Glauben an die Sakramente, den Glauben an die Taten Gottes, auch den Glauben an seine Gebote und den Glauben gibt, in dem man glaubt, dass Vgl. Gal 5,11; 1 Kor 1,23. Vgl. Joh 6,61. c  Vgl. Mk 10,29; Mt 19,29. a 

b 

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7. Der Gehorsam, 44-49

Gott nichts Sinnloses, nichts Unehrenhaftes und nichts Bedrückendes gebietet. Und das ist nicht mein Wort, sondern das der Wahrheit selbst! Wenn jene, die zugrunde gehen, die Fülle und Unversehrtheit des Glaubens haben, wie kann dann das Wort des Herrn zutreffen, der da sagt: Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet werden? (Mk 16,16). Wir wollen jedoch mit dem Propheten glauben: Verlässlich sind all seine Gebote. Sie stehen fest für im­ mer und ewig, geschaffen in Wahrheit und Gerechtigkeit (Ps 110,8). Keineswegs hat sie uns Gott gegeben, um uns zu betrügen oder zu hintergehen, sondern sie sind geschaffen in Wahrheit (Ps 110,8), da er seinen Verheißungen treu ist, auch was uns betrifft; und geschaf­ fen in Gerechtigkeit (ebd.), was die Richtigkeit und Leichtigkeit der Gebote betrifft, beides jedoch um seinetwillen. 48.  Ich behaupte nicht, dass sich diese Leichtigkeit schon an der Schwelle jenen aufdrängt, die das Joch des Herrn auf sich nehmen, aber doch später, wenn sie geübt sind in der heiligen Disziplin mit Furcht, Sanftmut und Geduld, falls sie den Verheißungen Gottes Glauben geschenkt haben. Sie werden dann mit dem Psalmisten singen können: Der Herr ist treu in all seinen Worten (Ps 144,13). Ebenso: Wie köstlich ist deine Güte, Herr! (Ps 30,20). Dieses Wort bezeugt der Apostel, wenn er spricht: Jede Züchtigung scheint zwar für den Augenblick nicht Freude zu bringen, sondern Schmerz; später aber schenkt sie denen, die durch diese Schule ge­ gangen sind, als Frucht den Frieden und die Gerechtigkeit (Hebr 12,11). 49.  Etwas Ähnliches können wir im Kern der Mandelfrucht erkennen. Würde jemandem Unerfahrenen der Wohlgeschmack dieses Kernes empfohlen und ihm nachher die Mandel zu essen gegeben, würde er zuerst auf die äußerst bittere Fruchthülle stoßen und dann auf die überaus harte Schale. Erst so könnte er den verheißenen Wohlgeschmack finden. Ebenso drängt sich denen, die nach dem Wohlgeschmack des kontemplativen Lebens suchen, die verheißene köstliche Freude nicht sogleich auf, sondern sie stoßen zunächst auf die äußerst bittere Hülle der Reue über die früher begangenen Vergehen, dann auf die überaus harte Schale der eingefleischten Gewohnheit; wenn diese Beeinträchtigung jedoch schließlich zerbrochen und überwunden ist, wird sich der

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Seele, die treu und demütig suchta, schließlich die Köstlichkeit des Herrn zeigen und erschließen. 50. Doch der untreue Stolz und die stolze Untreue des menschlichen Verstandes, die das nicht erfahren hat, behauptet, das alles sei grausam. Sie scheut sich nicht, Gott, der das Gebot und den Rat gibt, der Grausamkeit anzuklagen. Keinen Unterschied macht es nämlich aus, ob du das Gebot schmähst oder den Gebieter. Es ist genau dasselbe, ob du das Gebot gottlos nennst oder den Gebieter als grausam verurteilst, was die Kränkung und Ehrenbeleidigung der Majestät des Gebieters betrifft. Auf die, die den Herrn als hart einschätzen im Widerspruch zum Ausspruch des Weisen: Denkt gut vom Herrn! (Weish 1,1V), trifft jener dritte Fluch zu: Weh denen, die das Köstliche bitter und das Bittere köst­ lich machen (Jes 5,20). Einen ganz verdorbenen Gaumen haben sie, da ihnen das Bittere bei ihren Genüssen schmeckt und das Köstliche an den Räten Gottes geschmacklos vorkommt. 51. Auf so viele Weisen –  und vielleicht auf noch andere mehr – tritt der menschliche Verstand in ein Streitgespräch mit der göttlichen Weisheit: Manche Räte Gottes verdammt und verwirft er durch den Stolz seines Urteils – wie gesagt wurde –, er verurteilt sie und weist sie zurück, andere nimmt er nicht ohne genaue Prüfung an. 52.  Ganz anders handelte Abraham, unser Vater im Glauben: Als er vom Herren den Auftrag empfangen hatte, Isaak, seinen Sohn, den er liebte, zu opfernb, hielt er es nicht für sicher, über den empfangenen Auftrag zunächst bei sich nachzudenken und zu grübeln, obwohl er ihm nach menschlicher Weisheit ganz sinnlos, unehrenhaft und grausam hätte scheinen können – dazu noch falsch, da er anscheinend ein Widerspruch zur in Isaak gegebenen Verheißung war – sondern er bemühte sich, den auferlegten Gehorsam ganz bereit und willig zu leisten – fast schneller noch als der Engel, der ihn daran hinderte. 53.  In Abraham wurde daher in besonderer Weise der Glaube empfohlen und wird bis zum heutigen Tag empfohlen. In seinem a  b 

Vgl. Klgl 3,25. Vgl. Gen 22.

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7. Der Gehorsam, 49-55

Glauben aber zeigt sich als besonders lobenswert und das wurde ihm zur größeren Gerechtigkeit angerechnet, dass er den Worten Gottes ohne Zögern zustimmte und sie nicht dem eigenen Urteil unterstellen wollte. Daher steht nicht geschrieben: Abraham glaubte an Gott, sondern Abraham glaubte Gott (Röm 4,3; Gen 15,6), das heißt, den Worten Gottes, wenn auch einer unmöglich an Gott glauben kann, ohne Gott zu glauben. Hingegeben an den Gehorsam eilte er, den empfangenen Auftrag schnell zu erfüllen, nicht stolz zu überprüfen gemäß jenem Wort eines weisen Mannes: Der Sklave soll bezüglich des Befehls seines Herrn nicht Schiedsrichter, sondern Diener sein (Seneca)a. 54.  In der Folge unseres Verses geht es weiter: Denn Trotz ist ebenso eine Sünde wie die Wahrsagerei, Widerspenstigkeit ist ebenso wie der Frevel des Götzendienstes (1 Kön 15,23). Trotz bezieht sich auf den Stolz des Verstandes, Widerspenstigkeit auf den Stolz des Willens. Wahrsagerei besteht darin, das Kommende durch Vorzeichen oder Weissagung im Voraus wissen zu wollen. Es ist ein bekanntes Laster des menschlichen Stolzes, die göttliche Vorsehung nachahmen zu wollen und das Wissen um die Zukunft für sich zu beanspruchen, indem man sich irgendeinen zukünftigen zeitlichen Vorteil verspricht, sodass man dem göttlichen Gebot nicht gehorcht. Doch da das menschliche Vorauswissen der Zukunft nicht so sehr als Wissen, sondern eher als Vermutung und falsche Annahme zu bezeichnen ist, weil die Ungerechtigkeit öfter gegen sich selber lügtb als dass sie Wahres verspricht, wird der Ungehorsam in diesem Satzteil zu Recht mit der Sünde der Wahrsagerei verglichen. 55.  Wenn die Weisen dieser Weltc Geld anhäufen und Münzen auf Münzen legen, als wollten sie für sich und ihre Erben besonnene Vorsorge für die Zukunft treffen, wie soll man das anders bezeichnen, als dass sie Wahrsagerei über die kommenden Zeiten treiben? Doch häufig täuschen sie sich in ihrer Wahrsagerei gemäß dem Wort: Er rafft zusammen und weiß nicht, wer es einheimst (Ps Seneca Rhetor, Controuersiae III, 9, 3. Vgl. Ps 26,12. c  Vgl. 1 Kor 2,6. a 

b 

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38,7). Und nach dem Urteilsspruch Gottes geschieht es solchen Wahrsagern häufig, dass das für den Erben angesammelte Geld in die Hände des Feindes gerät. 56.  Wahrsagerei übte auch jener, der da sprach: Ich steige weit über die Wolken hinauf, um dem Höchsten zu gleichen (Jes 14,14). Doch der unvorsichtige Wahrsager zauberte nicht gut, noch schaute er für sich in kluger Weise in die Zukunft. Indem er für sich einen Thron weit über den Wolken voraussah, verlor er den, den er hatte. Wahrsagerei betrieben auch jene, die sich verbündet haben gegen Christus, den Gesalbten (vgl. Ps 2,2a), und sprachen: Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben. Dann werden die Römer kommen und uns die heilige Stätte und das Volk nehmen (Joh 11,48). Doch die falschen und gottlosen Wahrsager verloren nach der Kreuzigung Jesu bereits die Stätte und das Volk. Wie wir nämlich obenb gesagt haben, kommt über den Frevler, was er fürchtet (Spr 10,24). Schließlich betreiben alle Söhne des Ungehorsams, wenn sie Gott durch den Ungehorsam trotzen, gleichsam Wahrsagerei in ihrem Herzen in der Annahme, sie könnten entweder durch den Ungehorsam erreichen, was sie wünschen, oder meiden, was sie fürchten. 57.  Widerspenstigkeit ist ebenso wie der Frevel des Götzendiens­ tes (1 Kön 15,23). Ein Götzenbild ist für den Menschen etwas, was er mehr als Gott verehrt oder liebt. Für die Söhne des Ungehorsams ist also ihr Willen der Götze, da sie seinen Regungen unter Verachtung des Willens Gottes folgen und das, was er anzuordnen weiß, wie etwas Heiliges anbeten. 58.  Nun ist einfach zu erwägen, wie groß das Übel des Ungehorsams ist, da er mit der Sünde der Wahrsagerei und dem Frevel des Götzendienstes verglichen wird, und wie groß im Gegensatz dazu das Verdienst des Gehorsams ist, der über alle Opfer erhoben wird. Und damit die Mühe des Gehorsams nicht abschreckt, erwägt, wie groß das ist, was der Gehorsam erlangt und verdient!

a  b 

Vgl. Apg 9,23 und 4,26. Vgl. Nr. 16.

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7. Der Gehorsam, 55-62

59a. Durch den Gehorsam erlangen wir vom Herrn, dass er alle unsere Wünsche erfüllt und alle unsere Bitten vollendet. Denn Gott und Menschen sprechen miteinander gleichsam auf gleicher Ebene. Wenn der Mensch zu Gott sagt: Höre meine Worte, Herr! (Ps 5,2), antwortet Gott in ähnlicher Weise: Neigt euer Ohr zu den Worten meines Mundes! (Ps 77,1). Es ist, als wollte Gott mit dem Menschen einen Bund schließen: „Höre meine Worte, und ich will deine Worte hören!“ 60. Wer also alle seine Wünsche insgesamt erfüllt sehen möchte, der verzichte auf seine Wünsche und umfange das Joch des Gehorsams. Dieser ist dann ohne jeden Zweifel Gott überaus angenehm, da er dem Menschen um Gottes willen geleistet wird. Seht, das ist der wunderbare, doch ganz sichere Weg, seinen Willen ganz zu haben: auf seinen Willen ganz zu verzichten! Groß ist also die Frucht des Gehorsams, der den Menschen gleichsam allmächtig macht, sodass der mit Gott durch den Gehorsam vereinte Wille in ihm alles vermagb. 61.  Endlich wird der Mensch nun zu seiner alten Würde zurückgerufen, dass ihm wie anfänglich Adam die ganze Schöpfung gehorcht nach dem Schriftwort: Die ganze Schöpfung wird nach ihrem anfänglichen Wesen neugestaltet werden; sie gehorcht deinen Befehlen (Weish 19,6), o Herr. Gott schuf alles um des Menschen willen und unterwarf das Geschaffene seinem Befehl, solange sich der Mensch Gott unterwerfen wollte. Doch als der Mensch Gott seinen Gehorsam entzog, entzog auch alles Übrige seinen Gehorsam dem Menschen. 62.  Der gütige und gnädige Gott beraubte ihn aber nicht unwiderruflich seiner alten Würde in der Weise, dass es ihm nicht mit Leichtigkeit frei stünde, wiederhergestellt, das heißt neu geschaffen zu werden, wenn er sich von Neuem deinen Geboten, Herr, unterwerfen will. Dem, der den Gehorsam wiederherstellt, wird das meiste sogar schon in der Gegenwart durch den Gehorsam wiederhergestellt! Daher steht von gewissen Gerechten geschrieben: Sie haben Löwen den Rachen gestopft, Feuersglut a  b 

Zu diesem Abschnitt vgl. Balduin von Ford, Sermo 2, 57. Vgl. Phil 4,13.

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gelöscht; sie sind scharfen Schwertern entgangen; sie sind stark ge­ worden, als sie schwach waren; und sie sind im Krieg zu Helden geworden (Hebr 11,33-34). 63.  Doch weil fast alle Kinder Adams unwillig über die heilige Zucht im Ungehorsam dem Vater gegenüber abtrünnig geworden sinda, kam der Sohn Gottes selber, um nicht nur durch seine Worte, sondern auch durch sein Beispiel den Gehorsam zu lehrenb. So sollte keiner unter irgendeinem Vorwand das Joch von sich zurückweisen können, das der Herr selbst vor dessen Augen auf sich genommen hatte. Auf die Frage, aus welchem Grund der Sohn Gottes in die Welt gekommen sei, war also folgender der ganze oder wenigstens der wichtigste Grund: um den Menschen, der durch Ungehorsam zu Fall gekommen war, durch den Gehorsam wiederherzustellen. 64.  Obwohl er nämlich dem Vater gleich und in nichts anders urteilen oder wollen konnte, als der Vater urteilte und wollte, sollte er dennoch die Regel des Gehorsams in einem neuen Kunstwerk den anderen überliefern: Er wollte Schüler werden, obgleich er Meister war, Sohn des Gehorsams, obgleich er Vater war, und Sklave, obgleich er der Herr war. Beides, nämlich Urteil und Willen, unterwarf er dem Vater in Demut, und er neigte sich vor ihm in Ehrfurcht. 65.  Er ist es nämlich, der im Psalm zum Vater spricht: An Schlacht- und Speiseopfern hast du kein Gefallen. Doch Ohren hast du mir eingepflanzt (Ps 39,7). Was sind diese Ohren, die ihm gegeben wurden, wie er sagt? Es sind jene Ohren, mit denen der Herr von Israel gehört werden wollte, wenn er sprach: Israel, würdest du doch auf mich hören! (Ps 80,9) und das Folgende. Es sind Ohren, die demütig auf die Gebote Gottes hören und ihnen hingebungsvoll gehorchen. Diese Ohren hat Gott der Vater Jesus Christus, seinem Sohn, eingepflanztc. Er selbst bezeugt es im Evangelium, wenn er sagt: Ich bin nicht herabgekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat (Joh 6,38). Vgl. Ps 13,2-3. Vgl. Bernhard von Clairvaux, 20. Predigt über das Hohelied 7 (BCSW V, 287-289). c  Vgl. dazu Balduin von Ford, Sermo 4, 38. a 

b 

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7. Der Gehorsam, 62-67

Und ebenso spricht er zum Vater: Nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen (Lk 22,42). Das bezieht sich auf die Demut des Willens. Auch sein Urteil demütigte er vor dem Vater, wie er selber sagt: Ich urteile, wie ich es höre (Joh 5,30). 66.  Im selben Psalm führt der Prophet in der Folge auch aus, was diese Ohren sind – als wollte er darlegen, was er gesagt hatte: Zu Beginn des Buches steht über mich geschrieben, dass ich dei­ nen Willen tue. Mein Gott, das wollte ich, deine Weisung trag‘ ich mitten im Herzen (Ps 39,8-9V). Dass ich deinen Willen tue (ebd.), heißt es: Dass sich das auf den Willen bezieht, steht außer Zweifel. Das Folgende: Deine Weisung trag‘ ich mitten im Herzen! (ebd.) bezieht sich auf den Verstand, dessen Kraft bekanntlich mitten im Herzen liegt. Und da behauptet wird, das stehe zu Beginn des Bu­ ches geschrieben (ebd.), wollen wir schauen, ob es dem Beginn des Buches entspricht: Wohl dem Mann, der nicht im Rat der Frevler sitzt… (Ps 1,1V), und das Folgende: …sondern dessen Wille an der Weisung des Herrn hängt, über seine Weisung nachsinnt bei Tag und bei Nacht (Ps 1,2). Dessen Wille an der Weisung des Herrn hängt (ebd.), sieh, das ist die Demut des Willens; …über seine Wei­ sung nachsinnt bei Tag und bei Nacht (ebd.), sieh, hier wird der Gehorsam des Verstandes angedeutet, denn das Nachsinnen entspringt der Fähigkeit des Verstandes und des Urteilsvermögens. 67.  So kam der Sohn Gottes, um ein Sohn des Gehorsams zu werden und den ganzen Gehorsam nicht nur zu lehren, sondern auch zu erfüllen: er wurde dem Vater gehorsam bis zum Tod (Phil 2,8). Doch wird es geschehen, dass er, der gekommen war, um den Gehorsam zu lehren und zu erfüllena, kommen wird, um den Ungehorsam zu richten und zu bestrafen, entsprechend jenem Psalmwort: Unser Gott kommt sichtbar, und er schweigt nicht (Ps 49,3). Sichtbar heißt es: jetzt kommt er nämlich in Niedrigkeit, verborgen in der angenommenen Menschennatur. Dann aber wird er in großer Macht und in der Herrlichkeit der verklärten Menschennatur zu sehen seinb. Kundtun wird sich nämlich der Herr: Er hält sein Gericht (Ps 9,17). Und er schweigt nicht (Ps 49,3). a  b 

Vgl. Apg 1,1. Vgl. Mt 24,30.

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68.  Jetzt schwieg er nämlicha als der, der gekommen war, um gerichtet zu werden, nicht zu richten. Und als er über die Dinge, die ihm vorgeworfen wurden, vom Vorsitzenden befragt wurdeb, wurde er wie einer, der nicht mehr hören kann (Ps 37,15) und wie ein Lamm, das verstummt, wenn man es schert, so tat er seinen Mund nicht auf (Apg 8,32; Jes 53,7). Doch dann wird er nicht schweigen, sondern reden, wie es zu Beginn jenes Psalmes gesagt wurde: Der Gott der Götter, der Herr, spricht, er ruft der Erde zu (Ps 49,1) und weiter unten: Dem Himmel droben und der Erde ruft er zu, er werde sein Volk nun richten (Ps 49,4). Und was redet er? Er wird sagen: Versammelt mir all meine Frommen, die den Bund mit mir schlossen beim Opfer (Ps 49,5). 69.  Erwägen wir also die Gerichtsworte (Ps 111,5), die der Herr gleichsam zu Himmel, Erde und den übrigen Geschöpfen reden wird. Denn alle Geschöpfe werden sich beim Gericht erheben und dieses Geschlecht der Ungehorsamen richten. Es wird nach jener Gerichtsordnung geschehen, nach der die Bewohner von Ninive und die Königin des Südens beim Gericht die Juden richten werden, wie der Herr bezeugtc. „Ihr Elemente“, wird er sagen, „legt für mich Zeugnis ab gegen die, die nicht auf mich gehört haben!“ Auf das Wort des Richters hin werden sie alle sprechen und vor allen auf ihren Gehorsam hinweisen, sodass der stolze Ungehorsam des Menschen beschämt und zuschanden wird. 70.  Die Himmel werden seine Gerechtigkeit künden (Ps 49,6): „Wir sind auf dein Wort hin geschaffen worden ‚mitten im Was­ ser‘ und bis jetzt ‚scheiden wir Wasser von Wasser‘ (Gen 1,6). Auch in allem anderen, was uns aufgetragen wurde, haben wir demütig gehorcht.“ „Auch ich“, wird die Erde sprechen, „habe auf dein Wort hin ‚junges Grün wachsen lassen, alle Arten von Pflanzen, die Samen tragen, und von Bäumen, die auf der Erde Früchte brin­ gen je nach ihrer Eigenart, und Pflanzen, um den Menschen zu dienen‘“ (vgl. Gen 1,11; Ps 103,14). „Ich dagegen“ wird die Sonne sprechen, „habe den Gehorsam des mir aufgetragenen Dienstes Vgl. Joh 12,47. Vgl. Mk 14,60; Mt 27,11. c  Vgl. Mt 12,41-42. a 

b 

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7. Der Gehorsam, 68-73

durch ständigen Kreislauf geleistet, indem ich Nacht und Tag hervorbrachte. Sogar dann, als mir befohlen wurde, im Gegensatz zu Ordnung und Gesetz meines Laufes stehen zu bleibena, habe ich zugestimmt.“ 71.  Und um es nicht lang zu machen: Wenn die Einzelnen bezeugt haben, dass sie ihren Gehorsam vollkommen geleistet hatten, wird der Richter zu sprechen beginnen: „Auch ich habe die Grenzen des Gehorsams nicht überschritten: nicht bloß, dass ich bei der Menschwerdung den Willen des Vaters erfüllte, nicht den meinenb, sondern auch dann, als Josua, mein Diener, der Sonne befahl, stehenzubleiben, habe ich, der Herr, auf die Stimme eines Menschen gehört (vgl. Jos 10,14), indem ich den Auftrag annahm, der ohne mein Wirken nicht erfüllt werden konnte. Auch den Gebeten meiner Heiligen und ihren gerechten Wünschen habe ich gehorcht. Bis zum heutigen Tag stehe ich denen bei, die zu mir sprechen, und erfülle ich den Willen derer, die mich fürchtenc.“ 72.  Wie groß wird dann die Beschämung des ungehorsamen Menschen sein, wenn der Gehorsam der empfindungslosen Dinge deutlich wird? Und wie groß wird die Schande des ungehorsamen Knechtes sein, wenn der Herr der Herrlichkeit selbst bekennen wird, dass er Gehorsam geleistet hat? Glaubst du, dass die Weltleute und solche, die sich außerhalb der Gehorsamsverpflichtung stellen, auch dann das Leben der Gehorsamen, das heißt, der Beschaulichen, für verrückt halten werden? Vielleicht wird ihr Urteilsspruch dann milder ausfallen und die Deutung von deren Leben gütiger, wenn sie sprechen werden: Wir Toren, ihr Leben hielten wir für Wahnsinn. Und jetzt zählen sie zu den Söhnen Got­ tes, bei den Heiligen haben sie ihr Erbteil (Weish 5,4-5). 73.  Was sie betrifft, wird der Richter bei der Verkündigung des Urteils, dass alle Geschöpfe ihre Wut an ihnen austoben sollen, um sie zu quälend, befehlen, seine Heiligen zu versammeln, die den Bund mit ihm schlossen beim Opfer (Ps 49,5). Weiter obene Vgl. Gen 1,14-18; Jos 10,12-13. Vgl. Joh 5,30 und 6,38. c  Vgl. Ps 144,19. d  Vgl. Weis 16,24. e  Abschnitte 18 bis 23. a 

b 

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haben wir gesagt, dass es drei Opfer gäbe: die Buße des Fleisches in heiliger Zucht, Barmherzigkeit im Mitleiden mit dem Nächsten und Gehorsam in der Liebe zu Gott. Über diese Opfer ist das Zeugnis Gottes zu stellen, dass alle Bedrängnis des Fleisches, alles Verdienst der Barmherzigkeit und alle Mühe des Gehorsams nicht ins Gewicht fallen, ja als nichts gelten im Vergleich mit dem Zeugnis Gottes, das heißt, mit dem uns von Gott verheißenen Erbe. Das Zeugnis Gottes stellte jener Apostel in der rechten Rangordnung über die Opfer, der da sprach: Die Leiden der gegenwärtigen Zeit bedeuten nichts im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll (Röm 8,18). Und ebenso steht geschrieben: Wenn ihr alles Gute getan habt, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Sklaven! (Lk 17,10; vgl. auch Lk 6,33). 74.  Möge unser himmlischer Vater auch bei uns die Ohren vollendena, damit wir ihm in demütigem Gehorsam, der über die anderen Opfer gehtb, allen Stolz unsres Verstandes und Willens darbringen und das Zeugnis Gottes vernehmen, das über alle Opfer geht! Das gewähre uns sein Sohn, Jesus Christus, unser Herr. Ihm sei Lobpreis in Ewigkeit. Amen (Röm 9,5).

a  b 

Vgl. Ps 39,7. Vgl. Ps 49,5.

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Sermo 8 Predigt über das heilige Kreuz

1. Kommt herbei, ihr Völkerscharen, um über das Schauspiel der göttlichen Macht zu staunen! Hier vollendet sich das Geheimnis unseres Heils, hier wird der Tod vom Leben besiegt, hier wird die Schande des Kreuzes in Herrlichkeit verwandelt. Kommt und schaut diese große Erscheinung (Ps 45,9 und Ex 3,3): Das Leben, das am Holze hängt, den Herrn der Herrlichkeit, der die Qual des Kreuzes aushälta, ohne auf die Schande zu achten (Hebr 12,2). Blickt aufmerksam auf Jesus von Nazareth, und zwar als den Ge­ kreuzigten (1 Kor 2,2), der sich für uns ereifertb, der sich in seinem Herzen nach uns sehntc, der die Arme ausbreitet, als wollte er uns umarmen, der bereit ist, jeden Menschen aufzunehmen, der zu ihm kommt. Er sagt nämlich: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen (Joh 6,37). 2.  Seht, unser Gott wollte für uns festgenommen, gegeißelt und angespuckt, verhöhnt und gelästert, Schlägen und Ohrfeigen ausgeliefert, mit Leid gesättigt, mit Unrecht und Schande heimgesucht werden. Seht, unser Gott ließ sich dazu herab, für uns mit Dornen gekrönt, mit Nägeln angeheftet und mit einer Lanze durchbohrt, mit Essig getränkt und so schließlich durch das Martyrium vollendet zu werden. Wozu das alles, wenn nicht, um uns, die wir Kreuz und Tod verdient haben, in sich umzugeVgl. Dtn 21,23; Gal 3,13; 1 Kor 2,8. Vgl. 3 Kön 19,10. c  Vgl. Phil 1,8. a 

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stalten, indem er für uns das Kreuz und den Tod auf sich nahm? Wozu wollte er erleiden, was wir verdient hatten, wenn nicht, um uns bei seiner Auferstehung von den Toten sich gleich zu gestalten und von der geschuldeten Verdammung durch seinen unschuldigen Tod zu erlösen? 3. Das Kreuz, an dem gewöhnlich Schuldige bestraft und Räuber gerichtet werden, verwandelte sich in ein Zeichen des Heils und das Geheimnis der Erlösung, in ein Feldzeichen, eine Siegestrophäe und ein Unterpfand des Triumphes, ein Zeichen für Sicherheit und eine Garantie der Befreiung, eine Zufluchtsstätte für die Elenden und eine Waffe zur Verteidigung, eine Qual für die Dämonen, ein Hindernis für den Unglauben und ein Vorbild für die Gläubigen. 4.  Das Kreuz, die schändlichste Hinrichtungsart und ein Anziehungspunkt für Gaffer, der Untergang in gleicher Weise für die Ehre und das Leben, teilt uns in einem glückseligen Tausch für die Schande Herrlichkeit zu und für den Tod das Leben. Schande und Tod waren die ersten Früchte dieses Baumes, denen nach ihrem Abfallen köstliche Früchte der Ehre (Sir 24,23) und des Lebens auf wunderbare Weise nachwuchsen. Nach diesen Früchten griff jene Frau, die im Hohen Lied sagt: Ich will auf eine Palme steigen und nach ihren Früchten greifen (Hld 7,8V). Was ist denn mit dieser Palme anderes gemeint als das siegreiche Kreuz? Durch dieses sind ja die Welt und ihr Fürsta besiegt worden; durch dieses ist der Tod zerstört und der, der Macht über den Tod hatte, mit ewiger Schande zugrunde gerichtet worden. Durch dieses hob Christus Beschämung und Tod auf (vgl. Kol 2,14); durch dieses griff er nach Herrlichkeit und Unsterblichkeit: er erhielt sie für sich und teilte sie uns mit. 5.  Das Kreuz, zur Zeit des Leidens Christi Schmach (Hebr 11,26), das Schauspiel der Dämonen, das Lästermal der Juden, der Spott der Völker, wurde nun erhoben als Zierde und Ehre (Jes 4,2); es wurde zur gläubigen Verehrung glorreich in die Kirchen gestellt, an öffentlichen Plätzen hoch aufgerichtet und allen vor Augen gestellt, damit sie es ständig sehen, ständig bedenken, a 

Vgl. Joh 16,33 und 12,21.

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8. Predigt über das heilige Kreuz, 2-8

ständig anbeten. Was zur Schande gereichte, wurde gewandelt zur Herrlichkeit. Es beten jetzt Kaiser dort an, wo Räuber gehenkt wurden. Es beten Gerechte dort an, wo die Bösen litten. Die Hinrichtung der Ungerechtigkeit wurde zur Erlösung des Sünders. Vor dem Kreuz wird sich jedes Knie beugena; vor dem Kreuz bekennt jede Stimme Christus. 6. Hier ist der Thron der Gnade, hier die Quelle der Barmherzigkeit. Hier ist die Stätte der Begnadigung; hier werden die Herzen getroffen, Verbrechen aufgedeckt und vergeben. Hier werden Bitten und Gebete dargebracht, hier Seufzer des Herzens und Stöhnen ausgestoßen, hier wird das Schluchzen der leidenden Seele laut. Hier werden Gelübde ausgesprochen, leidvolle Bedrängnisse und gefährliche Versuchungen vorgebracht. Kommt her, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt (Mt 11,28), alle, die ihr gesündigt habt und auf die Gnade Gottes angewiesen seid. Die Barmherzigkeit Gottes ist euch öffentlich vor Augenb gestellt; die Gnade des Erlösers wurde den Blicken aller Völkerc enthüllt. Erkennt die Nützlichkeit des Kreuzes, erkennt seine Kraft und Würde! 7.  Das Kreuz ist die Herrschaft Christi, die auf seinen Schul­ tern liegt (Jes 9,6), das Zepter des Reiches, die Stiege zum Himmel, der Schlüssel zum Paradies. Das Kreuz ist ein Stich für die Hölle, eine Qual für den Teufel, die Öffnung von verschlossenen Toren und Befreiung für die Gefangenen. Das Kreuz ist die Überwindung der Sünde, das Zerreißen des Schuldscheines, der gegen uns sprachd, der Untergang des Todes, die Wiederherstellung der Freiheit. Das Kreuz erneuert alles, was im Himmel und auf Erden iste, es versöhnt die Welt, ist Friede für die Menschen und Freude für die Engel. 8.  Das Kreuz ist das Ende des Elends, der Grenzstein des Exils, das Maß dieser unserer Bedrängnis, der Abschluss der Pilgerschaft. Das Kreuz ist Zuversicht für den Sünder, Aufrichtung Vgl. Phil 2,10-11. Vgl. Ps 25,3. c  Vgl. Ps 97,2. d  Vgl. Kol 2,14. e  Vgl. Eph 1,10. a 

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für den Gefallenen, Fortschritt für die Anfänger, Vollendung der Vollkommenen. Das Kreuz ist Aufrichtung des Glaubens, Regel der Zucht, Strafe der Gerechtigkeit, Strenge der Disziplin. Das Kreuz ist Abtötung für das Fleisch, Züchtigung für den Leib, Kennzeichen des christlichen Kriegsdienstes, Wundmal Christi an seinem Leib. Das Kreuz ist Gnade für die Armen, Beschämung für die Reichen, Kraft für die Kämpfer, Schande für die Fliehenden. Das Kreuz ist Glaubenszeugnis an der Stirn, Schutz des Herzens in der Brust, eine starke Waffe gegen die Anschläge des Versuchers. Das Kreuz mäßigt die Gefühle des Herzens, kühlt die Hitze der Versuchungen, erleichtert das Gewicht der Bedrängnis, verachtet das Wüten der Verfolgung. Das Kreuz ist Bestärkung des Glaubens, Grundlage der Hoffnung, Ansporn für die Liebe, Beispiel für die Nachahmung. Das Kreuz ist Ursprung der Tugenden, Auslöschung der Laster, Abschaffung des Alten und Erneuerung des Althergebrachten. Das Kreuz ist der Richterstuhl, die Waage der Gerechtigkeit, das Gewicht der Verdienste, die Verteilung der Belohnungen. Das Kreuz ist das Mahl Salomos, der purpurne Sitza, die Ruhestätte der Frömmigkeit, die gnadenvolle Erhörung. Das Kreuz ist die Erfüllung des Gesetzesb, die Vorschrift des Evangeliums, die Erklärung der Vorzeichen, die Darbietung der Wahrheit. 9.  Die Kraft des Kreuzes wird in alten Wundern dargestellt und durch Vorzeichen vorgebildet; wenn das Alte mit dem Neuen verglichen wird, wird es tiefer gedacht, klarer erkannt und höher geschätzt. 10.  Es ist der Stab des Mose, der – auf Gottes Geheiß zu Boden geworfen – zu einer Schlange wurde. Der Stab, das Symbol königlicher Macht, bringt natürlich die Vollmacht Christi und die Kraft Gottes zum Ausdruck, von der der Apostel sagt: Das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit; denen aber, die gerettet werden – und das sind wir – ist es Gottes Kraft (1 Kor 1,18). Die Kraft des Kreuzes ist nämlich die im Geheimnis verbor-

a  b 

Vgl. Hld 3,10. Vgl. Röm 13,10.

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8. Predigt über das heilige Kreuz, 8-13

gene Kraft Gottesa, wie geschrieben steht: Licht geht von seinen Händen aus, in ihm verbirgt sich seine Macht. Der Tod zieht vor ihm her, der Teufel geht vor seinen Schritten einher (Hab 3,4-5V). 11.  Denen, die durch das Wort vom Kreuz gerettet werden, ist das Kreuz selber das Zepter der Herrschaft (Ps 44,7), der Stab dei­ ner Macht, Gott, der du die Demütigen leitest nach deinem Recht (Ps 24,9). Denen aber, die verloren gehen, verwandelt sich der Stab in eine Schlange. Ihnen ist das Kreuz ein Anstoß, durch den sie zu Fall kommen (Lk 2,34). Christus ist nämlich durch die Demut des Kreuzes dazu bestimmt, dass viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem wider­ sprochen wird (ebd.). Auch den Urheber des Todes selbst bringt das Kreuz zu Fall, da dieses für ihn das bedeutet, was er selbst für den Menschen bedeutet: das heißt: Schlange für die Schlange und Tod für den Tod. 12. Wenn aber die Weisen und Beschwörungspriester des Pharao durch ägyptische Zauberkunst und Beschwörungen (Ex 7,11) Stäbe in Schlangen verwandeln, höhlt das etwa das Geheimnis des Kreuzes aus?b Keineswegs! Es steht nämlich geschrieben: Aarons Stab verschlang die Stäbe der Wahrsager (Ex 7,12). Die Macht Christi für die Guten gegen die Bösen ist stärker als die Macht der Bösen gegen die Guten. Das ist nämlich das Törichte an Gott, das weiser ist als die Menschen, und das Schwache an Gott, das stärker ist als die Menschen (1 Kor 1,25). 13.  Wenn böse Menschen durch ihre Zauberbeschwörungen und Pläne die Fürsten dieser Welt zum Hass gegen Christus und die Kirche aufhetzen, dann sind sie die Weisen und Beschwörungspriester des Pharao. Wenn ein irdischer Fürst das Zepter seiner Macht zum Hochmut missbraucht und gegen die Kirche wütet, ist das dann nicht der Stab, der sich in eine Schlange verwandelt? Haben nicht jene durch Zauberkunst und Beschwörun­ gen (Ex 7,11) den Herrscherstab in eine Schlange verwandelt, auf deren Rat sich Rehabeam stützte, als er zu dem ihm untergebenen

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Vgl. 1 Kor 2,7. Vgl. Gal 5,11; 1 Kor 1,17.

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Volk sagte: Mein Vater hat euch mit Peitschen gezüchtigt, ich werde euch mit Skorpionen züchtigen (3 Kön 12,11)? 14.  Wenn aber die Mächtigen und Weisen dieser Welt verschlagen und schlau sind wie die Schlangen, so ist die Macht und Weisheit Jesu von Nazareth, des Gekreuzigten, noch größer. Durch die Kraft des Kreuzes reißt er alle hohen Gedankengebäude nieder, die sich gegen die Erkenntnis Gottes auftürmen (2 Kor 10,5), er zügelt alle Bosheit und beschämt alle Weisheit dieser Welt. Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ih­ rer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloss Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Verkündigung zu retten (1 Kor 1,21). Doch worin besteht die Torheit der Verkündigung außer darin, dass das Wort vom Kreuz denen, die verlorengehen, Torheit ist? (1 Kor 1,18). Doch durch sie wird die Welt gerettet, durch sie wird alle Bosheit der hinterhältigen Schlange überwunden, mit der Hilfe dessen, der da spricht: Seht, ich habe euch die Vollmacht gegeben, auf Schlangen und Skorpione zu treten und die ganze Macht des Feindes zu überwinden (Lk 10,19). 15.  Durch den Stab des Mose und Aaron wird Ägypten geschlagen; durch das Kreuz Christi, der unser Gesetzgeber (Jes 33,22) und Priester ist, wird diese Welt gerichtet. Jenes wird durch zehn Plagen heimgesucht; diese für die Übertretung der zehn Gebote mit Strafen belegt. Durch den Stab des Mose wird das Wasser des Stromes in Blut verwandelta; durch das Kreuz Christi das Wasser, nicht das Wasser heilbringender Einsichtb, sondern das fleischliche Wasser, zum Todesurteil gewandelt. Es steht nämlich geschrieben: Die Klugheit des Fleisches führt zum Tod (Röm 8,6V). 16.  Durch den Stab des Aaron stiegen Frösche herauf und be­ deckten ganz Ägypten (Ex 8,6V). Durch die Verkündigung vom Kreuz stiegen unruhige Gedanken auf, schwatzhafte Stimmen, die dem Geheimnis des Kreuzes widersprachen. Offenbar wurden nämlich die Gedanken vieler Menschen (Lk 2,35). Fluten erhoben sich, Herr, Fluten erhoben ihr Brausen, Fluten erhoben ihr Tosen, gewaltig war das Tosen vieler Wasser (Ps 92,3-4). Hervorgeströmt a  b 

Vgl. Ex 7,20. Vgl. Sir 15,3.

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8. Predigt über das heilige Kreuz, 13-19

sind die Lehren der Philosophen, die Irrtümer der Irrlehrer, herausgekommen sind grausame Beschlüsse der Fürsten; doch durch die siegreiche Kraft des Kreuzes haben die ungerechten Machenschaften ihren Urhebern selbst Schaden zugefügt, und sie konnten den Plan Gottes nicht vereiteln. 17.  Durch den Stab des Aaron verwandelte sich der Staub der Erde in Ungeziefera; durch das Kreuz Christi werden irdische Gedanken zu Anreizen für ein schlechtes Gewissen verwandelt. Große Fliegenschwärme kamen in das Haus des Pharao (Ex 8,24V). Alles Vieh der Ägypter ging ein (Ex 9,6). Da bildeten sich an Mensch und Vieh Geschwüre mit aufplatzenden Blasen (Ex 9,10). Hagel zerschlug alles, was auf den Äckern stand (Ex 9,25V). Heuschrecken bedeckten die Oberfläche des ganzen Landes und verwüsteten alles (Ex 10,15V). Tiefe Finsternis breitete sich über ganz Ägypten aus (Ex 10,22). Jede Erstgeburt wurde erschlagen. Mit diesen Zeichen und Wundertaten verherrlichte sich der Stab des Mose und Aaron in Ägypten. Auf ähnliche Weise – wenn wir Geistliches mit Geistlichemb vergleichen  – wurde das Kreuz Christi in der Welt erhöht. 18.  Seht ihr jetzt, wie der erhobene Herrscherstab die einen richtet, die anderen befreit? Das ist die Gestalt des Kreuzes, die die einen empört, die anderen erlöst. Ziehen wir aus Ägypten aus, kommen wir ans rote Meer! Bei der Erhebung des Stabes sollen sich die Wasser teilen, die Befreiten durchschreiten, die Ägypter versinkenc! Durch die Erhöhung des Kreuzes im Wasser der Taufe mögen die Bösen versinken und die Befreiten entkommen. Die Ägypter sollen ins Wasser hinabsteigen; die Söhne Israels aus dem Wasser heraufsteigen. Teilen mögen sich die Wasser der Versuchungen; in den Fluten der Bedrängnisse die Verlorenen untergehen; wer aber zu den Söhnen Israels gehört, trockenen Fußes und unverletzt hindurchschreiten. 19.  Die Kraft des Kreuzes leuchtet durch die Vielzahl der Zeichen noch herrlicher auf. Nach dem Durchzug durchs Rote Vgl. Ex 8,17. Vgl. 1 Kor 2,13. c  Vgl. Ex 14,16-31. a 

b 

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Meer gelangt man nach Maraa. Sie konnten das Wasser von Mara nicht trinken, weil es bitter war (Ex 15,23). Der Herr zeigte Mose ein Stück Holz. Als er es ins Wasser warf, wurde das Wasser süß (Ex 15,25). Erkennt auch hier das Geheimnis des Kreuzes! Die bitteren Wasser sind die Tränen der Reue. Ein reuiger Mensch spricht folgendes Bekenntnis: Mein Wort soll sich gegen mich selbst rich­ ten, reden will ich in meiner Seele Bitternis (Ijob 10,1V). Das ist die Bitterkeit bei den Wassern von Mara. Wie werden aber diese Wasser süß, wenn nicht durch das Holz des Kreuzes, vom dem aus uns die Hoffnung auf Vergebung und die zuversichtliche Erwartung der Begnadigung zulächelt? 20.  Ebenso mäßigt das Kreuz, das süße Holzb, die Leiden der gegenwärtigen Zeit (Röm 8,18), auch wenn sie bitter sind, indem es sie versüßt, wenn sich in gläubigem Nachdenken die Süßigkeit der Liebe Christi in unsere Herzen ergießt, sodass es für uns süß wird, für ihn zu leiden, der für uns gekreuzigt werden wollte, wie von den Aposteln geschrieben steht: Sie aber gingen weg vom Hohen Rat und freuten sich, dass sie gewürdigt worden waren, für seinen Namen Schmach zu erleiden (Apg 5,41). Wenn etwas jedoch im Leiden für Christus bitter ist, so wird sich auch das in Süßigkeit verwandeln. Es steht nämlich geschrieben: Ihr werdet beküm­ mert sein, aber euer Kummer wird sich in Freude verwandeln (Joh 16,20). 21. Achtet auch noch auf ein anderes Zeichen, in dem die Kraft des Kreuzes im Voraus dargestellt ist. Als die ganze Schar der Söhne Israels von der Wüste Sin aufbrach, schlugen sie in Re­ fidim ihr Lager auf, wo es kein Wasser gab (Ex 17,1). Folglich hatte das Volk Durst und murrte. Der Herr antwortete Mose: Geh dem Volk voraus, und nimm einige von den Ältesten Israels mit; nimm auch den Stab in die Hand, mit dem du auf den Nil geschlagen hast! Dort drüben auf dem Felsen am Horeb werde ich vor dir stehen. Dann schlag an den Felsen! Es wird Wasser herauskommen, und das Volk kann trinken. Das tat Mose vor den Augen der Ältesten Israels (Ex 17,5-6). a  b 

Vgl. Ex 15,23 Vgl. Passionshymnus.

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8. Predigt über das heilige Kreuz, 19-23

22.  Möchtet ihr hören, wofür der Stab, der Felsen und das Wasser Zeichen sind? Der Stab ist das Kreuz, der Felsen ist Christusa, das strömende Wasser die Gnade. Christus wurde durchbohrt nach dem Wort: Ich werde den Hirten erschlagen, dann werden sich die Schafe der Herde zerstreuen (Mt 26,31) und jenem: Denn sie verfolgen den Mann, den du schon geschlagen hast (Ps 68,27). Vom Felsen, an den der Stab schlug, floss Wasser aus. Der am Kreuz durchbohrte Christus ließ Wasser hervorströmen. Und nicht bloß Wasser, sondern Wasser und Blut. Dieser ist es, der durch Wasser und Blut gekommen ist: nicht nur im Wasser, sondern im Wasser und im Blut (1 Joh 5,6). Mehr findet sich nämlich in der Wahrheit als im vorausgehenden Zeichen. Dort wird einfach die Gnade bildhaft angezeigt; hier werden die beiden Quellen der Barmherzigkeit aufgeschlossen. Ja, ja, so war es für uns notwendig. Denn da durch einen einzigen Menschen die Sünde in die Welt kam und durch die Sünde der Tod (Röm 5,5), musste, um unsere Erlösung vollkommen zu machen, beides in uns zerstört werden: Die Sünde durch das Wasser und der Tod durch das Blut. 23.  Daher wollte Christus für uns getauft werden und für uns sterben. Er heiligte für uns das Bad der Wiedergeburtb und das heilbringende Zeichen der Erlösung, um uns von den Sünden gerecht zu machen und von den Toten zu erwecken. Bei der Gerechtmachung beginnt unsere Erlösung, doch bei der Auferstehung von den Toten wird sie in vollkommener Weise vollendet. Vor der Auferstehung ist unsere Erlösung nicht vollendet: wenn wir auch nämlich durch das Wort des Lebens im Bad des Wassers geheiligt wurdenc, seufzen wir dennoch immer noch in unserem Herzend und warten auf die Erlösung unseres Leibes, bis unser armseliger Leib neugestaltet und verwandelt wird in die Gestalt des verherrlichten Leibes Christie. Alles jedoch, was wir schon empfangen haben und was wir noch erwarten, verdanken wir der Kraft des Kreuzes, und es trägt zum Lob des Kreuzes bei. Vgl. 1 Kor 10,4. Vgl. Tit 3,5. c  Vgl. Eph 5,26. d  Vgl. Röm 8,23. e  Vgl. Phil 3,21. a 

b 

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24. Zur Vermehrung seines Lobes wird auch beitragen, wenn wir zur Erbauung die Bedeutung des Felsens auf uns anwenden. Wenn wir nämlich durch die Verhärtung des Herzens Felsen sind, welche Kraft, welche Macht, welcher Stab, der an uns schlägt und uns mahnt, kann dann das Wasser heilbringender Buße aus unserem Herzen hervorlocken, wenn nicht das Kreuz Christi? Wenn unsere Ungerechtigkeit so groß war, dass sie durch den Tod eines Opfertieres nach dem Gesetz nicht gesühnt werden konnte außer durch den Tod Christia, was zeigt uns dann so deutlich die Größe unserer Ungerechtigkeit und flößt uns solche Furcht ein wie das Kreuz Christi? Wenn die Liebe Christi zu uns so groß war, dass er für sich zu unserem Heil den Tod am Kreuz erwählte, was spornt uns dann so sehr zur Liebe an, was lockt bei uns so fromme Tränen der Hingabe hervor und rührt so sehr an unser Herz wie das Kreuz Christi? Wenn wir in würdiger Weise nach unserem Heil verlangen und unseren Erlöser in würdiger Weise lieben, worin müssen wir uns dann mehr rühmen als im Kreuz Christib? Wenn die Religion des Kreuzes durch die Unwürdigkeit unseres Lebens von uns verurteilt wird, was müssen wir dann mehr fürchten, als dass von uns Rechenschaft gefordert und von uns gegeben werden muss, da wir den Tod und das Kreuz Christi verachtet haben? Wenn wir uns von unseren Ungerechtigkeiten abgewendet und der Gerechtigkeit zugewendet haben, voran- und nicht zurückschreiten und nicht mehr durch Herzensverhärtung, sondern durch die Festigkeit unseres heiligen Entschlusses und die Tugend der Beharrlichkeit Felsen geworden sind, wer könnte dann daran zweifeln, dass auf diese Weise durch den Schlag des Stabes Wasser aus dem Felsen hervorströmt? 25.  Das Kreuz erschüttert, sticht und durchbohrt nämlich das Herz, es lässt durch den Stachel der Furcht und des Schmerzes und den Ansporn der heiligen Sehnsucht und der Liebe Wasser entspringen. Es lässt jedoch nicht nur Wasser herausfließen, die einfach herausrinnen, sondern Ströme hinabfließen, die reichlicher strömen. Es steht ja geschrieben: Er ließ Wasser aus dem a  b 

Vgl. Hebr 10,4. Vgl. auch den Introitus zur Abendmahlsmesse am Gründonnerstag.

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8. Predigt über das heilige Kreuz, 24-28

Gestein herausfließen, ließ Wasser hinabfließen gleich Strömen (Ps 77,16). Was ist anderes mit diesen Strömen gemeint als das, worüber Christus sagt: Wer an mich glaubt, aus dessen Inneren wer­ den Ströme von lebendigem Wasser fließen (Joh 7,38). Das sind die Ströme der Gnadengaben und die Flüsse der Gunstbezeigungen, die aus einem reinen Herzen – berührt durch die ständige Erinnerung an das Kreuz in frommer Hingabe – unablässig ausfließen und unerschöpflich strömen. 26.  Durch die mystische Bedeutung der Zeichen, die vorgestellt wurden, wurde uns das Kreuz Christi vor Augen gestellt. Es ist herrlich an Stärke, herrlich in Heiligkeit, allen Lobes würdig und furchtbar, Wunder vollbringend (vgl. Ex 15,6 und 11). Für die Bösen ist es freilich furchtbar, für die Guten aber allen Lobes wür­ dig, in beiden Fällen aber wunderbar. Die einen und die anderen entlarvt das Kreuz in der Mitte. 27.  Das Kreuz vermittelt und entlarvt, was die Räuber verdienen: der erste schmäht, ist zur Linken und wird verdammt; der zweite betet an, ist zur Rechten und wird gerettet. Das ist ein Beispiel für die Urteilsfällung: hier werden die Fälle einzeln untersucht. Wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi stehena, damit jeder den Lohn empfängt für das, was er im irdischen Leben getan hat, Gutes oder Böses. Wer dem Tod geweiht ist, wird dann zum Tod (Jer 15,2) geführt, wer dem Leben, zum Lebenb. 28.  Nun soll der Prophet Ezechiel hier in die Mitte kommen, der die Geheimnisse des Himmels geschaut hat. Er wird uns lehren, wie das Kreuz jene, die im Tode zugrundegehen sollen, von jenen scheidet, die für das Leben gerettet werden sollen. Seht, spricht er, da kamen sechs Männer vom oberen Tor, das im Norden liegt. Jeder hatte sein Werkzeug in der Hand. Unter ihnen war auch ein Mann, der ein leinenes Gewand anhatte; an seinem Gürtel hing Schreibzeug. Der Herr sagte zu ihm: Geh mitten durch die Stadt Jerusalem und schreib ein „T“ auf die Stirn aller Männer, die über die in der Stadt begangenen Greueltaten seufzen und stöhnen. Und er sagte zu den anderen: Geht hinter ihm her durch die Stadt, und a  b 

Vgl. 2 Kor 5,10; Röm 14,10. Vgl. Jer 15,2V.

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schlagt zu! Euer Auge soll kein Mitleid zeigen. Doch von denen, die das „T“‘ auf der Stirn haben, dürft ihr keinen anrühren. Beginnt in meinem Heiligtum! (Ez 9,2.4-6). 29.  Seht, das „T“, das die Gestalt des Kreuzes seinem Aussehen nach hat und das Vorbild für das Kreuz seiner Bedeutung nach ist, wird auf die Stirn gezeichnet: Die so bezeichnet wurden, dürfen nicht getötet werden. Was soll das anderes bedeuten, als dass Christus jene, die von dem Verderben gerettet werden sollen, mit dem Zeichen seines Kreuzes auf der Stirne bezeichnet? Diese sind es, die über die Greueltaten seufzen und stöhnena. Alle, die wahrhaft bereuen und bekennen, werden von Christus bezeichnet. Der Mann mit dem leinenen Gewand (Ez 9,2) ist Christus selbst, bekleidet mit der reinen und strahlenden Menschennatur. Das Schreibzeug an seinem Gürtel (ebd.) ist die Heilige Schrift. Durch den Zusammenklang, der sich in Gesetz und Propheten, Psalmen und Evangelien findet, passt sie zu seiner Menschwerdung. Daher bezeichnet er jene, die für das Leben gerettet werden sollen; die übrigen aber lässt er niederschlagenb. Die Stadt Jeru­ salem (Ez 9,4) ist die Kirche selbst, in der es noch Gerechte und Ungerechte gibt, wie in dem Netz gute und schlechte Fische sindc. Durch diese Stadt geht Christus, denn im Vorübergang bezeichnet er die einen, die anderen aber bezeichnet er nicht. 30.  Dasselbe Geheimnis wird im Buch Exodus durch das Blut des Lammes und den Vorübergang des Herrn vorgezeichnet. Es steht nämlich geschrieben: Man nehme etwas von dem Blut und bestreiche damit die beiden Türpfosten und den Türsturz an den Häusern (Ex 12,7), und weiter unten: Das Blut an den Häusern, in denen ihr wohnt, soll ein Zeichen zu eurem Schutz sein. Wenn ich das Blut sehe, werde ich an euch vorübergehen, und das vernichten­ de Unheil wird euch nicht treffen, wenn ich in Ägypten dreinschlage (Ex 12,13). 31.  Die Häuser, in denen wir wohnen, sind wir selber, jedoch nur, wenn wir bei uns selbst bleiben und durch die Begierden, die Vgl. Ez 9,4. Vgl. Ez 9,4f. c  Vgl. Mt 13,47-48. a 

b 

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8. Predigt über das heilige Kreuz, 28-33

uns verblenden (Eph 4,22) nicht aus uns selbst hinausgeführt werden. Die beiden Pfosten (Ex 12,7) sind Leib und Seele. Auf beide Pfosten also wird das Blut des Lammes gestrichena, wenn wir das Leiden Christi nachahmen, indem wir Seele und Leib in Zucht nehmen. Der Türsturz (ebd.) ist die gläubige Absicht, in der das Blut aufgetragen wird, wenn sich die Absicht des Denkens auf die Nachahmung des Leidens Christi richtet. Jene aber werden bezeichnet, die Christus im Mitleiden nachahmen, die in ihrem Leben das Zeichen des Lebens anbringen: das heißt, die das Fleisch mit den Leidenschaften und Begierden kreuzigenb. 32.  Ihr habt gehört, wie durch das Geheimnis des Kreuzes der Tod verwandelt wird: Hört nun, wie durch dasselbe Geheimnis das Leben bewahrt wird. Die Witwe aus Sarepta bei Sidonc hatte kein Brot mehr, bloß eine Handvoll Mehl im Topf und ein wenig Öl im Krug (3 Kön 17,12). Sie las zwei Holzstücke auf, um es für sich und ihren Sohn zuzubereiten und zu essen. Das ist die Kirche aus allen Völkern, die aus der Predigt der Apostel und das Zeugnis der Schriften die zwei Holzbalken des Kreuzes auflas: das, was über das Leiden Christi von den Propheten vorausverkündigt und von den Aposteln verkündigt wurde. Sie bewahrte es in ihrem Herzen (Lk 2,19). 33.  Indem sie diesen Glauben an das Kreuz aufnimmt, wird ihr befohlen, demütig in Staub und Asche Buße (Ijob 42,6) zu tun, die Christus erfreut. Das bedeutet, das in der Asche gebackene Stück Brot für Elija zuzubereiten. Um nun von dem ernährt zu werden, den sie ernährt hat, hört sie, wie Elija ihr sagt: Der Mehl­ topf wird nicht leer werden und der Ölkrug nicht versiegen (3 Kön 17,14). Fein schmeckt nämlich die Erkenntnis des Gotteswortes, das im Öltopf der Heiligen Schrift enthalten ist, und das Sakrament geistlicher Gnade und Salbung wird in der Kirche nicht ausgehen, solange der Hunger nach dem Gotteswort in der Synagoge herrscht.

Vgl. Ex 12,7. Vgl. Gal 5,24. c  Vgl. 3 Kön 17,7-16. a 

b 

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34.  Nichts hatte diese Witwe mehr als ein wenig Mehl und Öl. Wenn diese ihr ausgingen, fürchtete sie zu sterben, bevor sie die zwei Holzstücke auflas und bevor sie das in der Asche gebackene Brot für Elija buk. Nichts hatte auch die Kirche aus allen Völkern, bevor sie den Glauben an das Kreuz empfing, als eine geringe Erkenntnis ihres Schöpfers und eine schwache Liebe als Tugend, so viel sie eben durch die natürliche Vernunft mit der Erleuchtung Gottes erkennen konnte. Dass dies für sie nicht ausreichte, merkte sie, als ihr das Geheimnis des Kreuzes enthüllt worden war, und sie brachte Gott ihre Buße dar. Um ständig am Leben erhalten zu werden, empfing sie das Brot des Glaubens und das Öl der Liebe. Von diesem Brot und diesem Öl gibt es im Haus der Witwe ständig Überfluss, sodass sie sich nicht mehr vor dem Tod fürchtet, sondern etwas zum Leben hat, seitdem sie die beiden Holzstücke aufgelesen hatte. 35.  Deine Kraft ist es, o Kreuz, würdig, dass man unablässig an sie denkt und sie unablässig preist! Wie wohlklingend ist dein Lob im Mund derer, die dich besingen, wie wohltuend der Gedanke an dich im Herzen derer, die dich lieben! Wer könnte deine Machttaten erzählen? Wer könnte dein ganzes Lob verkünden? Der Tiefe nach steigst du hinab in die Unterwelt, der Höhe nach erhebst du dich in den Himmel, der Breite nach dehnst du dich nach Norden und Süden aus bis an die Enden der Erde. Du beraubst die Unterwelt, betrittst den Himmel, beanspruchst für dich den Erdkreis, trittst den Nacken der Stolzen und Hochgestellten mit der dir eigenen Kraft zu Boden. Dich fürchten unsere Feinde, vor dir fliehen die feindlichen Scharena; in deiner Gegenwart braucht man nichts zu fürchten, nie zu verzweifeln. 36.  Du bist das Zeichen der Heiligkeit, der Ort der Heiligung: Ganzopferaltar, wenn das Opfertier verbrannt wird, Weihrauchaltar, wenn der Weihrauch der Hingabe dargebracht wird. Du bist der Leuchter inmitten der Welt, auf den man das Licht gestellt hat, damit es allen im Haus leuchtet (Mt 5,15). Du bist der Baum des Lebens in der Mitte des Paradieses (Gen 2,9), damit keiner stirbt, der von deiner Frucht gegessen hat. An dir hängt a 

Vgl. Liturgie der Passionszeit.

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8. Predigt über das heilige Kreuz, 34-38

der Menschensohn wie die Traube, die auf einer Stange getragen wurdea, wie die Frucht am Baum des Lebens. An dir ist der Menschensohn erhöht worden wie die Schlange in der Wüsteb, damit die von den Schlangen Verwundeten durch dich geheilt würden. Du belehrst als Vorbild für die Lebensführung das Leben der Gerechten: du hebst sie von der Erde empor und hebst sie in den Himmel hinauf: und wen du mehr in die Höhe hebst, an dem wächst du auch mehr in die Höhe. 37. Wie eine Zeder im Libanon in die Höhe wuchs (Sir 24,17), so wächst auch du in denen in die Höhe, die durch die Gnade höchster Reinheit strahlen und duften. Wie eine Zypresse auf dem Berge Sion (ebd.), so wächst auch du in denen in die Höhe empor, die durch die Gnade der Beschauung tiefer sehen und mehr leuchten. Wie eine Palme in Kadesch in die Höhe wuchs (Sir 24,18), so wächst auch du in denen in die Höhe, die in der Versuchung immer siegen und in einer glücklichen Verwandlung unablässig zum Besseren voranschreiten. Wie eine in Jericho gepflanzte Rose (ebd.), so wächst auch du in dieser Welt bei denen in die Höhe empor, die vom Blut des Martyriums strotzen und glänzen. Wie eine prachtvolle Olive auf den Feldern (Sir 24,19), so wirst du durch die Schönheit des Friedens und des Erbarmens im klaren und friedvollen Verhalten der Sanftmütigen anmutig bewundert. Wie eine Platane auf den Plätzen am Wasser in die Höhe wuchs (ebd.), so breitest auch du dich aus mit der Fülle geistlicher Gnade in den Geboten wunderbarer Liebe. 38.  Du ruhst wie eine auserwählte, süß duftende Myrrhe (Sir 24,20), du wie ein Myrrhenbüschel (Hld 1,12) an der Brust der Braut. Du breitest wie eine Terebinthe deine Zweige aus, und deine Zweige sind voll Ehre und Anmut (Sir 24,22). In dir findet sich alle Gnade des Lebens und der Wahrheit, in dir alle Hoffnung auf Leben und Tugend (Sir 24,25). Dir sei der Lobpreis, dir die Ehre, du gutes Kreuz, du heiliges Kreuz, du gesegnetes Kreuz in alle Ewigkeit. Amen.

a  b 

Vgl. Num 13,24. Vgl. Joh 3,14; Num 21,8-9.

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Sermo 9 Traktat III Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss

Ein Gesetzeslehrer sagte zu Jesus: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort? Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und deinem ganzen Geist. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben! (Lk 10,25-28). Im Matthäusevangelium steht: Einer von den Pharisäern, ein Gesetzeslehrer, wollte Jesus auf die Probe stellen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Jesus antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Geist. Das ist das wichtigste und erste Gebot (Mt 22,35-38). Aus dem Deuteronomium: Im Deuteronomium, dem dieses Gebot in der von uns verwendeten Übersetzung entnommen ist, steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft (Dt 6,5).

1.  Es kann uns bewegen und muss uns zu Recht bewegen, was diese Aufzählung von Worten zu bedeuten hat, diese so umsich-

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tige, so auserlesene, so genaue und so schwerwiegende Aufforderung – und zwar in einem einzigen Gebot. Es ist nämlich ein einziges Gebot, nicht mehrere, von dem geschrieben steht: Das ist das erste und wichtigste Gebot (Mt 22, 38). 2. Als gesagt wurde: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, wurde noch angefügt, als sei dies zu wenig: …mit ganzer Seele, und, als sei dies immer noch nicht genug, … mit ganzer Kraft und, als würde all das Gesagte immer noch nicht genügen, wird noch dazugefügt: …und mit deinem ganzen Geist (Lk 10,27). 3.  Was soll das bedeuten?a Ist es vielleicht überflüssig und unbegründet, dass das so umsichtig geschrieben steht? Wer würde das glauben? Doch nur einer, der nicht richtig glaubt! Wenn ohne den Ratschluss des Vaters kein Blatt vom Baum fälltb, um wie viel mehr wird dann ein Wort Gottes, und gerade dieses Wort, das unter seinen anderen Geboten das erste und größte ist, nicht ohne den Ratschluss Gottes gesagt worden sein, wo doch nicht einmal der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen sollc. 4.  Wir müssen deshalb vor allem fragen und ganz genau erkunden, was Gott mit solcher Genauigkeit gebieten und aufschreiben lassen wollte. Keine andere Frage ist heilsamer, keine nützlicher, wenn nur das, was befohlen wird, auch getan wird von denen, die suchen und finden. 5.  So dürfen wir auch glauben, dass Gott wegen unserer Herzenshärte dafür gesorgt hat, dass dieses Wort mit solcher Umsicht geboten und uns durch das Gebot gleichsam tiefer eingeschärft wurde, wie man es beim Einschlagen von Nägeln in härteres Holz macht. Wegen der Härte des Holzes kann man den Nagel nämlich nicht auf einmal hineintreiben, sondern man tut es durch wiederholte Hammerschläge. So zwingt man ihn zum Eindringen, bis er ganz eingeschlagen ist. Dieses Bibelwort ist sozusagen ein Nagel, der in unsere Herzen eingeschlagen werden soll. Denn wenn nach einem Ausspruch Salomos die Worte der Weisen An­ a  Vgl. Bernhard von Clairvaux, 1. Predigt zum Lob der jung fräulichen Mutter 1 (BCSW IV, 33ff). b  Vgl. Mt 10,29. c  Vgl. Mt 5,18.

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9. Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss, 1-8

sporn und wie tief eingeschlagene Nägel (Koh 12,11) sind, um wie viel mehr ist dann das Wort Gottes ein Ansporn und Nagel, wo es doch lebendig und kraftvoll ist und tiefer dringt als ein zweischnei­ diges Schwert (Hebr 4,12). 6.  Da Gott wollte, dass unser ganzes Herz von diesem Nagel des göttlichen Wortes und der göttlichen Liebe durchbohrt und durchdrungen sei, spricht er: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lie­ ben mit ganzem Herzen. Und er schlägt ihn noch tiefer ein durch die Hinzufügung: …und mit ganzer Seele. Doch um ihn noch mehr ins Innere dringen zu lassen, sagt er hinzu: …und mit ganzer Kraft. Und damit er ins Innerste unseres Inneren gelangt, fährt er zuletzt fort: …und mit deinem ganzen Geist (Lk 10,27). So hat er dieses Gebot bis zum Übermaß eingeschärft, von dem er wollte, dass es bis zum Übermaß befolgt werde. 7.  Doch es gibt auch noch eine andere Begründung, die zum Textaufbau dieses einen Gebotes zu passen scheint: Da die Liebe zur Welt unser ganzes Herz besetzt und alle seine Zellen erfüllt, muss diese Liebe zur Welt aus dem Herzen ganz ausgetrieben werden, um auch den Herrscher dieser Welt hinauszuwerfena. Dagegen soll die Gottesliebe Einlass finden und das ganze Herz für sich in Beschlag nehmen, sodass Gott auch an den äußersten Enden unseres Herzens erkannt wird und die Enden der Erde daran denken und sich zu Gott bekehren (Ps 21,28). Wenn Gott auf diese Weise das ganze Herz besitzt und das Herz Gott, dann kann der betreffende Mensch sprechen: Du bist der Gott meines Herzens und mein Anteil auf ewig (Ps 72,26).

Die gegenwärtige und zukünftige Liebe zu Gott 8.  Entsprechend dem Zustand des gegenwärtigen Lebens wird Gott unvollkommen und nur bruchstückhaft erkannt und ebenso unvollkommen und nicht vollkommen geliebtb. Die Erkenntnis Gottes in der Gegenwart – mag sie auch noch so groß sein – a  b 

Vgl. Joh 12,31. Vgl. 1 Kor 13,9.

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verhält sich zu jener vollendeten Erkenntnis, wenn Gott in seiner Herrlichkeit geschaut wird (Ps 101,17), wenn er sein Angesicht zeigt und wir gerettet werden (vgl. Ps 79,4.8), wie der Strahl des Morgenlichtes, das durch eine ganz kleine Ritze ins Haus einfällt, zum vollen Glanz des Mittags, wenn die Sonne in ihrer vollen Kraft scheint (Offb 1,16). Ähnlich ist die Liebe zu Gott, wie sie in diesem Leben möglich ist, wie ein winziger Feuerfunkea im Vergleich zum gewaltigen Brand der Liebe, von dem die Gerechten in Jerusalem unter den Scharen der Seraphim entflammt sind. Feuer gibt es nämlich jetzt in Sion, doch den Feuerofen erst in Jerusalemb. 9.  Nach dem Maß deiner Unvollkommenheit musst du einstweilen Gott mit ganzem Herzen lieben. Wie aber mit ganzem Herzen? Wie kann das sein, wo doch dein Herz noch nicht ganz dein ist, sondern andere es dir entreißen? Das beklagt der Beter nämlich unter anderem, wenn er seufzend sagt: Meine Gedanken sind zerstreut, sie quälen mein Herz (Ijob 17,11V). Und ein anderer spricht: Meine Sünden haben mich eingeholt, ich vermag nicht mehr aufzusehen. Zahlreicher sind sie als die Haare auf meinem Kopf, das Herz hat mich im Stich gelassen (Ps 39,13). Wenn uns das Herz im Stich gelassen hat, sind wir verlassen, als hätten wir kein Herz. 10.  Einstweilen besitzen wir nicht unser ganzes Herz, um Gott zu lieben, und wir haben auch nicht genug Herzc, um zu Gott zu beten, er möge uns das Herz zurückgeben, dass wir ihn lieben können. Daher sagt David an einer Stelle: Dein Knecht hat sein Herz gefunden, um dieses Gebet an dich richten zu können (2 Kön 7,27). 11.  Um über mich zu sprechen, kann ich zur Zeit des Gebetes mein Herz nicht finden. Wo ist es denn? Oder besser: Wo ist es nicht? Während ich suche, wo es ist, kann ich nicht entdecken, wo es nicht ist. So fliegt es weg und wieder zurück, es entläuft a  Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiarum siue Originum libri VII, v, 24 – W. M. Lindsay, Oxford, 1911. b  Vgl. Jes 31,9. c  „Cor“ – „das Herz“ kann im Lateinischen auch „Einsicht, Sinn“ heißen. So wird es in einem Wortspiel hier gebraucht.

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9. Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss, 8-14

mir, verläuft sich und läuft wieder zurück! Wenn es zurückkehrt, bleibt es nicht da; wenn man es hält, kann man es nicht festhalten; wenn man es umklammert, entschlüpft es der Hand, die es hält. 12.  O Mensch, solltest du das vielleicht in deinem Herzen erfahren – und weil du Mensch bist, erfährst du es zweifellos in irgendeiner Weise – machst du an dir selbst die Erfahrung, dass du Gott noch nicht vollkommen mit ganzem Herzen liebst: nicht in dem vollkommenen Maß, meine ich, in dem er von dir geliebt werden möchte. 13.  Wenn du aber Gott in Wahrheit liebst und dein Herz, soweit es in deiner Macht steht, Gott hinhältst, machst du es, indem du es Gott gibst, zu dem deinen; Ja, er, dem du es gibt, macht, dass es dein wird! Es kann nämlich nicht dein sein, wenn er es nicht zu dem deinen macht. In dem Maß, in dem du ihm dein Herz gibst, in dem Maß macht er es zu dem deinen. 14. Könntest du aber alle Gedanken und alle Gefühle, auch alle Wünsche unentwegt auf ihn richten und unentwegt bei ihm lassen und so innerlich mit allen Fasern im Feuer der Liebe brennen, dann könntest du natürlich Gott vollkommener mit ganzem Herzen lieben. Doch weil die menschliche Schwäche das nicht gestatteta, so liebe ihn, wenn du nicht lieben kannst, wie du müsstest, wie du verpflichtest bist, so doch in dem Maß, wie du kannst, wie du es vermagst, wie es dir gelingt. Wenn du hier beginnst, Gott mit ganzem Herzen zu lieben, soweit es jetzt dein ist, wirst du ihn schließlich vollkommener mit ganzem Herzen lieben, wenn das in vollkommener Weise dir gehört, was jetzt noch nicht ganz dein ist. Sei nicht wie ein ungerechter Schuldner, der zwar nicht alles zurückzahlen kann, was er schuldet, doch auch das nicht zurückgeben will, was er hat, als ob es gleich schuldhaft wäre, nichts zu zahlen, wie nicht alles zu zahlen. Gott ist ein gütiger Kreditgeber: Dem, der zahlt, was er kann, schenkt er voll Erbarmen, dass er mehr zahlen kann.

Vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Gottesliebe 6, 16 (BCSW I, 101ff). a 

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Gott muss in seinen Wohltaten mit ganzem Herzen geliebt werden

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15.  In der vierfachen Unterteilung dieses Gebotes werden uns die vier Grundhaltungen der Liebe dargelegt als ihre vier Formen. Diese vier Haltungen umfassen in sich, auch wenn sie mit einer bestimmten Zahl zusammengefasst werden, unzählbare verschiedene Formen und unterschiedliche Gefühle. Gott ist in seinen Wohltaten mit ganzem Herzen, in seinen Verheißungen mit ganzer Seele, in seinen Urteilen mit aller Kraft und in seinen Geboten mit dem ganzen Geist zu lieben. Durch diese vier Arten – nämlich die Wohltaten, Verheißungen, Urteile und Gebote – werden durch Gottes Geschenk jene vier Gefühlsantriebea zur Gottesliebe in uns gebildet. Wie Gott in der Gegenwart in seinen Geschöpfen in rätselhaften Umrissen erkannt wird, bis wir ihn vollkommener erkennen, so wie er istb, so muss er in seinen Wohltaten und den anderen vorhin genannten Gütern in der Gegenwart geliebt werden, bis wir ihn in sich selbst voller und vollkommener lieben werden. 16.  Unter den Wohltaten Gottes aber gibt es einerseits die Wohltaten der Schöpfung, anderseits die der Erlösung und die des täglichen Trostes. Wohltat der Schöpfung ist es, dass wir als Gottes Abbild, ihm ähnlichc erschaffen wurden, dass wir uns in ihm bewegen und sind und von seiner Art sindd, dass wir Seele und Leib sowie alle Sinne des Leibes und der Seele in ihrer Zahl und ihrer Leistungsfähigkeit als seine Gaben besitzen. Was immer uns nämlich an Gutem durch die Schöpfung zuteil wurde, das haben wir als sein Geschenk empfangen; und alle unsere Güter sind nichts anderes als Gaben Gottes. 17. Die Wohltaten der Erlösung sind das Heilswerk der Menschwerdung und das Geheimnis des Leidens Christi, ebenso alle Heilsgüter, die Christus um unseretwillen in sich aufnahm Vgl. Lk 10,27. Vgl. 1 Kor 13,12; 1 Joh 3,2. c  Vgl. Gen 1,26. d  Vgl. Apg 17,28. a 

b 

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9. Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss, 15-20

oder einsetzte, damit wir sie in uns aufnehmen: dazu zählen das Sakrament des Leibes und Blutes Christi, das Sakrament der Taufe und alle übrigen Sakramente der Kirche, denen der barmherzige Gott Gnade und Kraft verlieh zur Vergebung der Sünden und zum Heil der Glaubenden. 18.  Die Wohltaten des täglichen Trostes sind die Wohltaten, die uns der Vater des Erbarmens und Gott allen Trostes, der uns in all unserer Not tröstet (2 Kor 1,3-4), voll Erbarmen jeden Tag schenkt. Unser Vater weiß nämlich, wie viel wir brauchen, wir, seine unwürdigen Diener, die er doch würdig gemacht hat, seine Kinder zu sein. Von ihm, unserem Vater, haben wir zu ersehnen, zu erbitten und zu erhoffen, von ihm haben wir zu erwarten den Trost in allen unseren Schmerzen, die Hilfe in allen unseren Nöten und das Heilmittel in allen unseren Schwächen. Von wem sonst sollten wir nämlich all dies erhoffen, wenn nicht von ihm? Woher kommt mir Hilfe? fragt der Prophet. Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat (Ps 120,2). Seht, wie Großes der Herr an uns getan hat! (Ps 125,3). 19.  Er hat uns mit einer Menge von Wohltaten überschüttet und beabsichtigt, Liebe durch die Wohltaten zu wecken. Wegen dieser so wichtigen und großen Wohltaten müssen wir Gott aus ganzem Herzen lieben. Ja, es ist recht, würdig und ganz angemessen, ihm zu geben, wenn er sich herablässt, etwas zu erbitten. Doch er lässt sich dazu herab! Er sagt nämlich zum Menschen: Gib mir dein Herz! (Spr 23,26). Von Herzen möchte er geliebt werden, da er bittet: Gib mir dein Herz (ebd.). Unser ganzes Herz möchte Gott für sich, um es von der Liebe zur Welt und dem, was in der Welt ist, abzuwenden und sich zuzuwenden, um vor allem anderen Gefallen zu wecken und entschiedenes Missfallen an allem, was ihm selbst missfällt. Gott missfällt nämlich Unrecht und Oberflächlichkeit. Er hasst das Unrecht und verachtet die Oberflächlichkeit. Daher sagt der Prophet: Dein Hass trifft alle, die Böses tun (Ps 5,7), und ebenso: Dir sind alle verhasst, die sich bei Oberflächlichem aufhalten (Ps 30,7). 20.  So beginnt die Liebe zu Gott damit, dass wir gemeinsam mit ihm hassen und verachten. Denn Gott will, dass auch wir hassen und gering schätzen, was er selbst hasst und gering

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schätzt. Wenn wir nämlich lieben, was Gott hasst, haben wir keinen Frieden mit Gotta. Wir lieben nur dann Gott aus ganzem Herzen, wenn wir uns mit Gott im Hass gegenüber allem Bösen einig erweisen. Von Herzen lieben wir Gott, wenn wir das Gute, das wir von Gott empfangen haben, und das Böse, das wir gegen Gott getan haben, im Herzen erwägen, ihm für das Gute Dank sagen und wegen des Bösen Buße tun. So werden wir mit Gott versöhnt und kehren aus der Zwietracht zur Eintracht mit ihm zurück. Und das ist die erste Stufe der Liebe: die Bekehrung des Herzens vom Bösen zum Guten, von der Oberflächlichkeit zur Wahrheit, von dem, was Gott missfällt, zu dem, was ihm gefällt. Daher spricht der Prophet voll Sehnsucht, dass auch ihm missfällt, was Gott hasst: Deinen Vorschriften lenke mein Herz zu und nicht der Habgier (Ps 118,36). Der Apostel aber beweist die Umkehr seines Herzens durch die Geringschätzung der Oberflächlichkeit, indem er sagt: Was mir Gewinn war, habe ich um Christi willen als Verlust erkannt (Phil 3,7). Ich glaube aber, dass alles für mich Verlust ist, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen (Phil 3,8). 21.  Der erste Gefühlsantrieb zur Gottesliebe kann mit dem Begriff des Herzens in Zusammenhang gebracht werden, wenn es heißt: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen (Mt 22,37; Lk 10,27). Und zwar zu Recht. Durch ihn beginnen wir nämlich ein Herz mit Gott zu sein und unser Herz Gott zu schenken. Er hat uns die Gnade seiner Wohltaten erwiesen, und er verlangt von uns, die Gnade nicht mit Unrecht zu vergelten und nicht gegen den zu sündigen, der unser Wohltäter ist. Dann lieben wir Gott nämlich entsprechend unserer Unvollkommenheit mit ganzem Herzen, wenn wir das Böse, das er hasst, mit ganzem Herzen verabscheuen. Daher sagt der Prophet: Die ihr Gott liebt, hasst das Böse! (Ps 96,10).

a 

Vgl. Röm 5,1.

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9. Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss, 20-25

Gott muss in seinen Verheißungen mit ganzer Seele geliebt werden 22.  Gott muss in seinen Verheißungen mit ganzer Seele geliebt werden, er, der uns Großes gegeben, doch noch Größeres verheißen hat. Er hat uns Ruhe nach der Mühe, Befreiung von der Knechtschaft, Sicherheit vor der Angst, Trost in der Traurigkeit, Auferstehung vom Tod, volle Freude, ja tiefste und nicht endende Freude versprochen. Zuletzt hat er uns sich selbst versprochen, wie er unseren Väter verheißen hat: sich uns zu schenken (Lk 1,73). 23.  Groß sind also die Verheißungen Gottes und unauslotbar, und ihretwegen und in ihnen möchte er von uns in bestimmtem Maß geliebt werden. Wenn du nach dem Maß fragsta, so ist heftige Sehnsucht nach dem Verheißenen das Maß der Liebe. Ich weiß nicht, wie dieses Maß ein Maß haben kann, nein, es ist ohne Maß. Die Verheißungen Gottes übersteigen nämlich alle Sehnsuchtb. Was überstiegen wird, wird auch überschritten, es hat eine Grenze seiner Größe und in dieser Grenze sein Maß. Für die Verheißung Gottes gilt: Wie sehr man sich auch nach ihr sehnt, so wird sie doch weniger ersehnt, als es ihr gebührt. Unser Vermögen ist zu klein, um uns in würdiger Weise nach dem zu sehnen, was alle Sehnsucht übersteigt. Daher hat die heilige Sehnsucht ihr Maß in dem, was sie kann, nicht in dem, wozu sie verpflichtet ist. Denn in den Maß, als sie zunimmt, nimmt auch ihre Verpflichtung zu. Eine heftige Sehnsucht hat also gewissermaßen kein Maß, obwohl sie nicht maßlos sein kann. 24.  Obwohl die Ungeduld im Übrigen gewöhnlich schuldhaft ist, ist heftige Ungeduld wegen des Aufschubs bei der Erwartung einer so großen Verheißung lobenswert. Den, der mehr liebt und sich mehr sehnt, peinigt die Ungeduld wegen des Aufschubs mehr. Hingehaltene Hoffnung macht nämlich die Seele krank (Spr 13,12). 25.  Daher sagt die Braut in ihrer Sehnsucht, ihre Sehnsucht durch die Verdienste und Fürbitten der heiligen Seelen und der a  b 

Vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Gottesliebe 1, 1 (BCSW I, 75). Vgl. Phil 4,7.

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himmlischen Scharen Gott anzuvertrauen: Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet, so sagt ihm, ich bin krank vor Liebe! (Hld 5,8). Auch der Psalmist spricht, als könnte er den Aufschub nicht geduldig ertragen: Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott, wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen? (Ps 41,2f.). Auch Paulus lechzte gleichsam ungeduldig in ähnlicher Sehnsucht: Es zieht mich nach beiden Seiten: Ich sehne mich danach, aufzubrechen und bei Christus zu sein – um wie viel besser wäre das! Aber euretwegen ist es notwendiger, dass ich am Leben bleibe (Phil 1,23f.). Doch sagt dieser Paulus, der jetzt so ungeduldig ist, dass er lieber sterben als einen Aufschub ertragen möchte, an anderer Stelle: Wir warten geduldig (vgl. Röm 8,25). Damit zeigt er, dass heilige und heftige Sehnsucht in erstaunlicher Weise geduldige Ungeduld ist, da die Gerechten in ihrer Erwartung sich voll Langmut quälen lassen und nicht murren, und wenn sie unermüdlich Folterqualen erleiden, bewahren sie doch eine unerschütterliche Hoffnung. 26.  Dieser Gefühlsantrieb zu heiliger Sehnsucht kann mit dem Ausdruck „Seele“ gemeint sein, wenn es heißt: Du sollst mit deiner ganzen Seele lieben (Mt 22,37; Lk 10,27). Und das nicht zu Unrecht. Die Seele ist nämlich Geist. Wenn sie vom Heiligen Geist angehaucht wird, ist sie immer voll Sehnsucht und verlangt seufzend, das zu erlangen, nach dem sie auslangta. Bei der Beschreibung der Sehnsucht der Heiligen wird üblicherweise und sehr häufig die Seele erwähnt. Daher spricht der Prophet: Meine Seele dürstet nach dir, Gott (Ps 62,2; vgl. auch Ps 41,3). Und an anderer Stelle sagt er: Meine Seele verzehrt sich in Sehnsucht nach dem Tempel des Herrn (Ps 83,3). Ein anderer Prophet sagt wiederum: Deinen Namen anzurufen und an dich zu denken ist die Sehn­ sucht der Seele. Meine Seele sehnt sich nach dir in der Nacht, auch mein Geist ist voll Sehnsucht nach dir (Jes 26,8f.).

Im lateinischen Text findet sich an dieser Stelle ein wundervolles Wortspiel: „anima … suspirat, donec in illo respiret ad quod aspirat.“ a 

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9. Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss, 25-30

Gott muss in seinen Urteilen mit ganzer Kraft geliebt werden 27.  In seinen Urteilen musst du Gott mit deiner ganzen Kraft lieben. Über die Urteile Gottes ist schwierig zu urteilen: Die Ur­ teile Gottes sind nämlich ein tiefer Abgrund (Ps 35,7). Es ist jedoch klar, dass ein Unterschied besteht zwischen dem Urteil, von dem der Prophet zum Herrn sagt: Schau auf mich und erbarme dich meiner, wie du über die urteilst, die deinen Namen lieben! (Ps 118,132V), und zwischen dem anderen Urteil, von dem derselbe Prophet sagt: Urteile nicht über deinen Knecht! (Ps 142,2). 28.  Bei diesem Urteil, von dem jene in der Hölle bereits verdammt sind, liebt keiner Gott. Doch liebt dort auch keiner sich selbst. Im gegenwärtigen Leben aber führt Gott seine Urteile – sei es bei den Verworfenen, sei es bei den Erwählten – in verschiedener Weise aus. Bei ihnen verbirgt er nämlich jetzt auf wunderbare Weise sein Erbarmen und seinen Zorn, er handelt jetzt so, dass das, was Zorn ist, wie Erbarmen aussieht, und was in Wirklichkeit Erbarmen ist, wie Zorn. Daher sagt der Prophet: Wer ist weise und beachtet das alles, wer erkennt das Erbarmen des Herrn? (Ps 106,43). Und über den Zorn spricht er zu Gott: Wer kennt die Ge­ walt deines Zornes? (Ps 89,11). 29.  Gott überlässt nämlich in seinem geheimen Urteil manche Böse ihrem Willen, er lässt sie nach den Wünschen ihres Herzens handelna, sodass sie ihren eigenen Plänen folgen. Er erhöht und ehrt seine Feinde und häuft bei ihnen täglich Schätze auf Schätze. Er züchtigt sie nicht mit den anderen Menschenb. Wenn er das tut, fügt er bei ihnen Unrecht auf Unrecht, sodass sie, die sich schon im Schmutz wälzen, immer schmutziger werden, bis das Maß ihrer Sünden voll istc. 30.  Bei diesem Urteil also verbirgt Gott seinen Zorn gleichsam unter dem Anschein des Erbarmens bei denen, die sein Erbarmen zum Zorn werden lassen, sodass ihr Wohlergehen ihnen Vgl. Ps 80,13. Vgl. Ps 72,5. c  Vgl. Mt 23,32. a 

b 

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zum Untergang wird. So gehen sie mit vollem Recht durch seine Urteile zugrunde, derentwegen sie Gott nicht lieben. Deswegen steht auch geschrieben: Das Wohlergehen der Toren stürzt sie ins Verderben (Spr 1,32). Die Toren aber freuen sich bei ihrem Verderben, sie haben keine Ahnung, was der über sie denkt, der furchtbar ist in seinen Urteilen über die Menschenkindera, sie kennen die abgrundtiefen Gedanken Gottes nicht, über die geschrieben steht: Wie groß sind deine Werke, o Herr, wie tief deine Gedanken! Ein Mensch ohne Einsicht erkennt das nicht, ein Tor kann es nicht verstehen (Ps 91,6f.). Doch was der Höchste über sie denkt, werden sie dann erkennen, wenn die Frevler wie Spreu vergehen, wenn alle, die Unrecht tun, bloßgestellt werden, sodass sie in alle Ewigkeit zu­ grunde gehen (Ps 91,7-8). Das ist nämlich das Ziel jenes geheimen Urteils, in dem Gott seinen Zorn denen verbirgt, die die menschlichen Leiden nicht kennen und nicht gezüchtigt werden wie die übrigen Menschenb. 31.  Es gibt jedoch andere Böse, die von Gott hier gezüchtigt werden, die aber durch die Schläge nicht gereinigt werden, weil sie voll Unwillen lästern oder murren und dem keine Ehre erweisen, der sie züchtigt. So nehmen sie keine Zucht an. Da sie Gott in seinen Urteilen nicht lieben, verschärfen sie durch ihren Unwillen gegenüber seinem Urteil sein Urteil und müssen von Strafe zu Strafe geführt werden. 32.  Wenn die Guten jedoch von Gott gezüchtigt werden, so lieben die einen Gott in seiner Züchtigung, die anderen aber lieben sogar die Züchtigung um Gottes willen. Die einen verherrlichen und loben Gott bei der Züchtigung, die anderen wegen der Züchtigung. Die einen sind geduldig in der Bedrängnis (Röm 12,12) und lieben Gott in seinen Urteilen, die anderen sind froh in der Bedrängnis und nehmen die Urteile Gottes wie Wohltaten dankbar an und frohlocken in ihnen. Über sie steht geschrieben: Jubeln sollen Judas Töchter über deine Urteile, Herr! (Ps 96,8). Töchter Judas kann man nämlich mit vollem Recht jene Seelen nennen, die Gott preisen, die im Unglück stets Gott verherrlichen a  b 

Vgl. Ps 65,5. Vgl. Ps 72,5.

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9. Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss, 30-34

und sich selbst mit den Worten anklagen: Alles, was du an uns getan hast, Herr, hast du nach deinem gerechten Urteil getan, denn wir haben vor dir gesündigt. Wir haben deinen Geboten nicht ge­ horcht. Doch verschaffe deinem Namen Ruhm, Herr, und handle an uns nach deinem reichen Erbarmen! (vgl. Jer 14,20, Dan 3,31.29 und 42 gemäß dem Introitus der Messe u.a.). 33.  Es gibt auch andere, die die Urteile Gottes so sehr lieben, dass sie die Züchtigung des Vaters gar nicht abwarten, sondern sich selbst züchtigen und strafen und wegen der täglichen Sünden, die die menschliche Schwäche nicht vermeiden kann, täglich die Vergeltung erwarten. Über sie sagt der Apostel: Würden wir über uns selbst urteilen, so würde nicht über uns geurteilt (1 Kor 11,31). Wer aber über sich selbst urteilt und sich als schuldig straft, der ist zugleich Angeklagter und Richter und Diener des Richters. Gerecht ist der Richter, der den Angeklagten verfolgt, und da er selbst der Angeklagte ist, leidet er selbst zu Recht. Indem er sich aber zu Recht verfolgt, achtet er sich selbst gering und bewahrt seine Seele bis ins ewige Leben (Joh 12,25). 34.  In seinen Urteilen bestätigt Gott das, er schult seine Erwählten in der Geduld, bildet sie zum Ertragen von Leiden heran und stärkt sie durch die Hoffnung. Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen (Röm 5,4f.). Deswegen spricht der Prophet zu Gott: Auf deine Urteile hoffe ich sehr (Ps 118,43). Er bringt damit zum Ausdruck, dass nicht bloß irgendeine Hoffnung, sondern eine festere und sichere Hoffnung und die zuversichtliche Erwartung einer überreichen Herrlichkeit darin gegründet sind, dass man die Urteile Gottes geduldig erträgt oder sogar liebt. Die Zuversicht der Hoffnung und die Größe der Herrlichkeit machen das Gewicht der Bedrängnis leichter, sodass man sie mit Gleichmut ertragen oder sogar lieben kann. So sagt nämlich der Apostel: Die Leiden der gegenwärtigen Zeit bedeuten nichts im Vergleich mit der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll (Röm 8,18). Und an anderer Stelle sagt er: Die kleine Last unserer gegen­ wärtigen Not schafft uns in maßlosem Übermaß ein ewiges Gewicht an Herrlichkeit (2 Kor 4,17).

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SERMONES

35.  Wie angemessen es ist, die Urteile Gottes zu lieben, weiß jener, der zum Herrn spricht: Deine Urteile machen mich froh! (Ps 118,39). Und an anderer Stelle sagt er: Die Urteile des Herrn sind wahr, gerecht sind sie alle. Sie sind mehr zu erstreben als Gold und Edelstein in Menge, sie sind süßer als Honig, als Honig aus Waben (Ps 18,10-11V). Mit diesen Worten wird gezeigt, dass alle Freude über den Besitz von Gold und Silber, alle Lust des gegenwärtigen Lebens zwar Honig und Honigwaben gleicht, doch geringer ist als jene Freude, mit der die Urteile Gottes die Seele erfüllen, die Gott über alles ersehnt. Für sie ist alles, was sie leidet, vergleichsweise klein, und für sie ist es eine vollkommene Freude, wenn sie in mancherlei Versuchungen geräta. Wie groß ist die Fülle der Freude, Herr, die du verborgen hältst für alle, die dich fürchten! (Ps 30,20). Ja, groß ist sie; und es kann gar nicht ausgedrückt werden, wie groß! Du bereitest nämlich mit deinen Urteilen Freudeb, doch gilt das noch nicht für den, der da sagt: Vor deinen Urteilen habe ich Angst (Ps 118,120).

Gott muss in seinen Geboten mit dem ganzen Geist geliebt werden 36.  Mit dem ganzen Geist muss Gott in seinen Geboten geliebt werden. Der Geist ist es, der im Menschen am höchsten steht und den obersten, ausgezeichneten Platz einnimmt. Wie der Familienvater in seinem Haus nach seinem Gutdünken alles ordnet, die Dienste einteilt, den Dienern Aufträge erteilt, alles beurteilt, und wünscht, dass alle ihm in allem dienen und gehorchen, so hat die Geisteskraftc alle Regungen und Sinne des Leibes und der Seele nach ihrem Gutdünken zu leiten, zu ordnen, zu beurteilen und sich umsichtig dafür einzusetzen, dass ihr alle gehorchen.

Vgl. Jak 1,2. Wörtlich: Du bist nämlich süß in deinen Urteilen; vgl. Ps 118,39. c  Vgl. Bernhard von Clairvaux, 85. Predigt über das Hohelied 2, 4 (BCSW VI, 635). a 

b 

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9. Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss, 35-40

37.  Doch wie sich der Geist über alles gesetzt weiß, was ihm untersteht, ebenso muss er daran denken, dass er verpflichtet ist, Gott zu gehorchen. Gehorsam verlangt er natürlich von dem ihm Untergebenen, seinem Vorgesetzen aber leistet er ihn ebenso mit vollem Recht. Weh dem Menschen, der Gott nicht gehorcht! Die Strafe für den Ungehorsam wird darin bestehen, dass ihn der Tod überwältigt. 38. So furchtbar der Tod ist, so verabscheuungswürdig ist er auch. Da er mit dem Ungehorsam verbunden ist, ist auch der Ungehorsam selbst ebenso verabscheuungswürdig wie der Tod selbst. Durch die Sünde des Ungehorsams ist nämlich der Tod in diese Welt gekommena. Wenn aber der Ungehorsam ebenso verabscheuungswürdig ist wie der Tod, da er zum Tod führt, warum sollte dann der Gehorsam nicht ebenso liebenswert sein wie das Leben, da aus ihm das Leben hervorgeht und das Leben in ihm Bestand hat? Der Gehorsam folgt nämlich Gott und seinem Willen, und Leben ist in seinem Willen beschlossenb. 39.  Die Gottesliebe aber und der Gehorsam sind durch ein unlösliches Band miteinander verflochten und können voneinander nicht getrennt werden. Denn dass es ohne Gehorsam keine Liebe geben kann, zeigt der Herr mit den Worten: Wer mich liebt, wird an meinem Wort festhalten (Joh 14, 23). Das heißt: er wird meine Gebote beobachten und in ihrer Beobachtung mir gehorchen. Er zeigt auch, dass es keine Liebe ohne Gehorsam gibt, wenn er sagt: Wer mich nicht liebt, hält an meinem Wort nicht fest (Joh 14,24). Wenn also der gehorcht, der liebt, und der nicht gehorcht, der nicht liebt, so folgt daraus: Es gibt weder Liebe ohne Gehorsam, noch Gehorsam ohne Liebe. 40.  Der Gehorsam bezieht sich durch die Liebe auf das Gebot Gottes, die Liebe lenkt den Gehorsam durch das Gebot auf Gott hin. Gott legt durch das Gebot seinen Willen dar, die Liebe legt das Gebot dem Gehorsam auf. Wer also Gott wahrhaft liebt, der liebt auch sein Gebot. Wie einer nicht Gott lieben, aber seinen Willen gleichzeitig nicht lieben kann, so kann er ihn auch nur a  b 

Vgl. Röm 5,12. Vgl. Ps 29,6.

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lieben, wenn er auch seine Gebote liebt, in denen sich sein Wille ausdrückt und zu erkennen gibt. 41.  Daher ist mit der Liebe zu Gott stets die Liebe zu seinem Willen und die Liebe zu seinen Geboten verbunden, dazu auch noch die Liebe zum Gehorsam. Denn wer das Gebot Gottes liebt und seinen Willen, der liebt auch den Gehorsam. Das wünscht nämlich Gott, dass man tut, was er befiehlt; Und wenn er befiehlt, etwas zu tun, so ist es sein Wille, dass man ihm gehorcht. Daher lässt sich derjenige gerne Befehle erteilen, der den Willen Gottes, den er auszuführen befiehlt, liebt. Keiner aber lässt sich gerne Befehle erteilen, der nicht auch gerne gehorcht. Wenn es also keinen Gehorsam Gott gegenüber ohne Liebe gibt (das heißt, ohne Gottesliebe), und wenn es keine Gottesliebe gibt ohne Liebe zu seinem Willen, den er auszuführen befiehlt, und wenn es diese nicht ohne Liebe zum Gebot gibt, noch Liebe zum Gebot ohne Liebe zum Gehorsam, was folgt daraus anderes, als dass es keinen Gehorsam Gott gegenüber gibt ohne Liebe zum Gehorsam, noch ohne Liebe zum Gebot Gottes, dem man Gehorsam schuldet? 42.  Wir wollen noch prüfen, ob es so ist und uns als erstes dem zuwenden, was uns durch die Worte des Psalmisten bezüglich der Liebe zu den Geboten Gottes nahegelegt wird. Er spricht: Ich sann nach über deine Gebote, die ich liebe. Ich erhob meine Hän­ de zu deinen Geboten, die ich liebe, und ich will mich üben in dei­ nen Gesetzen (Ps 118,47).f.). Auf drei Weisen zeigt er seine Liebe zu den Geboten Gottes: durch sein Nachsinnen, die Erhebung der Hände (das heißt, durch sein Tun) und ebenso durch sein Üben. 43.  Im Nachsinnen sollen wir die Gebote Gottes lieben nach jenem Wort: Denk ständig über das nach, was Gott dir befohlen hat (Sir 3,22V). Durch das Nachsinnen werden nämlich die Gebote Gottes dem lieb, der bedenkt, wie heilsam sie sind, wie angemessen, wie zuverlässig, wie sie sich durch die Jahrhunderte bewährt haben, geschaffen in Wahrheit und Gerechtigkeit (Ps 110,8). 44.  Für manche jedoch sind sie lieb und beglückend beim Nachsinnen, doch beim Ausführen scheinen sie schwer und bitter, weil sie selbst im Tun träge sind. Diese Trägheit überwindet jener, der da spricht: Ich erhob meine Hände zu deinen Geboten, die ich liebe (Ps 118,48).

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9. Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss, 40-48

45.  Ebenso gibt es manche, die beim Nachsinnen und Tun die Gebote Gottes zu lieben und sich an ihnen zu freuen scheinen, doch beim Üben erweisen sie sich kleinmütig und unbeständig. Das überwindet jener, der da spricht: Ich will mich üben in dei­ nen Gesetzen (ebd.). Es gibt ein Üben beim Ausführen der Gebote Gottes oder auch beim Nachsinnen über sie, an dieser Stelle aber ist die Übung gemeint, die sich einer Schwierigkeit – einer Versuchung, Verfolgung oder einem Hindernis – widersetzt, die uns irgendwie abhalten möchten, den Geboten Gottes gerecht zu werden. So wird die Liebe zu den Geboten Gottes in der Liebe zum Nachsinnen, Tun und Üben vollendet. 46.  Die Liebe zum Gehorsam geht jedoch aus der Liebe zu den Geboten hervor, denn wer die Gebote nicht liebt, liebt auch den Gehorsam nicht. Was sollen wir also sagen? Es sind doch viele, die die Gebote halten, doch lieber hätten, dass man ihnen keine Anweisungen gibt, die eher die Abschaffung der Gebote wünschen würden. Es sind doch viele, die keine Unzucht treiben, nicht stehlen, die Feinde nicht verfolgen und doch wünschen, Gott hätte das alles nicht verboten. Ja, viele wünschen, dass es keine diesbezüglichen Gebote Gottes gäbe. Doch da er das verboten hat, unterlassen sie es, denn sie fürchten die Strafe des Gesetzgebers, wenn sie das tun, was er verboten hat. 47.  Wer so ist, hält offenkundig die Gebote Gottes und gehorcht daher, doch liebt er nicht den Gehorsam. Wenn es aber so ist, lieben nicht alle, die gehorsam sind, den Gehorsam, noch alle, die die Gebote Gottes halten, diese Gebote. Wie kann also der Gehorsam der untrennbare Begleiter der Liebe sein? Und wie kann das Wort wahr sein: Wer mich nicht liebt, hält an meinen Worten nicht fest? (Joh 14,24). 48.  Man muss jedoch darauf achten, dass Absicht und Gefühlsantrieb einen Unterschied im Gehorchen bewirken. Der Absicht entsprechend gibt es einen wahren Gehorsam und einen geheuchelten. Wahr ist er, wenn er die Hoffnung auf Vergeltung auf die Wahrheit – das heißt auf Gott – gründet. Geheuchelt ist er, wenn er Gott dem Anschein nach folgt und in seiner Begierde für seine Mühe etwas außerhalb der Wahrheit erhofft. Dem Gefühlsantrieb entsprechend gibt es einen erzwungenen Gehorsam

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und einen freiwilligen. Den ersten erzwingt die Furcht, zum zweiten drängt lebendige Liebe. 49.  Wenn man Gefühl und Absicht gemeinsam betrachtet, gibt es einen erzwungenen und einen wahren Gehorsam: jenen nämlich, der aus Gottesfurcht geleistet wird und auf Gott ausgerichtet ist. Ein solcher Gehorsam enthält bei dem einen mehr Furcht und weniger Liebe, beim anderen mehr Liebe und weniger Furcht. Immer hat er jedoch von beidem etwas an sich. Wie er nämlich ohne Furcht niemals erzwungen ist, so ist er ohne Liebe niemals wahr. 50.  Er gibt auch einen erzwungenen und geheuchelten Gehorsam, der allein aus Furcht geleistet wird und nicht auf Gott ausgerichtet ist. Und es gibt einen freiwilligen und geheuchelten Gehorsam, wie ihn die Heuchler haben. Auch gibt es einen freiwilligen und wahren Gehorsam, der aus der Liebe hervorgeht und durch die Liebe zu Gott hinstrebt. Diesen verlangt Gott, diesen liebt er, diesen legt er uns durch sein Gebot und Beispiel ans Herz; diesen liebt er ebenso, wie er ihn belohnt. 51. Der erzwungene und wahre Gehorsam aber hat zwar nicht die Freiheit der Liebe wegen des Gefühls der Furcht, durch die er dorthin gezogen wird, wohin er nicht will, dennoch hat er etwas von der Freiheit der Liebe an sich durch die Absicht, in der er sich dorthin wendet, wohin er will. Wie er gegen seinen Willen das Gefühl verspürt, so lenkt er seine Absicht nach seinem Willen. Deswegen ist ein solcher Gehorsam nicht uneingeschränkt zu verurteilen, sondern ein Stück weit zu billigen. Denn da er durch Furcht vor der Strafe von der Sünde ablässt, wendet er die Strafe ab, die er fürchtet, da er die Sünde, die die Strafe hinter sich zieht, nicht begeht. Da er seine Absicht auf Gott richtet, verdient er etwas von Gott, auf den er seine Hoffnung setzt. Indem er aus Furcht vor Gott von der Sünde ablässt, erweist er der Gottesfurcht Ehre. Er macht Gott in gewissem Sinn zum Gegenstand seiner Furcht und ehrt darin Gott. 52.  Ein Gehorsam, der freiwillig und wahr ist, muss zu vollem Recht Gott erwiesen werden. Eine solche Unterwerfung unter Gott entspricht nämlich einem vernunftbegabten Geschöpf,

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9. Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss, 48-54

sodass es will, was er will, und weil er es will. Das geht aber so weit, dass es will, dass auch er will, was er will. 53.  Ich sage es deutlicher: Wenn ich etwas will, was Gott will, jedoch nicht, weil Gott es will, wird mein Wille, der bloß der meine ist, noch nicht im Willen Gottes verankert. Wenn ich aber etwas will, was Gott will und weil Gott es will, hat mein Wille seinen Ursprung und seinen Grund, um gut zu sein, in Gott. Das gilt vor allem dann, wenn ich auch möchte, dass er will, was er will. Sollte ich jedoch wollen, dass er nicht will, was er will, auch wenn ich wollte, was er will und weil er es will, so will ich noch nicht mit ganzem Willen das, von dem ich will, dass er es nicht will, damit auch ich das Recht hätte, es nicht zu wollen. 54.  Ein Beispiel: Wenn ich einen Feind liebe, weil Gott das befiehlt und will, so gefällt mir in gewissem Sinne das, was auch Gott gefällt und weil es ihm gefällt. Doch gefällt es mir noch nicht uneingeschränkt, da ich meinen Feind noch nicht in Freiheit liebe, sondern mir Gewalt antue, innerlich gespalten. Teilweise will ich es, weil es gut ist und großen Lohn mit sich bringt, den Feind zu lieben. Teilweise will ich es aber auch nicht, weil es schwer ist, ein erlittenes Unrecht nicht im Gedächtnis zu behalten und das Herz ganz vom Murren abzuwenden. Und wenn ich auch beschlossen haben sollte, in keiner Weise auf Rache zu sinnen, wenn auch mein Herz bereit wärea, ihm in einer Notlage oder auf seine Bitte hin Hilfe zu gewähren, aber dennoch mit grollendem und murrendem Herzen wollte, dass Gott dieses Gebot nicht gegeben hätte und die Feindesliebe nicht wollte, dann will ich noch nicht ganz und vollkommen, was Gott befiehlt. Doch fehlt am vollkommenen Gehorsam genau das, was an der vollkommenen Liebe fehlt. Damit Liebe und Gehorsam vollkommen sind, muss dem Menschen alles gefallen, was seiner Einsicht nach Gott gefällt, wenn es vom Menschen getan wird, sodass er es selbst tut, und es muss ihm aus dem Grund gefallen, weil es ihm gefällt, und mit dem Ziele, ihm selber zu gefallen. Ein und dasselbe Ziel haben nämlich Gehorsam und Liebe: Gott zu gefallen; doch in dem, was Gott gefällt. a 

Vgl. Ps. 107,2.

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55.  Das habe ich deswegen angefügt, weil die Bösen Gott gefallen wollen; doch in dem, was ihnen gefällt, missfallen sie Gott. So glauben auch viele, die Gott nicht lieben, dass sie ihn lieben, da sie darauf schauen, dass sie Gott gefallen möchten, und auch auf seine Wohltaten und Verheißungen schauen, in denen ihnen Gott gefällt. Doch schauen sie nicht darauf, worin sie Gott gefallen möchten, und genau darin missfällt ihnen Gott. Sie schätzen nämlich nicht die Liebe aus der Kraft des Gehorsams hoch, sondern die Liebe aus dem Gutdünken ihrer Weisheit. 56.  Der Gehorsam aber ist der Begleiter der Liebe. Wie er dem Eigenwillen Widerstand leistet, so leistet er immer dem Willen Gottes Gefolgschaft. In dieser höchsten und grundlegenden Gerechtigkeit und der Ausdrucksform des Angemessenen – eben im Willen Gottes – wird der Wille des vernunftbegabten Geschöpfes geformt, damit auch er Wille Gottes sei und zu Recht so genannt wird, da er entsprechend der zuvorkommenden Gnade von Gott her seinen Anfang nimmt und sich entsprechend der Ausrichtung der Absicht auf Gott hin richtet. Wie nämlich der Mensch die Kraft zum Guten nicht aus sich heraus hat, sondern von dem her, der da sagt: Ohne mich könnt ihr nichts vollbringen (Joh 15,5), so hat er auch den Willen zum Guten nicht aus sich heraus, sondern nur von dem her, der in uns das Wollen und das Vollbringen be­ wirkt entsprechend dem guten Willen (Phil 2,13). Und wie nicht nur die Kraft, die in Gott und Gott ist, Kraft Gottes genannt wird, sondern auch jene, die dem Menschen von Gott gegeben wird und im Menschen ist, so wird auch der Wille, der in Gott und Gott ist, ebenso Wille Gottes genannt wie der Wille, der im Menschen, doch nicht vom Menschen her, sondern von Gott her da ist. Darüber hinaus wird auch noch der Wille, den er vom Menschen erfüllt haben will, als Wille Gottes bezeichnet, beispielsweise, ein jegliches Werk der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. 57.  Wille Gottes ist also, was er befiehlt, wem er befiehlt und wie er es zu tun befiehlt. Beim ersten geht es um die Autorität, beim zweiten um den Dienst, beim dritten um den Erweis der Liebe. 58.  Der Gehorsam hat seine Grundlage also vollständig in der Liebe zu Gott, weil er vom Willen Gottes her durch den Willen

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9. Warum Gott im Licht des Evangeliums geliebt werden muss, 55-58

Gottes zum Willen Gottes hinstrebt, und zum Willen Gottes zurückkehrt. Der Wille Gottes in Gott verwirklicht also durch den Willen Gottes im Menschen den Willen Gottes im Gebot wegen des Willens Gottes in Gott. Somit ist der Wille Gottes in Gott Anfang und Ziel des Gehorsams. Wer nämlich in der Liebe Gottes gehorcht, spannt sein Verlangen gleichsam auf den hin aus als Ziel, der ihn von Anfang anregt und einspannta, und von dem eingespannt er voll angespanntem Verlangen schließlich von der Mühe, die er im Gebot auf sich genommen hatb, ohne Ende ausspannt.

a  Im Lateinischen ist das Wortspiel „suspirare“ – verlangen, „inspirare“ – einhauchen, anregen und „respirare“ – aufatmen viel schöner und treffender. In der Übersetzung wird versucht, es wiederzugeben, soweit das im Deutschen überhaupt möglich ist. b  Vgl. Ps 93,20.

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Sermo 10 Traktat IX/ii Die Sanftmut

Selig die Milden, denn sie werden die Erde besitzen (Mt 5,4).

1.  Die Verheißungen Gottes sind vielfach und unterschiedlich, entsprechend den Verdiensten der Gerechten und ihrem Weg zur Gerechtmachung. Jedem Weg der Gerechtmachung entspricht nämlich seine Vergeltung, und eine jede Tugend hat ihr eigenes Lob und ihren eigenen Lohn entsprechend der Würde ihres Ranges und der Besonderheit ihrer Art. 2.  Den Milden wird der Besitz der Erde verheißen. Die Tugend der Milden ist die Sanftmut, sodass das Wort des Propheten wahr ist: Die Sanftmütigen werden die Erde erben (Ps 36,29). Wenn die Milden selig sind, dann natürlich auch die Sanftmütigen. Hören mögen das die Sanftmütigen und sich freuen (Ps 33,3). Sie sollen es hören, weil sie entweder jetzt oder in Zukunft selig sind, sie sollen auch hören, weswegen sie selig sind: denn sie werden die Erde besitzen (Mt 5,4). 3.  Es gibt Menschen, die kämpfen und streiten um die Erde, das Gegenteil von milden und sanftmütigen Menschen. Sie herrschen auf Erden, unterdrücken die Milden und zwingen den Milden ihren Willen auf. Warum sind nicht diese selig, weil sie die Erde besitzen? Ja, wie sollen sie selig sein, wenn die Erde sie verschlingen wird? Was wird nämlich Gott mit ihnen tun? Du wirst ihre Frucht von der Erde vertilgen und ihre Nachkommenschaft

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unter den Menschenkindern (Ps 20,11). Du Erde, Erde, Erdea, wie unsinnig ist die Liebe der Menschenkinder zu dir! Sie sind doch selbst von der Erde genommenb und dazu bestimmt, von der Erde weggenommen zu werden. Was sind sie denn, wenn nicht Erdenstaubc? Ihr Menschenkinder, wie lange noch ist euch schwer ums Herz, was liebt ihr die Vergänglichkeit (Ps 4,3) dieser Welt, wo es nichts gibt als die Begierde der Augen, die Begierde des Fleisches und den Stolz des Lebensd? Wisset, die ihr Erdensprösslinge und Menschenkinder seid, dass es für euch kein bleibendes Erbe auf Erden gibt, nur die Scholle des Grabes für euren Leib, die Erde aus der Erde ist! Hier ist euer Erbteil (Ps 104,11), so lange ist es wie die Länge eures Körpers von der Fußsohle bis zum Scheitel. Hier müssen wir immer bleiben. Hier wird es uns für immer gut oder schlecht ergehen, wenn wiederum Erde von der Erde genommen wird. 4.  Was soll also diese Verheißung: Selig die Milden, denn sie werden die Erde besitzen? (Mt 5,4). Was soll es heißen, dass Gott den Milden die Erde verspricht, während er doch anderen den Himmel zuspricht? Selig nämlich, die arm sind vor Gott, denn ih­ nen gehört das Himmelreich (Mt 5,3). Was verspricht er die Erde, wenn er doch mahnt, die Erde gering zu schätzen? Es ist doch allen Gerechten der Himmel zugesprochen, ebenso den Sündern, die umkehren? Deswegen steht geschrieben: Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe (Mt 3,2; 4,17). Es wird doch zu allen, die auf die rechte Seite gestellt werden, am Ende gesagt werden: Kommt, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist (Mt 25,34). Ist die Tugend der Milden vielleicht so mittelmäßig und so wenig wert, dass ihr Lohn auf der Erde liegt? 5.  Wie viel Lob sie verdient, wollen wir nun hören: der Herr stellt sich selbst als Vorbild derer vor Augen, die die Sanftmut lernen, und spricht: Lernt von mir, denn ich bin milde und von Her­ zen demütig. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen (Mt 11,29). Vgl. Jer 22,29. Vgl. Gen 2,7. c  Vgl. Gen 3,19. d  Vgl. 1 Joh 2,16. a 

b 

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10. Die Sanftmut, 3-7

Und um zu zeigen, auf wem der Geist ruht, sagt er: Auf wem ruht mein Geist, wenn nicht auf dem Demütigen und Ruhigen und auf dem, der zittert vor meinem Wort? (Jes 66,2 vet. lat.). Wenn also der Geist des Herrn auf den Sanftmütigen ruht, so dass sie in ihm ruhen dürfen und dort Ruhe finden für ihre Seelea, so kann uns die Frage umso mehr bewegen, warum einer so lobenswerten und so wertvollen Tugend vom Herrn die Erde versprochen wird. Er setzt sich doch für die Sanftmütigen auf Erden (Jes 11,4) ein, lenkt die Sanftmütigen mit seinem Urteil und lehrt die Milden seine Wege (Ps 24,9). Er erhebt sich im Gericht, um alle Sanftmütigen auf Erden zu retten (vgl. z.B. Ps 24,9; Ps 75,10 u.a.).

Wir müssen aus Ur in Chaldäa ausziehen 6. Abraham, an den die Verheißungen gerichtet waren, erhielt von Gott das Landb versprochen mit den Worten: Dir will ich Ka­ naan geben, das Land, das dir als Erbe bestimmt ist (Ps 104,11). Um ihn in das verheißene Land zu führen, führte er ihn zuerst aus dem Land heraus, in dem er zu wohnen gewohnt war, und sprach: Zieh weg aus deinem Land und komm in das Land, das ich dir zei­ gen werde! (Gen 12,1). Er führte ihn aus dem Land der Chaldäer heraus, weg von dem Ort, wo er geboren war. Durch sein Beispiel werden auch wir gemahnt, aus Ur in Chaldäac auszuziehen, das heißt, weg vom Feuer der Laster und vom Ort, wo wir geboren sind. Unsere fleischliche Natur, die in Sünden empfangen wurded und der Sünde dienstbar ist, ist nämlich das Land der Chaldäer und der Ort, wo wir geboren sind. 7.  Da wir Christus angehören, sind wir Kinder Abrahams. Die dem Geist nache leben, sind seine Kinder als Söhne der VerVgl. Mt 11,29. Vgl. Gal 3,16. Im Lateinischen steht hier wieder dasselbe Wort „terra“. Es bedeutet „Erde“ und „Land“. Leider lassen sich diese vielfachen Bedeutungsnuancen im Deutschen nicht durch ein einziges Wort wiedergeben. c  Vgl. Gen 11,31 und 15,7. d  Vgl. Ps 50,7. e  Vgl. Röm 1,4 und 8,4f; Gal 4,29. a 

b 

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SERMONES

heißung zusammen mit Isaak, der aufgrund der Verheißunga geboren wurde. Abraham aber wohnt –  allerdings in seinen Kindern – im Land der Verheißung, nachdem die Kanaanäer von den Söhnen Israels vertrieben wurden. Sie aber haben nicht durch das Schwert das Land in Besitz genommen (Ps 43,4), sondern der Herr hat vor ihren Augen die Völker vertrieben und ihnen durch das Los ihr Erbteil im Land zugeteilt, und er ließ in ihren Zelten die Stäm­ me Israels wohnen (Ps 77,54).

Der dreifache Zustand unserer fleischlichen Natur 8.  Das Land der Chaldäer und das Land Kanaan, das Land der Verheißung, sind Symbole für den dreifachen Zustand unserer fleischlichen Natur. Denn vor dem Entschluss zur Bekehrung steht das Land der Chaldäer, aus dem auszuziehen Abraham befohlen wirdb, für unser Fleischc. Zu Beginn unserer Bekehrung, wenn die Laster noch nicht überwunden sind, ist Kanaan unser Land. Es ist noch im Besitz der Kanaanäer, denen von den Söhnen Israels der Krieg erklärt wird. Es wird zum Land der Verheißung, das bereits im Besitz der Söhne Israels ist, wenn die Laster verbannt und der Leib durch die Übung der DiszipVgl. Röm 9,7-9. Vgl. Gen 12,1. c  In den folgenden Überlegungen kehrt sehr oft das lateinische Wort „caro“ wieder, das man als Leib und als Fleisch übersetzen kann. Es bezeichnet einerseits den Leib, aber viel weiter gefasst das, was der Apostel Paulus als Fleisch bezeichnet: das sind die Lebensart und die Reaktionsweisen des alten Menschen, der unter der Herrschaft der Sünde steht. Dieser alte Mensch besteht nicht bloß aus dem Leib, sondern sein in sich gekrümmtes Denken und Begehren ist noch weit mehr als dieser der Sünde unterworfen. Daher darf die negative Bewertung von „caro“ nicht als Leibfeindlichkeit verstanden werden. Aelred von Rievaulx († 1167) fasst in seinem Spiegel der Liebe sehr gut zusammen, was die Zisterzienserväter zusammen mit Paulus und den neutestamentlichen Schriften als „Fleisch“ verstehen: „Der Apostel Paulus ordnet das Begehren dem Fleisch zu, nicht weil jedes böse Begehren vom Leib stammt, denn auch die Dämonen, die ohne Leib sind, sind keineswegs ohne Begierde, sondern weil es nicht von Gott, sondern vom Menschen kommt, der in der Heiligen Schrift klar und deutlich ‚Fleisch’ genannt wird.“ (Spiegel der Liebe 1, 10, 28 (Texte der Zisterzienserväter 2, 69-70)). Vgl. ebenso Abschnitte 11f. a 

b 

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10. Die Sanftmut, 7-10

lin gezähmt und gereinigt wurde, sodass die Sünde nicht mehr in unserem sterblichen Leib herrscht (Röm 6,12). Der Leib wurde zum Knecht gemacht und dem Geist unterworfen: Er stellt seine Glieder nicht mehr als Waffen der Ungerechtigkeit für die Ungerechtigkeit zur Verfügung, sondern setzt seine Glieder als Waffen der Gerechtigkeit für die Heiligung eina. Das Fleisch ist nämlich dieses einstige Land Kanaan, das nicht mehr im Besitz der Kanaanäer ist, sondern nach Verbannung der fleischlichen Begierdenb nun von den Söhnen Israels erobert und in Besitz genommen wurde. Und nun kann ein Kanaanäer – wenn auch selten – zwar darin wohnen, jedoch nicht herrschen. Der Antrieb des Fleisches kann nämlich zurückgedrängt werden, sodass man ihm nicht zustimmt, doch kaum so ausgelöscht werden, dass man ihn nicht spürt. 9.  Dieses Land, das einstige Land Kanaan, ist vom Land der Chaldäer weit entfernt. Die Chaldäer bleiben in ihrem Land und werden von den Nachkommen Abrahams nicht hinausgeworfen, sondern Abraham erhält den Befehl, von dort wegzugehen. Es gibt nämlich Menschen, zu denen gesagt wird: Ihr werdet in eurer Sünde sterben (Joh 8,21). Diese sind es, die im Land der Chaldäer wohnen, deren Gemeinschaft Abraham verlässt, um den Kanaanäer hinauszuwerfen und das Land, das von Milch und Honig fließtc, in Besitz zu nehmen. 10.  Sieh, ob es vielleicht dieses Land ist, dessen Besitz den Milden versprochen wird. Die Tugend der Milden ist die Sanftmut. Doch achte darauf, dass die Sanftmut eines Menschen sich selbst gegenüber von der Sanftmut dem Nächsten gegenüber und der Sanftmut Gott gegenüber zu unterscheiden ist. Die erstgenannte soll als erste betrachtet werden.

Vgl. Röm 6,13. Vgl. Gal 5,16, Eph 2,3, Kol 3,5, Tit 2,12. c  Vgl. Ex 3,8 u. a.

a 

b 

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SERMONES

Die Sanftmut des Menschen sich selbst gegenüber 11.  Im Menschen gibt es dreierlei: das Fleisch, die Willenskraft und den Verstand. Als Fleisch möchte ich jetzt den Teil des Menschen bezeichnen, dessen Begehren sich gegen den Geist richtet (Gal 5,17). Zu ihm gehören nicht nur die Laster des Leibes, sondern auch die Laster der Seele, von denen der Apostel sagt: Die Wer­ ke des Fleisches sind deutlich erkennbar: Unzucht, Unsittlichkeit, Unlauterkeit, ausschweifendes Leben, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Mord, Trink-und Essgelage und Ähnliches mehr (Gal 5,19-21). 12.  Du siehst, wie viele Laster des Geistes er aufzählt, wie zum Beispiel Zorn und Neid, und wie viele Laster des Leibes. Alle diese nennt er Werke des Fleisches – ohne Zweifel jenes Fleisches, dessen Begehren sich gegen den Geist richtet. Als Fleisch wird also das Begehren in uns bezeichnet, das unvernünftig ist. Zwischen diesem Fleisch und der Vernunft steht die Willenskraft in der Mitte: sie steht dann in rechter Weise in der Mitte, wenn sie mit dem Verstand übereinstimmt, über sich den Verstand hat, der sie leitet, und unter sich das Fleisch, das ihr dient. Wenn sie aber mit dem Fleisch eins und mit dem Verstand uneins ist, dann steht sie bereits unter dem Fleisch und herrscht nicht darüber. Nein, in einer schmählichen und elenden Knechtschaft dient sie im Widerspruch zu dem, was sich für eine Herrin gehört, ihrer Magd. Wenn aber Fleisch und Willenskraft untereinander eins und uneins mit dem Verstand sind, dann wirft die Willenskraft sozusagen ungezähmt und gewalttätig das Joch des Gehorsams ab, sie fügt sich nicht seinem Befehl, stimmt seiner Entscheidung nicht zu und gibt auch nicht seinem gütigen Zureden nach. Nein, wie eine aufmüpfige und streitsüchtige Frau kämpft sie bald gegen den Verstand, bald streitet sie, bald murrt sie, und im Haus, in dem sie wohnt, herrscht kein Friedea.

Vgl. dazu die ähnliche Schilderung in Bernhard von Clairvaux, Über die Bekehrung 6, 8-9 (BCSW IV, 171-173). a 

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10. Die Sanftmut, 11-15

13. Wenn einer jedoch dem Fleisch gemäß lebt und den Leidenschaften des Fleisches frönt, ist er dann der Besitzer des Landesa seines Leibes oder des Landes seines Herzens, wenn die Sünde in seinem sterblichen Leib herrschtb, wenn das Gesetz der Sünde im Land der Sünde festgeschrieben wird, sodass er ihm als Knecht der Sünde unterworfen ist? Wird er nicht eher vom Land in Besitz genommen, sodass er keine Freiheit besitzt, um sich loszureißen, um sich zu befreien, um abzuwerfen, was ihn bedrückt und bedrängt? Er ist nämlich von der Erde verschüttet, als wäre er in der Erde begraben unter denen, die in den Gräbern schlafen (Ps 87,6) und an die Gott nicht mehr denktc – außer Gott, der die Erde erbeben lässtd, schaut vielleicht nach ihnen. 14.  Wenn der Verstand aber vom Willen im Stich gelassen wurde, was vermag er dann allein, da er doch allein dasteht? Wehe dem, der allein ist! (Koh 4,10). Wenn aber die Erde vor dem Antlitz des Herrn erbebte, sodass die Willenskraft wieder auferweckt wird und auferstehen kannf, wenn sie anfängt, mit dem Verstand eins zu sein, dann wird sie neu eingesetzt in ihren Rang, in ihre Freiheit, in ihren Frieden und so sich selbst zurückgegeben. 15. Sie wird in ihren Rang neu eingesetzt, weil sie ihrem Vorgesetzten untersteht und über ihrem Untertan steht. So findet sie sich durch die Gnade dort wieder, von wo sie durch die Schuld freiwillig weggegangen ist. Sie wird in ihre Freiheit neu eingesetzt, wenn sie einerseits den Gehorsam annimmt und leisten will, andererseits Gehorsam auferlegt und mit einem gewissen Recht einfordert. Sie tut dann nicht, was das Fleisch will, sondern lässt das Fleisch tun, was sie will, und sie verlangt von den Gliedern Gefolgschaft im Dienst der Frömmigkeit und des Heiles, bei den Werken der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit und bei allen Verrichtungen, Handlungen und Belastungen, die auf Befehl des Auch in dieser Nummer muss das lateinische „terra“ bald als „Land“ und bald als „Erde“ übersetzt werden. b  Vgl. Röm 6,6. c  Vgl. Ps 87,6. d  Vgl. Ps 103,32. e  Vgl. Ps 113,7. f  Vgl. Mt 27,51-52. a 

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SERMONES

Verstandes, dem die Willenskraft zustimmt, zu leisten oder zu ertragen sind. Wenn aber die Glieder beginnen, sich nach ihren eigenen Antrieben zu bewegen, verhindert die Willenskraft in Übereinstimmung mit dem Verstand im Gebrauch ihrer Freiheit, dass sie ihr durchgehen, und sie befiehlt ihnen, sodass sie in sich zur Ruhe kommen und Frieden haben. 16.  Und schon beginnt der Mensch, das Land in Besitz zu nehmen, da der Geist demütig und ruhig ist, milde und sanftmütig, da er einwilligt, vom Verstand in Besitz genommen zu werden, um das Land zu besitzen und in seiner Gewalt zu haben. Dieser Besitz des Landes ist gleichsam der Lohn für die Sanftmut. Alle, die in der vorhin beschriebenen Weise sanftmütig sind, fangen an, neu in sich selbst Frieden zu haben, und in diesem Frieden selig zu werden, denn Friede gilt den Menschen, die guten Willens sind (vgl. Lk 2,14). 17.  Der Mensch, der zunächst mit seinem Verstand uneins war und sich damit gleichsam selbst im Stich ließ, begann, des Besitzes seines Landes verlustig zu gehen und sich selbst fremd zu werden, als stünde er außerhalb von sich selbst sozusagen in einem fremden Land, im Land des Vergessensa, im Bereich der Unähnlichkeitb. Nach der Übertretung kehrt er in sein Herz zurückc, findet sich in sich selbst, und er wird sich selbst zurückgegeben, um nicht ohne sein eigenes Selbst zu sein. Im Jubeljahrd gleichsam wird ihm sein Besitz zurückerstattet, sodass er unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum Rast halten (3 Kön 5,5; 1 Makk 14,12; Mi 4,4) Vgl. Ps 87,13. Nach der Lehre der Kirchenväter vgl. z.B. Augustinus, Confessiones VII, x, 16 (CCSL 27, 103), und der monastischen Autoren hat der Mensch durch die Sünde die ihm bei der Schöpfung geschenkte Gottebenbildlichkeit entstellt und die Ähnlichkeit mit ihm verloren. So gelangte er in die „regio dissimilitudinis“, in den Bereich der Unähnlichkeit. Aus ihm kann er nur durch die Erlösung wieder herauskommen und die Gottebenbildlichkeit zurückgewinnen. Vgl. dazu auch Bernhard von Clairvaux, Parabeln 1, 3, 5 (BCSW IV, 807ff.) u.a.; Aelred von Rievaulx, De speculo caritatis I, iv, 12 (CCCM 1, 17) und viele weitere Zisterzienserautoren. c  Vgl. dieselben Bilder in Bernhard von Clairvaux, Über die Bekehrung 2, 3 (BCSW IV, 155ff). d  Vgl. Lev 25,8-31. a 

b 

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10. Die Sanftmut, 15-20

und sein Land in Frieden besitzen kann, da er mild ist. Selig sind nämlich die Milden, denn sie werden das Land besitzen (Mt 5,4). 18.  Das ist das Land der Verheißung, das frühere Land Kanaan, das Gott Abraham versprochen hat, als dieser sich noch im Land der Chaldäer aufhielt, in fremdem Land, wo das Lob des Herrn nicht gesungen wird, noch eines der Lieder vom Sion. Das ist das heilige Land, wo die Nachkommenschaft Abrahams gemäß dem geistlichen Sinn und Streben wohnt, wo der Tempel des Herrn steht, in dem Gott angebetet und verehrt wird entsprechend dem Apostelwort: Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist? (1 Kor 6,15 und 19). Und ebenso sagt er: Der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr! (1 Kor 3,17). 19.  Dieses Land ist noch nicht völlig in Besitz genommen, da sich in unserem Willen noch nicht die volle Sanftmut findet. In manchen Dingen leisten wir nämlich dem Verstand Widerstand, und auch das Fleisch leistet uns in manchen Dingen Widerstand. Was wir gegen den Verstand unternehmen, genau das erfahren wir durch das Fleischa. Der Wille ist nämlich teilweise dem Verstand unterworfen, teilweise hat er sich das Fleisch unterworfen, teilweise jedoch widerspricht und widerstreitet es ihm. Die ungeordneten Regungen in unserem Herzen oder Leib gleichen nämlich dem Bellen eines Hundes, der den Reisenden mehr durch sein Bellen als durch seine Bisse lästig ist. Das Bellen ist freilich lästig und beunruhigend, die Bisse jedoch sind schädlich. Das Bellen hat aber auch seinen Wert für die Bewachung und den Schutz, denn manchmal bellen die Hunde für uns und nicht immer gegen uns. Gott lässt es so zu, damit wir besonnen leben, damit wir zur Wachsamkeit angeregt werden und nicht aus Sorglosigkeit im Tode entschlafenb. 20.  Wenn aber die Hunde rund um das Haus bellen, kann man dann etwa sein Haus im Frieden besitzen? Und wenn es Widerspruch in unserer fleischlichen Natur gibt, der sich nicht nur gegen den Verstand, sondern auch gegen unseren Willen richtet, a  Ähnliche Gedanken, z.B. dass der Leib des Menschen dann dem Geist gehorcht, wenn der Geist Gott gehorcht, finden sich wiederholt auch bei Bernhard. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Brief 42, 32 (BCSW II, 495) u.a. b  Vgl. Ps 12,4.

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SERMONES

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besitzen wir dann etwa unser Land nicht? Doch, wir besitzen es, zwar noch nicht ganz so, wie wir wollen, doch so, wie es uns zurzeit möglich ist. Im Reich des Friedens finden sich aber auch kleine Räuber, die jedoch gefasst, erfasst und entweder aufgehängt oder mit anderen Strafen bedacht werden, damit das Reich durch Recht und Gerechtigkeit im Frieden gefestigt wird. Ohne Gerechtigkeit gibt es nämlich keinen Frieden im Reich, keinen Frieden im Haus, keinen Frieden in unserem Herzen, keinen Frieden in unserem Fleisch und keinen Frieden in unserem Land. Die Ge­ rechten werden nämlich das Land erben (Ps 36,29). 21.  Wenn man das Land in Gerechtigkeit besitzt, dann besitzt man es auch in Frieden, und ohne Gerechtigkeit kann man es nicht in Frieden besitzen. Deshalb steht geschrieben: Gerech­ tigkeit und Frieden küssten sich (Ps 84,11). Dieses Land, das man noch nicht voll besitzt, aber doch irgendwie besitzt, wird dann voll in Besitz genommen, wenn alle Verderbnis des Fleisches von der Herrlichkeit der Auferstehung verschlungen sein wird, und der Wille in keiner Weise dem Verstand, noch das Fleisch dem Willen Widerstand leistet. Das wird dann geschehen, wenn die ganze Nachkommenschaft Kanaans aus dem Land ausgetilgt und jeder Fluch Kanaans von uns genommen sein wird. Ein Fluch lastet nämlich auf Kanaan, und es ist der Knechtschaft unterworfen; die Schöpfung selbst wird jedoch von der Knechtschaft der Vergäng­ lichkeit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes (Röm 8,21). Dann werden die Sanftmütigen das Land be­ sitzen (Ps 36,11)a und sich freuen in der Fülle des Friedens. Jene, die jetzt auf den Herrn hoffen und das Gute tun, werden dann darin wohnen und sich von seinem Reichtum nähren. Das Land wird nämlich überreich und fruchtbar sein, von Milch und Honig fließenb, ja es wird von allem Bösen als Lohn für die früher geübte Geduld frei und von allem Gutem als Lohn für den früher geübten Gehorsam voll sein.

Der ganze folgende Abschnitt greift Worte des Psalmes 36 auf, besonders Vers 11 und Vers 3. b  Vgl. Ex 3,8; Dt 6,3 u. a. a 

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10. Die Sanftmut, 20-25

22. Die Tugend der Sanftmut eines Menschen gegen sich selbst besteht nämlich in Geduld und Gehorsam – des Willens gegenüber der Vernunft und des Fleisches gegenüber dem Willen. Die Vernunft legt nämlich dem sanftmütigen Willen und dieser dem sanftmütigen und gezähmten Fleisch bald Schweres zu ertragen auf – dafür braucht es die Tugend der Geduld, dass es geduldig ertragen wird –, bald trägt sie ihm gute Werke auf – dafür braucht es die Tugend des Gehorsams, dass es demütig getan wird. Daher wird die Milch des Trostes durch die Widerstandskraft gegenüber dem Bösen der Lohn für die Geduld sein, der Honig aber durch die Fülle alles Guten der Lohn für den Gehorsam.

Die Sanftmut des Menschen dem Nächsten gegenüber 23.  Selig die Milden, denn sie werden das Land besitzen (Mt 5,4). Den Milden wird das Land verheißen, sicherlich das Land der Verheißung. Das Land der Verheißung kann seiner Bedeutung nach – so scheint mir – auf viererlei Weisen verstanden werden. Zuerst ist das Land der Verheißung in Hinblick auf die Gesamtheit der Glaubenden die Vielzahl der Gläubigen, die in der Gerechtigkeit des Glaubens und des Gehorsams, in der Abraham Gott gefiel, in der ganzen Welt gesammelt wird und zuletzt im Schoße Abrahams versammelt werden soll. Daher wurde Abraham gemäß dem Wort des Apostels versprochen, Erbe der Welt zu seina, da er der Vater vieler Völker sein sollteb. 24.  Entsprechend der persönlichen Hoffnung der Einzelnen ist das Land der Verheißung bei den Einzelnen das Land ihres Herzens und ihres Leibes, das einem jedem zu Besitz gegeben wurde, und das jeder durch die Sanftmut in Frieden als Besitz innehaben soll. 25.  Weiters ist das Land der Verheißung auch das Land der Lebendenc, wo die Gemeinschaft der Seligen ist, wo niemand stirbt Röm 4,13. Röm 4,17; Gen 17,5. c  Ps 26,13; 51,7; 141,6; Jes 38,10. a 

b 

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164

SERMONES

und wo jenes Jerusalem ist, das als Stadt erbaut wird und an dem jeder auf dieselbe Weise teilhat (Ps 121,3): sie durchquert kein Unbeschnittener und Unreinera, die Kanaanäer wohnen nicht dort; von dort sind die bösen Geister verbannt, sie haben keinen Anteil und keinen Anspruch im Land der Heiligen. Der Besitz dieses Landes wird den Sanftmütigen versprochen, denn die Teilhabe an der Gemeinschaft der Seligen wird durch Sanftmut erlangt. 26.  Jede heilige Gemeinschaft ist durch den Frieden gefestigt; der Friede aber kann ohne Sanftmut nicht gewahrt werden. Wie ein unruhiges Zugtier im Joch nicht zieht, sondern Unruhe stiftet, so stiftet ein Gewalttätiger Unfrieden in der Gemeinschaft der Guten, er bricht das Band der Freundschaft, löst die Verbundenheit in der Gemeinschaft auf, sät Zwietracht, schimpft über den Nächsten und häuft Schmähung auf den Nächstenb, bald kämpft er, bald streitet er, bald murrt er, bald urteilt er in der Abfolge seiner Gedanken und misstrauischen Regungen über die anderen; wie ein wilder und störrischer Stierc lehnt er das Joch ab, sein Herz ist zum Zorn, seine Augen zum Neid, seine Zunge zum Schimpfen geneigt. Er fügt sich nicht in die Gemeinschaft ein, sondern zieht sich oft vom Miteinander in der Gemeinschaft durch die Eigenwilligkeit seines Strebens zurück. Er zerstört sich selbst, belästigt die anderen, trägt durch sein Beispiel zur gemeinsamen Heilsaufgabe nichts bei, sondern zerrüttet die Einheit. Wie ein unfähiger Gefährte bringt er das gemeinsame und heilbringende Werk durch seine Verkehrtheit durcheinander. Ein unfähiger Gefährte ist er nämlich, wenn er das gemeinsame Tun behindert. 27.  Die Tugend der Sanftmut aber ist einerseits von allen diesen Übeln entfernt, anderseits aber stets mit dem Frieden vertraut und befreundet. Für diese Tugend ist es nämlich kennzeichnend, Unrecht weder zu begehen noch zurückzugeben, das heißt, weder grundlos zu schaden, noch Vergeltung zu suchen, das heißt, weder Feind, noch Rächer zu sein. Beide – der Feind und der Rächer – sind ja Feinde Gottes. Er wird sie zugrunde richten, um sich aus Vgl. Jes 52,1. Vgl. Ps 14,3. c  Jer 31,18. a 

b 

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10. Die Sanftmut, 25-29

dem Mund der Kleinkinder und Säuglinge Lob zu schaffen wegen seiner Feinde (Ps 8,3). Wer sind die Säuglinge und die Kleinkinder? Doch sicher die Kleinen, Demütigen, Einfachen, Sanftmütigen, Milden und Geduldigen, die das Gute nicht durch das Böse, sondern das Böse durch das Gute besiegena. 28.  Ein Kleinkind bringt keine Worte hervor, ein Säugling saugt Milch. Höre dennoch, was ein Kleinkind sagt: Ich legte meinem Mund einen Zaum an, solange der Frevler vor mir stand (Ps 38,2)b. Wenn es geschmäht wird, schmäht es nicht, wenn es geschlagen wird, droht es nichtc. Es ist nämlich stumm beim Unrecht und spricht: Ich bin geworden wie einer, der nicht hört, aus dessen Mund keine Entgegnung kommt (Ps 37,15). Zu den Säuglingen aber wird gesagt: Legt alle Bosheit ab, alle Falschheit und Heuchelei, allen Neid und alle Verleumdung. Verlangt gleichsam als neugeborened vernünftige Kinder nach der unverfälschten Milch, damit ihr durch sie heranwachst und das Heil erlangt (vgl. 1 Petr 2,1-2). Der Herr hat nämlich Gefallen an ihnen, und er wird die Sanftmütigen zu ihrem Heil erhebene. 29.  Ist das Land der Lebendenf nicht wirklich dort, wo den Sanftmütigen die beglückende Gemeinschaft mit den Erwählten verheißen wird, die sich jetzt in die Gemeinschaft der Guten durch Unschuld und Geduld einfügen und die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens wahren? (Eph 4,3). Ein angemessener Lohn für die Sanftmütigen ist der ruhige Besitz dieses Landes, wo die Gemeinschaft der Seligen im Frieden gefestigt ist, der ohne Sanftmut nicht gewahrt werden kann. Daher spricht der Prophet zum Herrn: Es werde Friede in deiner Kraft (Ps 121,7). Deine Kraft, Herr, wie könnte ich sie treffender bezeichnen als die Kraft, für die du selbst Vorbild bist, wenn du sagst: Lernt von mir, denn Vgl. Röm 12,21. Vgl. auch Regel des heiligen Benedikt 6, 1 (SC 181, 470). c  Vgl. 1 Petr 2,23. d  Im lateinischen Vulgatatext steht: „rationabile … lac concupiscite“, Balduin hat sowohl nach dem Text der Patres Latini wie auch des Corpus Christianorum CM „rationabiles“, das sich auf die „infantes“ bezieht. e  Vgl. 1 Petr 2,2. f  Vgl. Ps 26,13. a 

b 

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SERMONES

ich bin mild und von Herzen demütig (Mt 11,29). In der Sanftmut wird also der Friede geschaffen und gewahrt, damit wir zunächst durch Geduld unsere Seelen gewinnena und dann in das Reich des Friedens eingeführt werden, wo den Ruhigen ewige Ruhe bereitet ist. Und Überfluss herrscht in deinen Mauern (Ps 121,7), Herr, sozusagen bei deinen Kleinen und Demütigen. 30.  Wenn wir Milch und Honig in Fülle suchen, dann wollen wir unsere Schritte im Zugehen auf dieses Land beschleunigen. Wir haben ja gehört, dass jenes Gebiet Überfluss hat an Milch und Honig, das heißt, dass als Lohn für die frühere Unschuld alles Böse fern ist und dass es von allem Guten voll ist als Lohn für die frühere Geduld. Die Sanftmut eines Menschen seinem Nächsten gegenüber besteht nämlich in Unschuld und Geduld. So wird auch der Lohn für die Unschuld wie Milch sein durch das Freisein vom Bösen, und der Lohn für die Geduld wie Honig sein durch den Überfluss an allem Guten.

Die Sanftmut des Menschen Gott gegenüber

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31. Wenn wir das Land der Verheißung viertens in Christus sehen, der das Ziel der Verheißungen ist, dann scheint die Frage schwierig zu beantworten, wie die verfluchte Nachkommenschaft Kanaans in diesem Lande gewohnt haben kann. Denn welchen Raum wird der Fluch dort haben, wo die Fülle der Gnadeb wohnt? Christus ist aus der Jungfrau Maria geboren, vom Heiligen Geist empfangen, von den Sündern getrennt und erhabener geworden als die Himmlischen (Hebr 7,26). Wie er voll der Gnade war, so war er auch frei von aller Schuld. Doch kann vielleicht einer, der gläubig fragt, eine befriedigende Antwort finden, wenn er nicht mit sich diskutiert, sondern ehrfürchtig auf die Einheit zwischen dem Haupt und dem Leib Christi achtet und auf die Sterblichkeit unseres menschlichen Daseins in Christus.

a  b 

Vgl. Lk 21,19. Vgl. Joh 1,14.

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10. Die Sanftmut, 29-33

32.  Denn da er unser Haupt sein wollte, um die Liebe tiefer darzulegen, in der er uns als seine Glieder inniger mit sich verbanda, verwandelt er uns wegen der unaussprechlichen Einheit in sich und führt unsere Sache beim Vater. Er sagt: Warum hast du mich verlassen? Weit von meinem Heil entfernen mich die Worte meiner Vergehen (Ps 21,2). Er bezeichnet unsere Vergehen als die seinen, sie sind uns anzulasten, doch sollten wir durch ihn nicht damit belastet werden. Natürlich waren es unsere Vergehen und ihm fremd, da er das Bewusstsein eigener Ungerechtigkeit nicht hatte. Doch fühlte er Mitleid mit fremdem Unglück, um uns mit Gott zu versöhnenb, der ihn, der die Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde machte, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würdenc. Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes befreit, indem er selbst für uns zum Fluch wurded, da geschrieben steht: Verflucht ist jeder, der am Pfahl hängt (Gal 3,13). Der Fluch ist jedoch schon beendet, da Christus, vom Tod erstanden, nicht mehr stirbt, der Tod hat keine Macht mehr über ihne. 33.  Wir besitzen daher das Land der Verheißung, nicht das Land von Dan nach Beerschebaf, nicht vom Euphrat, dem großen Strom, bis zum Grenzbach Ägyptensg, nicht von einem Meer bis zum anderenh, noch vom Strom bis an die Enden der Erdei, sondern wir sehen die Abraham gegebenen Verheißungen in Christus erfüllt, wie der Prophet sagt: Der Herr gibt mir das Erbe und reicht mir den Becher, du hältst mein Los in deinen Händen. Auf schönem Land fiel mir mein Anteil zu, ja, mein Erbe gefällt mir gut. Ich prei­ se den Herrn, der mir Einsicht gab (Ps 15,5-7). In Christus liegen also unser Erbe und unser Anteil. Und nach der Eigenart der Natur, die er für uns annahm, ist hier das Land der Verheißung, das Land, von dem gesagt wurde: Du hast, o Herr, dein Land begnadet Vgl. 1 Kor 6,15 u.a. Vgl. Röm 5,10; 2 Kor 5,18-21. c  Vgl. 2 Kor 5,21. d  Vgl. Gal 3,13. e  Vgl. Röm 6,9. f  Vgl. Ri 20,1; 1 Sam 3,20; 2 Sam 3,10; 2 Sam 17,11. g  Vgl. Gen 15,18. h  Vgl. Ps 71,8. i  Vgl. Ps 71,8; Sir 44,23. a 

b 

235

SERMONES

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(Ps 84,2). Über dieses Land steht auch geschrieben: Herrlichkeit wohne in unserem Land. Gerechtigkeit und Friede küssten sich (Ps 84,10f.). 34. Um den Sanftmütigen dieses Land zu geben, kam der Herr, der über den Cherubim thronta, sanftmütig und auf einem Esel sitzendb. Dieser ist ein Tier, das im Gehorsam und in der Geduld stets sanftmütig ist. In ihm hat der Herr ein Vorbild der Sanftmut dargestellt und uns vor Augen gestellt, damit auch wir in Gehorsam und Geduld Christus als Reiter tragen, als Sanftmütige den Sanftmütigen. Wie verwirrend ist das für uns, wie beschämend! Das Schweigen unter dem Jochc klagt unsere Unvernunft an, und als Lehrer in der Sanftmut wird uns der Esel vor Augen gehalten, damit wir von einem dummen Tier Weisheit lernen, da wir selbst noch dümmer sind! Wehe uns, die wir so abgeirrt sind, weil wir so töricht geworden sind in unserem Unverstand! Und woher kommt das für den Menschen? Doch nur, weil er, solange er in Ehren stand, keine Einsicht hatte. Er wurde den unvernünftigen Tieren gleich und ihnen ähnlich (Ps 48,13 und 21). 35. Hoffentlich werden wir durch dieses Beispiel in heilsamer Weise beschämt, damit man von uns nicht sagen kann: Der Ochs kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn, Israel aber hat mich nicht erkannt (Jes 1,3). Erweisen wir uns also Gott gegenüber als sanftmütig! Denn wenn der Herr die Sanftmütigen annimmt (Ps 146,6), so lehrt und rät er uns, unter seinem Joch und unter seiner Lastd für ihn durch Gehorsam und Geduld sanftmütig zu werden. In diesen beiden Tugenden – dem Gehorsam nämlich und der Geduld – erweist sich die Sanftmut Gott gegenüber. 36.  Der Gehorsam erfüllt, was uns aufgetragen ist, und die Geduld erträgt, was uns von Gott als Last aufgeladen wird. Der Gehorsam weigert sich nicht, und die Geduld murrt nicht. Der Gehorsam steht für die Gebote ein, die Geduld steht die Fügungen durch. Der Gehorsam ist ein Joch und doch ohne Joch, da er Vgl. Ps 71,8. Vgl. Sach 9,9; Mt 21,5. c  Vgl. 2 Petr 2,16. d  Vgl. Mt 11,29-30.

a 

b 

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10. Die Sanftmut, 33-38

aus den Banden der Knechtschaft löst und zur Freiheit erlöst. Die Geduld ist eine Last und doch ohne Last, denn sie belastet nicht, sondern entlastet. Was nämlich für die Ungeduldigen schwer ist, wird durch die Geduld entlastet. Mit ihr können wie mit einem geistlichen Fahrzeug alle Lasten leichter getragen werden. Und wie die große Zahl der Federn und des Flaumes den Vogel gleichsam belastet und doch in die Höhe hebta, so richtet die Geduld in den Bedrängnissen auf, statt niederzudrücken. Alle, die unter Christi Joch und Last sanftmütig werden, haben einen sanftmütigen Gott, selbst in seinem Zorn, in dem er hier die Fehlenden zurechtweist, damit sie nicht härter gerichtet werden müssen. Darum steht geschrieben: Sanftmut kommt über ihn, und wir werden zurechtgewiesen (Ps 89,10). 37.  Durch diese Tugenden also – den Gehorsam und die Geduld – wird Christus als sanftmütiger Reiter von den Sanftmütigen getragen und ertragen. Mit welchem Lohn? Die den Herrn ertragen, werden das Land erben (Ps 36,9). Das Land fließt tatsächlich von Milch und Honigb, in dem Christus als Gott und Mensch in seiner Herrlichkeit geschaut wirdc: Beglückend und beseligend in der Herrlichkeit der verherrlichten Menschheit, doch beglückender und beseligender noch in der Herrlichkeit seiner herrlichen Gottheit. Wenn sie diese Herrlichkeit schauen, dann werden sie von Milch und Honig Überfluss haben. Die Ströme von Milch und Honig werden nämlich bis zu ihnen fließen. Denn wie sollten sie zu ihnen gelangen, wenn sie nicht flössen? 38.  Was sie nämlich erfreuen wird in der Schau Gottes, der höchsten Schönheit und der höchsten Süße, wird süß sein wie Honig. Dann wird zu einem jeden gesagt werden: Du hast Honig gefunden, iss, was dich satt macht! (Spr 25,16). Dort wird nämlich die volle Sättigung zu finden sein, wenn die Gefäße des Erbarmensd vom Strom der Wonnene erfüllt werden, wenn dem guten Vgl. Bernhard von Clairvaux, Brief 72, 2 (BCSW II, 593-595); Brief 385, 3 (BCSW III, 733). b  Vgl. Ex 3,8; Sir 46,10; Bar 1,20. c  Vgl. Ps 101,17. d  Vgl. Röm 9,23. e  Vgl. Ps 36,9. a 

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SERMONES

Diener gesagt wird: Nimm teil an der Freude deines Herrn! (Mt 25,21). Von Freude überströmt wird er dann, wohin er sich auch wendet, sich in der Freude finden, rund um sich lauter Freude finden und sprechen: Mein Erbe ist mir lieber als Honig, als Honig aus Waben (Sir 24,27). Dann wird der Honig dem gut tun, der viel issta, und der, der die Majestät schaut, wird von der Größe nicht erdrückt werdenb. 39.  In dieser Zwischenzeit aber tut der Honig dem, der viel isst, nicht gut, denn jeder, der die Majestät Gottes ausforschen möchte, wird von seiner Herrlichkeit erdrückt werden. Ich werde gesättigt werden – spricht der Prophet – wenn deine Herrlichkeit erscheint (Ps 16,15V). Doch was sättigt die, die nach Sättigung verlangen? Wenn sie vom Honig satt werden, woher fließt dann der Honig? Mit Honig aus dem Felsen – heißt es – hat er sie gesättigt (Ps 80,17). Der Fels aber war Christusc. Honig, sagt man, wird von den Blumen gesammelt, die vom himmlischen Tau benetzt sind. Deshalb sprechen manche auch vom Honigtaud, als wäre er vom herabfallenden Tau gebildet worden. So sagt auch der Dichter: Ständig floss Honig von oben herab als himmlische Gabee. Ob nun der Tau in den Blumen süß wird oder die Blumen durch den Tau, oder wechselseitig, wie auch immer – seien wir doch Blumen, solche, zu denen gesagt wird: Blüht, ihr Blumen! (Sir 39,19), und von denen gesagt wird: Erquickt mich mit Blumen! (Hld 2,5). Mögen der Tau in uns süß werden und wir durch ihn, der Tau vom Hermon, der auf den Berg Zion niederfälltf, und möge sich in uns der Honig bilden, wie man ihn im Land der Verheißung findet! Wenn wir ihn jetzt vorauskosten und später voller verkosten, kosten und sehen, wie süß der Herr istg, können wir aus Erfahrung sprechen: Wie groß ist deine Güte, Herr, die du verborgen hast für

Vgl. Spr 25,16. Vgl. Spr 25,27. c  Vgl. 1 Kor 10,4. d  Vergil, Eclogae siue Bucolica IV,30. e  Vergil, Georgica IV,1. f  Vgl. Ps 132,3. g  Vgl. Ps 33,9.

a 

b 

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10. Die Sanftmut, 38-40

alle, die dich fürchten. Du vollendest sie in denen, die auf dich hof­ fen! (Ps 30,20V). 40. Nicht nur an Honig hat das Land der Verheißung Überfluss, sondern auch an Milch. Die Milch leitet ihren Ursprung von der Ernährung des Fleisches her. Mit ihr tröstet die Mutter die Kleinen, die ohne Milch nicht leben könnten, und nährt sie für das Leben. Dazu ist das Wort Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt (Joh 1,14), dass wir mit Milch getränkt und an der Brust seines Trostesa gesättigt werden. Daher heißt es auch: Wie eine Mutter ihre Söhne tröstet, so tröste ich euch. In Jerusalem findet ihr Trost (Jes 66,13), in jenem himmlischen Jerusalem nämlich, wo es die Schau des Friedensb, wo es die Milch des Trostes gibt. Welche Freude die Erscheinung der Herrlichkeit des Gottmenschen in Gott auch bereiten wird, sie wird für die Schauenden köstlich sein, sie wird wie Milch sein, durch die sie für das Leben genährt werden und ohne die sie jenes Leben nicht hätten, von dem Er, der das Leben selber ist, zum Vater spricht: Das ist das ewige Leben: Dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast (Joh 17,3). Er steht als Gott über allem. Ihm sei Lobpreis in Ewigkeit (Röm 9,5).

a  b 

Vgl. Jes 66,11V. Vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos 9, 12 (CCSL 38, 63-64) u.a.

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Sermo 11 Traktat X/i Das Siegel der Liebe Gottes

Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm. Stark wie der Tod ist die Liebe, der Eifer ist hart wie die Unterwelt (Hld 8,6).

1.  Da uns Gott liebte und sich danach sehnte, geliebt zu werden, bildete er ein Siegel, das das Bild der Liebe in sich eingeprägt hatte. Dieses drückte er ganz tief in unser Herz, um ihm die bildhafte Ähnlichkeit mit dem Urbild aufzudrücken und diese durch dieselbe Gestalt auszudrückena. 2.  Dieses Siegel sollst du erkennen, sowohl beim Besiegeln als auch beim Besiegeltwerden. Denn der Apostel sagt über das Besiegeln im Römerbrief: Abraham empfing das Zeichen der Be­ schneidung zur Besiegelung der Glaubensgerechtigkeit, die ihm als Unbeschnittenen zuteil wurde (Röm 4,11). Über das Besiegeltwerden sagt er zu den Korinthern: Ihr seid im Herrn das Siegel meines Apostelamtes (1 Kor 9,2). Und zum Engel, der besiegelt war mit der Zierde der Gottähnlichkeit, spricht er durch den Propheten: Du warst ein ganz ähnliches Siegel, voll Weisheit und vollkomme­ ner Schönheit. Im Garten Gottes, im Garten Eden bist du gewesen (Ez 28,12f.V).

a 

Vgl. Hilarius von Poitiers, De Trinitate VIII, 45 (CCSL 62A, 358).

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3. Christus jedoch besiegelt und ist besiegelt worden. Ihn hat Gott, der Vater besiegelt (Joh 6,27), ihn hat der Vater geheiligta und in die Welt gesandt, ihn hat er durch einzigartige Begnadung von den übrigen unterschieden. Ein solcher Hoherpriester war für uns in der Tat notwendig; einer, der heilig ist, unschuldig, makellos, abgesondert von den Sündern und erhöht über die Himmel (Hebr 7,26). 4.  Durch ihn hat Gott auch uns besiegelt, wie geschrieben steht: Besiegelt ist über uns das Licht deines Angesichtes, Herr! (Ps 4,7V). Besiegelt hat er uns nämlich am Tag unserer Erschaffung, als er uns nach seinem Bild, ihm ähnlich, bildeteb, besiegelt auch am Tag unserer Erlösung, als er uns nach seinem Bild neu schuf. 5.  Ungerechtigkeit und Tod hatten nämlich eine Trennung zwischen Gott und dem Menschen verursacht. Gott aber hasst die Ungerechtigkeit, der Mensch dagegen den Tod. Der Mensch hasst den Tod so sehr, wie er das Leben liebt. Was aber ist im Leben beglückender als das Leben selbst, was liebenswerter? Was ist bitterer als der Tod, was verabscheuungswerter? Was ist also mehr abzulehnen als die Ungerechtigkeit, durch die die Lebensfreude verdorben werden soll und uns der Zwang des Todes auferlegt wurde? Was kann mehr geliebt werden als das Leben, vor allem aber das unsterbliche Leben, und der, der es verheißt und schenkt: Gott, der Quell des Lebensc und das Leben selbst? Gerechtigkeit aber ist, wie geschrieben steht, Erlangung der Unsterblichkeit. Daher darf man die Gerechtigkeit nicht weniger lieben als das Leben, da das unsterbliche Leben durch sie erlangt und ohne sie nicht festgehalten werden kann. 6.  Der Mensch aber war von Beginn an gewissermaßen unsterblich, sodass er bei Wahrung der Gerechtigkeit nicht sterben mussted. In diesem Teilbereich war er – jedoch nur teilweise – Gott ähnlich, jetzt aber wurde er den unvernünftigen Tieren (Ps Vgl. Hebr 7,26. Vgl. Gen 1,26. c  Vgl. Ps 36,10. d  Dieser Gedanke, der von Augustinus (vgl. Augustinus, De correptione et gratia XII, 33 (PL 44, 936)) herkommt, findet sich bei Balduin auch in Sermo 17, 10. a 

b 

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11. Das Siegel der Liebe Gottes, 3-9

48,13 und 21) gleich durch den Zustand der Sterblichkeit, doch geringer als sie durch die Verstrickung in die Sünde und die Gefahr des Verderbens. Er war jetzt umso verächtlicher als sie, als er früher größere Würde als sie besessen hatte. 7.  Die Ungerechtigkeit ist also ebenso verabscheuenswert wie der Tod, ja mehr noch als der Tod selbst. Es ist nämlich besser zu sterben als zu sündigen. Die Sünde ist der Stachel des Todesa, ein Sporn, der tödlich verwundet. Der Lohn der Sündeb ist der Tod, und der Lohn für die Ungerechtigkeit das Verderben. Die Sünde ist ein Unrecht gegen Gott, das ihn zum Zorn reizt, das Todesurteil ist die Entscheidung Gottes, die die Sünde verdammt. 8.  Der Mensch ist als Sünder zu Recht dem Tod verfallen und erfährt in vielfacher Bedrängnis den Zorn Gottes. So konnte er kaum oder nur ganz wenig auf die Liebe Gottes vertrauen. Es konnte ihm nämlich sein Denken eingeben, so zu sprechen: „Wie kann ich glauben, dass Gott mich liebt, wenn er mich so schlägt? Wie sollte ich Gutes von ihm erhoffen, wenn er seinen Unwillen über mich ausgegossen und mich nicht einmal vom Tod verschont hat? Würde er mich lieben, so könnte er mich durch seinen Urteilsspruch nicht derart bedrängen, nicht im Zorn sein Erbarmen zurückhaltenc, sondern er würde von seinem Unwillen, den ich verdient habe, ablassen, Verzeihung gewähren und mich vom verdienten Tod befreien.“ Freilich hat es den Anschein, dass Gott den Menschen hasste, als er seinen Zorn losließ und als er das Todesurteil gegen ihn erließ. Es hatte den Anschein, dass er ihn liebte, als er durch die Überwindung der Sünde und des Todes vom Todesurteil abließ. 9.  Der Tod steht also da als Zeichen des Hasses und der Liebe: des Hasses jedoch gegen die Schuld, die der Mensch begangen, der Liebe dagegen zur Natur, die Gott geschaffen hatte. Durch den Tod, den Gott über den Menschen verhängte, goss er seinen Zorn und Unwillen aus über alle Völkerd, wie geschrieben steht: Da zertrat ich sie in meinem Zorn und zerstampfte sie in meinem Vgl. 1 Kor 15,56. Vgl. Röm 6,23. c  Vgl. Ps 76,10. d  Vgl. Jes 34,2. a 

b 

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Grimm (Jes 63,3). Durch den Tod, den er für den Menschen auf sich nahm, goss Gott seine Barmherzigkeit und Liebe aus über alle Völker, wie geschrieben steht: Gott ist ein Gott, der uns Rettung verschafft. Gott, der Herr, führt uns heraus aus dem Tod (Ps 67,21). 10.  Somit steht der Tod für Zorn und Erbarmen, Verurteilung und Begnadigung, Schuldspruch und Freispruch, Unwillen und Versöhnung. Gott hat aber das Heilmittel unserer Wiederherstellung so zubereitet und gemäßigt, dass er den Zorn seines Unwillensa in das Heiligungsmittel zur Erlösung und in das Hilfsmittel zur Befreiung wandelte. Daher sagt er auch: Da half mir mein Arm, und mein Zorn war meine Stütze (Jes 63,5). Um jeden Mund zum Verstummen zu bringen und die ganze Welt Gott zu unterwerfen (Röm 3,19V), soll nun kein Mensch mehr sagen: „Gott liebt mich nicht, weil er mich nicht vom Tod verschont hat“, sondern er soll vielmehr staunend sprechen: „O, wie liebt mich Gott! Um mich zu schonen, hat er sich selbst nicht vom Tod verschont!“ 11.  Vergleichen wir also den Tod mit der Liebe, und es wird sich zeigen, dass die Liebe stark ist wie der Todb. Die Stärke des Todes – wer würde an ihr zweifeln? Welche Kraft, welche Macht, welche Würde, welcher Adel, welche Weisheit, welche Klugheit, welche Kunst, welche List könnte sich ihm widersetzen? Er lädt alle als seine Schuldner vor, von allen verlangt er den Tribut, alle betrifft er, keinen verschont er, überall auf Erden herrscht er, alle macht er gleich, allen befiehlt er, und er besiegt, selbst unbesiegbar, die Sieger über ganze Städte. Zeugen dafür sind alle, die im Staub der Erde entschlafen sindc, und die Grabmäler der Toten selbst sind Bestätigung für diese Wahrheit. Auch die mächtigsten Könige und Fürsten, die im Land der Lebenden Schrecken verbrei­ tet haben (Ez 32,25), haben selbst erfahren, was der Tod vermag. Alle Weisen der Erde, die die Gestirne des Himmels beobachteten, die Monate und Tage berechnetend, wurden plötzlich und Vgl. Ps 85,4. Vgl. Hld 8,6. c  Vgl. Dan 12,2. d  Vgl. Jes 47,13. a 

b 

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11. Das Siegel der Liebe Gottes, 9-14

unvorhergesehen vom Tod überrascht und in ihrer List gefangena. Darin zeigt sich die zweifache Stärke des Todes: er kann alle hinwegraffen und fassen, und er kann alle festhalten – es gibt keinen, der aus seiner Hand entreißen kannb. 12.  Die Liebe jedoch, mit der uns Gott geliebt hatc, bezwang die Fesseln, mit denen der Tod die von ihm Gefangenen festhielt, durch ihre Kraft, sodass er die Menschen nur für eine Zeitlang festhalten kann, die er für eine Zeitlang überwältigen darf. Chris­ tus ist nämlich auferstanden als Erster der Entschlafenen (1 Kor 15,20) und stärkt in uns die zuversichtliche Hoffnung auf die Auferstehung durch das Heiligungsmittel, das Vorbild und das Zeugnis seiner Auferstehung sowie das Wort seiner Verheißung. 13. Stark ist der Tod, der die Macht hat, uns das Geschenk des Lebens zu rauben; stark ist die Liebe, die die Macht hat, es uns für ein besseres Leben zurückzugeben. Stark ist der Tod, der fähig ist, uns die Hülle dieses Leibes zu rauben; stark ist die Liebe, die fähig ist, dem Tod seine Beute zu entreißen und sie uns zurückzugeben. Stark ist der Tod, dem kein Mensch entrinnen kann; stark ist die Liebe, die selbst über den Tod triumphieren, seinen Stachel unschädlich machen, den Kampf beschwichtigen und seinen Sieg rückgängig machen kann. Das wird dann geschehen, wenn man ihn verhöhnen und zu ihm sagen wird: Tod, wo ist dein Stachel? Tod, wo ist dein Kampf? Tod, wo ist dein Sieg? (vgl. 1 Kor 15,55)d. Stark wie der Tod ist die Liebe (Hld 8,6), weil Christi Liebe der Tod des Todes iste. Deswegen sagt er: Tod, ich werde dein Tod sein. Ich werde dein Biss sein, Totenreich! (Hos 13,14). 14. Auch die Liebe, mit der Christus von uns geliebt wird, auch sie ist stark wie der Tod, da sie selbst ein gewisser Tod ist, nämlich der Untergang des alten Lebens, die Überwindung der Laster und die Abschaffung der toten Werke. Diese unsere Liebe zu Christus ist in gewissem Sinn unsere Antwort auf seine Liebe zu uns, wenn sie ihr auch nicht entspricht, und ihr ähnlich wie ein Vgl. Ijob 5,13; 1 Kor 3,19. Vgl. Dt 32,39; Hos 5,14; Mi 5,8. c  Vgl. Eph 2,4. d  Vgl. Hos 13,14V. e  Vgl. Antiphonen des Stundengebets vom Karsamstag. a 

b 

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Abbild. Er hat uns nämlich zuerst geliebt (1 Joh 4,10.19)a, und er wurde für uns durch das Vorbild der Liebe, das er uns vor Augen stellte, zum Siegel, durch das wir seinem Bild gleichgestaltet werden, indem wir das Bild des Irdischen ablegen und das Bild des Himmlischen in uns tragenb. So wie wir geliebt worden sind, so lieben ihn nun auch wir. 15.  Darin hat er uns nämlich ein Beispiel hinterlassenc, damit wir seinen Spuren folgend. Deshalb sagt er: Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm! (Hld 8,6) – als wollte er sagen: Liebe mich, wie ich dich liebe. Habe mich in deinem Herzen, in deinen Gedanken, in deinem Sehnen und Seufzen, in deinem Stöhnen und Schluchzen. Denke, o Mensch, daran, wie ich dich gemacht, wie sehr ich dich über sämtliche Geschöpfe erhoben, mit welche Würde ich dich geadelt, wie ich dich mit Herrlichkeit und Ehre gekrönte, wie ich dich nur wenig unter die Engel gestellt, wie ich dir alles zu Füßen gelegt habef. Denk nicht nur daran, wie Großes ich für dich getan, sondern auch, wie Schweres, Unwürdiges ich für dich ertragen habeg und sieh, ob du nicht ein Unrecht gegen mich begehst, wenn du mich nicht liebst. Wer liebt dich nämlich so wie ich? Wer sehnt sich sosehr wie ich danach, von dir geliebt zu werden? Wer hat dich geschaffen, wenn nicht ich? Wer hat dich erlöst, wenn nicht ich? Wer hat als Beschützer deines Lebensh die Gefahr des Zweikampfes ertragen, wenn nicht ich? 16. Um meine Liebe zu erwidern, recke also deine Arme, rege deine Fähigkeiten! Leg mich wie ein Siegel an deinen Arm! (Hld a  Diese Aussage der Heiligen Schrift ist ein Grundthema der zisterziensischen Theologie, das von den Zisterzienservätern immer wieder staunend aufgegriffen und entfaltet wird. Vgl. z.B. Bernhard von Clairvaux, 83. Predigt über das Hohelied 6 (BCSW VI, 519f.); Über die Gottesliebe 1, 1 (BCSW I, 77f). b  Vgl. 1 Kor 15,49. c  Vgl. Joh 13,15. d  Vgl. 1 Petr 2,21. e  Vgl. Ps 8,6. f  Vgl. Ps 8,7. g  Das ist ein fast wörtliches Zitat aus Bernhard von Clairvaux, Über die Gottesliebe 5, 15 (BCSW I, 101f). h  Vgl. Ps 26,1.

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11. Das Siegel der Liebe Gottes, 14-17

8,6). Kämpfe für mich, wie ich es für dich tue. Tue mir nicht schön in schmeichlerischer Verstellung, sodass du sagst: „Herr, ich liebe dich!“a Wenn du liebst, dann zeige, dass du liebst! Liebe nicht mit Wort und Zunge, sondern in Tat und Wahrheitb. Ich habe die Welt besiegt (Joh 16,33), indem ich für dich kämpfte, doch immer noch begegnen dir die Welt und der Fürst der Welt als Feinde. Dein Feind ist auch das Fleisch, damit du mit ihnen kämpfst für mich, mehr aber noch für dich. Die Gefahr, in der du stehst, wird nämlich abgewendet! Der Kampf tobt um deine Seele, um dein Heil. Du wirst nur deinetwegen besiegt werden können und nur siegen können um meinetwillen. Vertraue daher nicht auf dich, sondern auf mich! Nicht durch dein Schwert wirst du den Feind bezwingen, und nicht dein Arm wird dir den Sieg verschaffen, sondern meine Rechte, mein Arm und mein leuchtendes Angesichtc. Wenn du mich wie ein Siegel an deinen Arm legstd, wird dir der Sieg zufallen. So sollst du kämpfen, nicht wie einer, der in die Luft schlägte: züchtige und unterwerfe deinen Leib, sei in allem enthaltsam, wie einer, der sich im Kampfe schlägt. 17.  Wenn dir das hart scheint, was kannst du dann gegen mich vorbringen? Auch ich habe harte Wege durchschritten (Ps 16,4). Willst du mit mir wetteifern, so musst du wissen, dass der Eifer hart ist wie die Unterweltf. Du musst den Kelch trinken, den ich getrunken habeg. Ich hatte Dursth und ich habe getrunken, ich habe den Tod gekostet, ich bin in die Hölle hinabgestiegeni, doch habe ich die Schmerzen der Hölle überwunden und bin auferstandenj. Willst du mir in eifriger Nachahmung nachfolgen, so wirst du Belastungen, ja gleichsam Höllenqualen erleben. Das ist es, was ich von dir verlange! Das ist es, was ich ersehne. Das ist Vgl. Joh 21,15-17. Vgl. 1 Joh 3,18. c  Vgl. Ps 43,4. d  Vgl. Hld 8,6. e  Vgl. 1 Kor 9,27. f  Vgl. Hld 8,6 g  Vgl. Mt 20,22. h  Vgl. Joh 19,28. i  Vgl. das Apostolische Glaubensbekenntnis. j  Vgl. Apg 2,24. a 

b 

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es, wozu ich mahne. Das ist es, was ich rate: Lass dich eine Weile quälen wie in der Hölle, damit du nicht ohne Ende in der Hölle gequält wirst. Die eifrige Nachahmung gleicht nämlich der Höllea, ist ähnlich dem Ort der Bestrafung. Doch das ist der Weg, der zum Eingang des Reiches hinführt. 18.  Du musst das leiden und so das Leben erlangen. Daher haben auch die Märtyrer, die wahrhaft mit mir wettgeeifert haben, jetzt teil an meiner Herrschaftb; vorher aber, als ihr Leib und ihre Gebeine im Tod über die Erde verstreut waren und sie nach dem Tod geschmäht wurden, sprachen sie: Unsere Gebeine sind hingestreckt am Rande der Hölle (Ps 140,7V). Sieh, wie sie mich geliebt haben, da sie mir bis an den Rand der Hölle folgen und vom Totenreichc verschlungen werden wolltend. Wenn du Widriges erlebst und daher in der Einschätzung der anderen als Sünder giltst, der am Rand der Unterwelt steht, hast du etwas, um mit mir zu sprechen: Meine Seele ist gesättigt mit Leid, mein Leben ist der Unterwelt nahe. Schon zähle ich zu denen, die hinabsinken ins Grab (Ps 87,4f.). 19.  Lege mich wie ein Siegel an dein Herz, sodass du mich mit aller Kraft liebst. Lege mich an deinen Arm, sodass du voller Zuneigung tust, was mir gefällt. Lege mich an dein Herz durch die Haltung der Liebe, lege mich an deinen Arm durch die Entfaltung im Werk. Nimm mich als Vorbild und Helfer, um rein und lauter zu lieben, als Vorbild und Helfer, um gut zu handeln und tapfer zu leiden. Lege mich an dein Herz, stelle mich über alles, was du denkst, was du liebst, was dir am Herzen liegt, sodass du alles, was dir lieb ist, zurückstellst, mich immer voranstellst und mich immer mehr liebst: nicht nur mehr als das, was außerhalb von dir ist, sondern auch mehr als das, was in dir ist, schließlich sogar mehr als dich selbst, sodass du dich meinetwegen, nicht bloß Vgl. Hld 8,6. Vgl. Offb 20,4. c  Das lateinische Wort „infernus“ ist weiter als die deutsche Übersetzung „Hölle“. Es meint den Bereich des Totenreiches, der Unterwelt, den Aufenthaltsort der Verstorbenen nach antiker Weltdeutung, und dazu auch noch die Hölle in unserem Sinn. d  Vgl. Spr 1,12. a 

b 

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11. Das Siegel der Liebe Gottes, 17-22

deinetwegen liebst. Die Liebe zu dir, wie ich sie will, stehe in deinem Herzen an der Spitze, die Liebe zu mir noch oberhalb dieser Spitze. 20.  Da aber die vollbrachte Tat der Beweis für die Liebe ista, lege mich an deinen Arm. So sollst du kämpfen, so dich im Werk für mich üben, dass du aus mir heraus wirkst. Ich möchte deine Hoffnung, ich deine Zuversicht, ich deine Stärke, ich deine Geduld sein. Zu mir sollst du sagen: Herr, du bist meine Hoffnung von Jugend auf! (Ps 70, 5). Zu mir sollst du sagen: Ich will dich lie­ ben, Herr, meine Stärke! (Ps 17,2). Zu mir sollst du sagen: Denn du bist meine Geduld (Ps 70,5V). Zu mir sollst du sagen: Mein Gott, mein Erbarmer! (Ps 58,11.18). Lege nicht das Fleisch an deinen Arm, sondern sage zu mir: Sei uns ein helfender Arm jeden Mor­ gen, sei unsere Rettung in der Not! (Jes 33,2). 21.  Liebe verlange ich von deinem Herzen im Inneren, Nachahmung nach außen hin. Doch damit du weißt, ob es die wahre Liebe ist, achte auf die Stärke der Seele. Denn eine Liebe, die nicht stark ist wie der Todb, ist nicht die wahre Liebe. Achte zuerst auf meine Liebe zu dir und meinen Tod für dich. Als ich mein Leben für dich hingab, entriss mir mein Lebenc nicht die Bosheit oder Macht der Verfolger, nicht die Gewalt des Todes gegen meinen Willen, sondern die Liebe drängte michd, sie zwang mich, sie tat mir Gewalt an. Was bei anderen der Tod vermochte, das vermochte bei mir die Liebe, der der Tod auf den Fuß folgte. 22.  Schau im Übrigen, was der Tod vermag und was die Liebe vermag, um dich zu vergewissern, dass die Liebe stark ist wie der Tod (Hld 8,6). Der Tod trennt die Liebsten voneinander und die innigsten Bündnisse, ebenso trennt auch die Liebe. Denn wer Haus, Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Frau, Kinder oder Äcker um meines Namens willen verlässt, wird das Hundertfache dafür erhalten und das ewige Leben gewinnen (Mt 19,29). Der Tod

a 

256).

Vgl. Gregor der Grosse, Homiliae in Euangelia XXX, 1 (CCSL 141,

Vgl. Hld 8,6. Vgl. Joh 10,17. d  Vgl. 2 Kor 5,14. b  c 

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trennt Seele und Leib, ebenso trennt auch die Liebe. Denn wer seine Seele nicht hasst, kann nicht mein Jünger sein (Lk 14,26). 23.  Die Nachfolge in dem äußeren Bereich zeigt ihre Echtheit nicht, wenn sie nicht schwer ist. Es kann sie nämlich einer im Wohlergehen vortäuschen, der in der Versuchung nicht bei mir ausharrta. Die Seelenstärke in der Scheidung der Gefühlsregungen ist ein Zeichen der Liebe im Inneren, die Härte der Bedrängnis aber ein Zeichen der Nachfolge im Äußeren. Das sind die Zeichen, die durch das Siegel eingeprägt werden. 24. Herr, du befiehlst mir: Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz! (Hld 8,6). Mach, was du befiehlst! Wie könnte ich dich sonst nämlich auf mein Herz legen? Wie kann ich das? Doch wenn ich es nicht auf irgendeine Weise könnte, wenn auch gleichsam durch dich, würdest du mir nicht sagen: Leg mich hin! Welche Herabwürdigung deinerseits, Herr! Welche Würde und Freiheit meinerseits, Herr! Du verschmähst es nämlich nicht, von deinem Diener auf das Herz deines Dieners gelegt zu werden. Du hast mich als so würdig angesehen und mir den freien Willen gegeben, um das zurückweisen zu können, was dir missfällt, und das Gute zu wählen, das dir gefällt. Durch die Wahl des Guten kann ich dir nun gefallen, eins sein mit dir, an dir teilhaben, dich in mir tragen, dich mehr als mich lieben, wie es dir gebührtb. 25.  Nimm weg von mir, Herr, das Herz von Stein, nimm weg das in sich verschlossene Herz, nimm weg das unbeschnittene Herz und gib mir ein neues Herz, ein Herz von Fleisch, ein reines Herzc. Du reinigst das Herz und liebst das reine Herzd, nimm mein Herz in Besitz und wohne darin, halte es fest und fülle es aus, du, der du höher stehst als das Höchste in mir und mir innerlicher bis als das Innerste in mir. Du bist das Urbild der Schönheit und das Siegel der Heiligkeit, besiegle mein Herz mit deinem Bild, besiegle mein Herz unter deiner Obhut, du Gott meines Herzens und mein Anteil, Gott, auf ewig (Ps 72,26). Amen. Vgl. Lk 22,28. Vgl. Augustinus, Confessiones X, xxix, 40 (CCSL 27, 176). c  Vgl. Ez 36,26; Ps 50,12. d  Vgl. Ez 11,19. a 

b 

250

Sermo 12 Traktat VIII Die Liebe

Verwundet hast du mein Herz, meine Schwester Braut, mit einem Blick deiner Augen, mit einem Haarbüschel deines Halses (Hld 4,9).

1. Auf vielerlei Weisena bringt Gott seine Liebe zu uns zum Ausdruck: bald durch Dinge, bald durch Worte, bald durch Wohltaten, bald durch Verheißungen, bald durch einschmeichelnde und überwältigende Worte, bald durch den Vergleich mit irdischen Dingenb. Verglichen wird dabei mit den verschiedenen Weisen und Gefühlen der Liebe, die uns nicht unbekannt sind. So soll unser Herz, ermutigt durch die ihm bekannten Dinge, stets an den denken, der mit ganzem Herzenc geliebt werden muss und an den es sich stets erinnern soll. Dann denkt es mit Liebe an das, was im Bereich der Natur, der Gemeinschaft und der Keuschheit gewöhnlich liebt oder geliebt wird. 2.  Es gibt nämlich die natürliche Liebed, mit der man die Natur der eigenen Gattung liebt: nicht nur die Menschen, sondern alle Lebewesen, die die Macht der Liebe in sich spüren und durch Vgl. Hebr 1,1. Vgl. Augustinus, Confessiones X, viii, 14 (CCSL 27, 162). c  Vgl. Mt 22,37. d  Zu diesem Abschnitt vgl. Bernhard von Clairvaux, 10. Predigt über verschiedene Themen 2 (BCSW IX, 264); Wilhelm von St. Thierry, De natura et dignitate amoris 17-18 (CCCM 88, 109). a 

b 

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einen natürlichen Instinkt den Gesetzen der Liebe zustimmen. Es gibt auch die soziale Liebe, in der man durch einen Wunsch eigener Wahl in Gemeinschaft mit denen zusammenlebt, die mit diesem Zusammenleben einverstanden sind. Und es gibt auch die keusche Liebe, die das Eheband festigt und schmückt. 3.  So liebt der Adler, der über seinen Jungen schwebta, so liebt die Henne, die ihre Küchlein unter ihren Flügeln sammeltb, und sie wird schwach durch die Größe ihrer Liebe, indem sie ihre Federn ebenso wie ihre Gefühle hingibt. Ein Vater liebt seine Sprösslinge innig als Unterpfand seiner Liebe, und eine Mutter kann das Kind ihres Schoßes nicht vergessenc. Bruder und Schwester sind Namen engster Verwandtschaft: wenn man einander so anspricht oder sie hört, so regen sich Gefühle der Liebe zueinander. Ein Freundespaar verbindet ein unauflösliches Band der Freundschaft. Braut und Bräutigam stellen die Bindungen zu Haus und Verwandtschaft hintan und geben sich in keuscher Umarmung den Freuden der Liebe hin. 4.  Doch leidenschaftlicher als all dies ist die Liebe Christi: sie ist tiefer, innerlicher, heftiger, durchdringender, mitfühlender, inniger, stärker und glühender. Keine Liebe kann im Vergleich mit ihr größer oder gleich sein, ja, sie lässt sich nicht einmal vollständig zum Ausdruck bringen. 5.  Dennoch verschmäht es Christus nicht, sich als Adler sogar mit einer Henne vergleichen zu lassen. Darin kommt die erstaunliche Liebe Christi zum Ausdruck, ebenso seine erstaunliche Demut – und in beidem seine bestaunenswerte Milde. Er ist Vater, wenn er spricht: Von nun an sag zu mir: Mein Vater, der Freund meiner Jugend bist du (Jer 3,4). Und ebenso: Du wirst mich Vater nennen und dich nicht von mir abwenden (Jer 3,19). Sein Herz fließt von Mutterliebe über, wenn er spricht: Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch (Jes 66,13). Er ist Bruder, wenn er spricht: Ein verschlossener Garten ist meine Schwes­ ter (Hld 4,12). Freund ist er, wenn er spricht: Ganz schön bist du, meine Freundin! (Hld 4,1) und wenn man von ihm sagt: So ist a  Das lateinische Wort „desiderans“ (in der Ausgabe der CCCM) statt „volitans“ (in der Ausgabe der PL) scheint ein Druckfehler zu sein. b  Vgl. Mt 23,37; Lk 13,34. c  Vgl. Jes 49,15.

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12. Die Liebe, 2-8

mein Geliebter, ja, er ist mein Freund (Hld 5,16). Bräutigam ist er, wenn es heißt: Wie der Bräutigam sich über die Braut freut, so freut sich dein Gott über dich! (Jes 62,5). Dann aber ist er Bruder und Bräutigam, wenn er spricht: Verwundet hast du mein Herz, meine Schwester Braut (Hld 4,9). 6.  Wenn er jemanden als Schwester anspricht, so weist er auf die Gemeinschaft der Natur und der Gnade hin. Das ist nämlich der Tausch der Liebe: Er hat unsere Natur angenommen und uns Gnade mitgeteilt. Wenn er von der Braut spricht, so weist er auf die bräutliche Treue und das Geheimnis der unauflöslichen Vereinigung hin. 7.  Sie, die Schwester und Braut, soll das Herz des Bruders und Bräutigams verwundet haben? Warum das? Hat etwa auch die Liebe ihre Wunden? Ja, sie hat sie! Manche Wunden sind heilbringend, manche todbringend. Welche sind jedoch todbringender als jene, die der Urheber des Todes selbst erlitten hat, als er vom Pfeil des Neides und vom Schwert des Schmerzes getroffen wurde? Darüber steht geschrieben: Du hast den Stolzen wie einen Verwundeten gedemütigt (Ps 88,11). Und er ist nicht allein so verwundet worden, sondern durch ihn sind viele Verwundete gefallen. Über sie steht geschrieben: Wie Verwundete ruhen sie in den Gräbern, du denkst nicht mehr an sie (Ps 87,6). 8. Heilbringend aber sind die Wunden, von denen die Braut getroffen wurde, die Wunde der Liebe und die Wunde des Schmerzes; und noch viel heilbringender sind die Wunden des Bräutigams, ebenso eine Wunde der Liebe und eine Wunde des Schmerzes. Über die Wunde des Schmerzes sagt die Braut: Sie schlugen, sie verletzten mich (Hld 5,7), über die Wunde der Liebe aber spricht sie: Ich bin von der Liebe verwundet (Hld 2,5 und 5,8). Und wenn es erlaubt ist, bei einem so heiligen und ehrfurchtgebietenden Thema die Meinung eines hervorragenden Dichters in die Mitte zu stellen, damit er der Wahrheit diene, so bezeugt auch er, dass es eine Wunde der Liebe gibt, wenn er sagt: Die Königin aber, schon lange verletzt von verzehrender Sorge/ nährt die Wunde im Herz, wird von blindem Feuer verbrannt. (Vergil)a a 

Vergil, Aeneis IV, 1-2.

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Das aber sagt er über eine nicht heilige Liebe. Die heilige Liebe ist jedoch beim Verwunden viel wirksamer und viel stärker. 9. Achten wir also darauf, wie der Bräutigam davon spricht, dass sein Herz von seiner Schwester und Braut verwundet wurde. Er sagt es nicht bloß einmal, sondern fügt ein zweites Mal hinzu: Du hast mein Herz verwundet, meine Schwester Braut, du hast mein Herz verwundet! (Hld 4,9). Wegen der übergroßen Liebe, mit der er uns geliebt hat (Eph 2,4), als wir durch die Sünde tot waren, hat er uns das Leben und sich den Tod gewünscht. Von daher stammen seine Wunden, als er am Kreuz hing, von daher sind die Wunden unserer Sünden geheilt, von daher ist uns das Heil geschenkt worden. Das Verlangen nach unserem Heil und das Verlangen, um unseres Heiles wegen selbst zu sterben, sind seine zwei Wunden: die eine ist eine Wunde der Liebe, die andere eine des Schmerzes – besser, beide sind Wunden der Liebe. Beide Verlangen entsprangen ja der Liebe: durch sie kam er der Braut zuvor, er liebte sie so sehr, damit sie den, der sie zuerst geliebt hat, wiederlieben und sich in aller Reinheit heiliger Liebe und heiliger Furcht für ihn unbefleckt bewahren möge. 10.  Es heißt jetzt, sie hätte das Herz des Bräutigams durch ei­ nes ihrer Augen oder ein Haar ihres Halses (Hld 4,9) verwundet, so als wäre er durch deren Schönheit zur Liebe verlockt worden, er, der sie liebte, als sie hässlich war, sodass er sie schön machte. O nein, durch deren Schönheit wird offenbar, dass sie selbst aus Liebe erwählt wurde. Daraufhin zielte nämlich die Absicht der Liebe, jene schön zu machen, die schon, bevor sie schön war, so geliebt wurde. Daher konnte er wegen der Größe dieser Liebe sagen, dass sein Herz beim Anblick dessen, wodurch er sie schön gemacht hatte, verwundet wurde. Braut und Bräutigam verwunden sich also gegenseitig. Der Bräutigam jedoch verwundet nur als selbst Verwundeter, die Braut aber auch als nicht Verwundete. 11.  Doch was hat es damit auf sich, dass der Bräutigam von der ganzen Schönheit der Braut, die man als ganz schön bezeichneta, nicht verwundet wird, sehr wohl jedoch durch eines ihrer Augen oder ein Haarbüschel ihres Halses? Er liebt sie ja ganz und lobt sie a 

Vgl. Hld 4,7.

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12. Die Liebe, 8-13

ganz: ihre Wangen und Lippen, ihre Brüste und was allen Frauen gemeinsam ist, auch sonst alles, – warum wird er dann nicht durch ihre Wangen, ihre Lippen, alles übrige Entzückende an ihr, eben ihre Schönheit, von Liebe ergriffen, sondern gerade durch die Schönheit eines ihrer Augen und eines Haarbüschels verwundet? Oder leuchtet darin eine bestimmte einzigartige Anmut der Schönheit auf, die ihm mehr gefällt als das Übrige? Genauso ist es doch. Vor allem anderen finden sie Gefallen und wegen allem gefallen sie ihm. Was sind sie nämlich? Die Reinheit heiliger Liebe und die Reinheit heiliger Furcht. Die erste wird durch eines der Augen, die andere durch ein Haarbüschel ihres Halses (Hld 4,9) zum Ausdruck gebracht. 12.  Beim Propheten Sacharja wird über das Fass, die Unreinheit, die die Begierde und die Liebe zur Welt darstellt, gesagt: Das ist ihr Umherschauen über die ganze Erde (Sach 5,6V). Dieses umherschauende Auge blickt auf die Erde und nicht zum Himmel, auf die Welt und nicht auf Gott, auf das Vergängliche und nicht auf das Ewige, auf das Sichtbare und nicht auf das Unsichtbare. Das kann es auch nicht. Es ist nämlich unrein und getrübt. Wenn die Liebe Gottes jedoch vollkommen und nicht geteilt ist, ist sie das einfache, reine Augea, das man wegen seiner Schönheit gerne ansieht, und das mit wunderbarer Schärfe beim Schauen hindurchsiehtb, nicht auf das, was man sieht, sondern, was man nicht sieht. Das ist das Aussehen Rachels, die als schön von Gestalt und hübsch anzusehen (Gen 29,17) beschrieben wird. Das ist das Auge, mit dem Maria sah, was der beste Teil war, den sie erwählt hat. Er wird ihr nicht genommen werden (vgl. Lk 10,42V). Dieses Auge steht nicht allein da, sondern es ist eines der Augen. Ja, es ist in Wahrheit eines, denn es richtet sich auf das Eine, es liebt das Eine, es sorgt sich um das Eine. 13.  Die Braut hat auch noch ein anderes Auge, mit dem sie nicht auf die Schönheit des Bräutigams schaut, sondern in sich hinabsteigt – eher widerwillig als freiwillig – und sich in ihrer ArVgl. Mt 6,22. Leider lässt sich das Wortspiel: „conspicuus“ – „ansehnlich“ und „perspicuus“ – „scharfsichtig“ nicht im Deutschen entsprechend wiedergeben. a 

b 

255

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mut und ihrem Elend sieht, vielen Bedürfnissen und Schwächen unterworfen, und nicht nur ihren eigenen, sondern auch denen der anderen, als wären es die ihren. Daher kommt die Sorge für die täglichen Bedürfnisse im Haus, daher die Unruhe des Denkens, die Sorge des Herzens und die Belastung des Geistes. Daher splittert sich das Denken auf Mehreres auf, wird durch Vieles zerstreut, daher kommt die besorgte Martha, die sich um vielerlei kümmerta. Deshalb ist Martha nicht einfach nur Martha, wie Maria einfach Maria ist, da sie einmal das Eine gewählt hat, das wirklich notwendig ist, sondern es heißt: Martha, Martha! (Lk 10,41). Sie ist voller Sorgen und Mühen, sie kümmert sich um die Gegenwart und sorgt für die Zukunft vor. Sie muss auf vieles sehen, vieles vorsehen, wessen sie bedarf für ihre eigenen Bedürfnisse und die der Ihren. Und sie kann es nicht von überallher bekommen, sondern nur, von wo es erlaubt, ehrenhaft und angemessen ist. Dieses Auge schaut auf das Irdische; wie kann es da vom Staub irdischen Denkens nicht beeinflusst, wie nicht verwirrt werden? 14.  Das ist keinesfalls das Auge, durch dessen Schönheit der Bräutigam verwundet wird, sondern es ist jenes eine Auge, das den Bräutigam in Reinheit schaut, sich in Reinheit an ihn bindet, und wegen der Verbindung mit ihm alles zurückweist. Wenn nämlich schon der Mann Vater und Mutter verlässt, um sich an seine Frau zu bindenb, um wie viel berechtigter ist es dann, wenn die Braut Christi alles gering achtet und zurücklässt, um sich an ihren Bräutigam zu binden? Doch wodurch bindet sie sich mehr als durch das Auge? Denn wo die Liebe ist, da ist auch das Auge. 15.  Da das Auge nämlich sehen und gesehen werden kann, ist es gewöhnlich ein Lockreiz und ein Gradmesser für die Liebe. Denn es ruft durch seine Schönheit Liebe hervor und zeigt durch seinen geheimen Ausdruck die Liebe an. Ich spreche von der echten und wahren Schönheit, nicht von der aufgeschminkten oder vorgetäuschten. Denn wenn eine ihre Augen mit einem schwarzen Stift bemalt, täuscht sie eine Schönheit vor, die sie nicht besitzt. Doch das Auge ihrer inneren Absicht, das durch Lüge verfärbt a  b 

Vgl. Lk 10, 41. Vgl. Gen 2,24; Mk 10,7 und Parallelstellen.

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12. Die Liebe, 13-18

wird, bemüht sich vor den Augen Gottes vergeblich um Verstellung. Er freut sich nämlich nicht über vorgetäuschte Tugenden, sondern liebt immer die Wahrheit, denn er selbst ist die Wahrheita. Auch der Ausdruck des Auges kann bisweilen täuschen, wie über manche Menschen geschrieben steht: Sie hassen mich grund­ los und zwinkern mit den Augen (Ps 34,19V). Gott aber lässt keinen Spott mit sich treiben! (Gal 6,7). Durch seinen Ausdruck weckt das Auge entweder die Liebe, wenn es sich häufig demselben zuwendet, oder es richtet sich unbeweglich auf etwas, oder es verstellt sich, ohne betrügen zu können. 16.  Es liebt der Bräutigam jedoch das Auge, das sich abwendet und oft wieder zurückwendet. Wenn du dich wunderst, dass ich vom Abwenden sprach, so höre, wie er sogar zur Braut sagt: Wende deine Auge von mir ab, denn sie ziehen mich an (Hld 6,4V). Wenn man die Beschauung übertreibt und den unerforschlichen Gott in unerforschlicher Weise über das erlaubte Maß hinaus sucht, ist es gut, die Augen abzuwenden, sonst wird er sich selbst entfernen und sagen: Wende deine Augen ab! (ebd.). Und er wird durch einen Weisen mahnen: Suche nicht, was für dich zu hoch ist, und forsche nicht nach dem, was deine Kraft übersteigt (Sir 3,22V). 17.  Bisweilen liebt er jedoch das Auge nicht, das sich abwendet, sondern er liebt das, das sich anschließend zurückwendet. Oft ruft einer, der in Drangsal gerät, nämlich zu Gott. Er erhebt seine Augen zum Herrnb. Wenn er aber von der Bedrängnis befreit und bereits wieder in Sicherheit ist, schaut er anderswohin und wendet sein Auge vom Herrn ab. Wenn er aber daraufhin vom Herrn mit der Rute der Zucht (Spr 22,15) geschlagen und gezüchtigt wird, schaut er wieder den Herrn an und verlangt danach, angeschaut zu werden. Er sagt: Schau mich an und sei mir gnädig! (Ps 24,16). Daher steht oft in ein- und demselben Psalm geschrieben: In ihrer Bedrängnis schrien sie zum Herrn, und er befreite sie oft (vgl. Ps 106,6.13.19.28). 18.  Oft werden die Gerechten aus der momentanen Bedrängnis nicht in sichtbarer Weise befreit, wie über manche geschrieben a  b 

Vgl. Joh 14,6. Vgl. Ps 122,1.

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steht: Einige wurden auf die Folter gespannt und empfingen keine Erlösung, um eine bessere Auferstehung zu erlangen (Hebr 11,35). Oft verachten sie den gegenwärtigen Trost so sehr, dass sie es gar nicht ersehnen, befreit zu werden. Oft aber ersehnen sie es, doch erhoffen sie es nicht, da sie darauf vertrauen, dass Gott in seiner Vorsehung besser an ihnen handelt. Vielleicht werden sie auch zur Stunde vom Kleinmut überwältigt, wenn sie nach beharrlichem Gebet nicht erlangen, worum sie inständig flehen. Ihre Hoffnung ermattet und erlischt allmählich, als wollte Gott sie nicht befreien, obwohl er es könnte. Daher spricht ein gewisser Mann: Mein Auge wird trübe vor Elend (Ps 87,10). Und ebenso: Mir versagen die Augen, während ich warte auf meinen Gott (Ps 68,4). Wenn nun die Hoffnung ermattet, wendet sich das Auge ab, wenn sich die Hoffnung wieder erhebt, wendet sich auch das Auge zurück. 19.  Das sei bezüglich der Hoffnung auf zeitliche Tröstung oder Befreiung gesagt, die aus verschiedenen Gründen abwechselnd zunimmt oder abnimmt. Mit der Hoffnung auf das ewige Heil ist es aber nicht so. Sie bleibt nämlich auch bei äußersten Gefahren und bei verschiedenartigen Versuchungen unerschütterlich. Dieses Heil muss man unablässig ersehnen, ohne je an ihm zu verzweifeln. Jenes Auge heftet sich unbeweglich dorthin, wovon es niemals abschweift, es wendet sich dorthin, wovon es sich niemals abwendet. Daher sagt der Prophet: Meine Augen schauen stets auf den Herrn (Ps 24,15). Es soll dich nicht aufregen, dass hier von den Augen gesprochen wird, als wären es mehrere, wo doch das Herz des Bräutigams von einem Auge verwundet wird. Das Auge ist nämlich ein Einziges, weil sich die eine Liebe ganz nach einem einzigen Inhalt ausstreckt. Doch in der einen Liebe gibt es verschiedene Gefühlsregungen, mit denen man sich in vielfältiger Sehnsucht und Hoffnung nach dem Einen ausstreckt, worauf sich das Auge unwiderruflich richtet. 20.  Es macht aber das Auge etwas vora, wenn es sich in einem heimlichen und gleichsam verstohlenen Blick nicht ganz öffnet, a  In den Punkten 20 und 22 spielt Balduin mit dem Wort „fingere“ – „formen, schaffen, aber auch vortäuschen.“ Es ist schwierig, diese vielen Deutungen in einem einzigen deutschen Wort wiederzugeben. Am ehesten scheint es mit dem Wort „vormachen“ bzw. „machen“ zu gehen. Trotzdem bleibt die Übersetzung etwas holprig.

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12. Die Liebe, 18-24

sondern ein wenig verschließt und das Geheimnis, was es denkt, nur mit einem Wink ausspricht. Freilich hat die heilige Liebe die ihr entsprechenden Winke, die keine Ähnlichkeit mit denen haben, über die geschrieben steht: Weil die Töchter Sions hochmütig sind, ihre Hälse recken und mit den Augen zwinkern… (Jes 3,16). Sie hat vielmehr geheimnisvolle Winke voll heiliger Scheu, mit denen die Braut zum Bräutigam, der winkt und ihr zuwinkt, ebenso winkt und ihm zuwinkt. Denn je nach seinem Wink will sie oder sie will es nicht, je nachdem, ob er will, dass sie will oder nicht will. 21.  Der Bräutigam winkt, wenn er heimlich eingibt, was er will, er winkt ihr zu, wenn er die Bitten der Flehenden erhört. Die Braut winkt ihm zu, wenn sie den ihr gegebenen Anordnungen gehorcht. Sie winkt, wenn sie beim verborgenen Guten durch ihre verborgene Absicht gleichsam heimlich auf den schaut, von dem sie allein gesehen werden möchte. Sie winkt, wenn sie den Wink ihrer Sehnsucht in demütigen Bitten geheim und ehrfürchtig vor ihm ausbreitet. 22.  Wundere dich nicht, dass das Auge bei der Deutung dieser Liebe, über die wir nun sprechen, etwas vormacht, obwohl die heilige Liebe nichts Vorgemachtes kennt. Denn Vormachen kommt nicht nur beim Heuchler oder Lügner vor, sondern bisweilen auch beim Schaffenden oder Bildenden, oder bei einem, der etwas verheimlicht. Auf diese Weisen – beim Schaffen, Bilden oder Verheimlichen – kann man nämlich auch Gott antreffen und erfahren als einen, der etwas macht oder vormacht. Es steht nämlich geschrieben: Jesus machte, als wollte er weitergehen (Lk 24,28V). Und ebenso: Er hat ihre Herzen jedes einzeln gemacht (Ps 32,15V). Und: Sollte der nicht sehen, der das Auge gemacht hat? (Ps 93,9). Ebenso: Du machst vor, dass das Gesetz mühsam sei (Ps 93,20). 23.  Verwundet hast du mein Herz, meine Schwester Braut, mit einem Blick deiner Augen, mit einem Haarbüschel deines Halses (Hld 4,9V). Sowohl am Anfang wie auch später, in beiden Fällen sieht der Bräutigam, der die Braut gleichsam mit seinem Blick umfängt, was ihm gefällt; in beiden Fällen wird die Einheit betont: beim einen Blick der Augen und bei einem Haarbüschel des Halses (ebd.). 24.  Wie das eine Haarbüschel aber zusammengesetzt ist, darauf gib acht! Am Scheitel, ganz oben auf dem Kopf, gehen die

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Haare in die verschiedenen Richtungen auseinander: die einen fallen zur Stirne hinab, die anderen auf die hintere Seite des Kopfes, wieder andere zu den Ohren und Schläfen. Bei den Frauen, die gewöhnlich die Haare wachsen lassen, werden sie bewusst und anmutig zu einer schönen Frisur gekämmt: Vom Scheitel bis zur Stirne werden sie geteilt und von da hängen sie über die Ohren bis zum Hals und zu den Schultern herab, wo sie zu einem einzigen Büschel zusammengefasst werden. Das eine Büschel wird nämlich aus vielen Haaren gebildet und zu einem einzigen Knoten zusammengebunden, damit die Haare nicht ohne Ordnung lose, wirr und durcheinander in alle Richtungen herabhängen und bei ihrem Herabhängen unschicklich aussehen. Auf diese kunstvolle Weise frisieren sich die, die an die Dinge dieser Welt denken und Wert darauf legen, den Betrachtern zu gefallen. 25. Auch die Braut Christi vernachlässigt, um seinen Augen zu gefallen, ihre Haarpflege nicht. Er freut sich nämlich nicht über jedes beliebige Haarbüschel. Es steht ja geschrieben: Gott zerschmettert das Haupt seiner Feinde, den Haarscheitel derer, die in Sünde dahinleben (Ps 67,22V). Und Jesaja sagt: Gott wird den Scheitel der Töchter Sions rasieren, und der Herr wird ihre Haar­ büschel kahl scheren (Jes 3,17V). Wenig später droht er eine Glatze an statt der gekräuselten Haarea. Und der Apostel spricht: Nicht mit geflochtenen Haarbüscheln! (1 Tim 2,9). 26.  Dagegen liegt die Frömmigkeit und Heiligkeit der Nasiräer und die Stärke Samsons in den Haarenb. Die feinen Gedanken heiliger Absichten und Gefühlsantriebe teilen sich vom Scheitel des Geistes – das heißt von der Erkenntnis Gottes – aus in vier Teile. Sie werden mit dem Kamm der Unterscheidung geschieden in die guten ewigen, die zur Stirne hinabhängen, in die bösen ewigen, die nach hinten schauen, und in die guten bzw. bösen zeitlichen, die sich von dort auf die rechte und linke Seite aufteilen. Diese Haartrachten sind es, die den Augen des Bräutigams nachweislich gefallen, denn er sagt: Schafft eure bösen Gedanken Vgl. Jes 3,24. Nach alttestamentlicher Lehre durften gottgeweihte Nasiräer ihr Haar nicht scheren. Vgl. Num 6,5; Ri 13,5. Aus diesem Grund kann auch Simson erst überwunden werden, wenn seine Haare abgeschnitten sind: Ri 16,17. a 

b 

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12. Die Liebe, 24-28

weg aus meinen Augen! (Jes 1,16V). Und ebenso steht geschrieben: Der heilige Geist der Zucht flieht vor dem Vorgemachten, er ent­ fernt sich von unverständigen Gedanken (Weis 1,5). Er gibt seinen Erwählten Sicherheit mit den Worten: Euch wird kein Haar ge­ krümmt werden (Lk 21,18). Alle Haare ihres Kopfes sind nämlich gezählta, denn der Allerhöchste denkt an sie. (Weish 5,16). 27. Alle Haare der Braut fallen zum Hals herab, wo das Joch des Gehorsams lastet, und werden durch den Knoten der Furcht zu einem einzigen Haarbüschel zusammengefügt. Bei allem muss man nämlich stets an den Gehorsam in Gottesfurcht denken, wie geschrieben steht: Sei allzeit auf das bedacht, was Gott geboten hat (Sir 3,22V). Und ebenso: Fürchte Gott und achte auf seine Gebote! Das allein hat jeder Mensch nötig (Koh 12,13). 28.  Dieses eine Haarbüschel am Hals ist die Einheit einträchtiger Gedanken unter dem Joch des Gehorsams, die die Gottesfurcht zur Einheit zusammenfasst und unauflöslich verflicht. Das ist die heilige Furcht, die in Ewigkeit bleibt (Ps 18,10)b, die nicht von der Liebe vertrieben wird (1 Joh 4,18), sondern die die Demut wahrt und die Liebe stärkt. Diese Furcht sammelt das Zerstreute, eint das Verlorene, das Böse vertreibt und verbannt sie, das Gute dagegen nährt sie und bewahrt, was sie genährt hat. Sie ist es, die das Herz rein und unbefleckt macht und sich mit aller Sorge müht, es so zu bewahren. Die erste Sorge richtet sich darauf, nichts Böses im Tun zuzulassen, die zweite, kein böses Wort aus dem Herzen hervorzulassen, die dritte, nichts Böses im Herzen zurückzulassen, was das Auge des Bräutigams beleidigen könnte. So wird das Herz des Bräutigams verwundet, so die Braut gelobt, denn eine gottesfürchtige Frau verdient Lob (Spr 31,30). Lass uns also, Herr, deinen heiligen Namen stets fürchten und ehrenc. Amen.

Vgl. Mt 10,30. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Brief 11, 7 (BCSW II, 356). Nach der Lehre Bernhards im Gegensatz zu Aelred von Rievaulx vertreibt die vollkommene Liebe die Furcht nicht ganz, sondern reinigt sie, und als reine und heilige Furcht bleibt sie in alle Ewigkeit bestehen. Diesen Gedanken greift hier Balduin auf. Zur Formulierung: „Permanens in saeculum saeculi“ vgl. auch Ps 18,10. c  Oration des römischen Messbuches am Fest des Namens Jesu. a 

b 

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Sermo 13 Traktat VII Zu Mariä Verkündigung

Gegrüßt seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mir dir (vgl. Lk 1,28). Du bist gesegnet unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes (Lk 2,42).

1.  Das Werk unserer Erlösung beginnt mit der Begrüßung, und die Verkündigung des Friedens tut den Anfang der Versöhnung kund. Der Bote des Heils und Engel des Friedens, selbst ein Freund der Jungfräulichkeit, wurde nämlich von Gott zur Jungfrau gesandt und trat eina. Er begrüßt sie mit einem neuen und ungewohnten Gruß, der bisher seit ewigen Zeiten nicht gehört worden war. Gleichzeitig überbringt er die Ehrenbezeugung des neuen Grußes und die neue Lobpreisung. Ganz neu und ganz selten ist es, dass eine Frau von einem Engel gegrüßt wird! Weder Hagarb noch die Frau Manoachsc wurden vom Engel gegrüßt, denn beide durften nur den Anblick und die Worte des Engels genießen. Jetzt aber wird eine Frau vom Engel gegrüßt, jetzt naht die Zeit, dass Frauen sogar vom Herrn selbst gegrüßt werden, als ihnen gesagt wurde: Seid gegrüßt! (Mt 28, 9). 2.  Die Jungfrau überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe. Denken auch wir darüber nach, soweit wir es vermögen, was er Vgl. Lk 1,27f. Vgl. Gen 21,17. c  Vgl. Ri 13,9-10. a 

b 

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SERMONES

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bedeutet. Denn das ist kein Gruß unterwegs, sondern ein Gruß, der in die Heimat zurückführt. Grüßt niemand unterwegs! (Lk 10,4), spricht der Herr. 3.  Wenn einer in vorgetäuschter Schmeichelei oder liebkosender Gunstbezeugung dich für sich gewinnen will und sich bei nichtigen Angelegenheiten voll Wohlwollen oder Lob zeigt, dann ist er einer, der dich unterwegs (Lk 10,4) grüßt. Hüte dich, hüte dich vor denen, die zu dir sagen: „Sei gegrüßt!“ Denn wehe dir, wenn du zum Diener solcher Menschen wirst! Wehe dir, wenn solche dich beherrschen, die dir nach dem Leben trachten! Liebe es nicht, auf den Straßen und Plätzen gegrüßt zu werden (Mt 23,7); es genüge dir das Zeugnis deines Gewissens, und der treue Zeuge im Himmel (Ps 88,38), dem du sagen kannst: Bei dir suche ich mein Lob in großer Gemeinde (Ps 21,26V). 4.  Lob ist von Lob zu unterscheiden, denn auch Heil und Heil sind zu unterscheiden. Es gibt doch das nutzlose Heil, über das geschrieben steht: Das Heil, das von Menschen kommt, ist nutzlos (Ps 59,13). Und es gibt das wahre Heil, von dem gesagt wird: Erhöre mich in der Wahrheit deines Heils! (Ps 68,14). Dieser Gruß aber – gleichgültig, ob es um die flehentliche Bitte um das erhoffte Heil oder die Ankündigung des geschenkten oder zu schenkenden Heiles geht – gibt weder vorgetäuschtes Wohlwollen von Seiten des Grüßenden vor, noch verkündet er ein falsches Lob der Jungfrau. Denn wie die Engel immer die Jungfräulichkeit schätzen, so preist er die Jungfrau mit aufrichtigem Lob: Gegrüßt seist du, voll der Gnade! (Lk 1,28).

Gegrüßt seist du, voll der Gnade! 5. Welch heilbringender Gruß, der vom Engel ausgesprochen und für uns zum Gruß der Jungfrau vorformuliert wurdea! Wela  Anspielung auf das „Ave Maria“, das sich als Gebet der Gläubigen gerade im 12. Jahrhundert immer mehr ausbreitete. Dabei bestand dieses Gebet damals nur aus dem ersten Teil, der auch zu Beginn des Sermo zitiert wird. Die Bitte des zweiten Teils: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“ kam erst im Spätmittelalter hinzu.

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13. Zu Mariä Verkündigung, 2-7

cher Jubel des Herzens, welche Freude des Mundes, welches Ferment der Liebe! Welcher Platz bleibt für den Zorn, wo die Fülle der Gnade ist? Die Fülle der Gnade bedeutet die Vernichtung der Schuld, die Wiederherstellung der Natur. Die Schuld hatte die Natur verdorben und Zorn geweckt, Gott aber hielt nicht im Zorn sein Erbarmen verschlossen (Ps 76,10). Er goss Gnade aus und wandte seinen Zorn aba. Das Geschlecht, das der Fluch bei der ersten Frau verurteilt hatte, erfüllt nun die Gnade des Segens und das Öl des Erbarmens bei der seligen Jungfrau. Das ist der Ölkrugb, das die Wasserschale Gideons voller Tauc; das der goldener Schreind mit dem Manna göttlicher Freude und himmlischen Regens. 6.  Wer könnte es ausdenken, wie und wie groß die Gnadenfülle derer war, die als erste unter den Frauen und als einzige als voll der Gnade bezeichnet wird, die den eingeborenen Gottessohn hervorbrachte, voll Gnade und Wahrheit? (Joh 1,14). Der Erzmärtyrer Stephanus war – wie wir lesen – voll Gnade und Kraft (Apg 6,8). Maria aber war, wie wir glauben, umso voller, je empfänglicher sie für die Gnade war: Sie konnte den Urheber der Gnade selbst, so groß, so unendlich, dass ihn die ganze Welt nicht fassen kann, in gleicher Weise in ihr Herz und ihren Schoß aufnehmene. 7.  Wir haben gehört, dass die selige Elisabeth, erfüllt vom Heiligen Geistf, die größere Gnade in der Jungfrau erkannte und bei ihrem Besuch und Gruß staunend sagte: Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? (Lk 1,43). Zu Recht erwidert sie den Gruß, durch den das Heil mitgeteilt werden sollte, sodass durch ihn Gott Dank gesagt wird, der den Königen den Sieg ver­ leiht (Ps 143,10) und Heil schenkt in Jakob (Ps 43,5). Deswegen gab es nämlich die Fülle der Gnade als reiches, volles, gehäuftes, überVgl. Ps 84,4. Vgl. 3 Kön 17,12; 4 Kön 4,1-7. c  Vgl. Ri 6,36-40. d  Vgl. Hebr 9,4. e  Vgl. Bernhard von Clairvaux, 3. Predigt zum Lob der jung fräulichen Mutter 2 (BCSW IV, 79-81). Vgl. auch die Marien-Antiphon: „quem totus non capit orbis, in tua se clausit viscera, factus homo.“ – „Den die ganze Welt nicht fassen kann, der schloss sich in deinen Schoß ein, als er Mensch wurde.“ f  Vgl. Lk 1,41. a 

b 

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fließendes Maßa, damit durch sie die Gnade Gottes in uns übergroß werde. Sie hat Gott nämlich in einzigartiger Weise voraus­ erwählt, für sich anziehend gemacht und mit dreifacher Gnade ausgestattet – der Gnade der Schönheit, der Gnade der Huld und der Gnade der Ehre – damit sie schön, huldreich und ehrenreich sei.

Die dreifache Gnade der Schönheit 8.  Die Gnade der Schönheit strahlt aus einem hübschen Gesicht hervor. Ein hübsches Gesicht ist nach der Beschreibung des seligen Augustinus ebenmäßig geformt, anziehend gefärbt und heiter gestimmtb. Die ebenmäßige Form jedoch ist mit der Gleichmäßigkeit, der Ähnlichkeit, der Zusammensetzung und der veränderten und doch passenden Entsprechung der Teile nicht der geringste Teil der Schönheit. Einander unähnliche oder ungleiche Augen, einander nicht entsprechende Gesichtshälften oder unterschiedliche Lippen passen nicht dazu: Und jeder Teil fügt sich nicht schön in das Ganze ein, wenn er sich durch seine Unförmigkeit oder übergroßen Maße von der Ebenmäßigkeit des Restes unterscheidet. Da er das geschuldete Maß unter– oder überschreitet oder keine Ähnlichkeit mit dem ihm entsprechenden zweiten Teil besitzt, entstellt er die Anmut der Schönheit. 9.  Das Lob der wahren Schönheit ist mehr geistig als körperlich, und dennoch gewissermaßen auch körperlich. Oft drückt sich das, was in einem reinen Beschluss der Herzen empfangen wurde, auch durch den Dienst des Körpers entsprechend in der Öffentlichkeit aus. Doch wird alles in unreiner Weise dargeboten, was nicht aus der Reinheit des Herzens entspringt. Aller Ruhm der Königstochter stammt nämlich aus ihrem Inneren (Ps 44,14V), doch liegt nicht aller Ruhm in ihrem Inneren. Aus dem Inneren kommt er nämlich oft zum Vorschein, darum soll der König des

a  b 

Vgl. Lk 6,38. Vgl. Augustinus, De Trinitate VIII, iii, 4 (CCSL 50, 271-272).

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13. Zu Mariä Verkündigung, 7-12

Ruhmes (Ps 23,7ff.) im Himmel in der Öffentlichkeit gepriesen werden. 10.  Diese innere Schönheit liebt jedoch das Ebenmaß der entsprechenden Teile. Entstellend ist nämlich immer eine Unähnlichkeit, wo es einen Grundsatz der Ähnlichkeit gibt. Wenn du Gutes oder Böses bei dir anders beurteilst als bei Fremden, sind deine Augen einander unähnlich. Wenn du vor Gott stolz bist, demütig aber vor den Menschen, hast du zwei ungleiche Gesichtshälften. Wenn du den Anwesenden öffentlich lobst, den Abwesenden aber beschimpfst, wenn du Gott im Glück lobst, im Unglück aber murrst, hast du unterschiedliche Lippen. Diese ganze Entstellung geht aber aus dem Laster des Stolzes hervor. Er schätzt immer Ungleichheit und Unähnlichkeit im Verhalten, wie umgekehrt die Demut auch das Ungleiche zur Gleichheit zurückführt. 11.  Suchen wir bei dieser Jungfrau, was das Ebenmaß in der Form bei ihrem Gesicht bedeuten soll. Es ist so gut, so lobenswert, dass unter allen Töchtern Sionsa kein besseres oder lobenswerteres gefunden werden könnte. Was sollte treffender als Ebenmaß in der Form bezeichnet werden als das Gleichgewicht zwischen Demut und Ehre, Würdigung und Würde? So steht es nämlich geschrieben: Je größer du bist, um so mehr bescheide dich in allem (Sir 3,20). Wenn du die Herde überragst, so bleibe dennoch in der Herde. Wenn du allen vorstehst, dann verschmähe es nicht, jemandem zu unterstehen. 12.  Betrachte dich selbst: Betrachte auch deinen Meisterb – und bei welchem Werk er sich als Meister bekennt. Und wirklich! Er ist es ja! Betrachte, was er gesagt und was er getan hat. Ich bin nicht gekommen, spricht er, um mir dienen zu lassen, sondern um zu dienen (vgl. Mt 20,28). Das ist es, was er gesagt hat. Der Größte unter euch soll werden wie der Kleinste, und der Führende soll wer­ den wie der Dienende (Lk 22,26). Seht, was er gesagt hat! Wisst ihr auch, was er getan hat? Er hat sich bis zu den Füßen seiner Jünger erniedrigt. Wer hat das getan? Der, für den die Erde der Schemel

a  b 

Vgl. Hld 3,11. Vgl. Joh 13,13.

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seiner Füßea ist. Der, der gesprochen hat: Ich bin der Erste und der Letzte (Offb 1,17); der erste durch meine Würde, der letzte durch meine Demut. So hat er uns ein Beispiel gegebenb, damit wir seinen Spuren folgen und ihn anbeten am Ort, wo seine Füße gestan­ den haben (vgl. Ps 131,7). 13.  Kommt, lasst uns niederfallen, uns vor ihm verneigen! (Ps 94,6). Demütigen wir uns unter ihn und mit ihm, denn er hilft denen auf, die demütig sind (Ps 33,19), denen, die ihn im Geist und in der Wahrheit (Joh 4,23) anbeten. Der Ort zur Anbetung ist die Tugend der Demut. Hier haben seine Füße gestanden (Ps 131,7). Wie haben sie gestanden? Er ist demütig gekommen; er ist demütig geblieben. Er hat sich selbst erniedrigt und wurde wie ein Sklave (Phil 2,7). Für die Sklaven hat der Herr die Schande des Kreuzes ertragen und wurde dem Vater gehorsam bis zum Tod (Phil 2,8). Was ist tiefste Demut wenn nicht das? Wie schön ist das Ebenmaß höchster Würde und tiefster Demut! 14.  O treue Seele, falls du dich mit diesem Beispiel gegen den Stolz wappnest, um den Spuren deines Meisters durch die Demut zu folgen, wird dir gesagt werden: Wie schön sind deine Schritte in den Sandalen, du Tochter des Fürsten! (Hld 7,2). Höre, Tochter, und neige dein Ohr, sodass du demütig wirst, der König verlangt nach deiner Schönheit (Ps 44,11-12). Wer ist König, wenn nicht der, der allein König ist. Für ihn wirst du begehrenswert, verlockend und liebenswert, wenn du dein Ohr neigst und wenn du dich demütigst: und das umso mehr, je größer du bist. Je mehr du dich demütigst, desto mehr preist du die Größe Gottes! 15.  Daher spricht Maria, die vor allen anderen – wie wir glauben – umso demütiger war, je würdiger sie war, in geradezu einzigartiger Weise: Meine Seele preist die Größe des Herrn! (Lk 1,46). Sie pries seine Größe umso mehr, je größer sie gemacht worden war, und wurde noch erhabener, sodass sie in einzigartiger Weise sagen kann: Denn der Mächtige hat Großes an mir getan (Lk 1,49). Sie war größer gemacht worden und pries umso mehr die Größe des Herrn, weil sie sich umso mehr demütigte. Für ihre Demut a  b 

Vgl. Jes 66,1; Ps 109,2. Vgl. Joh 13,15; 1 Petr 2,21.

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13. Zu Mariä Verkündigung, 12-18

ist sie selbst Zeugin, da sie demütig sprach: Auf die Demut seiner Magd hat er geschaut (Lk 1,48). 16. Zeugin ist auch Elisabetha, die anlässlich des Besuches der Gottesmutter bei ihr in gleicher Weise ihr eigenes Glück und deren Würde bestaunte – und in dieser großen Würde die Demut! Stets ist nämlich bei einer großen Würde eine große Demut bestaunenswert: bei einer großen Macht eine große Demut, bei einer großen Weisheit, Beredsamkeit, edlen Gesinnung oder Tugend eine große Demut – ja bei allem Großen eine große Demut: Ebenmäßig ist dann das Gesicht, das Ebenmaß fügt alles zusammen und gleicht alles an, sodass alles zu allem passt.

Die Gnade der Anmut 17.  Die anmutige Färbung aus Blässe und Röte ist der Schmuck der Gnade der Anmut. Die Farbe steht für die Keuschheit. Die Keuschheit hat zwei Seiten: Die schamhafte Keuschheit und die ehrfurchtsvolle Keuschheit. Schamhaftigkeit und Ehrfurcht entsprechen der weißen Lilie und der roten Rose. Schamhaftigkeit beseelt mit ihrer Blässe das Gesicht, Ehrfurcht durchdringt mit ihrer Röte die Wangen. Die Ehrfurcht ist die Hüterin der Schamhaftigkeit, ihre Zierde und ihr Schmuck zugleich. Jeder Sinn des Körpers und des Geistes hat für sich seine Schamhaftigkeit und seine Ehrfurcht. Es gibt die Schamhaftigkeit der Augen, und es gibt auch ihre Ehrfurcht; es gibt eine Schamhaftigkeit der Ohren, und es gibt auch ihre Ehrfurcht; auch bei den anderen Sinnen hat die Schamhaftigkeit gewöhnlich als Begleiterin die Ehrfurcht. 18.  Die Schamhaftigkeit führt man bei allen Sinnen auf ihre Unverdorbenheit zurück. Daher sagt der Apostel: Ich fürchte aber, wie die Schlange einst durch ihre Falschheit Eva täuschte, so könn­ ten auch eure Sinne verdorben werden und von der aufrichtigen und reinen Hingabe an Christus abkommen. (2 Kor 11,3). Heilige Ehrfurcht besteht darin, vor dem Schändlichen zu erröten; heilige Schamhaftigkeit darin, sich unbefleckt zu bewahren. Sieh wie a 

Vgl. Lk 1,39-56.

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keusch die Augen dessen waren, der da sprach: Einen Bund schloss ich mit meinen Augen, nie eine Jungfrau lüstern anzusehen (Ijob 31,1). Wer aber eine Frau lüstern ansieht (Mt 5,28), was hat der anderes als ein schamloses Auge? Das schamlose Auge kündet von der Schamlosigkeit des Geistes. Die Verdorbenheit der Sinne ist Hausgenossin der Schamlosigkeit. Die Lauterkeit der Sinne ist Kennzeichen der Keuschheit. 19.  Bei dieser Jungfrau aber war die Lauterkeit so groß, diese Keuschheit des Geistes und Leibes, dass sie ganz Jungfrau war, ganz makellos, ganz unbefleckt: in keinem ihrer Sinne war sie verdorben, in keinem ihrer Sinne versehrt. Vor allem, was schändlich ist, errötete sie, alles, was böse ist, verabscheute sie. Alles, was schamhaft war, war ihr erwünscht, alles, was unrein war, verwünscht. Das ist nämlich die volle Jungfräulichkeit: die unberührte Unversehrtheit in allen Sinnen. Jede Beeinträchtigung der Lauterkeit ist eine Beendigung der Jungfräulichkeit. Das ist die anziehende Farbe, gemischt aus der Blässe der Keuschheit und der Röte der Ehrfurcht, die aus dem Gesicht dieser Jungfrau strahlt und die Anmut der Schönheit vermehrt. Sie hat nämlich eine anziehende Farbe, zugleich schamhaft und verschämt, sodass sich in ihr das Schriftwort erfüllt: Anmut über Anmut ist eine schamhafte Frau (Sir 26,19). 20. Zur Anmut kommt noch dazu, dass sie heiter gestimmt ist. Ihr Gesicht ist nämlich aufgeheitert mit dem Öl der Freude (Ps 44,8; Hebr 1,9), weil sie sich mit ganzer Hingabe im vollen Eifer der Liebe Gott als lieblich duftendes Opfera darbrachte. Vor allen Töchtern Sions, die über ihren König jauchzenb, jubelte ihr Geist über Gott, ihren Retterc. Sieh, wie schön ihr Antlitz ist, das die Anmut der Ebenmäßigkeit bildete, die Anmut der Blässe und Röte beseelte und die Anmut der Heiterkeit erfreute. Und sie ist nicht nur schön in ihrem Gesicht, sondern ganz schön, wie der bezeugt, dem sie gefiel, indem er sprach: Ganz schön bist du, meine

Vgl. Ex 29,41. Vgl. Ps 149,2. c  Vgl. Lk 1,47. a 

b 

270

13. Zu Mariä Verkündigung, 18-23

Freundin, und kein Makel ist an dir! (Hld 4,7). Seht, wie sie voll der Gnade der Schönheit war!

Die Gnade der Beliebtheit 21.  Ganz ähnlich ist die Gnade der Beliebtheit. Von allen wird sie nämlich geliebt, gelobt und geehrt. Als erste nach Gott wird ihr von Menschen und Engeln Liebe, Lob und Ansehen zuteil: ihr Lob verkündet das versammelte Volka: Erblicken sie die Mäd­ chen, sie preisen sie; Königinnen und Nebenfrauen rühmen sie (Hld 6,8). Diese große Gnade solcher Beliebtheit verschweigt sie selber nicht, wenn sie sagt: Selig preisen mich alle Geschlechter (Lk 1,48).

Die Gnade der Ehre 22.  Wie groß die Gnade der Ehre ist, die ihr verliehen wurde, das zu beschreiben, übersteigt unsere Fähigkeit. Denn wenn auch alles in ihr lobenswert ist, empfiehlt sie dennoch das, was sie persönlich und das, was sie gemeinsam mit anderen besitzt, in doppeltem Lob ganz besonders. Das Gemeinsame besitzt sie nämlich auf einzigartige Weise, da sie in hervorragender Weise vor den anderen besitzt, was sie mit den anderen besitzt. Und in einzigartiger Weise besitzt sie es, weil sie es nicht allein besitzt. Sie ist keusch, sie ist demütig, sie ist lieb und gütig; es gibt auch andere ähnliche Tugenden, doch nicht in gleicher Weise, nicht ebenbürtig. 23.  Sie überstrahlt alle, in allem ist sie Herrin der Erde und des Himmels, Königin der Menschen und der Engel, Mutter und Tochter Gottes, Schwester und Braut, Freundin und Nächste. Mutter durch die Fruchtbarkeit der Jungfräulichkeit, Tochter durch die Gnade der Annahme als Kind; Schwester durch die Gnade der Gemeinschaft, Braut durch die Treue zum Verlöbnis, Freundin durch die Gegenseitigkeit der Liebe, Nächste durch die a 

Vgl. Ps 88,6 u.a.

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199

SERMONES

Verwandtschaft der Ähnlichkeit; Mehr als alle ist sie schön, mehr als alle liebenswert, mehr als alle ehrenwert, hervorragend schön, hervorragend begnadet, hervorragend herrlicha. Es ist wahr, was ihr gesagt wurde: Der Herr ist mit dir! (Lk 1,28).

Der Herr ist mit dir

200

24.  Was besitzt sie für einzigartigen Ruhm, dass gesagt wurde: Der Herr ist mit dir, da Gideon vom Engel gesagt bekam: Der Herr sei mit dir, starker Held! (Ri 6,12). Und der Psalmist sagt: Der Herr der Heerscharen ist mit uns (Ps 45,8). Und Christus sagt zu uns: Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt (Mt 28,20). Und über Christus sagt Jesaja: Sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben (Jes 7,14). Vor dieser Aussage aber schickte er voraus: Seht, die Jungfrau wird ein Kind emp­ fangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben (Jes 7,14). Wie käme er nämlich anders zu uns, um mit uns zu sein, als dass er zur Jungfrau kam, ja ihr sogar zuvorkam, um mit ihr, in ihr und aus ihr zu sein, um so durch sie in uns und mit uns zu sein, der Gott Jakobs, unsre Burg? (Ps 45,12). Dafür nahm nämlich der Gott Jakobs unsere Natur aus ihr an, um immer mit uns zu sein. Er sagt: Meine Freude ist es, bei den Menschen zu sein (Spr 8,31). 25.  Wenn es aber die Freude Gottes ist, bei den Menschen zu sein (Spr 8,31), welche Freude – meinst du – ist es dann für ihn, bei seiner Einzigen zu sein, die er vorauserwählt hat im Dienst so vieler Freuden! Dass er nämlich mit uns ist, an unserer Natur Anteil hat und uns an seiner Gnade Anteil gibt, sodass wir Söhne und Erben Gottes sind sowie Brüder und Miterben Jesu Christib, diese so große Gabe, dieses so große Gut wollen wir nach Gott in einzigartiger Weise der zuerkennen, der auf einzigartige Weise gesagt wurde: Der Herr ist mit dir! (Lk 1,28).

a  b 

Vgl. Anselm von Canterbury, Orationes 54 (PL 158, 960C). Vgl. Röm 8,17.

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13. Zu Mariä Verkündigung, 23-28

26.  Für diesen so großen Plan wurde sie Dienerin und Mitarbeiterin, und sie brachte uns das Heil der Welt, da sie den Erlöser, der selbst das Heil der Welt ist, für uns hervorbrachte. Doch da sie das allein nicht konnte, jedoch ihren Dienst leistete, jedoch die Aufgabe der Mittlerin erfüllte, jedoch den Mittler, der das können sollte, in die Mitte stellte, wird zu Recht gesagt: Der Herr ist mit dir! (Lk 1,28). 27.  Ein wunderbares Werk sollst du vollbringen: Das Heil der Welt soll durch dich hervorgebracht, der Stock des Treibers (Jes 9,4) soll zerbrochen werden wie am Tag von Midian (Jes 9,4). Doch übersteigt es jede menschliche Kraft und Weisheit: das, wozu du erwählt wurdest. Aber der Herr ist mit dir (Lk 1,28), bei dem nichts unmöglich ist (Lk 1,37). Ebenso wird zu Gideon, der die Söhne Israels aus der Hand Midians befreien sollte, gesagt: Der Herr sei mit dir, starker Held! (Ri 6,12). Hier wird Stärke genannt und Stärke gebraucht, wobei Gott die Stärke gibt, der eine starke Zuflucht (Ps 70,7) ist. Auch in diesem Werk zu unserem Heil, das mit der Gnadenfüllea beginnt und in der Gnadenfülle vollendet wird, wird die Gnadenfülle erwähnt. Dem Urheber der Gnade aber wird das Lob dargebracht, der unter Mitwirkung der Jungfrau als Urheber des Werkes gezeigt wird.

Du bist gesegnet unter den Frauen 28.  Nach Gott, dem Urheber dieser großen Wohltat, gebührt das erste Lob der Jungfrau, sodass sie es verdient, von allen gelobt zu werden. Deshalb sagt ihr der Engel: Du bist gesegnet unter den Frauen! (Lk 1,28). Und Elisabeth spricht zu ihr: Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen (Lk 1,42). Eva zog sich durch Stolz und schuldhaften Ungehorsam als Urteil den Fluch zub, und auch wir unterliegen durch sie dem Fluch. Stolz verdient nämlich den Fluch, denn Gott tritt den Stolzen entgegen, den Demütigen aber schenkt er seine Gnade (1 Petr 5,5). Daher steht geschrieben: Der a  b 

Vgl. Lk 1,28; Joh 1,14 und 1,16. Vgl. Gen 3,16.

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SERMONES

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Anfang der Sünde ist der Stolz. Wer an ihm festhält, wird mit Fluch überhäuft (Sir 10,15). 29.  Maria jedoch demütigte sich und erlangte Segen. Achten wir darauf, so gut wir können, wie sehr sie sich gedemütigt hat und wie sehr sie gesegnet wurde. Eine erste Demütigunga ist die unter das Gebot, eine weitere unter den Rat, eine weitere unter das Beispiel, eine weitere unter den Vorsatz oder das Gelübde, und noch eine weitere unter die üble Nachrede. Das Gebot auferlegt einen Zwang, der Rat weckt den freien Willen, das Beispiel verlockt zur Nachahmung, der heilige Vorsatz oder das Gelübde vertieft die Hingabe; die üble Nachrede aber bringt Beschämung. 30.  Die Demut unter den Rat ist größer als die unter das Gebot. Uns wird befohlen, fremdes Eigentum nicht zu rauben; und wir werden gemahnt, das eigene zu verlassen. Dies ist ein höherer Wert, das erste aber ist notwendiger. Das zweite ist enger, das erste allgemeiner. 31.  Die Demut unter das Beispiel – ohne Gebot und ohne Rat – ist offensichtlich weit entfernt von jeder Art Stolz und Überheblichkeit. Große Demut verrät es nämlich, wenn einer ohne Zwang, ohne Rat sich den vor Augen stellt, der recht handelt, und nichts zurückweist, was Nachahmung verdient. 32.  Oft aber empfängt man ohne Gebot, Rat und Beispiel durch ein geheimes Verspüren des Geistes etwas Gutes und nimmt es als Vorsatz oder Gelübde an: das ist wunderbare Demut! Zeichen großer Tugend ist es ja, auf die allgemeine Freiheit zu verzichten und sich einer heiligen Notwendigkeit zu unterstellen. 33. Manchmal jedoch wird etwas, was bekanntlich Gott wohlgefällig ist, von den Menschen schlecht aufgenommen und mit einem Fluch belegt. Deshalb lassen sich manche von ängstlicher Verwirrung besiegen, sie schämen sich oft ihres Strebens nach Vollkommenheit, und während sie die Zungen der Menschen fürchten, fliehen sie vor dem Guten, das sie ersehnen. Manche aber schätzen die Gerechtigkeit und Heiligkeit so hoch und sind so eifrig, dass sie Fluch und Widerspruch der Menschen verVgl. zu Abschnitte 29-32 Augustinus, De bono coniugali XXIII, 30 (CSEL 41, 225). a 

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13. Zu Mariä Verkündigung, 28-35

achten und es für eine Ehre halten, für den Namen Jesu Schmach zu erleiden (Apg 5,41). Sie halten die Schmach des Messias für einen größeren Reichtum als die Schätze Ägyptens (Hebr 11,26). Das ist das Los der Demut: je weniger sie die Flüche der Menschen um Gottes willen fürchtet, desto reichere Gnade und Segen verdient sie bei Gott. Dieses Los der Demut hat auch Christus nicht an sich vorübergehen lassen. Er wollte die Gerechtigkeit ganz erfüllen (Mt 3,15) und wurde so für uns zum Fluch, wie geschrieben steht: Verflucht ist jeder, der am Pfahl hängt (Dt 21,23 und Gal 3,13). Wie er aber zum Verfluchten geworden ist, zeigt der auf, der da sagt: Er wurde von den Menschen verworfen, aber von Gott aus­ erwählt und geehrt (1 Petr 2,4). Damit stimmt auch jenes Wort überein: Mögen sie fluchen – du wirst segnen (Ps 108,28). 34.  Wir wollen aus dem Gesagten einschätzen, wie die Demut dieser Jungfrau beschaffen war: Sie weihte ihre Jungfräulichkeit ohne Vorschrift des Gesetzes, ja unter dem Fluche des Gesetzes, denn jede Frau wurde als verflucht betrachteta, die in Israel keine Nachkommenschaft hinterließ. Wenn Gott am Anfang denen, die er segnete, sagte: Seid fruchtbar, und vermehrt euch! (Gen 1,28) und ihnen die Gnade der Fruchtbarkeit als Segen gab, wie stellt sich dann jene Frau, die ohne Fruchtbarkeit ist, nicht außerhalb dieses Segens? Wenn Fruchtbarkeit Segen bedeutet, wie kann dann Unfruchtbarkeit kein Fluch sein? Was ist unfruchtbarer als die Jungfräulichkeit, was steriler, was unergiebiger? Gar nichtsb! Doch bevor die Jungfrau fruchtbar wurde! Denn nachdem die Jungfräulichkeit fruchtbar gemacht worden war, gibt es nichts Fruchtbringenderes als sie. 35.  Die Heiligkeit der Jungfräulichkeit steht über dem Gesetz: kein Gesetz macht sie zur Vorschrift, doch die evangelische Vollkommenheit formulierte sie als Rat, da der Herr sprach: Wer das erfassen kann, der erfasse es (Mt 19,12). Und der Apostel: Was die Frage der Jungfräulichkeit angeht, so habe ich kein Gebot vom Herrn. Ich gebe euch nur einen Rat (1 Kor 7,25). Dem Vorsatz dieVgl. Ex 23,26. Vgl. Bernhard von Clairvaux, 1. Predigt zum Lob der jung fräulichen Mutter 9 (BCSW IV, 47-49). a 

b 

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ser Jungfrau ging kein Gebot des Gesetzes voraus, kein – wie es manchen scheint – Rat bezüglich des Gesetzes, kein Beispiel unter dem Gesetz. Was ich über das Beispiel gesagt habe, muss von Frauen mehr angenommen werden als von Männern. Denn Elija, Jeremia und Daniel sollen die Keuschheit der Jungfräulichkeit gewahrt haben. Bei den Frauen jedoch gibt es kein Beispiel – weder vor dem Gesetz, noch unter dem Gesetz –, dass die Jungfräulichkeit gewahrt und Gott geweiht wurde. 36.  Denn dass die Tochter Jiftachs einen Aufschub von zwei Monaten erbat, um ihre Jungfräulichkeit zu beweinena, kann verschieden ausgelegt werden. In welcher Gesinnung sie dies nämlich tat, sagt uns die Schrift nicht. Denn wenn der Grund, ihre Jungfräulichkeit zu beweinen, darin bestand, dass sie in Israel nicht gleichsam unfruchtbar, ohne Nachkommenschaft sein wollte, so sind dieser Gedanke des Herzens und diese Tränen vom Vorsatz heiliger Jungfräulichkeit weit entfernt. Jedoch scheint sie etwas Hohes gedacht zu haben – was es damit auf sich hat, weiß Gott, der die Herzen prüft (Spr 24,12) – da sie ihrem Vater sagte: Mein Vater, wenn du dem Herrn mit eigenem Mund etwas versprochen hast, dann tu mit mir, was du versprochen hast, nachdem dir der Herr Rache an deinen Feinden verschafft hat (Ri 11,36). 37.  Wieso kommt es aber unserer Jungfrau in den Sinn, dass sie auch nur glauben konnte, dass die Jungfräulichkeit Gott gefallen würde, die so mit dem Fluch behaftet, so nahe der Unfruchtbarkeit war? Doch sie konnte bei Jesaja gelesen haben: Der Ver­ schnittene soll nicht sagen: Ich bin nur ein dürrer Baum. Denn so spricht der Herr: Den Verschnittenen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal, ich gebe ihnen einen Namen, der mehr wert ist als Söhne und Töchter (Jes 56,3-5). Ebenso jenes Wort: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben (Jes 7,14). Wenn die Ehre eines Namens, der mehr wert ist als Söhne und Töchter, den Verschnittenen, das heißt den Jungfräulichen, verheißen wird, wenn vorausverkündet wurde, dass der Welterlöser aus einer Jungfrau geboren werden sollte, a 

Vgl. Ri 11,37.

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13. Zu Mariä Verkündigung, 35-39

konnte sie durch Eingebung desselben Geistes, der den Propheten zu dieser Aussage anregte, von Gott erleuchtet denken, dass gerade die Jungfräulichkeit Gott kostbar, gerade sie ihm lieb sei, da die Ehre, Gott zu empfangen für eine jungfräuliche Geburt aufgespart sei. Sie wurde ohne Ausspruch eines Propheten über das Verdienst der Jungfräulichkeit unterrichtet oder nur durch göttlichen Antrieb innerlich darüber belehrt, und sie wählte im Voraus die Jungfräulichkeit, sie liebte die Jungfräulichkeit, umarmte die Jungfräulichkeit und brachte sie dem Herrn als überaus lieblichen Duft dar und weihte sie ihm; die Schande des Fluches aber verachtete siea. 38.  Doch für die bisher unfruchtbare Jungfräulichkeit empfing sie die Fruchtbarkeit; für die Verachtung des Fluches fand sie die Gnade des Segens. So war bei den anderen wegen des Fluches Ungerechtigkeit in der Empfängnis und Schmerz in der Geburtb; und bei manchen Frauen Kinderlosigkeit ohne Frucht. Sie aber empfing ohne Sünde, gebar ohne Schmerz und brachte aus der Jungfräulichkeit Frucht hervor. Und was für eine Frucht! Ja, eine einzigartige Frucht, eine Frucht, die kostbarer ist als jegliche Frucht der Ehe! 39.  Was ist denn die Frucht der Ehe anderes als die ganze Nachkommenschaft Adams, diese ganze große Zahl der Menschenkinder? Denn die aus der Unzucht Geborenenc sind aus der von den Stammeltern vollzogenen Ehe hervorgebracht worden. Die ganze Frucht der fleischlichen Vereinigung ist aber schon im Voraus verurteilt, ist sie ja dem bösen Baum entsprossen und von der verseuchten Wurzel her verdorben. Ein schlechter Baum bringt eben schlechte Früchted. Wer ist nun – so fragst du – ein schlechter Baum? Eben die böse Begierde, die Begierde des Fleisches, die alle mit sich reißt, die nach dem Gesetz des Fleisches gezeugt und die aus der Weitergabe der Sünde hervorgebracht Vgl. Bernhard von Clairvaux, 3. Predigt zum Lob der jung fräulichen Mutter 7 (BCSW IV, 87-89). b  Vgl. Gen 3,16. c  Vgl. Joh 8,41. d  Vgl. Mt 7,17-18 und Bernhard von Clairvaux, 3. Predigt zum Lob der jung fräulichen Mutter 7 (BCSW IV, 87-89). a 

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werden. Das ist die Erbsünde in uns, Samen für alles Böse, Sauerteiga der ganzen verdorbenen Menge, Anfang und Vollendung der gemeinsamen Verurteilung. 40.  Dieses ursprüngliche Übel, so schädlich, so todbringend, konnte durch das ursprüngliche Gute aus dem Zustand der ersten Schöpfung nach der ersten Übertretung und dem fehlerbehafteten Gesetz der Geburt, das immer noch bei den Geburten in Geltung ist, wieder geheilt werden. Gott mäßigte nämlich seinen Urteilsspruch gegen den sündigen Menschen so, dass die durch dessen Fehler verdorbene Natur teilweise das Böse erfahren sollte, das sie verdiente, und teilweise das Gute verraten sollte, das sie in sich trug. Wegen der Sünde des Ungehorsams also bringt die mit Fehlern behaftete Zeugung das Gesetz des Ungehorsams – das heißt den Fehler der Begierde – zu denen, die geboren werdenb, und dennoch bewahrt der Zustand der ersten Schöpfung eine gewisse Unberührtheit und Unverdorbenheit bei denen, die geboren werden. 41. Alle werden nämlich jungfräulich geboren, und die aus dem Mutterschoß hervorgegangene Jungfräulichkeit begleitet das zunehmende Alter und hält die Gnade blühender Unverdorbenheit unversehrt bis zur Verdorbenheit des Fleisches, das die Regung der Begierde nicht beherrscht, den Namen der Unversehrtheit auslöscht und die Blüte grünender Jungfräulichkeit verdirbt. Was jedoch die Vereinigung von Mann und Frau beim Geschlechtsverkehr verdirbt, das stellt der Urzustand der Geburt im Kind wieder her. Die Jungfräulichkeit ist bei allen, die geboren werden, eine gemeinsame Unberührtheit, die Bezeichnung und das Lob einer Tugend aber besitzt sie vor allem bei denen, die mit der Unberührtheit des Fleisches die Reinheit des Geistes verbinden. Die Jungfräulichkeit des Fleisches jedoch ohne Reinheit des Geistes zieht sich zwar nicht den Tadel für ein Vergehen zu, doch hat sie auch nicht das Lob einer wahren Tugend. Vgl. 1 Kor 5,6; Gal 5,9. Die Lehre, dass die Erbsünde durch die sexuelle Begierde bei der Zeugung weitergegeben wird, geht auf Augustinus zurück und war bei den Autoren des Mittelalters allgemein verbreitet. a 

b 

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13. Zu Mariä Verkündigung, 39-44

42a. Die Jungfräulichkeit dieser gesegneten Jungfrau aber verdient in einzigartiger Weise Lob für ihre Tugend, da sie einen einzigartigen Gnadensegen empfing: zu ihr wurde mit Recht gesagt: Du bist gesegnet unter den Frauen (Lk 1,28). Ja, gesegnet war sie, zunächst durch das Freisein vom allgemeinen Fluch, dann durch die Unterdrückung der verdienten Anklage; und schließlich, was das größte ist: durch die Abwendung der geschuldeten Verurteilung. Die übrigen Frauen, ob sie Kinder gebären oder unfruchtbar sind, trifft der allgemeine Fluch. Von ihm wurde sie durch die Gnade freigekauft und empfing darin einen Teil des Segens, da sie allein ohne den allgemeinen Schaden war und frei blieb. Das haben wir mit dem Freisein vom allgemeinen Fluch gemeint. 43b.  Es konnte der Mann nach dem Sündenfall der Frau gegenüber klagen und sprechen: „Durch dich, verfluchte Frau, die wirklich den Fluch verdient, bin auch ich verflucht; durch dich wurde ich aus dem Paradies vertrieben, durch dich habe ich diese und jene Güter verloren, durch dich diese und jene Übel mir zugezogen. Wehe dir, denn durch dich ist mir wehgetan worden!“ Darauf konnte keine Frau auch nur ein Wort erwidern. Dabei konnte sie nur von Beschämung erfüllt und von Verwirrung gequält werden. Von da her konnte das ganze Geschlecht der Frauen verhasst und der öffentlichen Verwünschung würdig sein. Und so war es auch vor der Geburt dieser Jungfrau. Jetzt aber ist es ganz anders. Jetzt hat die Frau etwas, was sie erwidern kann, sie hat in der seligen Jungfrau etwas der Verwünschung entgegenzusetzen. Das haben wir mit der Unterdrückung der verdienten Anklage gemeint. 44.  Von dieser Anklage blieb die selige Jungfrau frei, und durch ihr Verdienst sprach sie auch die anderen davon frei. Da sie den Welterlöser gebar, der dem Tod die Macht genommen (2 Tim 1,10) und die verdiente Verurteilung von uns entfernt hat, verdanken wir ihr nach Gott alles – dass wir vom Fluch befreit wurden a  Zu dieser Nummer vgl. Bernhard von Clairvaux, 3. Predigt zum Lob der jung fräulichen Mutter 7 (BCSW IV, 87-89). b  Zu dieser Nummer vgl. Bernhard von Clairvaux, 2. Predigt zum Lob der jung fräulichen Mutter 3 (BCSW IV, 51-53).

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und dass wir mit allem Segen seines Geistes im Himmel (Eph 1,3) gesegnet wurden. So wie sie selbst bei Gott immer gesegnet ist, so soll sie auch von uns immer gesegnet werden.

Und gesegnet ist die Frucht deines Leibes 206

45. Zu diesem Gruß des Engels, mit dem wir jeden Tag die seligste Jungfrau mit der Ehrfurcht, in der er ausgesprochen wird, grüßen, fügen wir gewöhnlich noch hinzu: und gesegnet ist die Frucht deines Leibes (Lk 1,42). Diese Worte fügte Elisabeth hinzu, nachdem sie von der Jungfrau gegrüßt worden war und gleichsam den Schluss des Engelsgrußes wiederholte: Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes (Lk 1,42). Das ist die Frucht, von der Jesaja sagt: An jenem Tag wird der Spross des Herrn für alle Israeliten, die entronnen sind, eine Zierde und Ehre sein; die Früchte des Landes sind ihr Stolz und Ruhm (Jes 4,2). Wer ist denn die Frucht anderes als der Heilige Israels, der selbst auch Same Abrahams (Jes 41,8), Spross des Herrn (Jes 4,2), Blüte aus dem Baumstumpf Isais (Jes 11,1) und Frucht des Lebens ist, an dem wir Anteil erhalten haben? Ja, gesegnet sei er im Samen, gesegnet im Spross, gesegnet in der Blüte, gesegnet in der Gabe, schlussendlich gesegnet in Danksagung und Lobpreis. 46. Christus, der Nachkomme Abrahams ist dem Fleisch nach geboren aus dem Samen Davids (Röm 1,3). Wenn die Jungfrau aber mit Josef aus dem Hause Davids verlobt und selbst aus dem Samen Davids war, warum sollte man dann nicht treu glauben, dass auch Christus aus dem Samen Davids (Joh 7,42) stammte, wenn er doch von einer Frau geboren (Gal 4,4) wurde, aus der er ohne Samen hervorging, also aus dem Samen Davids (Joh 7,42) ohne Samen. Warum jedoch ohne Samen? Deshalb, weil es sich zeigte, dass sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes (Mt 1,18). Sie nahm das Kind auf wunderbare Weise auf und nichts vom zeugenden Mann an. Sie teilte nämlich aus sich

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13. Zu Mariä Verkündigung, 44-49

selbst die Substanz des Fleisches mit; und er wurde nicht verunreinigt, als er aus ihr Fleisch annahma. 47. Hier ist also der Grund für den Lobpreis des Samens: Wo es keine Bindung an die Sünde gab, wo kein Ursprung der Ungerechtigkeit durch Zeugung oder Verschulden da ist. Die Gestalt eines Knechtes wird angenommenb ohne den Stand der Knechtschaft, und das Unberührtsein von der Sünde bei der Geburt ist angeborene Freiheit und freies Geborenwerden. Denn er allein ist frei, der die Schuldigen freispricht und zu Freien macht. 48. Zu diesem Segen, der in der Freiheit von der Schuld besteht, wird noch der Segen des Sprosses hinzugefügt, der in der Fülle der Gnadec und vollendeten Gerechtigkeitd besteht. Als Einziger unter den Menschen erweist er sich als vollendet in allem Guten, da er unberührt bleib von allem Bösen. Ihm wurde der Geist unbegrenzt (Joh 3,34) gegeben, sodass er allein die Gerech­ tigkeit ganz erfüllen (Mt 3,15) konnte. Alle Gerechtigkeit der Heiligen ist ja im Vergleich mit ihm völlig ungenügend. Niemand ist nämlich heilig, nur der Herr (1 Kön 2,2). Für die Einzelnen kann seine Gerechtigkeit kaum genügen, die Gerechtigkeit des Herrn aber genügt für alle Völker, wie geschrieben steht: Wie die Erde die Saat wachsen lässt und der Garten die Pflanzen hervorbringt, so bringt Gott, der Herr, Gerechtigkeit hervor und Ruhm vor allen Völkern (Jes 61,11). 49.  Das ist also der gerechte Spross, der, im Segen herangewachsen, die Blume der Herrlichkeit schmückt. Doch wie groß ist diese Herrlichkeit? Wie groß und erhaben man sie sich auch vorstellen kann, – ja wie groß sie ist, kann man sich überhaupt nicht vorstellen! Die Blume wächst nämlich aus dem Wurzelstock Isais (Jes 11,1) hervor. Wie weit? Natürlich bis zur höchsten Höhe, denn Jesus Christus ist der Herr in der Herrlichkeit Gottes, des Va­ ters (Phil 2,11). Über den Himmel breitet er seine Hoheit aus (Ps

a  Vgl. Antiphon „O admirabile commercium“ vom Fest der Beschneidung des Herrn. b  Vgl. Phil 2,7. c  Vgl. Joh 1,14. d  Vgl. Mt 3,15.

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8,2), damit der Spross des Herrn Zierde und Herrlichkeit sei und eine wunderbare Frucht des Landes (Jes 4,2). 50.  Doch wer ist für uns die Frucht in dieser Frucht? Wer sonst als die Frucht des Segens aus der gesegneten Frucht? Aus diesem Samen, Spross, aus dieser Blüte wächst die Frucht des Segens hervor, und sie wächst bis zu uns her: Zuerst gleichsam im Samen durch die Gnade der Vergebung, dann gleichsam im Spross durch das Wachstum in der Gerechtigkeit, und schließlich auch in der Blüte durch die Hoffnung oder die Erlangung der Herrlichkeit. 51.  Er ist von Gott und für Gott gesegnet – das heißt, dass Gott in ihm verherrlicht werden soll – und er ist auch für uns ein Gesegneter, sodass wir von ihm gesegnet und in diesem Spross verherrlicht werden. Denn durch die an Abraham ergangene Verheißung gab Gott ihm den Segen für alle Völkera, sodass er im Geschenk des Segens für uns ein Gesegneter sei und für das Geschenk durch Danksagung und Lobpreis von uns stets Segen verdiene. So sei sein herrlicher Name in Ewigkeit gesegnet und ge­ priesen! Seine Herrlichkeit erfülle die ganze Erde. Amen, ja amen (Ps 71,19).

a 

Vgl. Gen 22,18.

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Sermo 14 Traktat V Predigt zur Aufnahme der heiligen Maria in den Himmel

In allem habe ich Ruhe gesucht, und im Erbteil des Herrn werde ich weilen. Dann sprach der Schöpfer des Alls, und er gab mir Befehl; er, der mich schuf, ruhte in meinem Zelt. Und er sprach zu mir: In Jakob sollst du wohnen, in Israel sollst du deinen Erbbesitz haben und in meinen Erwählten Wurzeln schlagen (Sir 24, 11-13).

1.  Die Weisheit Gottes, in der alles geschaffen und neugeschaffen wurde, wird im Buch Jesus Sirach eingeführt. Sie spricht und erwähnt manche Werke ihrer Tugend, die wirklich erstaunlich und bewundernswert sind. Anschließend fügt sie hinzu: In all dem habe ich Ruhe gefunden (Sir 24,11). 2. Christus ist Gottes Kraft und Gottes Weisheita. Gott aber ist gewissermaßen höchster Friede und höchste Ruhe, da er ja immer derselbe ist, immer unbeweglich und unveränderlich, bei dem es keine Veränderung gibt (Jak 1,17), denn er wird nicht anders, als er war, und keine wechselnde Verfinsterung (ebd.), denn er wird nicht anders werden, als er ist. Der Wechsel ist der veränderliche Zustand eines veränderlichen Dinges, und er trifft auf Gott überhaupt nicht zu. Er wird nämlich nicht im Wechsel von verschiedenen Leidenschaften erregt, noch findet man ihn wechselnden a 

Vgl. 1 Kor 1,24.

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Veränderungen unterworfen, sondern wie er immer ist, was er ist, so bleibt er auch immer, was er einmal gewesen ist. 3.  Daher ist er immer beständig und ruhig, und er hat es nicht nötig, für sich Ruhe in sich zu suchen, da er nicht mit sich in Zwiespalt geraten kann. Und dennoch sagt er: In allem habe ich Ruhe gesucht (Sir 24,11). Für wen hat er also Ruhe gesucht: für sich oder für uns; oder mehr für sich und für uns? So ist es nämlich. Bei allem, was Gott von Anbeginn an unseretwegen gewirkt hat, hat er für sich Ruhe in uns gesucht, und in sich für uns. Bei allem nämlich, was er des Menschen wegen geschaffen, begründet oder getan hat, tat er es, um den Menschen in sich zu verherrlichen oder sich im Menschen zu verherrlichen. Sie sollten die auf vielerlei Weise gesuchte Ruhe jeweils im anderen finden, wenn Gott in allem dem Menschen gefällt und der Mensch in nichts Gott missfällt. 4.  Wenn wir an den Lauf der Zeit denken, zeigt sich von Anfang an, dass Gott bald wirkt und sich nicht abmüht, bald sich abmüht und nicht wirkt, bald sich abmühend wirkt und sich beim Wirken abmüht. Bei der Erschaffung der Welt wirkt Gott und müht sich nicht ab, und er ruht am siebten Tag nicht von der Mühe, sondern vom Wirken. Dabei stellte er dem Menschen ein Beispiel vor Augen, wie man vor der Sünde mühelos wirkt und danach ruht. Deshalb setzte er den Menschen ins Paradies, damit er dort wirke und es hüte (Gen 2,15). 5.  Nach der Sünde jedoch müht sich Gott mit den verkehrten Verhaltensweisen des Menschen ab, und er wirkt nicht. Keineswegs hat er das Unrecht verursacht, nein, er verabscheut es. Daher sagt er gegen die Werke mancher böser Menschen, selbst wenn sie anscheinend zu seiner Verehrung geschehen, bei Jesaja: Ich müh­ te mich ab, sie zu ertragen (Jes 1,14). Und an anderer Stelle beim selben Propheten: Du hast mir mit deinen Sünden Arbeit gemacht, mit deinen üblen Taten hast du mir Mühe verursacht (Jes 43,24). 6.  Bei seiner Ankunft in die Welt aber wirkt Gott, und er müht sich ab. Er wirkt ja Taten des Heils auf Erden (Ps 73,12), und er müht sich ab bis zum Tod: Durch diesen wird seinen und zugleich unseren Mühen ein Ende gesetzt.

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14. Predigt zur Aufnahme der heiligen Maria in den Himmel, 2-11

7.  Somit ist es Mühe, unsere Sünden auszuhalten: und es ist auch Mühe, wegen unserer Sünden zu leiden. Von der Mühe des Ertragens ruht sich Gott aus, wenn an uns in Erfüllung geht, was durch den Propheten vorgeschrieben wird: Hört auf, Böses zu tun! (Jes 1,16). Bei unserer Bekehrung beginnen wir nämlich, uns in Demut unter die mächtige Hand Gottes (1 Petr 5,6) zu beugen, auf Gott hin ruhig zu werden und vor seinen Worten zu zitterna. Daher ruht auch er selbst in uns, wie er selbst mit den Worten bezeugt: Auf wem ruht mein Geist, wenn nicht auf dem Armen und Zerknirschten, und auf dem, der zittert vor meinem Wort? (Jes 66,2). Und wir ruhen in ihm, wie er selbst wiederum sagt: Lernt von mir, denn ich bin gütig und demütig, und ihr werdet Ruhe fin­ den für eure Seelen (Mt 11,29). 8.  Von der Mühe des Leidens ruht Gott aus, wie er selbst sagt: In Frieden werde ich sogleich schlafen und ruhen (Ps 4,9). Und auch wir ruhen von unseren Mühen nach dem Tode aus: Selig sind nämlich die Toten, die im Herrn sterben, von jetzt an; ja, spricht der Geist, sie sollen ausruhen von ihren Mühen (Offb 14,13). 9.  In allem habe ich Ruhe gesucht (Sir 24,11), sagt er, als wollte er sagen: In allen meinen Werken habe ich für mich Ruhe gesucht. Für mich wirklich in allen und in mir für alle, soweit es an mir liegt. Gott will nämlich, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (1 Tim 2,4). 10.  Doch findet er nicht in allen Ruhe, auch wenn er zu allen sagt: Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und abmüht! (Mt 11,28). Bei denen aber findet er Ruhe, die nach seinem Vorauswissen zum Erbe des Herrn gehören. Daher fügt er auch hinzu: Und im Erbteil des Herrn werde ich weilen (Sir 24,11). Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, der Nation, die er sich zum Erbteil erwählt hat (Ps 32,12). Das ist das Erbe, von dem geschrieben steht: Denn der Herr hat den Zion erwählt, ihn zu seinem Wohnsitz erkoren: Das ist für immer der Ort meiner Ruhe; hier will ich wohnen, ich hab‘ ihn erkoren (Ps 131,13-14). 11.  Dieses Erbe aber gab der Vater seinem Sohn auf dessen Bitte hin, denn er sprach zu ihm: Ford‘re von mir, und ich gebe a 

Vgl. Jes 66,2; 66,5.

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dir die Völker zum Erbe, die Enden der Erde zum Eigentum (Ps 2,8). Die Bitte des Sohnes aber waren seine am Kreuz erhobenen Hände, und jenes Gebet, von dem geschrieben steht: Wie ein Rauchopfer steige mein Gebet vor dir auf; als Abendopfer gelte vor dir, wenn ich meine Hände erhebe (Ps 140,2). Dieses Erbe also erwarb sich der Sohn in seinem Blut, als es der Vater so auftrug und befahl. Deswegen spricht er jetzt: Dann sprach der Schöpfer des Alls, und er gab mir Befehl (Sir 24,12). Dann gehört zur Zeit, nicht zur Ewigkeit. Es ist, als wollte er sagen: „Als die Zeit erfüllt wara, dass ich mir das Erbe erwerben sollte, in dem ich weilen werde, da sprach ich, der lang Ersehnte und Erwartete: Ja, ich komme (Ps 39,8). Dann nämlich gab mir der Schöpfer des Alls Befehl (Sir 24,12). Er gab Befehl, wie einem Sklaven, einem Untergebenen gemäß der Menschheit; und er sprach wie zu einem Sohn, wie zu einem Gleichgestellten gemäß der Gottheit.“ 12.  Was er aber befehlen und sagen sollte, wird nicht klar ausgesprochen, sondern aus dem Folgenden erschlossen. Wie auch an anderer Stelle gesagt wird: Gebiete, o Gott, deiner Macht (Ps 67,29), wird nicht ausgesprochen, was Gott, der Vater, seiner Macht – das ist Christus – gebieten möchte, sondern es wird aus dem Folgenden erkannt, um das zu festigen, was er in uns gewirkt hatb. Und an anderer Stelle steht geschrieben: Denn der Herr sprach, und so­ gleich geschah es; er gebot, und alles war da (Ps 32,9; Ps 148,5). Was er sprach und was er gebot, wird aus den Umständen offenkundig, doch nicht klar ausgesprochen. So erkennen wir auch an dieser Stelle, dass Gott, der Vater, der Schöpfer des Alls, Christus befohlen und gesagt hat, er solle nach Menschenart geschaffen werden. Daher sagt er auch bei Jesaja: Gerechtigkeit soll sogleich sprießen. Ich, der Herr, habe ihn geschaffen (Jes 45,8V). 13.  Und der Sohn, der an dieser Stelle den Vater, den Schöpfer des Alls, erwähnt, sagt von ihm, um uns die Gestalt des Befehls mitzuteilen: Er, der mich schuf, ruhte in meinem Zelt (Sir 24,12). Als wollte er sagen: „Der Schöpfer des Alls hat mich geschaffen, indem er mir Befehl gab, und er hat in mir geruht.“ Von ihm sagt a  b 

Vgl. Gal 4,4. Vgl. Offertorium am Pfingstfest.

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14. Predigt zur Aufnahme der heiligen Maria in den Himmel, 11-16

er auch: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe (Mt 3,17). Als sein Zelt aber bezeichnet er die angenommene Menschheit, in der er hart kämpfte und die Gewalten der Lüftea bezwang. In diesem Zelt ruhte auch der Vater. Gott war nämlich in Christus, der die Welt mit sich versöhnt hat (2 Kor 5,19). Der Vater ruhte jedoch im Sohn, um einen Anfang der gesuchten Ruhe darzustellen und danach die gesuchte Ruhe durch das Geheimnis der Menschwerdung zu vollenden. 14.  Wie aber die Ruhe für den Sohn vom Sohn selbst in seinem Erbe bereitet werden soll, zeigt er mit den Worten: Und er sprach zu mir: In Jakob sollst du wohnen, in Israel sollst du deinen Erbbesitz haben und in meinen Erwählten Wurzeln schlagen (Sir 24,13). Dreierlei wurde ihm vom Vater gesagt und aufgetragen; das zeigt der Sohn auf. Auf diese drei kann – wenn das einem besser gefällt – das zuerst Gesagte bezogen werden. Dann gab er Befehl… und er sprach (Sir 24,12). Nach dem Einschub über seine Menschwerdung fügt er endlich hinzu, was ihm der Vater befohlen und gesagt hatte. Und wenn er auch oben beides gesagt hatte – er gab Befehl und er sprach – so greift er wegen des Einschubs wieder auf: Und er sprach… Damit wollte er ausdrücken, was ihm gesagt oder befohlen wurde, nämlich sich eine Ruhestätte in seinem Erbe zu bereiten. 15.  So gibt es drei – Glaube, Hoffnung und Liebeb – durch die die Herzen der Erwählten vorbereitet werden, damit Christus in ihnen ruhen kann. Auf diese drei beziehen sich in wunderbarer Reihenfolge andere drei, die hier aufgezählt werden: wohnen, Erb­ besitz haben und Wurzeln schlagen (vgl. Sir 24,13). 16.  Wohnen bezieht sich auf den Glauben nach dem Wort des Apostels: Gott möge uns aufgrund des Reichtums seiner Herrlich­ keit schenken, dass wir in unserem Innern durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmen. Durch den Glauben wohne Christus in unserem Herzen (vgl. Eph 3,16-17). Erbbesitz haben aber bezieht sich auf die Hoffnung. Das verheißene Erbe wird nämlich noch nicht gesehen, noch nicht tatsächlich besessen, sondern nur in a  b 

Vgl. Eph 2,2. Vgl. 1 Kor 13,13.

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der Hoffnung erlangt. Christus ist ja das Erbe der Gerechten und wird in dieser Zwischenzeit durch die Hoffnung erlangt. Zu ihm sagt der Vater: In Israel sollst du deinen Erbbesitz haben (Sir 24,13). Das heißt: Sei du der Erbbesitz Israels. Und er fügt hinzu: In mei­ nen Erwählten sollst du Wurzeln schlagen (ebd.). Das bezieht sich auf die Liebe. Deshalb sagt der Apostel: In der Liebe verwurzelt… (Eph 3,17). 17.  Durch diese drei Tugenden bereitet sich Gott eine Ruhestätte in seinem Erbe und in dem Volk, das er sich zum Erbteil erwählt hat (Ps 32,12). Der Anteil des Herrn aber ist sein Volk, Ja­ kob wurde sein Erbland (Dtn 32,9). Habe also Glauben, Hoffnung und Liebea, und du wirst zum Haus Jakob, zum Volk Israel und zur Zahl der Erwählten gehören. Christus wird in dir wohnen und von dir als Erbe eingesetzt werden, in dir wird er Wurzeln schlagen, um auf ewig in dir zu bleiben und in dir als seinem Erbteil ruhen.

Fortsetzung 18.  In allem habe ich Ruhe gesucht (Sir 24,11) usw. Die Weisheit Gottes, die alles in allem wirkt, ist Christus, der auch in uns wirkt: meistens ohne uns, bisweilen auch gleichsam mit unserer Mitwirkung, denn wir sind Gottes Mitarbeiter (1 Kor 3,9). Er wirkt aber das in uns, was wir durch ihn in ihm wirken; in gleicher Weise spricht er auch das in uns, was wir durch ihn in ihm sprechen. So sind die Werke und Worte der Gerechten Werke und Worte Christi. Daher sagt Petrus: Wer redet, der rede mit den Worten, die Gott ihm gibt; wer dient, der diene aus der Kraft, die Gott ver­ leiht (1 Petr 4,11). 19.  Was auch immer in rechter Weise unserem Herzen zum Denken oder unserem Mund zum Sprechen eingegeben wird, stammt von Gott; es ist nicht das Unsere. Oder wenn es in gewisser Weise das Unsere ist, so ist es doch ganz und gar nicht von uns. Das wusste jener, der da sprach: Wir haben durch Christus so gro­ a 

Vgl. 1 Kor 13,13.

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14. Predigt zur Aufnahme der heiligen Maria in den Himmel, 16-21

ßes Vertrauen zu Gott. Doch sind wir dazu nicht von uns aus fähig, als ob wir uns selbst etwas zuschreiben könnten; unsere Befähigung stammt vielmehr von Gott (2 Kor 3,4-5). Daher sagt der Psalmist: In Gott werden meine Worte zu Lobliedern (Ps 55,5V). Und ebenso sagt er: Mir liegt kein Wort auf der Zunge (Ps 138,4). Als wollte er sagen: An meiner Zunge liegt es nicht, sondern vielmehr an Gott, dass ich ein würdiges Wort hervorbringe. Was immer nämlich würdig ausgesprochen wird, das spricht derselbe aus, der es zum Aussprechen eingibt. Oder verlangt ihr einen Beweis dafür, fragt der Apostel, dass durch mich Christus spricht? (2 Kor 13,3). Christus spricht also in seinen Heiligen, Christus wirkt auch in seinen Heiligen, wie geschrieben steht: Herr, du wirst uns Frieden schenken; denn auch alles, was wir bisher erreichten, hast du für uns getan (Jes 26,12). Und der Apostel sagt: Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt, gemäß eurem guten Willen (Phil 2,13). 20.  Somit passt jenes Wort: In allem habe ich Ruhe gesucht (Sir 24,11) usw. so auf Christus, der in allen Gerechten wirkt und spricht, dass es auch auf alle Gerechten passt; es passt so auf alle Gerechten, dass es ebenso auf Christus passt. Wenn der Gerechte nämlich für sich Ruhe in Christus sucht, so sucht Christus für sich Ruhe im Gerechten, und er schenkt ihm ebenso das, dass er für sich Ruhe in ihm sucht. 21.  Die Ruhe jedoch ist etwas, was – wo auch immer – sehr gewünscht und ersehnt wird. Sie wird in den Gebeten aller erfleht, im Sehnen und Seufzen aller – der Guten und der Bösen – erbeten; sie wird bei jeder menschlichen Mühe gesucht. Alle Bestrebungen der Menschen nämlich, alle Eingebungen der Künstler, alle Arten von Berufen, alle Übungen, in denen man sich abmüht, streben entsprechend der Sehnsucht der Suchenden nach der Ruhe, richten sich auf die Ruhe aus. Doch keineswegs führen sie entsprechend dem Ausgang der Suche immer zur Ruhe. Alle, die Ackerbau ausüben, mit Waffen Kriegsdienst ausüben, Tätigkeiten ausüben, vielerlei mit Eifer und Mühe ausüben und sich darin üben: Bei all dem wünschen sie sich Ruhe, suchen sie Ruhe, und sie streben nach etwas, das Freude bereitet und in dem sie freudvoll ruhen können. Alle Unrast und Rast der Menschen,

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alle Beschäftigungen und Erholungen richten sich darauf, schauen dahin. 22.  Oft wandelt sich die tägliche Ruhe in Überdruss, und nach dem Überdruss an der Ruhe wird sie von Neuem gesucht in angestrengter Arbeit. Auf diese Weise wird die Ruhe gesucht, auch wenn man sie flieht. Sie wird aber gesucht in der Arbeit, durch die Arbeit und nach der Arbeit; und kein Ende hat die Arbeit und Suche nach Ruhe bei denen, die nicht den Weg betreten, auf dem man sie findet. Die Bösen suchen daher in allem Ruhe, doch sie finden keine Ruhe. Zerschlagen und unglücklich sind sie auf ihren Wegen, den Weg des Friedens haben sie nicht erkannt (Ps 13,3V). 23.  Der Gerechte dagegen sucht in allem Ruhe und, um Ruhe zu finden, findet er als erstes, wo die Ruhe liegt. Er sagt: In allem habe ich Ruhe gesucht und im Erbteil des Herrn werde ich weilen (Sir 24,11). Seht, hier ist die Ruhe, nämlich im Erbteil des Herrn, wo der Gerechte sich einrichtet, um ruhend zu verweilen. Was aber ist das Erbe des Herrn anderes als die Gemeinschaft der Heiligen, über die geschrieben steht: Der Anteil des Herrn aber ist sein Volk, Jakob wurde sein Erbland (Dtn 32,9)? 24.  Wer daran denkt, im Erbteil des Herrn zu verweilen, dem läuft Gott, der Schöpfer und daher der Erbarmera, entgegen wie einem, der von einem Irrweg heimkehrt. Er nimmt den flüchtigen Knecht, der zu ihm heimkommt, auf und unterstellt ihn seiner Herrschaft. Damit er durch den Gehorsam Ruhe finde, legt er ihm sein Gebot auf. Deshalb sagt er: Dann sprach der Schöpfer des Alls, und er gab mir Befehl (Sir 24,12). Gleich im Folgenden wird er sagen, was er befahl und sprach. 25.  Jetzt aber macht er einige Einschübe und sagt: Er, der mich schuf, ruhte in meinem Zelt (Sir 24,12). Groß ist die Hoffnung für den Gerechten, die Ruhe zu finden, die er sucht. Gleich am Anfang der Bekehrung zu Gott nämlich ruht Gott, erfreut über den Entschluss zu einem besseren Leben, im Herzen dessen, der sich zu ihm bekehrt, und er lässt den Bekehrten in sich ruhen. Keiner kann nämlich in Gott ruhen, wenn nicht Gott in ihm ruht a 

Vgl. Ps 85,15 u.a.

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14. Predigt zur Aufnahme der heiligen Maria in den Himmel, 21-29

und wenn nicht der Geist des Herrn auf ihm ruhta. Deswegen sagt er jetzt: Er, der mich schuf, ruhte in meinem Zelt (Sir 24,12), das heißt, in mir wie in einem Zelt. 26.  Der Gerechte ist nämlich gleichsam eine Wohnung Gottes nach einem Ausspruch des Sohnes, der da sagte: Mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen (Joh 14,23). Oder: Er ruhte in meinem Zelt (Sir 24,12), das heißt, in meinem Herzen. Im Tabernakel des Herzens wohnt nämlich der Gerechte, dort, wo auch Gott wohnt. Die Bösen aber, die auch nicht bei sich wohnen, sind fern von ihrem Herzen. Daher werden sie vom Propheten auch zu ihrem Herzen zurückgerufen, wenn er sagt: Ihr Treulosen, kehrt ins Herz zurück! (Jes 46,8V)b. 27.  Er, der mich schuf, ruhte in meinem Zelt (Sir 24,12). Wenn dieser Ausspruch auch auf jeden Gerechten passt, so trifft er doch zweifelsohne in besonderer Weise auf die selige Gottesmutter zu, die Gott, ihren Schöpfer und den Schöpfer des Alls in ihrem Schoß trug. Sie wendet diesen Ausspruch mit einzigartigem Recht auf sich selbst an, sodass sie sagen kann: Er, der mich schuf, ruhte in meinem Zelt (ebd.). Als Mensch wurde er nämlich in ihr geboren. Er, der Höchste, hat sie gegründet (Ps 86,5V). 28. Der Gerechte, der sich zu Gott bekehrt, besitzt Gott, der in ihm wohnt und ruht, sodass er seine Gebote ehrfürchtig annimmt, ihm gehorcht und durch den Gehorsam in ihm zu ruhen verdient. Durch den Gehorsam gegenüber den Geboten wird nämlich die ersehnte Ruhe vorbereitet, und nach der Mühe, die Gott im Gesetz auferlegt hatc, wird sie durch das Verdienst des Gehorsams erlangt. 29.  So wird ihm gesagt, damit er Ruhe finden möge: In Ja­ kob sollst du wohnen (Sir 24,13), im Volk nämlich, das ich geliebt habe. Jakob habe ich nämlich geliebt, Esau aber gehasst (Mal 1,23). Als wollte er ihm sagen: „Unter den Guten sollst du dich aufhalten und bei den Gerechten wohnen!“ Unter den Bösen gibt es nämlich keine Ruhe, wie geschrieben steht: Gefangen ist Juda im Vgl. Jes 61,1-2; Lk 4,18. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Bekehrung 2, 3 (BCSW IV, 155159); Predigt zu Allerheiligen 3, ebd. c  Vgl. Ps 93,20. a 

b 

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Elend, in harter Knechtschaft. Nun weilte er unter den Heiden und fand keine Ruhe (Klgl 1,3). Und über manche steht geschrieben: Sie vermischten sich mit den Heiden und lernten von ihren Taten. Sie dienten ihren Götzen; die wurden ihnen zur Falle (Ps 105,3536). 30.  Daher muss man die Gemeinschaft der Bösen fliehen, immer mit dem Herzen, doch nicht immer mit dem Leib; immer durch die Unähnlichkeit im Verhalten, doch nicht immer durch leibliche Trennung. Oft nämlich, wenn Gute und Böse beisammen wohnen, werden die Bösen gebessert oder die Guten lauterer und besser. Es wächst die Lilie unter Disteln (Hld 2,2), und der Gerechte gedeiht unter den Bösen wie eine Lilie; er wird von den Dornen gestochen und erleidet Bedrängnis von den Bösen, wie Jakob von Esau, der Unschuldige vom Schuldigen, der Gerechte vom Ungerechten. Dennoch hat er, soweit es an ihm liegta, mit allen Frieden, sodass er sagen könnte: Unter denen, die den Frieden hassen, verhalte ich mich friedlich (Ps 119,7). 31.  Die Feile ist in der Werkstätte der Künstler unentbehrlich, sie entfernt den Rost am Eisen, damit es heller glänzt. So wirkt auch der Böse als Gefährte im Gemeinschaftsleben: auch wenn er sich selbst Schaden zufügt und anderen zu schaden plant, feilt er die ab, die er verfolgt, und er reinigt sie. 32.  Was gilt also? Der Gerechte, der da spricht: Ich wohnte bei den Zelten von Kedar (Ps 119,5), wohnt der etwa auch in Jakob? Ja, er wohnt dort, wenn nicht dem Leib, so doch dem Herzen nach. Er lebt nämlich untadelig (Gen 25,27)b wie Jakob. Jakob war näm­ lich ein untadeliger Mann (Gen 25,27) und dennoch klugc – so klug, dass er Esau zu Fall brachte, indem er ihm das Erstgeburtsrecht abkaufte, und ihn danach zum zweiten Mal zu Fall brachte, indem er ihm den Segen raubte. Und das nicht zu Unrecht. Denn der Segen stand ihm von Rechts wegen zu, und Esau missachtete das als Erstgeborener. Esau ging nämlich seines Weges. Es war ihm gleich, dass er das Erstgeburtsrecht verkauft hatte (Gen 25,34). Und Vgl. Röm 12,18. Vgl. Spr 10,9 und 28,18. c  Vgl. Mt 10,16. a 

b 

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14. Predigt zur Aufnahme der heiligen Maria in den Himmel, 29-35

obwohl er als Erstgeborener von Beginn an auf das Erbe zueiltea, fehlte ihm am Ende der Segen. Er wurde verworfen, als er den Se­ gen erben wollte; denn er fand keinen Weg zur Umkehr, obgleich er unter Tränen danach suchte (Hebr 12,17). 33.  Wer nämlich in allem untadelig ist, niemandem schadet, und bei allem klugb ist, damit ihm kein Schaden zugefügt, er von niemandem zu Fall gebracht, noch um sein Recht betrogen werde, der ist Jakob. Er bewahrt das Recht der brüderlichen Gemeinschaft, soweit es an ihm liegt, unversehrt und unangetastet. 34. Ein friedfertiges Leben inmitten der Brüder wird uns also ans Herz gelegt, was zwar für die Guten unter Bösen weniger beglückend, doch oft umso nützlicher ist; für die Guten unter Guten dagegen ist es nützlich und sehr beglückend. Nichts im Menschenleben ist nämlich besser als die gegenseitige Liebe, und nichts beglückender als eine heilige Gemeinschaft. Lieben und geliebt werden ist ein wunderbares Geschäftc, die Freude des ganzen Lebens und der Preis der Seligkeit. Wie sollte ein gutes und frohes Zusammenwohnen denn nicht beglückend sein, wo Gott wohnt und wo er auch ruht? Gott ist in seiner heiligen Wohnung; Gott, der einträchtig im Hause wohnen lässt (Ps 67,6-7)d. 35.  Die Einheit im Gemeinschaftslebene ist eine Vorausdarstellung des Lebens und ein Sinnbild für jene himmlische Gemeinschaft, wo durch die Gemeinschaft der Liebe, das, was den Einzelnen gehört, tatsächlich allen gemeinsam ist. Hier ist es nämlich Verdienst, dort Belohnung. Hier ist es eine Vorausdarstellung, dort die Wahrheit; wenn auch diese Vorausdarstellung nicht ohne Wahrheit ist. Hier wird die Ruhe begonnen, dort vollendet. Die vollkommene Ruhe kann nämlich an diesem Ort der Bedrängnis (Ps 43,20), im Haus dieser Pilgerschaft (Ps 118,54) nicht gefunden werden. Außerhalb von unserem Erbe wird uns nicht volle Ruhe zuteil. Daher wird hinzugefügt: In Israel sollst du deinen Erbbesitz haben! (Sir 24,13). Vgl. Spr 20,21. Vgl. Spr 20,21. c  Vgl. Augustinus, Confessiones II, ii, 2 (CCSL 27, 17-18). d  Vgl. Ps 112,9. e  Vgl. dazu Balduin, Sermo 15, 67-74. a 

b 

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36.  Jakob ist selber Israela, er ist selber das Erbteil des Herrn, und der Herr ist sein Erbteil. Wer als Gerechter Esau zu Fall bringt, nämlich jeden Hinterhältigen, der seinen Bruder hasstb, sodass bei seinem Anblick der Böse zunichte wird (Ps 14,4), der ist Jakob. Wer aber gegen Gott stark ist, mannhaft handelt und Gott erträgtc, wer in Gottesfurcht immer auf Gott schaut, in seiner Sehnsucht, in seiner Hoffnung und in seinem Streben, der ist Israel. 37.  Jakob also oder Israeld – das ist das Erbteil des Herrn. Denn über Israel steht geschrieben: Das Werk meiner Hände und mein Erbbesitz ist Israel (vgl. Jes 19,25)e. Und über Jakob: Er wählt unser Erbe für uns aus, die Schönheit Jakobs, den er liebt (Ps 46,5). Für uns hat er es ausgewählt, sagt er, weil uns nützt, was er ausgewählt hat. Für uns hat er es ausgewählt, doch er hat sein Erbteil erwählt. Welches Erbteil, wenn nicht die Schönheit Jakobs, den er liebt? (ebd.). Die Schönheit Jakobs aber ist dies: Ein Muster des Glaubens und der Gerechtigkeit, die Jakob verwirklichte, für alle zum Vorbild und für alle zur Nachahmung. Er stimmte zu, für eine Zeitlang in Ägypten zu wohnenf, wo er als Toter aber nicht zurückbleiben, sondern in das Land überführt werden wollte, das ihm verheißen worden war. Damit zeigte er, dass das Erbteil nicht in Ägypten zu suchen sei – das heißt, in der Welt – und nicht in diesem Leben, sondern wenn der Herr seine Lieblinge einschlafen lässt (vgl. Ps 126,2). 38.  Das Erbteil Israels ist kein anderes als jenes, von dem der Prophet sagt: Mein Anteil ist der Herr (Ps 118,57). Und ebenso: Der Herr ist das Anteil meines Erbes (Ps 15,5). Esau aber und alle, die die Welt lieben und in ihm symbolisch dargestellt werden, verachten und verlieren für ein wertloses Mahlg wertloser Gier, und wegen eines Essens, das nur einmal stattfindet und schnell Vgl. Gen 32,28. Vgl. Gen 27,41. c  Vgl. Regel des heiligen Benedikt 7, 37 (SC 181, 482); Ps 26,14. d  Vgl. Gen 32,28. e  Das Zitat verfälscht den Sinn auch des Vulgatatextes, wo sich das „Werk meiner Hände“ auf Assyrien bezieht. f  Vgl. Gen 50. g  Vgl. Gen 25,34. a 

b 

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14. Predigt zur Aufnahme der heiligen Maria in den Himmel, 36-41

zu Ende geht, ihr Erbrecht. Von ihnen steht geschrieben: Sie ver­ schmähten das köstliche Land (Ps 105,24). Jakob aber verschmähte das Mahl und erlangte klug das Erstgeburtsrecht, wodurch er auch den Segen erbte. 39.  Dieses Erbe aber wird durch die Liebe zu Gott erworben. Außerhalb dieses Erbes sucht man vergeblich nach Ruhe. Deshalb wird denen, die danach suchen, gesagt: In Israel sollst du deinen Erbbesitz haben! (Sir 24,13). Das heißt: Bemüh dich und strebe danach, dass dein Erbbesitz in Israel und nicht in Ägypten liegt, nicht unter den Heiden, die Gott nicht kennena, sondern im Volke Israel. 40.  Nur Israel soll daher als Erbbesitz gesucht werden von allen, die nach Ruhe suchen – und das standhaft! Denn wer bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet (Mt 10,22). Deshalb wird auch hinzugefügt: In meinen Erwählten sollst du Wurzeln schlagen (Sir 24, 13). Wie die Begierde die Wurzel alles Bösen ist, so ist die Liebe die Wurzel alles Gutenb. Von der ersten wird gesagt: Ich sah einen Toren Wurzel fassen, und sofort verfluchte ich seine Schönheit (Ijob 5,3). Ein Tor ist, wer das Zeitliche dem Ewigen vorzieht. Dieser hat eine feste Wurzel, doch entsprechend dem Ruf, den er und seine Anhänger haben. Er verlässt sich nämlich auf seine Tugend und rühmt sich seines großen Reichtums (Ps 48,7), und selig nennen sie den, dem es so ergeht! (Ps 143,15). Sofort – heißt es – verfluchte ich seine Schönheit (Ijob 5,3). Im Einklang damit ist das Wort des Psalmisten: Darum wird Gott dich verderben für immer, dich pa­ cken und herausreißen aus deinem Zelt, dich entwurzeln aus dem Land der Lebenden (Ps 51,7). 41.  Damit die Liebe zu Gott nicht durch die Unbeständigkeit des Herzens wieder zur weltlichen Begierde abgleitet und die Nächstenliebe nicht – durch erlittenes Unrecht herausgefordert – in Hass oder Verachtung des Nächsten zurückfallen könnte, wird dem, der Gott und den Nächsten liebt, zu Recht gesagt: In meinen Erwählten sollst du Wurzeln schlagen (Sir 24,13). Mit diea  b 

u.a.

Vgl. 1 Thess 4,5. Vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos 90, i, 8 (CCSL 39, 1259-1260)

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sen Worten wird die Mahnung ausgesprochen, in der doppelten Liebe festzustehen, ohne sich von den Wurzeln loszureißen, und bis ans Ende standhaft zu bleibena, um einmal sagen zu können: Ich schlug Wurzel in einem ehrenhaften Volk (Sir 24,16V). 42.  Das Volk der Gerechten jedoch wird auf dreierlei Weisen und gleichsam mit drei Ausdrücken gekennzeichnet: In Jakob, in Israel, in meinen Erwählten. Jakob ist es in seiner aufrichtigen Klugheit, in der es aufrichtig lebt (Spr 10,9 und 28,18) und alle Ränke des Bösen vereitelt, um nicht durch Straucheln sein Recht zu verlieren. Israelb aber ist es, da es so stark ist, dass es den Herrn erträgtc, oder so selig, dass es ihn schaut. Erwählt aber ist es, weil es, als es noch gar nicht lieben konnte, schon zuerst geliebt worden istd. 43.  So ist es geliebt und von Gott zur Ruhe erwählt, die ihm von Gott bereitet wurde und die ihm zu seiner Zeit auch gewährt werden wird. Mit dreifacher Seligkeit wird es vollendet werden: nämlich im Miteinander seliger Gemeinschaft, in der Anschauung der göttlichen Majestät und in der Dauer der unendlichen Ewigkeit. Daher steht geschrieben: Sie erhalten doppelten Besitz in ihrem Land, ewige Freude wird ihnen zuteil (Jes 61,7). Zur ersten Seligkeit passt die Nächstenliebe, zur zweiten die Gottesliebe, zur dritten die dauernde Beharrlichkeit, das heißt, die Liebe bis ans Endee. 44.  Lieben wir also den Nächsten: entweder in Gott, wenn er gut ist; oder um Gottes willen, wenn er böse istf. Lieben wir ihn, um auf diese Weise in Jakob zu wohnen, das heißt, um in der Gemeinschaft der Gerechten zu bleiben und von der Gemeinschaft der Bösen stets weit entfernt zu sein, um nie dazu zu gehören, auch dann nicht, wenn wir unter ihnen oder mit ihnen leben. Für dieses Wohnrecht in Jakob ist die Nächstenliebe das Gesetz, Vgl. Mt 10,22. Vgl. Gen 32,25. c  Vgl. Ps 26,14; Regel des heiligen Benedikt 7, 37 (SC 181, 482). d  Vgl. 1 Joh 4,19. e  Vgl. Joh 13,1. f  Vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Gottesliebe 8, 25 (BCSW I, 115117). a 

b 

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14. Predigt zur Aufnahme der heiligen Maria in den Himmel, 41-48

durch das die Einheit der Brüderlichkeit unter den Gerechten gewahrt wird, damit sie so zum Miteinander seliger Gemeinschaft gelangen. 45.  Lieben wir Gott mit ganzem Herzen und ganzer Seelea, um Erbbesitz in Israel zu haben, damit wir kein anderes Erbe suchen als nur die Anschauung Gottes, der unserem Vater Abraham geschworen hat, sie uns zu schenken (Lk 1,73). Seien wir jedoch standhaft in der Liebe zu Gott und zum Nächsten bis ans Ende, damit unsere Ruhe im Reich Gottes ewig währe ohne Ende.

Die dreifache Unruhe 46.  Denken wir an dieser Stelle an die dreifache Unruhe, die die ersehnte Ruhe verhindert: Durch die häufige Erfahrung von Bedrängnissen zwingt uns diese, fast unablässig an sie zu denken. Wir werden nämlich in Unruhe versetzt durch die Bosheit der Zeit, das heißt, dieser ganzen veränderlichen Welt; von der Bosheit des Herzens, das heißt, der eigenen Begierde, und die Bosheit des Menschen, das heißt, fremder Verkehrtheit. 47.  O Bosheit über Bosheit! Die zweite übertrifft die erste und die dritte die zweite! Jeder Tag hat genug eigene Bosheit (Mt 6,34). Natürlich könnte die Bosheit der Zeit schon genügen, dass es uns recht elend geht, doch die fremde Verkehrtheit und die eigene Ungerechtigkeit belasten uns über jedes Maß, sodass es uns recht elend oder sogar sehr elend geht. Was sage ich: elend? Ja, wir sind elender dran als die Elenden, es geht uns ganz miserabel elend. 48.  Wohin kann ich ausweichen aus meinem Elend, das so vielfältig, so groß ist? Wohin mich wenden, um Ruhe zu finden? In allem habe ich nämlich nach Ruhe gesucht (Sir 24,11), doch habe ich die überall gesuchte Ruhe nirgends gefunden. Ruhe, wo bist du? Wo kann ich dich finden? Ich weiß, dass ich dich nicht finden kann, wenn du nicht zu mir kommstb. a  b 

113).

Vgl. Mt 22,37. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Gottesliebe 7, 22 (BCSW I, 111-

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49. Herr und Gott, du allein bist die Ruhe der Seelen, und wir finden keinen Frieden in diesem ganzen Elend, außer durch dich und in dir. Ich habe mich jedenfalls, um in dir Ruhe zu finden, deinem Erbe zugewandt, wo du ruhst, und gesagt: im Erbteil des Herrn werde ich weilen (Sir 24,11). Das habe ich gesagt mit dem Vorsatz des Geistes, der Sehnsucht des Herzens, dem Gelübde der Profess. Gewähre mir nun, dass ich sagen kann: Er, der mich schuf, ruhte in meinem Zelt (Sir 24,12). Mach aus mir dein Zelt und ruhe in mir, damit ich in dir ruhen kann. Darin besteht nämlich deine Ruhe: dass du unsere Ruhe bewirkst. Wirke also in mir, damit ich dich über alles und vor allem liebe, dass ich nichts wünsche außerhalb von dir, nichts als dich oder um deinetwillen! Dann werde ich Frieden und Ruhe haben in meinem Herzen von der bösen Begierde, von der Bosheit meines Herzens, von so vielen, so bösen, so herben Sorgen, die mein Herz verzehren wie Raubvögel mit bitteren Bissen (Dtn 32,24V). 50.  Wie selig würde ich mich preisena – ja, auch im Herzen fühlen – wenn ich, entflammt einzig von der Sehnsucht nach dir – lechzend und seufzend mit dem Propheten sagen könnte: Was habe ich im Himmel außer dir? Neben dich erfreut mich nichts auf Erden (Ps 72,25). Wenn ich das sagen könnte, warum sollte ich dann nicht gleich jubelnd hinzufügen: Verschwindet, verschwindet, ihr meine sinnlosen Sorgen und Bedrängnisse? Sinnlos ist es nämlich, wodurch sich alle Menschen bedrängen lassen! (Ps 38,12). Verschwindet, ihr meine inneren Anspannungen! Macht Platz für Frieden und Ruhe in mir, denn Gott ist der Gott meines Her­ zens und mein Anteil auf ewig! (Ps 72,26). 51. Herr und Gott, du Ruhe der Seelen, wenn du mir Ruhe schenktest von der bösen Begierde, die die Wurzel allen Übels ist, was könnte mir dann fremde Verkehrtheit schaden, da die eigene Ungerechtigkeit nicht Macht über mich gewinnt? Sollte Esau sagen: Ich werde meinen Bruder umbringen (Gen 27,41), sollte er Jakob verfolgen, ihn zwingen, Vater, Mutter und die Heimat zu verlassen, diesen Jordan mit einem Stab zu durchschreiten, nur von Gott Brot zum Essen und Kleider zum Anziehen zu erbita 

Vgl. Lk 1,48.

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14. Predigt zur Aufnahme der heiligen Maria in den Himmel, 49-54

ten und zu erhoffen, und fern von seinem Land so viele Jahre in der Fremde umherzuziehen und zu dienen – was vermag er gegen Jakob? Denn du bist seine starke Zuflucht (Ps 70,7), Gott Jakobs. 52.  Stärke mich, Herr, in der Liebe zu dir und in der Liebe zu meinem Nächsten, den ich nach deinem Gebot deinetwegen lieben soll. Stärke mich, bitte, damit ich deinetwegen auch die lieben kann, die mich hassen, und wenn mir mein Bruder zum Feinde werden sollte, sodass ich ihn sehr fürchten muss, so lass mich ihn dennoch in keiner Weise hassen, sondern den Erzürnten durch Geschenke zu versöhnena suchen und ihm Böses mit Gutem vergelten, sodass ich seinen Zorn besänftigen kann, bei ihm Gnade finde, ihn durch Gaben zur Liebe mir gegenüber gewinne und aus dem Feind einen Freund mache. Nie soll ich vom Bösen besiegt werden, sondern das Böse durch das Gute besiegen. Wenn, Herr, diese so starke Liebe durch dich in mir wächst, wird mich keine menschliche Bosheit in Zukunft mehr beunruhigen. 53.  Doch die Bosheit der Zeit – wann wird diese enden? Wie lange wird sie dauern? Solange wir der Zeit verpflichtet und dieser Wandelbarkeit unterworfen sind, werden wir keinen Frieden von dieser Bosheit finden. Denn nicht einmal die Gerechtigkeit der Heiligen vermochte diese von der Unruhe der Zeit zu befreien, bis durch den Tod alle Hinfälligkeit dieser Sterblichkeit weggenommen wird. Doch in der Kraft deiner Liebe, Herr, ist in denen, die von dir vollkommen gerecht gemacht wurden, Frieden vor der Bosheit der Menschen und vor der Bosheit des Herzens, auch jetzt in der Gegenwart. Gerechtigkeit und Friede küssen sich (Ps 84,11) nämlich. Die Bosheit der Zeit aber lässt noch nicht nach, doch sie lässt sich ertragen für die Gerechten. Was aber darüber hinausgeht, stammt vom Bösenb und ist Anteil der Bösen. 54.  Die Bösen nämlich suchen Vergängliches, Überflüssiges und Schädliches, und dabei erschweren sie ihre Fesselnc. Über die Bosheit des Tages und zum Elend der gemeinsamen Schwäche, der gemeinsamen Bedürftigkeit fügen sie noch das Elend eines bösen Vgl. zu dieser Aufzählung die Geschichte Jakobs in Gen 32 und 33. Vgl. Mt 5,37. c  Vgl. Klgl 3,7. a 

b 

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Willens und überflüssiger und schädlicher Sorge hinzu. Schwer, belastend und elend ist es schon, zum Trost für das gemeinsame Elend das Notwendige zu suchen; doch der Gipfel des Elends ist esa, unter Bedrängnis des Fleisches und des Geistes sich um Unnötiges und Schädliches abzumühen. 55.  Dieses zweite Elend kommt vom Eigenwillen, und es belastet jene, die mehr am Eigenwillen hängen. Jenes erste Elend kommt von der gemeinsamen Bedürftigkeit und ist deshalb Guten und Bösen gemeinsam: es dauert den ganzen Lauf dieser Zeit bis zum Ende, damit wir uns darin in deiner Liebe üben, Herr, und standhaft bleiben bis ans Endeb. 56.  Wenn aber die Bosheit der Zeit mit der Zeit selbst vergangen ist, wird die Beständigkeit der Ewigkeit die Beständigkeit der Liebe krönen. Jene, die in der Zeit bis zu dieser Zeit Mangel leiden, werden dann voll und unwandelbar in dir ruhen und nie mehr Mangel leiden: Du nämlich bleibst, der du bist, und deine Jahre enden nie (Ps 101,28). 57. Bitte, Herrn, höre am Ende diese meine kleine Bitte: sie ist für mich sehr nützlich und für dich gar nicht schwierig. Höre, und weise mein Antlitz nicht ab (3 Kön 2,16). Das ist es, worum ich bitte: Lass meinen Anteil nicht unter denen sein, denen du in deinem Zorn geschworen hast mit den Worten: Sie sollen nicht kommen in das Land meiner Ruhe! (Ps 94,11), sondern lass mich am Tag der Not ruhen und hinaufziehen zu unserem gerüsteten Volk (Hab 3,16V). Sprich am Tag meines Todes zu meiner Seele: Ruhe in Frieden! (Totenliturgie) Amen.

a  b 

Vgl. Koh 4,16. Vgl. Mt 10,22.

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Sermo 15 Traktat XV Das Leben in Gemeinschaft

1. Teil Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei stets mit uns allen! (2 Kor 13,13).

1.  Die Einführung des Lebens in Gemeinschaft wurde von einer nicht kleinen, nicht unbedeutenden, nicht untergeordneten Autorität unterstützt und befürwortet. Mit einem Leben in Gemeinschaft wurde die Urkirche gegründet, vom Leben in Gemeinschaft aus begann die Kindheit der werdenden Kirche. Das Gemeinschaftsleben empfing von den Aposteln selbst das Vorbild für sein Vorhaben, seinen Ehrennamen, seine hervorragende Würde, die Bestätigung seiner Bedeutung, seine mächtige Verteidigung, die Grundlage für seine Hoffnung. 2.  Ja, von den Aposteln, die von Gott als Fürsten über die gan­ ze Erde eingesetzt wurden (Ps 44,17), als Fürsten über die Völker, die sich um den Gott Abrahams geschart haben, die starken Götter der Erde, die hoch erhoben wurden (Ps 46,10), die Freunde Gottes, die hoch in Ehren standen und deren Herrschaft stark gefestigt wurde (Ps 138,17V), die Senatoren des Himmels, die Richter der Welta, an die die Verheißung erging, sie würden auf zwölf Throa 

Vgl. Mt 19,28.

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nen sitzen und die zwölf Stämme Israels richtena; die auserwählten Väter, denen Schwerter in die Hand gegeben wurden, um die Vergeltung zu vollziehen an den Völkern, an den Nationen das Strafgericht, um ihre Könige mit Fesseln zu binden, ihre Fürsten mit eisernen Ketten, um Gericht über sie zu halten, so wie geschrie­ ben steht (Ps 149,6-9). 3.  Diese so großen, so mächtigen, so berühmten Männer nahmen, ausgerüstet mit der Kraft aus der Höheb auf Eingebung des Heiligen Geistes das Gemeinschaftsleben auf sich, bestätigten es durch ihr Beispiel, erprobten es durch ihre Tugenden und überlieferten es uns zur Befolgung. Wir sollten, obgleich auf der Erde lebend, durch das Leben in Gemeinschaft beginnen, den Engeln Gottes gleichgestaltet zu werden, in deren Gesellschaft wir im ewigen Leben aufgenommen werden sollen und denen wir ebenbürtig und ähnlich sein werden. Das Leben in Gemeinschaft ist nach dem Beispiel der Himmelsbewohner eingeführt worden, aus dem Himmel übernommen und vom Leben der heiligen Engel im Himmel bis zu uns verpflanzt worden. 4.  Wenn das für eine Empfehlung des Lebens in Gemeinschaft noch zu wenig ist, dass es von den Aposteln bis zu uns und von den Engeln zu den Aposteln gelangt ist, so gibt es noch etwas, was hinzugefügt werden könnte und was jegliches Lob für dieses Leben noch übertrifft: Direkt aus der Quelle des Lebens selbst ist das Gemeinschaftsleben entsprungen! Ich spreche jetzt von jener Quelle, über die geschrieben steht: Bei dir ist die Quelle des Le­ bens, und in deinem Licht schauen wir das Licht (Ps 35,10). Das Leben in Gemeinschaft ist wie ein Abglanz des ewigen Lichtes, wie ein Ausströmen des ewigen Lebens, wie ein Ausfluss aus der ewigen Quelle, aus der lebendiges Wasser hervorsprudelt, das ewiges Leben schenktc.

Vgl. Mt 19,28. Vgl. Apg 1,8; Lk 1,78. c  Vgl. Joh 4,14. a 

b 

302

15. Das Leben in Gemeinschaft, 2-7

Das gemeinschaftliche Leben des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes 5.  Gott ist das Leben, die heilige und ungeteilte Dreifaltigkeit ist ein Leben. Nicht der Vater ist ein Leben, der Sohn ein anderes und der Heilige Geista noch ein anderes, sondern alle drei sind ein Leben. Und wie sie gemeinsam eine einzige Wesenheit haben und eine einzige gemeinsame Natur, so haben sie auch nur ein einziges gemeinsames Leben. Keineswegs ist Gott nämlich ein Einsamer oder Einsiedler, da Gott zugleich dreifaltig und einer ist. Das Leben Gottes kann unmöglich kein gemeinsames Leben sein, weil es ein Leben für drei Personen ist, ein einziges und unteilbares Leben. 6.  Vielleicht kann es jemandem bei Wahrung der Rechtgläubigkeit scheinen, dass die Wesenheit oder die Macht Gottes einzig sind, oder dass seine Weisheit einzig ist, weil er unvergleichlich erhaben ist und unübertrefflich. Und wenn jede dieser Eigenschaften auch etwas Gemeinsames ist, so ist sie doch gleichsam in einzigartiger Weise gemeinsam und wird daher möglicherweise als etwas Einziges betrachtet. Um nicht durch die Doppeldeutigkeit des Wortes Sicheres zweifelhaft zu machen, steht unzweifelhaft fest, dass das Leben Gottes nicht in solcher Weise einzig ist, dass es nicht zugleich ein gemeinsames ist. Denn es steht geschrieben: Wie der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn ge­ geben, das Leben in sich zu haben (Joh 5,26). Es entsprach Gott nicht, ein Einsamer zu sein, es passte nicht zu seiner Würde, keinen Gefährten seiner Herrlichkeit und seines seligen Lebens zu haben. 7.  Entsprechend dem Glauben der heiligen Väter lautet das wahre Glaubensbekenntnis, die wahre Aussage, das wahre Zeugnis, dass Gott dreifaltig und einer ist, kein Einsamer. Als Unterstützung für diesen Glauben erhebt sich sogar irgendwie unsere Vernunft. Gott, der in unzugänglichem Licht wohntb, strahlt nämlich, um nicht ganz unbekannt und deshalb durch die UnVgl. das Glaubensbekenntnis „Quicumque“, das in den Zisterzienserklöstern an vielen Tagen zur Prim gebetet wurde. b  Vgl. 1 Tim 6,16. a 

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kenntnis auch ungeliebt zu bleiben, durch einen Strahl von seinem Licht, auch wenn dieser schwach ist, in unseren Herzen auf. Auf diese Weise offenbart er sich uns mehr und tut uns sein Wesen kund, so, wie es uns besser möglich ist, sein Wesen zu erkennen, das wir nach dem beschränkten Maß der uns gewährten Erkenntnis mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft lieben müssena. 8.  Gott aber ist die Liebe (1 Joh 4,16), und seine Liebe ist – wie der Apostel sagt – in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist (Röm 5,5). Die Liebe aber, die durch die Gnade in uns ist, macht uns in gewisser Weise vorstellbar, wie jene unfassliche Liebe ist, die Gott ist, dessen Natur Liebe oder Güte ist. Die Natur der Liebe besteht darin, wie uns in unserem innersten Empfinden dieser Liebe im Herzen eingegeben wird, zu lieben und geliebt werden zu wollen. 9.  Wie das Feuer nämlich unmöglich nicht brennen kann, so kann auch die Liebe unmöglich nicht lieben. Die Liebe ist nämlich ein Feuer, und lieben heißt soviel wie brennen. Und wie das Feuer sich nicht in sich selbst verschließt, sondern offenbar dazu getrieben wird, immer etwas Entzündliches zu erfassen, um nicht nur in sich selbst zu leben, sondern seine Glut dem mitzuteilen, was erfasst oder entflammt wurde, so trachtet auch die Liebe mit spürbarem Verlangen danach, überzuströmen, das Gute, das sie besitzt, dem anderen, der mit ganzer Liebe umfangen wird, zu übermitteln, der Gemeinschaft zuzuwenden und dem gemeinsamen Gebrauch ihres Besitzes zuzuführen. Nach Ansicht der Liebe leuchtet nämlich alles Gute heller auf, wenn es der Gemeinschaft in dem Maß mitgeteilt wird, wie es angemessen ist. 10.  Bei den Gütern aber, die für den Liebenden und den, der aus ganzem Herzen geliebt wird, ausreichen können, liebt die Liebe die Gemeinsamkeit und möchte sie lieber mit dem Geliebten gemeinsam besitzen, als allein zu besitzen, was für beide ausreichen könnte. 11.  Bei jenen Gütern aber, die nicht für beide ausreichen, zieht es die selbstlose Liebe oft vor, sie selbst zu entbehren, damit sie der a 

Vgl. Mk 12,30.

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 7-13

Freund nicht entbehren muss, der – wie sie weiß – ihre wohltätige Hilfe braucht. Beim Erweis der Wohltaten ist die selbstlose Liebe immer darauf aus, dass der Geliebte lieben möge, damit er nicht allein geliebt wird. 12.  Sie liebt es nämlich immer, wie vorhin gesagt worden ist, geliebt zu werden, und dem Liebenden genügt nicht bloß die Liebe zur Gemeinschaft, wenn nicht auch die Gemeinschaft in der Liebe da ist. Denn wenn sie schon möchte, dass ihre Güter allen gemeinsam seien, dann gilt das noch viel mehr für die Liebe selbst. Die Liebe kann nicht nicht gütiga sein, sie hasst es, einsam zu sein. Im großzügigen Verströmen strebt sie gleichsam aus Liebe zur Gemeinschaft danach, zur Gemeinschaft in der Liebe hinzuführen. Denn was ist das für eine gütige Liebe, die ihre Güter nur für sich selbst zurückbehalten wollte, ohne sie mitzuteilen? Oder was ist das für ein Trost für einen Liebenden, wenn er allein nicht geliebt würde und allein liebte? Es steht geschrieben: Wehe dem, der al­ lein ist! (Koh 4,10). Eine einsame Liebe ist sich selbst zur Qual und hasst sich gewissermaßen selbst, da sie unter keinen Umständen einsam sein möchte, um nicht ohne Gegenseitigkeit bleiben zu müssen. Und wie sie es nicht fertig bringt, auf ihre Güte und ihre Natur zu verzichten, so kann sie auch unmöglich die Gemeinschaft in dem, was gut ist, und die Gemeinschaft in dem, was ihr eigen ist, nicht lieben. 13.  Der selbstlosen Liebe, die in uns ist, sind zwei Dinge zu eigen, eben dadurch, dass sie untrennbar mit der Sehnsucht eben dieser Liebe verbunden sind: Die Liebe zur Gemeinschaft und die Gemeinschaft in der Liebe. Wenn aber eines von beiden fehlt, ist die Liebe noch nicht selig, die in der Gemeinschaft in dem, was gut ist, und in der Gemeinschaft in dem, was ihr eigen ist, nichts anderes sucht als die Seligkeit. Wenn es jedoch ein gemeinsames Gut, jedoch keine gemeinsame Liebe gibt, fehlt der selbstlosen Liebe etwas, nach dessen Dasein sie verlangt. Sollte es eine gemeinsame Liebe, jedoch kein gemeinsames Gut geben, so fehlt der selbstlosen Liebe ebenso etwas, was sie nicht missen möchte. So soll das in dieser selbstlosen Liebe sein, die die unsere ist, und a 

Vgl. 1 Kor 13,4.

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sowohl in uns als auch unter uns ist. Durch diese selbstlose Liebe sind wir noch nicht vollkommen selig, jedoch werden wir in der Zukunft die Seligkeit empfangen in der gemeinsamen Teilhabe am höchsten Gut, das alle Sehnsucht stillen kann, und in der Gemeinschaft gegenseitiger Liebe, durch die es nichts gibt, was wir nicht gemeinsam haben. 14.  Sieh doch, mein Herz, und denk darüber nach, denn die Erfahrung der dir bekannten selbstlosen Liebe beweist dir eben das vom Wesen Gottes, was Gott selbst durch die Gnade des Glaubens über sich offenbart. O mein Herz, wärest du nicht durch die Sünde verdunkelt, so könntest du Gott in deiner eigenen Natur wie in seinem Abbild so vertraut erkennen! Nun aber bist du fast blind, sodass du weder in dir noch durch dich selbst Gott oder dich selbst klar sehen kannst. Wie sollte ich denn nicht blind sein? Ich bekenne meinerseits, soviel an mir liegt, dass ich blind bin, sodass folgendes Wort wahrhaftig meine Stimme sein könnte: Mich hat die Kraft verlassen, geschwunden ist mir das Licht der Augen, es ist nicht mehr in mir! (Ps 37,11V). 15.  Da ich es nun einmal unternommen habe, mit dir, mein Herz, zu reden, will ich nun fortfahren!a Ich glaube, du sehnst dich danach, Gott zu schauen und in Gott einzugehen, und brauchst einen Führer, weil du blind bist. Wenn du der Führung des Glaubens folgst, wirst du nicht irre gehen, sondern du kannst schon jetzt eben im Licht des Glaubens Gott schauen. 16.  Doch wird Gott etwa nur im Glauben geschaut? Nicht vielleicht auch in der selbstlosen Liebe? Ja, auch in der selbstlosen Liebe und mehr noch in der selbstlosen Liebe. Die selbstlose Liebe ist nämlich selbst das lichtvolle Gebot, das die Augen erleuchtet (Ps 18,9). In uns gibt es ja nichts, was der Liebe, die Gott istb, ähnlicher wäre als die selbstlose Liebe selbst, die von Gott her in uns ist. Durch sie wird das Bild Gottes in uns wiederhergestelltc; durch sie wird Gott in uns geschaut und erfahren, und zwar viel umfassender, als er nur durch den Glauben erkannt wird. Vgl. Gen 18,27 und 18,31. Vgl. 1 Joh 4,16. c  Vgl. Aelred von Rievaulx, De speculo caritatis I, v, 14-16 (CCCM 1, 18a 

b 

19).

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 13-19

17.  Wenn also der unsichtbare Gott an den Werken der Schöp­ fung mit der Vernunft von uns wahrgenommen wird (vgl. Röm 1,20), wenn wir das Wesen Gottes durch seine Gnade erahnen können, wenn es uns geschenkt wird, durch die Gabe den Schöpfer der Gabe erkennen zu dürfen, so entspricht ohne Zweifel die Liebe zur Gemeinschaft und die Gemeinschaft in der Liebe dem Wesen Gottes. Denn er, dessen Wesen Liebe ista und Güte ist, er liebt von Natur aus und möchte geliebt werden. In dem Maß, in dem er liebt, möchte er auch geliebt werden! Und er erträgt es nicht, wenn der, von dem er geliebt werden möchte, nicht auch vollen Anteil an seiner Seligkeit hat, da er es ja so sehr verdient, geliebt zu werden. Die Gemeinschaft in der Liebe soll nicht geringer sein als die Liebe zur Gemeinschaft. 18.  So groß ist aber die Liebe des Vaters, dass er das Leben, das er in sich hat, auch dem Sohn mitteilt, sodass dieser es in sich hatb. Auf diese Weise ist es ein einziges Leben, das der dem Vater wesensgleiche Sohn mit diesem ist. Er hat teil an der Herrlichkeit des Vaters in der ganzen Fülle ewiger Ehre und ungeteilter Macht. 19.  Selig kann eben die selbstlose Liebe nicht sein, wenn niemand an ihr teilhat, daher gibt es sie auch niemals ohne Gemeinschaft. Die selige Liebe ist jedoch seliges Leben, und seliges Leben ist Seligkeit. Die Seligkeit aber ist das höchste Gut. Das höchste Gut aber ist von Natur aus ein gemeinsames. Jedes Gut ist nämlich – eben dadurch, dass es ein Gut ist – auch des Lobes würdig. Wenn es jedoch sowohl etwas Gutes als auch etwas Gemeinsames ist, besitzt es größere Ehre, weil es gut und dazu noch gemeinschaftlich ist. Der Höhepunkt des Guten besteht ja in der gemeinsamen Teilhabe am Guten. Daher kann das höchste Gut nicht um das Lob gebracht werden, gemeinschaftlich zu sein, damit es nicht aufhört, das höchste Gut zu sein, wenn ihm die so große Kraft des Lobes und das Lob seiner Kraft fehlen sollte. Das höchste Gut ist aber zugleich das volle und vollkommene Gut. Ihm kann unmöglich etwas fehlen, was an einem Gut gelobt zu werden verdient. Daher ist es von Natur aus ein gemeinsames und durch die Gnade a  b 

Vgl. 1 Joh 4,16. Vgl. Joh 5,26.

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etwas, das allen gemeinschaftlich zuteil werden soll als Quelle und Ursprung aller Güter. 20.  Das aber ist das ewige Leben, das selige Leben, das gemeinsame Leben: die unendliche und unbegreifliche Liebe, die Gott Vater und sein eingeborener Sohn gemeinsam besitzen. Wie nämlich der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn ge­ geben, das Leben in sich zu haben (Joh 5,26). In sich hat der Sohn das Leben, das auch der Vater hat, denn er und der Vater sind ein einziges Leben. Doch hat der Sohn das Leben, das er in sich hat, weil es Leben ist, nicht aus sich, sondern vom Vater. Alles, was nämlich der Sohn in unseren Aussagen seinem Wesen nach ist oder hat, das ist er in Gemeinschaft mit dem Vater, und er besitzt es in Gemeinschaft mit dem Vater, das heißt, er hat es vom Vater. Er hat es vom Vater, dass er der lebendige Gott, dass er selig, allmächtig und weise ist, dass er selbst das Leben, die Seligkeit, die Kraft und die Weisheit ist. Vom Vater hat er es auch, dass er der Sohn ist, und er hat alles, was er vom Vater empfangen hat, ohne Anfang, da er durch Geburt empfing, was der Vater ihm durch Zeugung gab. Er ist ja gleich ewig wie der Vater, gleichen Wesens, gleicher Größe und ihm in allem gleich: Gott von Gott, Licht vom Lichta, das Abbild seiner Herrlichkeit und der Abglanz seines Wesens (Hebr 1,3), das Ebenbild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15). 21.  Der Vater aber, der es dem Sohn gegeben hat, das Leben in sich zu haben, so wie er selbst das Leben in sich hatb, liebt den Sohn wie sich selbstc, und der Sohn den Vater wie sich selbst. Ihre Liebe ist der Heilige Geist, er ist das Band der Einheit und die Gemeinschaft zwischen ihnend. Die Liebe zu ihnen ist so unteilbar, dass jeder, der den Vater liebt, auch den Sohn liebte; Wer aber vom Sohn nicht geliebt wird, wird auch vom Vater nicht geliebtf. Ihre Liebe ist eine einzige, ihre Ehre unteilbar; ihre Kraft ist eine einVgl. das Nicäno-konstantinopolitanische Credo. Vgl. Joh 5,2. c  Vgl. Joh 3,35; 5,20; 10,17 und 15,9. d  Vgl. Augustinus, De Trinitate V, xi, 12 (CCSL 50, 219-220); XV, xix, 37 (CCSL 50A, 513-514) u.a. e  Vgl. 1 Joh 5,1. f  Vgl. Joh 14,21. a 

b 

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 19-23

zige, und ihr Wirken unteilbara. So tief ist die Gemeinschaft, dass der Sohn zum Vater sprechen kann: Was dein ist, ist mein; und was mein ist, ist dein (vgl. Joh 17,10). Johannes der Täufer sagt: Der Vater liebt den Sohn und hat alles in seine Hand gegeben (Joh 3,35). Der Herr selbst aber sprach es ein zweites Mal aus mit den Worten: Der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er tut (Joh 5,20).

Die Gemeinschaft der Engelb 22.  Für dieses gemeinsame Leben, das in Gott ist und das Gott selber ist, bildet das gemeinsame Leben der Engel ein gewisses Abbild. Dieses baut der Heilige Geist in tiefstem Frieden auf als Liebe, Verbundenheit und Gemeinschaft. Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes (Ps 32,6). Der Himmel – das sind die Engel: Sie leben in seiner Liebe in Eintracht und Seligkeit. 23.  Es liebt nämlich jeder Einzelne alle anderen, und alle lieben jeden Einzelnenc. Alle wollen dasselbe und lehnen dasselbe ab; was dem einen gefällt, missfällt keinem; was einer will, lehnt keiner ab. Eine einzige Meinung haben sie alle, einen einzigen Willen. Alle empfinden dasselbe, und alle haben denselben Geschmack. Wo sich der Stolz nicht aufblähtd, dort nagt nicht der Neid, der Zorn erhitzt nicht das Gemüt, dort streitet auch keine Zwietracht, dort murrt keine Ungeduld, dort schmäht keine lügnerische Zungee. Alles ist dort friedlich, alles harmonisch, alles ruhig; nichts ist ungeordnet, nichts ungezügelt, nichts streitet gegen Ordnung oder Gehorsam; nichts wird im Geheimen zur Seite gelegt als Anlass für Sonderbesitz; nein, alles liegt offen, alVgl. Augustinus, De Trinitate II, v, 9 (CCSL 50, 92) u.a. Vgl. zu diesem Abschnitt Aelred von Rievaulx, Sermo XXVI, 40-45 (CCCM 2A, 219-220). c  Vgl. G. Sallustius Crispus, De coniuratione Catilinae 20, 4; Aelred von Rievaulx, De spiritali amicitia I, 48 (CCCM 1, 297) und Balduin von Ford, Sermo 2, 33. d  Vgl. Augustinus, De moribus ecclesiae catholicae I, xxxi, 67(CSEL 90, 7073) und Balduin von Ford, Sermo 2, 30. e  Vgl. Ps 51,6; 108,2f und 119,2f. a 

b 

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les ist durchsichtig; und was den Einzelnen gehört, gehört durch die Gemeinschaft der Liebe und die Liebe zur Gemeinschaft allen gemeinsam. 24. Alle lobpreisen in einem Tempel gemeinsam Gott, alle lesen miteinander im Buch des Lebens, pflegen die Meditation und Beschauung; an einem Tisch werden alle gemeinsam gestärkt. An einem Ort äußerer Ruhe erholen sie sich gemeinsam, nichts wird von jemandem eigenbrötlerisch getan, was den gemeinsamen Frieden, den Gehorsam oder die Ordnung entweder stören oder verletzen könnte. 25.  Von dieser Art ist jene unendlich glückliche und selige Gemeinschaft der Himmelsbürger, die ein gemeinsames Leben führen; ihre Lebensform müssen wir, die wir noch auf Erden sind, durch ein ähnliches Leben in Gemeinschaft stets abbilden, damit wir verdienen, mit ihnen um so inniger verbunden zu werden, je mehr es uns von oben gegeben wurde, ihr Leben treu nachzuahmen, durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistesa. Amen.

2. Teil Die dreifache Gemeinschaft der Natur, der Gnade und der Verherrlichung. Zunächst aber die Gemeinschaft der Natur, zu der die Gemeinschaft der Schuld hinzukommt 26.  Die Gemeinschaft schafft das Gemeinschaftsleben. Es gibt aber eine Gemeinschaft der Natur, eine Gemeinschaft der Gnade und eine Gemeinschaft der Verherrlichungb. 27.  Durch die Gemeinschaft der einen Natur ist das ganze Menschengeschlecht verbunden, das von einem Stammvater zusammen mit dem Schlinggewächs der Sünde abstammt und in der Gesamtzahl der Menschen weit und breit verstreut ist. Zu dieVgl. 2 Kor 13,13. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Gnade und den freien Willen 3, 7 (BCSW I, 185). a 

b 

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 23-28

ser Gemeinschaft der Natur kommt eine gewisse Gemeinschaft der Schuld und des Zornesa dazu. Die Natur ist nämlich in ihrer Wurzel verdorben und wird eben in dieser Verderbnis zusammen mit der Ursünde und dem ursprünglichen Zorn weitergegeben. Von Natur aus sind wir nämlich Kinder des Zorns (Eph 2,3). Alle sind wir nämlich bei unserer Geburt böse und elend. Der Makel der Sünde hat die menschliche Natur so angesteckt, dass sie weder durch Lauge, noch durch Seifenkraut, noch durch irgendeine Säuberung oder Reinigung getilgt werden könnte außer durch das Blut unseren Herrn Jesus Christus, auf dessen Tod wir getauft wurdenb. Sooft wir nämlich getauft werden, werden wir auf seinen Tod getauft (Röm 6,4). 28.  Der Zorn des Unwillens Gottes geht aus der verborgenen Gerechtigkeit wie ein Pfeil aus dem Köcher hervor. Er haftet tief in der menschlichen Natur und ist bis in das Innerste ihres Inneren gelangt. Er steckt so fest, dass er durch keine Gewaltanwendung außer durch die unendlich starke Hand des allmächtigen Gottes herausgezogen werden könnte. Über diesen Pfeil wird vom Propheten folgendes ausgesagt: Das Geschoss seines Köchers ließ er mir in die Nieren dringen (Klg 3,13). Im Eifern für seine Gerechtigkeit empfand Gott Unwillen gegen die Sünde, und er goss seinen Zorn ausc. Dieser Zorn haftet an uns, wir sind von Natur aus seine Kinderd. Das ist das Geschoss aus dem Köcher, aus der geheimen Gerechtigkeit Gottes wie aus einem Köcher entsprungen. Dort ist sein Ursprung, und von da her haftet er in uns, er haftet uns an und ist mit uns verhaftet als Geschoss des Köchers, doch wie ein Zwillingsbruder unserer Natur. Der Prophet sagt, er

Im Hintergrund steht hier die Lehre des Apostels Paulus in Röm 2-5. Die Sünde des Menschen fordert den Zorn Gottes heraus, so stehen durch die Erbsünde alle Menschen von Geburt an unter dem Zorne Gottes. Zorn ist hier positiv zu sehen – nicht als eine Kraft, die zerstört, sondern als eine Kraft, die Gott dazu drängt, alle seine Möglichkeiten aufzubieten, um diesen Unheilszustand zu beenden: Wo aber die Sünde groß wurde, dort ist die Gnade übergroß geworden (Röm 5,20). b  Vgl. Röm 6,4. c  Vgl. Ps 68,25. d  Vgl. Eph 2,3. a 

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sei ihm bis in die Nieren gedrungena. Ja, tatsächlich in die Nieren: dort ist nämlich der Sitz der Begierde, von der die Krankheit der Natur ausgeht. 29b.  Diese Gemeinschaft der verdorbenen Natur, durch die wir alle an ein und derselben Natur Anteil haben, der Sünde verfallen sind und unausweichlich sterben müssen, stellt uns vor eine dreifache Notwendigkeit: wir brauchen Liebe, Demut und Hingabe an Gott. Du sollst den Herrn … und deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (vgl. Mt 22,37-39) Wenn die menschliche Neugier die Gebote Gottes begründen muss, – zwar sollte die Begründung, dass Gott es so geboten hat, dessen Gebote alle zuverlässig sind, geschaffen in Treue und Redlichkeitc, genügen, um alles neugierige Fragen verstummen zu lassen – so fehlt dem, der es wissen möchte, warum Gott die genaue Befolgung dieses Gebotesd will, nicht die Antwort des Glaubens. Das gläubige Wissen hat erkannt, dass Gott den liebt, der ihm wesensgleich ist und an seiner Natur Anteil hat. Durch dieses Beispiel kann er dem Menschen antworten: Handle genauso! (Lk 10,37).

Die Liebe 30.  Liebe auch du den, der an deiner Natur Anteil hat und in Zukunft die Herrlichkeit, die dir verheißen ist, zusammen mit dir erlangen soll. Liebe deine Natur, liebe, was du von Natur her biste. Sonst liebst du dich selber nicht, wenn du im anderen die Natur nicht liebst, die auch in dir ist. 31.  Die zu lieben, die mit uns die Natur gemeinsam haben, werden wir daher durch das Beispiel Gottes selbst veranlasst, durch die Autorität des Befehlenden gedrängt und durch die Gemeinschaft der Natur verpflichtet. Im Bewusstsein unserer Vgl. Klg 3,13. Zu den Abschnitten 29-32 vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Got­ tesliebe 8, 24-25 (BCSW I, 115-117). c  Vgl. Ps 110,8. d  Vgl. Ps 118,4. e  Wörtlich: als was du geboren bist. Im Lateinischen sind „Natur“ – „natura“ und „geboren“ – „natus“ wortverwandt. a 

b 

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 28-35

gemeinsamen Schwäche müssen wir uns voreinander demütigen und miteinander Erbarmen haben, damit nicht stolzes Rühmen jene trennt, die die gemeinsame natürliche Schwäche gleichstellt. Derjenige hat noch nicht verstanden, sich selbst zu lieben, der die gemeinsame Natur in einem anderen zu verachten wagt. Derjenige wird seiner Lage nicht gerecht, der seinen Anspruch im Abbild Gottes nicht erkennt. Und derjenige verletzt das Recht der menschlichen Gesellschaft, der die Gemeinschaft der Natur in seinem Nächsten nicht ehrt. Derjenige verschließt sich den Zugang zur Barmherzigkeit, der gar kein barmherziges Mitgefühl für die Bedürftigkeit des Bruders aufbringt. 32.  Das sei zur Gemeinschaft der Natur gesagt.

Die Gemeinschaft der Gnade 33.  Es gibt auch eine Gemeinschaft der Gnade, die alle, die sich zu Christus bekennen, Gute und Bösea, durch das eine Glaubensbekenntnis und die Teilhabe an den Sakramenten gemeinsam umfasst. 34.  Das ist der Acker, auf dem Unkraut und Weizen wachsenb. Das ist die Tenne, auf der Körner und Spreu vermischt sind. Das ist das Netz, in dem sich gute Fische finden, die in Gefäße gelegt werden sollen, und schlechte, die man wegwerfen mussc. Das ist die Arche Noachs, in der sich reine und unreine Tiere finden, Rabe und Taubed. 35.  Glauben haben nämlich auch die, die keine Werke haben, die dem Glauben entsprechene; und an den Sakramenten der Kirche nehmen auch die teil, die die Kraft der Sakramente durch einen unwürdigen Lebenswandel in sich schwächen. Daher sind jene, die im Bekenntnis des Glaubens an den Sakramenten teilhaben, voneinander wie die Guten von den Bösen geschieden.

Vgl. Mt 22,10. Vgl. Mt 13,24-30. c  Vgl. Mt 13,47-50. d  Vgl. Gen 6-8. e  Vgl. Jak 2,14-26. a 

b 

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Zu diesen können nämlich die Schismatikera gezählt werden, die das Joch des Gehorsams gegenüber den kirchlichen Geboten verschmähen, ebenso die falschen Brüder, die die Demut des christlichen Glaubens mehr heucheln als haben. 36.  Unter allen Gerechten jedoch, die an den Sakramenten der Kirche durch den Glauben und einen Gehorsam, der diesem Glauben entspricht, teilhaben, besteht eine ganz einzigartige und besondere Gemeinschaft, an der kein anderer teilhat. Doch hat jeder, der sich in dieser Gemeinschaft befindet, keine Gemeinschaft mit Fremden, sodass er mit dem Propheten sagen kann: Ich werde mit ihren Erwählten keine Gemeinschaft haben (Ps 140,4 V). 37.  Diese Gemeinschaft unter den Gerechten ist aber die Einheit der Kirche, die in allen Gliedern Christi die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens bewahrtb. Das ist das nahtlose Gewand Christi, das nicht zertrennt wurde und über das Christus sagt: Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und um mein Gewand das Los geworfen (Ps 21,19; vgl. Joh 19,24). 38.  Unter denen, die den einen Glauben bekennen und an den Sakramenten teilhaben, sind nämlich, wie gesagt, die einen von den anderen getrennt, als würden sie die Kleider Christi aufteilen. Die Sakramente der Kirche empfangen nämlich die einen würdig, die anderen unwürdig; der Glaube der einen ist ohne Wer­ ke tot (Jak 2,17 und 26), der Gerechte dagegen lebt aus dem Glau­ ben (Hab 2,4; Röm 1,17; Gal 3,11; Hebr 10,38). 39.  Über das Gewand aber, das nicht zerteilt wurde, wird das Los geworfenc. Wer sich nämlich der Gemeinschaft der Kirche in der Liebe Christi und im Gehorsam anschließt, dem fällt jenes Los zu, über das geschrieben steht: Der Herr wird das Zepter des Frevlers nicht auf dem Los der Gerechten lasten lassen (Ps 124,3V). a  Gemeint sind hier die orthodoxen Christen, deren Trennung von Rom Ende des 12. Jahrhunderts erst gut hundert Jahre zurücklag. Aus der Ausdrucksweise Balduins erkennt man, dass er die Abspaltung der Ostkirche nicht als ein Abirren vom rechten Glauben, sondern vor allem als eine Trennung von der Einheit der Kirche ansah. Vgl. dazu Bernhard von Clairvaux, Über die Besinnung 3, 1, 4 (BCSW I, 707ff). b  Vgl. Eph 4,3. c  Vgl. Joh 19,24.

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 35-42

Wo die Gerechten aber auch sein mögen, ob sie allein oder ob sie in Gemeinschaft leben, so lassen sie doch durch die Einheit des Friedens in der Kirche durch die Gemeinschaft des Gehorsams und der Liebe keine Spaltung eindringen, denn sie sind gleichsam Glieder eines Leibes. Die Vögel – die Turteltaube und die Haustaube – blieben nämlich ungeteilt, als Abraham auf Befehl Gottes ein Rind, eine Ziege und einen Widder nahm und zerteilte, wobei er je eine Hälfte der anderen gegenüber legtea. 40. Auf diese Gemeinschaft unter den Gerechten spielt der Apostel an mit den Worten: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe (Eph 4,5). Dem einen Herrn schuldet man Gehorsam, wie Christus deutlich zeigt, wenn er sagt: Niemand kann zwei Herren dienen (Mt 6,24). Der Gehorsam aber ist der ganz persönliche Begleiter der Liebe, wie er ebenso mit den Worten bezeugt: Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten (Joh 14,23). Und: Wer mich nicht liebt, hält an meinen Worten nicht fest (Joh 14,24). Der Gehorsam gegenüber dem einen Herrn, der eine Glaube und die eine Taufeb schaffen die eine Gemeinschaft unter den Gerechten. Wer in dieser Gemeinschaft bis zum Ende ausharrt, dessen Erbteil wird unter den Gerechten sein, und er wird nicht aus dem Volk Gottes ausgetilgt werden. 41.  Freilich gibt es viele in dieser Gemeinschaft, die nachlässiger und unentschiedener, jedoch nicht verkehrt leben. Sie bauen nämlich auf dem Grund, der Christus ist, nicht mit Gold, Silber oder kostbaren Steinen auf, sondern mit Holz, Heu oder Strohc. Sie werden dank des Fundamentes gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch (1 Kor 3,15). 42.  Diese Gemeinschaft der Gnade, über die wir nun gesprochen haben, ist zwar notwendig, um jenes Leben einzuführen, das man gewöhnlich als Gemeinschaftsleben bezeichnet, sie allein kann aber für die Verwirklichung des Ordensideals in keiner Weise ausreichen.

Vgl. Gen 15,9f. Vgl. Eph 4,5. c  Vgl. 1 Kor 3,12. a 

b 

315

SERMONES

Die Gemeinschaft der Gnade führt zum Gemeinschaftsleben 239

43.  Es gibt darüber hinaus noch eine Gemeinschaft von Menschen, die gemeinsam leben. Über sie steht geschrieben: Die Ge­ meinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam (Apg 4,32). Dieses Gemeinschaftsleben ist daher die Frucht des einen Herzens, der einen Seele und der Gemeinschaft in allen Gütern. Es stellt auf Erden das Leben der Engel dar, soweit es die menschliche Schwäche gestattet. 44.  Sie haben nämlich ein Herz und eine Seele und alles gemeinsam; in allem sind sie einmütig und einträchtig; sie stellen den gemeinsamen Nutzen und das Gemeinwohl stets über den eigenen Vorteil und verzichten so weit auf sich und das Ihre, dass jeder, der bei ihnen ist, – wenn er nur von ihrer Art ist – weder in seinen Urteilen noch in seinen Plänen die eigene Meinung hartnäckig zu verteidigena, noch bei den Wünschen seines Herzens dem Eigenwillen allzu ungestüm zu folgen, noch das Geringste als Eigentum zu besitzenb wagt. Nein, als Diener Gottes beugen sie sich aus Liebe zu Gott sosehr unter die Hand eines anderen, der mit ihnen im gleichen Dienste steht, dass je nach dem Entscheid eines Einzelnenc, dem alle Vollmacht verliehen und übertragen ist, der Entschluss aller ausfällt, der Wille ausgerichtet und die Verpflichtung aufgeteilt wird. Er allein kann wollen, denn er kann auch nicht wollen, während die übrigen auf ihre Freiheit und Macht verzichten, sodass es ihnen nicht erlaubt ist zu wollen, was sie wollen, noch zu können, was sie können, noch zu meinen, was sie meinen, noch zu sein, was sie sind, noch nach ihrem Geist zu leben, sondern nach dem Geist Gottes, durch den sie angetrieben werden. So sind sie Kinder Gottesd, der ihre Liebe, das Band der Einheit und ihre Gemeinschaft ist. Und je tiefer die Liebe ist, desto enger ist das Band, desto vollkommener die Gemeinschaft. Vgl. Regel des heiligen Benedikt 3, 4 (SC 181, 452). Vgl. Regel des heiligen Benedikt 33, 3 (SC 182, 562). c  Vgl. Regel des heiligen Benedikt 5, 11f. (SC 181, 466f.). d  Vgl. 1 Joh 3,1. a 

b 

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 43-46

Umgekehrt gilt: Je tiefer die Gemeinschaft ist, desto enger ist das Band und desto vollkommener ist die Liebe. 45.  Ich spreche aber jetzt von jener Liebe, mit der Gott vor allem und über alles geliebt werden muss. Diese Liebe durchwirkt nämlich jedes gute Leben, ob es nun allein oder in Gemeinschaft geführt wird, damit es gut sein kann. Man darf nämlich ein Leben nicht für gut halten, ja nicht einmal als Leben, sondern als Abbild des Todes bezeichnen, wenn es die Liebe Gottes nicht gut macht. Die Menschen lieben sich nämlich selbsta, frönen ihren Gelüsten und sind lebendig totb, wie der Apostel über eine Witwe sagt, die ein ausschweifendes Leben führt: Eine Witwe, die ein ausschweifendes Leben führt, ist schon bei Lebzeiten tot (1 Tim 5,6). Derjenige aber lebt wahrhaftig, der dem Willen Gottes zustimmt: Denn Leben ist in seinem Willen beschlossen (Ps 29,6). Derjenige liebt Gott wirklich, der seinem Willen zustimmt. Gott möchte nämlich so geliebt werden, dass man seinem Willen zustimmt, wie auch wir so geliebt werden wollen, dass man uns mit einträchtigem Willen zustimmt; und wer mehr mit uns übereinstimmt, wird mehr als Freund angesehen. Die Liebe liebt mit Gewissheit stets die Übereinstimmung, weil sie die Gemeinschaft liebt, zu der auch die Übereinstimmung gehört. Denn wer einem anderen zustimmt, hat dieselbe Meinung wie dieser. 46.  Da jedoch der Mensch sowohl guten als auch bösen Willen haben kann, kann der Mensch natürlich auch auf gute und böse Weise geliebt werden. Es ist jedoch besser, auf gute Weise gehasstc zu werden, als auf böse Weise geliebt zu werden, wie es Vgl. 2 Tim 3,2. Vgl. 1 Tim 5,6. c  Die Kirchenväter und auch die Zisterzienserväter verwenden das Wort „hassen“ im selben Sinn wie die Heilige Schrift. Hass muss in der Bibel nichts Zerstörerisches sein, es bedeutet nicht unbedingt totale Ablehnung, sondern meint einfach eine entschiedene Abgrenzung mit der Bereitschaft zum Loslassen. So ist ja auch die Forderung Jesu zu verstehen: Wer sein Leben in dieser Welt hasst (Einheitsübersetzung: gering achtet), wird es bewahren bis ins ewige Leben (Joh 12,25). Im modernen Deutsch müsste man diese Stelle somit am ehesten mit Abgrenzung, Abstand übersetzen. Vgl. zu dieser Stelle auch Augustinus, In Iohannis euan­ gelium tractatus LI, 10 (CCSL 36, 443) und Aelred von Rievaulx, De speculo caritatis III, xxvi, 60-64 (CCCM 1, 133-136). a 

b 

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auch besser ist, auf gute Weise zu hassen als auf böse Weise zu lieben. Gut zu lieben und gut zu hassen, beides ist gut, und beides sind wir den Nächsten schuldig. Daher wird uns auch geboten, die Feinde zu lieben und die Freunde zu hassen. So, ja so musste das Gebot lauten, und es war notwendig, genau das zu befehlen, um zu verhindern, dass unser Wille allzu geneigt wäre, die Feinde zu hassen und zu sehr an den Freunden zu hängen und dadurch in beiden Fällen in der gefühlsmäßigen Bindung das Maß zu überschreiten, sich in Verbotenes zu stürzen und sich ins Maßlose zu erstrecken. Die Anhänglichkeit an die Freunde muss nämlich durch Hass gemäßigt werden, damit der Frevler nicht für die Ge­ lüste seines Herzens gelobt wird (Ps 9B,3), obwohl er Freund ist. Keiner liebt nämlich den Nächsten in guter Weise, wenn er nicht auch gut hasst. 47.  Bei der Liebe zu Gott jedoch gilt eine ganz andere Regel. Wie er nämlich mit ganzem Herzen, ganzer Seele und dem ganzen Denken geliebt werden mussa, so muss er ganz geliebt werden. Er ist nämlich ganz und gar unserer Liebe und ganz und gar unserer Sehnsucht würdig. Nichts kann in ihm gefunden werden, was Hass verdient und der Liebe unwürdig wäre. 48.  Du guter Gott, du Gütiger, du Liebenswürdiger, du Ziel der Liebe, du Ziel der Sehnsucht, du, der du Liebe bist, Gott, du Gott mit so anziehendem Wesen, wie groß ist das Unrecht derer, die dich hassen, und zwar grundlos! Du hast es nicht verdient. Weswegen verachtet der Frevler deinen Namenb? Welchen Nutzen, welchen Vorteil, welches Motiv haben die, die deinen Namen verachten? Großer Friede wird doch denen zuteil, die deinen Namen liebenc. 49.  Die dich aber hassen, was hassen sie anderes als das Leben, als das Heil, was anderes als die Güte, als die Barmherzigkeit, was anderes schließlich als die Liebe? Denn du, Gott, bist die Liebed. Wie weit ist der vom Heil entfernt, der die Liebe hasst, und den die Liebe selber hasst! Wie groß ist die Unvernunft, die Liebe zu Vgl. Mt 22,37. Vgl. Ps 10,13. c  Vgl. Ps 5,13. d  Vgl. 1 Joh 4,16. a 

b 

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 46-51

hassen! Das bedeutet nämlich, die Weisheit selbst zu hassen. Du, Herr, bist die höchste Weisheit, dich zu kennen ist vollendete Ein­ sicht (Weish 6,16). Dieses Erkennen geschieht jedoch durch die Liebe, denn die Liebe selbst ist Einsichta. Wer dich nicht liebt, erkennt noch nicht in gebührender Weise, wer du bist. Mag sich einer auch noch so sehr im Ruhm blumiger Beredsamkeit überheben, mit noch so großem Wissen über wunderbare Dinge prahlen, sich durch noch so reichen Besitz an wunderbaren Gütern aufblähen, er ist ein Tor und ein Narr, wenn er dich nicht liebt. Arm ist er und bedürftig, wenn er dich nicht liebt. Die Reichtümer des Heiles sind nämlich Weisheit und Erkenntnis, (Jes 33,6) doch jene Weisheitb, mit der jener verkostet, der dich liebt, denn sie ist kostbarer als alle Schätze, und alles Erstrebenswerte kann mit ihr nicht verglichen werden. 50.  Behüte mich, Herr, wie deinen Augapfel (Ps 16,8), behüte mich vor der schweren Sünde, die ich sehr fürchte, vor dem Hass gegenüber deiner Liebe, damit ich nicht gegen den Heiligen Geist sündigec, der Liebe und das Band der Einheit, Einheit, Friede und Eintracht ist, damit ich von der Einheit deines Geistes nicht abweiche, von der Einheit deines Friedens, und eine Sünde begehe, die weder hier noch in der Zukunft vergeben wirdd. Bewahre mich, Herr, unter meinen Brüdern und meinen Nächsten, um den von dir kommenden Frieden (Ps 121,8) zu verkünden. Bewahre mich unter denen, die die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens (Eph 4,3) bewahren. 51.  Liebe Brüder, tun wir mit Achtsamkeit alles, was zur Lebensform in Gemeinschaft gehört, bewahren wir die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens (ebd.) durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft a  Vgl. Gregor der Grosse, Homiliae in Euangelia XXVII, 4 (CCSL 141, 231-233); Bernhard von Clairvaux, 29. Predigt über verschiedene Themen 1 (BCSW IX, 441-443) und Sentenz 3, 127 (BCSW IV, 749-763). b  Wie Bernhard von Clairvaux spielt Balduin hier mit der unmittelbaren lateinischen Wortbedeutung von „sapientia“ – „Weisheit“. Das Wort „sapientia“ kommt nämlich von „sapere“ – „verkosten, schmecken“. Weise ist in diesem Sinn der, der an Gott und an den Dingen in rechter Weise Geschmack findet. c  Vgl. Mt 12,32; Mk 3,29; Lk 12,10. d  Vgl. Mt 12,32; Mk 3,29; Lk 12,10.

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des Heiligen Geistesa. Aus der Liebe Gottes entspringt die Einheit des Geistes; aus der Gnade unseres Herrn Jesus Christus das Band des Friedens; und aus der Gemeinschaft des Heiligen Geistes jene Gemeinsamkeit, die jene brauchen, die ein Gemeinschaftsleben führen, damit sie es führen können. Die Liebe Gottes wirkt die Einheit des Geistes, denn wer sich an den Herrn bindet, wird zu einem Geist b (vgl. 1 Kor 6,17). Die Liebe zu Gott, jene, mit der Gott geliebt werden soll, ist für Menschen, die allein leben, in anderer Weise notwendig als für Menschen, die gemeinsam leben. Der Liebe, die Gott istc, gleicht auch die Liebe, die dem Gemeinschaftsleben entspricht. Gott liebt nämlich die Gerechtigkeit, und je größer sie ist, desto mehr liebt er sie. Die Ungerechtigkeit aber hasst er, und dies umso mehr, je größer sie istd. 52.  Die zeitlichen Güter aber, deren und derentwegen sich die Menschen in ihrem Stolz gerne rühmen, die sie in ihrer Bosheit einander neiden, um die sie in ihrer Begierde streiten und die sie in ihrer Lust genießen: diese zeitlichen Güter sollen nach Gottes Willen aus Liebe und Sehnsucht nach den ewigen von uns mehr verachtet als geliebt werden. Er erlaubt jedoch, dass sie zu maßvollem Gebrauch, wie es die menschliche Bedürftigkeit verlangt und unter Ausschluss von Luxus und Überfluss von uns in Anspruch genommen werden. Er hasst jedoch jene, die ganz nichtige Eitel­ keiten lieben (Ps 30,7). 53.  Wenn aber die Liebe Gottes, die in uns ist, mit der Liebe, mit der er uns liebt, so übereinstimmt, dass sie das liebt, was er selber liebt, und in ihrem Streben nach Vollkommenheit immer auf das Bessere bedacht ist und das Größere sucht, wenn sie stets darauf achtet, auch leichtere Sünden zu meiden, wenn sie alles, was wir nach Gottes Willen ablehnen sollen, ebenso als ablehnenswert einschätzt; dann wirkt eben diese Liebe Gottes in uns die Einheit Vgl. 2 Kor 13,13. Die Variation des Zitates 1 Kor 6,17 ist hier zu beachten. Bewusst lässt Balduin die letzten beiden Worte weg: „ein Geist … mit ihm“, denn ihm geht es hier vor allem um die Gemeinschaft untereinander, die durch die Verbundenheit im Heiligen Geist entsteht. c  Vgl. 1 Joh 4,16. d  Vgl. Ps 10,5; 10,7. a 

b 

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 51-55

des Geistes. Wie der eingeborene Sohn Gottes mit Gott, dem Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes lebt – der Vater und der Sohn haben nämlich ein und denselben Geist – so leben auch wir als angenommene Kinder Gottes unter Gott dem Vater in der Einheit des Geistes, in dem wir rufen: Abba – lieber Vater (Röm 8,15). 54.  Wir rufen natürlich gleichsam aus der Ferne, weil wir viel geringer und ihm in jeder Hinsicht ungleich, aber dennoch irgendwie ähnlich sind; nicht wie der eingeborene Sohn Gottes, der zur Rechten des Vaters sitzta und ihm ganz wesensgleich ist. Von ihm heißt es eher, dass er Gott anspricht, als dass er ruft, wie geschrieben steht: Er wird zu mir sprechen: Mein Vater bist du! (Ps 88,27). Die Einheit jedoch, die in uns die Liebe Gottes bewirkt, wird durch das Band des Friedens gewahrtb in der Gnade unseres Herrn Jesus Christus. Er ist unser Friede, er vereinigte die beiden Teile (Eph 2,14). Bei seiner Geburt sangen die Engel: Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade! (Lk 2,14). Vor seiner Himmelfahrt sagt er zu den Jüngern: Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch! (Joh 14,27). 55.  Wie sieht dieser Friede aus, der uns von Christus gegeben wird, durch dessen Band die Einheit des Geistes gewahrt wirdc? Er ist die gegenseitige Liebe, in der wir einander lieben, und die nicht zerbrochen wird, wenn wir alle dasselbe sagen und es unter uns keine Spaltungen gibtd. Zu ihm mahnt uns der selige Petrus mit den Worten: Vor allem haltet fest an der Liebe zueinander! (1 Petr 4,8). Was bedeutet aber: Liebe zueinander anderes als, dass es meine und deine Liebe ist, sodass ich von ihr zum anderen, den ich liebe, sprechen kann? Sollte ich dich jedoch lieben, ohne von dir geliebt zu werden, oder von dir geliebt werden, ohne dich zu lieben, dann ist es eben noch keine Liebe zueinander, weil sie entweder nicht meine oder nicht deine Liebe ist. Die Liebe zueinander ist nämlich gemeinsam und entbehrt nicht die Gemeinschaft in der Liebe. Vgl. Apostolisches und Nicäno-konstantinopolitanisches Credo. Vgl. Eph 4,3. c  Vgl. Eph 4,3. d  Vgl. 1 Kor 11,18. a 

b 

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56.  Sie ist gegenseitig und muss auch beständig sein: sonst gibt es kein Band des Friedens und keine Verbundenheit in der Liebe. Beständig ist sie, wenn sie durch die Wahrheit gefestigt wird, nicht durch Hass, noch durch Misstrauen unterbrochen wird, wenn sie durch gegenseitige Hilfeleistungen und gegenseitige Geduld immer gefördert und genährt wird und – um nicht zu schwinden – stets aufmerksam und umsichtig gehütet wird, ohne von Heuchelei verdunkelt zu werden. Diese Liebe ist jenen zu Eigen, die einander wahrhaft in Christus lieben, nicht mit Wort und Zun­ ge, sondern in Tat und Wahrheit (1 Joh 3,18). Diese Liebe prägt Christus unseren Herzen ganz tief eina, er drückt und schreibt sie ein durch sein Wort und Beispiel, indem er sagt: Das ist mein Ge­ bot: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe (Joh 15,12). 57.  Bei dieser Liebe wird wie beim Band des Friedens die Einheit des Geistes gewahrt. Das ist daher das Gesetz für das Gemeinschaftsleben: die Einheit des Geistes in der Liebe Gottes, das Band des Friedens in der gegenseitigen und beständigen Liebe zwischen allen Brüdern, die Gemeinschaft im Miteinander-Teilen aller Güter, wobei jede Gelegenheit zu Sonderbesitz dem Ordensideal ganz fremd ist, damit die Liebe in uns ist und in uns bleiben kann, so als hätten wir ein Herz und eine Seeleb und alles gemeinsamc: Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes und die Gemein­ schaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen (vgl. 2 Kor 13,13).

3. Teil Die gegenseitige Liebe im Gemeinschaftsleben 58.  Bezüglich der Eintracht in der gegenseitigen Liebe wollen wir unsere Natur, die Natur unseres Leibes zu Rate ziehen: Sie ist es nämlich, die uns mahnt, den Frieden zu wahren. Wir, die Vielen, a  Vgl. Bernhard von Clairvaux, 20. Predigt über das Hohelied 7 (BCSW V, 287-289). b  Vgl. Apg 4,32. c  Vgl. Apg 4,32.

322

15. Das Leben in Gemeinschaft, 56-60

sind ja ein Leib, und der eine ist Glied des anderena. Ein einziger Geist belebt nun unseren ganzen Leib durch seine Glieder, Gelenke und Scharniere, er belebt und baut den gegenseitigen Frieden auf, in dem die Einheit des Geistes gewahrt wirdb. Er baut jedoch auf durch die gegenseitigen Hilfeleistungen der Glieder und die gegenseitige Geduld. 59.  Gebt acht und seht, wie die Besonderheiten der Einzelnen dem Nutzen des Ganzen dienen. Das Auge sieht nicht nur für sich, sondern lenkt die Füße mit ihren Schritten und die Hände mit ihren Werken. Der Mund isst nicht nur für sich, noch verdaut der Magen nur für sich, sondern sie vollbringen ein gemeinsames Werk: Was für den ganzen Leib ausreichen und zum Nutzen gereichen soll, wird durch den Mund aufgenommen und vom Magen verdaut. Schreit doch die Zunge, wenn ein Teil des Körpers verletzt wird, als würde sie sich das Gefühl des Mitleids und die Stimme des Leidenden zu eigen machen, gegen den Täter: Warum verletzt du mich? Ist doch das Herz auf den gemeinsamen Nutzen bedacht und schmiedet Pläne, sowohl für die anderen, als auch für sich selbst! Sind doch die Hände zum Helfen geboren und auf das Dienen bedacht und neigen sich, wie die tägliche Erfahrung lehrt, sogar zu den Bedürfnissen der Füße herab. Wenn aber eine Hand – was manchmal vorkommt – von der anderen verwundet wird, wird dann etwa die verletzte von Rachsucht entflammt und erwidert den verletzenden Schlag? Nein, als wäre sich die Hand, die verletzt hat, ihrer Schuld bewusst und von Reueschmerz gequält, beeilt sie sich, sozusagen im Namen der Wiedergutmachung der verwundeten Schwester, so gut sie kann, Heilmittel zu besorgen. Sie bittet doch durch den demütigen Dienst um Nachsicht und fleht um Verzeihung. Durch ihren hingebungsvollen Dienst und ihren gütigen Eifer weist sie doch jeden Verdacht von sich, böse zu sein. 60.  Es gibt auch noch etwas anderes, was uns aufbauen könnte: Wenn das Auge merkt, dass ein bedrohliches Schwert gegen den Kopf geschwungen wird, so schiebt sich sofort ganz von selbst a  b 

Vgl. 1 Kor 12; Eph 4. Vgl. Eph 4,3.

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die Hand, von Liebe oder Zorn erhitzt, dazwischen, stellt sich dem Schwert entgegen oder leistet sonst irgendwie Beistand. Eilig und auf eigene Gefahr fürchtet sie für den Kopf, jedoch nicht für sich; und während sie den Kopf schützt, schützt sie sich selbst gar nicht. 61.  Liebe Brüder in Christus, wozu leiten uns diese Beispiele an, wenn nicht zu gegenseitiger Geduld, gegenseitigem Dienen, gegenseitiger Liebe? Hat nicht Gott selbst das Gesetz der Liebe in uns hineingeschrieben, damit es uns über uns selbst belehrt? Möge uns doch der Gesetzgeber auch Segen spendena und uns in der Unschuld unseres Herzens leiten, durch die Einsicht unserer Hände auf den Weg des Friedens führenb, um die Einheit des Geis­ tes durch das Band des Friedens (Eph 4,3) zu wahren und die Gottesliebe in der Liebe zum Nächsten zu bewahren. Wenn wir Gott einmütig und einträchtig in der Reinheit unserer Berufung lieben, ist die Liebe Gottes ohne Zweifel durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen (Röm 5,5), und der eine Geist Gottes beseelt uns alle wie einen einzigen Leibc, sodass keiner von uns für sich selber lebtd, sondern für Gott, und wir alle gemeinsam durch den einen Geist, der in uns wohnte, in der Einheit des Geistes leben. 62.  Diese Einheit des Geistes aber, die sich durch die Gottesliebe in uns findet, wird durch die Liebe zum Nächsten in uns gewahrt, sodass wir alle gemeinsam in der Liebe Gottes bleibenf und durch unser Bleiben in dieser Liebe in Gott bleiben und Gott in unsg. In der Liebe zum Nächsten zeigt sich, erstarkt und wächst die Liebe zu Gott. 63.  Gott kann gleichsam mit sich selbst zufrieden sein, und bei allem Guten ist er sich selbst genug; Er braucht unsere Güter nichth; niemand kann ihm schaden, wenn er nicht liebt, noch nütVgl. Ex 32,29; Lev 25,21. Vgl. Lk 1,79. c  Vgl. 1 Kor 12; Eph 4. d  Vgl. Röm 14,7. e  Vgl. 2 Tim 1,14. f  Vgl. Joh 15,9. g  Vgl. 1 Joh 4,16. h  Vgl. Ps 15,2.

a 

b 

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 60-66

zen oder weiterhelfen, wenn er liebt. Deshalb müssen wir sagen, wenn wir alles gut gemacht haben: Wir sind unnütze Sklaven! (Lk 17,10). Wenn wir Gutes getan haben, was immer es sei, so nützt es nämlich uns selbst mehr als ihm. 64a. Da Gott also geliebt werden muss, jedoch nicht mit Wort und Zunge (1 Joh 3,18), wie ihn jene geliebt haben, über die geschrieben steht: Sie liebten ihn mit ihrem Mund, und ihre Zunge belog ihn (Ps 77,36), ja, da Gott geliebt werden muss, damit seine Liebe in Wort und Wahrheit (1 Joh 3,18) zum Leuchten kommt, und da Gott keine Wohltaten für sich braucht, hat er uns gleichsam unsere Brüder und Nächsten gesandt, die bedürftig sind, damit sie an seiner Stelle von uns die geschuldeten Wohltaten empfangen. Keiner soll sich also etwas auf seine Gottesliebe einbilden, keiner soll sich täuschen, indem er glaubt, Gott zu lieben: er liebt ihn nicht, wenn er den Nächsten nicht liebtb. 65.  Wenn jeder Mensch nichts anderes hat, um sich selbst auf die Probe zu stellen, um sich zu prüfen: Wenn er den Nächsten nicht liebt, liebt er Gott nicht. Wenn er den Nächsten nicht liebt, den er sieht, der da ist, gleichsam von Gott zu ihm gesandt wurde, damit er ihm die geschuldete Liebe erweist, wie kann er dann Gott lieben, den er nicht sieht, der ihn sein Dasein nicht spüren lässt, ja, der keine Bedürfnisse hat?c Wie kann er Gott sonst Wohltaten erweisen, wenn er sie nicht dem erweist, in dem Gott Bedürfnisse hat, der in sich selbst keine Bedürfnisse hat? Gott ist nämlich in seinen Gliedern Bittsteller und Empfänger, in ihnen wird er geliebt oder verachtet. 66.  In der Nächstenliebe wird also gleichsam durch die Verbundenheit in der Liebe und das Band des Friedens die Liebe Gottes und die Einheit des Geistes von uns bewahrt und in uns gewahrt. Wer nämlich den Bruder nicht liebt, trennt sich von der Einheit des Geistes; er liebt weder Gott, noch lebt er im Heiligen Zu den Abschnitten 64 und 65 vgl. Augustinus, Sermo 389 – Revue Béné­ dictine 58, 51; Aelred von Rievaulx, In Pent., serm. 2 – ed. C. H. Talbot (Rome 1952), 108; Aelred von Rievaulx, De speculo caritatis III, xxii, 52 (CCCM 1, 129-130). b  Vgl. 1 Joh 4,20. c  Vgl. 1 Joh 4,20. a 

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Geist, sondern nach seinem eigenen Geist, da er ja für sich lebt, und nicht für Gott.

Die Gemeinschaft der Gnade

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67. Zur Nächstenliebe gehört die Gemeinschaft, und wo die Liebe voll ist, ist auch die Gemeinschaft voll. Die volle Gemeinschaft aber besteht erst dann, wenn es eine Gemeinschaft in allem ist, wie geschrieben steht: Sie hatten alles gemeinsam (Apg 2,44; 4,32). Doch kann uns das nachdenklich machen, was nun folgt: Jedem wurde so viel zugeteilt, wie er nötig hatte (Apg 4,35). Was gilt nun bezüglich der Gemeinschaft und der Zuteilung? Was bezüglich der Gemeinschaft und den Besonderheiten? Wenn jedem Einzelnen so viel zugeteilt wurde, wie er nötig hatte, so wurde zu Gebrauch und besonderem Besitz der Einzelnen abgetreten, was das Bedürfnis jedes Einzelnen erforderte. Wenn die Einzelnen verschiedene Bedürfnisse hatten, so gab es ihretwegen auch Einzelhilfen; wenn die Einzelnen Schwächen hatten, so gab es dagegen Heilmittel für die Einzelnen; wenn Einzelne niedergedrückt waren, so gab es Tröstungen für die Einzelnen. Wie konnten sie dann alles gemeinsam haben, wenn doch die Einzelnen manche Besonderheit hatten? 68.  Diese Frage verschärft der Apostel noch mit den Worten: Jedem wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie ande­ ren nützt (1 Kor 12,7) und: Jeder hat seine Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so (1 Kor 7,7). Und ebenso: Es gibt verschie­ dene Gnadengaben, es gibt verschiedene Dienste, es gibt verschiede­ ne Kräfte (1 Kor 12,4-6). Wie kann man alles gemeinsam haben, wo die Einzelnen so viele verschiedene Gnadengaben (1 Kor 12,4)a, so viele besondere Gaben haben? Was sollen wir dazu sagen? Und wer ist dafür geeignet? Diese Aufgabe liegt nun vor mir (Ps 72,16). 69.  Schauen wir dennoch, ob der Knoten der Liebe, der nicht gelöst werden darf, den Knoten dieser Fragen lösen kann. Ja, er kann es! Die Liebe versteht es nämlich, durch ihr Urteil die BeZum folgenden Abschnitt vgl. auch Augustinus, In Iohannis euangelium tractatus LXVII, 2(CCSL 36, 495-496). a 

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 66-71

sonderheit wiederum der Gemeinschaft zuzuführen; zwar nicht so, dass es keine Besonderheit gäbe, doch so, dass das Besondere zur Gemeinschaft hinführt, dass es der Gemeinschaft nicht entgegensteht, dass es das Wohl der Gemeinschaft nicht behindert. Eine Zuteilung oder eine Besonderheit, die das Wohl der Gemeinschaft behindert, ist ein Widerspruch zur Liebe. Die Liebe liebt nämlich die Gemeinschaft, sie liebt auch die Besonderheit, die zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt oder die Gemeinschaft nicht behindert: Eine Gemeinschaft kann nämlich ohne das Besondere nicht bestehen, obgleich die Besonderheit ohne das Gut der Gemeinschaft bestehen könnte. Wie soll es denn etwas Gemeinsames geben, wenn die Besonderheit nicht den einen vom andern unterscheidet unter denen, die etwas gemeinsam haben? 70.  In jener höchsten und unteilbaren Dreifaltigkeit besteht nämlich eine einzigartige Einheit, eine Ewigkeit, eine Kraft, eine Weisheit, ein Leben, ein Wesen, das die drei Personen gemeinsam haben. Durch die Besonderheit ist jedoch die eine Person von der anderen unterschieden, mit der sie die eine Seligkeit gemeinsam hat. Und es behindert nicht das Gemeinwohl, dass nur der Vater Vater ist: Der Vater ist nämlich nicht für sich selbst Vater, sondern für den Sohn, den er aus seinem Wesen gezeugt und dem er durch die Zeugung geschenkt hat, in sich selbst das Leben zu habena. Und um mit meinen Worten auf etwas einzugehen, das uns durch die Alltagserfahrung vertrauter ist: Die Besonderheit, durch die einer Vater ist, behindert die Gemeinschaft in der menschlichen Natur nicht, sondern durch die Vaterschaft wird die Natur vom einen zum anderen weitergegeben. 71.  Die Kraft der Gnade ist nicht geringer als die der geschaffenen Natur. Eine hervorragende Gnade ist nämlich die Liebe, die sich in die Herzen der Heiligen ergossen hat, doch durch die Gemeinschaft in ihnen ausgegossen istb. Der Heilige Geist, durch den sich die Liebe ergießt, liebt die Ausgießung, denn er wird selber ausgegossen. Der Herr sagt: Ich werde von meinem Geist aus­ gießen (Joel 2,28; zitiert nach Apg 2,17). Wer also eine besondere a  b 

Vgl. Joh 5,26. Vgl. Röm 5,5.

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Gabe von Gott hat, soll sie so haben, dass er sie nicht für sich allein hat, sondern für Gott und für den Nächsten. Für Gott aber, damit er wegen der Gabe Gottes nicht seine eigene Ehrea sucht, sondern die Ehre Gottes. Für den Nächsten aber, um stets auf den gemeinsamen Nutzen zu achten, nicht auf den eigenen. Die Liebe sucht nämlich nicht den eigenen Vorteil (1 Kor 13,5), sondern die Sache Jesu Christib. Sie liebt nämlich die Gemeinschaft, nicht die Besonderheit ohne die Gemeinschaft. 72.  So sehr liebt sie die Gemeinschaft, dass sie die Güter, die rechtmäßig in ihren Bereich gehören, aber von einem anderen in Besitz genommen werden, bisweilen nicht zurückverlangen will. Freigebig ist nämlich die Liebe; sie flieht den Streit, sucht nicht ih­ ren Vorteil (ebd.), will nicht vor Gericht streitenc, wo sie selbst bedroht ist. Lieber ist es ihr, Unrecht zu erleiden als selbst zugrunde zu gehen, Schaden zu erleiden als sich selbst zu verlieren. Warum sollte sie auch durch Streit zurückverlangen, was sie nicht hat, wo sie doch bereit ist zu geben, was sie hat? Denn sie führt die besondere Gabe eines jeden dem Gut der Gemeinschaft zu, damit das, was durch die Besonderheit der empfangenen Gabe einem Einzelnen zu eigen ist, durch den Nutzen des gemeinsamen Gutes auch dem anderen zu eigen wird. 73.  Daher sagt der selige Petrus: Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat. Wer redet, der rede mit den Wor­ ten, die Gott ihm gibt; Wer dient, der diene aus der Kraft, die Gott verleiht. So wird in allem Gott verherrlicht (1 Petr 4,10f.). Auch Paulus sagt: Jedem wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, da­ mit sie anderen nützt (1 Kor 12,7). Was ist die Offenbarung des Geistes, die zum Nutzen geschenkt ist, anderes als das Geschenk der Gnade, das im Nutzen des Nächsten offenbar werden und – soweit es passend ist – öffentlich bekannt gemacht werden soll? Wer weise ist, soll es nicht für sich sein, sondern er soll sagen: Un­ eigennützig lernte ich, und neidlos gebe ich weiter (Weish 7,13). Wer etwas hat, soll es mit dem gemeinsam besitzen, der es nicht hat, Vgl. Joh 7,18. Vgl. 1 Kor 13,5; Phil 2,21. c  Vgl. 1 Kor 6,1ff. a 

b 

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 71-74

wie jener mahnt, der da sagt: Gebt, dann wird auch euch gegeben werden (Lk 6,38). 74. Die Habsucht nämlich, die durch die Gesinnung des Nicht-Teilens für sich zurückbehält, was sie hat, ist der Liebe ebenso feindlich, wie sie der Gemeinschaft widerspricht. Wenn bei einem heidnischen Dichter ein Heide ohne wahren Glauben, ohne den wahren Gott, ohne die wahre Hoffnung auf die wahre Auferstehung und die wahre Seligkeit so gelobt wird, dass er sagt, dieser glaube, nicht für sich, sondern für die ganze Welt gebo­ ren zu sein (Lucanus)a, wie viel mehr muss dann der Blick auf die Gemeinschaft bei den Christen, und besonders bei den Ordensleuten, die sich zum Gemeinschaftsleben bekennen, bei allen gepflegt und bei allen mit Vorrang behandelt werden? So soll jeder, der zu sich gut ist, auch zu den anderen gut sein und nicht eine Last; wer die Gabe der Wissenschaft oder der weisen Redeb hat, wer die Gnade der Tatc oder der Leitung hat, wer die eine oder andere der größeren oder kleineren Gnadengaben besitzt, soll sie so besitzen, als wäre sie ihm von Gott wegen der anderen verliehen. Stets fürchte er, die empfangene Gnade könnte ihm schaden, wenn er sich nicht bemüht, mit ihr dem anderen zu helfen. Vergeblich empfängt man nämlich die Gnade Gottesd, wenn man mit ihr nicht die Ehre Gottes und den Nutzen des Nächsten sucht. Dann freilich wird die Gnade Gottes zur Ehre Gottes gewandelt, wenn das besondere Gut, das jeder von Gott hat, zum gemeinsamen Gut wird. Und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes ist dann wahrhaft mit unse, wenn die besondere Gabe, die den Einzelnen verliehen wird, durch die Gemeinschaft der Liebe gemeinsam genutzt wird.

M. Annaeus Lucanus, Pharsalia 2, 383. Vgl. 1 Kor 12,8. c  Vgl. 1 Kor 12,10. d  Vgl. Gal 2,21. e  Vgl. 1 Kor 13,13. a 

b 

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SERMONES

Die Gemeinschaft der Gnade und der Verherrlichung

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75.  Der Heilige Geist ist Gemeinschaft, und er liebt die Gemeinschaft so sehr, dass er selbst verschenkt werden möchte. Er ist nämlich die Güte selbst. Er ist nicht damit zufrieden, das Seine zu schenken, wenn er sich nicht auch selbst mitschenkt – den Menschen nämlich, die er selbst würdig gemacht hat, ein so großes Geschenk zu empfangen. Geschenk ist er nämlich selbst, und er war von Ewigkeit her das höchste Gut und das höchste Geschenk. 76.  Wer die von Gott empfangene Gnade wahrhaft in Gebrauch und Nutzen dem Nächsten mitteilt, der hat wahrhaft, was er empfangen hat. Wer aber hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben (Mt 25,29). Wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er zu haben scheint (ebd.). 77.  Die von Gott anvertraute und geschenkte Gnade wird gleichsam ihrem Namen und ihrem Sinn nach zu einem Leihvertrag. Sie ist für den Empfänger eine Verpflichtung Gott und dem Nächsten gegenüber: Gott gegenüber, dass er ihm die Ehre zurückgibt, dem Nächsten gegenüber aber, dass er die Gnade mitteilt. Wer die Gnade mitteilt, hat Erbarmen mit dem Nächsten. Wer sie als Danka zurückgibt, gibt Gott die Ehreb. Und der ist ein Gerechter, der Erbarmen hat und gibtc. Er wäre ungerecht, würde er seine Schulden nicht zurückzahlen, würde er gegen Treu und Anstand und gegen den Sinn der anvertrauten und empfangenen Gabe handeln. Daher steht geschrieben: Der Sünder wird auslei­ hen, aber nicht zurückzahlen (Ps 36,21V). Er leiht aus, wenn er empfängt, aber er zahlt nicht zurück, wenn er es nicht rückerstattet. Und darin ist er Sünder, weil er ausleiht, aber nicht zurückzahlt. Er zahlt nicht zurück, weil er weder dem Nächsten mitteilt, noch Gott die Ehre gibt. 78.  Gott verlangt aber von der verliehenen Gnade auch, was er noch nicht gegeben hat. Er fordert nämlich einen Zins, er schneidet ab, wo er nicht gesät hat und sammelt ein, wo er nicht ausgeDas lateinische Wort „gratia“ bedeutet sowohl Gnade als auch Dank. Vgl. Joh 9,24. c  Vgl. Ps 111,5. a 

b 

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 75-80

streut hata. Er schneidet bei den Bösen ab und sammelt bei den Guten ein. Zu den Bösen wird er am Ende der Ernte die Engel als Schnitter senden, weil er sie verurteilen wird, dass sie keinen Gewinn erwirtschaftet haben, wenn die Engel das Unkraut sammeln und in Bündel binden, um es zu verbrennenb. Die Guten aber wird er wie den Weizen sammeln und in seine Scheune bringenc und bei ihnen belohnen, was er selbst geschenkt hatd, den erbrachten Gewinn, den er empfängt. 79.  Er sammelt, was er nicht ausgestreut hate, er selbst tut es nämlich mit eigener Hand ohne die, denen er es geschenkt hat. Sie aber haben ausgestreut, wenn sie die empfangenen Gaben den Nächsten mitgeteilt haben, wenn sie sich aufmachten und Frucht brachtenf wie jene, von denen geschrieben steht: Sie gingen hin unter Tränen und trugen den Samen zur Aussaat (vgl. Ps 125,6). 80.  Und zur Härte des Herrn passt offenkundig nicht, was über die Guten, sondern, was über die Bösen gesagt wurde. Wenn man aber beides auf die Bösen beziehen kann oder beides auf die Guten, unter Wahrung der Güte Gottes, wird der Herr in gewisser Weise dargestellt werden als einer, der hart ist. Er hat ja als Ausdruck seiner Härte zu dem einen oder zu beiden zwei Worte gesagt: Ich schneide ab, wo ich nicht gesät, und ich sammle, wo ich nicht ausgestreut habe (Mt 25,26). Ist also Gott ein hartherziger Herr? Wer könnte es wagen, das zu behaupten? Doch wer könnte es wagen, dem Heiligen Geist zu widersprechen? Sagt nicht der Prophet, der im Heiligen Geist sprichtg: Gegen den Heiligen zeigst du dich heilig, doch böse gegen den Bösen (Ps 17,26f.). Und als derselbe Prophet sprach: Lauter Güte ist Gott für Israel, fügte er hinzu: für alle Menschen mit reinem Herzen (Ps 72,1). Damit brachVgl. Mt 25,24; 25,26. Vgl. Mt 13,30. c  Vgl. Mt 13,30. d  Gedanke, der bereits bei Augustinus anklingt: Wenn Gott unsere Taten belohnt, krönt er damit seine eigenen Gaben. Diese tiefe Erkenntnis hat auch in die erste Präfation von den Heiligen Eingang gefunden. Vgl. auch. Aelred von Rievaulx, De speculo caritatis I, xi, 31 (CCCM 1, 25). e  Vgl. Mt 25,24.26. f  Vgl. Joh 15,16. g  Vgl. 1 Kor 12,3. a 

b 

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te er zum Ausdruck, zu wem Gott gütig ist. Hart wird der Herr nämlich denen scheinen, die ein hartes Herz haben. Diese verhärtet er selbst in einem gerechten Urteil, auch wenn es verborgen ist. 81.  Vielleicht scheine ich nun zu zerstören, was ich früher aufgebaut habe. Denn als ich meine Worte über die Güte und Liebe Gottes formulierte, habe ich offene Worte gebraucht, um die Härte seines Zorns gegen die Bösen zu beweisen. Doch leuchtet die Wahrheit bisweilen heller auf durch den Vergleich mit ihrem Gegenteil. Als nämlich geschrieben wurde: Gütig ist der Geist der Weisheit, doch lässt sie die Reden des Lästerers nicht straflos, (Weish 1,6V) wird zu dem ersten Wort Gütig ist der Geist der Weisheit gleichsam hinzugefügt: doch lässt sie die Reden des Lästerers nicht straflos, damit man die Güte Gottes nicht als Anlass zu sorgloser Sünde gebraucht, als wollte er die Sünden nicht streng bestrafen. Nach der Vorbemerkung Der Geist der Weisheit ist gütig wird hinzugefügt: doch lässt sie die Reden des Lästerers nicht straflos (ebd.). Gütig ist er nämlich zu denen, denen aus Sorge um die Gemeinschaft das Teilen ein Wert ist, den sie lieben, gütig ist er zu dem, der das Gute, das er empfangen hat, für den anderen besitzt; gütig ist er auch zu dem, der das Gute, das er nicht hat, im anderen liebt, der es hat. 82.  In zweierlei Weise wird die Aufteilung der Gnaden (1 Kor 12,4) für die Gemeinschaft dienstbar gemachta: wenn die Gaben, die den Einzelnen in besonderer Weise geschenkt werden, durch die Gemeinschaft in der Liebe gemeinsam besessen werden, und wenn sie durch die Liebe zur Gemeinschaft gemeinsam geliebt werden. In einem gewissen Sinn ist nämlich eine Gnade dann für den, der sie besitzt, und den, der sie nicht besitzt, gemeinsam, wenn der, der sie besitzt, sie für den anderen besitzt, weil er sie mitteilt, und der, der sie nicht besitzt, sie im anderen besitzt, weil er liebt. 83. Auch die besonderen Bedürfnisse und Schwächen der Einzelnen führt die Gemeinschaft des Heiligen Geistes zum Teia  Vgl. zu diesem Punkt Augustinus, In Iohannis euangelium tractatus LXVIII, 1 (CCSL 36, 497-498) und LXVII, 2 (CCSL 36, 495-496); Aelred von Rievaulx, Sermo VIII, 9-10 (CCCM 2A, 66-67); Aelred von Rievaulx, De anima III, 47 (CCCM 1, 752) u.a.

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 80-86

len hin. Wie nämlich die Liebe leidensfähig ista, so ist sie auch mitleidig. Und wer mit einem Leidenden mitleidet, macht eine fremde Not zu seiner eigenen, sodass beide die eine Not gemeinsam tragen. Denn die Not gehört zum einen durch den Schmerz des Erleidens, zum anderen aber durch das Gefühl des Mitleidens. 84.  Wenn aber die Gerechten ihre Nöte gemeinsam tragen, so folgt daraus, dass sie auch ihren Trost gemeinsam haben. Wer es nämlich versteht, aus der Gesinnung der Liebe heraus mit den Weinenden zu weinen, versteht es auch, sich mit den Fröhlichen zu freuenb. Wie übervoll war der Apostel von herzlicher Liebe und einfühlsamer Nächstenliebe, als er sprach: Wer leidet unter seiner Schwachheit, ohne dass ich mit ihm leide? Wer kommt zu Fall, ohne dass ich von Sorge verzehrt werde? (2 Kor 11,29). Und was er selber tut, das zu tun mahnt er auch mit den Worten: Einer trage des an­ deren Last! (Gal 6,2). Und er widerspricht sich nicht, wenn er sagt: Jeder wird seine eigene Bürde zu tragen haben (Gal 6,5). Von der Last der Sünde wird das nämlich zu Recht so verstanden. Nur die Sünde wird nämlich zur Gemeinschaft der Liebe nicht zugelassen. 85.  Denn was wir Gutes tun, bringt gemeinsamen Nutzen, wenn auch der gemeinsame Besitz nicht für alle Liebenden in gleicher Weise gut ist. Durch Gebet und Verdienste hoffen wir uns gegenseitig vor Gott zu helfen; durch die Verdienste und Fürbitten der Heiligen, die wir lieben und von denen wir geliebt werden möchten, erlangen wir große Zuversicht, bei Gott die Vergebung der Sünden und die Herrlichkeit zu erlangen; besonders, wenn wir ihre Verdienste feiern, auf ihren Glauben, ihre Liebe, ihre Geduld und ihre Frömmigkeit schauen, dazu angeeifert werden und sie lieben, wenn wir angespornt werden, es ihnen gleich zu tun, wenn wir zur Nachahmung ihrer Tugend entflammt werden. 86. Wenn jemand nach den eigenen Verdiensten gerichtet werden müsste, so dass fremde Verdienste durch die Gemeinschaft in der Liebe nicht fürbittend in Anspruch genommen werden könnten, wer könnte dann das Gewicht des göttlichen Urteils ertragen? Unsere Ungerechtigkeiten sind nämlich zahlreich und a  b 

Vgl. 1 Kor 13,4. Vgl. Röm 12,15.

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groß, und der Prophet sagt: Würdest du, Herr, unsere Sünden be­ achten, Herr, wer könnte bestehen? (Ps 129,3). Auch unsere guten Werke sind ungenügend, und unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid (Jes 64,5). Es steht auch geschrieben: Die Leiden der gegenwärtigen Zeit bedeuten nichts im Vergleich zu der Herr­ lichkeit, die an uns offenbar werden soll (Röm 8,18). 87.  Sollen wir also verzweifeln? Niemals, nie und nimmer! Denn Gott ist die Liebea. O Gott, du Liebe, ich leide Gewalt, tritt du für mich ein! (Jes 38,14). Was soll ich sagen, oder was wird er mir antworten? (Jes 38,15V). Bin ich aber alt genug – und ich bin es wohl –, selber für mich sprechen zu müssenb, so bekenne ich mit dem Mund, was ich im Herzen glaubec: Ich glaube, Herr, an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche, die Gemeinschaft der Heiligend. Darin liegt meine Hoffnung, darin meine Zuversicht, darin mein Vertrauen, darin mein kleines bisschen Sicherheit, wenn ich meinen Glauben bekenne: in der Güte des Heiligen Geistes, in der Einheit der katholischen Kirche, in der Gemeinschaft der Heiligen. 88. Wenn es mir darüber hinaus geschenkt wird, dich zu lieben und meinen Nächsten zu liebene, so habe ich, wenn auch meine Verdienste klein und gering sein mögen, größere Hoffnung über meine Verdienste hinaus. Ich vertraue, dass die Verdienste der Heiligen durch die Gemeinschaft in der Liebe auch mir helfen werden, sodass die Gemeinschaft der Heiligen meine Unzulänglichkeit und meine Unvollkommenheit zu ergänzen vermag. Dabei tröstet mich der Prophet, wenn er sagt: Ich sah das Ende aller Vollendung, dein Gebot aber ist unendlich weit (Ps 118,96). 89.  O weite und weitmachende Liebe, wie groß ist dein Haus, wie gewaltig der Bereich deines Eigentums! (Bar 3,24). Ängstigen wir uns nicht in unserem Herzen, beschränken wir uns nicht auf die Grenzen und Schranken unserer ach so kleinen Gerechtigkeit! Die Liebe weitet unsere Hoffnung hin auf die Gemeinschaft der Vgl. 1 Joh 4,16. Vgl. Joh 9,21. c  Vgl. Röm 10,10. d  Apostolisches Glaubensbekenntnis. e  Vgl. Mt 22,39; Mk 12,31; Lk 10,27. a 

b 

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15. Das Leben in Gemeinschaft, 86-91

Heiligen in der Gemeinschaft der Verdienste und der Gemeinschaft des Lohnes. Doch gehört die Gemeinschaft des Lohnes der zukünftigen Zeit an, der Gemeinschaft der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden wird (Röm 8,18). 90.  Da es also drei Formen der Gemeinschaft gibt: die Gemeinschaft der Natur, mit der die Gemeinschaft der Schuld und des Zornes verbunden sinda; dann die Gemeinschaft der Gnade und als dritte die Gemeinschaft der Verherrlichung, so beginnt die Gemeinschaft der Natur durch die Gemeinschaft der Gnade wiederhergestellt zu werden, und die Gemeinschaft der Schuld wird ausgeschlossen. Durch die Gemeinschaft der Verherrlichung aber wird die Gemeinschaft der Natur auf das Vollkommenste wiederhergestellt und die Gemeinschaft des Zornes gänzlich ausgeschlossen, wenn Gott alle Tränen von den Augen der Heili­ gen abwischen wird (Offb 7,17; 21,4). Dann werden alle Heiligen gleichsam ein Herz und eine Seele sein (Apg 4,32); sie werden alles gemeinsam haben (Apg 4,32; 2,44), wenn Gott alles in allem sein wird (1 Kor 15,28V). 91.  Damit wir alle zu dieser Gemeinschaft gelangen und sie gemeinsam erlangen, sei die Gnade Jesu Christi, unseres Herrn, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes immer mit uns allen (vgl. 2 Kor 13,13). Amen.

Vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Gnade und den freien Willen 3, 7 (BCSW I, 185). a 

335

Sermo 16 Traktat IX/i Über die selige Armut

Selig, die arm sind im Geist; denn ihnen gehört das Himmelreich (Mt 5,3).

1.  Die Verheißungen Gottes sind vielfältig und verschieden, je nach den Verdiensten der Gerechten und dem Grad ihrer Gerechtigkeit. Für jeden Grad der Gerechtigkeit gibt es nämlich eine entsprechende Vergeltung, und jede Tugend hat ihr je eigenes Lob und ihren je eigenen Lohn, je nach der Würde ihres Ranges und der Eigenart ihrer Gattunga. 2.  Schauen sollen die Armen, und sich freuen! (Ps 68,33). Schau­ en sollen sie, was ihr Anteil ist und wie ihr Erbe aussieht: es ist nicht irdisch, nicht vergänglich, sondern unzerstörbar, unbefleckt und wird im Himmel für sie aufbewahrtb. Schauen sollen sie und sich freuen (ebd.), denn ihnen gehört das Himmelreich (Mt 5,3). 3.  Ihnen gehört es wirklich, um es zu besitzen und mitzuteilen: Das heißt, sie sollen es für sich haben und andere bei sich aufnehmen, wie geschrieben steht: Macht euch Freunde mit Hilfe des ungerechten Mammons, damit ihr in die ewigen Wohnungen aufgenommen werdet, wenn es (mit euch) zu Ende geht (Lk 16,9). Hier werden die Armen in die Häuser der Reichen aufgenommen, a  b 

Vgl. zu diesem Abschnitt Balduin von Ford, Sermo 10, 1. Vgl. 1 Petr 1,4

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SERMONES

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um an ihrem Tisch gesättigt zu werden wie Bettler, wie Bedürftige, sodass ihrem Mangel aus dem Überfluss der Reichen abgeholfen wird. Im Himmelreich müssen die Reichen von den Armen aufgenommen werden, sodass dem Mangel der Reichen aus dem Überfluss der Armen abgeholfen wird. Nicht ausreichend ist für sie nämlich die eigene Gerechtigkeit, um das Himmelreich zu erlangen. Die Armut ist der Weg in den Himmel. 4.  Die einen lieben die Armut um Christi willen; sie ahmen die Armut Christi nach, und ihnen gehört das Himmelreicha. Andere lieben sie nicht, aber ertragen sie geduldig; sie werden im Schmelzofen der Armut (Jes 48,10) geläutert, um als Bewährte in das Himmelreich zu gelangen. Wieder andere lieben die Armut weder für sich, noch ertragen sie diese, da ihnen nichts fehlt, sodass sie darben müssen. Doch um Christi willen lieben sie die Armen, geben gerne und teilen mit ihnen. Sie vertrauen nicht auf den unsicheren Reichtumb, sondern sammeln für sich Schätze als sicheres Fundament für die Zukunft, um das wahre Leben zu erlangen. Auch sie werden durch das Verdienst der Armut in das Himmelreich gelangen: doch müssen sie von den Armen empfangen werdenc, und wegen der Tröstung der Armen werden sie in einem seligen Tausch Vergeltung empfangen. 5. Wenn jedoch alle Guten in das Himmelreich gelangen werden – einmal jene, die die Armut lieben, dann jene, die sie ertragen, dann auch jene, die ihr Trost spenden – was bedeutet es dann, dass das Reich, das allen geschenkt werden soll, nur denen verheißen wird, die die Armut freiwillig auf sich nehmen, wenn nur solche als arm vor Gott bezeichnet werden? Oder macht es einen Unterschied aus, dass über sie nicht gesagt wird: Sie werden in das Himmelreich kommen (vgl. Lk 18,24), sondern, was größer scheint: Ihnen gehört das Himmelreich! (Mt 5,3). Denn wenn alle Gesegneten und alle, die von Gott Segen empfangen sollen, das Himmelreich empfangen werden, das seit Erschaffung der Welt für sie bereitet istd, so glaubt man natürlich von allen, dass sie in Vgl. Mt 5,3. Vgl. 1 Tim 6,17-19. c  Vgl. Lk 16,9. d  Vgl. Mt 25,34. a 

b 

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16. Über die selige Armut, 3-8

das Himmelreich kommen werden. Dennoch heißt es von manchen gleichsam in besonderer Weise: Menschen wie ihnen gehört das Himmelreich (Mt 19,14). 6a.  Es gibt auch noch etwas anderes, was uns bewegen könnte: Während die übrigen Verheißungen nämlich bei dieser Aufzählung des Evangeliums in die Zukunft verschoben werden, wird diese Verheißung durch keinen Aufschub verzögert. Sie wird als bereits eingetroffen dargestellt, sodass sie mehr wie die Erlangung einer gegenwärtigen Wohltat erscheint als wie die Erwartung einer zukünftigen Verheißung. Und bei denen, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werdenb, wird derselbe Ausdruck hinzugefügt. Den einen wie den anderen wird verheißen, dass ihnen das Himmelreich gehört, als wäre ihnen der Lohn jetzt schon ausbezahlt worden – ohne Verzug, ohne Behinderung, ohne Aufschub. 7.  Von denen, die keine Gewalt anwenden, wird jedoch noch nicht gesagt, dass sie das Land besitzen, sondern dass sie es besitzen werden (Mt 5,4). Die Barmherzigen werden Barmherzigkeit erlan­ gen (Mt 5,7) und die Trauernden getröstet werden (Mt 5,5). Die nach der Gerechtigkeit hungern, werden satt werden (Mt 5,6), und die Friedensstifter werden Söhne Gottes genannt werden (Mt 5,9). Die ein reines Herz haben, werden Gott schauen (Mt 5,8), doch all das in der Zukunft. Für diesen Unterschied scheint eine Begründung notwendig. 8.  Vielleicht sind diese beiden Formen der Gerechtmachung – nämlich die erste und die letzte – bei denen der Lohn nicht aufgeschoben wird, für die Vollkommenen bestimmt, die im Schmelzofen der Armut (Jes 48,10) oder im Feuer der Verfolgung geprüft werden, wie man Silber läutert (Ps 65,10) und schmilzt, bis es rein istc. Sie bauen auf dem Grund mit Gold, Silber und kostbaren Steinen weiterd. Wenn sie von hier scheiden, tragen sie weder Holz, Heu oder Stroh mit sich, die in ihnen niederbrennen, sondern sie fliegen gleich nach ihrem Verscheiden in den Himmel. a  Vgl. Augustinus, De sermone Domini in monte I, iii, 10 (CCSL 33, 7-8); Bernhard von Clairvaux, 4. Adventpredigt 5 (BCSW VII, 107-109). b  Vgl. Mt 5,10. c  Vgl. Jes 1,25. d  Vgl. 1 Kor 3,12.

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SERMONES

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Sie sind vom Reich nicht fern, denn ihnen gehört das Himmelreich (Mt 5,3). Ohne diese Tugenden aber, durch die alles, was an den anderen Tugenden schwach ist, geläutert wird, (unsere ganze Ge­ rechtigkeit ist nämlich wie ein schmutziges Kleid (Jes 64,6)) scheinen alle, die sich als gut erweisen, teilweise auf dem Grund mit Holz, Heu oder Stroh zu bauen, das unbedingt in ihnen niederbrennen muss. Sie werden freilich gerettet werden, doch wie durch Feuer hindurch (1 Kor 3,15). Denn auch jene, die ein reines Herz haben und denen die Gottesschau versprochen wirda, brauchen trotzdem noch eine Läuterung. Wer kann sich denn rühmen, ein lauteres Herz zu besitzen? 9. Zwei Arten des Martyriums – das eine im Fleisch, das andere im Geist – finden offenkundig in diesen beiden Formen der Gerechtmachung ihre Vollendung. Bei den anderen Tugenden ist die Vollkommenheit, falls sie zur Vollendung kommen, zu Recht diesen beiden zuzuschreiben, denn durch sie gelangen sie zur Vollendung. Es ist ja unausweichlich, dass alle Gerechten um Christi willen entweder im Fleisch oder im Geist leiden müssen, um den Ruhm der Vollkommenheit zu erlangen. 10.  Wer die Armen im Geist sind, wird umfassender klar, wenn man Geist und Geist unterscheidet. Eine Gelegenheit, es leichter zu erkennen, gibt uns der Prophet, wenn er sagt: Nahe ist der Herr den zerbrochenen Herzen, er hilft denen auf, die zer­ knirscht sind (Ps 33,19). Ebenso der Apostel, wenn er sagt: Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt (1 Kor 2,12). Der Geist dieser Welt wird nicht unpassend als Fürst dieser Welt erkannt, über den derselbe Apostel auch an anderer Stelle sagt: Ihr wart tot infolge eurer Verfehlun­ gen und Sünden. Ihr wart einst darin gefangen, wie es der Art dieser Welt entspricht, unter der Herrschaft jenes Fürsten, der im Bereich der Lüfte regiert und jetzt noch in den Ungehorsamen wirksam ist (Eph 2,1-2). 11.  Wenn der Geist des Menschen von jenem Geist dieser Welt angehaucht wird, bläht er sich gleich auf und wird dem ähnlich, von dem er angehaucht wird. Er kann auch selbst als Geist a 

Vgl. Mt 5,8.

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16. Über die selige Armut, 8-14

dieser Welt bezeichnet werden, da er nach dem verlangt, was diese Welt zu bieten hat. Dieser Geist aber ist stolz, eitel, anmaßend und ehrgeizig; er strebt hoch hinaus und verachtet alles Niedrigea. Wer sich aber vom Geist Gottes leiten lässt (Röm 8,14), wird deshalb, je mehr er von ihm angeblasen wird, umso weniger aufgeblasen und umso demütiger. Wie alle, die im Geist arm sind, strebt er nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig (Röm 12,16). 12.  Die Tugend derer, die im Geist arm sind, ist einem Mangel an Geist und einer Fülle an Geist zuzurechnen. Je weniger einer nämlich von seinem Geist hat, umso reicher ist in ihm der Geist Gottes, und je mehr er seinen eigenen Geist loslassen kann, desto reichlicher wird er den Geist Gottes einlassen. Wenn also die Frage gestellt wird, nach welchem Geist die Armen im Geist benannt werden, so scheint die Antwort: „nach dem Geist Gottes“ zutreffender. Dieser macht arm und macht reich! das heißt, er erniedrigt und er erhöht (1 Kön 2,7). Denn jene, die er ärmer macht, macht er zugleich auch reicher, und die er demütigt, erhöht er ebenso, nicht indem er sie nach oben erhebt, sondern indem er sie zum Gipfel der Vollkommenheit führt. 13. Wenn es jemandem jedoch einleuchtender vorkommt, dass man aufgrund eines Mangels arm im Geist (Mt 5,3) genannt wird, als hätte man dann weniger Geist oder wäre gleichsam vom Geist verlassen – nämlich von seinem eigenen Geist oder dem der Welt – wie man Menschen arm an Mitteln nennt, wenn sie keinen Besitz haben, so steht das dieser Lehre freilich nicht entgegen, sondern ergibt in der Auslegung zusammen mit der obigen Aussage fast denselben Sinn. 14.  Dennoch scheint mir die erste Aussage besser, da man üblicherweise in ein und derselben Aussage die Demütigen im Geist und die Armen im Geist nennt. Demütig im Geist werden sie jedoch im Sinn einer Haltung genannt, nicht im Sinn eines Mangels: das heißt, nach dem Geist, den sie haben, nicht nach dem Geist, den sie nicht haben. Dass aber jene, die den Geist Gottes einlassen, ihren Geist loslassen, zeigt der Prophet, der mit folgenden Worten zu Gott spricht: Nimmst du ihnen den Atem, so lassen a 

Vgl. Röm 12,16.

341

258

SERMONES

sie los und werden zu Staub. Sendest du deinen Geist aus, so werden sie alle erschaffen (Ps 103,29-30). 15.  Der Südwind kann seine Aufgabe nicht ausführen, solange der Nordwind nicht zu blasen aufhört. Er kann nicht mit seinem sanften Hauch säuseln, solange der Nordwind andauernd heftig weht. Deswegen steht geschrieben: Nordwind, erwache! Südwind, herbei! (Hld 4,16). 16. Der Geist des Menschen bläht sich auf und schwillt auf drei Weisen an. Ebenso lässt er sich auf drei Weisen los und schwillt ab. Er bläht sich auf durch leeres Urteilen, leeres Hoffen und leeres Begehren: alle drei sind leer. Das Aufgeblähte und Aufgeblasene ist ja leer, und wer sich aufbläht, ist nichtsnutzig und leer. Er ist so voll mit nichts, wie er voll ist mit dem Wind des Hochmutes.

Das leere Urteil 259

17. Auf drei Weisen bläht sich der Mensch mit leeren Urteilen, das heißt mit falschen Urteilen auf. Durch den Hochmut seines Geistes glaubt er sich selbst, wenn er sich bald Falsches über Gott ausdenkt, bald überhebliche Gedanken über sich selbst hegt, bald einen Anlass zu unbegründetem Verdacht oder bösen Gedanken gegen den Nächsten findet. 18.  Was Gott betrifft, ist das falsche Urteil, das einer fällt, höchst gefährlich. Denn das Geheimnisvolle und Heilige an Gott darf nicht in einem unsicheren menschlichen Urteil erörtert werden. Nichts anderes darf man von Gott glauben, als was er selbst in seiner Gnade über sich geoffenbart hat. Er selbst ist ja Zeuge für sich selbst und wollte andere soweit als Mitwisser in seine Geheimnisse einweihen, wie sich das Glaubensbewusstsein ausbreitet, das sich aus dem Zeugnis der Schriften aufbaut, sich auf ihre Aussage stützt und unbeweglich und unerschütterlich gefestigt ist.

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16. Über die selige Armut, 14-22

19.  Die Heilige Schrift ist ja von Gott inspiriert;a in ihr ist uns eine Grundlage für den Glauben vorgelegtb; was man darüber hinaus sucht, ist nicht zu finden. Alles, was sich der Mensch zusammenreimt, was dem treuen Glauben und der vorgelegten Grundlage zuwiderläuft, ist dem Geist der Anmaßung zuzurechnen. Diese Anmaßung oder Aufgeblasenheit des Geistes kann nur die Demut des Glaubens heilen, die alles wegbläst, was der Geist des Hochmutes eingegeben hat, der Gott stets widerspricht und dem auch Gott immer widersteht, indem er den Demütigen seine Gnade schenktc. 20.  Diese Demut des Glaubens aber verlangt ihren ersten Beitrag in der Tugend der Armen im Geist. Sie begegnet den Worten Gottes mit gebührender Ehrfurcht, ihnen glaubt sie und mit ihnen ist sie zufrieden. Wer sie vollkommen besitzt, vertraut nicht sich selbst, sondern vertraut seinen Geist Gott an, damit sein Geist mit Gott vertraut sei (vgl. Ps 77,8). Aber auch Gott vertraut sich ihm an und schenkt ihm, weil er ihm treu ist, Einblick in die Geheimnisse seines Ratschlussesd. So wird der Geist des Menschen vom Geist Gottes durch die eingehauchte Gnade gebildet, sodass er im Glauben an den treuen Gott treu ist. Dieser ist ja treu in all seinen Worten (Ps 144,13). 21.  Und während aus unserem Herzen alle Untreue des Irrtums vom Heiligen Geist entfernt wird und von Gott nichts Falsches oder Unangemessenes geglaubt wird, bezeugt der Heilige Geist selber unserem Geist (Röm 8,16), dass unser Geist in diesem Bereich nichts Eigenes in sich zurückhält, sondern sich verleugnet, auf sich verzichtet und sich loslässt, sodass er kein Urteil sozusagen aus sich selbst über Gott zu fällen wagt. Jedes menschliche Urteil über Gott ist ebenso gläubig, wenn es von Gott stammt, wie es ungläubig ist, wenn es vom Menschen stammt. 22.  Gut ist also das Loslassen des Geistes, wenn er sein Urteil loslässt und bei Gott nichts wagt, wofür ihm der Geist Gottes im Wort Gottes nicht Zeugnis ablegt. Wer arm ist im Geist, spreche Vgl. 2 Tim 3,16. Vgl. 2 Tim 1,13. c  Vgl. Jak 4,6. d  Vgl. Jdt 2,2.

a 

b 

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SERMONES

also, sooft er an Gott denkt und bei diesem Gedanken froh wird: Ich dachte an Gott und freute mich, und mein Geist ließ sich los (Ps 76,4). 23.  Über sich denkt der Mensch dann hochmütig, wenn er das Gute, das er hat oder zu haben scheint, sich selbst zuschreibt. Groß in seinen eigenen Augen meint er in seinem Urteil, mehr zu sein, als er ist, und mehr zu können, als er kann. Ebenso denkt er dann hochmütig über sich, wenn er das Böse, das er erträgt, als unverdient beurteilt, oder das Böse, das er tut, nicht beachtet, entschuldigt oder sogar lobt und für lobenswert hält. 24.  Dem Nächsten gegenüber bläht er sich in einem hochmütigen Urteil auf, wenn er das Böse des Nächsten im Zorn oder aus Zorn schwerer beurteilt oder verurteilt, oder das Gute an ihm aus Neid verkleinert und herabsetzt. 25.  Ebenso, wie die Aufgeblasenheit des Geistes beim Urteil über sich selbst und den Nächsten böse ist, ebenso ist es lobenswert, wenn der Geist diese doppelte Aufgeblasenheit loslässt. Diese Haltung haben alle, die durch die Demut des Geistes Gott gefallen und sich selbst missfallen.

Die Aufgeblasenheit der leeren Hoffnung 26.  Durch leere Hoffnung bläht sich der Geist des Menschen auf, wenn er, allzu überzeugt von seiner Gerechtigkeit, seine Hoffnung in der Erwartung der ewigen Vergeltung über seine Verdienste hinaus ausdehnt. Diese anmaßende Hoffnung in der Erwartung der himmlischen Vergeltung muss der Geist des Menschen loslassen: nicht aufgewühlt von äußerster Verzweiflung noch zitternd in traurigem Kleinmut, sondern indem er die Hoffnung mit Furcht mischt und dadurch mäßigt. Eine Hoffnung ohne Furcht ist nämlich als leere Sicherheit anzusehen, eine Furcht ohne Hoffnung als gefährliche Niedergeschlagenheit. 27.  Wer aber von trauriger Furcht verschlungen wird, sodass er an seinem Heil verzweifelt und meint, der Strafe würdig, der Barmherzigkeit aber unwürdig zu sein, und spricht: Zu groß

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16. Über die selige Armut, 22-29

ist meine Schuld, als dass ich Vergebung verdiene (Gen 4,13), bei dem kann man die Frage stellen, wenn er hochmütig ist, wie sein Hochmut aussieht, der offenkundig den Geist nicht nach oben aufrichtet, sondern durch äußerste Niedergeschlagenheit nach unten zieht. Es macht die Frage noch dringlicher, ob man ihn als stolz bezeichnen soll, da der Anfang jeglicher Sünde der Stolz ist (Sir 10,15), wie geschrieben steht. 28. Bezüglich des Kleinmutes des Geistes erhebt sich eine ähnliche Frage, über die der Prophet sagt: Ich wartete auf ihn, der mich geheilt hat von der Kleinmut des Geistes und vom Sturm (Ps 54,9). Da ja die Verzweiflung oder Kleinmütigkeit des Geistes offenkundig eine verfehlte Demut sind, eine übergroße Niedergeschlagenheit oder übermäßige Niedergedrücktheit, ist es verwunderlich, wenn das, was als Gegenteil der Überheblichkeit scheint, zum Stolz gehören sollte. Oder wenn es nicht dazu gehört, scheint es ebenso verwunderlich, wie man den Stolz als Anfang jeglicher Sünde (Sir 10,15) bezeichnen kann. Da wir jedoch nicht vorhaben, an dieser Stelle Streitfragen zu erörtern, überlassen wir das anderen zur Erforschung, ob eine solche Verzweiflung oder ein solcher Kleinmut des Geistes der Schuld nach oder bloß der Strafe nach Stolz ist. Wir wollen uns nämlich den Armen im Geist zuwenden, zu denen weder die Stolzen gehören, noch die im Geist Kleinmütigen, noch die Verzweifelten – falls die im Geist Kleinmütigen und Verzweifelten von den Stolzen zu unterscheiden sind. 29.  Durch eine nichtige Hoffnung überhebt und bläht sich jeder auf, der auf sich vertraut – das heißt, auf seine Kraft, auf Weisheit, auf Beredsamkeit, auf irdischen Besitz, auf seinen Ruf, seinen Adel, die Gunst der Menschen oder auf irgendetwas anderes – außer allein auf Gott, der allein erretten kann in der Zeit der Nota, der die nicht verlässt, die auf ihn vertrauenb und zu dem der Prophet sagt: Herr der Heerscharen, wohl dem, der dir vertraut! (Ps 83,13). Und ebenso: Herr, du bist meine Hoffnung von Jugend auf (Ps 70,5). Und ebenso: Bei Gott ist meine Hilfe, meine Hoff­ nung ruht in Gott (Ps 61,8). a  b 

Vgl. Sir 40,24. Vgl. Ps 83,13.

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SERMONES

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30.  Die Hoffnung aber, die demütig auf Gott gesetzt wird, lässt nicht zugrunde gehen (Röm 5,5), da Gott die Wahrheit ist und niemanden täuscht. Verflucht ist jedoch der Mann, der auf Menschen vertraut, auf schwaches Fleisch sich stützt (Jer 17,5). Der Mensch will nämlich bisweilen nicht befreien, auch wenn er kann, bisweilen kann er nicht, auch wenn er will. Gott aber kann immer und will auch ebenso immer alle retten, die auf ihn hoffen und nicht auf sich, und die nicht stolz und anmaßend denken, weder über ihn, noch über sich. Der Prophet sagt: Jene, die sich ganz auf ihren Besitz verlassen und sich ihres großen Reichtums rühmen, wird der Bruder nicht retten (Ps 48,7V). Seht, von der Gnade der Erlösung sind alle fern, die auf sich vertrauen und anmaßend über sich denken. 31.  Manche gibt es, die in nichtiger Hoffnung sicher sind, die Sünde auf Sünde häufen und sagen: Die Barmherzigkeit des Herrn ist groß (1 Chr 21,13). Wenn sie sich mit der Barmherzigkeit Gottes schmeicheln und angeblich auf sie ihre Hoffnung setzen, sind sie umso stolzer, je sicherer sie sind. 32.  Die wahre Sicherheit jedoch liegt in der Furcht vor dem Herrn. Diese Furcht macht nämlich eher sicher als ängstlich. Alle, die sie entbehren und sich das Erbarmen Gottes versprechen, betrügen sich selbst, sodass sie von ihrer Erwartung getäuscht werdena. Denn nicht denen, die sorglos sündigen, sondern denen, die Gott fürchten und von der Sünde lassen, wird Erbarmen versprochen. 33. Befragen wir diesbezüglich das Zeugnis der Schriften. Der Prophet sagt: So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch ist sein Erbarmen über denen, die ihn fürchten (Ps 102,11). Und: Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über alle, die ihn fürchten (Ps 102,13). Und an anderer Stelle: Sein Heil ist denen nahe, die ihn fürchten (Ps 84,10). Und die selige Mutter der Barmherzigkeit spricht: Er erbarmt sich von Geschlecht zu Ge­ schlecht über alle, die ihn fürchten (Lk 1,50). 34.  Seht, wie eng die Furcht Gottes und das Erbarmen Gottes miteinander verbunden sind, sodass man ohne die Furcht Gottes a 

Vgl. Ps 118,116.

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16. Über die selige Armut, 30-37

nicht auf das Erbarmen Gottes hoffen darf. Ebenso gefährlich, wie die Furcht ohne Hoffnung ist, da sie zur Verzweiflung führt, ebenso verderblich ist die Hoffnung ohne Furcht, da sie zur Verstocktheit führt. Deswegen steht im Gesetz geschrieben: Man darf nicht anstelle des unteren Mühlsteins den oberen Mühlstein als Pfand nehmen (Dtn 24,6). Der obere Mühlstein nämlich ist die Hoffnung, der untere aber die Furcht. Zwischen ihnen wird gemahlen, was als bekömmliche Speise verzehrt wird. Der eine ohne den anderen aber ist nutzlos. Und wenn der eine für den anderen als Pfand genommen wird, so nützt dieses weder dem, der ihn gibt, noch dem, der ihn empfängt. 35.  Ein Pfand gibt man um der Sicherheit willen, da es sicher macht. Welches aber das rechte Pfand ist, zeigt der Apostel mit den Worten: Gott aber, der uns alle gesalbt hat, er ist es auch, der uns sein Siegel aufgedrückt und als Unterpfand den Geist in unser Herz gegeben hat (2 Kor 1,21-22). Soweit an die Korinther. An die Epheser aber schreibt er Folgendes: Ihr habt das Siegel des verhei­ ßenen Heiligen Geistes empfangen. Er ist das Unterpfand für unser Erbe (Eph 1,13-14). Das Pfand ist somit der Heilige Geist, der uns die wahre Heiligkeit schenkt in einer Mischung von Furcht und heiliger Hoffnung. Denn ohne Furcht ist die Sicherheit leer, ohne Hoffnung aber gibt es keine Sicherheit; in beiden zusammen liegt jedoch die wahre Sicherheit. 36.  So muss die Gottesfurcht die Hoffnung zusammenpressen, damit sie abschwillt und von ihrer Anmaßung lässt, damit sie nicht in ihrer Leere nutzlos ist und sich in ihrer Erwartung täuschta. Die Folge davon ist nämlich, dass sich der Geist des Menschen betend und hoffend auf Gott einlässt, sodass er die vermessene Hoffnung auf sich in sich loslässt und mit dem Propheten sprechen kann: Mit lauter Stimme schrei’ ich zum Herrn, laut flehe ich zum Herrn. Ich schütte vor ihm mein Gebet aus, eröffne ihm meine Not, indem sich mein Geist loslässt. Und ebenso: Herr, erhö­ re mich bald, denn ich ließ meinen Geist los (Ps 142,7). 37.  Ein Aufschub der Erhörung wird Gott nicht eingeräumt, sondern die baldige Erhörung verlangt, wenn sich der Geist des a 

Vgl. Ps 118,116.

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Menschen in Gottesfurcht losgelassen hat und gar nicht auf sich hofft, nicht auf seine Kraft, nicht auf seine Weisheit, nicht auf seine Kunst oder Schlauheit, nicht auf irgendeine ihm eigene Fähigkeit, sondern allein auf Gott und auf das, was Gott gehört, weil es Gott gehört. 38.  So müssen wir auf das Gute in uns, weil es von Gott stammt – nämlich auf Glaube und Werke der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit – so unsere Hoffnung setzen nach Gott, dass unsere ganze Zuversicht von uns weggezogen – auch wenn das Gute in uns ist – und auf ihn hingelenkt wird, dem das Gute gehört. Denn wer wegen des Guten, das Gott gehört, die Hoffnung, die Gott gebührt, an sich zieht, tut Gott Unrecht. Und da man gewöhnlich den um Hilfe anruft, bei dem man sie erhofft, ruft der, der von sich selbst Hilfe erhofft, eher sich selbst an als Gott. Deswegen kann ein solcher noch nicht sprechen: Herr, erhöre mich bald, denn ich ließ meinen Geist los (Ps 142,7).

Die leere Aufgeblasenheit der Begierde

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39.  Durch die leere Begierde schwillt die Seele auf doppelte Weise an: Durch die Liebe, das zu benützen oder zu haben, was sie besitzt, oder durch das Verlangen, das zu besitzen, was sie nicht hat. Das Verlangen selbst ist schon eine gewisse Liebea. Denn verlangen ist in gewissem Sinn dasselbe wie lieben. Die Begierde aber ist die Liebe zur Welt, wie die reine Liebeb Liebe zu Gott ist. Die Begierde sucht, was ihr, nicht, was Jesus Christus dient (vgl. 1 Kor 13,5)c. Und sie sucht es auf folgende Weise: bald durch Liebe zu irdischem Besitz, bald durch Liebe zu vergänglicher und schlüpfriger Lust, bald durch Liebe zum Herrschen, bald durch Liebe zum Ehrgeiz, bald durch Liebe zur Bewunderung, Bevorzugung und zum Lob. Das ist es, was die Begierde im Gegensatz zu Gott stolz

Vgl. Bernhard von Clairvaux, Brief 18, 2 (BCSW II, 375). Lat: „caritas“. Für sie gibt es leider kein entsprechendes deutsches Wort. c  Vgl. Bernhard von Clairvaux, Sentenz 3, 76 (BCSW IV, 488f). a 

b 

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16. Über die selige Armut, 37-43

und unersättlich sucht. Das ist es auch, worauf die reine Liebe um Gottes willen edel und sozusagen auf ihre Weise stolz verzichtet. 40.  Die Liebe nämlich, wenn man so sagen darf, hat ihren Stolz, mit dem sie dem Stolz selbst und allem, was Gott gegenüber stolz ist, edle Verachtung schenkt. Daher wurde zu den Aposteln gesagt: Was die Völker besitzen, werdet ihr genießen, mit ihrem Reichtum könnt ihr euch brüsten (Jes 61,6). 41.  Gott wegen verächtlicher Dinge zu verachten und das Verächtliche mehr zu lieben als Gott – das ist gemeiner Stolz. Man sollte sich seiner schämen! Den Ruhm der Welt aber um Gottes willen zu verachten, das ist edler Stolz. Edler noch ist er jedoch, wenn die Beschämung selbst um Christi willen schamlos verachtet wird, der angesichts der vor ihm liegenden Freude das Kreuz auf sich genommen und die Beschämung verachtet hat (Hebr 12,2). 42.  Besser ist es, die Würden und Ehren in dieser Welt zu verschmähen als das Kreuz Christi, als die Armut Christi, als die Demut Christi. Wer sich meiner und meiner Worte schämt, sagt er, dessen wird sich der Menschensohn schämen, wenn er in seiner Hoheit kommt und in der Hoheit des Vaters und der heiligen En­ gel (Lk 9,26). Der Sklave ist nicht größer als sein Herr (Joh 13,16). Wofür sich Christus um unseretwillen nicht geschämt hat, dafür dürfen auch wir uns um Christi willen nicht schämena. Wer sich aus Scham von der Nachahmung und Nachfolge der Demut Christi abschrecken lässt, hat noch nichts von seinem Geist. Leer ist nämlich eine solche Scham, und je mehr sie sich von der Demut zurückzieht, desto mehr zieht es sie zum Stolz hin. 43.  Die heilige Armut verdient mehr Hochschätzung wegen der Demut der Gesinnung als wegen der Knappheit des Eigentums. Arm im Geist (Mt 5,3) sind eher die zu nennen, die keine hochfahrende Gesinnung, als jene, die nur wenig Geld haben. Denn alle, die hochmütig sinnen und hochmütig denken, gehören, auch wenn sie materiell arm sind, weniger zu den Armen im Geist als jene, die so besitzen, als besäßen sie nichtb. Die heilige Armut verachtet daher die Welt und was zur Welt gehört, vera  b 

Vgl. Röm 1,16. Vgl. 1 Kor 7,30

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SERMONES

265

zichtet auf das, was sie hatte, haben sollte und die Gier, etwas zu haben, und hält sich zurück von jeder Anmaßung des Geistes. Auf diese Weise ist sie Gott wohlgefällig, sodass er spricht: Selig die Armen im Geist, den ihnen gehört das Himmelreich (Mt 5,3). 44.  Sie ist Gott so liebenswert und kostbar, dass jeder, der arm ist, sich rühmen kann, Gott sorge für ihna. Er kann sprechen: Ich bin arm und gebeugt; der Herr aber sorgt für mich (Ps 39,18). Wenn alle Ehren der Reichen herangezogen würden, was kann dann dieser Ehre gleichkommen? Welcher Reiche würde es wagen, anmaßend zu sprechen: Ich bin satt und reich. Der Herr sorgt für mich! (ebd.)? Der Reiche genügt sich selber, und er scheint für sich nichts zu brauchen, sodass der Herr für ihn Sorge tragen müsste. 45.  Das Wort und der Ruhm eines Armen ist also: Der Herr sorgt für mich (ebd.). Das Wort und der Ruhm des Armen ist: Wende dein Ohr mir zu, erhöre mich, Herr! Denn ich bin arm und gebeugt (Ps 85,1). Falls irgendein Armer vor einen sehr reichen und sehr mächtigen Mann hintritt und sagt: Wende dein Ohr mir zu, erhöre mich (ebd.), welcher der Umstehenden würde das mit Geduld ertragen? Wird er etwa nicht von allen hinausgetrieben und hinausgepfiffen? Wird ihn etwa nicht der Reiche selber mit stolzem Blick übersehen und auf ihn herabsehen? Wird er etwa nicht befehlen, ihn schmählich aus dem Haus hinauszuwerfen und hinauszudrängen? Wer würde es wagen, zu seinem Herrn zu sprechen: Neige dein Ohr mir zu! (ebd.)? Wer würde das beim Herrn der Herren (Offb 19,16) wagen? Wer anderer als ein Armer, ein Armer im Geist? Sein Ausspruch lautet nämlich: Herr, erfreue deinen Knecht; denn ich erhebe meine Seele zu dir (Ps 85,4). Hätte er Geschmack an den Gütern der Erde und nicht an denen droben, könnte er nicht sagen: Herr, ich erhebe meine Seele zu dir (ebd.). 46.  Die Armen im Geist (Mt 5,3) also, die in der Tiefe ihr Herz nicht erniedrigen, sondern nach dem Himmlischen strebenb, seufzen und lechzen: diese erheben ihre Seele zu Gott. Dort

a  b 

Vgl. Ps 39,18. Vgl. Kol 3,2.

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16. Über die selige Armut, 43-49

ist ihr Leben mit Christus verborgen in Gotta. Dort sind ihr Auge und ihre Liebe, dort ihr Herz und ihr Schatzb. 47.  Wie selig ist die Armut, die nicht nur im Himmelreich, sondern mit dem Himmelreich selber zu belohnen ist! Wie selig ist die Armut, zwar verachtenswert vor der Welt, vor Gott aber trotzdem ehrenwert! Er erbarmt sich des Gebeugten und Schwa­ chen, er rettet das Leben der Armen. Ihr Name ist in seinen Augen kostbar (Ps 71,13-14). 48.  Wie unselig ist der Reichtum, der gegen immerwährende Not eingetauscht wird! Wie elend ist die Seligkeit, die mit ewiger Bedrängnis aufgewogen wird! Der in der Unterwelt bestattete Reiche und der im Schoße Abrahams ruhende Armec – sie unterscheiden die Sache des Armen und des Reichen mit einer sicheren Beschreibung. Der Reiche wird gequält, er brennt und dürstet und empfängt vom Armen keinen Trost, weil er dem Armen keinen Trost gewährt und weil er das Gute schon in diesem seinem Leben empfangen hat. 49. Doch brauchen die Reichen nicht zu verzweifeln: Sie sollen darauf achten, dass Abraham reich ward, in dessen Schoß Lazarus ruhte. Sie sollen so auf Abraham achten, dass sie den Reichtum so besitzen wie Abraham. Sie sollen besitzen aus gerechten Gründen; sie sollen besitzen für den erlaubten Gebrauch; sie sollen besitzen, um liebenswürdige Gastfreundschaft zu üben wie Abrahame. Schließlich sollen sie besitzen, nicht um es für sich zurückzuhalten, sondern um es mit den Armen zu teilen, von denen sie dann in die ewigen Wohnungen aufgenommen werden sollen (Lk 16,9). Das Heil der Reichen ist nämlich der Ruhm der Armen. Selig sind nämlich, die im Geist arm sind; denn ihnen ge­ hört das Himmelreich (Mt 5,3).

Vgl. Kol 3,3. Vgl. Mt 6,21; vgl. auch Balduin von Ford, Sermo 1, 48 und Sermo 12, 14. c  Vgl. Lk 16,22-25. d  Vgl. Gen 13,2. e  Vgl. Gen 18,1-8. a 

b 

351

266

Sermo 17 Traktat IX/iii Anlässe zum Trauern

Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden (Mt 5,4).

1.  Die Weisheit Gottes und die Weisheit dieser Welt kommen bei der Einschätzung der Dinge zu verschiedenen Urteilen, und sie wägen die Gewichtigkeit der Dinge nicht mit dem Gewicht einer einzigen Waagea. Die Weisheit der Welt schätzt nämlich das als groß, was die Weisheit Gottes als ablehnens- und verachtenswert beurteilt. Auch verwirft die Weisheit der Welt in ihrem Urteil, was die Weisheit Gottes für kostbar und groß hält. 2.  Gottes Weisheit sagt: Selig die Armen im Geist, denn ih­ nen gehört das Himmelreich (Mt 5,3). Die Weisheit der Welt sagt: „Selig die Reichen, denn sie herrschen jetzt auf der Erde.“ Die Weisheit Gottes sagt: Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land besitzen (Mt 5,5). Die Weisheit der Welt sagt: „Selig die Krieger und Gewalttätigen, denn sie werden das Land besitzen.“ Die Weisheit Gottes sagt: Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden (Mt 5,4). Die Weisheit der Welt sagt: „Selig die Lachenden, denn sie werden jetzt schon getröstet.“ Die Weisheit der Welt billigt, lobt und liebt Reichtum, Lachen und Freude des gegenwärtigen Lebens, weil sie in der Gegenwart Trost bringen; Armut und Trauer hasst und verurteilt sie, weil sie in der a 

Vgl. Weish 11,23.

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SERMONES

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Gegenwart Trostlosigkeit hervorrufen. Gottes Weisheit beurteilt die Freuden der gegenwärtigen Welt als leer und schädlich, ja als Brutstätte der Laster und Hindernisse für das Heil; Armut und Trauer jedoch empfiehlt und liebt sie als Läuterung von den Lastern und Vorbereitung auf die nie endende Seligkeit. 3.  Die Weisheit Gottes und die Weisheit der Welt bekämpfen einander in ihren Urteilen so, dass sie sich gegenseitig verurteilen und voneinander verurteilt werden. Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott (1 Kor 3,19). Die Weisheit Gottes ist ebenfalls Torheit vor der Welt. Das Wort vom Kreuz ist nämlich denen, die verlorengehen, Torheit (1 Kor 1,18). Das Wort über Armut und Trauer aber ist in gewisser Weise ein Wort vom Kreuz (ebd.). Denn Armut und Trauer sind gewissermaßen ein Kreuz. 4. Die Weisheit Gottes wurde jedoch von ihren Kindern gerechtfertigt, von den Kindern des Lichtesa. Die Kinder dieser Welt sind – allerdings im Umgang mit Ihresgleichen – klüger als die Kinder des Lichtes (Lk 16,8). Deshalb halten die Kinder dieser Welt und die Kinder des Lichtes sich gegenseitig für dumm und verrückt. Die ersten richten ihre Aufmerksamkeit auf leere und unvernünftige Irrtümer (Ps 39,5), die zweiten lieben die Torheit der Verkündigung, durch die Gott die Glaubenden zu retten beschloss (1 Kor 1,21), als das Licht, das der irdisch gesinnte Mensch nicht fassen kann (1 Kor 2,14). Torheit ist es für ihn, und er kann es nicht verstehen (ebd.). 5.  Dieser Streit zwischen der Weisheit Gottes und derjenigen dieser Welt erschüttert in den Herzen vieler die Grundlagen ihres Glaubens. Er wird so stark, dass er, wenn es möglich wäre, sogar die Auserwählten irreführen würdeb. Daher spricht einer der Gerechten: Ich aber – fast wären meine Füße gestrauchelt, beinahe wäre ich gefallen. Denn ich habe mich über die Prahler ereifert, als ich sah, dass es diesen Frevlern so gut ging (Ps 72,2-3). Doch als er begriff, wie sie enden (Ps 72,17), staunte er und sprach: Sie wurden verstört, wurden plötzlich zunichte, und gingen wegen ihrer Unge­ rechtigkeit zugrunde (Ps 72,19). a  b 

Vgl. Lk 7,35. Vgl. Mt 24,24.

354

17. Anlässe zum Trauern, 2-9

6.  Nach dem Urteil Salomos wird das Lachen verurteilt, und die Trauer dem Festmahl vorgezogen. Über das Lachen sagte ich: Wie verblendet! Über die Freude: Was lässt du dich sinnlos täu­ schen? (Koh 2,2). Und weiter: Besser der Gang in ein Haus, wo man trauert, als der Gang in ein Haus, wo man trinkt (Koh 7,2). Soweit Salomo. Hier aber ist einer, der mehr ist als Salomo (Mt 12,42). Dieser spricht: Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet wer­ den (Mt 5,5). 7.  Trauer und Trauer, sinnlose Leere und Glaube sind aber zu unterscheiden. Es gibt solche, die über Dinge trauern, die gar nicht zu betrauern sind, darum muss man über sie selber trauern, weil sie über leere Dinge trauern, wie sie auch über leere Dinge lachen. Und es gibt solche, die gläubig und heilsam trauern. Sie werden selig sein, denn sie trauern so, wie der Herr selbst es seinen Jüngern sagt mit den Worten: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet be­ kümmert sein, aber euer Kummer wird sich in Freude verwandeln (Joh 16,20). Und der Psalmist spricht: Sie gehen hin unter Tränen und tragen den Samen zur Aussaat. Sie kommen wieder mit Jubel und bringen ihre Garben ein (Ps 125,6). Mit dieser gläubigen Trauer werden unsere Saaten gleichsam mit dem Regen himmlischer Gnade besprengt, um bewässert reichlicher aufzusprießen für die Ernte. Das ist der Regen in Fülle, mit dem Gott sein verschmachtendes Erbland erquicktea. 8.  In diesem Tal der Tränen (Ps 83,7), in dem wir geboren wurden, steht uns reichlich Anlass zur Trauer zur Verfügung. Hier ist alles, was uns widerfährt, sei es außerhalb von uns oder in uns, kaum anderes als Anlass zum Trauern. So sind wir ganz elend: Im Elend geboren, nur im Elend bisher erzogen, um von nun an im Elend zu leben und schließlich im Elend zu sterben. Innerlich sind wir voll Elend, äußerlich von Elend umgeben. Daher sagt jemand: Meine Seele ist gesättigt mit Übeln! (Ps 87,4) und: Übel ohne Zahl umfangen mich (Ps 39,13). 9.  Was können wir unter diesen Übeln anderes tun als seufzen, klagen, trauern und die Übel bedauern, die wir ohne Untera 

Vgl.Ps 67,10.

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SERMONES

lass fühlen, und uns nach dem Guten sehnen, das wir noch nicht fühlen? Oder wenn wir vielleicht ein bisschen etwas Gutes fühlen, so mahnt uns auch das an unser Elend, weil wir es nur selten, weil wir es nur wenig und weil wir es nicht vollkommen fühlen. Woher stammt dieses unser Elend, das so vielfältig, so groß ist, wenn nicht daher, dass wir zusammen mit unsern Vätern gesün­ digt, Unrecht getan und gefrevelt haben? (Ps 105,6). Unsere Wege und unsere Sünden haben uns das nämlich angetan.

Der erste Grund für die Trauer

272

10.  Der erste Grund zum Trauern besteht im Bösen, auf das wir uns eingelassen, und im Guten, das wir unterlassen haben. Das Böse, auf das wir uns eingelassen haben: wer könnte es zählen? Zahlreicher ist es – heißt es – als die Haare auf meinem Kopf (Ps 39,13). Das Gute, das wir verloren haben, wer könnte es ebenfalls zählen? Ich sinne nach über die Tage von einst, sagt ein Beter, ich dachte an die ewigen Jahre (Ps 76,6). Denn wir haben die einen und die anderen verloren, nämlich die Tage von einst, als Adam gut und glücklich geschaffen wurde, sodass es möglich war, dass er nicht sterben müsste, und die ewigen Jahre, mit denen er beschenkt werden sollte, wenn er nicht gesündigt hätte, sodass es unmöglich gewesen wäre, dass er sterben müsstea. Das, ja das waren wir in Adam! Wir aber, wie viel Gutes haben wir in uns für uns ergriffen? Wie viel Gutes konnten wir tun, und wir haben es nicht getan? Wie viele Zeitabschnitte haben wir nutzlos verstreichen lassen? Wie zahllos sind die Tage, die vorbeigezogen sind, während wir böse oder untätig waren, und die uns haltlos in ihrem Ablauf mitgerissen haben? 11.  Wo seid ihr, Wasserquellenb? Wo seid ihr jetzt, ihr Tränenquellen, damit ich die Verluste meines Lebens und ebenso den Verlust meiner Unschuld betrauern kann? Öffnet euch über mir, ihr Schleusen des Himmels (Gen 7,11), strömt herab, alle Quellen a  b 

Vgl. Augustinus, De correptione et gratia XII, 33 (PL 44, 936) u.a. Vgl. Ex 15,27; Num 33,9.

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17. Anlässe zum Trauern, 9-13

der gewaltigen Urflut (ebd.), eine große Sintflut überschwemme das Land meines Herzens, damit seine Bewohner zugrunde gehen, denn all mein Trachten ist böse von Jugend ana. Darum schwan­ den meine Tage in ihrer Leere und meine Jahre vergingen voll Eile (Ps 77,33). Und wer wird mich trösten? Nur einer, der traurig ist wie ich, einer, der auch selbst Reue empfindet und spricht: Ich pla­ ge mich mit Seufzen ab (Ps 6,7). 12.  Denn würde ich mich über das, was in der Welt ist, freuen, spielen und lachen und mich zu leeren Erfolgen beglückwünschen, würde ich das tun, um nicht zu seufzen und zu leiden, wie ich es nun erfahren und gelernt habe, dann würde ich mich tatsächlich mit Seufzen abplagen (ebd.). Wenn die Toren nämlich etwas anscheinend Nützliches planen, suchen sie etwas, das ihnen schadet. Während sie über die übelsten Dinge frohlockenb, plagen sie sich mit ihrem Seufzen ab: nicht in der Absicht, aber im Ergebnis; nicht im Denken, aber in der Einschätzung. Denn was für Plage und Seufzen eingetauscht werden soll, das ist in der wahren Einschätzung das, was es wert ist. Es ist nämlich wahrhaft das, was es für die ist, denen es schädlich ist. Zu spät kommt nämlich das Wort deren, die zu spät seufzen: Bis zum Überdruss gingen wir die Pfade des Unrechts und des Verderbens und wanderten auf mühsamen Wegen (Weish 5,7). 13.  Das Sprichwort sagt: Das Stöhnen der Gebärenden war vor einem Jahr ein Lachen. Als ich also dort ging, wo ich wollte, und etwas tat, was zum Seufzen führen sollte, zwar nicht, um zu seufzen, sondern viel eher, um nicht zu seufzen: wehe mir: Ich plagte mich ab mit Seufzen (Ps 6,7). Denn was ich dachte und was ich wollte, das ist eine Qual für mich (Ps 72,16). Damals habe ich Schmerz empfangen und Ungerechtigkeit zur Welt gebrachtc. Darum benetzen Tränen mein Krankenbett (Ps 6,7 und 40,4), in dem ich leidend und unrein daniederlag, unrein wie eine gebärende Frau.

Vgl. Gen 8,21. Vgl. Spr 2,14. c  Vgl. Ps 7,15. a 

b 

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SERMONES

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14.  Das Krankenbett ist das schwache Fleisch, die böse Lust, das schlechte Gewissen, das ich mit Tränen benetzen muss – für jede Sünde extra – im einsamen Schweigen der Nacht, wo Gott das Verborgene sieht (Mt 6,6). Und da ich ein gespaltenes Gewissen in mir trage – einerseits das Böse, das ich getan habe, anderseits das Gute, das ich nicht getan habe und das Gute, falls ich es irgendwo getan habe –, benetze ich das Bett meines Gewissens, wo ich krank und leidend bin; den Teil des Gewissens, wo ich es mir als Ruhestätte ausgebreitet habe, will ich mit meinen Tränen tränken. Ich werde die Fehler meines Lebens abwaschen, die Unfruchtbarkeit meiner Seele tränken, – vielleicht beginnt sie wie bewässerter Sand zu treiben. Denn meine Unschuld im Bereich des Bösen, das ich nicht getan habe, und mein Gewissen im Bereich des Guten, das ich getan habe – beide sind für mich unfruchtbar geworden durch das Böse, das ich getan habe. Wo ich mich hinlege, wo ich ruhen will, dort finde ich Anlass zum Trauern und Grund für Tränen. 15.  Denn durch das, was mich verdorben hat, habe ich auch das verdorben, durch das ich noch nicht verdorben war. Was sage ich: wo ich nicht verdorben war? Wo bin ich denn unverdorben? Denn das Unverdorbene in mir schätze ich bisweilen so ein, dass ich dadurch noch mehr verdorben werde. Wenn ich so denke, sage ich zu mir selbst: „Ich bin nicht wie die anderen Menschen (Lk 18,11). Ich bin nicht wie dieser oder jener, denn ich bin so und er nicht.“ Und wenn ich so allzu überheblich über mich urteile, bin ich oft unsicher, ob ich mehr über das Unverdorbene in mir trauern soll, das mich so hoch erhebt, oder über meine Sünden, die mich bei genauerem Nachdenken demütigen.

Der zweite Grund für die Trauer 16.  Wenn ich über die Sünden trauere und aus dem Heilmittel der Umkehr Trost suche, bleibt noch ein anderer Grund zum Trauern über die Versuchungen, die ich an mich herangelassen, wenn auch nicht eingelassen habe: von allen Seiten umlagern und

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17. Anlässe zum Trauern, 14-18

umringen sie mich, sodass kein Ausweg zu sehen ist. Denn tausend Versuchungen stehen in mir auf: die einen über mir, andere in oder unter mir, wieder andere rund um mich, und alle sind gegen mich. Wenn die eine nachlässt, so ergreift mich bald eine andere; wenn eine abzieht, so zieht eine andere heran,– und es gibt keinen Frieden für meinen Geist in ihrer Mitte. Denn was ich sehe, was ich höre, was ich tue, was ich denke, was ich will, was ich nicht will, was mir gefällt, was mir missfällt, ja alles, was ich erlebe, ist für mich eine Versuchung, wie geschrieben steht: Eine Versuchung ist das Leben des Menschen auf Erden (Ijob 7,1V)a. 17.  Mitten unter diesen Versuchungen, so zahlreich, so beschwerlich und ungelegen, so verworren und unentwirrbar, von denen ich mich nicht befreien kann, bin ich oft des Lebens selbst überdrüssig. Und wenn ich Trost suche, finde ich ihn eher in der Schwäche der Heiligen als in der eigenen Kraft. Ich höre nämlich, dass Paulus inmitten der Versuchungen so in die Enge getrieben war, dass es ihn auszurufen drängte: Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten? (Röm 7,24). 18. Welch großer Trost ist durch Gottes Fügung unserer Schwäche zugedacht! Denn die Schwächen der Heiligen stärken uns bisweilen mehr als ihre Tugenden. Die Tugenden entzünden die Sehnsucht, die Schwächen richten die Hoffnung auf. Wenn Paulus, zu dem gesagt wurde: Die Kraft findet in der Schwachheit ihre Vollendung (2 Kor 12,9), selbst über sich sagen kann: Wenn ich schwach bin, dann bin ich umso stärker (2 Kor 12,10), kann auch ich sagen: Wenn Paulus schwach ist, dann bin ich umso stär­ ker (ebd.). Die Schwäche des Paulus hilft mir also vor mir selbst: Möge mir seine Kraft vor Gott helfen, dass er mich der Versuchung entreißtb, mein Leben dem Tod, mein Auge den Tränen und meinen Fuß vor dem Gleiten bewahrt (Ps 114,8).

a  b 

Vgl. Hieronymus, Dialogus aduersus Pelagianos II, 4 (CCSL 80, 58). Vgl. Ps 17,30.

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274

SERMONES

Der dritte Grund für die Trauer

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19. Außer den Übeln, die unser Leben beflecken, und den Übeln, die uns in Versuchung führen, schuldig zu werden, bedrängen uns noch andere, die von der Schuld reinigen. Andere: Das kann ich wohl zu Recht sagen, denn anders sind gewisse Arten von Versuchungen, denen wir Widerstand leisten, indem wir unsere Zustimmung verweigern, und wieder anders gewisse Arten von Leiden und Bedrängnissen, durch die wir im Ertragen erprobt werden. Und wenn wir auch häufig bei denselben Dingen versucht werden, schuldig zu werden, und erprobt werden durch die Strafe, so ist es dennoch etwas anderes, was wir in der Versuchung fürchten, und etwas anderes, was wir in der Bedrängnis erleiden. Bei den ersten gehört die Schuld zur Sache, bei den zweiten die Strafe. 20.  Doch haben auch jene Übel, von denen wir bedrängt werden, ihren Überdruss und ihre Tränen. Das bezeugt Elija, der sich in den Schatten eines Ginsterstrauches warf und seiner Seele den Tod wünschte mit den Worten: Nun reicht es mir. Nimm mein Leben (3 Kön 19,4). Das bezeugt auch Paulus, der selbst sagt: Wir wurden über alles Maß bedrückt, sodass uns sogar das Leben an­ ekelte (2 Kor 1,8). Das bezeugt auch Jona, der sagt: Ich bin zornig und wünsche mir den Tod (Jona 4,9). Das sei zum Überdruss gesagt. Denn das Seufzen und die Tränen bestätigt der Ausspruch: Die gesamte Schöpfung seufzt bis zum heutigen Tag und liegt in Geburtswehen. Doch nicht nur sie, sondern auch wir, die wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen (Röm 8,22-23). Und der Psalmist sagt: Unter der Wucht deiner Hand vergehe ich. Du strafst und züchtigst den Mann wegen seiner Schuld (Ps 38,11-12). Und bezüglich der Tränen fügt er hinzu: Höre mein Gebet, Herr, vernimm mein Schreien, schweig nicht zu meinen Trä­ nen! (Ps 38,13). 21.  Wenn aber diese Tränen Anteil aller Gerechten sind, inwiefern bedeutet es dann keinen Widerspruch dazu: Sie gingen weg vom Hohen Rat und freuten sich, dass sie gewürdigt worden waren, für den Namen Jesu Schmach zu erleiden (Apg 5,41), und dass Paulus sagt: Seid fröhlich in der Bedrängnis (vgl. Röm 12,12),

360

17. Anlässe zum Trauern, 19-23

und dass Jakobus sagt: Seid voll Freude, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Versuchungen geratet (Jak 1,2)? Ja, die Schwachen leiden in der Bedrängnis, die Vollkommenen aber freuen sich sogar über die Bedrängnisse, was Zeichen der Tugend ist, und trotzdem leiden sie, was Zeichen der Schwäche ist. Keineswegs fehlt nämlich bei den Vollkommenen die Schwäche. Ihre Kraft kommt nämlich in der Schwachheit zur Vollendung (2 Kor 12,9). 22.  Ich staune, wie Gott seine Heiligen wegen ihrer Schwäche stärkt und wegen ihrer Tugend demütigt. Daher spricht ein Gerechter: Staub musste ich essen wie Brot, mit Tränen mischte ich meinen Trank (Ps 101,10), als wollte er sagen: Die Erinnerung an meine Schwäche und meinen Zustand, der Gedanke, dass ich Staub und Asche bin, wird mir zum Brot, ist meine Erquickung, stärkt und kräftigt mich. Und der Becher der geistlichen Freude, der mich froh macht, ist nicht ohne Bitterkeit, denn die Freude wird durch den Schmerz gemäßigt. Gäbe es jedoch Tugend ohne Schwäche, dann gäbe es auch Freude ohne Trauer. Nun aber nützt sogar die Schwäche zur Tugend, – das bedeutet das Wort: Staub musste ich essen wie Brot (ebd.). Die Tugend aber wird durch die Schwäche gedemütigt, – das bedeutet das Wort: Mit Tränen mi­ sche ich meinen Trank (ebd.). So, ja so muss es sein. Denn ein wenig Wein brauchen wir wegen unserer häufigen Schwächea; doch würde der Wein nicht maßvoll gegeben, wer würde dann nicht betrunken? Wer hätte nicht Kopfweh? Wen würde nicht der Geist des Schwindels erfassen, den Gott mitten in Ägypten ausgossb? Daher ist es zuträglich, dass der Becher mit Tränen gemischt ist, damit die Freude durch Trauer gemäßigt und die Tugend in der Schwäche gedemütigt wird.

Der vierte Grund für die Trauer 23.  Wenn aber das, was uns jetzt bedrängt, so schwer ist, dass es uns Tränen herauspresst, wie viel mehr sollte uns dann das a  b 

Vgl. 1 Tim 5,23. Vgl. Jes 19,14.

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SERMONES

in Tränen ausbrechen lassen, was uns in der Zukunft schreckt! Das ist nämlich ewig, das erste vergänglich. Das erste ist kaum, aber doch wenigstens einigermaßen erträglich, das zweite ganz und gar unerträglich. Wer von uns hält es nämlich aus neben dem verzehrenden Feuer, oder wer von uns hält es aus neben der ewi­ gen Glut? (Jes 33,14). Was ist dann erstaunlich, wenn diese Furcht ihre Trauer hat? Wer ist denn weise und sehnt sich nicht danach, mit Tränen das unauslöschliche Feuer zu löschen? Über mich fuhr die Glut deines Zorns dahin (Ps 87,17), sagt der Gerechte. Das bezieht sich auf die vergängliche Strafe, die uns jetzt bedrängt, und deine Schrecken haben mich in Verwirrung gestürzt (ebd.). Das bezieht sich auf die ewige Strafe, die noch viel mehr schreckt. Und der selige Ijob spricht: Die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir, mein Geist hat ihr Gift getrunken, Schrecken stellen sich gegen mich (Ijob 6,4). Wenn er sagt: Die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir (ebd.), so heißt das: Über mich fuhr die Glut deines Zorns dahin (Ps 87,17). Und wenn er sagt: Schrecken stellen sich gegen mich (Ijob 6,4), so heißt das: Deine Schrecken haben mich in Verwirrung ge­ stürzt (Ps 87,17). 24. Auf diesen Grund zum Trauern spielt der Prophet an mit den Worten: Mit Tränen mischte ich meinen Trank; denn auf mir lasteten dein Zorn und dein Grimm. Du hast mich erhoben und zu Boden geschleudert (Ps 101,10-11). Sieh, was dieses Erhöhen und zu Boden Schleudern bedeutet: Der nach dem Bild Gottes gottähnlich geschaffene Menscha ist mit Verstand ausgerüstet und kann deshalb Anteil an der Seligkeit haben. Das ist die Erhöhung. Doch da er gerettet werden kann, kann er auch verdammt werden. Das ist das Zu-Boden-Schleudern. Die niederen Lebewesen dagegen können nicht gerettet und daher auch nicht verdammt werden. Sie sind auch nicht gehalten, Rechenschaft abzulegen, da sie nicht dazu geboren sind, um Verstand zu haben. 25.  Diese vier Gründe zur Trauer – der erste aus Furcht über die Sünden, die wir begangen haben, der zweite wegen der Gefährdung durch Versuchungen, die wir erleiden, der dritte wegen der Schwere der Leiden, durch die wir nun bedrängt werden, der a 

Vgl. Gen 1,26.

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17. Anlässe zum Trauern, 23-26

vierte wegen des Verdammungsurteils, von dem wir in Schrecken versetzt werden – werden uns vom Propheten, jedoch in anderer Reihenfolge, aufgezählt. Mich umfingen, sagt er, die Schmerzen des Todes, mich erschreckten die Sturzbäche der Ungerechtigkeit. Die Schmerzen der Unterwelt umstrickten mich, über mich fielen die Schlingen des Todes (Ps 17,5-6). Die Schmerzen des Todes sind die Schmerzen im Tod und vor dem Tod, die den Tod ohne Unterlass beschleunigen und ihn als Vorboten des Todes unablässig ankündigen. Das Todesurteil tragen wir nämlich in unsa. Die Sturzbäche der Ungerechtigkeit sind die überschwemmenden Fluten der Sünden, die eben wie Sturzbäche immer nach unten stürzen und uns mit sich reißen. Die Schmerzen der Unterwelt – was das ist, ist schon durch den Namen selbst klar. Die Schlingen des Todes sind die Versuchungen, die der Versucher wie ein Vogelfänger oder Jäger bereitlegt, um die Seelen zu fangen. 26b. Sie sind vier Messgefäße oder vier Wasserkrüge. Fügt man zu ihnen noch zwei hinzu, so ergibt das sechs Wasserkrüge. Sie sind aus Stein, und jeder von ihnen fasst zwei bis drei Metretenc, wie es der Reinigungsvorschrift der Juden entsprichtd. Die Juden sind nämlich jene, die bußfertig sind und ein Bekenntnis ablegen, die sich durch ihre Tränen reinigen und denen in ihren Tränen ein Maß Getränk gereicht wird (Ps 79,6). Und da uns zeitliche oder ewige Strafen zugemessen und Anlass zur Trauer werden müssen wegen der Versuchungen, die wir an uns herangelassen, und der Sünden, auf die wir uns eingelassen haben, die wir in Willen und Werk begangen haben, manchmal sogar aus Gewohnheit, deshalb fassen diese Wasserkrüge zwei oder drei Metreten. Und wenn jemand bloß im Willen sündigen sollte und von Reue ergriffen sich dadurch zur Trauer veranlassen lässt, so fehlen auch hier die zwei oder drei Metreten keineswegs. Denn wenn das auf die Begierde, die Zustimmung und die Freude an der Zustimmung angewendet wird, so ergibt sich die eine oder die andere Zahl. Vgl. 2 Kor 1,9. Zum ganzen Abschnitt vgl. Richard von St. Viktor, Liber exceptionum II, xi, 2 – J. Châtillon (Paris 1958), 441. c  Jüdisches Maß, das etwa 50 Litern entspricht. Vgl. Joh 2,6. d  Vgl. Joh 2,6. a 

b 

363

277

SERMONES

27. Aus Stein aber sind sie wegen der Härte des noch steinernen Herzens oder wegen der Schwäche des Vorsatzes zur Besserung, den jene brauchen, die in gottgefälliger Weise trauern. Denn über die Härte des Herzens wird vom Herrn durch den Propheten gesagt: Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust (Ez 36,26). Über die Festigkeit des Geistes aber heißt es: Ich mache mein Gesicht hart wie einen Kiesel (Jes 50,7).

Der fünfte und sechste Grund für die Trauer

278

28.  Unsere Tränen, die aus den vorhin genannten vier Gründen fließen, sind für uns immer bitter oder wie herb schmeckendes Wasser, eben weil sie aus Hass oder Überdruss, Schmerz oder Angst hervorströmen, nämlich aus all dem, was bei uns Hass oder Überdruss, Schmerz oder Angst auslöst. Von ihnen war nämlich jener erfüllt, der da sprach: Weh mir, dass meine Pilgerschaft so lange dauert! (Ps 119,5). 29.  Doch wie diese Tränen dem Hass auf das Böse entstammen, so gibt es auch süßere Tränen, die aus der Sehnsucht nach dem Guten entspringen. Gut nennen wir jetzt das Geistliche. Es macht entweder gut, oder ist ewig und macht selig. Diese beiden Formen des Guten sind für uns Ziel der Sehnsucht, und die Sehnsucht nach beiden hat ihre je eigenen Tränen. Oft werden wir nämlich von Sehnsucht nach dem Guten ergriffen, das uns auf dem Weg gerecht machen kann, oft von Sehnsucht nach dem Guten, das uns in der Heimat selig machen kann. Beide sind uns ja von Gott verheißen und müssen von uns unter Tränen und Seufzen, die wir nicht in Worte fassen könnena, erbeten werden. Daher spricht der Prophet: Meine Tränen stehen dir vor Augen, wie es in deiner Verheißung steht (Ps 55,9 V). Und: Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen? Tränen waren mein Brot bei Tag und bei Nacht (Ps 41,3-4). 30.  Unsere Gerechtigkeit liegt jedoch im Antrieb eines guten Willens, entweder im Antrieb zum Werk, wie bei den Anfängern, a 

Vgl. Röm 8,26.

364

17. Anlässe zum Trauern, 27-32

oder im Nutzen einer guten Gewohnheit, wie bei den Erprobten. Doch kann man für jedes Einzelne von ihnen seinen Lohn erhoffen, ersehnen und erwarten. Daher fassen auch diese Wasserkrüge je zwei bis drei Metreten. 31. Alle diese Tränen aber, die aus dem Überdruss am Bösen oder aus der Sehnsucht nach dem Guten entspringen, können Gute und Böse miteinander gemeinsam haben. Denn von all diesen Gründen werden die Guten bewegt, und werden auch die Bösen bewegt. Es weinen die Guten; es weinen auch die Bösen, die Guten heilsam, die Bösen fruchtlos: Denn Esau ist, wie der Apostel bezeugt, verworfen worden, als er die Verheißung erben wollte; denn er fand keinen Weg zur Umkehr, obgleich er unter Tränen da­ nach suchte (Hebr 12,17). Auch Judas brachte, von Reue bewegt, die dreißig Silberstücke zurück (Mt 27,3). Auch Bileam wurde ohne Nutzen zum Guten bewegt, als er sprach: Oh, könnte ich den Tod der Gerechten sterben, und wäre mein Ende dem ihren gleich (Num 23,10). 32.  Das Böse, das bedauert und gefürchtet werden muss, können auch Böse bedauern und fürchten; ebenso geistliche oder ewige Güter erhoffen und ersehnen in der Hoffnung auf sie oder der Sehnsucht nach ihnen. Aus Schmerz oder Furcht ihretwegen bis zu Tränen erregt werden, das ist jedoch umso fruchtloser, je reichlicher es geschieht. Denn es reicht für niemanden aus, das Böse zu bedauern und das Gute zu erhoffen oder zu ersehnen, wenn er nicht darüber hinaus die Sünden hinter sich lässt, die Irrtümer verbessert und das Gute, durch das er gut werden soll, ergreift. Es sind nämlich zwei verschiedene Dinge, dieses Gute zu erhoffen und zu ersehnen oder das Gute zu besitzen. Keiner ist nämlich bloß durch Hoffnung oder Sehnsucht, oder die Meinung, das Gute, durch das er gut sein soll, zu besitzen, gut, sondern vielmehr nur durch den tatsächlichen Besitz. Viele glauben nämlich, Reue und Vergebung der Sünden, durch die sie vom Bösen ablassen sollen, entweder zu besitzen, oder sie hoffen, diese besitzen zu können, wenn sie nur wollten; Ebenso ist es mit der Liebe, der Demut und dem übrigen Guten, durch das sie gut werden könnten. Doch ihre Hoffnung ist leer, ebenso ihre Sehnsucht und ihre Meinung, und ihr Herz ist verblendet (Ps 5,10). Daher werden sie bisweilen

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279

SERMONES

ohne Nutzen zur Gerechtigkeit bewegt, wie auch die Guten ohne Schuld zur Sünde versucht werden. 33.  Oder halten sich jene nicht für gut, die über ihre Verdienste allzu überheblich urteilen, sodass sie vertrauen, mit dem Herrn richten zu werden? Von solchen steht geschrieben: Tausend wer­ den zu deiner Seite fallen, zu deiner Rechten zehnmal tausend (Ps 90,7). Alle, die so sind, mögen in ihrer Hoffnung riesige Freude haben, sich in Sehnsucht, Seufzen und Schluchzen des Herzens in Tränen auflösen, trotzdem haben sie nichts mit der Verheißung zu tun: Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden (Mt 5,5).

Die besonderen Tränen der Gerechten

280

34.  Die Hoffnung der Gerechten aber stützt sich auf die Demut und ihre Sehnsucht auf die Liebe. Aus ihnen – nämlich Demut und Liebe – schöpft man gleichsam wie aus Quellen des Erlösers (Jes 12,3) das Wasser heiliger Tränen. Gläubig ist das Weinen dessen, der nach der Schuld in heilsamer Erschütterung und demütiger Gottesfurcht das Unrecht verabscheut. Er bereut ständig, etwas getan zu haben, mit dessen Wiederholung er nicht einverstanden ist. Das sind gläubige Tränen, von denen der Psalmist sagt: Tränenbäche strömen aus meinen Augen, weil man dein Ge­ setz nicht befolgt (Ps 118,136). Gläubig sind die Tränen dessen, der sich in der Sehnsucht der Liebe voll geistlicher Freude in Tränen auflöst und zerfließt. Beim Gedanken an das, was er ersehnt, verströmt er sich auf wunderbare Weise in seinem Innern, sodass er sagen kann: Ich dachte daran, und mein Herz zerfloss in mir, denn ich werde zum Ort des wunderbaren Zeltes hinaufziehen, bis hin zum Hause Gottes (Ps 41,5 V). 35.  Die Süßigkeit dieser Tränen empfand jene Frau, die vor Liebe krank wara und sprach: Meine Seele zerfloss in mir, als der Geliebte sprach (Hld 5,6). Treffend heißt es: als der Geliebte sprach, eben weil er der Geliebte ist und weil er sprach. Für sie ist er näma 

Vgl. Hld 5,8.

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17. Anlässe zum Trauern, 32-37

lich der Geliebte, als er sogleich sprach: Seine Worte sind weicher als Öl und sind doch Schwerter (Ps 54,22). Sieh, ob die Liebende da nicht weich wird, ob sie nicht bei seinen Worten zerschmilzt und zerfließt, da doch geschrieben steht: Er sendet sein Wort aus, und sie schmelzen, er lässt den Wind wehen, dann rieseln die Was­ ser (Ps 147,18). Beim Sprechen des Geliebten und beim Strömen des Geistes zerfließt die Liebende, und es strömen Wasser, mit denen der Aufgang der Freude bewässert wird, den der Südwind durchweht, sodass seine Düfte strömen (Hld 4,16). Und diese Tränen sind wirklich honigsüß. Die Himmel ließen nämlich einen Sprühregen fallen, an dem sie sich beim Wachsen freuta, und spendeten bereitwillig Regen, den Gott für sein Erbe aufgespart hatb. 36. Dieser Regen aber wird oft von den Gerechten unterbrochen. Wenn man ihn hat, kann man ihn nicht zurückhalten; wenn er ersehnt wird, erhält man ihn nicht. Oft werden sie nämlich sich selbst überlassen: wenn die Schwachheit anklopft und die Kraft ganz und gar schwindet, werden sie von Bitterkeit erfüllt, von Überdruss bedrängt; sie verzagen ganz in der Notc, vertrocknen vor Durst – und die Wasser vom Himmel werden zurückgehaltend. Weder Tau noch Regene fällt auf sie. Und würde Gott ihnen nicht helfen, so würde ihre Seele binnen Kurzem in der Unterwelt zu wohnen beginnenf. 37.  Doch was ist erstaunlich daran, wenn die Gerechten für eine Zeitlang gleichsam in die Unterwelt hinabsteigen, wo sie mit Wermut und galligem Wasser getränkt werdeng, da es doch hilfreich ist zu erfahren, wodurch sie befreit werden, damit sie als Befreite umso mehr jubeln und ihr Trost überfließt zur Verherrlichung Gottes? Sie stiegen zum Himmel empor, heißt es, und fuhren in die tiefste Tiefe hinab, so dass ihre Seele in der Not verzagte (Ps 106,26). Doch hat Gott seine Gnade vergessen? (Ps 76,10). KeinesVgl. Ps 64,11. Vgl. Ps 67,10. c  Vgl. Ps 106,26. d  Vgl. Am 4,7. e  Vgl. 2 Kön 1,21. f  Vgl. Ps 93,17. g  Vgl. Jer 23,15. a 

b 

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SERMONES

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wegs! Denn wenn der Geist des Herrn, süßer als Honig (Sir 24,27), das Herz der Gerechten in Hoffnung und Sehnsucht nach jedem Erbe, das süßer ist als Honig, als Honig aus Waben (ebd.), überflutet und mit seiner unvorstellbaren Süßigkeit das ganze Innere und alle geheimen Winkel der schmachtenden Seele erfüllt, dann wird durch das Einströmen der Gnade innerer Süßigkeit und innigsten Glückes alles Bittere von der Freude des Herzens aufgesogen, und die Wasser der Tränen werden wie Honigströme fließena. 38. Auf die Anregung der Mutter Jesu, die da sprach: Sie ha­ ben keinen Wein mehr! (Joh 2,3) wird das Wasser der Trauer in den Wein der Freude verwandelt werden, doch erst dann, wenn der Auftrag Jesu erfüllt ist: Füllt die Krüge mit Wasser! (Joh 2,7). Zuerst muss man nämlich die Krüge mit Wasser füllen: Das heißt, unsere Herzen durch das Vergießen vieler Tränen reichlich sättigen, für die begangenen Taten Genugtuung leisten und alles, was zu betrauern ist, ausgiebig betrauern. So müssen wir den Trost innerlicher Hingabe und der Freude im Heiligen Geist in uns empfangen und die Traurigkeit des Herzens in Freude verwandelnb. Denn da wir das, was zu betrauern ist, noch nicht genug beweint haben, fühlen wir von nun an oft einen Mangel an Hingabe. Und da wir noch nicht bezahlt haben, was wir schuldig sind, erhalten wir auch allzu spät, was wir wünschen. 39.  Doch wenn uns Gott überreich mit Tränen getränkt hat (Ps 79,6), erlangen wir die Güter, die wir ängstlich herbeiwünschen, und erfahren durch vielfältigen Trost in der Gegenwart, dass die Verheißung wahr ist: Selig die Trauernden; denn sie wer­ den getröstet werden (Mt 5,5). Mehr noch werden wir dies jedoch in Zukunft erfahren, wenn Gott alle Tränen von unseren Augen abwischenc und wenn er unseren Mund mit Lachen und unsere Zunge mit Jubel erfüllen wird (Ps 125,2) zum Ruhm und zur Ehre unseres Herrn Jesus Christus, der als Gott über allem steht. Ihm sei Lobpreis in Ewigkeit. Amen. (Röm 9,5).

Vgl. Num 16,14. Vgl. Joh 16,20. c  Vgl. Offb 21,4. a 

b 

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Sermo 18 Traktat VI Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes

Lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens; vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden (Hebr 4,12-13).

1.  Wie groß die Kraft und wie groß die Weisheit im Worte Gottes sind, wird mit diesen Worten des Apostels für alle dargelegt, die Christus suchen, der das Wort, die Kraft und die Weisheit Gottes ista. Dieses Wort war im Anfang beim Vater, gleich ewig wie er; zu seiner Zeit wurde es den Propheten geoffenbart und durch diese verkündet; im Glauben der gläubigen Völker wurde es demütig aufgenommen. Also ist das Wort im Vater; das Wort im Mund und das Wort im Herzenb. 2.  Das Wort im Mund ist ein Zeichen des Wortes, das im Vater ist; ein Zeichen auch des Wortes, das im Herzen des Menschen ist. Das Wort im Herzen des Menschen ist entweder Erkenntnis des Wortes, oder Glaube an das Wort, oder Liebe zum Wort, a  b 

Vgl. 1 Kor 1,24. Vgl. Dt 30,14.

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285

SERMONES

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wenn das Wort entweder erkannt, geglaubt oder geliebt wirda. Wenn diese drei in einem Herzen zusammenkommen, sodass das Wort Gottes zugleich erkannt, geglaubt und geliebt wird, dann wohnt Christus, das Wort des Vaters, von dem der Vater selbst sagt: Mein Herz brachte das gute Wort hervor (Ps 44,2) in ihm durch den Glauben. In wunderbarer Herablassung steigt Gott im Herzen des Vaters bis zum Herzen des Menschen hinab, um dort auf neue Weise empfangen zu werden und Gestalt anzunehmen, wie der Apostel an die Galater schreibt: Meine Kinder, für die ich von neuem Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt an­ nimmt (Gal 4,19). 3. Wenn Christus gepredigt wird, wird das Wort Gottes gehört – das heißt, erkannt – und so geglaubt, denn der Glaube kommt vom Hören (Röm 10,17). Ebenso wird es auch geliebt. Es gibt nämlich keine Liebe zum Wort ohne Glauben an das Wort, und keinen Glauben an das Wort ohne Hören des Wortes. Denn wer liebt, der glaubt, und wer glaubt, der hört: entweder auf den Geist, der innerliche Offenbarungen eingibt und der weht, wo er willb, wie geschrieben steht: Du hörst seine Stimme (Joh 3,8), oder außen auf einen Menschen, der predigt, wobei ebenfalls der Geist innerlich spricht. Wenn es nämlich nicht er sein sollte, der innerlich belehrt, so müht sich die Stimme des Sprechenden vergeblichc. 4. Die Erkenntnis muss auf doppelte Weise beachtet werden: gegen Anfang des Glaubens und gegen dessen Ende. Denn wenn das Wort verkündet wird, wird es nicht geglaubt, wenn es nicht irgendwie erkannt wird. Diese Erkenntnis aber haucht der Heilige Geist ein, und sie wird Hören genannt. Darüber sagt der Apostel: Der Glaube kommt vom Hören (Röm 10,17). Dass das Hören je nach der Erkenntnis aufgenommen werden muss, zeigt derselbe Apostel, wo er sagt: Wer in Zungen redet, redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; keiner hört ihn (1 Kor 14,2), das heißt, keiner versteht es. Denn wer in einer Fremdsprache spricht, gilt Vgl. Balduin von Ford, De sacramento altaris (SChr 94, 556-558). Vgl. Joh 3,8. c  Vgl. Jes 49,4. a 

b 

370

18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 2-6

für jene, die diese nicht verstehen, wie ein Barbar: er baut nicht auf, da sie nichts verstehen. Darum ist die Erkenntnis zu Beginn des Glaubens notwendig, damit man erkennen kann, was zu glauben verkündet wird. 5.  Es gibt auch noch eine andere Erkenntnis gegen Ende des Glaubens – das heißt auf die Vollendung hin, von der gesagt wird: Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht erkennen (Jes 7,9). Wenn sich das auch auf die zukünftige Erkenntnis zu beziehen scheint, kann es dennoch auch verstanden werden vom Fortschritt des Glaubens bei denen, die geschulte Sinne haben (Hebr 5,14)a, um das Wesentliche am Glauben vollständiger zu erkennen, stets be­ reit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach dem Glauben und der Hoffnung fragt, die uns erfüllt (1 Petr 3,15).

Das Wort Gottes ist lebendig 6. Dieses Wort Gottes, von dem nun die Rede ist, ist lebendig (Hebr 4,12). Der Vater hat ihm gegeben, das Leben in sich zu habenb, wie er auch selbst das Leben in sich hat. Deshalb ist es nicht nur lebendig, sondern auch das Leben, wie er selbst über sich sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,16). Obwohl es das Leben ist, ist es ebenso lebendig, um belebend zu sein. Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, wen er will (Joh 5,21). Es ist belebend, wenn es den Toten aus dem Grab ruft und spricht: Lazarus, komm heraus! (Joh 11,43). Wenn dieses Wort von der Stimme des Predigers verkündet wird, macht er seine Stimme, die außen verkündet wird, zu einer machtvollen Stimmec, die innerlich vernommen wird. Durch diese werden die Toten wieder lebendig, um aus diesen Steinen als Söhne Abrahams erweckt zu werdend. Lebendig ist Vgl. Augustinus, De Trinitate XV, ii, 2 (CCSL 50A, 461-462); Sermo 272 (PL 38, 1246). b  Vgl. Joh 5,26. c  Vgl. Ps 67,34; Bernhard von Clairvaux, Über die Bekehrung 1, 2 (BCSW IV, 153-155). d  Vgl. Mt 3,9. a 

371

SERMONES

dieses Wort also im Schoß des Vaters, es ist lebendig im Mund des Predigers, und lebendig im Herzen dessen, der glaubt und liebt.

Es ist wirksam 287

7.  Da dieses Wort so lebendig ist (Hebr 4,12), ist es ohne jeden Zweifel auch wirksam. Es ist nämlich ein allmächtiges Wort. Als Gott sprach: Es werde Licht (Gen 1,3), wurde es sogleich Licht. Als er sprach: Lichter sollen entstehen (Gen 1,14), entstanden sogleich die Lichter. Es gab auch keinen Aufschub beim Entstehen, wenn er sprach: Dieses oder jenes geschehe. Ja, rasch eilt sein Wort dahin (Ps 147,15). Und in seiner Schnelligkeit entstanden in einem Augenblick die Höhen des Himmelsgewölbes, die Weiten der Erde, die Tiefen der Fluten. Denn bei diesem Wort ist nichts unmöglicha. 8.  Wirksam ist es durch die Erschaffung der Dinge, wirksam ist es bei der Regierung der Welt; wirksam ist es auch bei der Erlösung der Welt. Was könnte denn wirksamer sein? Was mächtiger? Wer kann seine großen Taten erzählen, all seinen Ruhm verkün­ den? (Ps 105,2). Wirksam ist es, wenn es tätig ist, wirksam ist es, wenn es verkündet wird. Es kehrt nämlich nicht leer zurück, sondern erreicht all das, wozu es ausgesandt wurdeb. Wirksam ist es, wenn es geglaubt und geliebt wird. Was ist denn dem unmöglich, der glaubt, was dem unmöglich, der liebt?c

Es ist durchdringend 9.  Wenn dieses Wort spricht, durchdringen seine Worte das Herz wie scharfe Pfeile eines Mächtigen (Ps 119,4); wie tief eingetriebene Nägel (Koh 12,11) dringen sie ein, sie dringen immer mehr nach Vgl. Lk 1,37. Vgl. Jes 55,11. c  Vgl. Mk 9,22; M. Tullius Cicero, Orator x, 33; vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Bekehrung 21, 38 (BCSW IV, 239); 1. Predigt zum Palm­ sonntag I, 2 (BCSW VIII, 159). a 

b 

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 6-12

innen und dringen bis zum Innersten vor. Durchdringender ist dieses Wort nämlich als jedes zweischneidige Schwert (Hebr 4,12), das heißt, es ist schärfer beim Schneiden als jegliche Kraft und Macht, treffender als jeglicher Scharfsinn des menschlichen Geistes und schärfer als die Feinsinnigkeit der ganzen menschlichen Weisheit und gelehrten Rede. Ein zweischneidiges Schwert ist nämlich die Kraft der Macht, und ein zweischneidiges Schwert ist ebenso die Schärfe des Verstandes oder die Feinsinnigkeit der Rede. 10.  Wenn man nach seiner Kraft oder Macht fragt, so ergibt sich ein einleuchtender Grund. Es gibt nämlich zwei Kräfte, von denen diese Welt regiert wirda: die königliche Macht und die priesterliche Autorität, von denen geschrieben steht: Hier sind zwei Schwerter (Lk 22,38). 11. Der König trägt das Schwert. Wieviel dieses Schwert vermag, zeigt der Herr mit den Worten: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können (Mt 10,28) und ebenso: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib tö­ ten, euch aber sonst nichts tun können (Lk 12,4). Hier ist das zweischneidige Schwert, das von beiden Seiten her schneidet. Den Leib schneidet und tötet es; die Seele aber schneidet es durch die Gewalt des Schmerzes, doch tötet es sie nicht. Denn sie trennt diese unter Schmerzen vom Leib, doch von ihrem Leben, das in Gott verborgen istb, trennt es sie nicht. Es löst die Verbindung von Leib und Seele, doch die Verbindung von Gott und Seele löst es nicht. Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? sagt Paulus. Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? (Röm 8,35). Es ist, als wollte er sagen: Ja, nicht einmal das Schwert! Viel kann nämlich dieses Schwert, doch das kann es nicht. 12.  Durchdringender (Hebr 4,12) als das Schwert ist somit, wer das kann: nämlich das Wort Gottes. Es kann aufgrund der der Kirche verliehenen Gewalt Leib und Seele im Feuer der Hölle Vgl. Gelasius I, Epistola VIII (seu XII). Ad Anastasium Imperatorem – Jaffé, Regesta pontificum Romanorum I (21885), p. 85. b  Vgl. Kol 3,3. a 

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verderbena! Die Vorsteher der Kirche haben nämlich in der Kraft des Gotteswortes ein Schwert. Steht denn nicht geschrieben: (Sie tragen) ein zweischneidiges Schwert in der Hand (Ps 149,6)? Steht nicht geschrieben: Die Schwerter zwischen ihren Lippen, wer nimmt sie wahr? (Ps 58,8). Wenn aber über die Bösen gesagt wurde: ihre Zunge ist ein scharfes Schwert (Ps 56,5), um wie viel mehr ist dann die Zunge des Petrus ein Schwert, und ein doppelt scharfes Schwert? 13. Außerdem teilen die Schärfe des menschlichen Geistes und des menschlichen Sinnens sowie die Spitzfindigkeit der Rede wie ein zweischneidiges Schwert gleichsam durch die Unterscheidungsgabe spitzfindig zwischen Wahrem und Falschem, zwischen Gutem und Bösem, Anständigem und Unanständigem und den anderen Gegensätzen, die zu untersuchen sind, voll Geist und voll Kunst. 14.  Von daher entstand die ganze weltliche Philosophie und weltliche Weisheit, die das Maß ihrer Möglichkeit nicht kannte und es wagte, sich an Fragen zu versuchen, die ihr zu hoch waren, und die, in sich zurückgeschleudert, in keiner Weise ans Ziel kommen konnte. Sie versuchte es, bei schwierigen und tiefsinnigen Fragen über die Natur Gottes, den Ursprung der Welt, den Zustand der Seele sowie das Wesen der Gerechtigkeit und Seligkeit den Weg der Wahrheit zu finden. Doch sie vermochte zu der im Geheimnis verborgenen Weisheit Gottesb nicht zu gelangen. Daher sagt die Weisheit Gottes: Ich lasse die Weisheit der Weisen vergehen und die Klugheit der Klugen verschwinden (1 Kor 1,19) und ebenso: Ich werde die Weisen in ihrer eigenen List fangen (1 Kor 3,19)c. Und der Prophet spricht: Stolze erzählten mir Fabeln, doch nicht, wie es deinem Gesetz entspricht, Herr (Ps 118,85). Was immer nämlich von den Weisen dieser Welt in spitzfindigen Überlegungen ausgearbeitet wurde, ist so weit von der Wahrheit fern, als es dem Wort Gottes fremd ist. Wie bei erfundenen Geschichten hat es nichts in sich als Falschheit oder Nichtigkeit. Vgl. Mt 10,28. Vgl. 1 Kor 2,7. c  Vgl. Ijob 5,13. a 

b 

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 12-17

15.  Das Wort Gottes jedoch ist Wahrheit und wie ein zweischneidiges Schwert; ja es ist schärfer als jedes zweischneidige Schwert (Hebr 4,12). In einer ganz scharfsinnigen und ganz wahren Unterscheidung prüft es alles, auch die Tiefen Gottesa. Ob wir nun auf dieses zweischneidige Schwert als Kraft oder als Weisheit unsere Aufmerksamkeit richten, so steht jedenfalls fest, dass das Wort Gottes, das alles vermag und alles erforscht, noch durchdringender ist: Es ist derjenige selbst, der Gottes Kraft und Gottes Weisheit istb.

Die Scheidung zwischen Seele und Geist 16.  Da dieses Wort alles in allem (1 Kor 12,6) auf wunderbare Weise wirkt, wirkt es in den Herzen der Heiligen durch die Wirkung seiner Gnade – das heißt, durch Furcht und Liebe und die übrigen heiligen Tugenden – gleichsam durch innerliche Worte auf noch wunderbarere Weise, und es zeigt seine Macht und Weisheit, indem es alles von innen durchdringt bis zur Scheidung von Seele und Geist (Hebr 4,12). 17.  Damit das noch klarer aufleuchtet, muss man anmerken, dass in dreifacher Weise von Seele und Geist gesprochen wird: in Hinblick auf die Natur, in Hinblick auf die Schuld und in Hinblick auf die Gnade. In Hinblick auf die Natur spricht man dort davon, wo man Seele und Geist verstehen muss in Hinblick auf das, was sie auf natürliche Weise sind, oder im Hinblick auf das, was sie auf natürliche Weise oder vom Ursprung ihrer Erschaffung her besitzen. Wenn es heißt: Adam, der Erste Mensch, wurde mit einer lebendigen Seele erschaffen (1 Kor 15,45V), oder wenn es heißt: Die vernunftbegabte Seele und der Leib bilden den einen Menschenc, so meint man die Seele in Hinblick auf ihre Natur. Wenn es heißt: Wer von den Menschen kennt den Menschen, wenn nicht der Geist des Menschen, der in ihm ist? (1 Kor 2,11), so wird Vgl. 1 Kor 2,10. Vgl. 1 Kor 1,24. c  Vgl. Athanasisches Glaubensbekenntnis. a 

b 

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hier der Geist in Hinblick auf die Natur seines Wesens verstanden. Wenn es heißt: Wer seine Seele in dieser Welt gering achtet, wird sie bewahren bis ins ewige Leben (Joh 12,25), so wird hier die Seele nicht nur in Hinblick auf die Natur, sondern auch in Hinblick auf die Schuld verstanden. Wenn es heißt: Er dachte daran, dass sie nichts sind als Fleisch, nur ein Hauch, der vergeht und nicht wiederkehrt (Ps 77,39), so wir hier der Geist in Hinblick auf die Schuld verstanden. Wenn es heißt: Wer Unrecht liebt, hasst sei­ ne Seele (Ps 10,6V), so ist das nicht in Hinblick auf den Abscheu vor der Schuld zu verstehen, sondern bezieht sich auf die Natur oder Gnade. Wenn es jedoch heißt: Der Herr behütet dich vor al­ lem Bösen, er behüte dein Leben (Ps 120,7), so wird hier die Seele in Hinblick auf die Natur und die Gnade verstanden. Wenn es heißt: Wenn ihr durch den Geist die (sündigen) Taten des Leibes tö­ tet, werdet ihr leben (Röm 8,13), so wird hier der Geist in Hinblick auf die Gnade verstanden. 18.  Da Seele und Geist hinsichtlich der Natur ihres Wesens dasselbe und doch manchmal irgendwie verschieden sind, kann man sie so voneinander unterscheiden, wie es der Apostel tut, wenn er sagt: Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar und bewahre euren Geist, eure Seele und euren Leib unversehrt, damit ihr ohne Tadel seid, wenn Jesus Christus, unser Herr, kommt (1 Thess 5,23), und an der jetzt behandelten Stelle: Das Wort Gottes dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist (Hebr 4,12). Da hier Seele und Geist als unterschiedlich miteinander verbunden werden, scheint eben diese Verbindung eine gewisse Trennung zu verlangen. Und wie mir scheint, bezieht sich der Geist auf den würdigeren und besseren Teil in Hinblick auf das Leben, in dem einer für Gott lebt. Die Seele dagegen, die auch selbst Geist ist, lebt, wenn sie gut lebt, für Gott, nach dem Wort des Propheten: Meine Seele lebt für ihn (Ps 21,31V). Das ist das Leben in der Gnade. Wenn sie aber schlecht lebt, lebt sie für sich selbst, weil sie darauf aus ist, den eigenen Willen zu erfüllen: das aber ist das Leben in der Schuld. 19.  Es gibt noch ein Leben der Natur, das die Seele dem Leib ermöglicht entsprechend den Diensten der Glieder, indem sie ihm Bewegung und Empfinden schenkt. Das Leben in Hinblick auf

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 17-22

die Natur haben Gute und Böse gemeinsam. Das Leben in Hinblick auf die Schuld ist nur Anteil der Bösen. Das Leben in Hinblick auf die Gnade, in dem sich einer an Gott bindeta, entspricht nur den Guten. 20.  Was aber dieses Leben betrifft, in dem sich einer an Gott bindet, so wird an dieser Stelle nicht unpassend der Geist hergenommen, da geschrieben steht: Wer sich an Gott bindet, ist ein Geist mit ihm (1 Kor 6,17). Die Seele jedoch wird in der vorliegenden Stelle nicht unpassend entweder für das zeitliche Leben genommen, in dem man auf natürliche Weise lebt, sowohl die Guten wie die Bösen, oder für das schuldhafte und ungeordnete Leben, in dem man schlecht lebt, letzteres jedoch allein die Bösen. 21.  So werden uns an dieser Stelle zwei Formen des Martyriums nahegebracht, wo das Wort Gottes lebendig, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert durchdringt – wie man sagt – bis zur Scheidung von Seele und Geist (Hebr 4,12). Hingeopfert für Christus wird nämlich bald das Fleisch selbst, und bald der Wille des Fleisches, dessen Begehren sich gegen den Geist richtetb. 22.  Wenn das Fleisch hingeopfert und durch das Schwert des Verfolgers getötet wird, dringt dann nicht das lebendige Wort Gottes durch die Gottesfurcht und Liebe bis zur Scheidung von Seele und Geist durch? Sagt nicht Christus: Ich gebe meine Seele hin für die Schafe (Joh 10,15). Und sagt er nicht ebenso: In deine Hände empfehle ich meinen Geist? (Lk 23,46). Sprach nicht auch der Erzmärtyrer Stephanus, als er seine Seele hingab für seine Freundec: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf? (Apg 7,58). Sagt nicht auch Paulus: Fesseln und Drangsale warten auf mich. Doch fürchte ich nichts davon, und ich achte meine Seele auch nicht höher als mich? (Apg 20,23-24V). „Mich“, sagt er wegen des Geistes, der mit Gott verbunden war, „Seele“ wegen des zeitlichen Lebens, das er um Gottes willen gering schätzte. Das ist die Seele, von der gesagt wird: Sorgt euch nicht um eure Seele und darum, dass ihr etwas Vgl. 1 Kor 6,17. Vgl. Gal 5,17. c  Vgl. Joh 15,13. a 

b 

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SERMONES

zu essen habt (Mt 6,25), und weiter: Ist nicht die Seele wichtiger als die Nahrung? (ebd.). 23.  Wenn also das Schwert des Verfolgers den Leib der Märtyrer zerfleischt, Glied für Glied zerstückelt und zerteilt, so scheidet das Schwert des Geistes, das Wort Gottes (Eph 6,17) tiefer im Inneren zwischen Seele und Geist: Denn die Gottesfurcht oder die Liebe erstarken mächtig im Inneren, und für das Bekenntnis der Wahrheit oder die Verteidigung der Gerechtigkeit hält der Märtyrer unerschütterlich stand bis zur Geringschätzung der Seele.

Fortsetzung

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24. Ähnlich ist die Ursache, auch wenn der Ruhm nicht ebenbürtig ist, beim geistlichen Kampf, wenn man dem Fleisch, dessen Begehren sich gegen den Geist richtet, Widerstand leistet und auf den eigenen Willen verzichtet. Seine Seele gibt nämlich jeder für Gott hin, der den Stolz des Eigenwillens ablegt. Das ist die Seele, von der gesagt wurde: Wenn jemand nicht seine Seele gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein (Lk 14,26). Siehst du, wie das Wort Gottes, schärfer als jedes zweischneidige Schwert, durchdringt bis zur Scheidung von Seele und Geist? (Hebr 4,12). 25.  Es gibt jedoch manche Wünsche, die leicht und gleichsam oberflächlich an der Seele haften, die keine tieferen Wurzeln geschlagen haben, die leicht und schmerzlos abgeschnitten werden können wie die Haare des Fleisches mit einem darüberstreichenden Rasiermesser. Und doch – wenn man auf einen solchen Wunsch um Gottes willen verzichtet – so wird man dafür doch von Gott belohnt, weil kein Haar des Kopfes übersehen wirda. 26. Andere jedoch dringen tiefer und haften fester, sie können ohne blutigen Schmerz überhaupt nicht abgeschnitten werden – oder können es kaum. Wie daher das sichtbare Schwert, das mit der Hand geführt wird, bei seinem Eindringen und Zerschneiden von Zusammengewachsenem eine schmerzende Wunde und Wundschmerz verursacht, so ist es auch mit dem Schwert a 

Vgl. Lk 21,18.

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 22-29

des Geistesa, wenn es von der einen Seite durch die Liebe, von der anderen durch die Furcht gleichsam von beiden Seiten eindringt und das scheidet, was gemeinsam geliebt wird, als wäre es zusammengewachsen, und wenn es Gewalt übt, um das gering zu schätzen, was geliebt wird, damit nicht das verloren geht, was mehr geliebt wird. 27.  Es liebt einer Gott, er liebt auch sein Fleisch, das noch keiner je gehasst hat (Eph 5,29). Beides wird vom Gerechten gemeinsam geliebt, doch nicht in gleichem Maß. Gott wird nämlich mehr, das Fleisch aber weniger geliebt. Deshalb wird beim Drohen des Verfolgers das Leben des Fleisches verachtet, damit das Leben, das in Christus verborgen istb, nicht verlorengeht. Wenn jedoch die Sorge, den Leib zu erhalten, aus Gottesliebe oder Gottesfurcht abgelegt wird, wird sie wie ein fest angewachsenes Glied mit großem Schmerz abgeschnitten. Wenn der eigene Wille, der durch sein Begehren, wenn auch nicht durch seine Einwilligung, zusammen mit Gott geliebt wird, um Gottes willen beschnitten wird, so teilt das Schwert des Geistes ebenso gleichsam Zusammengewachsenes und fügt durch seine Gewalt eine schmerzende Wunde zu.

Die Scheidung der Seele 28.  In der vorhin beschriebenen Weise dringt dieses Schwert vor bis zur Scheidung von Seele und Geist (Hebr 4,12). Es trennt Seele und Geist, natürliches oder fleischliches und geistliches Leben voneinander. Es dringt auch vor bis zur Scheidung der Seele allein und ebenso bis zur Scheidung des Geistes allein. Doch ergibt es sich, zuerst von der Scheidung der Seele zu sprechen. 29.  Die Seele ist von ihrer Natur her einfach und untrennbar in ihrem Wesenc. Sie ist einzig mit dem Leib in der Einheit der Vgl. Eph 6,17. Vgl. Kol 3,3. c  Vgl. Augustinus, De Trinitate XV, v, 7 (CCSL 50A, 469-470); De quantita­ te animae I, 1 (CSEL 89, 101-102). a 

b 

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SERMONES

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Person verbunden, sie allein mit ihm allein, sie als Einheit mit ihm als Einheit. Daher spricht man zu Recht von ihr als einzige Seele des einzigen Leibes. Wenn diese Seele jedoch in der Art Gottes jeden liebt, den sie um Gottes willen als der Liebe würdig erkennt, vereinigt sie sich durch den Gefühlsantrieb der Liebe mit dem, mit dem sie sich in der Liebe verbindet. Durch die Gefühlsantriebe der Liebe lebt sie in sich geschieden, nicht bloß im Leib, mit dem sie in der Person verbunden ist, sondern in gewisser Weise führt sie die Scheidung zu einem Leben und Sinnen außerhalb von sich selbst und hin zu denen, mit denen sie sich durch die Liebe verbindet. Deswegen fühlt sie nicht nur, was für sie selbst gut oder schlecht ist, sondern sie nimmt in Mitfreude oder Mitleid an fremden Gefühlen teil. 30. Daher schneidet das Schwert des Geistesa nicht bloß durch den Schmerz des eigenen Leides, sondern auch durch das Mitleiden fremden Schmerzes. Und es kann vorkommen, dass der Schmerz des Mitleidens herber ist als der des Leidens. Oft quält sich nämlich eine mitleidende Mutter mehr bei der Krankheit eines Sohnes als der leidende Sohn. Das bewirkt die Liebeb, die den fremden Schmerz in sich aufnimmt. Und das geschieht oft mit einer Vermehrung des Schmerzes, sodass das Mitleid größer ist als das Leid des anderen. Dieser wünscht nicht selten, allein zu leiden, damit kein anderer leidet. 31. Beim mitfühlenden Mitleiden wird die Seele des Mitfühlenden in gewisser Weise von sich selbst und in sich selbst geschieden. Denn wenn der Geliebte leidet, neigt sie sich ihm zu, um seinen Schmerz zu ihrem gemeinsamen Schmerz zu machen, und strömt aus sich heraus. Durch die Bereitschaft zum Mitleiden vereint sie sich mit ihm, um mit seinem Geschick mitzufühlen. In gewisser Weise beweist sie, dass sie dem zugehört, in den sie durch das Gefühl des Mitleids einströmt: sie lebt gleichsam bei dem, dessen Qual sie fühlt.

Vgl. Lk 2,34-35. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Predigt am Sonntag in der Oktav von Mariä Himmelfahrt 15 (BCSW VIII, 619). a 

b 

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 29-34

32. Als daher der greise Simeon seine Prophezeiung über Christus ausgesprochen und gesagt hatte: Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerich­ tet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird, fügte er gleich, an die Jungfrau gewandt, hinzu: Deine eigene Seele aber wird ein Schwert durchdringen (Lk 2,34-35). Das bedeutet: So wird deine Seele, als wäre es seine eigene, ein Schwert durchdringen. Es kann aber auch so verstanden werden: Deine eigene Seele, das heißt die Seele von dir selbst, wird ein Schwert durchdringena(ebd.). In dieser Sprechweise, wie sie manche heilige Lehrerb verwenden, sagt der Apostel: Müht euch mit Furcht und Zittern um euer Heil (Phil 2,12 vet. lat.), das heißt, euer eigenes Heil. 33.  Die Gottesmutter, die mehr liebte als alle, wie sie auch mehr geliebt wurde als alle, litt so mit dem sterbenden Sohn mit, dass sie auch selbst litt. Denn entsprechend der Größe ihrer Liebe war auch ihr Schmerz. Denn da sie den Sohn mehr liebte als sich selbst, ertrug sie die Wunden, die dieser am Leib empfing, in innerem Schmerzempfinden selbst im Geist. So war das Leiden Christi selbst für sie ein Martyrium. Denn das Fleisch Christi war gewissermaßen ihr Fleisch; das heißt: Fleisch aus ihrem Fleisch, das Christus aus ihr angenommen hatte. Sie liebte es in Christus mehr als ihr Fleisch in sich selbst. 34.  Je mehr sie es liebte, desto mehr litt sie auch: sie erduldete in ihrem Geist mehr als ein Märtyrer an seinem Leib. Deswegen leuchtet sie ganz besonders durch das einzigartige Vorrecht ihres herrlichen Martyriums. Die übrigen Märtyrer wurden nämlich durch das Martyrium ihres eigenen Todes vollendet. Sie jedoch brachte Fleisch aus ihrem Fleisch dar, das zum Heil der Welt leiden sollte, und beim Leiden Christi und wegen seines Leidens ergriff a  Dieser Gedankengang lässt sich im Deutschen leider nicht klarer wiedergeben. Im lateinischen Text steht: „tuam ipsius animam“, wobei das „ipsius“ – wörtlich: „von diesem selbst“ grammatikalisch sowohl auf die Seele Marias wie auf die Seele Christi bezogen werden kann. Ähnlich ist es beim Zitat aus dem Philipperbrief „vestram ipsorum salutem“. b  Vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos 104, 13 (CCSL 40, 1543-1543); Bernhard von Clairvaux, Predigt am Sonntag in der Oktav von Mariä Him­ melfahrt 14 (BCSW VIII, 617-619).

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die Gewalt des Schmerzes ihre Seele so sehr, dass sie gleichsam im Martyrium Christi vollendet wurde. Daher glaubt man, dass sie im Martyrium nach Christus den höchsten Ruhm verdient hat.

Fortsetzung über die Scheidung von Seele und Leib 35.  Wir müssen an dieser Stelle auch etwas anderes erwägen, das zur Scheidung von Seele und Geist dazugehört. Als die Gottesmutter erkannte, dass das Heil der Welt aus dem Tod ihres eingeborenen Sohnes kommen würde, konnte sie seinen Tod nicht bedauern, und doch betrauern. Sie konnte ihn wegen ihres und zugleich unseres Heils nicht bedauern – und doch betrauerna, weil sie Mutter war, die Mutter der Schwäche Christi und selbst schwach war. Zwischen der Traurigkeit der Seele und der Freude des Geistes, der über Gott, ihren Retter jubelteb, führte das Schwert des Geistesc eine Scheidung durch. Das ist nämlich dieses Schwert: Es scheidet zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und Bruder, zwischen Bräutigam und Braut, zwischen Freund und Freund, zwischen Seele und Geist, zwischen Seele und Seele, zwischen Geist und Geist, zwischen Liebe und Liebe, zwischen Hass und Hass, zwischen Liebe und Hass, zwischen Frieden und Frieden, zwischen Krieg und Krieg und zwischen Frieden und Krieg. Ich bin nicht gekommen, spricht der Herr, um Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das Schwert (Mt 10,34). 36.  Wer kann an alle Scheidungen zwischen Seele und Geist denken, die die Liebenden, von der Liebe verwundet, in sich unmöglich nicht fühlen und die sie wegen der großen Zahl nicht zählen können? Vielfältig sind nämlich die Scheidungen zwischen Seele und Geist, und wie das Wort Gottes auf vielfältige Weise an das Herz dringt, so vielfältig durchdringt es dieses bis hin zur Scheidung zwischen Seele und Geist. a  Wörtlich: sie wollte seinen Tod und betrauerte ihn. Die etwas freiere Übersetzung soll an dieser Stelle das schöne Wortspiel wiedergeben. b  Vgl. Lk 1,47. c  Vgl. Eph 6,17.

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 34-39

Die Scheidung des Geistes allein 37.  Mag man aus dem, was über die Scheidung der Seele allein gesagt wurde, auch erraten können, was mit der Scheidung des Geistes allein gemeint ist, so möchte ich doch die Scheidung des Geistes ein wenig berühren, um dem Weisen Gelegenheit zu geben, noch weiser zu werdena. 38.  Gott ist Geist (Joh 4,24), und wer sich an Gott bindet, ist ein Geist mit ihm (1 Kor 6,17). Obwohl der Geist des Menschen nicht alles, was in ihm geschieden und zerstreut ist, sammeln und vereinen kann, außer wenn er sich an den einen und einfachen Gott bindet, so scheidet er sich dennoch (von sich) auf Gott hin, mit dem er sich auf verschiedene Weisen verbindet und bei diesen Bindungen auf verschiedene Weisen sucht, sich noch enger zu verbinden und verbunden werden zu können. Und wer ist dazu fähig? Alle Entrückungen der Scheu, der Bewunderung, des Staunens, der Betrachtung und Beschauung, wer kann sie aufzählen? Die Stacheln der Ergriffenheit, die Freuden der Hingabe, die Melodien des Jubels, die Länge der Seufzer, die Schluchzer des Weinens, die Brände der Sehnsucht, die Anliegen der Gebete, wer kann sie zählenb? Er, der die Tage der Jahrhunderte und die Tropfen des Regens zählt, er allein kann das verstehen und zählen. 39.  Wenn der Geist nämlich von der Gottesliebe durchbohrt wird, wird er unzähligen Leidenschaften der Liebe unterworfen und von unzählig vielen Gefühlen ergriffen. Und wenn die wechselnden Gefühle sich fortlaufend ändern, so liebt er dennoch beständig und unablässig. Und wenn er sich auf vielfache Weise wandelt, scheidet er sich (von sich) auf Gott hin, doch er scheidet sich nicht von Gott; Ja, er richtet auch keine Trennwand zwischen sich und dem auf, den er in dieser großen Verschiedenheit beharrlich liebt. Daher dringt das Schwert des Geistesc bis zur Scheidung des Geistes (Hebr 4,12) vor.

Vgl. Spr 1,5. Vgl. Sir 1,2. c  Vgl. Eph 6,17. a 

b 

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Über die Scheidung der Zerknirschung

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40.  Dieses Schwert verfolgt den alten Menschena so, dass es zu wenig wäre, ihn niederzuschlagen, wenn es nicht den Niedergeschlagenen zu einem Nichts zusammenschlägt und ihn vollständig in Stücke schlägt. Es dringt durch bis zur Scheidung von Gelenk und Markb, bis der Leib der Sündec vollständig zerstört ist. So schlug auch das Schwert Samuels den feisten Agag nicht bloß nieder, sondern es erschlug ihn und schlug ihn zu einem Nichts zusammend. Richten wir also unsere Aufmerksamkeit sorgfältiger darauf, wie dieses Schwert Gelenk von Gelenk scheidet, und dann, wie es bis zur Scheidung zwischen Mark und Mark vordringt. 41.  Das Leben des Sünders – ob man es nun nach den einzelnen Sünden Glied für Glied betrachtet oder es auf einmal als Ganzes vor die Augen des Herzens stellt – hat nachweislich Gelenke und Mark. Das ganze schlechte Leben setzt sich nämlich aus vielen Sünden so zusammen wie ein Leib aus vielen Gliederne. Die Gelenke der Glieder sind dabei die Verbindungsstücke der Teile. Sünde verbindet sich mit Sünde aber entweder durch die Bewegung des eigenen Willens oder durch das strenge Urteil Gottes. 42.  Denn jeder, der sündigt und durch ein schlechtes Leben in der Sünde zu verbleibenf gedenkt, begeht manche Sünden zugunsten anderer Sünden, manche wegen anderer, manche zur Vorbereitung der folgenden Sünden, manche zur Verheimlichung, Entschuldigung oder Verteidigung der vorausgegangenen, manche zum Aufschub der Selbstbesinnung, manche entsprechend dem Ansturm eines plötzlichen Entschlusses, gleichsam bei der Gelegenheit einer gegenwärtigen Versuchung und einer sich zufällig bietenden Gelegenheit. 43.  Die Verbindungen zwischen den Sünden sind bald aus den vorhin überlegten, bald aus anderen unvorhergesehenen Gründen Vgl. Röm 6,6. Vgl. Hebr 4,12. c  Vgl. Röm 6,6 und 8,10; 1 Kor 6,18 und 6,20. d  Vgl. 1 Kön 15,32-33. e  Vgl. Röm 12,4; 1 Kor 12,12. f  Vgl. Röm 6,1. a 

b 

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 40-46

wie die Gelenke zwischen den Gliedern. Aus ihnen wächst das Leben des Sünders wie ein Leib, wird immer größer und entfaltet sich, bis die Ungerechtigkeit voll wird. 44.  Die Schuld der Sünde und die Gerechtigkeit der göttlichen Ratschlüsse verlangen, dass der Sünder, solange er die Buße verachtet und dem göttlichen Willen Widerstand leistet, in der Zwischenzeit seinem Willen überlassen wird. Es wird ihm erlaubt, von Sünde in Sünde zu fallen, da die Verweigerung der Buße für die vorausgegangenen Vergehen der Grund für die folgenden ist. Und so kommt es, dass der Sünder, während er Unrecht an Unrecht fügt, von der Gerechtigkeit und zugleich vom Reich ausgeschlossen ist. Daher steht geschrieben: Füge beim Rechnen Schuld an Schuld, damit sie nicht teilhaben an deiner Gerechtigkeit. Sie seien aus dem Buch des Lebens getilgt und nicht bei den Gerechten verzeichnet (Ps 68,28-29). Das ist das Ende derer, die die Reichtümer der göttlichen Güte verachtena. Während sie Sünde auf Sünde häufen, rufen sie mehr und mehr den Zorn Gottes auf sich herab, bis er vom Him­ mel herab offenbar wird wider alle ihre Gottlosigkeit (Röm 1,18). 45. Keinesfalls darf man daher die Buße verweigern, durch die das lebendige und wirksame Wort Gottes (Hebr 4,12) in der Furcht vor dem erschreckenden und schaudererregenden Gericht Gottes die Verbindungen des alten Lebens und die Bande der früheren Gewohnheit wie die Glieder eines Leibes auflöst. Es dringt soweit zur Scheidung der Gelenke vor, dass es alle Fesseln der Sünde sprengt, damit keine Sünde durch irgendeine Verbindung mit einer anderen Sünde verbunden bleibt. Daher sagt der Prophet: Löse die Fesseln des Unrechts, entferne die drückenden Bürden! (Jes 58,6). 46.  Das Wort Gottes scheidet also Gelenk von Gelenk, wenn es durch die Zerknirschung des Herzens jede schlechte Verbindung in unseren bösen Gewohnheiten Stück für Stück aufknüpft und wie ein junges Rind des Libanon zerschmettertb. Wenn es alles, was hartnäckig aneinander haftet, voneinander löst, wenn es alle Glieder des alten Menschenc aus ihren Verbindungen reißt Vgl. Röm 2,4. Vgl. Ps 28,5. c  Vgl. Röm 6,6. a 

b 

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und nach Auflösung der Gelenke alle Glieder voneinander getrennt zurücklässt. Die Glieder aber sind jene, die der Apostel mit den Worten nennt: Darum tötet, was irdisch an euch ist: die Un­ zucht, die Schamlosigkeit, die Leidenschaft! (Kol 3,5).

Der Leib der Sünde und seine Scheidung 47.  Eine Sünde, die zwar Glied am Leib der Sünde oder am Leib des alten Menschen ist, kann dennoch selbst allein für sich Leib genannt werden, da sie durch ihre Teile so vollendet wird, wie sich ein Leib aus seinen Gliedern zusammensetzt. Dass man die Sünde aber als Leib bezeichnen kann, ergibt sich aus dem, was der Herr sagt: Wenn aber dein Auge krank ist, dann wird dein ganzer Leib finster sein (Mt 6,23). Das kann man nicht zu Unrecht auf das ganze Leben des Sünders übertragen, das man als ganz finster erkennt, wenn der Sinn des Lebens von dem, der um seinetwegen und nach seiner Art lebt, auf sich selbst zurückgebogen wird. Dennoch – so glaube ich – kann man das auch auf irgendeine Sünde zu Recht anwenden, denn wenn der Sinn eines Werkes durch den Fehler des Irrtums oder Unrechts entstellt wird, wird auch das, was anscheinend in rechter Weise getan wurde, zu den Werken des Finsternis gerechnet. 48.  Dieser Leib wird dann durch die Scheidung zwischen Gelenk und Gelenk aufgelöst, wenn der ganze Zusammenhalt der Sünde durch das Zeugnis eines gläubigen Gewissens geprüft wird, wenn die Eigenart, Zahl, Art und Ursache und alle Umstände gleichsam vor Gott aufgedeckt werden, wenn das ganze Herz durch all das, was Beschämung und Schrecken weckt, in sich erschüttert und in der Hoffnung auf Vergebung zur Gottesliebe ganz entflammt und zerknirscht nach und nach als Ganzopfer Gott vollständig dargebracht wird wie eine Opfergabe, die in viele Stücke zerhackt wurde. Daher dringt das Schwert des Geistes durch bis zur Scheidung der Gelenke; es dringt sogar vor bis zur Scheidung zwischen Mark und Mark.

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 46-52

Die Scheidung zwischen Mark und Mark 49.  Die Knochen werden durch das Mark ernährt. Im ganzen Leib findet sich nichts, was innerlicher ist als das Mark. Daher ist das Innerste unserer Gedanken, Gefühle und Werke das Mark des Leibes. Was ist aber in unserer Sehnsucht innerlicher als das, was man vor allem anderen ersehnt? Was ist an unserer Hoffnung innerlicher als das, was man vor allem erhofft? Was ist in unserer Liebe innerlicher als das, was man vor allem anderen liebt? Was ist an allen Gedanken und Gefühlen des Herzens innerlicher als das, was man vor allem anderen denkt und fühlt? 50.  Wer danach fragt, was das Innerste ist, dem fällt, wenn von den Sünden die Rede ist, nichts anderes ein als die Freude an der Sünde. Von den Sündern wird doch am Anfang der Sünde, in ihrem Fortgang oder Ende nichts anderes mehr ersehnt, nichts mehr erstrebt als die Freude, die man bei der Sünde empfindet oder zu empfinden hofft. Oft möchte man sündigen ohne Freude, doch mittelbar oder unmittelbar stets wegen der Freude. Oft möchte man sündigen, wenn keine Freude da ist, doch niemals möchte man sündigen außer, um Freude zu empfinden. Was ist als innerlicher beim Sündigen oder treffender als Mark der Sünde zu bezeichnen als die Freude, die bei jeder Sünde vor allem gesucht wird, selbst dort, wo man sie nicht findet? 51.  Um die Predigt von der Sünde zur Gerechtigkeit zu lenken: Was könnte man treffender als das Mark der Gerechtigkeit bezeichnen als die innere Fülle, das heißt, die innere Freude an der Gerechtigkeit?

Das Mark der Gerechtigkeit, ihr Fett und ihre Fülle 52.  Wenn wir an Tierkörper denken und an das Fett, das sich an ihnen findet, so wird ein gewisses äußeres Fett zum Vorschein kommen, das mit dem Fleisch selbst verbunden ist; ferner ein anderes, inneres Fett, das mit der Lebenskraft verbunden ist: man

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nennt es gewöhnlich Fettgewebea; und schließlich noch ein anderes Fett, das ganz fett ist und die Knochen erfüllt: das Mark. 53.  Die Seele des Gerechten hat auch zu Beginn seines gerechten Lebens ein gewisses Fett in sich, insofern, als sie Freude empfindet am Gesetz Gottesb. Doch ist dieses gewissermaßen mit dem Fleisch verbunden, da sie durch die frühere Gewohnheit des Fleisches vorbelastet ist und sich noch nicht frei nach der vollkommenen Gerechtigkeit ausstreckt. Wenn sie jedoch nach dem Erklimmen einiger Stufen der Gerechtigkeit voranschreitet und ihren Fortschritt bereits deutlich zu spüren beginnt, sehnt sie sich danach, vom inneren Fett, das mit der Lebenskraft verbunden ist, erfüllt zu werden. Das zeigt jener Sprecher, der da sagt: Wie von Fett und Fettgewebe werde meine Seele erfüllt! (Ps 62,6). Die Seele ersehnt nämlich, von Fettgewebe erfüllt zu werden und innerlich von Fett zu triefen, damit ihr Ganzopfer fett werde (Ps 19,4), bis sie nach Erreichung der vollendeten Gerechtigkeit und voller Freude über Gottes Liebe endlich, voll vom Fett des Markes, sagen kann: Fette Tiere mit Mark bringe ich dir als Ganzopfer dar! (Ps 65,15). 54.  Es gibt auch Gerechte, die diese Welt so gebrauchenc, dass sie bei unerlaubten und unstatthaften Dingen lieber Mangel leiden als Besitz haben wollen, bei erlaubten dagegen lieber Besitz haben als diese entbehren wollen. Was ihnen aus Großzügigkeit zugestanden wird, gebrauchen sie also: sie haben Frauen und Besitz und anderes, was der menschlichen Schwäche zugestanden wird, was sie ohne Gefährdung des Heiles gebrauchen können, wenn sie möchten. 55.  Wieder andere wollen erlaubte Dinge teilweise entbehren: Frauen wollen sie keine haben, jedoch Besitztümer wollen sie. 56.  Noch andere verzichten aus Eifer für die Gerechtigkeit auf alle Dinge, auch die erlaubten, soweit es die menschliche SchwäIm Deutschen ist es schwierig, zwischen „pinguedo“ und „adeps“ zu unterscheiden, da man beides gewöhnlich mit „Fett“ übersetzt. Gemeint ist mit „adeps“, das hier mit „Fettgewebe“ wiedergegeben wird, ein Fett, das nicht nur zwischen den Muskelfasern zu finden, sondern in einem eigenen Fettpolster angesammelt ist. b  Vgl. Röm 7,22. c  Vgl. 1 Kor 7,31. a 

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 52-59

che gestattet: Diese sind nach dem Rat des Apostels zufrieden, wenn sie etwas zu essen und anzuziehen habena. Sie sind umso reicher (fetter) an geistlichen Gütern, je enthaltsamer sie sich um Gottes willen bei den Gütern der Welt erweisen. 57.  Die Gerechtigkeit hat also äußeres Fett und inneres Fettgewebe und Mark. Je innerlicher diese sind, desto tiefer und desto vollkommener sind sie. 58.  Man kann allerdings in einer anderen Betrachtungsweise die Freude an der Gerechtigkeit als Mark bezeichnen, nicht nur bei der Gerechtigkeit der Vollkommenen, sondern auch bei der Gerechtigkeit der Anfänger und der Fortgeschrittenen. Keine Gerechtigkeit ist nämlich so mittelmäßig oder so gering, dass sie nicht eine gewisse Stärke besitzt, die je nach dem Maß ihrer Mittelmäßigkeit mit ihr verbunden ist, und ebenso Freude an der Stärke wie Mark im Knochen.

Fett, Fettgewebe und Mark des Unrechtsb 59. Auch das Unrecht hat sein Fett, sein Fettgewebe und sein Mark bei denen, die durch ihre Liebe und die Fülle irdischer Güter fett werden. Überheblich schlagen sie aus und werden stolz, gehorchen Gott nicht und nehmen durch das wachsende Unrecht und den maßlosen Gebrauch der Dinge, an denen sie Überfluss haben, sowie durch die schlüpfrige Gewohnheit immer mehr zu. Schließlich werden sie sogar in größerem Stolz bei der Übung der Laster durch die Liebe zum Unrecht noch fetter. Zuletzt dehnen sie sich in ihrer stolzen Selbsteinschätzung bis zur offenkundigen Verachtung Gottes durch das gleichsam vollendete Fett der Anmaßung ausc. Sie blähen sich auf, sodass sie Gott, ihren Schöpfer, Vgl. 1 Tim 6,8. Zu diesem Abschnitt Vgl. Augustinus, De sermone Domini in monte I, xii, 43 (CCSL 35, 35-37); Gregor der Grosse, Moralia in Iob IV, xxvii, 49 (CCSL 143, 193); Gregor der Grosse, Regula pastoralis 3, 30 (SC 382, 476478); Bernhard von Clairvaux, Über die Gnade und den freien Willen 1, 1-2 (BCSW I, 173-177). c  Vgl. Dtn 32,15. a 

b 

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verlassen und sich von Gott, ihrem Heil, trennen (Dtn 32,15), wie geschrieben steht: Der Geliebte wurde fett und schlug aus. Ja, fett und voll und feist ist er geworden (ebd.). Und ebenso: Sie haben ihr Fettgewebe in Fettpolstern verschlossen, sie führen stolze Worte im Mund (Ps 16,10). Und wiederum: Ihre Bosheit kam gleichsam aus dem Fettgewebe hervor, sie folgten dem Antrieb des Herzens. Sie dachten nach, und was sie sagten, war schlecht; sie redeten Unrech­ tes in der Höhe (Ps 72,7-8V). So beginnt das Unrecht gleichsam an der Oberfläche des Herzens, allmählich und schmeichlerisch dringt es ins Innere vor, bis das Mark des Unrechts wie Öl in sei­ nen Gliedern (Ps 108,18) wird. 60.  Es gibt nämlich etwas in der Seele, das das Böse begehrt; und es gibt in ihr etwas, das zustimmt, dass das geschehen soll, was sie begehrt; es gibt in ihr etwas, das die Glieder des Leibes wie Waffen der Ungerechtigkeita zur Ungerechtigkeit bewegt, um das Werk so vollenden, wie es der Sehnsucht beim Begehren und Zustimmen entspricht. 61.  In derselben Seele gibt es auch etwas, was sich an dem Werk erfreut, das sie begehrt, dem sie zustimmt und für das sie sich in Bewegung setzt, sodass sie auch den Leib dazu bewegt, mit ihr den Dienst zu verrichten, damit das erfüllt wird, woran sie ihre Freude hat. Denn all das gehört zur Freude. Außerdem gibt es in der Seele etwas, was bei all dem den Vorsitz führt und sein Gefallen daran hat, zunächst am Begehren, dann an der Einwilligung, und schließlich an der Bewegung hin zum Werk und zuletzt an der Freude über das Werk. 62.  Wenn diese vier – das Begehren, die Einwilligung, die Bewegung zum Werk und das Werk aus der Bewegung heraus – gleichzeitig Gefallen wecken, so ist die Freude der Grund, warum es gefällt, und das Ziel. Sie wird im Werk gesucht und erstrebt. Es sind also fünf Dinge: das Begehren, die Einwilligung, die Bewegung zum Werk, das Werk aus der Bewegung heraus und die Freude am Werk. Vier davon finden sich direkt in der Seele: das Begehren, die Einwilligung, die Bewegung im Werk und die Freude am Werk. Das Werk selbst aber findet nicht in der Seele statt, a 

Vgl. Röm 6,13.

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 59-65

sondern durch die Kraft und den Willen der Seele, die den Leib freiwillig bewegt. Es wird durch den Dienst des Leibes äußerlich vollbracht wegen der Freude, die im Werk selbst oder durch das Werk gesucht wird. Durch das Werk sage ich aber, weil es vielleicht irgendein Werk gibt, das keine Freude macht, aber dennoch verrichtet wird aus einem anderen Grund, der Freude macht. 63.  Wenn jedoch diese drei – Begehren, Einwilligung und die Bewegung im Werk – gleichzeitig Gefallen finden wegen des Werkes oder wegen der Freude am Werk, kann man erkennen, dass die Freude nicht nur mit dem Werk allein verbunden ist, sondern mit allen dreien vorhin genannten Dingen, die wegen der Freude am Werk Gefallen finden. Das Begehren hat somit seine Freude, wenn das Begehren selbst Gefallen findet.

Es liegt nicht in unserer Vollmacht, das Begehren des Bösen zu verhindern 64.  Oft begehren die Gerechten etwas, was sie ganz und gar nicht wollen und dem sie ganz und gar nicht ihre Einwilligung geben. Das Begehren des Bösen fühlen sie gegen ihren Willen, doch sie willigen nicht ein. Es ist ihnen gegeben, dieses Begehren zurückzuhalten, damit es nicht vollbracht wird, doch können sie es nicht beruhigen, dass es nicht aufkommt, noch befehlen, dass es verstummt. Das Begehren des Bösen ist eben nicht der Verfügung des Menschen unterworfen, sodass es nach dessen freier Entscheidung verstummt und nicht aufkommt, oder beim Aufkommen verstummt, oder etwa nicht irgendwie zunimmt. 65.  Daher ist der Gerechte, auch wenn er vom Herrn freigekaufta und dem Joch der Sünde entrissen ist, in diesem Bereich noch nicht frei, weil er von der Begierde des Fleischesb, die sich im Begehren des Bösen regt, noch nicht vollständig befreit ist. Er ist jedoch soweit frei, dass es in seiner Vollmacht liegt, keine böse Begierde zu hegen. Durch die Gnade Gottes, von der er unverdient a  b 

Vgl. 1 Kor 7,22. Vgl. 1 Joh 2,16.

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gerecht gemacht wurde, kann er sie zurückhalten, sodass sie nicht bis zur Einwilligung im Werk gelangt. Diese Gnade wird nämlich dem gewährt, der gerecht gemacht wurde. 66. Zwar kann der Mensch, der gerecht gemacht wurde, auch wenn er durch die Hilfe der Gnade Gottes in diese Freiheita versetzt wurde, in der Versuchung durch die Begierde seine Einwilligung verweigern. Doch kann er die Begierde nicht zurückhalten, bevor sie zum unerlaubten Begehren bewegt wird, sodass es nicht aufkommt, wie vorhin gesagt wurde. Ebenso liegt es nicht in seiner Vollmacht zu bewirken, dass es nicht irgendwie größer wird oder, dass es sogleich verstummt. Dem Menschen wird nämlich noch nicht die Gnade einer so großen Vollmacht verliehen, auch wenn er gerecht gemacht wurde. Wer gerecht ist, kann jedoch durch lange Übung und Schulung in der Zucht die Gnade erhalten, dass sich diese Begierde seltener regt, weniger stark wird und schneller verstummt. 67.  Dagegen wird der Sünder, da er durch die Einwilligung in die Sünde Sklave der Sündeb ist, um so mehr und enger von den Fesseln dieser Knechtschaft umschlungen, je mehr er danach verlangt, dass sich die Begierde in ihm regt, auch wenn sie sich nicht regt. Manche, die in die Tiefe der Ungerechtigkeit versunken sind, heizen sie sogar mit ausgesuchten Methoden an und besorgen sich Anreize zur Sünde, um ihre Gelüste zu befriedigen. Durch sie wünschen sie sich die Wirkung der gewohnten Schlechtigkeit, auch dann, wenn sie keine Gefühle empfinden. Diese lieben die Sünde so sehr, dass sie sogar dann sündigen möchten, wenn sie nicht sündigen können. So sehr gefällt ihnen die böse Begierde selbst und ihre Erregung – nämlich das böse Begehren oder Gefühl – dass sie nicht darauf verzichten wollen, sondern sich wünschen, es möge mehr und mehr in ihnen wachsen. Das ist tiefsitzende Ungerechtigkeit. 68.  Die Begierde ist Ursache und Anfang der darauf folgenden Sünde, wie die Freude ihr Ziel ist, auf das sich das Begehren und die Einwilligung zur Sünde richten. Die Begierde ist veraba  b 

Vgl. Gal 5,13. Vgl. Joh 8,34.

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 65-70

scheuenswert wie der Tod, denn sie führt durch die Freude an der Sünde zum Tod, wie geschrieben steht: Wenn die Begierde dann schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt; ist die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod hervor (Jak 1,15). 69.  Der Gerechte verabscheut also zu Recht die Begierde wie den Tod, zu Recht bekämpft er sie mit seiner ganzen Kraft und dem ganzen Kriegsdienst geistlicher Zucht, um sie wenigstens schwächen zu können, wenn er sie schon nicht völlig auszulöschen vermag. Je mehr aber der Gerechte die Begierde verabscheut, desto mehr liebt er auch die Gerechtigkeit. Je mehr die Begierde des Fleisches, die sich gegen den Geist richteta, abnimmt, desto mehr nimmt die Begierde des Geistes, die sich gegen das Fleisch richtet, zu. Wie die Ungerechtigkeit mit der Begierde des Fleisches ihren Anfang nimmt, so nimmt auch die Gerechtigkeit mit der Begierde des Geistes ihren Anfang. Daher ist der Abscheu vor der Begierde des Fleisches und die Liebe zur Begierde des Geistes bereits eine gewisse Gerechtigkeit, ohne die weder der Anfänger, noch der Fortgeschrittene, noch der zur Vollendung Gelangte gerecht sein können. Er schreitet aber desto mehr voran und gelangt desto näher zur Vollkommenheit, je mehr er die eine verabscheut und je mehr er die andere liebt.

Drei Dinge, die die Freude und den Abscheu vor dem Bösen zur Vollendung führen 70. Diese Freude und diesen Abscheu führen drei Dinge zur Vollendung: die Sehnsucht nach der Gerechtigkeit, der Vorsatz und die Verwirklichung von beiden. Die Sehnsucht ist jedoch allein, ohne den Vorsatz und die Verwirklichung, eine nutzlose Sehnsucht. Wenn sie das Herz des Sünders berührt, führt sie es zu einer momentanen Ergriffenheit, doch zur Zeit der Versuchung bleibt sie wegen ihrer Oberflächlichkeit nutzlos. Vielleicht war die Sehnsucht des Sehers Bileams von dieser Art, als er beim Anblick der Zelte Jakobs ergriffen ausrief: Oh, könnte ich den Tod der a 

Vgl. Gal 5,17.

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Gerechten sterben, und wäre mein Ende dem ihren gleich! (Num 23,10). Eine solche Sehnsucht haben viele Verbrecher, Missetäter und Schurken, die sich für einen Augenblick ergriffen zur Gerechtigkeit hinwenden, doch ohne Nutzen, da sie in verwerflicher Weise zur Schuld zurückkehren. 71.  Es gibt auch manche, die Sehnsucht nach der Gerechtigkeit haben zusammen mit dem Vorsatz, ihr Leben zu bessern. Jedoch schieben sie ihre Pläne lange auf und setzen entweder ihrem Aufschub kein Ende, oder sie setzen sich ein weiteres Ende nach dem Ende. Und wenn das Ende nach dem Ende gekommen ist, so suchen sie anlässlich dieses Endes nach einem weiteren Grund für einen unbefristeten Aufschub ohne Ende. Wenn diese etwa vom Tod überrascht werden, werden sie weder durch die Sehnsucht, noch durch den Vorsatz zur Gerechtigkeit, der aufgeschoben wurde, von der Strafe für die Ungerechtigkeit bewahrt werden. Daher ist für alle, die den Weg der Gerechtigkeit ersehnen und sich ihn vornehmen, die Verwirklichung der Sehnsucht und des Vorsatzes notwendig. Es sind zwei verschiedene Dinge, ob einer schon beim Aufbrucha Jerusalem vor Augen hat und beim Gehen sein Antlitz nach Jerusalem richtet, oder ob sich einer in fruchtloser Sehnsucht den Weg vornimmt, immer wieder aufschiebt und den Weg niemals in Angriff nimmt. 72.  Die Verwirklichung der heiligen Sehnsucht und des heiligen Vorsatzes ist eine Übung mit Leib und Seele entsprechend der Begierde des Geistes und gegen die Begierde des Fleisches: mit der ersten stimmt man im Hinblick auf die Gerechtigkeit überein, der zweiten dagegen stimmt man niemals gegen die Gerechtigkeit zu. Die Sehnsucht nach der Gerechtigkeit, der Vorsatz zur Gerechtigkeit und die unermüdliche Verwirklichung von beiden führen den heiligen Abscheu vor der Begierde des Fleisches zur Vollendung. Diese beginnt das Unrecht durch die Sehnsucht und den Vorsatz zum Bösen und macht es voll ohne Sehnsucht und Vorsatz zum Guten. 73.  Die Sehnsucht und der Vorsatz zum Bösen genügen, dass einer böse ist. Die Sehnsucht und der Vorsatz zum Guten dagegen a 

Vgl. Lk 9,53.

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 70-75

genügen nicht, dass einer gut ist. Ohne diese beiden ist trotzdem keiner gut, keiner nicht schlecht. Denn alle, die den Vorsatz zum Guten und die Sehnsucht danach nicht besitzen, lieben die böse Begierde über alles Maß. Sie lassen böse Gefühlsantriebe nicht gleichsam durch die Versuchung in sich hinein, sondern lassen sich auch ohne Versuchung freiwillig auf sie ein. Von solchen Menschen steht geschrieben: Aus dem Fettgewebe kommt gleich­ sam ihre Ungerechtigkeit heraus, sie ließen sich auf den Gefühlsan­ trieb ihres Herzen ein (Ps 72,7V). Und: Sie wurden in der Wüste begehrlich (Ps 105,14). 74.  Diese Begierde raubt, wenn man ihr nicht Widerstand leistet, zunächst die Einwilligung zum Guten, dann den Vorsatz und die Sehnsucht nach dem Guten, bis sie sich schließlich den ganzen Willen und den ganzen Verstand dienstbar macht. So greift weder die Bewegung des Willens nach dem Guten, noch lässt der Funke des Verstandes auch nur ein wenig Licht aufleuchtena, sondern das ganze Herz verhärtetb und verfinstert sich, und die Leuchte in Israel wird ausgelöschtc. Wenn sich aber weder der Wille zur Sehnsucht nach dem Guten, noch der Verstand zum guten Vorsatz bewegen, feiert die siegreiche Begierde einen herrlichen Triumph, da sie sich beides unterworfen hat. Dieser ist umso herrlicher, weil beide nicht mehr murren oder Widerstand leisten. 75.  Wer so von der siegreichen Begierde besiegt wird und so blind ist, dass er sie liebt, muss folgerichtig die Begierde des Geistes, die das genaue Gegenteil ist, verabscheuen. Er verabscheut nämlich die Gerechtigkeit; er verabscheut es, in die Gerechtigkeit einzuwilligen, er verabscheut es, die Gerechtigkeit auch nur zu begehren, er verabscheut es, das Böse nicht zu begehren, er verabscheut es, in die böse Begierde nicht einzuwilligen; er verabscheut es, nicht zu sündigen; er verabscheut es, die Sünden zu lassen; er verabscheut die Reue; er verabscheut die anklagende Wahrheit; er verabscheut die Weisheit, die ihm Nützliches anrät; er verabscheut die Zucht des Friedens; er verabscheut die Gnade Gottes, Vgl. Augustinus, De ciuitate Dei XXII, 24, 2 (CCSL 44, 847-847). Vgl. Hebr 3,8 u.a. c  Vgl. 2 Kön 21,17.

a 

b 

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und es fehlt nur wenig, dass er auch Gott verabscheut. Ja, im Voranschreiten des Unrechts verabscheut er auch ihn ohne Grunda, er fällt in immer größeres Unrecht, bis er in die Sünde fällt, die nicht vergeben werden kann, die nicht vergeben wird, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt (Mt 12,32). Die siegreiche und triumphierende böse Begierde stürzt ihren Untertan von einer Sünde in die andere, sodass sie ihn von der Eigenliebe bis zur Zurückweisung Gottes führt, bis der Brunnenschacht über ihm seinen Rachen schließt (Ps 68,16). 76.  Für dieses so große Übel liegt die Ursache einerseits in der Freude an der Sünde, andererseits in der Begierde nach der Sünde. Die erste Ursache gibt an, wozu, die zweite dagegen wodurch es soweit kommt. Die zweite ist der Anfang, die erste das Ziel. Die zweite führt durch den unerlaubten Reiz der Dinge vom Guten weg und verführt zum Bösen; die erste fängt und fesselt den Weggeführten und Verführten. Die zweite geht der Einwilligung zur Sünde als Ursache voraus, die erste folgt.

Das Fleisch, die Knochen und das Mark der Sünde 77.  Wie man bei einem Menschen Leib und Seele unterscheiden kann – der Leib aber offensichtlich Fleisch und Knochen und in den Knochen das Mark hat, die Seele dagegen – wie man glaubt – die Entscheidungsfreiheit innehat, den Leib zu bewegen, so ist es auch bei der Zusammensetzung einer Sünde: Unser alter Mensch (Röm 6,6), der nicht ohne Grund Mensch der Sünde oder Sohn des Verderbens (2 Thess 2,3) genannt werden kann, hat die Begierde als Fleisch der Sünde nach dem Apostelwort: Die Begierde des Fleisches richtet sich gegen den Geist (Gal 5,17). Die Einwilligung aber, in der die Kraft der Sünde besteht wie in den Knochen die Kraft des Leibes, besitzt er als Knochen; die Freude hingegen als Mark. Als Seele besitzt er das, was im Geist das Erhabenste und Höchste ist und über das entscheidet, was er begehrt, wozu er zustimmt und auch, was ihn erfreut. Ihm können Begehren, Eina 

Vgl. Ps 34,19 und 68,5.

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 75-80

willigung und Freude gefallen oder missfallen, ohne seine Einwilligung wird weder das Begehren zur Einwilligung geführt, noch der Leib zum Handeln bewegt, noch wird aus der Bewegung ein Werk, in dem die erstrebte Freude gesucht wird. 78.  Wenn aber alles dem Geist, der bei allem die Führung innehat, gefällt und er sich an allem freut, wird die Freude nicht nur beim Werk empfunden, sondern es gibt außer der Freude beim Werk noch die Freude des Geistes sowohl bei der Einwilligung als auch beim Begehren, doch nur dann beim Begehren, wenn auch bei der Einwilligung. Denn wenn man nicht einwilligen möchte, möchte man etwas entweder überhaupt nicht oder nicht besonders gern begehren. Wenn man aber einwilligen möchte, möchte man es auch verwirklichen. Wer all das möchte, freut sich auch an all dem. 79.  Die Freude aber, die im Begehren liegt, scheint zwar mehr zum Begehren selbst zu gehören als zur Einwilligung, – das heißt – mehr zum Fett des Fleisches als zum Mark – dennoch erkennt man, dass sie in dem Sinn zur Einwilligung gehört, dass ohne Einwilligung das Begehren überhaupt kein Gefallen findet. Daher findet sich zwischen dem Mark mit der Freude am Werk auch die Freude am Begehren, die Freude an der Einwilligung und die ganze Freude des Geistes, nach dessen Wink alles, woran man eine böse Freude hat, durchgeführt wird. 80.  Dieses Mark aber, das ganz tief in den so verborgenen Knochen versteckt ist – wer oder wessen Schwert kann es zur Scheidung führen? Nur der, der die Knochen der Sünder zermalmen und die Hörner zerschlagen kanna. Er ist es ja, der die Stolzen demütigt bis zu Staub und Ascheb. Er streut den Nebel aus wie Staub, Eis wirft er herab in Brocken (Ps 147,16-17). Er führt die Ge­ fangenen hinaus in seiner Macht, ebenso jene, die verwildert sind, die in Gräbern wohnen (Ps 67,7). Er ist es, der die Toten auferwecken kann, der allein stark genug ist, um alle schädliche Freude in die Bitterkeit der Buße zu verwandeln, dass man volles Missfallen

a  b 

Vgl. Ps 74,11. Vgl. Ijob 30,19

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an dem hat, was vorher in böser Weise Gefallen gefunden hatte, bis der Leib der Sünde (Röm 6,6) bis ins Mark verzehrt ist. Der Richter über die Gedanken und Absichten des Herzens; vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden (Hebr 4,12-13). 81.  Gott kennt die Gedanken und Absichten unseres Herzensa. Es besteht kein Zweifel, dass er – für sich gesehen – alle, – für uns gesehen – aber alle jene kennt, deren Eigenart er uns durch die Gnade der Unterscheidung erkennen lässt. Der Geist jedoch, der im Menschen ist, kennt nicht alles, was im Menschen istb. Was seine Gedanken betrifft, die er mit oder ohne Einwilligung wahrnimmt, so nimmt er sie nicht immer so wahr, wie sie tatsächlich sind. Und bei jenen, die er vor dem Auge des Geistes sieht, merkt er gewisse Feinheiten nicht, weil seine Augen getrübt sind. 82. Oft wird einem nämlich von seinem eigenen Denken, mag es nun vom Menschen oder von der Versuchung des Teufels kommen, unter dem Anschein der Frömmigkeit etwas eingegeben, was die lobende Bezeichnung Tugend vor den Augen Gottes nicht verdient. Es gibt nämlich gewisse Ähnlichkeiten mit den wahren Tugenden und ebenso mit den Fehlern, die den Augen des Herzens etwas vorspiegeln und durch gewisse Täuschungsmanöver so auf die Schärfe des Geistes einwirken, dass häufig der Anschein des Guten bei etwas nicht Gutem und der Anschein des Bösen bei etwas nicht Bösem zu sehen sind. Das ist ein Teil unseres Elends und unserer Unwissenheit: sehr zu bedauern für uns, und sehr zu fürchten! Es steht nämlich geschrieben: Es gibt Wege, die den Menschen richtig scheinen, die aber am Ende in die Tiefe der Hölle hinab führenc. 83.  Dieser Gefahr zu entgehen mahnt uns der selige Johannes mit den Worten: Prüft die Geister, ob sie aus Gott sind! (1 Joh 4,1). Wer aber kann prüfen, ob die Geister aus Gott sind? Nur der, dem von Gott die Unterscheidung der Geister geschenkt wurde, Vgl. Hebr 4,12. Vgl. Joh 2,25. c  Vgl. dazu auch Spr 16,25 und 14,12 nach der Vetus latina; Regel des heiligen Benedikt 7, 21 (SC 181, 478). a 

b 

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 80-84

sodass er die Gedanken, Gefühle und Absichten im Geist mit feinem Blick und wahrem Urteil prüfen kann. Die Unterscheidung ist ja die Mutter aller Tugendena und notwendig für jede einzelne, sei es bei der Leitung eines fremden Menschenlebens, sei es bei der Ausrichtung oder Korrektur des eigenen. Sie kann freilich nicht durch Worte unserem Sinnen und Denken mitgeteilt werden, außer durch jenes lebendige und kraftvolle Wort, das über die Regun­ gen und Gedanken des Herzens richtet (Hebr 4,12). Dieses Wort aber lenkt unser ganzes Leben nach einer sicheren Richtlinie und leitet es zu einem sicheren Ziel. Wenn es uns belehrt, müssen wir bei allem, was wir zu tun planen, immer an Gott denken, damit es in seinem Sinn und ebenso seinetwegen geschieht. Fragt ihr, wie man in seinem Sinn und wie man seinetwegen handelt? Hört beides. 84.  Unser ganzes Leben muss entsprechend der Richtlinie der Gebote Gottes gelenkt werden. Unser ganzes Tun muss zum Ziel der Verheißungen Gottes geleitet werden. Wir haben nicht das Recht, etwas anderes zu tun, als was er uns aufträgt, erlaubt oder rät; wir sollen nichts anderes hoffen, als was er verheißt und weil er es verheißt. Unsere Gerechtigkeit wird nämlich nach dem Wink dessen ausgerichtet, der einen Auftrag oder Rat gibt; unsere Hoffnung an der Wahrhaftigkeit dessen aufgerichtet, der die Verheißung ausspricht. Richtig ist das Nachdenken über das, was getan werden muss, wenn es sich nach dem Wink Gottes richtet; gläubig ist die Absicht, wenn sie sich einfach auf ihn ausrichtet. So erst wird der ganze Leib unseres Lebens oder irgendeiner unserer Handlungen hell sein, wenn das Auge lauter istb. Das ist das lautere Auge – und das Auge ist lauter, weil es durch das rechte Denken sieht, was zu tun ist, und durch die gläubige Absicht in Lauterkeit tut, was nicht mit Hintergedanken getan werden darf. Das rechte Denken lässt keinen Irrtum zu; die gläubige Absicht schließt Heuchelei aus. Das ist die wahre Unterscheidung: die Verbindung zwischen dem rechten Denken und der gläubigen Absicht. WunVgl. Regel des heiligen Benedikt 64, 19 (SC 182, 652); Bernhard von Clairvaux, 3. Predigt zur Beschneidung 11 (BCSW VII, 317-319). b  Vgl. Mt 6,22. a 

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dere dich nicht, weil ich gesagt habe, die Unterscheidung liege in der Verbindung, da die Unterscheidung zu einer Scheidung führt. Diese Verbindung kann nämlich ohne Scheidung nicht bestehen. Der nämlich, der diese beiden Dinge verbindet, scheidet das Licht von der Finsternis. Irrtum und Heuchelei sind finster; Gerechtigkeit und gläubige Gesinnung Licht im Herrn (Eph 5,8). 85.  Wer jedoch bei der Wahl dessen, was zu tun ist, oder beim Ziel, das zu erhoffen ist, das rechte Denken im Sinne Gottes oder die gläubigen Absicht um Gottes willen bei sich auszuscheiden versucht, da sein Auge teilweise finster ist, der geht entweder in der Finsternis oder weiß nicht, wohin er gerät (Joh 12,35). In der Fins­ ternis geht freilich jeder, der Böses tut; und derjenige weiß nicht, wohin er gerät, der nicht auf Gott hin ausgerichtet ist. Daher darf man das Böse um Gottes willen nicht tun, und ebenso wenig das Gute anders als um Gottes willen. Eine eitle Absicht verdirbt das gläubige Werk, und die gläubige Absicht entschuldigt nicht die Ungerechtigkeit eines Werkes. 86. Alles muss also im Licht der Unterscheidung getan werden, ebenso in Gott und vor Gott, denn vor ihm bleibt kein Ge­ schöpf verborgen (Hebr 4,13). Kein leibliches, kein beseeltes, kein geistiges Geschöpf: nichts, was von Gott geschaffen wurde wegen des Menschen oder im Menschen, nichts, was im Menschen oder vom Menschen geschaffen wurde, ist gegen Gott. Alles Große, was im Menschen ist, was selbst der Mensch nur teilweise sieht und teilweise nicht sieht – all das liegt vor Gott offen da. Das Menschenherz ist nämlich ein großer Abgrund: Alle Finsternis ist in seiner Verborgenheit versteckt (Ijob 20,26). Darin gibt es Kriech­ tiere ohne Zahl (Ps 103,25). Gott aber, der das Verborgene siehta und der auch das im Finstern Verborgene erhellen wird (1 Kor 4,7), um die Gedanken vieler Menschen offenbar zu machen (Lk 2,35), sieht alles, sei es sichtbar oder unsichtbar. Alles liegt nämlich nackt und bloß vor seinen Augen (Hebr 4,13). 87.  Vieles ist gegenwärtig verborgen und verhüllt durch heimliches Verschweigen und Beschließen, durch Ersonnenes und Ausgedachtes, Betrug und List, Kunst der Worte und der Geschäfte, a 

Vgl. Mt 6,6.

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18. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes Gottes, 84-88

Entschuldigungen und Verweigerungen, Vortäuschungen und Vertuschungen, doch ist nichts verborgen, was nicht bekannt wird (Mt 10,26). Alles, was jetzt meisterhaft verhüllt ist, wird dieses Wort, dem wir Antwort geben müssen (Hebr 4,13), seiner Hüllen berauben. Ihm müssen wir nämlich Rechenschaft ablegena, und von dieser Rechenschaft gilt, dass ihr der Gerichtsspruch über unser ganzes Leben anvertraut ist. So aber betrachtet der Herr die Wege eines jeden, so zählt er die Schritte, dass in seinem Urteil nicht einmal die geringfügigsten Gedankenb oder kleinsten Worte, die bei uns durch die Gewohnheit alltäglich geworden sind, ohne Prüfung durchgelassen werden. 88. Welche Antwort könnte für mich passen oder welche Rechenschaft könnte ich über mich ablegen, außer dass ich mit dem Propheten sage: Du kennst meine Gedanken von ferne, mein Pfad und mein Los sind dir bekannt; du bist im Voraus vertraut mit all meinen Wegen, denn es liegt mir kein Wort auf der Zunge (Ps 138,3-4V)? Guter Jesus, ich vermag keine Rechenschaft abzulegen, nimm du als Rechenschaft das Gebet an und geh mit deinem Knecht nicht ins Gericht; denn keiner, der lebt, ist gerecht vor dir (Ps 142,2).

a  b 

Vgl. 1 Petr 4,5. Vgl. Ijob 31,4.

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Sermo 19 Traktat IX/iv Predigt über die Verachtung des Reichtums

Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden (Mt 5,6).

1.  Viele hungern mehr nach Geld als nach Gerechtigkeit: und das aus keinem anderen Grund, als um satt zu werden und gesättigt gute Tage (Ijob 21,13) zu erleben. Als selig werden nämlich die betrachtet, die viel Geld haben, wie geschrieben steht: Selig priesen sie das Volk, dem es so ergeht (Ps 143,15). Sie priesen, heißt es in Wiedergabe der Meinung von anderen, nicht in der Darlegung der eigenen Ansicht. Denn nach seiner eigenen Ansicht sagt einer: Reiche müssen darben und hungern (Ps 33,11). Sie darben, da ihnen das, was sie haben, nicht genügt; Sie hungern, weil sie unersättlich nach dem verlangen, was sie nicht haben. Die wahre Sättigung aber kommt nicht vom Geld, sondern von der Gerechtigkeit. 2.  Trotzdem gibt es auch eine Sattheit der Reichen, da geschrieben steht: Dem Reichen raubt sein Reichtum die Ruhe des Schlafs (Koh 5,11). Diese Sattheit aber ist Überfluss im Gebrauch, nicht das Ende des Darbens, eine Unterdrückung des Kranken, keine Heilung der Krankheit, ein Anreiz für das Laster, keine Erfüllung für die Sehnsucht. Nutzlos ist also diese Sattheit, die für die Hungernden keine Befriedigung darstellt, weil sie niemals

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zufriedenstellt. Das ist Wasser aus dem Brunnen in Samaria, von dem geschrieben steht: Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen (Joh 4,13). Die Hungernden – so heißt es – be­ schenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehn (Lk 1,53). 3.  Wer sind diese Hungernden, die mit Gaben beschenkt und daher voll und ganz gesättigt werden, wenn nicht jene Menschen, von denen geschrieben steht: Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit (Mt 5,6)? Oder was ist das für eine Gerechtigkeit, die selig und satt macht, wenn nicht Christus, den Gott für uns zur Weisheit gemacht hat und zur Gerechtigkeit (1 Kor 1,30)? Das ist freilich die Weisheit, die da sagt: Wer mich isst, den hungert noch, und wer mich trinkt, den dürstet noch (Sir 24,29). Christus wurde für uns zur Gerechtigkeit, da er uns unentgeltlich gerecht macht, unentgeltlich Gerechtigkeit schenkt und durch die Gerechtigkeit in uns bleibta als Urheber des Geschenkes zusammen mit seinem Geschenk. Er selbst ist unsere Speise, die Gerechtigkeit gibt, und unsere Speise ist die Gerechtigkeit selbst, die er gibt. 4.  Daher sprach jener, der durch einen Fall die Gerechtigkeit verlor und die verlorene Gerechtigkeit beklagte: Ich habe vergessen, mein Brot zu essen (Ps 101,5). Und da er durch die Buße wiederhergestellt werden wollte, fügte er hinzu: Staub muss ich essen wie Brot (Ps 101,10). Diese Speise der Gerechten ist es, nach der keiner hungert, außer wenn er davon gegessen hat. Durch das Verkosten hungert er, und durch das Hungern verkostet er; und je mehr er verkostet, desto mehr hungert er: je mehr sie ihn erquickt, desto köstlicher wird sie für ihn. Sie lockt ihn nämlich so durch ihren Wohlgeschmack an, dass beim Verkosten der Appetit wächst und das Verkosten ohne Überdruss fortgesetzt werden kann. 5.  Ist also die Liebe zur Gerechtigkeit ebenso unersättlich wie die Liebe zum Geld? Wenn der Hunger durch den Zuwachs an Gerechtigkeit immer stärker wird und zunimmtb, wann wird er dann ein Ende haben, und wann wird die Sättigung erreicht werden? Darauf soll der Prophet antworten und sagen: Ich aber will a  b 

Vgl. Joh 15,4-7. Vgl. 2 Kor 9,10.

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19. Predigt über die Verachtung des Reichtums, 2-8

in Gerechtigkeit dein Angesicht schauen, mich satt sehen an deiner Gestalt, wenn ich erwache (Ps 16,15). Daher gehört der Hunger zur gegenwärtigen Welt, die Sättigung aber zur kommenden, wenn die gesättigt werden, die jetzt hungern. 6.  Wer sind aber jene, die jetzt hungern: alle, die sich nach Gerechtigkeit sehnen, oder nur die, welche die Gerechtigkeit lieben? Es sind nämlich zwei verschiedene Dinge: sie irgendwie zu ersehnen oder sie zu lieben. Doch gibt es keine Liebe ohne Sehnsucht; die Sehnsucht jedoch steht schon vor der Liebe. 7.  Es gibt nämlich manche, die noch böse sind, sich aber vornehmen und danach sehnen, gerecht zu sein, jedoch die Zeit der Buße aufschieben und den Anfang der Umkehr hinauszögern. Durch die Freude an der Sünde gebunden und überwunden, und durch die Gewöhnung an das Sündigen belastet lieben sie noch, was sie ihrer Sehnsucht nach nicht lieben möchten, und greifen noch nicht nach dem, was sie erstreben. Zur Gerechtigkeit werden sie nämlich hingetrieben, doch sie halten an der sündigen Lust fest. Sie hängen am Bösen und verlangen mit der Glut der Sehnsucht nach dem Guten. Stärker wirkt nämlich der Hang zum Bösen, dass sie böse sind, als bloß das Verlangen nach dem Guten, dass sie gut sind. 8.  Im Gegensatz dazu wirkt bei den Guten in der Versuchung, schuldig zu werden, der Hang zum Guten, mit dem sie an der Gerechtigkeit festhalten, stärker als die unbesonnene Erhitzung der Seele, in der sie plötzlich nach dem Bösen verlangen. Die Guten haben immer einen Hang zum Guten: bald im Verlangen nach dem Guten, bald gemäß ihrer Zustimmung trotz des Verlangens nach dem Bösen. Die Bösen aber haben immer den Hang zum Bösen: bald mit dem Verlangen nach dem Bösen, bald ohne Zustimmung mit dem Verlangen nach dem Guten. Es gibt ja zwei Arten des Begehrens. Beide finden sich bei den Guten und beide bei den Bösen: das Begehren des Fleisches und das Begehren des Geistes, die sich als Feinde gegenüberstehena. Denn das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch (Gal 5,17). a 

Vgl. Gal 5,17.

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9.  Das Begehren des Fleisches bewegt sich bei den Guten auf die Sünde hin, doch gelangt es nicht bis zur Zustimmung zur Sünde: Vorherrschend ist nämlich bei ihnen das Begehren des Geistes. So richtet sich auch bei den Bösen die Ergriffenheit auf die Gerechtigkeit, doch wird ihr nicht zugestimmt: Vorherrschend ist nämlich bei ihnen das Begehren des Fleisches. Das Streben nach dem Guten jedoch ist bei den Bösen zusammen mit dem Vorsatz und der Sehnsucht nach einem besseren Leben ein gewisser Ausdruck der Gnade Gottes, doch Gnade eines inneren Rufes und nicht der Gerechtmachung. Die Gerechtigkeit besteht eben nicht allein im Gefühlsantrieb, sondern in der Zustimmung. Was, sagt der Apostel, haben denn Gerechtigkeit und Gesetzwidrigkeit mitei­ nander zu tun? Wie verträgt sich der Tempel Gottes mit Götzenbil­ dern? (2 Kor 6,14.16). 10.  Freilich gibt keiner der Gerechtigkeit eine Zusage, wenn er nicht der Ungerechtigkeit eine Absage erteilt, wenn er diese nicht verlässt und sich ohne Zögern abwendet. Wer aber der Gerechtigkeit zustimmt, beginnt sie schon zu lieben, hungert bereits nach der Gerechtigkeita und ersehnt sie bereits in würdiger Weise. Und er hat keineswegs nicht, was er ersehnt, sondern er ersehnt, mehr zu haben. Schon hat er seinen Fuß auf den rechten Weg gesetzt und verlangt danach, auf ihm nach vorne weitergeführt zu werden. Er spricht: Wären doch meine Schritte fest darauf gerich­ tet, deinen Gesetzen zu folgen! (Ps 118,5). Schon passt auf ihn jenes Wort eines Gerechten: In Sehnsucht nach deinem Urteil verzehrt sich allezeit meine Seele (Ps 118,20). Schon ist er voll Begehren und Sehnsucht; und nicht zufrieden mit dem Maß seiner Sehnsucht begehrt er, mehr zu ersehnen; er lechzt nach dem Vollkommenen, seufzt nach dem Fortschritt, um das Gute in sich wachsen zu lassen und allezeit im Guten zu verharren. 11.  So wächst die Gerechtigkeit durch ihren Beginn und wird nach festen Stufen geordnet: der Zustimmung, dem Gefühlsantrieb, der Verwirklichung, der Übung, der Gewohnheit und dem Genuss. Beginn der Gerechtigkeit ist die Zustimmung. Wenn der Geist vom Abscheu gegen die Ungerechtigkeit erfasst ist und der a 

Vgl. Mt 5,6.

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19. Predigt über die Verachtung des Reichtums, 9-14

Gerechtigkeit durch die Liebe zum Guten zuzustimmen beginnt, wird er zu guten Taten angeregt. Und wenn die Verwirklichung auf den Gefühlsantrieb folgt, strebt er danach, aus Freude am guten Werk sich an gute Werke zu gewöhnen und die Gewohnheit schließlich durch Ausdauer zu bekräftigen. Und unter all dem – und mehr noch nach all dem – bereitet es Freude, am beglückenden Genuss der Gerechtigkeit teilzuhaben. 12.  Der Genuss der Gerechtigkeita ist nicht einfach zu erlangen. Er ist nämlich der Genuss der zukünftigen Zeit. Die Sättigung aber, die hier verheißen wird, ist auch ein Genuss der gegenwärtigen Zeit: ein gewisses Vorkosten der künftigen Seligkeit, die einstweilen in der Freude an der Gerechtigkeit wahrgenommen wird. Über diese Freude spricht der Prophet: Nach deinen Vor­ schriften zu leben freut mich mehr als großer Besitz (Ps 118,14). 13.  Die zukünftige Sättigung umfasst zwei Dinge, die unserer Sehnsucht wert sind: das ewige Leben und die immerwährende Freude. Die Gerechtigkeit erlangt und erreicht beides. Denn über die Sättigung mit dem ewigen Leben steht geschrieben: Ich sättige ihn mit langem Leben (Ps 90,16), zweifelsohne den Gerechten. Über die Sättigung mit der immerwährenden Freude steht geschrieben: Sie laben sich am Reichtum deines Hauses; du tränkst sie mit dem Strom deiner Wonnen (Ps 35,9), zweifelsohne die Gerechten. 14.  Die Gerechtigkeit also, die belebt und erfreut, ist Speise und Trank. Speise ist auch das Brot des Lebens, wenn es Leben schenkt und für immer bewahrt. Die Gerechtigkeit bedeutet nämlich den Erwerb der Unsterblichkeitb. Trank ist auch der Wein der Freude, wenn er Freude weckt und sie ohne Ende erhält. Selig also, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit (Mt 5,6), und selig, die sich danach sehnen, zu leben und sich zu freuen, nicht in der Welt, sondern in Christusc. Sie werden nämlich die Sättigung erlangen, wenn Jesus Christus ihre Sehnsucht mit seinen Gütern stillen wird, er, der als Gott über allem steht. Ihm sei Lobpreis in Ewigkeit (Röm 9,5). Vgl. Phil 1,11; Jak 3,18. Vgl. Weish 1,15 (vet. lat.). c  Vgl. Röm 6,11. a 

b 

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Sermo 20 Traktat X/ii Das Elend und die Armut des Menschen wegen seiner Schuld

1.  Der Mensch, der sich durch die Schuld des Ungehorsams von Gott abwandte, verfiel der überaus gerechten Strafe für seine Sünde. Indem er vom unveränderlichen Gott abfiel, verfiel er auch in sich selbst, und durch seine Schritte des Verfalls alterte er ständig und wurde ein Greis, bis er sich zuletzt im Tod auflösen sollte. Was nämlich veraltet und vergreist ist, das ist dem Untergang nahe (Hebr 8,13). 2. Als sich der Mensch von Gott abwandte, der stets ein und derselbe ista, wurde er durch seinen zornigen Blick (Ps 54,22) gespalten. Nun ist er in sich gespalten, sodass er nicht ständig ein und derselbe mit sich sein konnte, sondern ständig ein jeweils anderer ist, und es erfüllt sich das Schriftwort: Der Tor ändert sich wie der Mond (Sir 27,12). Er ist nämlich so entfremdet und verschieden von sich selbst, er ist so uneinig und unstimmig, dass man kaum einen anderen finden kann, der sich von einem zweiten mehr unterscheidet, als der eine Mensch von sich selbst. Er will nämlich und will auch wieder nicht; dasselbe hasst und liebt er abwechselnd, er gibt eine Zusage und wieder eine Absage, er billigt und verurteilt etwas, er sucht und verwirft es, er pflegt und a 

Vgl. Hebr 1,12.

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vernachlässigt es. Oft wird er nach Übernahme einer Arbeit dieser übernommenen Arbeit überdrüssig; und nach der Tat bereut er die Tat. Seine Wünsche und Sehnsüchte, sein Streben und Planen, seine Gedanken, Gefühle und Absichten ändert er in vielfältiger Weise, als würde er sich selbst ständig missfallen – und in all dem verändert er sich selbst. Ja, er ist ein Mann mit zwei Seelen, unbeständig auf all seinen Wegen (Jak 1,8). Welchen Frieden soll der elende Mensch in einem solchen Wechsel von Veränderungen finden, in einer solchen Leichtfertigkeit seiner unbeständigen Seele? Die Ruchlosen finden keinen Frieden, spricht der Herr (Jes 57,21). 3.  Die verdrehte Seele, die Gott und sich selbst Widerstand leistet, ist sich selbst Folterknecht und Folter: Ständig vollstreckt sie an sich Strafen, und ständig büßt sie diese ab: Sie, die sich Gott durch die Verfehlung ihrer Schuld widersetzt, ist gleichsam Handlanger Gottes in der Vollstreckung der Strafe. Sieh, wie die Bösen durch Gottes zornigen Blick gespalten sinda: Sie stehen gerade sich selbst in solchem Ausmaß feindlich gegenüber, dass sie sich selbst verfolgen. In dem Ausmaß, als sie Gott Widerstand leisten, im selben Ausmaß leisten sie diesen auch sich selbst. Sie finden in ihrem Wollen keinen Frieden, da sie am Willen Gottes Anstoß nehmen. 4b.  Doch sind etwa nur die Bösen gespalten? Was ist mit dem Geist des Gerechten, der mit der Verwaltung zeitlicher Dinge beschäftigt, durch vielerlei Sorgen angespannt und daher weniger auf Gott hin ausgespannt ist: ist nicht auch er gespalten? Martha wird doch gesagt: Martha, Martha, du machst dir viele Sorgen und Mühen (Lk 10,41). Was bedeutet diese Verdopplung? Oder war es nicht genug, einmal „Martha“ zu sagen, statt wiederholt: „Mar­ tha, Martha“? Oder weist diese Wiederholung auf eine Spaltung hin? „Martha“, sagt Jesus einmal, und ein zweites Mal: „Martha“. Martha ist sicherlich gespalten, Martha ist besorgt, Martha ist bemüht: besorgt in Hinblick auf die Zukunft, bemüht in der Sorge

a  b 

Vgl. Ps 54,22. Zu diesem Abschnitt vgl. Balduin von Ford, Sermo 12, 13.

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20. Das Elend und die Armut des Menschen wegen seiner Schuld, 2-6

für das unmittelbar Notwendige. Du machst dir viele Sorgen und Mühen (ebd.). 5.  Sehr vieles macht tatsächlich Mühe. Der elende Mensch hat nämlich sehr viele Bedürfnisse. Das Elend ist nämlich stets mit einem Bedürfnis verbunden, und stets darbt der, welcher elend ist. Die Bedürfnisse des Menschen aber sind so zahlreich und unterschiedlich, so unentwirrbar und verworren, dass sie während des ganzen Menschenlebens gar nicht gestillt werden können. Der ständige und unablässige Wandel der Dinge und Zeiten führt zu ständig neuen Bedürfnissen und bringt neue Sorgen hervor. Und wenn ein Bedürfnis abnimmt, so nimmt ein anderes zu. Ein Bedürfnis zieht nämlich ein zweites nach sich; und wenn das zweite das erste verdrängt, drängt dieses wieder zu einem anderen hin, das auf es folgt. Und wenn man dem einem abhilft und weiterhilft, so entsteht gleich ein weiteres! Wie wenn einer etwas bei dem einen ausborgt und es dem anderen zurückzahlt, so verpflichtet er sich dadurch, dass er eine Verpflichtung erfüllt. So ist es im ganzen Menschenleben: Wenn der Knoten eines Bedürfnisses aufgeknüpft ist, wird ein anderer geschnürt, und der arme Mensch, der sich immer befreien möchte, strebt in kunstvoller Weise danach, sich immer neu zu binden. Ja, die Wege des Menschen sind wirklich mit Dornen besät! Auf diese Weise flieht man ständig vor einem Bedürfnis und stößt doch ständig darauf, und um ein Bedürfnis zu meiden, sucht man nach einer Menge anderer und erfährt seinen Mangel. 6.  Denn was soll man selbst von den Reichen anderes denken, die sich ihres großen Reichtums rühmen (Ps 48,7), als das, was die Schrift sagt: Reiche müssen Mangel leiden und hungern (Ps 33,11). Die viel haben, brauchen auch viel; und wo es viele Reichtümer gibt, gibt es auch viele, die sie verzehrena. Oft leiden jene, die sie von anderen gegen deren Willen erpressen, selbst gegen ihren Willen Ähnliches. Oft geben sie auch unwillig weiter, was sie von Unwilligen empfangen. Die aber Reichtümer haben und sie nicht austeilen, weil sie sie stets aufbewahren wollen, um nicht dem Mangel zu verfallen, die leiden noch mehr Mangel. Denn sie leia 

Vgl. Koh 5,10.

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den in gleicher Weise Mangel in dem, was sie haben, und in dem, was sie nicht haben. Ihre Krankheit wird durch ihre Heilmittel immer schlimmer, und ihr Bedürfnis ist unheilbar, da ihre Gier unstillbar ist. 7. Diese Bedürfnisse, unter denen die elenden und beklagenswerten Menschen leiden, kommen von der Liebe zu nicht notwendigen Dingen. Sie suchen in ihren vielen Bedürfnissen Trost und finden ihn nicht. Nur eines ist notwendig (Lk 10,42). Ja, wirklich, eines ist notwendig! (Lk 10,42) und ohne dieses ist nichts notwendig: das eine und höchste Gut! Dieses Eine kann allen genügen, und ohne es kann alles nicht einmal einem einzigen genügen. Wegen dieses Einen hat Petrus alles verlassena, um in dem Einen alles zu besitzen. Er wollte nicht das Eine entbehren, und so weder das Eine noch alles besitzen. Eines, sagt der Prophet, erbat ich vom Herrn, danach verlangt mich (Ps 26,4). Wer nach diesem Einen verlangt, braucht kein Gut zu entbehren (Ps 33,11). Wer dieses Eine nicht hat, entbehrt sich selbst. Arm an Geist besitzt er weder seinen Verstand, noch hat er das Herz in seiner Gewalt. Wer aber arm an Geist ist, was hat der, da er sich selbst nicht hat? Wenn aber der, der Gott nicht besitzt, weil er sich selbst nicht besitzt, in einem wahren Sinn nichts als Sünden besitzt, so handelt Gott wunderbar in seinem Urteil: Der Ungerechte, der seiner Meinung nach viel hat, hat gerade dort leere Hände, wo sie ihm voll vorkommen. Und wovon er sich Überfluss erhofft, daran leidet er Mangel. 8.  Die Schrift kann nicht aufgehoben werden (Joh 10,35), die von Gott sagt: Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen (Lk 1,53). Und an anderer Stelle sagt die Schrift über die Reichen: Sie sinken hin in den Schlaf; nichts finden alle reichen Männer in ihren Händen vor (Ps 75,6V). Wenn die Reichen in den Schlaf sinken (ebd.) und davon träumen, viel in ihren Händen zu halten, so besitzen sie dennoch keinen Reichtum. Und wenn sie sich in ihrer nichtigen Meinung selbst betrügen, sodass sie sich für glücklich halten, wenn sie elend sind, sind sie dann wohl bei Verstand? a 

Vgl. Mt 19,27.

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Sermo 21 Traktat XIII Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen

Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist (Röm 5,5).

1.  Die Liebe Gottes, mit der er uns geliebt und in seinem geliebten Sohn erwählt hat vor der Erschaffung der Welt (Eph 1,4), ist selber die Quelle und der Ursprung aller Güter, die uns am Tag unserer Erschaffung, am Tag unserer Erlösung und am Tag unserer Gerechtmachung und Heiligung geschenkt wurden; darüber hinaus noch ebenso der Güter, die uns am Tag unserer Verherrlichung geschenkt werden sollen, wenn Gott in uns verherrlicht werden wird und wir in ihma. 2.  Nicht bloß ein wenig hat uns Gott geliebt, nicht mittelmäßig, nicht aus der Ferne, sondern voll und reich; nicht heuchlerisch, nicht vorgetäuscht, sondern rein und aufrichtig; nicht dem Anschein nach, nicht äußerlich, gleichsam an der Oberfläche, sondern innerlich und innig; nicht mit Wort und Zunge, sondern in Tat und Wahrheit (1 Joh 3,18). 3.  Wenn du auf seine Haltung achtest, so ist diese Liebe reich und innig. Denn woraus entspringen alle Hulderweise Gottes a 

Vgl. 2 Thess 1,10.

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uns gegenüber, wenn nicht seiner ihm eigenen Güte, wenn nicht seiner lauteren Großzügigkeit, wenn nicht seiner reinen Gnade, wenn nicht seinem vollsten Wohlwollen? Was immer nämlich unsere Verdienste vermögen, entspringt seiner Gnade. Und was über die Verdienste hinausgeht, ist Gnade über Gnadea, ja große und übergroße Gnade. 4.  Wenn du ein Maß für diese Liebe suchst, weil sie groß ist, so ist sie für ihn freilich messbar, für uns aber unermesslich und unmessbar. Könnten wir nämlich zusammen mit allen Heiligen irgendwie ermessen (Eph 3,18), was ihr Maß ist, so könnte doch kaum oder gar nicht ermessen werden, wie groß sie tatsächlich ist. Über das hinaus, was wir sagen oder denken können, ist sie hoch und tief, aber auch lang und breitb. 5.  Ihre Höhe ist die Erhabenheit der Herrlichkeit, die Gott denen bereitet hat, die ihn liebenc, das ist etwas, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist (1 Kor 2,9)d. Ihre Tiefe ist die Entäußerunge des eingeborenen Sohnes Gottes, das Sich-Hinabneigen seiner so großen Majestät aus dem Schoß des Vaters bis zur Schmach des Kreuzes; vom Ursprung des Lebens bis zum Ende des Lebens; von der höchsten Höhe in die tiefste Tiefe, vom Himmel bis in die Unterwelt, von einem Ende bis zum anderen. Wer ist imstande, sich das eine und andere Ende auszudenken? Wer kann begreifen, aus welcher Höhe er gekommen ist, oder wie groß der Abstand ist zwischen der höchsten Höhe, aus der er hinabgestiegen, und der tiefsten Tiefe, in die er hinabgestiegen ist? Die Höhe dieser Liebe also ist die Erhöhung des Menschen, ihre Tiefe das Sich-Hinabneigen Gottes, und zwar, wie gesagt wurde, von der höchsten Höhe in die tiefste Tiefe, vom Anfang bis zum Ende. 6.  Ihre Länge dagegen ist ohne Anfang und Ende. Denn seine Liebe zu uns hört ebenso wenig auf, wie sie begonnen hat. Seine Huld währt nämlich immer und ewig für alle, die ihn fürchten (Ps Vgl. Joh 1,16. Vgl. Eph 3,18. c  Vgl. 1 Kor 2,9. d  Vgl. Jes 64,3. e  Vgl. Phil 2,7. a 

b 

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21. Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen, 3-8

102,17). Ihre Breite ist weit und sich verströmend durch die allgemeine und umfassende Nützlichkeit seines Wohlwollens und Wohltuns. Er will nämlich, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (1 Tim 2,4) – das ist dem Wohlwollen zuzuschreiben. Und er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben (Röm 8,32) – das ist dem Wohltun zuzuschreiben. Sein Wohltun ist jedoch umso größer einzuschätzen, als es sich nicht nur auf alle, sondern auch über alles ausdehnt. Wer uns nämlich seinen eigenen Sohn geschenkt hat – wie sollte uns der mit ihm nicht alles schenken? (ebd.). 7.  Diese Liebe war jedoch vor der Erschaffung der Welt (Eph 1,4)a im Vorhaben und Plan Gottes verschlossen; doch wurde sie der Reihe nach geoffenbart: sich ergießend, sich ausgießend, sich eingießend und sich vergießend. Großzügig hat sie sich nämlich ergossen, als Gott den Menschen nach seinem Bild, ihm ähnlichb geschaffen hat. Weiter und reichlicher hat sie sich ausgegossen, als er den Menschen durch den Tod seines eingeborenen Sohnes erlöst hat. Eingegossen hat sie sich dagegen, als er das Herz des Menschen durch die Gnade des Glaubens erleuchtet hat, die Erhabenheit dieser großen Liebe zu erkennen. Vergossen hat sie sich damals, als er die Breite des weit gewordenen Herzens durch den Vorsatz, es ihm gleich zu tun, die Sehnsucht nach Nachahmung und das Streben nach Mitwirken mit seiner Liebe erfüllt hat. 8.  Dieses Sich-Vergießen ist es, was unsere Hoffnung stärkt, sodass wir nicht fürchten müssen, zugrunde zu gehen. Die Hoff­ nung – so sagt der Apostel – lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen (Röm 5,5). Jene Liebe nämlich ist ausgegossen in unsere Herzen, die Gott zu uns hat. Diese legt uns nämlich der Apostel an dieser Stelle ans Herz. Doch durch jenes Sich-Vergießen ist auch jene Liebe ausgegossen in unsere Herzen, die wir zu Gott haben. Sie ist aber durch jene und in jener so ausgegossen, wie sich das Licht der Augen, die von der Sonne erleuchtet werden, in dem Licht ausgießt, durch das sie erleuchtet werden. a  b 

Vgl. Joh 17,24; 1 Petr 1,20. Vgl. Gen 1,26.

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9. Höre aufmerksam auf die Ähnlichkeit in diesem Vergleich, um den Verstand vom irdischen Licht zum geistlichen zu führen. Es gibt das erleuchtende Licht, in dem etwas sehen oder gesehen werden kann; und es gibt das erleuchtete Licht, damit die Gestalt eines jeden Dinges gesehen werden kann; und es gibt das erleuchtete Licht, damit man sieht. 10.  Das erleuchtende Licht, in dem man etwas sehen oder gesehen werden kann, ist jenes Licht der Sonne, das sich in die Wimper der Morgenröte (Ijob 41,9) selbst eingießt, sodass es selbst zuerst gesehen wird; hierauf ergießt es sich in die Weite, sodass in ihm das Aussehen der verschiedenen Dinge gesehen werden kann, die sich in ihren Farben, Formen und Gestalten unseren Augen darbieten. 11. Das erleuchtete Licht zum Gesehen-Werden sind die sichtbaren Gestalten. Solange sie im Finstern sind, wo sie nicht gesehen werden können, sind sie wie die Finsternis durch das Verhindern der Wahrnehmung formlos. Wenn sie aber im Licht sind, sind sie wie eine Art Licht, das erleuchtet ist, sodass es gesehen werden kann. Denn wie der Apostel sagt: Alles, was aufgedeckt ist, ist Licht (Eph 5,13). Die sichtbare Gestalt wird jedoch so im Licht gesehen, dass gleichzeitig das Licht an der Gestalt gesehen wird, und sie wird umso heller gesehen, je heller das Licht im Vergleich zur Gestalt ist. 12.  Das erleuchtete Licht zum Sehen ist das Licht der Augen, das sich in die Weite ergießt im ausgegossenen Licht, wenn für die Augen weithin sichtbar ist, was durch die Ausgießung des Lichtes erleuchtet ist. 13.  Das geistliche Licht dagegen, das unsere Augen erleuchtet, ist die Liebe Gottes zu uns. Die zahlreichen und großen Wohltaten Gottes, die uns erwiesen und im Voraus geschenkt wurden, enthalten gleichsam das Licht der Liebe in sich und zeigen es unseren Augen. In ihnen wird nämlich deutlich, wie sehr Gott liebt und geliebt werden muss. Denn wenn sich die Größe seiner Wohltaten vor unseren Augen ausbreitet, wird die unermessliche Liebe Gottes, die weithin offen daliegt, allgemein kund. Beim Schauen auf sie ergießt sich auch der Blick unseres Geistes mehr und mehr in die Breite. Und wenn man die Liebe, mit der Gott uns geliebt

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21. Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen, 9-16

hat, in einer würdigen Einschätzung seiner Wohltaten tiefer bedenkt, teilt sie sich innerlich köstlich den innersten Sinnen mit. Sie erfüllt das Herz mit dem wunderbaren Glück gegenseitiger Liebe, weitet und dehnt es, damit es fähig wird, Gott aufzunehmen. Zur Gegenliebe passt und gleicht es sich seiner Liebe an, in der Höhe und Tiefe und ebenso in der Länge und Breite. 14. Hoch erhaben ist nämlich die Liebe zu Gott, wenn hoch Erhabenes erhofft und die Größe der Herrlichkeita ersehnt werden, nicht in dieser Welt, sondern in Gott, der da spricht: Wenn ich über die Erde erhöht bin, werde ich alle zu mir ziehen (Joh 12,32). Zu ihm sagt die Braut auch: Zieh uns dir nach! (Hld 1,3). Tief ist sie, wenn man Gott zuliebe Einfachheit sucht und Geringschätzung wählt nach dem Beispiel dessen, der da sagt: Lieber möchte ich gering geschätzt werden (Ps 83,11) usw. Hier wird gezeigt, dass der nicht für die Ehre erwählt werden wollte, der für sich die Geringschätzung erwählt hat. Lang ist die Liebe, die bis zum Ende standhaft bleibtb, ja mehr noch: ohne Ende. Die Liebe hört nämlich niemals auf (1 Kor 13,8). Breit ist sie, wenn sie sich in Erinnerung an das Wohlwollen und an die Wohltaten Gottes im Unglück wie im Glück stets in ihm ergötzt, in ihm freut: Für ihn jubelt und frohlockt sie stets – ebenso breit wie froh – ohne die Enge des Kleinmuts und des Murrens. 15.  Die Breite der Liebe ist nämlich selbst die Weite des Herzens, die auch selbst die Freude an der Gerechtigkeit ist. Diese Ausgießung der Liebe in unsere weiten Herzen wirkt die Liebe Gottes, eben des Vaters oder des Sohnes, sie wirkt jedoch durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist (Röm 5,5), und der selbst die Liebe des Vaters und des Sohnes und das Band zwischen beidenc ist. 16.  Um jetzt über die übrigen Wohltaten Gottes zu schweigen: Wie groß ist es, dass er uns, um Liebe von uns zu verlangen, seinen eingeborenen Sohn geschenkt hatd, um uns in seine DanVgl. 2 Kor 4,17. Vgl. Mt 10,22 und 24,13; Mk 13,13. c  Vgl. Augustinus, De Trinitate V, xi, 12 (CCSL 50, 219-220); XV, xix, 37 (CCSL 50A, 512-514) u. a. d  Vgl. Eph 1,6. a 

b 

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kesschuld zu stellen; ebenso den Heiligen Geist, der unser Herz vorbereiten sollte, damit er gemeinsam mit dem Sohn und dem Heiligen Geist selber kommen und bei uns Wohnung nehmen kanna. 17.  Es gibt auch noch verschiedene Gnadengaben (1 Kor 12,4), und unter ihnen allen ist die Liebe die größteb: dass sie durch den Heiligen Geist ausgegossen und in ihr der Geist selbst geschenkt wird, sagt man nicht vergeblich, nicht ohne Grund. Groß und überragend ist das Geschenk der Gnade, mit der der Urheber des Geschenkes sich selber gibt. Er erträgt es nicht, von diesem seinem Geschenk getrennt zu werden – oder dieses Geschenk von ihm. Wer also im Geschenk die Liebe empfangen hat, kann sich zu Recht in Gott rühmen und sagen: Die Liebe Gottes ist ausgegossen in mein Herz durch den Heiligen Geist, der mir gegeben ist (Röm 5,5). Wer aber die Gabe hat, Weisheit mitzuteilen oder Erkenntnis zu vermitteln oder verschiedene Arten von Zungenrede oder die Gabe, sie zu deutenc, oder irgendeine Gnade zum Leiten oder Wirken – all das sind zwar Gaben des Heiligen Geistes – aber die Liebe nicht hatd, hat er ebenso wenig den Heiligen Geist in sich, wie jenes Schriftwort: Der Heilige Geist flieht vor der Falschheit (Weish 1,5) wahr ist. 18.  Die Liebe macht jedoch auf gegensätzliche Weisen unser Herz eng und weit. Oft kannst du spüren, wie sich der Magen bei unbekömmlichen Speisen, die er ausspeit, verengt und zusammenzieht. Kaum kommt etwas durch die zusammengeschnürte Kehle hinein, was man nicht gerne zu sich nimmt. Ebenso kannst du spüren, wie er sich bei ersehnten Speisen entspannt und weitet. Mit welcher Leichtigkeit kann man das schlucken, was man mit großem Appetit aufnimmt! Ebenso macht auch die Liebe das Herz bei weltlichen Gelüsten, die es nicht annimmt, eng; Heilsames und Heiliges dagegen weitet den Willen und entspannt die Freiheit, es zu ersehnen. Vgl. Joh 14,23. Vgl. 1 Kor 13,13. c  Vgl. 1 Kor 12,8-10 und 13,13. d  Vgl. 1 Kor 13,1-3. a 

b 

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21. Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen, 16-20

19.  Die Begierde dagegen weitet sich bei diesen vergänglichen Dingen, ebenso wie sie sich bei himmlischen verengt; und je mehr sich das Herz vom Großen zurückzieht, desto mehr schnürt es sich für das ganz Kleine zusammen. Groß und weit aber ist das, was ewig ist; klein dagegen, was von der Enge der Zeit bald abgeschlossen und mit einer kurzen Lust schnell beendet wird. Es hat jedoch die Begierde ihre Höhe durch die erstrebten hohen Ehrenämter; sie hat ihre Tiefe durch die geheuchelte Erniedrigung um einer erstreben Erhöhung willen; sie hat ihre Länge durch unbeirrbaren Starrsinn; und sie hat auch ihre Breite durch ihren unersättlichen Fassungsraum. 20.  Wir dagegen, die wir der Welt entsagt haben, die nicht den Geist der Welt empfangen haben, sondern den Geist, der aus Gott stammt (1 Kor 2,12), damit die in unsere Herzen ausgegossene Liebe Gottesa in uns bleibe, wir wollen, wie es in unserem Glauben recht ist, Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Gedanken liebenb. Das wirkt derselbe Geist in unserem Inneren, der als Gott über allem steht. Ihm sei Lobpreis in Ewigkeit. Amen (Röm 9,5).

a  b 

Vgl. Röm 5,5. Vgl. Mt 22,37.

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Sermo 22 Traktat XIV Ansprache an die Mönche über die geordnete Liebe

In das Weinhaus hat er mich geführt; er ordnete in mir die Liebe. Erfreut mich mit Blumen, erquickt mich mit Äpfeln; denn ich leide vor Liebe (Hld 2,4-5V).

1.  Liebe ist Leiden und Leidenschaft der schwachen Seele. Zur Bestätigung dieser Wahrheit – wenn sie unwürdig und wenig passend erscheint – dient die Autorität eines Dichters, der da sagt: Wehe mir, dass keine Liebe durch Kräuter geheilt wird! (Ovid)a. Bei gläubigen Herzen muss die Stimme des Bräutigams ausreichen, die das ausdrückt, was er fühlt und sagt: Ich leide vor Liebe (Hld 2,5). Schauen wir also, ob jede Liebe Leiden ist. 2b. Es gibt die natürliche Liebe, in der Eltern und Kinder einander lieben. Sie erhält ihre Kraft auch bei den beseelten Tieren. Auch diese hängen nämlich in verschiedener Weise an ihrer Brut. Die Bärin beispielsweise brummt ihren Jungen freundlich zu, und die Henne kümmert sich um ihre Kükenc.  Was sonst als die LieP. Ovidius Naso, Metamorphoses 1, 523; vgl. auch P. Ovidius Naso, Epi­ stolae 5, 149. b  Zum Abschnitt 2 bis 7 dieser Predigt vgl. Balduin von Ford, Sermo 12, 2; vgl. Aelred von Rievaulx, De speculo caritatis III, x, 29 (CCCM 1, 118-119); III, xvi, 39 (CCCM 1, 123). c  Vgl. Balduin von Ford, Sermo 12, 11. a 

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be bewirkt es, dass Jakob klagend sagte: Ein wildes Tier hat mei­ nen Sohn gefressen, eine Bestie hat Joseph verschlungen (Gen 37,33). Was sonst als die Liebe veranlasste David, dass er klagte: Mein Sohn Abschalom, mein Sohn, mein Sohn Abschalom! Wäre ich doch an deiner Stelle gestorben, Abschalom, mein Sohn, mein Sohn Ab­ schalom! (2 Kön 18,33). 3.  Es gibt die kameradschaftliche Liebe, in der der Bund der Freundschaft geschlossen wird. In dieser Liebe waren David und Jonatan verbundena. Von ihrem Schmerz wurde David gequält, als er sprach: Weh ist mir um dich, mein Bruder Jonatan. Du warst mir sehr lieb. Wunderbarer war deine Liebe für mich als die Liebe der Frauen. Wie eine Mutter ihren einzigen Sohn liebt, so habe ich dich geliebt (2 Kön 1,26). 4.  Es gibt die eheliche Liebe, in der sich Braut und Bräutigam rein lieben. Meist ist für sie die Trennung bitterer als die Freude der Vereinigung. 5.  Es gibt die unzüchtige, oder – anders ausgedrückt – unkeusche Liebe. Diese Liebe hat ihre Leidenschaften und angstvolle Schmerzen. Das beweist Ammon in seiner Liebe zu Tamar. Jonadab sagte zu ihm: Warum bist du jeden Morgen so bedrückt, Sohn des Königs? (2 Kön 13,4). Auch Sichem beweist es, der Dina liebteb. Seine Seele hing an ihrer Seele. 6. Es gibt die nutzlose Liebe, die Liebe zu dieser Welt. In ihr liebt man etwas, was möglicherweise ein Nachteil ist für die Erlangung des seligen Lebens oder jedenfalls kein Vorteil. Diese Liebe ist in der Anklage des Propheten mitgemeint, wenn er sagt: Ihr Menschenkinder, wie lange ist euer Herz noch bedrückt, warum liebt ihr das Nutzlose? (Ps 4,3). Diese nutzlose Liebe ist wie die unzüchtige Liebe nicht nur Leiden, sondern auch ein Laster der Seele und ihr Tod. 7. Es gibt eine heilige Liebe, in der man Gott aufrichtig, keusch und rein liebt, die – auch sie – Leiden ist. Das erfuhr mit innerer Not jene Sprecherin: Ich leide aus Liebe (Hld 2,5). Vgl. Augustinus, In Iohannis euangelium tractatus XV, 7 (CCSL 36, 153); Aelred von Rievaulx, De speculo caritatis III, xxix, 69-72 (CCCM 1, 137-139). b  Vgl. Gen 34,3. a 

422

22. Ansprache an die Mönche über die geordnete Liebe, 2-9

8.  Wenn aber die Liebe zu Gotta den Namen „caritas“ trägt, und diese Liebe Tugend ist, und unter den Tugenden die höchste ist, wie ist dann die Liebe zu Gott ein Leiden? Oder ist die Liebe zu Gott, die „caritas“, zugleich Schwäche und Tugend, Leiden und Gesundheit, Krankheit und Heilmittel? Wie sollte sie nicht Gesundheit und Heilmittel sein, da doch jene Frau durch sie von der Krankheit geheilt wurde, über die geschrieben steht: Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, da sie viel geliebt hat (Lk 7,47)? Wie sollte diese Liebe nicht Gesundheit sein, da sie doch die Wunden der leidenden Seele heilt und viele Sünden zudeckt (1 Petr 4,8, Jak 5,20)? Wenn aber die Liebe Gesundheit ist, wie ist sie dann ein Leiden? Und wenn sie ein Leiden ist, wie ist sie dann kein unheilbares Leiden, da geschrieben steht: Die Liebe hört niemals auf (1 Kor 13,8)? Oder hat man die Liebe anders in der Sehnsucht nach ihrem Besitz als im Besitz des Ersehnten? Genauso ist es! 9.  In dieser Zwischenzeit eben ist die Liebe Leiden: während sie liebt, brennt, keucht und seufzt sie: solange sie nicht hat, was sie ersehnt; solange sie sich quält, wenn sie von den ersehnten Umarmungen des Bräutigams weggeschoben wird und weil sie weggeschoben wird. Er jedoch, der all deine Wunden heilt (Ps 102,3), wird auch dich, Braut, von deinem Leiden genesen lassen, wenn er sich als dein Bräutigam zur Anschauung schenken wird, damit du ihn besitzen und genießen kannstb, wenn du ihn schauen wirst, wie er ist (1 Joh 3,2), Auge in Auge, von Angesicht zu Angesicht, um mit ihm ein für allemal den Bund zu schließen und nie mehr davon ausgeschlossen zu werden, mit ihm zu sprechen, ihn zu schauen, zu küssen und zu umarmen. Dann wird sogleich dein Leiden aufhören, doch niemals deine Liebe. Dann wird kein Grund mehr bestehen, dass du sagen könntest: Ich leide aus Lie­ be (Hld 2,5), sondern vielmehr: „Ich freue mich an der Liebe!“ Auch darüber wirst du dich freuen, dass sich der Bräutigam über die Braut und sich dein Gott über dich freut (Jes 62,5). Hier ist das Ende des Leidens, aber nicht das Ende der Liebe. a 

ßen. b 

„Caritas Dei“ kann sowohl die Liebe zu Gott als auch die Liebe Gottes heiVgl. Augustinus, De moribus ecclesiae catholicae I, iii, 4 (CSEL 90, 6-7) u.a.

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10. Was gilt also in dieser Zwischenzeit? Die Braut wird schwerkrank und leidend ans Bett gefesselt sein. Auf dem Kran­ kenbett wird der Herr sie stärken (Ps 40,4). Welche Hilfe, welcher Rat, welcher Trost wird ihr gegeben werden? Denn um ein Heilmittel für die Liebe geht es jetzt nicht. Fern ist es nämlich, jenseits der Grenzen der Erde, und es wird unter dem Himmel nicht gefunden. 11.  Sie aber, die da liebt und die Gewalt ihrer Leidenschaft fühlt, verlangt, da sie in dieser Zeit und an diesem Ort kein Heilmittel erhoffen kann, wenigstens von ihren Hausgenossen Trost. Damit sollen sie sie trösten, bis die Schwäche vorübergeht. Doch wie es eben bei Leidenden ist: sie erklärt zuerst den Anfang der Krankheit, seine Ursache und seinen Verlauf; hierauf erbittet sie Trost, da sie noch auf kein Heilmittel hofft, denn sie weiß, dass dieses noch eine Zeitlang aufgeschoben werden muss. 12. Wird sie gefragt: „Leidende Frau, woher kommt diese deine Schwäche?“ so antwortet sie: „Der König hat mich in den Weinkeller geführt“ (Hld 2,4). Wer hat dich hineingeführt? „Ich saß nämlich im Schatten des Ersehnten (Hld 2,3). Gesättigt von seiner Frucht, die meinem Gaumen köstlich schmeckte, führte er mich in den Weinkeller (Hld 2,3-4), um mich nach der Sättigung mit dem Kelch der Liebe zu tränken, den er mir aus dem Weinkeller mischte und reichte. Und als ich gekostet hatte, wollte ich ihn trinken. Auf diese Weise leide ich aus Liebe“ (Hld 2,5). 13.  Ihr, die ihr euch danach sehnt, den Kelch des Heils (dieses Leiden bedeutet nämlich Heil!) mit der Braut zu trinken, achtet darauf, was der Weinkeller ist, um in ihn eingeführt zu werden. Und wenn ihr es hören wollt: der Keller im Herzen ist selbst der Weinkeller, wo es den Wein der Betroffenheita und den Wein der Liebe gibt. Der Keller des Herzens – sage ich – ist es, doch nur bei denen, die sich zu ihrem Herzen bekehren (Ps 84,9). Denn jene, die außen umherschweifen und sich in Verblendung und Begierdenb ergehen, haben sich weit von ihrem Herzen entfernt wie Wahnsinnige, die nach Nichtigkeiten und falschen Unsinnigkeiten a  b 

Vgl. Ps 59,5. Vgl. Eph 4,22.

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22. Ansprache an die Mönche über die geordnete Liebe, 10-15

(Ps 39,5) Ausschau halten. Sie halten sich außerhalb des Weinkellers auf. Sie werden vom Propheten zu sich zurückgerufen, wenn er sagt: Ihr Frevler, kehrt in euer Herz zurück! (Jes 46,8)a. 14.  Vielleicht werden nicht alle, die zum Herzen zurückkehren, sogleich in den Weinkeller (Hld 2,4) geführt. Die Braut sitzt nämlich zuvor im Schatten, sie sehnt sich und lobt die Köstlichkeit der Fruchtb. Dann wird sie in den Weinkeller eingeführt. Es gibt nämlich viele, die sich die Welt in erlaubter Weise zunutze machen (1 Kor 7,31). Sie sitzen im Schatten, sehnen sich, loben die köstliche Fruchtc der Gerechtigkeit und beschäftigen sich mit dem Weg zur Vollkommenheit. Betroffen von der Gnade des göttlichen Erbarmens beschließen sie, um Christi willen alles zu verlassend und sich an ihn allein in vollkommener Reinheit des Herzens zu binden. Sie betreten dann den Weinkeller, wenn sie um Christi willen meinen, alles gering schätzen zu sollen, und es ihrem Herzen entfremden. 15. Auch tritt die Braut nicht sozusagen von sich heraus ein, sondern sie wird eingeführt. Denn keiner betritt in rechter Weise den Weg der Vollkommenheit oder bekehrt sich zu seinem Herzene, wenn nicht die Stimme dessen in seinem Herzen laut wird, zu dem vom Propheten gesagt wird: Du hast gesagt: Bekehrt euch, ihr Menschenkinder! (Ps 89,3). Und ebenso: Er bekehrt meine Seele (Ps 22,2). Dann also wird die Braut in den Weinkeller eingeführt, wenn durch das Geringschätzen der Welt die Liebe zu dieser Welt aus ihrem ganzen Herzen ganz ausgeklammert und im ganzen Keller ihres Herzens der Liebe Gottes Raum gegeben wird. Sonst ist die Liebe nicht vollkommen geordnet, wenn die Begierde nicht ausgeklammert wird. Deshalb empfindet sie nach dieser Einführung und dem Hintansetzen jeglicher Begierde, wenn sie durch den Wein der Betroffenheit in nüchterner Entfremdung des Geis-

a 

157).

Vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Bekehrung 2, 3 (BCSW IV, 155-

Vgl. Hld 2,3. Vgl. Hld 2,3. d  Vgl. Mt 19,27. e  Vgl. Ps 84,9. b  c 

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tes bereits die Welt vergisst, in sich nichts anderes mehr als nur die Liebe; und sie spricht: Er hat die Liebe in mir geordnet (Hld 2,4). 16.  Erkenne hier die zweifache Liebe (caritas): die zu Gott und zum Nächsten. Denn die Nächstenliebe wird auf die Gottesliebe zurückgeführt, da der Nächste nur auf die Weise Gottes geliebt werden soll, in Gott oder Gottes wegena. Diese Liebe ist die Ordnung der Tugenden, die Tugend aber die Ordnung der Liebe, jedoch auf andere Weise. Die Tugend ist so die Ordnung der Liebeb, dass sie von der Liebe geordnet wird, und die Liebe ist so die Ordnung der Tugend, dass sie diese ordnet, wobei sie selbst zuerst geordnet sein muss, um ordnen zu können. 17.  Geordnet aber wird die Liebe durch die Wertschätzung, das Erstreben und die Wahl. Durch die Wertschätzung, wenn sie im Urteil des Geistes als besser, würdiger und kostbarer als alles andere eingeschätzt wird. Zur Wertschätzung der Liebe zieh den Apostel zu Rate: Er wird dir selber sagen, für wie würdig und groß sie einzuschätzen ist. Jetzt, sagt er, zeige ich euch noch einen ande­ ren Weg, einen, der alles übersteigt! (1 Kor 12,31). Und ebenso sagt er: Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe (1 Kor 13,13). Und ebenso: …die Liebe Christi verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt (Eph 3,19). 18. Zu wenig ist es allerdings, so über die Liebe zu denken, und sie bloß in der Wertschätzung allem vorzuziehen, wenn man sie nicht auch im Gefühlsantrieb des Erstrebens allem voranstellt, sodass man sie vor allem und über alles ersehnt. Dazu mahnt uns Petrus, wenn er sagt: Vor allem haltet fest an der beständigen Liebe zueinander (1 Petr 4,8), und Paulus, wenn er sagt: Strebt nach den höheren Gnadengaben! (1 Kor 12,31) und ebenso: Vor allem aber liebt einander! (Kol 3,14). 19.  Da manche die Liebe in der Wertschätzung oder im Erstreben billigen, sie aber durch ihre Wahl oder Verwirklichung nicht billigen, muss sie auch durch die Wahl geordnet werden, damit man sie so erstrebt, dass man sie besitzen und behalten a 

117). b 

Vgl. Bernhard von Clairvaux, Über die Gottesliebe 8, 25 (BCSW I, 115Vgl. Augustinus, De ciuitate Dei XV, 22 (CCSL 48, 487-488).

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22. Ansprache an die Mönche über die geordnete Liebe, 15-22

möchte. Zur Erlangung der Liebe reicht nämlich eine gewisse Wertschätzung zusammen mit dem Erstreben ohne den Eifer zur Verwirklichung nicht aus. Nicht wenige sind in Hinblick auf sie gespannt und angespannt, die niemals in ihr ausspannen können. Sie ersehnen sie nämlich und ergreifen sie nicht; daher ersehnen sie sie vergeblich. Und es ist deshalb vergeblich, weil sie die Zustimmung nicht einsetzen: sie missbilligen sie in ihrem Verhalten, auch wenn sie sie in ihrem Urteil und in einer gewissen Sehnsucht, nicht aber in ihrer Zustimmung billigen. 20.  Die Wertschätzung hat ihren Sitz im Urteil der Vernunft; das Erstreben in der Sehnsucht des Willens, die Wahl im Rat der Unterscheidungsgabe. Es liegt aber keine Unterscheidung in der Wahl vor, wo man das wählt, was schlechter ist. Deshalb sagt der Apostel: Verwirklicht die Liebe! (1 Kor 14,1). In der Verwirklichung nämlich – das heißt, indem man sich auf den Rat Gottes stützt – wird die Liebe ergriffen. 21. Der Rat aber beinhaltet Folgendes: Unerlaubtem aus Liebe zu Christus eine Absage zu erteilen, um die Liebe zu besitzen; und auf Erlaubtes – soweit möglich – zu verzichten, um sie vollkommener zu besitzen. Dieser Rat beinhaltet: die Begierde gänzlich abzulegen, um so die Liebe zu erlangen. Diesen Rat gibt uns der, der da sagt: Böte einer für die Liebe den ganzen Reichtum seines Hauses, nur verachten würde man ihn (Hld 8,7). Durch das Herabschauen auf das Vergängliche wird die Liebe zum Ewigen erworben. Durch die Geringschätzung der Begierde wird das Gold der Liebe gekauft. Alles, spricht der Apostel, sehe ich als Ver­ lust an und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen (Phil 3,8). 22.  Die Liebe aber, die am ersten Platz deines Herzens im Urteil richtiger Einschätzung, in der ganzen Sehnsucht des Erstrebens und im vollen Eifer bei der Verwirklichung ihren Platz hat, nimmt den richtigen Platz ein und ist daher geordnet. Diesen Platz verdient sie nämlich. Wenn sie selbst aber so geordnet ist, dann ordnet sie alles, damit alles nach ihrer Ordnung geschieht. Da der Apostel sagt: Alles soll bei euch in der rechten Ordnung ge­ schehen (1 Kor 14,40), und ebenso sagt: Alles, was ihr tut, gesche­ he in Liebe (1 Kor 16,14), kann geschlossen werden, dass in der

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rechten Ordnung geschieht, was in Liebe geschieht, und dass alles außerhalb der Ordnung steht, was nicht in Liebe geschieht. 23.  Die Liebe ordnet die Dienste und Ämter bei den Engeln, sie ordnet bei den Gerechten Leben und Verhalten in ihren Berufungen und Bestrebungen: sie ordnet die Reihenfolge bei den Tugenden an ihren Plätzen, sodass der geordnete Chor der Tugenden – das heißt ihr geordnetes Heer in der Schlachta – von den Feinden weder angegriffen noch in Verwirrung gebracht werden kann. 24.  Bei der geordneten Liebe wurde das Gesetz durch Engel erlassen und durch einen Mittler bekanntgegeben (Gal 3,19). Wenn die Kraft Christi in der Liebe, die er uns ans Herz gelegt hat, leuchtet und strahlt, haben wir nach dem Geist der Furcht den Geist der Sohnschaftb empfangen, damit wir nicht aus Furcht, wie unter dem Gesetzc, nicht verdrossen und nicht unter Zwang (2 Kor 9,7), sondern aus innigster Liebe in der Freude des Herzensd und in der Freiheit des Geistes ihm dienen. 25.  In der Liebe wird die Verheißung vor den Opfern der guten Werke eingeordnet. Denn über alles Gute, das wir tun, wird die zugesagte Verheißung Gottes gestellt, indem Gott in seiner Liebe immer an eine ewige Vergeltung denkt, die höher einzuschätzen ist als alle unsere Verdienste. Die Leiden der gegenwärti­ gen Zeit bedeuten nämlich nichts im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll (Röm 8,18). 26.  Die Liebe ordnete das Geheimnis unserer Erlösung, die Gott von dem Ort seiner Würde gleichsam absetzte und an den Ort seiner Herabwürdigung führte. Er erniedrigte sich bis ein wenig unter die Engele und reihte sich als Mensch unter die Menschen ein. 27.  Von Ewigkeit her, spricht er als Weisheit Gottes, bin ich geordnet (Spr 8,23). Es besteht kein Zweifel, dass er dem Vater ebenbürtig ist, sodass er zu Recht über allem steht, da durch ihn Vgl. Hld 8,5. Vgl. Gal 4,5; Röm 8,15. c  Vgl. Gal 4,5. d  Vgl. Hld 3,11. e  Vgl. Ps 8; Hebr 2,9. a 

b 

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22. Ansprache an die Mönche über die geordnete Liebe, 22-29

alles geschaffen wurde. Doch erstreckt er sich von einem Ende bis zum anderen (Weish 8,1 wie in der Magnifikat-Antiphon vom 17. Dezember). Von einem Ende: da er die Quelle des Lebens ist, bis zum Tod, der das Ende des Lebens ist. Ja, machtvoll tat er das, da er sterbend den Tod besiegte und alles in Milde ordnetea , da er alles in Demut und Liebe ordnete und Frieden stifteteb . Er stellte alles wieder her und baute es auf, sodass ihm alles unterworfen ist (1 Kor 15,28). 28.  Dann nämlich ist alles geordnet, wenn es dem untertan ist, von dem her es ist. Seine Ordnung dagegen verließ jener, der nicht an seinem Platz stehen und in Ebenbürtigkeit Gott gleich sein, nicht ihm in Demut untertan sein wollte. Dieser sprach: Ich werde dem Höchsten ebenbürtig sein (Jes 14,14). Nach deiner An­ ordnung, Herr, hat der Tag seine Dauer (Ps 118,91V). Eben nach deiner Anordnung, nicht nach der eigenen Anordnung eines jeden. Daher konnte sich jener nicht auf Dauer halten, da er sich vermessen hat, deine Anordnung durcheinander zu bringen, ohne darauf zu achten, dass dir alles dienstbar ist (ebd.). Daher wurde der Engel des Lichtes, der wie der Tag des Himmels war, zum Fürsten der Finsternis und des Todesdunkels. 29.  Die Liebe aber, die durch den Gehorsam alles Gott unterstellt, verfügt über alles nach seinem Urteil. Bald rät sie zu dem, was vollkommener ist, bald gebietet sie, was notwendig ist, bald erlaubt sie, was nicht verboten ist, bald wählt sie, was besser ist, bald nimmt sie an, was notwendig ist. Mag die Freiheit nämlich auch zur Liebe gehören, so tritt doch die Liebe vor der Notwendigkeit zurück, indem sie manchmal übergeht, was besser ist, um zu vermeiden, was schlechter ist. Oft werden wir nämlich, wenn wir nach dem Guten streben, nach dem, was besser, angemessener und vollkommener ist, durch die Autorität eines Vorgesetzten, durch die Macht einer Schwierigkeit oder die Dummheit der eigenen Schwäche daran gehindert. Daher kommt es, dass das, was a  Die Kurzzitate „fortiter“ – „machtvoll“, „disponens omnia suaviter“ – „indem er alles in Milde ordnete“ sind der ersten O-Antiphon des Stundengebets vom 17. Dezember entnommen. b  Vgl. Kol 1,20.

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im Streben Vorrang hatte, in der Wahl und in der Verwirklichung hintangestellt wird. 30.  Bei der Planung dessen, was getan werden soll, setzt die Liebe bald die Ordnung der Freiheit und Würde, bald die Ordnung der Einteilung und Notwendigkeit ein. Denn wenn weder die Macht einer höheren Autorität oder irgendeiner Schwierigkeit, noch das Zittern des Kleinmutes Widerstand leistet, wählt und verwirklicht sie sicher, was würdiger und vollkommener ist. Wenn jedoch die Freiheit der Wahl – ja sogar die Wahl des Besseren – irgendwie behindert wird, nimmt die Liebe nach der umgekehrten Ordnung – und doch nach einer Ordnung – an, was die Notwendigkeit auferlegt oder die Schwäche verlangt. Wenn die Liebe nämlich ihre Freiheit einsetzt, wendet sie sich dem Besseren zu, wenn sie einer Notwendigkeit Raum gibt oder einer Schwäche nachgibt, unterwirft sie sich einem geringeren Gut. 31.  Wenn sie daher nach dem strebt, was das Bessere ist, und durch einen Vernunftgrund zu dem gedrängt wird, was geringer ist, zögert sie manchmal in der Wahl und weiß nicht, was sie wählen soll; doch weiß sie wohl, was sie mehr suchen soll. Daher wünschte Paulus mehr, bei Christus zu sein, das wäre nämlich viel besser. Wegen der Brüder aber hielt er es für notwendiger, dass er am Leben bleibt. So wurde er durch die Zwiespältigkeit in der Wahl bedrängt und sprach: Was soll ich wählen? Ich weiß es nicht (Phil 1,22-24). 32.  Bei allen Gerechten, sei es, dass sie frei wählen bei dem, was das Bessere ist, sei es, dass sie geringere Güter annehmen, ist die Liebe selbst immer geordnet, immer an erster Stelle in Wertschätzung, Streben und Verwirklichung oder Wahl. Keiner ist nämlich mehr ein guter, keiner ein weniger guter Mensch, – sofern einer überhaupt gut ist – der nicht die Liebe selbst allem anderen voranstellt, auch wenn er etwas, was der Liebe nach vorzuziehen ist, in der Wahl hintanstellt. Wenn aber die Liebe geordnet ist – wie sie auch immer alles selbst geordnet hat und auf welche Weise sie es geordnet hat – dann ist in gleicher Weise alles geordnet. Sie ist nämlich selbst die Ordnung dessen, was geschehen soll, und außerhalb dieser Ordnung kann nichts stehen, was immer in Liebe geschieht.

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22. Ansprache an die Mönche über die geordnete Liebe, 29-35

33.  Die Braut allerdings verachtet bereits die Welt, sie hat bereits eine geordnete Liebe und kann bereits wegen der Größe ihrer Liebe die Glut in ihrer Brust nicht länger ertragen. Was meinst du, von welchen Leidenschaften sie beengt, von welchen Schmerzen sie bedrängt, wie sie von Furcht und Schmerz, Sorge und Mühe, Not und Verwirrung bedrückt wird? Wie wird sie inmitten der Ärgernisse von Hass und Überdruss gequält; wie ernst durch Aufschub und Erwartung von Hoffnung und Sehnsucht auf die Folter gespannt? Wer könnte alle Ängste der liebeskranken Braut erklären, die sie für den Geliebten leidet! Und doch ist im Vergleich mit ihm alles, was sie leidet, eine Kleinigkeit! Zu ihrer Krankheit gehört dazu, dass sie selbst von sich sagt: Schaut mich nicht so an, weil ich gebräunt bin. Die Sonne hat mich ver­ brannt (Hld 1,5). 34.  Doch wo die Leiden Christi überreich sind, wird dort nicht auch der Trost Christi überreicha? Und wie überreich! So hat die Braut also ihren Trost: bald im eigenen guten Beispiel, bald in dem der anderen, aber der Guten. Sie sieht nämlich unter der Zahl der Guten manche Anfänger gleichsam im Aufkeimen ihrer Tugenden blühen und zum Besseren voranschreiten. Und sie sieht auch andere durch die Reife ihres Verhaltens zum Gipfel der Vollkommenheit gelangen. Was ist denn das Beispiel der Liebenden und Liebeskranken beim Aufkeimen und Abrunden der Tugenden, bei den ersten Bruchstücken und reiferen Geduldsproben anderes als Blüten und Früchte der Ehre und Ehrbarkeit (Sir 24,23V)? 35.  Es freut sich die Braut, den Anfängern voranzugehen, sie freut sich auch, den Stärkeren gleichzukommen. Sie freut sich, die einen unter sich zu haben und gleichsam von Blumen erquickt weich zu ruhen; und sie freut sich auch, die anderen an der Seite und bei sich zu haben, um – gleichsam von Äpfeln gestärktb und umgeben – sich weder nach rechts noch nach links zu wenden, sondern unwandelbar und stark zu starken Taten heranzuwachsen. Deshalb sagt sie: Erquickt mich mit Blumen, stärkt mich mit a  b 

Vgl. 2 Kor 1,5. Vgl. Hld 2,5.

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SERMONES

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Äpfeln! (Hld 2,5), als wollte sie ihren Hausgenossen sagen: „Meine innersten Wahrnehmungen und Gefühle, tröstet mich und bewirkt in mir, dass ich auf den Blumen als Unterlage weich liegen kann und – von den umherliegenden Äpfeln gestärkt – mich nirgendwohin sonst wende! So hilft es mir in der Krankheit, solange mir jene Trost spenden, die mit mir gemeinsam trauern und an derselben Krankheit leiden.“ 36.  Es hat die Braut außerdem Trost durch ihre Verdienste und den Lohn für die Verdienste. Sie achtet nämlich darauf, dass ihr vom Herrn dreierlei als Lohn verheißen wird, wenn er sagt: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen dieses oder jenes verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen: Jetzt in dieser Zeit … unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben (Mk 10,29-30). Nachdem sie im Erstarken der Tugenden lange Zeit vorangeschritten ist und sich im Streben nach der geistlichen Zucht eifrig abgemüht hat, wird sie dann endlich das Hundertfache erlangen im Frieden und in der Ruhe des Herzens, in Heiterkeit und Sicherheit, in Freude an der Gerechtigkeit und im unaussprechlichen Glück geistlicher Wonne. 37.  Das sind die Äpfel, das sind die Früchte der Gerechtigkeit, die aus den Blüten beginnender Zucht herauswachsen. Nicht nur das jedoch, sondern auch die Äpfel der Bedrängnisse und Verfolgungen, die Gott bisweilen zur Erprobung in der Geduld (Tob 2,12V) als Vorrecht denen gibt, die sich danach sehnen, für den Namen Jesua zu leiden oder sogar zu sterben. Daher sagt auch der geduldige Ijob: Er, der mich ergriffen hat, möge mich zermalmen. Möge er seine Hand erheben, um mich abzuschneiden. Das wäre ein Trost für mich, wenn er mir Schmerz zufügt und mich nicht schont (Ijob 6,9-10V). Und ebenso: Wenn er geißelt, möge er mich gleich töten und nicht über die Strafe der Unschuldigen lachen (Ijob 9,23). Scheint nicht jener, der so spricht, die Schläge auf sich geradezu herauszufordern und gleichsam zu sagen: Stärkt mich mit Äpfeln! (Hld 2,5). Das würde er nicht sagen, wäre er nicht durch die Blüten der Tugenden erquickt worden. Er war nämlich untadelig und rechtschaffen; er fürchtete Gott und mied das Böse (Ijob 1,1). a 

Vgl. Apg 21,13.

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22. Ansprache an die Mönche über die geordnete Liebe, 35-38

38.  Die Braut hält also in ihrem Streben nach Vollkommenheit nicht nur die Gnadengaben der Tugenden und die Freuden des inneren Friedens für Wohltaten Gottes, sondern sie erkennt auch in ihren Bedrängnissen Gaben Gottes und nimmt seine Schläge wie Wohltaten dankbar an. Euch, spricht der Apostel, wurde die Gnade zuteil, für Christus dazusein, also nicht nur an ihn zu glauben, sondern auch seinetwegen zu leiden (Phil 1,29). Wenn aber die Braut mit diesen Äpfeln wie mit den Früchten der Gerechtigkeit gestärkt zu werden wünscht, wie viel mehr sehnt sie sich dann nach jenen unschätzbaren Früchten der Gerechtigkeit, die für die Zukunft aufgespart sind? Denn sie kann auch an diese Früchte denken, wenn sie sagt: Stärkt mich mit Äpfeln! (Hld 2,5). Mit diesen Äpfeln tröstet sie sich in dieser Zwischenzeit wenigstens in der Hoffnung bei aller Bedrängnis durch Böses und Schmerz, bis sie den sieht, den sie liebt, ihren Bräutigam Jesus Christus, der als Gott über allem steht. Ihm sei Lobpreis in Ewig­ keit. Amen (Röm 9,5).

433

Indices

Index der heiligen Schrift

15,5148 15,23190 15,25190 17,1190 17,5-6190 21,24-2555

Genesis 1,3372 1,6180 1,14372 1,28275 2,9196 2,15284 3,3124 3,4125 4,13345 149, 356, 357 7,11 12,1223 15,6175 25,27292 25,34292 27,41298 29,17255 37,33422

Levitikus 11,4445 17,11129 23,29 128, 129, 130 Numeri 23,10

365, 394

Deuteronomium 4,39157 6,5199 21,23275 24,6347 32,1159 32,4116 288, 290 32,9 32,15390 32,24298 32,3248 32,37-3898

Exodus 3,3183 7,11187 7,12187 8,6188 8,24189 9,6189 9,10189 9,25189 10,15189 10,22189 194, 195 12,7 12,13194

Richter 272, 273 6,12 11,36276

437

Index der heiligen Schrift

6,4362 6,9-10432 7,1 104, 359 7,1595 7,2075 9,23432 10,1 94, 95, 190 10,294 17,11202 17,1444 19,25123 20,26400 21,13403 22,30121 25,644 26,5140 31,1 53, 270 41,9416 42,6195

1. Könige 2,2281 2,7341 2,9169 15,3160 15,10-11160 15,13160 15,14-15160 15,22 160, 164, 165, 167 15,22-23157 15,23 175, 176 15,24162 15,30165 18,176 18,3-476 24,7161 2. Könige 1,26422 7,27202 13,4422 18,33422 22,25121

Psalmen 1,1 125, 179 1,2179 1,5 64, 65 2,8 67, 286 2,10161 2,1185 2,12 130, 145, 164 4,3 222, 422 4,6164 4,7242 4,9285 5,2 83, 177 5,7205 5,10365 6,7357 6,892 8,2282 8,3233 8,6167 9,17179 9B,3318 10,6 93, 376 11,891 12,4113 13,1148 13,3290

3. Könige 2,16300 5,5228 12,11188 17,12195 17,14195 19,4360 20,11105 1. Chronik 21,13346 Tobit 2,12432 1. Makkabäer 14,12228 Ijob

1,1432 1,2191 4,1976 5,3295

438

Index der heiligen Schrift

29,269 29,6317 29,12-1369 30,7 205, 320 30,20 173, 212, 239 31,6148 31,1090 32,172 32,4116 32,6309 32,9286 32,12 285, 288 32,15259 33,2147 33,3221 33,9 146, 172 33,11 403, 411, 412 33,16 62, 84 33,19 268, 340 33,20 54, 90 34,395 34,19257 34,2773 35,7209 35,9407 35,10302 36,9237 36,11230 36,21330 36,24142 36,29 221, 230 37,11306 37,15 180, 233 37,1868 38,2233 38,7 97, 176 38,11-12360 38,12298 38,13360 39,5 354, 425 39,7 160, 178 39,8286 39,8-9179 39,13 202, 355, 356 39,18350 40,4 357, 424 41,2208

14,4294 15,5294 15,5-7235 15,1173 16,4247 16,8319 16,10390 16,15 238, 405 17,2249 17,5-6363 17,12116 17,2561 17,26331 17,34169 18,261 18,9 73, 122, 306 18,10261 18,10-11212 18,1273 18,1561 19,4388 20,457 20,10150 20,11222 21,2235 21,19314 21,26264 21,28201 21,31376 22,2425 22,4119 23,7267 23,8106 23,10106 24,9 187, 223 24,15 62, 84, 258 24,16257 25,1106 25,2103 25,6146 25,10146 26,4412 26,861 27,746 27,8106 28,2168 28,1485

439

Index der heiligen Schrift

55,5289 55,696 55,9364 55,1360 56,394 56,5374 57,9150 57,1273 58,8374 58,11249 58,18249 59,547 59,6149 59,13264 61,4125 61,8345 62,2208 62,6 164, 388 76, 77 62,9 65,5374 65,10339 65,15388 67,6-7293 67,7397 49, 138 67,15 67,1869 56, 244 67,21 67,22260 67,29286 67,3464 68,398 68,4258 68,5131 68,14264 68,16396 68,24126 68,27191 68,28-29385 68,33337 249, 345 70,5 273, 299 70,7 70,16121 70,2090 71,13-14351 71,19282 72,1331 72,2-3354

41,3-4364 41,5366 41,695 41,1295 42,595 43,4224 43,5265 43,16-1954 43,20293 43,2598 44,2370 44,7187 44,8270 44,11-12268 44,1244 45, 266 44,14 44,17301 119, 272 45,8 45,9183 45,12272 45,15116 46,5294 46,6-785 46,10301 58, 295, 346, 411 48,7 90, 236, 243 48,13 48,1899 90, 236, 243 48,21 138, 180 49,1 49,3179 49,4180 180, 181 49,5 49,6180 49,13160 49,17104 165, 167 49,23 50,950 50,18160 50,19163 51,7295 51,999 52,6142 53,584 53,846 54,9345 367, 409 54,22 54,24103

440

Index der heiligen Schrift

88,1674 88,18106 88,27321 88,38 154, 155, 264 89,3425 89,9170 89,10237 89,11209 90,7366 90,15119 90,16407 91,6210 91,7-8210 91,1345 91,1445 91,15-1691 92,3-4188 93,9259 93,1398 93,20259 94,170 94,6 70, 268 94,11300 96,2142 96,8210 96,10206 97,572 101,5404 101,10 361, 404 101,10-11362 101,17202 101,28300 102,3423 102,8152 102,11346 102,13346 102,17415 103,13-14140 103,1547 103,25400 103,29-30342 103,3161 104,11 222, 223 104,1579 105,2372 105,6356 105,14395

72,7395 72,7-8390 72,16 326, 357 72,17354 72,19354 72,25298 72,26 201, 250, 298 72,2876 73,3152 73,12284 75,6412 75,894 76,4344 76,6356 76,10 265, 367 77,1 83, 177 77,16193 77,33357 77,36325 77,39376 77,54224 79,6 363, 368 80,381 80,9178 80,17238 81,1138 81,6138 83,3208 83,5170 83,7355 83,11417 83,13345 84,2236 84,9424 84,10 236, 346 84,11 230, 299 85,1350 85,4350 85,1185 86,5291 87,277 87,4 248, 355 87,6 89, 227, 253 87,10258 87,17362 88,11253 88,15142

441

Index der heiligen Schrift

120,7376 121,3232 121,7 233, 234 121,8319 122,2152 124,3314 125,2368 125,3 120, 205 125,6355 129,3334 131,7268 131,13-14285 131,1845 133,1 73, 74 136,271 137,570 138,3-4401 138,4289 138,7158 138,17301 139,292 139,1191 140,2286 140,4314 140,7248 142,2 209, 401 142,7 347, 348 143,497 143,581 143,10265 143,15 295, 403 144,13 173, 343 146,6236 147,15372 147,16-17397 147,18367 148,5286 149,6374 149,6-9302

105,24295 105,35-36292 106,11133 106,26 140, 367 106,43209 107,2 63, 67, 68, 85, 86 107,2-3 68, 86 107,3 74, 81 108,15-16100 108,18390 108,28275 109,3150 110,8 173, 214 110,1085 111,5180 111,7-868 111,9164 113,12146 114,8359 117,14106 117,1572 118,456 118,5406 118,14407 118,20406 118,2465 118,2576 118,36206 118,3761 118,39212 118,43211 118,47214 118,48 214, 215 118,54293 118,57294 118,6068 118,85374 118,91 157, 429 118,96334 118,120 103, 212 118,132209 118,136366 118,160123 119,4372 119,5 92, 292, 364 119,7292 120,2205

Sprichwörter 1,32210 3,32123 8,23 68, 428 8,3068 8,31 118, 272 10,9296

442

Index der heiligen Schrift

5,8 208, 253 5,16253 6,4257 6,8271 7,2268 7,8184 8,6 241, 245, 246,  247, 249, 250 8,7427

10,24 162, 176 13,12207 15,291 15,384 21,17103 22,15257 23,26205 24,12 44, 276 25,16237 28,983 28,18296 31,4-547 31,647 31,11143 31,30 44, 261

Weisheit 1,1 143, 174 1,5 261, 418 1,6332 5,4-5181 5,6150 5,7357 5,16261 5,21159 5,23159 6,16319 7,13328 8,1429 9,15161 16,24159 19,6177

Kohelet 1,3103 2,2355 4,10 227, 305 5,11403 7,2355 12,11 201, 372 12,13261 Hoheslied 1,3 82, 417 1,5431 1,12197 2,145 2,2292 2,3424 2,3-4424 2,4 424, 425, 426 2,4-5421 2,5 238, 253, 421,  422, 423, 424,  432, 433 2,1485 4,1252 4,7271 4,9 251, 253, 254,  255, 259 4,12252 4,16 342, 367 5,6366 5,7253

Sirach 3,20 140, 267 3,22 214, 257, 261 10,15 274, 345 24,11 283, 284, 285,  288, 289, 290,  297, 298 24,11-13283 24,12 286, 287, 290,  291, 298 24,13 287, 288, 291,  293, 295 24,16296 24,17197 24,18197 24,19197 24,20197 24,22197 24,23 184, 431 24,25197

443

Index der heiligen Schrift

50,7364 53,5129 53,7 90, 180 53,8128 56,3-5276 56,10139 57,21410 58,6385 60,1558 61,6 58, 135, 145,  146, 349 61,7 59, 296 61,876 61,9 145, 146 61,11281 62,5 253, 423 62,6169 62,6-7170 63,3244 63,5244 64,5334 64,6340 66,2 223, 285 66,1069 66,1151 66,13 239, 252

24,27 238, 368 24,29404 26,19270 27,12409 33,591 39,945 39,19 45, 238 Jesaja 1,2159 1,3 159, 236 1,6169 1,14284 1,16 261, 285 2,10130 3,16259 3,17260 4,2 184, 280, 282 5,20 170, 171, 174 7,9371 7,14 272, 276 9,4273 9,6 118, 185 11,1 280, 281 11,4223 12,3366 14,14 176, 429 25,1120 26,8208 26,12289 29,7154 33,2249 33,6319 33,7136 33,14362 33,22188 38,1071 38,14 171, 334 38,15334 40,645 41,8280 43,24284 45,8286 46,8 291, 425 48,9147 48,10 338, 339 48,2072

Jeremia 3,4252 3,19252 8,7159 8,2295 15,2193 17,5346 35,1946 Klagelieder 1,3292 3,13311 4,7 43, 50, 59 Baruch 3,24334 3,38118 Ezechiel 3,18194

444

Index der heiligen Schrift

Matthäus 1,18280 3,2222 3,15 275, 281 3,17287 4,17222 5,3 222, 337, 338,  340, 341, 349,  350, 351, 353 5,4 221, 222, 229,  231, 339, 353 5,5 47, 339, 353,  355, 366, 368 5,6 339, 403, 404, 407 53, 339 5,7 5,8339 5,9339 5,14150 5,15196 5,2256 5,28270 6,1164 6,6358 6,16165 6,2198 6,23386 6,24315 6,25378 6,3091 6,34297 8,26158 9,13163 10,22 66, 295 10,26401 10,28373 10,34382 70, 185, 285 11,28 11,29 222, 234, 285 11,30172 12,32396 12,42355 15,14150 16,17123 16,24 70, 89 18,9122 18,18138 19,12275

9,2194 9,4194 9,4-6194 16,36139 28,12241 32,25244 36,26364 Daniel 3,84145 Hosea 2,19-2082 4,2151 6,650 7,4150 10,1190 13,14245 Joel

2,28327 2,31150

Amos 9,484 Jona 4,9360 Micha 4,4228 Habakuk 2,4314 3,4-5187 3,11 154, 155 3,16300 3,18118 Sacharja 1,15153 5,6255 Maleachi 1,2-3291 2,7136 3,14170

445

Index der heiligen Schrift

2,35 188, 400 2,42263 2,4855 6,2955 6,38329 7,47423 8,4578 8,4679 9,23164 9,26349 10,4264 10,1869 10,19188 10,25-28199 200, 201, 206, 208 10,27 10,37312 10,41 256, 410, 411 10,42412 12,4373 12,2099 14,26 250, 378 14,27164 16,8 170, 354 16,9 337, 351 16,19103 16,22103 17,10 182, 325 18,11358 19,4252 21,18261 22,19147 22,26267 22,3368 22,38373 22,42179 23,2852 23,4390 23,46377 24,28259

19,14339 19,2155 19,2758 19,29249 22,35-38199 22,37 206, 208 22,38200 23,6-7138 23,7264 23,16168 24,12151 25,21238 25,26331 25,29330 25,34 69, 222 26,26 121, 127 26,2748 26,31191 26,41103 26,6699 27,3365 27,3448 28,9 80, 263 28,20 118, 119, 272 Markus 8,252 10,29-30432 16,16173 Lukas 264, 272, 273, 279 1,28 1,37273 1,42 273, 280 1,43265 1,46268 269, 271 1,48 1,49268 1,50346 1,53 404, 412 1,73 207, 297 1,74-7596 1,77123 2,14321 2,19195 2,34187 2,34-35381

Johannes 1,13161 1,14 239, 265 2,3368 2,7368 3,8370 3,1864

446

Index der heiligen Schrift

15,12322 15,1492 16,20 190, 355 16,33247 17,3239 18,38121 19,1599 19,28132 20,17 79, 80 20,2980

3,34281 3,35309 4,13404 4,23268 4,24383 4,3483 5,20309 5,21371 5,2564 5,26 303, 308 5,2864 5,2964 5,30 127, 128, 179 6,27 109, 242 6,33146 6,37183 6,38 128, 178 6,3983 6,55120 6,57120 7,38193 7,42280 8,21225 8,34101 8,47123 8,50139 9,39126 9,41127 10,1138 10,3157 10,15377 10,35412 11,22124 11,24124 11,2563 11,43 70, 371 99, 176 11,48 12,25 211, 376 12,32417 12,35 108, 400 13,1121 13,16349 14,16 120, 371 14,23 166, 213, 291, 315 14,24 166, 213, 215, 315 14,27321 15,5218

Apostelgeschichte 1,3118 2,17327 326, 335 2,44 3,658 4,32 316, 326, 335 4,34-3558 4,35326 5,41 55, 190, 275, 360 6,8265 7,58377 8,32180 8,33128 20,23-24377 20,28 135, 141, 142 Römer 1,3280 1,14141 1,17314 1,18385 1,21108 3,16-1790 3,19244 4,3175 4,11241 4,20-21124 5,175 5,4211 5,5 191, 304, 324,  346, 413, 415,  417, 418 6,4 65, 311 6,6 89, 92, 96, 103,  106, 107, 396, 398 6,12225

447

Index der heiligen Schrift

2,14-15108 2,15 108, 161 3,9288 3,11123 3,15 315, 340 3,17229 3,19 354, 374 4,1151 4,7400 4,959 4,1359 5,5103 6,15229 6,17 76, 377, 383 6,19229 6,20145 7,7326 7,15121 7,25275 7,31425 9,2241 9,19140 9,2466 9,27107 11,31 65, 211 12,4 326, 332, 418 12,4-6326 12,6375 12,7 326, 328 12,31426 13,5328 13,757 13,8 417, 423 13,1064 13,13426 14,1427 14,2370 14,40427 15,20245 15,28 335, 429 15,44110 15,45375 15,46110 15,4796 15,4996 16,14427 16,22119

6,2154 7,5101 7,14101 7,19101 7,20 101, 102 7,23101 7,24359 8,6188 8,12-13131 8,13376 8,14341 8,15321 8,16343 8,17164 8,18 182, 190, 211,  334, 335, 428 8,21230 8,22-23360 8,2365 8,32 118, 415 8,35 75, 373 8,38-3975 9,5 62, 87, 143, 155,  182, 239, 368,  407, 419, 433 10,2112 10,17370 11,10126 11,20111 12,12210 12,16341 13,12-13171 13,14132 14,1772 1. Korinther 108, 186, 188, 354 1,18 1,19374 1,21 188, 354 1,2468 1,25187 1,30 143, 404 2,2183 2,9414 2,11375 2,12 141, 340, 419 2,14 108, 354

448

Index der heiligen Schrift

2,3311 2,4254 2,14321 3,17288 3,18414 3,19426 4,3 233, 319, 324 4,5315 4,17108 4,22195 4,29147 5,8400 5,13416 5,16148 5,29379 6,17378 6,24119

2. Korinther 1,3-4205 1,8360 1,1287 1,21-22347 3,4-5289 3,1746 4,244 4,17211 5,19 136, 287 5,20136 5,21143 6,2129 6,4152 6,14406 6,16406 9,7428 10,4-5111 10,5 111, 188 11,2143 11,3269 11,29 141, 333 12,9 105, 359, 361 12,10359 12,15141 13,3289 13,13 301, 335

Philipper 1,9-10113 1,22-24430 1,23208 1,29433 2,5-7141 2,7268 2,8 68, 179, 268 2,11281 2,12381 2,13 218, 289 2,15 145, 146 3,2139 3,7206 3,8 206, 427 3,18-19133 3,19 58, 96 3,21 65, 147 4,13106

Galater 2,20120 3,11314 235, 275 3,13 3,19428 4,4280 4,19370 5,17 107, 226, 396, 405 5,19-21226 5,2446 6,2333 6,5333 6,7257

Kolosser 1,15308 1,24131 3,5 97, 386 3,14426

Epheser 1,3 145, 280 1,4 413, 415 1,13-14347 2,1-2340

1. Thessalonicher 4,1564 4,16118

449

Index der heiligen Schrift

Jakobusbrief 1,2361 1,8410 1,15393 1,17283 2,17314 2,26314 3,2 80, 130 5,20423

5,23376 2. Thessalonicher 1,9130 1,10120 2,3 106, 396 3,858 1. Timotheus 2,4 285, 415 2,9260 3,16115 4,8164 5,6317 6,858

1. Petrus 2,4275 2,2189 2,2465 3,15371 4,8 321, 423, 426 4,10328 4,11288 5,5273 5,6285

2. Timotheus 1,10279 1,12124 2,476 2,12164

1. Johannes 1,8105 3,2423 3,18 322, 325, 413 4,1398 4,10 119, 246 4,16304 4,18261 4,19246 5,6191

Hebräer 1,3308 1,9270 1,14136 2,1489 4,12 201, 371, 372,  373, 375, 376,  377, 378, 379,  383, 385, 399 369, 398 4,12-13 4,13 400, 401 5,14371 7,26 129, 234, 242 8,13409 9,12129 10,38314 11,26 184, 275 11,33-34178 11,35258 12,2 183, 349 12,8130 12,11173 12,17 293, 365 13,11 128, 129

Offenbarung 1,16202 1,17268 7,17335 12,469 14,272 14,13285 14,20151 18,7103 19,16350 20,664 21,4335 22,1770

450

Index der Quellen

Adam von Perseigne Epistolae IX Aelred von Rievaulx De anima III, 47 De spiritali amicitia I, 48 III, 82 Sermones In Pent., serm. 2 Sermones VIII, 9-10 XXVI, 40-45 Speculum caritatis I, iv, 12 I, v, 14-16 I, x, 28 I, xi, 31 III, x, 29 III, xvi, 39 III, xxii, 52 III, xxix, 69-72 III, xxvi, 60-64

Augustinus Confessiones II, ii, 2 119, 293 IV, x, 15 76 VII, x, 16 228 X, viii, 14 251 X, xxix, 40 250 De bono coniugali 274 XXIII, 30 De ciuitate Dei XV, 22 426 XXII, 23 100 395 XXII, 24, 2 De correptione et gratia XII, 33 242, 356 De moribus ecclesiae catholicae I, iii, 4 423 73, 309 I, xxxi, 67 De quantitate animae 379 I, 1 De sermone Domini in monte I, iii, 10 339 389 I, xii, 43 De Trinitate 309 II, v, 9 308, 417 V, xi, 12 VIII, iii, 4 266 XV, ii, 2 371 XV, v, 7 379 308, 417 XV, xix, 37 De uera religione 167 XLVI, 88

61

332 74, 309 119

Anselm von Canterbury Orationes 54

325 332 309 228 306 224 331 421 421 325 422 317

272

451

Index der Quellen

Enarrationes in Psalmos 239 9, 12 32, II, i, 5 74 56, 16 74 61, 4 131 70, i, 2 46 295 90, i, 8 104, 13 381 129, 2 105 150, 6 74 Sermones 30, vii, 9 140 164, x, 14 95 272 371 389 325 Tractatus in Iohannis euangelium XV, 7 422 LI, 10 317 LXVII, 2 326, 332 LXVIII, 1 332 Balduin von Ford De commendatione fidei XIII, 4-5 LXXXVIII, 3-5 De sacramento altaris

Bernhard von Clairvaux Briefe 11, 7 261 18, 2 348 42, 23 102 42, 32 229 72, 2 237 385, 3 237 Parabeln 1, 3, 5 228 Predigten Adventpredigt 4, 5 339 Am Mittwoch der Karwoche 11 94 Am Sonntag in der Oktav von Mariä Himmelfahrt 14 381 15 380 Über das Hohelied 4, 6 111 8 112 17, 7 118 20, 7 178, 322 28, 8-9 79 49, 5 112 83, 6 246 85, 2, 4 212 Über verschiedene Themen 10, 2 251 25 146 29, 1 319 107 146 Zu Allerheiligen 3 291 Zum Fest Mariä Verkündigung 124 1,7-8 Zum Lob der jung fräulichen Mutter 1, 1 200 1, 9 275 2, 3 279 3, 2 265 3, 7 277, 279 Zum Palmsonntag 1, I, 2 372 Zur Beschneidung

123 124 370

Benedikt Regel des heiligen Benedikt 2, 31-32 140 2, 34 141 141 2, 37 2, 38 141 3, 4 316 5, 11f. 316 5, 12 48 6, 1 233 6, 8 146 7, 21 398 7, 37 294, 296 7, 49 55 11, 12 94, 138 28, 2 94, 138 33, 3 316 64, 19 399 71, 1 157

452

Index der Quellen

3, 30

3, 11 399 Sentenzen 3, 76 348 3, 101 146 3, 127 319 Über die Bekehrung 1, 2 371 2, 3 228, 291, 425 6, 8-9 226 21, 38 57, 372 Über die Besinnung 3, 1, 4 314 Über die Gnade und den freien Willen 1, 1-2 389 3, 7 310, 335 4, 10-11 126 9, 28 126 9, 28-30 167 Über die Gottesliebe 1, 1 207, 246 5, 15 246 6, 16 203 7, 22 297 8, 24-25 312 8, 25 167, 296, 426 10, 27 77 54 Bestiarium

Hieronymus Dialogus aduersus Pelagianos II, 4 359 In Habacuc II, iii 154 In Isaiam VIII, xxv 120 Liber interpretationis hebraicorum nominum 46 Hilarius von Poitiers De Trinitate VIII, 45

241

Isidor von Sevilla Etymologiae VII, v, 24 137, 149, 202 Lucanus (M. Annaeus Lucanus) Pharsalia 2, 383 329 Ovidius (P. Ovidius Naso) Epistolae 5, 149 421 Metamorphoses 1, 523 421 Remedia Amoris 50 443

Cicero (M. Tullius Cicero) Orator 57, 372 x, 33

Richard von St. Viktor Beniamin minor XIII Liber exceptionum II, xi, 2

Gelasius I Epistolae VIII (seu XII). Ad Anastasium 150, 373 Imperatorem Gregor der Grosse Homiliae in Euangelia XXVII, 4 XXX, 1 Moralia in Iob IV, xxvii, 49 XVII, xxi, 31 XXXII, xxii, 46 Regula pastoralis

389

61 363

Sallust (G. Sallustius Crispus) De coniuratione Catilinae 20,4 74, 309

319 249 389 140 43

Seneca Rhetor Controuersiae III, 9, 3

453

175

Index der Quellen

Symbolum Apolostorum 118, 247, 321, 334 Symbolum Athanasianum 375 Symbolum Nicaeno-Constantinopoli­ tanum 308 Symbolum Nicaeno-Constantinopoli­ tarum 321

IV, 1-2 Eclogae siue Bucolica IV,30 Georgica IV,1

253 238 238

Wilhelm von St. Thierry De natura et dignitate amoris 17-18 251 Epistola ad Rupertus Tuitiensis 115

Vergil (P. Vergilius Maro) Aeneis

454