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German Pages [754] Year 2008
Table of contents :
Cover
Einleitung
I. Europäisches Denken und Philosophie
A. Selbstthematisierungen der Philosophie
1. Der affirmative Diskurs
2. Der kritische Diskurs
3. Der distanzierende Diskurs
a. Th. W. Adornos Kritik der Aufklärung
b. M. Heideggers Kritik der abendländischen Ontologie
c. Vergleich und Kritik
B. Rekonstruktion der Philosophie als Epistemologie
II. Elemente zu einer Theorie des Wissens
A. Wissen als »epistemische Tätigkeit«
B. Der Begriff: »epistemisches Gesetz«
1. Gesetz und Satz
2. Zur Dialektik von Gesetz und Satz
3. Das »epistemische Gesetz«
III. Das Vorhaben
A. Der Autonomiebegriff
1. Die drei Dimensionen des Autonomiebegriffs
a. empirische Regel
b. politische Systemeigenschaft
c. moralisch-praktischer Begriff
2. Die performative Struktur von Autonomie
B. Der Autoritätsbegriff
1. Das Eltern-Kind-Verhältnis
2. Das Autoritätsverhältnis
a. als personales Verhältnis
b. als Kommunikationsverhältnis
C. Ausblick
Teil I: Das griechische »Projekt Autonomie«
I. Thales: Der »Satz vomWasser«
A. Das Problem des Anfangs der Philosophie
1. Die Frage nach der Arch
2. Der Anfang der Philosophie: die »Arch-Frage« oder der »Satz vom Wasser«?
3. »Thales selbst«
B. Der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz
1. Der Satz: Repräsentant von Wissen
2. Die epistemologische Begründung des Satzes
3. Der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz
C. Die »Nachfolger« und das Problem der Dauer
1. Kritik und Setzung
2. Das »unaufhörliche Entstehen« als Bedingung von Wissen
3. Die Prüfung der Grundsätze
II. Parmenides: Der »Satz vom Seienden«
A. Kritik der »ersten Grundsätze«
1. Die »ersten Grundsätze« als etera
2. Die Heteronomie des »Wissens der Sterblichen«
B. Der »Satz vom Seienden«
1. Das autonome Subjekt: die Göttin
a. Qea: die »mitteilende Göttin«
b. Dikh: Die Göttin der »gerechten Gewalt«
c. Eine »Göttin«
2. Der »Satz vom Seienden« als epistemischer Grundsatz
a. Der »Satz vom Seienden« als epistemischer Code
b. »Das Denken« als Repräsentation von Wissen
C. Zusammenfassung
III. Heraklit: Der »Satz vom Logos«
A. Vorüberlegungen
1. Die aporetische Situation
2. Chronologische Voraussetzungen
3. Systematische Verortung
B. Der »Satz vom Logos«
1. Der epistemische Grundsatz: »Eines ist alles«
2. Die drei Funktionen des Logos
a. Die epistemische Regel: »Einheit Entgegengesetzter«
b. Die epistemische Kraft
c. Die Erkenntnis
C. Der »Logos selbst«
1. Das Absolute als epistemischer Grund
2. Die Idee der Autonomie
IV. Die Antinomie des Logos-Wissens
A. Demokrit: Die »Notwendigkeit von allem« als Grundsatz des Logos-Wissens
1. Der Satz von »den Atomen und dem Leeren«
a. »atoma kai kenon«: das »dritte Reich« zwischen Denken und Erfahrung
b. Die metaphysische Grundlegung des Erfahrungswissens
a. Der Raum als Einheit des »Vollen und Leeren«
b. Die »reine Anschauung«
2. Der Satz von der Notwendigkeit
a. Die Ursache der Bewegung
b. Die Gesetzmäßigkeit des Geschehens
a. Das Gesetz der Gleichheit
b. Anhang: der »Wirbel« (dino@)
B. Platon: Die »gute Ordnung« als Grundsatz des Logos- Wissens
1. Die Schau der Ideen
a. Die »zweite Fahrt«
a. Die Seele als »Spiegel« der Ideen
b. Die Seele als Ort der logoi
b. Die kritische Prüfung der Ideen
2. Das noetische Denken
a. Das diskursive Denken: »die Differenz« als Gesetz des menschlichen Denkens
b. Die Vereinigung der Seele mit dem Nous
c. Das noetische Denken
a. Die zwei Gattungen des Seienden: pera@ und apeiria
b. Die Zahl als dritte Gattung des Seienden
g. Das Noetische als vierte Gattung des Seienden
3. Die Erfahrungswelt als Abbild der »guten Ordnung«
a. Die epistemologische Grundlegung
a. Die absolute Differenz von Seiendem und Werdendem
b. Die Ursache des Gewordenen
g. Der Demiurg als Urheber derWeltordnung
d. Die Gewissheit und die Wahrscheinlichkeit
b. Der erste Anfang: die »Gewalt des Guten«
a. Der Beschluss
b. Die Anfangshandlung
g. Die Unterwerfung der Sinnlichkeit unter das Denken
c. Der zweite Anfang: die »besonnene Überredung«
a. Die Anagkh als vernunftlos wirkende Ursache
b. Das Zusammenwirken der zwei Ursachen
g. Das Geheimnis der Überredung
C. Der Antagonismus der epistemologischen Modelle
Das Ende des »Projekts Autonomie«
Teil II: Die römische Autorität
I. Die Gebrauchsweisen von »Auctoritas«
A. Die zivilrechtliche »Auctoritas mancipationis«
B. Die staatsrechtliche »Auctoritas senatus«
C. Die individuelle »Auctoritas patris«
II. Auctoritas: Macht durch Anerkennung
A. Erklärungsmuster von »Auctoritas«
1. Autorität als »soziale Ansehensmacht«
2. Autorität als »geistige Macht«
B. Zur Etymologie von »Auctoritas«
III. Die Auctoritas maiorum
A. Die Quellenlage und ihre Interpretation
B. Die Maiores als »Gründer und Erbauer Roms«
1. Die Gründung Roms als Konstitutionsakt von auctoritas
2. Die Maiores als Gründer der »Res Romana«
a. Die Freiwilligkeit der Anerkennung
3. Die Maiores als epistemische Autorität
a. Die Sapientia maiorum
b. Die Gründung Roms: »ad naturam accommodare«
C. Die Wissensorganisation
1. Rom als epistemisches Zentrum
2. Zeit als Geschichte
3. Die Res Romana als »heilige Sache«
IV. Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum
A. Der Erwerb von Auctoritas
B. Die Funktion der Stellvertretung
C. Die Auctoritas als »Mehrung«
Teil III: Der dreieinige Gott
Einleitung
I. Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
A. Die Glaubensgewissheit
B. Die Glaubensregel
C. Das Problem der Trinität
1. Die Deduktion
2. Die Subsumtion
3. Die Homousie-Formel
II. Die Übertragung der »auctoritas« in das Christentum
A. Auctoritas apostolorum
B. Auctoritas episcopalis
C. Auctoritas patris
III. Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
A. Auctoritas und Ratio als Kräfte der Erkenntnis
1. Die gestufte Erkenntnis: Credere, ut intelligere
2. Auctoritas und Ratio als Bedingungen des Glaubens
3. Autonomie des Menschen oder Autorität Gottes
B. Der dreieinige Gott: Una essentia – Tres personae
1. Una essentia – Tres personae
a. »Una essentia«
b. Zum Begriff: »Persona«
c. »Tres personae«
d. Die Problemstellung
2. Die Beziehungen von Vater und Sohn
a. Die Vater-Sohn-Relation
b. Das personale Verhältnis von Vater und Sohn
a. Augustins Kritik des Begriffs der »Person«
b. Die Person: Einheit von Sein und Haben
g. Das untrennbare Zusammen von Vater und Sohn
d. Vater und Sohn als Personen
c. Das Vater-Sohn-Verhältnis als Autoritätsverhältnis
3. Der Heilige Geist: die »gemeinsame Sache« von Vater und Sohn
a. Der Geist als »Geschenk von Vater und Sohn«
b. Der Heilige Geist: »die Liebe«
a. zum Begriff der Liebe
b. Die Liebe als die gemeinsame Sache von Vater und Sohn
c. Die Liebe als die Eine Sache
4. Zusammenfassung
C. Das Wissen als das »Wort Gottes«
1. Der dreieinige Gott als epistemologisches Subjekt
a. Augustins Lösung der epistemologischen Aporie
b. Die Unterordnung des Wissens unter den Glauben
2. Das Sprechen des Wortes
a. Die Einheit des Sprechers mit seinem Wort
b. Die Wahrheit des Wortes
3. Autonomie des Wissens – Autorität der Person
a. Der Handlungscharakter des Wortes
b. Zur Differenz des Wortes Gottes und der menschlichen Sprache
Teil IV: Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Einleitung
I. Die epistemische Regel: »Das Klare ist dasWahre«
II. Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
A. »Cogito, ergo sum« als empirischer Satz
B. »Cogito, ergo sum« als apriorischer Satz
1. Die spekulative Identität
2. Die logische Implikation
3. Die Äquivalenzbeziehung
a. »Ich denke«
b. »Ich bin ein denkendes Ding«
c. Die klare Einsicht
C. Die Apperzeption
III. Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
A. Der aitiologische Gottesbeweis
1. Der Begriff der Ursache
2. Die Idee der vollkommenen Substanz
3. Der Schluss: »das vollkommene Wesen existiert«
B. Die Wahrheitsbedingung des Gottesbeweises
1. Die logische Form des Schlusses
2. Die epistemische Regel
3. Das absolute Wesen
4. Die Existenz des guten Gottes
IV. Das personale Verhältnis von Ich und Gott
A. Ich und Gott als zwei Personen
1. Das Ich als Person
2. Gott als Person
3. Die Differenz der Personen: Das Durch-sich-Existieren Gottes
B. Die Anerkennung Gottes als Bedingung des wahren Wissens
1. Das »Atheisten-Argument«
2. Die Wahrheit und der Irrtum
3. Die »wahre Gottesliebe«
C. Die Autorität Gottes
1. Die zwei Arten der Existenz Gottes
2. Die »paradoxe Vernunft«
a. Die Indifferenz in Gott
b. Das Unbegreifliche des Begreiflichen
3. Die »Auctoritas Dei«
V. Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes«
A. Das »Zeichen Gottes«
B. Die drei Funktionen der epistemischen Regel
1. Die restriktive Funktion
2. Die legitimierende Funktion
3. Die praktische Funktion
C. Das Motiv der »neuen Wissenschaft«
1. Die Weisheit als das höchste Gut
2. Das Wohl des Menschen als das oberste Gut
3. Das höchste Gut: »Der feste Wille, recht zu tun«
D. Die neue Wissenschaft als Gottesdienst
Teil V: Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Einleitung
a. Zum Begriff der »Moderne«
b. Kants Trennung der »epistemischen Gebiete«
c. Über den Zweck des modernen Denkens
I. Die Gesetzgebungen der menschlichen Vernunft: Natur und Moral
A. Die Verschiedenheit der Gesetzgebungen
B. Die richterliche und die menschliche Vernunft
II. Kants »epistemologische Anthropologie«
A. Die »Natur des Menschen«
B. Das gute Prinzip: die »sittliche Ordnung« in der menschlichen Natur
1. Die Bestimmbarkeit der Sinnlichkeit durch das Vernunftgesetz
2. Die Unbegreiflichkeit der »sittlichen Ordnung«
3. Das Autoritätsverhältnis
a. Der Mensch als »relative Person«
b. Gott als »absolute Person«
c. Das Heilige und die Geheimnisse
a. Das Geheimnis der Berufung
d. Die Moralität als Religion
C. Das böse Prinzip: Die Umkehrung der sittlichen Ordnung
1. Die »verkehrte Ordnung«: die sinnliche Bedingtheit des Vernunftgebrauchs
a. Die »verderbte Natur« des Menschen
b. Die »böse Tat« als Ursache der verderbten Natur
2. Die Autonomie des Menschen: Das »Losreißen vom Guten«
3. Die »böse Tat« als Grund der menschlichen Erkenntnisart
III. Der Antagonismus der zwei Prinzipien
A. Die Geschichte als Ort des Kampfes der Prinzipien
B. Die Herrschaft des Bösen als »Reich der Finsternis«
C. Der öffentliche Kampf des guten und des bösen Prinzips
1. Der Religionswahn
2. Der »Streit der Parteien«
IV. Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
A. Die Gegenwart als »Revolution in der Gesinnung«
B. Die Verfassung der »neuen Öffentlichkeit«
1. Die Öffentlichkeit als »ethisches gemeines Wesen«
2. Der Grundsatz der Bescheidenheit oder der problematische Vernunftgebrauch
3. Die neue Öffentlichkeit als »ethische Republik«
a. Das Modell der Familie
b. Das Modell der »epistemischen Republik«
C. Der Verstand als die »epistemische Kraft« des guten Prinzips
1. Der Verstand als »Typus« der reinen praktischen Vernunft
2. Die transzendentale Apperzeption
3. Die Grundsätze der modernen Naturwissenschaft als Regeln des Verstandesgebrauchs
V. Die Verwirklichung des Guten
A. Die Urteilskraft als das »Verbindungsmittel« zwischen Verstand und Vernunft
1. Die Natur als Technik
a. Über den praktisch-moralischen Grund, die Natur technisch zu beurteilen
b. Die Natur als evolutionäres System
2. Die Kultur als letzter Zweck der Natur
a. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt
b. Der Zwang zum Recht
B. Die Vorsehung
1. Die Vorsehung als Prinzip der Zusammenstimmung von Moral und Natur
2. Das Ende des Kampfs des Menschen um sich selbst
a. Der »ewige Frieden« als ethisches Rechtssystem
b. Der »technische Verstand« und die »Natur als Geschöpf«
C. Die Wirklichkeit des Guten – Das Ende der Geschichte
Schluss
A. »Die Vernunft« als der epistemische Code des europäischen Denkens
B. Die Begriffe »Autonomie« und »Autorität«
C. Resultate und Perspektiven der Untersuchung
Literaturverzeichnis
Sach- und Personenregister
Alexander von Pechmann
Autonomie und Autorität Studien zur Genese des europäischen Denkens
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495997222
.
B
Alexander von Pechmann Autonomie und Autorität
ALBER PHILOSOPHIE
A
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Zu diesem Buch: Die Frage nach der Identität Europas ist heute nicht nur von politischer Bedeutung, sondern zunehmend auch von kulturellem Interesse. Dieses Buch untersucht, wie sich im Abendland eine spezifische Gestalt des Wissens formiert hat. Dies geschieht zunächst anhand des Begriffs der Autonomie, nach der in Griechenland die Wissenschaften in Absetzung vom Mythos als eine selbsttätig-durchsichtige Veranstaltung konzipiert wurden; sowie anhand des Begriffs der Autorität, nach der in römischer Tradition Wissen an die auctoritas von Personen gebunden war. Auf diesem griechisch-römischen Hintergrund werden dann die Theologie Augustins, die maßgebend für das Denken im Mittelalter war, die Neubegründung der Wissenschaften durch Descartes am Beginn der Neuzeit sowie die Philosophie Kants als Repräsentantin des modernen Denkens rekonstruiert. Die Arbeit versteht sich als epistemologischer Beitrag zur Diskussion um den Charakter des europäisch-westlichen Denkens. Der Autor: Alexander von Pechmann, PD Dr., geb. 1950, Privatdozent für Philosophie an der Universität München; Studium der Philosophie, Volkswirtschaft, Politikwissenschaft und Soziologie an den Univ. Regensburg und München, 1981 Promotion, 2006 Habilitation und Venia legendi. Seit 1981 Dozent für Philosophie und politische Bildung an Volkshochschulen, Referent im Rahmen der Lehrerfortbildung in Bayern, Mitherausgeber des Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie. Buchpublikationen: Die Kategorie des Maßes in Hegels ›Wissenschaft der Logik‹ (1980), Magie, Matriarchat und Marienkult. Frauen und Religion (1989), Politische Theorie. Quellen- und Arbeitsbuch für den Sekundarbereich II (1989 ff.), F. W. J. Schelling. Das Tagebuch 1848 (mit H. J. Sandkühler, M. Schraven, 1990), Der global verstrickte Mensch. Neues Handeln aus anthropozentrischer Verantwortung (mit O. Schwarz, 1995).
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Alexander von Pechmann
Autonomie und Autorität Studien zur Genese des europäischen Denkens
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2008 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg ISBN 978-3-495-48302-2
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Vorwort
Anlässe, Europas Identität zu suchen, gab es in der jüngeren Geschichte dieses Kontinents reichlich. Die Umwälzung des europäischen Staatensystems durch die französische Revolution hatte die romantische Hoffnung auf die Erneuerung vergangener Christianitas ebenso geboren, wie sie die Idee Europas als des Hortes der Vernunft und des Ortes des zu sich gekommenen Geistes hervorbrachte. Die Zeit des imperialistischen Aufbruchs der europäischen Nationen am Ende des 19. Jahrhunderts ließ die Vision eines neuen, kraftvollen und machtbewussten Europas im Kampf um die Weltherrschaft entstehen, die Friedrich Nietzsche so beredt und wirkungsvoll in Szene gesetzt hat. Doch die gewaltsamen Ausbrüche dieses Kontinents endeten in einer bis dahin unvorstellbaren Barbarei, und die Träume von der künftigen Größe Europas wichen jäh dem Bewusstsein der Krise, der geistigen Spaltungen dieses Kontinents. Europa erschien nun mehr nicht als der Ort des Geistes, sondern einer entgrenzten und geistlosen technischen Vernunft, die in ihrem Zerstörungs- und Vernichtungswerk sich selbst feierte. Nach den zwei großen ›Bürgerkriegen‹ des 20. Jahrhunderts blieb Europa zwar ein politisch und ideologisch gespaltener Kontinent. Doch erst jetzt begann der eigentliche Siegeszug des europäischen Denkens: unter den Ideen der ›Freiheit‹ in der Ersten und des ›Sozialismus‹ in der Zweiten Welt, die sich beide ihrer Herkunft aus den Werten und Normen der europäischen Tradition versicherten, wurden die Gesellschaften der anderen Völker politisch und kulturell umgestaltet. An die Stelle vormaliger christlicher Missionsschulen und englischer und französischer Offizierskasinos traten jetzt die Tankstellennetze der amerikanischen Ölkonzerne und die sowjetischen Elektrizitäts- und Stahlwerke, die von der Größe und Macht des europäischen Geistes kündeten. Große Teile des asiatischen Kontinents wurden nach den Lehren von Marx und Engels modernisiert und Japan stieg als Teil des freien Westens zu einem Zentrum der Hochtechnologie auf. Indien wandelte sich zu einer parlamentarischen Demokratie und in Afrika setzte der konfliktreiche Prozess A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
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Vorwort
der Staaten- und Nationenbildung ein. Am Ende des Jahrhunderts hatte die europäische Kultur die Welt erobert. Doch gerade der globale Erfolg europäischer Rationalität wurde in dieser Zeit zum Problem. Die Idee der Inkompatibilität dieses Denk- und Handlungsmusters mit den Lebensbedingungen der menschlichen Gattung drang unwiderstehlich ins Bewusstsein. Sie kreierte nicht nur neue Begriffe wie »ökologische Katastrophe« und »Nachhaltigkeit«, die diese Unverträglichkeit ausdrückten; sie forderte auch ein grundlegendes »Umdenken«, das der »Club of Rome« so exemplarisch wie eindringlich anmahnte. Am Beginn des neuen Jahrtausends schließlich mehren sich die Zeichen, dass die globale Krise der Ökologie mit einer Krise der Ökumene zusammenwächst. Der crash des Welthandelszentrums könnte vom clash der großen Kulturen künden. Er deutet auf Grenzen des europäischen Denkens hin. Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund kann sich die Suche nach der Identität Europas nicht mehr auf das politische Problem der europäischen Selbstfindung beschränken. Sie muss sich auch als Frage nach der Verfasstheit eines Denkens verstehen, das mit dem Anspruch angetreten war, die Probleme des Menschen wie der Menschheit zu lösen, das nun aber durch seine unübersehbaren Erfolge selbst zum Problem geworden ist. »Die Aufklärungsbewegung«, so skizzierte H.-G. Gadamer im Rückblick diesen Weg, »die in der griechischen Antike einsetzte und dann mit dem 17. Jahrhundert zur bestimmenden Realität wurde, betreibt mit unausweichlicher Folgerichtigkeit die Umarbeitung der Natur in eine technische Produktionsstätte. Was daraus werden wird, weiß niemand.« 1 Dieser Unausweichlichkeit trägt auch die heutige Philosophie Rechnung. Das heroische Zeitalter der großen Systeme und Gesten, in denen das europäische Denken zum Bewusstsein seiner ihm eigenen Größe und seiner historischen Mission gekommen war, ist vorbei. Ob der europäische Geist sich in den Strukturen der modernen Wissenschaften zeigt oder in der Tradition und Lebenswelt europäischer Kultur; ob er sich in der rationalen Gestaltung des Gegebenen äußert oder aber in der besinnenden, kritischen und selbstkritischen Reflexion aufs Gegebene – diese Grundsatzdiskussionen sind Vergangenheit. Die Philosophie ist nach all diesen Kämpfen ums Ganze müde und zum akademischen Fachbetrieb geworden: ihr Geist ist 1
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H.-G. Gadamer 1993, 69 f.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Vorwort
vergraben in die Sichtung, Vergleichung und Vertiefung der Text gewordenen Stimmen aus ihrer Geschichte oder zeigt sich bemüht, unzeitgemäßen Ballast abzuwerfen, um die philosophischen Problem- und Themenlagen gegenüber den globalen und technischen Entwicklungen anschlussfähig zu halten. So ist im nachheroischen Zeitalter die Philosophie bescheiden geworden, und alles erscheint möglich; über ihre Themen entscheiden weitgehend externe Problemlagen und der internationale Markt. Die Philosophie ist heute, wie der amerikanische Philosoph N. Rescher berichtet, »eine Angelegenheit von Moden und Trends, die von gewichtigen Kundenkreisen ausgelöst werden, die ihrer eigenen Wege gehen, ohne von Individuen geführt zu werden, die die Agenda kontrollieren.« 2 Sie ist vom Gestalter ihrer Sache zu deren Verwalter geworden. Manch kritischer Geist wendet sich ab und sucht außenseiterisch den Sinn in der Sorge um sich selbst oder in der Kommunion mit dem Kosmos und der Natur. »Europa« jedenfalls scheint nicht mehr der Ort lebendigen und selbstbestimmten Philosophierens zu sein. Die vorliegende Studie ist von diesen Entwicklungen nicht unbetroffen geblieben. Sie beansprucht nicht, gewisse klassisch gewordene Grundlegungen der Philosophie historisch oder systematisch zu rekonstruieren. Sie will nicht mehr zum besseren Verständnis dessen beitragen, was die Autoren gedacht haben, um so vielleicht besser zu verstehen, wer ›wir‹, als Europäer, sind. Angesichts der genannten Problemlage muss dieser Wunsch als unangemessen selbstgenügsam oder selbstgefällig erscheinen. Die Arbeit lässt sich aber auch nicht einreihen in Unternehmungen einer Kritik, die das, was das Identische und Bestimmende des europäischen Denkens wäre, als irrig zurückweist, die solch Identisches als bloßes Ideologem dekonstruiert oder nach verschütteten Quellen dieser Tradition gräbt. Das Anliegen der Studie ist ein anderes: sie versucht den Blick von außen. Sie will den Grundmustern des europäischen Denkens in ihrem status nascendi nachgehen; sie will nachvollziehen, wie es geschah, dass gewisse Gedanken sich so verfestigt haben und so prägend wurden, dass sie in epistemischer Hinsicht zu ›Wahrheiten‹ wurden. Sie möchte diejenigen Strukturen aufsuchen, die dem europäischen Denken nicht nur seine Identität, sondern auch die Dynamik implantiert haben, die mit dem Erfolg dieser Denkweise das Konflikt- und Gefahren-
2
N. Rescher 1995, 786. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
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Vorwort
potential hervorgebracht hat, mit dem die Menschheit heute konfrontiert ist. In methodischer Hinsicht bedeutet dies, dass die Arbeit nicht auf die Untersuchung gewisser Autoren oder Ideen zielt, um die Vielschichtigkeit ihrer Werke oder die Herkunft und Wirkung der Begriffe zu erschließen beziehungsweise sie in ihre – wie immer geartete – Fragwürdigkeit zu zerlegen. Sie verfährt also weder hermeneutisch noch kritisch. Ich bezeichne die verwendete Methode als »epistemologische Rekonstruktion«, weil nachvollzogen werden soll, wie überhaupt gewisse Gedanken bzw. Sätze den Status von »Wissen« erhalten haben und zu bestimmenden Prinzipien oder Grundsätzen des Denkens wurden. Es geht daher weder um Personen, die gewisse Gedanken hatten, noch um Ideen, die von gewissen Personen gedacht wurden, sondern darum, wie gewisse Gedanken oder Sätze in epistemischer Hinsicht verbindlich für das Denken wurden. Anhand ausgewählter Sätze und Denkmuster soll nachvollzogen werden, wie sie für das Welt- und Selbstverständnis der europäischen Kultur bestimmend und prägend wurden. Zur Rekonstruktion des europäischen Denkens werden zunächst zwei Anfänge herausgearbeitet: die griechische Philosophie, soweit sie einen neuen und eigentümlichen Diskurs über das, was ›wahr‹ ist, etabliert hat; sowie das römische Denken, soweit dieser Diskurs durch die römische Tradition seine feste und verbindliche Struktur erhalten hat. – Die Rekonstruktion der griechischen Philosophie geschieht unter dem Leitbegriff der Autonomie; sie vollzieht den Anfang der Philosophie mit Thales bis zur Konstituierung zweier Wissenssysteme nach, deren eines von Demokrit, deren anderes von Platon konzipiert wurde. Die These ist, dass die griechische Philosophie epistemologisch an die Stelle der heteronomen Struktur der Erzählung den Satz zum Repräsentanten von Wissen erhoben hat. – Dem römischen Denken wird in der Arbeit so weit nachgegangen, als es sich unter dem Leitbegriff der Autorität rekonstruieren lässt. In diesem Denken, so die Annahme, besitzt Wissen weder die narrative Struktur der Erzählung noch die Transparenz des Satzes, sondern wird im Rekurs auf Personen begründet. Hierzu wird der Begriff »Autorität« im römisch-lateinischen Sinn der auctoritas als Urheberschaft verstanden, in Bezug auf die das Wissen den Status institutionalisierter Verbindlichkeit erhält. Die anschließenden Teile der Arbeit gehen der Frage nach, wie diese beiden epistemologischen Muster, Wissen qua Autonomie bzw. 8
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Vorwort
qua Autorität zu begründen, verbunden wurden. Dies geschieht zuerst anhand der Trinitätslehre Augustins, von der wir annehmen, dass sie für das Abendland bzw. den lateinisch sprechenden Westen – im Unterschied zum griechischen Osten – maßgebend wurde. Diese Trinitätslehre wird unter der Fragestellung rekonstruiert, wie Augustin, gemäß der Formel »una essentia – tres personae«, das Selbstbezügliche des einen Gottes mit der personalen Bezüglichkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist ›zusammendenkt‹. Bei Descartes, dem Begründer des neuzeitlichen europäischen Denkens, treten die beiden Elemente auseinander: während Descartes das Autonomieprinzip an das »Ich denke« bindet, gilt ihm Gott als die Autorität, welche den epistemischen Status des Denkens als eines wahren Urteilens gewährleistet. Dieser neu konzipierte Zusammenhang der beiden Prinzipien wird anhand der zwei Grundsätze Descartes’: »cogito, ergo sum« und »deus est« nachvollzogen. Die Philosophie Kants schließlich deuten wir als Epistemologie des modernen europäischen Denkens. Im Zentrum unserer Rekonstruktion steht Kants Grundsatz der Trennung von Theorie und Praxis, von Naturwissenschaft und Moral. Diese Trennung, so das Ergebnis, gewinnt ihren Sinn in der Überzeugung von der Berufung des Menschen, die Herrschaft der Vernunft auf Erden wirklich zu machen. Im Vornherein seien die methodischen Schwierigkeiten der Untersuchung genannt. Das Hauptproblem ist zweifellos in der Frage enthalten: Wie kann das europäische Denken einer Rekonstruktion unterzogen werden, die nicht ihrerseits diesem Denken verpflichtet wäre? Muss ein solches Verfahren nicht Standards verwenden, deren Geltungsanspruch doch durch dies Verfahren untersucht werden soll? Der Einleitungsteil versammelt Elemente, die diesem Problem Rechnung tragen. Unsere Methode einer »epistemologischen Rekonstruktion« zwingt, sich jedes eigenen, sei es zustimmenden oder ablehnenden, Urteils über ihren Gegenstand zu enthalten. Sie will sich damit sowohl dem demütigen als auch dem hochmütigen Gestus widersetzen, in den untersuchten Sätzen ›Wahrheiten‹ wiederzufinden bzw. ›Falschheiten‹ aufzudecken; sie soll nur beschreibend nachvollziehen, wie sie – im Europäischen – zu Wahrheiten wurden. Dem Anspruch einer solch distanzierenden Einstellung jedoch auch in concreto zu folgen, hat sich als mühevoller erwiesen als anfangs gedacht. Schließlich bringt es der Umfang des Themas mit sich, ausA
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Vorwort
zuwählen. Dies macht Vorentscheidungen erforderlich und zwingt zur Vereinfachung. Es birgt die Gefahr, Gesichtspunkte, Argumente und Diskussionslagen in ihrer Relevanz zu übersehen. Insofern stellt die vorliegende Studie den Versuch dar, die Grundmuster des europäischen Denkens aus der Perspektive der Distanz exemplarisch zu rekonstruieren. Um den gedanklichen Fortgang nicht zu unterbrechen, sind Kontroversen, Anmerkungen, Belege und Zitate in zum Teil umfangreiche Fußnoten gesetzt. – Aus technischen Gründen habe ich in den griechischen Zitaten auf die diakritischen Zeichen verzichtet. Die Arbeit wurde im Sommer 2006 von der Fakultät Philosophie der Universität München als Habilitationsschrift angenommen. Neben Dieter Henrich, der mich am Beginn der Arbeit ungewollt auf diese Fährte gesetzt hat, gilt mein Dank meiner Familie: meinen Eltern, meiner Frau und meinen beiden Kindern für die Unterstützung und Geduld, die sie viele Jahre aufgebracht haben.
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ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Inhaltsverzeichnis
Einleitung I. A.
B.
II. A. B.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Europäisches Denken und Philosophie . . Selbstthematisierungen der Philosophie . 1. Der affirmative Diskurs . . . . . . . . 2. Der kritische Diskurs . . . . . . . . . 3. Der distanzierende Diskurs . . . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . . a. Th. W. Adornos Kritik der Aufklärung .
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B.
C.
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45 47 51 52 55 56
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60 60 61 61 62 63 65 66 68 72 73 77 78
21 25 25 26 27 28 b. M. Heideggers Kritik der abendländischen Ontologie 33 c. Vergleich und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Rekonstruktion der Philosophie als Epistemologie . . . . 41
Elemente zu einer Theorie des Wissens Wissen als »epistemische Tätigkeit« . . Der Begriff: »epistemisches Gesetz« . . 1. Gesetz und Satz . . . . . . . . . . . 2. Zur Dialektik von Gesetz und Satz . 3. Das »epistemische Gesetz« . . . . .
III. Das Vorhaben A.
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. . . . . .
Der Autonomiebegriff . . . . . . . . . . . . . 1. Die drei Dimensionen des Autonomiebegriffs a. empirische Regel . . . . . . . . . . . . . b. politische Systemeigenschaft . . . . . . c. moralisch-praktischer Begriff . . . . . . 2. Die performative Struktur von Autonomie . Der Autoritätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Eltern-Kind-Verhältnis . . . . . . . . . 2. Das Autoritätsverhältnis . . . . . . . . . . a. als personales Verhältnis . . . . . . . . . b. als Kommunikationsverhältnis . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
A
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Inhaltsverzeichnis
Teil I: Das griechische »Projekt Autonomie« . . . . . . .
83
Thales: Der »Satz vom Wasser« . . . . . . . . . . . . . Das Problem des Anfangs der Philosophie . . . . . . . . 1. Die Frage nach der Arch . . . . . . . . . . . . . . .
83 83 85
I. A.
B.
C.
II. A. B.
C.
2. Der Anfang der Philosophie: die »Arch-Frage« oder der »Satz vom Wasser«? . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Thales selbst« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz . 1. Der Satz: Repräsentant von Wissen . . . . . . . . . 2. Die epistemologische Begründung des Satzes . . . . 3. Der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz Die »Nachfolger« und das Problem der Dauer . . . . . 1. Kritik und Setzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das »unaufhörliche Entstehen« als Bedingung von Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Prüfung der Grundsätze . . . . . . . . . . . . .
. 102 . 104
Parmenides: Der »Satz vom Seienden« . . . . . . . . . Kritik der »ersten Grundsätze« . . . . . . . . . . . . . . 1. Die »ersten Grundsätze« als etera . . . . . . . . . . 2. Die Heteronomie des »Wissens der Sterblichen« . . . Der »Satz vom Seienden« . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das autonome Subjekt: die Göttin . . . . . . . . . . . a. Qea: die »mitteilende Göttin« . . . . . . . . . . . b. Dikh: Die Göttin der »gerechten Gewalt« . . . . . c. Eine »Göttin« . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107 108 110 113 115 116 117 118 120 2. Der »Satz vom Seienden« als epistemischer Grundsatz 123 a. Der »Satz vom Seienden« als epistemischer Code . 123 b. »Das Denken« als Repräsentation von Wissen . . 124 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
III. Heraklit: Der »Satz vom Logos« . . . A. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . 1. Die aporetische Situation . . . . . 2. Chronologische Voraussetzungen . 3. Systematische Verortung . . . . . B. Der »Satz vom Logos« . . . . . . . .
. . . . . . 1. Der epistemische Grundsatz: »Eines ist alles« .
12
. 88 . 90 . 93 . 93 . 95 . 97 . 100 . 101
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130 130 130 132 134 137 139
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Inhaltsverzeichnis
C.
2. Die drei Funktionen des Logos . . . a. Die epistemische Regel: »Einheit Entgegengesetzter« . . . . . . . b. Die epistemische Kraft . . . . . . c. Die Erkenntnis . . . . . . . . . . Der »Logos selbst« . . . . . . . . . . . 1. Das Absolute als epistemischer Grund 2. Die Idee der Autonomie . . . . . . .
IV. Die Antinomie des Logos-Wissens A.
. . . . . . . . . 141 . . . .
. . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
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. . . . . . . . . . . . 160
Demokrit: Die »Notwendigkeit von allem« als Grundsatz des Logos-Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Satz von »den Atomen und dem Leeren« . . . . . a. »atoma kai kenon«: das »dritte Reich« zwischen Denken und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . b. Die metaphysische Grundlegung des Erfahrungswissens . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Der Raum als Einheit des »Vollen und Leeren« . . b. Die »reine Anschauung« . . . . . . . . . . . . .
2. Der Satz von der Notwendigkeit . . . . . . . . . . . a. Die Ursache der Bewegung . . . . . . . . . . . . b. Die Gesetzmäßigkeit des Geschehens . . . . . . . a. Das Gesetz der Gleichheit . . . . . . . . . . . . b. Anhang: der »Wirbel« (dino@) . . . . . . . . . .
B.
142 145 150 154 155 157
162 163 164 167 169 171 177 178 182 185 188
Platon: Die »gute Ordnung« als Grundsatz des LogosWissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Die Schau der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 a. Die »zweite Fahrt« . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 a. Die Seele als »Spiegel« der Ideen . . . . . . . . . 194 b. Die Seele als Ort der logoi . . . . . . . . . . . . 197 b. Die kritische Prüfung der Ideen . . . . . . . . . . 201 2. Das noetische Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 a. Das diskursive Denken: »die Differenz« als Gesetz des menschlichen Denkens . . . . . . . . . . . . 207 b. Die Vereinigung der Seele mit dem Nous . . . . . 212 c. Das noetische Denken . . . . . . . . . . . . . . . 215 a. Die zwei Gattungen des Seienden: pera@ und apeiria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Zahl als dritte Gattung des Seienden . . . . . g. Das Noetische als vierte Gattung des Seienden . .
216 221 224 A
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Inhaltsverzeichnis
3. Die Erfahrungswelt als Abbild der »guten Ordnung« . 229 a. Die epistemologische Grundlegung . . . . . . . . 231 a. Die absolute Differenz von Seiendem und Werdendem . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Ursache des Gewordenen . . . . . . . g. Der Demiurg als Urheber der Weltordnung d. Die Gewissheit und die Wahrscheinlichkeit
. . . . b. Der erste Anfang: die »Gewalt des Guten« . a. Der Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Anfangshandlung . . . . . . . . . . .
C.
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
231 232 233 237 239 239 241 g. Die Unterwerfung der Sinnlichkeit unter das Denken 247 c. Der zweite Anfang: die »besonnene Überredung« . 248 a. Die Anagkh als vernunftlos wirkende Ursache . . 250 b. Das Zusammenwirken der zwei Ursachen . . . . . 253 g. Das Geheimnis der Überredung . . . . . . . . . 255 Der Antagonismus der epistemologischen Modelle . . . 259 Das Ende des »Projekts Autonomie« . . . . . . . . . . . 263
Teil II: Die römische Autorität . . . . . . . . . . . . . . . 267 I. A. B. C.
Die Gebrauchsweisen von »Auctoritas« . . . . . . . . . 268 Die zivilrechtliche »Auctoritas mancipationis« . . . . . . 268 Die staatsrechtliche »Auctoritas senatus« . . . . . . . . 270 Die individuelle »Auctoritas patris« . . . . . . . . . . . 272 . . . . . .
II.
Auctoritas: Macht durch Anerkennung
A.
Erklärungsmuster von »Auctoritas« . . . 1. Autorität als »soziale Ansehensmacht« 2. Autorität als »geistige Macht« . . . . Zur Etymologie von »Auctoritas« . . . .
B.
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
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. . . . .
274 276 276 278 280
III. Die Auctoritas maiorum . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 A. Die Quellenlage und ihre Interpretation . . . . . . . . . 283 B. Die Maiores als »Gründer und Erbauer Roms« . . . . . . 285 1. Die Gründung Roms als Konstitutionsakt von auctoritas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 2. Die Maiores als Gründer der »Res Romana« . . . . . 290 a. Die Freiwilligkeit der Anerkennung . . . . . . . . 292 14
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C.
3. Die Maiores als epistemische Autorität . . . . . . . . a. Die Sapientia maiorum . . . . . . . . . . . . . . b. Die Gründung Roms: »ad naturam accommodare« . Die Wissensorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rom als epistemisches Zentrum . . . . . . . . . . . . 2. Zeit als Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Res Romana als »heilige Sache« . . . . . . . . .
IV. Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum . . . . . . . . . . . . A. Der Erwerb von Auctoritas . . . . . . . . . B. Die Funktion der Stellvertretung . . . . . . C. Die Auctoritas als »Mehrung« . . . . . . .
. . . .
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. . . .
293 294 299 305 307 309 311
315 316 318 322
Teil III: Der dreieinige Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Einleitung I. A. B. C.
II. A. B. C.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem Die Glaubensgewissheit . . . . . . . . . . . . . Die Glaubensregel . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Trinität . . . . . . . . . . . . . 1. Die Deduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Subsumtion . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Homousie-Formel . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
329 329 332 335 337 340 342
Die Übertragung der »auctoritas« in das Christentum . 348 Auctoritas apostolorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Auctoritas episcopalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Auctoritas patris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
III. Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes A.
. . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .
Auctoritas und Ratio als Kräfte der Erkenntnis . . . . . 1. Die gestufte Erkenntnis: Credere, ut intelligere . . . 2. Auctoritas und Ratio als Bedingungen des Glaubens 3. Autonomie des Menschen oder Autorität Gottes . .
355 357 358 365 370
A
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B.
Der dreieinige Gott: Una essentia – Tres personae . 1. Una essentia – Tres personae . . . . . . . . . . a. »Una essentia« . . . . . . . . . . . . . . . . b. Zum Begriff: »Persona« . . . . . . . . . . . c. »Tres personae« . . . . . . . . . . . . . . . d. Die Problemstellung . . . . . . . . . . . . . 2. Die Beziehungen von Vater und Sohn . . . . . . a. Die Vater-Sohn-Relation . . . . . . . . . . b. Das personale Verhältnis von Vater und Sohn
. . . . . . . . . a. Augustins Kritik des Begriffs der »Person« . . b. Die Person: Einheit von Sein und Haben . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . g. Das untrennbare Zusammen von Vater und Sohn . d. Vater und Sohn als Personen . . . . . . . . . . .
379 382 383 384 390 392 395 395 398 400 403 406 409 c. Das Vater-Sohn-Verhältnis als Autoritätsverhältnis 412 3. Der Heilige Geist: die »gemeinsame Sache« von Vater und Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 a. Der Geist als »Geschenk von Vater und Sohn« . . 416 b. Der Heilige Geist: »die Liebe« . . . . . . . . . . . 422 a. zum Begriff der Liebe . . . . . . . . . . . . . . 423 b. Die Liebe als die gemeinsame Sache von Vater und Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C.
16
c. Die Liebe als die Eine Sache . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wissen als das »Wort Gottes« . . . . . . . . . . . . 1. Der dreieinige Gott als epistemologisches Subjekt . . a. Augustins Lösung der epistemologischen Aporie . b. Die Unterordnung des Wissens unter den Glauben 2. Das Sprechen des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Einheit des Sprechers mit seinem Wort . . . . b. Die Wahrheit des Wortes . . . . . . . . . . . . . 3. Autonomie des Wissens – Autorität der Person . . . . a. Der Handlungscharakter des Wortes . . . . . . . b. Zur Differenz des Wortes Gottes und der menschlichen Sprache . . . . . . . . . . . . . . .
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425 429 432 434 434 435 438 440 441 444 446 447 449
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Inhaltsverzeichnis
Teil IV: Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften 453 Einleitung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
I.
Die epistemische Regel: »Das Klare ist das Wahre« . . . 457
II.
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum« »Cogito, ergo sum« als empirischer Satz . »Cogito, ergo sum« als apriorischer Satz . 1. Die spekulative Identität . . . . . . . 2. Die logische Implikation . . . . . . . . 3. Die Äquivalenzbeziehung . . . . . . . a. »Ich denke« . . . . . . . . . . . . b. »Ich bin ein denkendes Ding« . . . c. Die klare Einsicht . . . . . . . . . Die Apperzeption . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . .
463 465 471 472 474 475 479 482 483 490
III. Der zweite Grundsatz: »Gott existiert« . . . A. Der aitiologische Gottesbeweis . . . . . . . . 1. Der Begriff der Ursache . . . . . . . . . . 2. Die Idee der vollkommenen Substanz . . .
. . . .
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493 496 497 503 508 512 512 513 514 515
. . . .
. . . .
. . . .
517 520 520 521
A. B.
C.
B.
. . . . . . . . . .
3. Der Schluss: »das vollkommene Wesen existiert« Die Wahrheitsbedingung des Gottesbeweises . . . 1. Die logische Form des Schlusses . . . . . . . . . 2. Die epistemische Regel . . . . . . . . . . . . . 3. Das absolute Wesen . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Existenz des guten Gottes . . . . . . . . . .
IV. Das personale Verhältnis von Ich und Gott A. Ich und Gott als zwei Personen . . . . . . . 1. Das Ich als Person . . . . . . . . . . . . 2. Gott als Person . . . . . . . . . . . . . B.
. . . .
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. . . .
. . . .
3. Die Differenz der Personen: Das Durch-sich-Existieren Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anerkennung Gottes als Bedingung des wahren Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das »Atheisten-Argument« . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Wahrheit und der Irrtum . . . . . . . . . . . . . 3. Die »wahre Gottesliebe« . . . . . . . . . . . . . . .
522 525 526 528 531 A
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Inhaltsverzeichnis
C.
Die Autorität Gottes . . . . . . . . . . . . 1. Die zwei Arten der Existenz Gottes . . . 2. Die »paradoxe Vernunft« . . . . . . . . a. Die Indifferenz in Gott . . . . . . . b. Das Unbegreifliche des Begreiflichen 3. Die »Auctoritas Dei« . . . . . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
V.
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes« . . Das »Zeichen Gottes« . . . . . . . . . . . . . . . Die drei Funktionen der epistemischen Regel . . 1. Die restriktive Funktion . . . . . . . . . . . . 2. Die legitimierende Funktion . . . . . . . . . 3. Die praktische Funktion . . . . . . . . . . . . Das Motiv der »neuen Wissenschaft« . . . . . . 1. Die Weisheit als das höchste Gut . . . . . . . 2. Das Wohl des Menschen als das oberste Gut .
. . . . . . . . .
A. B.
C.
D.
. . . . . .
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. . . . . .
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. . . . . .
532 534 535 536 537 539
. . . . . . . . . 3. Das höchste Gut: »Der feste Wille, recht zu tun« . Die neue Wissenschaft als Gottesdienst . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
541 542 544 544 545 547 548 548 550 552 555
Teil V: Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 a. Zum Begriff der »Moderne« . . . . . . . . . . . . 561 b. Kants Trennung der »epistemischen Gebiete« . . . 562 c. Über den Zweck des modernen Denkens . . . . . 567
Einleitung
I.
Die Gesetzgebungen der menschlichen Vernunft: Natur und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 A. Die Verschiedenheit der Gesetzgebungen . . . . . . . . 569 B. Die richterliche und die menschliche Vernunft . . . . . . 572
II. A. B.
18
Kants »epistemologische Anthropologie« . . . . . . . . 574 Die »Natur des Menschen« . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Das gute Prinzip: die »sittliche Ordnung« in der menschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 1. Die Bestimmbarkeit der Sinnlichkeit durch das Vernunftgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
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Inhaltsverzeichnis
2. Die Unbegreiflichkeit der »sittlichen Ordnung« 3. Das Autoritätsverhältnis . . . . . . . . . . . a. Der Mensch als »relative Person« . . . . . b. Gott als »absolute Person« . . . . . . . . . c. Das Heilige und die Geheimnisse . . . . .
. . . . a. Das Geheimnis der Berufung . . . . . . . . d. Die Moralität als Religion . . . . . . . . . .
C.
. . . . . . .
. . . . . . .
Das böse Prinzip: Die Umkehrung der sittlichen Ordnung 1. Die »verkehrte Ordnung«: die sinnliche Bedingtheit des Vernunftgebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die »verderbte Natur« des Menschen . . . . . . . b. Die »böse Tat« als Ursache der verderbten Natur . 2. Die Autonomie des Menschen: Das »Losreißen vom Guten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die »böse Tat« als Grund der menschlichen Erkenntnisart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Der Antagonismus der zwei Prinzipien A. B. C.
. . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
Die Geschichte als Ort des Kampfes der Prinzipien . . . Die Herrschaft des Bösen als »Reich der Finsternis« . . Der öffentliche Kampf des guten und des bösen Prinzips 1. Der Religionswahn . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der »Streit der Parteien« . . . . . . . . . . . . . .
583 585 586 587 588 590 595 597 597 601 604 607 612 614 615 619 622 627 630
IV. Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse . . . . 634 A. Die Gegenwart als »Revolution in der Gesinnung« . . . 635 B. Die Verfassung der »neuen Öffentlichkeit« . . . . . . . 637 1. Die Öffentlichkeit als »ethisches gemeines Wesen« . . 638
C.
2. Der Grundsatz der Bescheidenheit oder der problematische Vernunftgebrauch . . . . . . . 3. Die neue Öffentlichkeit als »ethische Republik« a. Das Modell der Familie . . . . . . . . . . . b. Das Modell der »epistemischen Republik« . Der Verstand als die »epistemische Kraft« des guten Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Verstand als »Typus« der reinen praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die transzendentale Apperzeption . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
640 642 642 645
. . . 651 . . . 653 . . . 655
A
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Inhaltsverzeichnis
3. Die Grundsätze der modernen Naturwissenschaft als Regeln des Verstandesgebrauchs . . . . . . . . . . . 658
V.
Die Verwirklichung des Guten . . . . . . . . . . . . . . 660
A.
Die Urteilskraft als das »Verbindungsmittel« zwischen Verstand und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Natur als Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Über den praktisch-moralischen Grund, die Natur technisch zu beurteilen . . . . . . . . . . . . . . b. Die Natur als evolutionäres System . . . . . . . . 2. Die Kultur als letzter Zweck der Natur . . . . . . . . a. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt . . . . b. Der Zwang zum Recht . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorsehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vorsehung als Prinzip der Zusammenstimmung von Moral und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Ende des Kampfs des Menschen um sich selbst . . a. Der »ewige Frieden« als ethisches Rechtssystem . b. Der »technische Verstand« und die »Natur als Geschöpf« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirklichkeit des Guten – Das Ende der Geschichte .
B.
C.
662 664 666 669 673 677 681 684 686 690 691 695 700
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 A. B. C.
»Die Vernunft« als der epistemische Code des europäischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Die Begriffe »Autonomie« und »Autorität« . . . . . . . 706 Resultate und Perspektiven der Untersuchung . . . . . . 710
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741
20
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Einleitung
I.
Europäisches Denken und Philosophie
Das europäische Denken scheint kein originäres Thema der Philosophie zu sein. Mit ihm befassen sich die Kultur- und Geschichtswissenschaften. Die Philosophie hingegen hat es mit dem Denken selbst zu tun, mit Begriffen und Sätzen, die sie hinsichtlich ihres epistemischen Gehalts, ihrer Bedeutung und Wahrheit, untersucht. Insofern könnte allenfalls der Begriff des europäischen Denkens zum Gegenstand philosophischer Untersuchung werden. Andererseits ist es die selbstverständliche Praxis der Philosophen, die Behandlung ihrer Gegenstände mit Personen zu verbinden. Was Begriffe und Sätze bedeuten, lässt sich offensichtlich nicht von den Personen trennen, die sie gedacht und formuliert haben, so dass die Untersuchung dessen, wie und was diese Denker gedacht haben, warum sie so gedacht haben, wie sie gedacht haben, ob und wie ihre Gedanken auf andere Denker gewirkt haben, und worin sie übereinstimmen bzw. sich unterscheiden, selbst philosophische Praxis ist. Auf diese Untersuchungen stützen sich die Einteilungen der Philosophie nach dem Kriterium der Zeit in Epochen (z. B. antikes – mittelalterliches – neuzeitliches Denken), nach der Methode in Denkweisen (z. B. analytisches – dialektisches – mystisches Denken) und nach den Inhalten in Richtungen (z. B. idealistisches – materialistisches Denken). Diese Einteilungen spezifizieren und konkretisieren das Thema der Philosophie. 1 So legitim es also im Rahmen der Philosophie ist, ihr Thema anhand der Zeit, der Methode oder der Inhalte zu strukturieren, so äußerlich und fremd muss die Einteilung anhand des Raumes erscheinen. Würden wir daher den Begriff »Europa« im Sinne der Geographie gebrauchen, um nach ihm das europäische Denken von anderen Arten des Denkens, etwa dem asiatischen oder dem afrikaniDiese Spezifizierungen können ihrerseits wieder spezifiziert werden. Vgl. Geldsetzer 1968.
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schen, abzugrenzen, so wären wir wieder am Ausgangspunkt: unter diesem Aspekt ist es kein originäres Thema der Philosophie, sondern der Kulturwissenschaft. Der Begriff »europäisches Denken« kann daher offenbar nur dann ein Thema der Philosophie sein, wenn er keinen bestimmten Gegenstand bezeichnet, sondern wenn durch ihn die Philosophie sich selbst, ihre eigene Praxis, thematisiert. In diesem Fall aber dient der Begriff »Europa« nicht der Einteilung des Denkens in Arten, sondern der Kennzeichnung eines Identischen in aller Philosophie. Er bezeichnet gleichsam den Ort, an dem – über alle zeitlichen, methodischen und inhaltlichen Differenzen hinweg – die »Philosophie« genannte Veranstaltung statt hat. Was aber kann »europäisches Denken« in diesem Sinne bedeuten? Zunächst einmal kann der Ausdruck zur Feststellung eines empirischen Sachverhalts gebraucht werden. Er bezeichnet die Signifikanz der Häufigkeit, mit der die Philosophie Denker thematisiert, die dem Erdteil »Europa« zugehören. Unter diesem Gesichtspunkt dient er der Feststellung, dass die Philosophie in ihrer Gesamtheit signifikant häufig Denker dieses Erdteils thematisiert. Auch wenn eine Definition der Philosophie als eines Unternehmens, das solche Denker thematisiert, nicht den Tatsachen entspricht, da sie sich keineswegs nur auf europäische Denker bezieht, so scheint doch die Häufigkeit, mit der sie solche Denker auswählt, nicht nur zufällig zu sein, sondern auf einen inneren Zusammenhang von Philosophie und Europa zu verweisen. 2 Anders verhält es sich, wenn der Ausdruck »europäisches Denken« in einem normativ-kritischen Sinne gebraucht wird. In diesem Fall wird er kritisch auf eine herrschende Praxis der Philosophen bzw. eine Praxis der herrschenden Philosophie bezogen, die zur Auswahl und Behandlung ihrer Gegenstände ›einseitig‹ – und damit ›unangemessen‹ – auf Denker rekurriert, die Europäer sind bzw. waren. Hier Diese Signifikanz zeigt auch die Geschichtswissenschaft. So schreibt der Historiker M. Henningsen in seinem Aufsatz »Vom Anspruch und Elend des europäischen Universalismus« über das Fach: »Die eurozentrischen Schwerpunkte … lassen sich … in der Organisation des Geschichtsstudiums an deutschen und europäischen Universitäten nachweisen. Geschichte ist für Europäer noch immer, was die Denker vorgedacht haben. Die Geschichte, die als alte, mittlere und neue gelehrt wird, ist europäisch. Über die Zivilisationsprozesse der anderen werden unter Ausschluss einer größeren studentischen Öffentlichkeit – und vor allem auch der zukünftigen Lehrer – jeweils nur Ethnologen, Ägyptologen, Sinologen, Japanologen, Indologen, Islamisten, Afrikanisten, Amerikanisten und andere Exoten informiert. Historiker leben und denken fürs Abendland.« (Henningsen 1983, 897)
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dient der Ausdruck zur Charakterisierung der Begrenztheit bzw. der Anmaßung der herrschenden Philosophie und fällt mit der Kritik an ihrem »Eurozentrismus« zusammen. 3 – Dieser kritische Gebrauch des Ausdrucks macht jedoch nur Sinn, wenn zwischen der ›herrschenden Praxis‹ und dem ›Eigentlichen‹ der Philosophie unterschieden werden kann. Der normative Gehalt dieser Kritik macht es daher zum einen erforderlich, zumindest plausibel zu machen, was die Philosophie – unabhängig von der herrschenden Praxis als europäischem Denken – denn sei. Es bedarf dazu eines ›inter-‹, oder ›transkontinentalen‹ Begriffs der Philosophie, um anhand dessen die herrschende Praxis, überwiegend europäische Denker zu thematisieren, als ›unangemessen‹ und insofern als ein bloß »europäisches Denken« beurteilen zu können. Diese Kritik steht jedoch in der Gefahr, einen Begriff von Philosophie zu bilden, der entweder zu unbestimmt 4 oder in seinem Gehalt doch wiederum nur aus der europäischen Praxis gewonnen ist. – Darüber hinaus ist diese Kritik gezwungen, zur Erklärung der ›eurozentristischen‹ Praxis der Philosophie Ursachen oder Motive anzunehmen, die selbst nicht philosophischer Natur sind und daher außerhalb der Philosophie liegen. Denn ob man eine Beschränktheit der europäischen Kultur, das Dominanzstreben der Europäer oder auch die ökonomische Expansion Europas zur Erklärung der herrschenden Praxis der Philosophie annimmt, – in jedem Fall entspringt diese Annahme nicht der Philosophie selbst, sondern gründet auf gewissen Theorien über die europäische Kultur. – Dieser normativ-kritische Gebrauch des Ausdrucks »europäisches Denken« hat also das Missliche, dass der Kritiker für sich selbst einen ›angemessenen‹ Begriff von Philosophie in Anspruch nehmen, der herrschenden Praxis jedoch Beweggründe unterstellen muss, die nicht der Philoso-
Vgl. Mall 1989; auch: Kimmerle 1991. Der indische Philosoph K. Bhattacharya bezeichnet einen solchen abstrakt-unbestimmten Philosophiebegriff als einen »›wurzellosen‹ Universalismus« (671). Dieser entfremde die jeweilige Kultur von ihrer eigenen Ideenwelt, so dass »Bräuche und Institutionen, die mit Jahrhunderte alten Geisteshaltungen verknüpft sind, … (im Namen der Vernunft) als bedeutungslos und tot beiseite geschoben (werden)« (669), und führe dazu, dass sie »ohne Vergleich und Wettstreit durch neue Ideen und Gefühle ersetzt werden, die eine fremde Kultur repräsentieren, welche wie ein Gespenst von einem Besitz ergreift.« (665) Diesen Vorgang nennt Bhattacharya eine »Hybridisierung unserer Ideen«, die »in dem seltsamen Mischmasch von Landessprache und Englisch deutlich (wird), in dem unsere Gebildeten miteinander sprechen.« (Bhattacharya 1999, 665–672, 668)
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phie selbst entstammen und daher auch keine Themen der Philosophie sind. Die dritte Bedeutung des Ausdrucks »europäisches Denken«, die auch dieser Arbeit zugrunde liegt, bezieht sich auf die Philosophie selbst. Sie enthält das Urteil, dass die Philosophie, indem sie ihre Themen durch die Auswahl von europäischen Denkern thematisiert, selbst »europäisch denkt«. In diesem Bedeutungsrahmen bezeichnet der Begriff »Europa« kein Attribut der Denker, die die Philosophie vorzugsweise thematisiert, und nennt auch nicht das Kriterium, nach dem die herrschende Philosophie auswählt, sondern benennt den Ort, in dem die Philosophie über die räumliche und zeitliche Distanz hinweg ihre Identität hat. »Die Philosophie denkt europäisch« heißt in diesem Sinne, dass sie, indem sie europäische Denker thematisiert, selbst so denkt, wie die von ihr thematisierten Denker denken bzw. gedacht haben. »Europa« stiftet in diesem Sinne eine räumliche und zeitliche Kontinuität zwischen den Denkern, die die Philosophie thematisiert, und ihrer eigenen Praxis. Indem sie die Gedanken dieser Denker – über die Unterschiede hinweg – zu ihren eigenen Gedanken macht, expliziert die Philosophie, was sie ist: europäisches Denken. 5 Der Begriff »Europa« drückt hier also eine spezifische Identität der Philosophie aus. – Dieser Gebrauch des Ausdrucks »europäisches Denken« zur Bezeichnung des Identischen der Philosophie erlaubt eine immanente Erklärung sowohl für die zunächst nur empirische Tatsache, dass die Philosophie signifikant häufig europäische Denker thematisiert, als auch für ihre ›Vorliebe‹ für solche Denker; denn es ist die Philosophie selbst, die sich darin auslegt. 6 In dieser letzten Bedeutung ist nun in der Tat das europäische Denken kein Gegenstand der Philosophie, weder als ein möglicher Gegenstand der Untersuchung noch als ein Gegenstand der Kritik. Das Urteil: »die Philosophie denkt europäisch« drückt vielmehr eine Diese Selbstbeziehung hat W. Benjamin treffend als Programm formuliert: »… es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, als sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen.« (Benjamin 1972, 290) Was aber ist das Verbindende, das den Zusammenhang der Zeiten überhaupt ermöglicht? Wir nehmen an: der Ort »Europa«. 6 In diesem Bedeutungsrahmen erscheint es nicht mehr als notwendig, dass die Philosophen selbst Europäer sind. Denn wenn die Philosophie sich in der Herstellung einer »europäischen Tradition« als das definiert, was sie ist, dann denkt auch ein Nicht-Europäer – als Philosoph – europäisch. – Zu den damit verbundenen Konstitutionsproblemen am Beispiel der »afrikanischen Philosophie« siehe: Okere 1983; Serequeberhan 1994. 5
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bestimmte Art ihrer Selbstthematisierung, der Reflexion der Philosophie auf ihre Praxis, aus.
A. Selbstthematisierungen der Philosophie Um diese Art der Selbstthematisierung der Philosophie näher zu bestimmen und damit auch die Perspektive der vorliegenden Arbeit zu kennzeichnen, sollen drei Typen unterschieden werden, nach denen dieser selbstreferenzielle Diskurs der Philosophie statthaben kann: der affirmative, der kritische und der distanzierende Diskurs. 1.
Der affirmative Diskurs
Der affirmative Diskurs gründet auf der Annahme, dass die Philosophie in der Bezugnahme auf europäische Denker zu dem geworden ist, was sie ist, hinsichtlich ihrer Gegenstände wie der Art ihrer Erkenntnis. Diese Art der Selbstthematisierung der Philosophie hat G. W. F. Hegel in wohl vollendeter Gestalt durchgeführt. In ihr wird die zeitliche Reihe verschiedener europäischer Denker, angefangen von Thales bis zu Hegel, als der geschichtliche Prozess der Selbstunterscheidung und -bestimmung des Geistes interpretiert, dessen Ort Europa ist, und in Bezug auf den die Philosophie weiß, was sie ist: Philosophie als das europäische Denken, welches zugleich ein nicht-europäisches Denken aus der Philosophie ausschließt. 7 – Neben dieser Form der Selbstbeziehung lässt sich die affirmative Bezugnahme auf das europäische Denken auch in der Form des bloß zeitlichen Nacheinanders oder des räumlichen Nebeneinanders darstellen, so dass im verstehenden Nachvollzug der Originalität der Denker und der Vielfalt der Gedanken die Philosophie ihre eigene Originalität und Vielfältigkeit erfährt. 8 Dementsprechend beginnt Hegel seine Darstellung der Geschichte der Philosophie: »Die eigentliche Philosophie beginnt im Okzident. Erst im Abendlande geht diese Freiheit des Selbstbewusstseins auf, das natürliche Bewusstsein in sich unter und damit der Geist in sich nieder. Im Glanze des Morgenlandes verschwindet das Individuum nur; das Licht wird im Abendlande erst zum Blitze des Gedankens, der in sich selbst einschlägt und von da aus sich seine Welt erschafft. … So sind wir im Okzident auf dem Boden der eigentlichen Philosophie.« (Hegel 1971, Bd. 18, 121) 8 Exemplarisch hierfür ist F. Überwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie von 7
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2.
Der kritische Diskurs
Eine andere Art der Selbstthematisierung ist der kritische Diskurs. Hier vollzieht sich die Bezugnahme der Philosophie auf das europäische Denken in der Form der »Lager-« oder »Parteienbildung«. Hier steht Philosophie gegen Philosophie 9 . Nach gewissen Kriterien wird eine bestimmte Art zu denken zum Maßstab der philosophischen Praxis erhoben und andere Denkweisen aus dem, was das ›Eigentliche‹ der Philosophie sei, ausgeschlossen. Diese Lagerbildungen können sich nach Maßgabe der Zeit vollziehen, so dass etwa der je gegenwärtige Diskurs zum Maßstab dessen erhoben wird, woran die Philosophie ihr Thema hat und die Relevanz des vergangenen Denkens beurteilt wird; beziehungsweise umgekehrt das vergangene Denken als Maßstab des Philosophierens gilt, an dem das aktuelle Denken sich als Philosophie zu bewähren habe. Die Parteienbildungen können aber auch nach Maßgabe der Methode oder der Inhalte vollzogen werden, so dass, über die Zeiten und Räume hinweg, gewisse Grundsätze zu Prinzipien der Philosophie erklärt, andere ausgeschlossen und ihnen widersprechende als Anatheme bekämpft werden. Nach dieser Art der Selbstthematisierung weiß die Philosophie sich in der Beziehung auf das europäische Denken nicht als die eine Philosophie, in der die Verschiedenheit des Gedachten aufgehoben wäre, sondern vollzieht sich als ein beständiger kritischer Diskurs. Hier sind nicht Affirmation und Versöhnung, sondern die Kritik und der Kampf – zwischen Gegenwart und Tradition, zwischen Aufklärung und Metaphysik, zwischen Materialismus und Idealismus – die Muster, in denen die Philosophie sich als europäisches Denken thematisiert. 10 Thales bis auf die Gegenwart. Hier, schreibt L. Geldsetzer über das Werk, interessiert »gar nicht mehr so sehr all das, was in früheren Erörterungen über Gliederung, Periodik, System-, Problem-, Begriffsgeschichte etc. erörtert worden war. Philosophiegeschichte wird faktisch … zur Bestandsaufnahme dessen, was die Philosophie geleistet hat. Sie wird zu einer Dogmatik und Kanonik des philosophischen Denkens – und wer nicht aufgenommen wurde, der läuft bis heute Gefahr, von der philosophiegeschichtlichen Forschung übersehen zu werden.« (Geldsetzer 1968, 104; auch 179 f.) 9 Vgl. ebd., 115. 10 Hier soll nur angemerkt werden, dass diese Art der Selbstthematisierung die Bezugnahme auf nicht-europäische Denker nicht ausschließt. Exemplarisch lässt sich dies an Karl Jaspers’ Werk »Die großen Philosophen« nachvollziehen. Statt wie Hegel die Vernunft mit dem europäischen Denken zu identifizieren, geht Jaspers von der Idee der einen Vernunft aus, die in allem walte. Er nennt dies den »philosophischen Glauben«.
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3.
Der distanzierende Diskurs
Die dritte Art der Selbstthematisierung möchte ich den »distanzierenden Diskurs« nennen. Dieser begreift »Europa« weder als den Ort der Identität und Versöhnung des Geistes mit sich noch als den Ort des Streits und des Kampfes der Philosophie mit sich, sondern unterzieht die Philosophie als europäisches Denken der Kritik. Diese distanzierende Thematisierung der Philosophie bezieht einen Standort nicht nur jenseits des europäischen Denkens, das sie zum Gegenstand hat, sondern auch jenseits der Philosophie, weil sie in der Philosophie selbst das europäische Denken erkennt. Wie aber lässt sich dieser Standort jenseits der Philosophie benennen? Und welcher Art kann dasjenige Denken sein, das die Philosophie als europäisches Denken identifiziert? Die Problemstellungen einer solchen Art distanzierender Selbstthematisierung der Philosophie möchte ich zunächst anhand von zwei Kritiken der Philosophie explizieren. Die eine lässt sich unter dem Titel »Dialektik der Aufklärung« zusammenfassen und ist insbesondere von Th. W. Adorno vorgetragen worden; die andere hat sich in M. Heideggers »Seinsdenken« artikuliert. Die Übernahme dieser Idee erlaubt es ihm, wie übrigens auch schon G. W. Leibniz in seinem »Discours sur la Théologie des Chinois«, die bisherige Konzentration der Philosophie auf europäische Denker der Kritik zu unterziehen und eine »Welt-Philosophie« zu konzipieren, die auch nicht-europäische Denker umfasst. Doch wenngleich Jaspers von diesen Denkern sagt, dass sie »einem gemeinsamen Reich an(gehören), in dem sie sich begegnen« (Jaspers 1983, 28), so zeigt nicht nur die Art der Darstellung, sondern schon seine Auswahl der so genannten »maßgebenden Menschen« das spezifisch europäische Interesse an diesen Menschen. So stellt Jaspers selbst die Frage, warum er vier auswählt: Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus: »Es gibt andere, an die zu denken wäre: Abraham, Moses, Elias, – Zarathustra, – Jesaias, Jeremias, – Mohammed, – Laotse, Pythagoras. Aber keiner erreicht durch Umfang und durch Zeitdauer die historische Wirkung jener vier. Der einzige, der historisch einen vergleichbaren Umfang an Wirkung hatte, Mohammed, ist an Tiefe des Wesens nicht zu vergleichen.« (ebd., 198) Fragen wir nun aber, was bedeutet: »Tiefe des Wesens«, so erfahren wir weniger über diese Menschen als über Jaspers’ Sicht auf die Problemlage des europäischen Denkens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: auf das »Unbehagen« an der Zivilisation durch die ›Verunwesentlichung‹ des Denkens. Dieser internen Kritik wegen greift Jaspers auf die fernöstlichen Denker, Buddha und Konfuzius, aus, um in deren Tiefe und Größe Antworten auf die Krise Europas zu finden. Damit aber entspringt die Bezugnahme auf sie nicht jenem »gemeinsamen Reich …, in dem sie sich begegnen«, sondern internen Problemlagen und steht, nicht zuletzt durch die Auswahl der »maßgebenden Menschen«, im Dienst des innereuropäischen Diskurses. A
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a.
Th. W. Adornos Kritik der Aufklärung
Die Selbstthematisierung der Philosophie, die Th. W. Adorno vornimmt, macht sowohl den Ursprung als auch die Bestimmtheit des europäischen Denkens selbst sichtbar. Adorno ist, so scheint uns, der erste Philosoph, der, zusammen mit M. Horkheimer, unter dem Eindruck der moralischen Katastrophe Europas dieses Denken als solches – nicht nur diese oder jene Ausprägung – zum Gegenstand der Kritik und damit überhaupt zum Thema gemacht hat. Adornos Problem ist nicht, ob die Philosophie aufgrund einer angenommenen ›Vernünftigkeit der Wirklichkeit‹ überflüssig zu werden drohe, sondern dass sie angesichts einer jeden Anspruch der Vernunft niederschlagenden Wirklichkeit sich »dem Problem der Liquidation der Philosophie selber gegenüber« sieht. Adorno macht die Frage unabweisbar, ob »Philosophie … überhaupt aktuell sei«; ob »noch eine Angemessenheit zwischen den philosophischen Fragen und der Möglichkeit ihrer Beantwortung« (Adorno 1973, Bd. 1, 331) besteht. 11 Das Ergebnis von Adornos kritischer Untersuchung ist bekannt: das europäische Denken sei im Kern Aufklärung, und diese über sich unaufgeklärtes Herrschaftsdenken. Es stehe im Bann der »Identität«, durch die es das Andere seiner selbst negiert, sich gleichmacht und zum bloßen Moment des Systems herabsetzt. 12 Was anders wäre, wird gleichgemacht: »Indem das Erste der Philosophie immer schon alles enthalten soll, beschlagnahmt der Geist, was ihm nicht gleicht, macht gleich, zum Besitz. Er inventarisiert es; nichts darf durch die Maschen schlüpfen, das Prinzip muss Vollständigkeit verbürgen. Die Zählbarkeit des Befassten wird zum Axiom. Verfügbarkeit stiftet das In diesem Kontext der Selbstthematisierung ist »Auschwitz« zentral. Auch die vorhergehende Kritik der Philosophie durch L. Feuerbach, A. Schopenhauer, S. Kierkegaard oder F. Nietzsche erscheint als radikal. Aber ihre Kritik diente der Erneuerung der Philosophie. Sie sollte durch die Wiederaufnahme verdrängter oder verschütteter Ursprünge die Philosophie reformieren, und bewegte sich so in der Tradition. Erst im Angesicht von Auschwitz, angesichts einer jeden Anspruch der Vernunft niederschlagenden Wirklichkeit, richtete sich der Blick auf das »europäische Denken« als solches. – Es ist aber auch einsichtig, dass »nach Auschwitz«, d. h. mit der ›Normalisierung‹ der Verhältnisse und der Historisierung des Grauens, das ›zeitgemäße Denken‹ wieder in die Bahnen der Tradition zurückgelenkt und das Traditionssprengende dieser Selbstthematisierung seinerseits historisiert wurde. Es macht diesbezüglich offenbar einen großen Unterschied, ob Auschwitz – wie für Adorno – das Grauen ist oder – wie für Generationen danach – das Grauen war. 12 »Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell. Beharrt wird auf der Zerstörung von Göttern und Qualitäten.« (Adorno 1973, Bd. 3, 24). 11
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Bündnis der Philosophie und Mathematik, das dauert, seitdem Platon das eleatische wie das heraklitische Erbe mit dem der Pythagoreer verschmolz.« 13 Indem aber dieses Denken das Anderssein als Möglichkeit negiert und vernichtet, sei es dem Mythos gleich. So wie das mythische Denken die Furcht vor dem Anderen durch die wiederholende Mimesis zähmen will, so bewältigt die Aufklärung diese Furcht durch das Prinzip der Gesetzmäßigkeit alles Geschehens: »Das Prinzip der Immanenz, der Erklärung alles Geschehens als Wiederholung, das die Aufklärung wider die mythische Einbildungskraft vertritt, ist das des Mythos selber.« (Adorno 1973, Bd. 3, 28) Die bloße Vorstellung des »Draußen« sei die »eigentliche Quelle der Angst« (ebd., 33). Daher seien die Vergötzung der Identität durch die Philosophie und die Vernichtung des Anderen in den faschistischen Vernichtungslagern einander nichts Fremdes, sondern Kehrseiten ein und derselben Denkens: »Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation.« (ebd., 29) Belassen wir es bei diesem knappen Referat der Kritik und fragen nach dem Ort, von dem aus Adorno das europäische Denken der Kritik unterzieht. Adorno selbst bezeichnet diesen Ort als den der Kritischen Theorie oder, bestimmter, als den der Negativen Dialektik, der »angesichts des Unsäglichen, was geschah und weiter geschehen kann, allein zu verantworten wäre« (Adorno 1999, 482). Hatte das dialektische Denken bislang im Bann der Identität das Andere, das Nicht-Identische, in die spekulative Einheit des Absoluten, in die absolute Einheit, ›aufgehoben‹ und es so zum bloßen Moment des im Anderen zu sich kommenden Einen Denkens herabgesetzt, sei es die Aufgabe der Negativen Dialektik, die Identität selbst als die »Urform von Ideologie« (Adorno 1973, Bd. 6, 151) aufzuzeigen. Sie sei kritisch, weil sie – jenseits des Ganzen – das Ganze in seiner Unwahrheit denkt und in solchem Ganzen das Bestehende an dessen eigenem Maß des Scheins und des Unwahren überführt. Ihr Ort ist daher das Nicht-Identische, das nicht auf- und eingeht ins System; der Ort der Verweigerung, von dem aus über das Ganze gesagt werden kann: das Ganze ist das Unwahre und das Ungerechte. »Die Kraft solchen Widerstandes ist das einzige Maß von Philosophie heute.« (Adorno 1999, 488) Verstehen wir Adornos Konzept der Negativen Dialektik als 13
Siehe: Adorno 1973, Bd. 5, 17. A
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eine Antwort auf unsere Frage nach einem Denken jenseits der Philosophie, welches diese als europäisches Denken denkt, so scheint der Ort dieses Denkens in der bloßen Negation zu verharren. Denn von ihm aus kann das Denken sich nicht mehr positiv bestimmen und sich auch nicht – dialektisch – in die Negation der Negation überführen, weil unter den bestehenden Verhältnissen sich alle positiven Bestimmungen nur wieder ins Negative, ins Unwahre verkehrten, und solches Denken »nur der trostlosen Kette der Philosophien eine neue hinzu(fügte)« 14 . Zwar muss um der Unwahrheit des Ganzen willen dieses Denken an der Idee des Wahren festhalten, das es gleichwohl nicht mehr zu bestimmen vermag. Eine allein verantwortbare kritische Theorie dürfe daher »nicht länger des Absoluten sich mächtig dünken, ja müsste den Gedanken daran sich verbieten, um ihn nicht zu verraten, und doch vom emphatischen Begriff der Wahrheit nichts sich abmarkten lassen. Dieser Widerspruch ist ihr Element. Es bestimmt sie als negative.« (ebd., 482) Solches Denken kann daher nur die Idee vom Wahren wach halten, das nicht aufgeht in Seiendem; es ist gleichsam der Platzhalter des Wahren, der den Utopien eines anderen, unbeschädigten Lebens Raum und Asyl gewährt. 15 Weil es sich seine Funktionslosigkeit und Ohnmacht eingesteht, »erhascht Ebd., 484. – Zu diesem Verzicht aufs ›Positive‹ siehe auch die Vorrede zur »Dialektik der Aufklärung«: »Hatten wir auch seit vielen Jahren bemerkt, dass im modernen Wissenschaftsbetrieb die großen Erfindungen mit wachsendem Zerfall theoretischer Bildung bezahlt werden, so glaubten wir immerhin, dem Betrieb so weit folgen zu dürfen, dass sich unsere Leistung vornehmlich auf Kritik oder Fortführung fachlicher Lehren beschränkte. Sie sollten sich wenigstens thematisch an die traditionellen Disziplinen halten, an Soziologie, Psychologie und Erkenntnistheorie. Die Fragmente, die wir vereinigt haben, zeigen jedoch, dass wir jenes Vertrauen aufgeben mussten … die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung zwingt das Denken dazu, sich auch die letzte Arglosigkeit gegenüber den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu verbieten.« (Adorno 1973, Bd. 3, 11) 15 Adorno hat gleichwohl in der »Ästhetischen Theorie« und den »Minima Moralia« Anstöße zu einem anderen Denken gegeben, zu einer »Utopie der Erkenntnis«, wie es programmatisch in der »Negativen Dialektik« heißt, »das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen«, die er freilich sogleich zurücknimmt: »Ein solcher Begriff von Dialektik weckt Zweifel an seiner Möglichkeit.« (Adorno 1973, Bd. 6, 21). Mehr als utopische Bilder von Kindheit (vgl. etwa: Amorbach. In: Adorno 1973, Bd. 10/1, 302–309) oder die Utopie vollkommener Lust – »Nur wer es vermöchte, in der blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte stillt, die Utopie zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fähig, die standhielte.« (Adorno 1991, 94) – konnten und sollten daraus nicht werden. Sprach Adorno 1931 noch zuversichtlich von der »Aktualität der Philosophie«, der er einen kritischen Zugriff auf die Wirklichkeit zutraut, die in Spuren und Trümmern die Hoffnung auf Wahrheit und Gerechtigkeit 14
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(es) vielleicht einen Blick in jene Ordnung des Möglichen, Nichtseienden, wo die Menschen und Dinge an ihrem rechten Ort wären.« 16 Der Ort, den Adorno verantwortbarem Denken zuweist, ist in der Tat jenseits der Philosophie, weil es sich sowohl den Gedanken des Absoluten als auch den eines Positiven verbietet, und ist insofern ein anderes Denken 17 . Aber es bleibt in seiner Negativität doch eigentümlich aporetisch. Denn als kritische Theorie distanziert es sich zwar vom europäischen Denken als Aufklärung, die es im Banne der Identität die Liquidation des Nicht-Identischen und Anders-Möglichen betreiben sieht. Aber es kann sich von ihr doch nicht verabschieden, weil es aus der Konfrontation mit diesem Denken den Begriff des Nicht-Identischen gewinnt, und weil es im Anschluss an die Tradition der Aufklärung an der für es konstitutiven Idee der Autonomie des Denkens sowie an dem emphatischen Begriff von Wahrheit und Gerechtigkeit festhält, um ihn als unaufgebbar der mythisch verkehrten Wirklichkeit als Möglichkeit eines Andersseins entgegenzuhalten. Es flieht vor demjenigen Denken, von dem es gleichwohl nicht lassen kann und zehrt. 18 Von diesem Ort aus erscheint gewährt, gibt Adorno mit der »Negativen Dialektik« diese Hoffnung auf. – Siehe auch: Habermas 1981, Bd. 1, 499, Anm. 16 Adorno 1999, 488. – J. Habermas hat dazu bemerkt, dass die Einsicht in die Funktionslosigkeit und Ohnmacht dieses Denkens mit Absicht geschah: »Absichtlich regrediert das philosophische Denken, im Schatten einer Philosophie, die sich überlebt hat, zur Gebärde.« (Habermas 1981, Bd. 1, 516) Wir betrachten es allerdings als ein Missverstehen, wenn Habermas als den Grund dieser Regression und einer »sich hinter die Linien des diskursiven Denkens aufs ›Eingedenken der Natur‹ zurückziehen(den)« (ebd.) Philosophie die »Erschöpfung des Paradigmas der Bewusstseinsphilosophie« (518) anführt, das dem Programm der frühen Kritischen Theorie zugrunde gelegen habe. Das Argument, das jedenfalls Adorno selbst anführt, ist das offenkundige Grauen einer sich selbst zerstörenden Aufklärung, die verantwortbarem Denken jeglichen positiven Inhalt nimmt, das sich gleichwohl damit nicht abfindet. – Es bedurfte offenbar einer ›Generation nach Adorno‹, der die Unmittelbarkeit des Grauens entrückt war, um die Kritische Theorie wieder auf »die Linien des diskursiven Denkens« zurückzuführen. 17 H. Schnädelbach berichtet, »dass Adorno sein Leben lang eigentlich nur einen Gedanken gedacht hat – nämlich den Gedanken ›das Ganze ist das Unwahre‹ – und dieser Gedanke war immer präsent; alles, was im Detail diskutiert wurde, war immer bezogen auf das große Zentralthema des Denkens von Adorno … : es hatte fast etwas von Philosophie-Verhinderung.« (Schnädelbach 1991, 57 f.) 18 In ihrem Aufsatz »Wozu noch Adorno?« beschreibt B. Merker dieses Verhältnis der Kritischen Theorie zum Kritisierten: »Die Haltung des kritischen Theoretikers gleicht dem Versuch einer Flucht mit der Hinwendung des Blicks zu dem Schrecklichen, wovor er zu fliehen versucht. Sie gleicht nicht einem Streben Hin-zu-einem-Ziel mit der Hinwendung des Blicks zum Erstrebten. Der Flüchtende kennt nur das einzige Ziel des A
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daher über das europäische Denken »die Identität« wie ein unseliger Fluch verhängt zu sein, der es in die Dialektik rastloser Selbstzerstörung treibt, das aber dennoch auch immer wieder die Idee des Heilen, des Andersseins als Möglichkeit hervorbringt. 19 Solches Denken bewegt sich deshalb in dem Widerspruch, dass es um seines eigenen Ortes der Kritik willen die Möglichkeit des Andersseins als unmöglich denunzieren, gleichwohl an ihr als Möglichkeit festhalten muss. Es bricht mit der Aufklärung, die es als mythisches Denken denunziert, und bricht nicht mit der Aufklärung, an der es um dieser willen festhält. 20 So einschneidend uns daher der von Adorno vollzogene Weg-von-Hier, nicht das Wohin, das unbestimmt und offen im Rücken bleibt. Das hat Konsequenzen für die Praxis, die kritische Theorie ist. Sie hat keinen dem Bestehenden externen Maßstab der Kritik und will ihn auch nicht haben. Sie fürchtet, dass die verkehrten Verhältnisse alles Positive in sein Gegenteil verkehren. Daher sucht sie einen dem Kritisierten internen Maßstab der Kritik. Daher ist sie ›immanente Kritik‹.« (Merker 1999, 492.) 19 Am Ende der »Negativen Dialektik« beschreibt Adorno das Negative dieser Dialektik: »Sie fasst mit den Mitteln von Logik deren Zwangscharakter, hoffend, dass er weiche. Denn jener Zwang ist selber der mythische Schein, die erzwungene Identität. Das Absolute jedoch, wie es der Metaphysik vorschwebt, wäre das Nichtidentische, das erst hervorträte, nachdem der Identitätszwang zerging. … Es liegt in der Bestimmung negativer Dialektik, dass sie sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von Hoffnung.« (Adorno 1973 ff., Bd. 6, 398) 20 In seiner Arbeit »Theodor W. Adorno. Ethik als erste Philosophie« hat M. Knoll (2002) es unternommen, auf die ethische Dimension der Philosophie Adornos hinzuweisen, die er in einer hedonistischen Utopie begründet sieht. Adorno begreife »im Anschluss an Aristippos von Kyrene, den Begründer der hedonistischen Schule, die körperliche Lust als das Gute und das Ziel und die Unlust und das Leiden als das unbedingte Übel. Seine hedonistische Ethik ist utopisch, weil für ihn in der falschen Gesellschaft wahre somatische Lust und damit das Glück nicht verwirklicht werden kann und anstelle der Lust ihr Gegensatz – das Leiden – vorherrscht … Gerechtigkeit lässt sich für ihn nur durch die Lust, die aus ihr hervorgeht, begründen und Ungerechtigkeit nur durch das Leiden, das sie erzeugt, kritisieren.« (20) Das »Andere«, auf das Adornos Kritik ziele, sei daher nicht, wie M. Horkheimer meinte, Gott, sondern die Negation des physischen Leidens bzw. positiv: die somatische Lust. – Gesetzt, diese Interpretation von Adornos Erster Philosophie ist richtig, so stellen sich angesichts dieser positiven Utopie des Heilen unentwirrbare Fragen, auf die weder Adorno noch Knoll recht antworten: 1. Nimmt man mit Aristipp an, dass das Gute die körperliche Lust ist, dann muss man annehmen, dass dieses Gute auch für den Menschen das Gute ist. Nun ist es nach Adorno aber unmöglich geworden, solch ethische Prinzipien positiv zu bestimmen, weil Philosophie, »angesichts des Unsäglichen, was geschah und weiter geschehen kann … nicht länger des Absoluten sich mächtig dünken« dürfe (Adorno 1999, 14). Was also einmal positiv die Idee einer Wahrheit enthält, die standhielte, kann zum anderen nur noch negativ als Ausdruck des Unwahren verstanden werden. Wie aber lässt sich beides, die Erhebung und die Entschlagung von Prinzipien, widerspruchsfrei denken? – 2. Wenn
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Akt auch erscheint, im Angesicht der Katastrophe das europäische Denken als solches zum Gegenstand der Kritik zu erheben und dadurch einen Ort jenseits der Philosophie zu gewinnen, so wenig kann uns freilich das aus dieser Art der Distanzierung gewonnene Urteil auf Dauer überzeugen, europäisches Denken sei wesentlich Identitätsdenken und dieses selbst mythisches Denken. b.
M. Heideggers Kritik der abendländischen Ontologie
In anderer, aber vergleichbarer Weise hat M. Heidegger eine solche distanzierende Selbstthematisierung der Philosophie vorgenommen, besser: vorgeführt. Er ging zunächst zwar darauf aus, die Philosophie zu erweitern und zu ergänzen, indem er den Anspruch der traditionellen Ontologie auf die Erkenntnis des Seins der Kritik unterzog und in einer Fundamentalontologie verschiedene Weisen des Daseins analysierte; aber er hat dann die Frage nach dem Sein so weit radikalisiert, dass er dasjenige Denken, das nottue, nicht mehr »Philosophie« nennen konnte, sondern es bloß mehr als »Denken« bezeichnete. »Ein Denken, das weder Metaphysik noch Wissenschaft sein kann.« 21 Verstehen wir die Daseinsanalyse, die Heidegger zunächst in »Sein und Zeit« vorgenommen hat, zugleich als Kritik des europäischen Denkens, so zielte diese zunächst nur auf dessen unvollständige und eingeschränkte Auslegung des Seienden als eines »Vorhandenen«, »Gegenständlichen«. Die Anbindung des Denkens an »das Reden über …« und die Erhöhung der Mathematik und der Logik zur alleinigen Art des »richtigen Denkens« durch und seit Platon und Aristoteles habe andere Weisen des Seinsverstehens verstellt. 22 Jenes Denken sei ein bloß technisches; ein »Verfügbarmachen des Seienden«, dem die Welt und der Mensch zum Ding, zum Objekt der Machenschaften und der Berechnungen wird. Diesem gegendas höchste Gute die körperliche Lust ist, dann will diese Lust, wie Adorno »nach Nietzsches erleuchtetem Wort« sagt, »Ewigkeit« (Adorno 1973, Bd. 6, 364). Dieses Wollen führt jedoch die Idee einer Unvergänglichkeit des Wesens bei sich, für das die körperliche Lust das höchste Gute ist. Wie aber kann Somatisches so gedacht werden, dass ihm Unvergänglichkeit zukommt? »Adorno«, konstatiert J. Früchtl, »vermeidet eine Antwort darauf.« (Früchtl 1986, 106) 21 Heidegger 1969, 66. 22 »Wir sehen den Abfall vom Anfang bei Plato und Aristoteles, …« (M. Heidegger, Europa und die deutsche Philosophie. In: Gander 1993, 37). A
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Einleitung
ständlich-technischen Denken setzt Heidegger das »wesentliche« oder »eigentliche« Seinsverständnis entgegen, dem es um das Dasein selbst geht, und das er in »Sein und Zeit« als das In-der-Welt-sein und als die Jemeinigkeit auslegt. – Sehen wir nun hier nur auf die historische Verortung dieser Neukonzeption von Philosophie als Fundamentalontologie, so versteht Heidegger seine systematisch angelegte Analyse offenbar als Wiedererinnerung und -aufnahme einer verschütteten, in der philosophischen Tradition seit Platon und Aristoteles vergessenen ursprünglichen Art, das Sein zu denken. Im Anfang der Philosophie habe das Denken, so Heidegger, seine Quelle nicht »in der Betrachtung der Gegenständlichkeit des Seienden«, sondern in einer ursprünglichen »Erfahrung der Wahrheit des Seins« (Heidegger 1992, 48) gefunden. Demnach hat, so müssen wir daraus schließen, die gegenwärtige Philosophie es als die Aufgabe, sich, angesichts der herrschenden Tradition, wieder des Ursprungs der Philosophie zu besinnen: des anfänglich Griechischen, in welchem »das ursprüngliche, wenngleich vorontologische Verständnis der Wahrheit lebendig war« (Heidegger 1957, 225), und wo im Wort logo@ das Verhältnis von Sein und Sagen auf ursprüngliche Weise zur Sprache gelangt war (Heidegger 1959, 185). Somit sieht Heidegger es der heutigen Philosophie aufgegeben, »das griechisch Gedachte noch griechischer zu denken« (ebd., 134). – Wäre dieses restaurative Verständnis tatsächlich der Kern von Heideggers Thematisierung der Philosophie, so wäre sie – nach unseren Begriffen – kritisch, aber nicht distanzierend. Sie würde eine gewisse Art des europäischen Denkens, das »gegenständlich-technische«, das seit der Antike die Ontologie beherrscht habe, mittels einer anderen, bloß vergessenen Art, dem »anfänglichen Seinsdenken«, der Kritik unterziehen. Aber das Denken käme aus dem Umkreis der europäischen Tradition nicht hinaus, – und es passte die bissige Bemerkung K. Löwiths: »Das seinsgeschichtliche Denken beschränkt sich auf die frühe und späte Geschichte des Abendlandes, als habe das universale Sein für den Okzident eine Vorliebe« (Löwith 1960, 175). Aber dieser Restaurationsgedanke widerspricht zumindest dem Begriff vom Denken, den der ›spätere Heidegger‹ hat. Denn nach ihm ist das Denken des Seins nichts ›Gemachtes‹ oder ›zu Machendes‹, sondern ein »Ereignis des Seins« (Heidegger 1992, 48), das dieses selbst zuschickt: »Das Denken, schlicht gesagt, ist das Denken des Seins. Der Genitiv sagt ein Zweifaches. Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört. Das Den34
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ken ist zugleich Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein gehörend, auf das Sein hört. Als das hörend dem Sein Gehörende ist das Denken, was es nach seiner Wesensherkunft ist.« (Heidegger 1949, 7) Solcher Begriff vom Denken aber ist unvereinbar mit dem Gedanken des Wieder-holens einer geschichtlichen Art des Denkens. Heidegger setzt denn jetzt auch der seinsgeschichtlichen Situation der Gegenwart die Situation des anfänglich Griechischen ausdrücklich entgegen: »Das Seiende wird [hier] nicht seiend dadurch, dass der Mensch es anschaut im Sinne gar des Vorstellens … Vielmehr ist der Mensch der vom Seienden Angeschaute, von dem Sichöffnenden auf das Anwesen bei ihm Versammelte. Vom Seienden angeschaut, in dessen Offenes einbezogen und einbehalten und so von ihm getragen, in seinen Gegensätzen und von seinem Zwiespalt gezeichnet sein: das ist das Wesen des Menschen in der großen griechischen Zeit« (Heidegger 1963, 83 f.). Während das Griechische also in seinem Zwiespalt zugleich vom Seienden getragen war und aus diesem Getragensein redete, sei die seinsgeschichtliche Grundsituation der Gegenwart die Abwesenheit des Seins. Daher gilt Heidegger das gegenständlich-technische Denken jetzt nicht mehr als eine bloß defiziente Ontologie, sondern als die seinsgeschichtliche Situation, in der sich der Wille zur Macht, die Macht der Subjektivität – sinnlos-rasend – entfaltet und das Sein, verbergend, dem Menschen das Nichts zuschickt. 23 Sehen wir in dieser Seinsverlassenheit den Grundzug, den Heidegger der gegenwärtigen Situation zuschreibt, dann ist es ausgeschlossen, das anfängliche Denken wieder-holen zu können. Denn das Ende dieses Un-Fugs und die Einkehr des Menschen in die »Wahrheit des Seins« kann nicht als ein Machen, sondern nur als ein Ereignis gedacht werden, das das Sein unverfügbar selbst zuschickt, indem es sich entbirgt. Vom Denken aber, das dieses denkt, sagt Heidegger, dass es »weder theoretisch noch praktisch (ist). Es ereignet sich vor dieser Unterscheidung. Dieses Denken ist, insofern es ist, das Andenken an das Sein und nichts außerdem … Solches H. Kuhn kann daher Heideggers Blick auf die abendländische Geschichte als »uneingeschränkte Negation« beschreiben: »die jahrtausendalte Bemühung um das Sein beginnt und endet nach Heidegger in einer Verfehlung des Seins … das verborgene Wesen des Seins enthüllt sich als das Nichts. Heideggers kühne Geschichtskonstruktion wiederholt und verwandelt Hegels Konzeption: die Weltgeschichte wird zur Selbstoffenbarung nicht des Geistes, sondern des Nichts. Tantae molis erat se ipsam destruere mentem.« (Kuhn 1952, 263).
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Einleitung
Denken hat kein Ergebnis. Es hat keine Wirkung. Es genügt seinem Wesen, indem es ist« (Heidegger 1949, 42). Es ist fragend, nicht antwortend; schweigend statt redend. »In all dem ist es so, als sei durch das denkende Sagen gar nichts geschehen.« (ebd., 45) Dieses Denken nennt Heidegger »den Schritt-zurück«: »Weil in diesem Denken etwas Einfaches zu denken ist, deshalb fällt es dem als Philosophie überlieferten Vorstellen so schwer. Allein das Schwierige besteht nicht darin, einem besonderen Tiefsinn nachzuhängen und verwickelte Begriffe zu bilden, sondern es verbirgt sich in dem Schrittzurück, der das Denken in ein erfahrendes Fragen eingehen und das gewohnte Meinen der Philosophie fallen lässt.« (ebd., 29) Als dieses einfache, inständige Denken aber hat es mit dem Abgeschlossenen abgeschlossen und ist mit dem Fertigen fertig. Es ist offen; es sucht im Seienden keinen Anhalt mehr, sondern »achtet auf die langsamen Zeichen des Unberechenbaren und erkennt in diesem die unvordenkliche Ankunft des Unabwendbaren.« (Heidegger 1992, 51) Es lässt das Sein – sein und merkt hörend auf die Wahrheit des Seins. Diese Bestimmung des Denkens als »Schritt-zurück« macht deutlich, warum Heidegger eine solche Art des Denkens, das nottue, nicht weiterhin »Philosophie« nennen kann. Denn weder sucht noch liebt solches Denken »die Wahrheit« – als sei sie ein Seiendes, das man erstreben oder finden könne. Es will das Sein nicht mehr erkennen, bestimmen, beschreiben oder benennen, sondern lässt das Sein sein. Dieses Denken hat sich von der Philosophie als der Thematisierung des europäischen Denkens getrennt; sein Ort ist nicht mehr national oder kontinental, sondern ›planetarisch‹ 24 . Erst aus dieser R. Thurnher hat verdeutlicht, dass für Heidegger die Distanzierung vom europäischen Denken die Bedingung für die Öffnung des Denkens ist. Heidegger gilt die Philosophie nicht mehr als ein »kulturelles Produkt«, als »Leistung des abendländischen Menschen«, sondern umgekehrt als »Ereignis« (131): »die Philosophie resp. die Metaphysik (ist) das ›Geschick‹ der dadurch erst bestimmten abendländischen Geschichte und des durch diese geprägten abendländischen Menschen.« (132) Diese These, dass nicht Europa die Philosophie ›gemacht‹ habe, sondern die Philosophie das ›Geschick‹ des Abendlandes sei, schließt nach Thurnher nun ein, »dass die Lichtung von Welt sich auch in ganz anderer Weise und aus einem ganz anderen Zuspruch und Anspruch bestimmen kann … Sie zielt darauf ab, gerade dem abendländischen Menschen (und dem Menschen, der heute, wo immer, unter dem Anspruch der Technik steht), die Begrenztheit der Welterschließung im Horizont eines bestimmten Seinsgeschicks vor Augen zu führen … Indem die Aussage Heideggers diese Begrenztheit vor Augen führt, öffnet sie gerade den Blick für andere Weisen der Erschlossenheit von Welt und für Formen des Denkens (nicht der Philosophie), die diesen Weisen der Erschlossenheit und des Welt24
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Distanz ist es wohl mehr als eurozentrische Überheblichkeit oder Anbiederung, wenn Heidegger nun nicht mehr die »Bewahrung der europäischen Völker vor dem Asiatischen« 25 verlangt, sondern hofft, dass dieses Europa von seinem Anfang aus »sich den wenigen anderen großen Anfängen (öffnet), die mit ihrem Eigenen in das Selbe des Anfangs des unendlichen Verhältnisses gehören, worin die Erde einbehalten ist« (Heidegger 1979, Bd. 4, 177), und »europäisch-abendländisches und ostasiatisches Sagen auf eine Weise ins Gespräch kämen, in der Solches singt, das einer einzigen Quelle entströmt.« 26
aufenthaltes der Menschen jeweils entsprechen. Welche Formen der Erschlossenheit von Welt dies sind, woraus sie sich jeweils bestimmen und welche Weisen denkerischer Auslegung bzw. Vorzeichnung ihnen entsprechen, muss dabei zunächst offen bleiben. Aber der Einblick in die spezifische Bestimmtheit – und das bedeutet zugleich in die Begrenztheit – der uns zum Geschick gewordenen Weise der Welterschließung ermöglicht erst eine angemessene Annäherung an uns unvertraute Weisen des Daseins und Denkens.« (R. Thurnher, Der Rückgang in den Grund des Eigenen als Bedingung für ein Verstehen des Anderen im Denken Heideggers. In: Gander 1993, 132 f.). – Siehe auch: Weinmayr 1991, 275. 25 M. Heidegger, Europa und deutsche Philosophie. In: Gander 1993, 31. – Heideggers Urteil über »Europa« hat sich grundlegend gewandelt: 1936 erklärt er in dem in Rom gehaltenen Vortrag, dass die Zukunft unseres geschichtlichen Daseins »gleichkommt dem nackten Entweder-Oder einer Rettung Europas oder seiner Zerstörung.« (ebd.) Im Sommer 1942, bald nach dem Kriegseintritt der USA, heißt es in der Hölderlin-Vorlesung: »Wir wissen heute, dass die angelsächsische Welt des Amerikanismus entschlossen ist, Europa, und d. h. die Heimat, und d. h. den Anfang des Abendländischen, zu vernichten.« (Heidegger 1979, Bd. 53, 68.) Ein Jahr später, nach Stalingrad, sagt er in der Heraklit-Vorlesung: »Der Planet steht in Flammen. Das Wesen des Menschen ist aus den Fugen. Nur von den Deutschen kann, gesetzt, dass sie ›das Deutsche‹ finden und wahren, die weltgeschichtliche Besinnung kommen.« (Heidegger 1979, Bd. 55, 123). – Zehn Jahre später, 1953/54, ist Heideggers Urteil ein gänzlich anderes: Nicht mehr die drohende Vernichtung Europas, sondern die »Europäisierung der Erde« erscheint ihm nun als das geschichtliche Problem. Auf die Feststellung des Japaners T. Tezuka: »Man findet die unantastbare Herrschaft Ihrer europäischen Vernunft durch die Erfolge der Rationalität bestätigt, die der technische Fortschritt stündlich vor Augen führt.« erwidert Heidegger: »Die Verblendung wächst, so dass man auch nicht mehr zu sehen vermag, wie die Europäisierung des Menschen und der Erde alles Wesenhafte in seinen Quellen anzehrt. Es scheint, als sollten diese versiegen.« (M. Heidegger 1959, 104). Siehe auch: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens. In: Heidegger 1969. 26 Heidegger 1959, 94. – Siehe auch: »Und wer von uns dürfte darüber entscheiden, ob nicht eines Tages in Russland oder in China uralte Überlieferungen eines ›Denkens‹ wach werden, die mithelfen, dem Menschen ein freies Verhältnis zur technischen Welt zu ermöglichen.« (Heidegger 1976, 214) A
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Vergleich und Kritik
Vergleichen wir abschließend die angeführten Konzeptionen in Hinblick auf ihre Thematisierung des europäischen Denkens, so haben beide, die Negative Dialektik Adornos und das Seinsdenken Heideggers, zwar die Philosophie zum Gegenstand; sie sehen in ihr jedoch zugleich das Wesentliche und Spezifische des europäischen Denkens, so dass ihre Distanzierung von der Philosophie zugleich die Distanzierung vom europäischen Denken überhaupt bedeutet. Sie gewinnen durch die distanzierende Thematisierung der Philosophie einen Ort des Denkens, der nichts Positives, Haltgebendes zurücklässt, worauf das Denken sich stützen könnte. Dieser Ort ist in Adornos Negativer Dialektik die Negation des unwahren Ganzen, das NichtIdentische; in Heideggers Seinsdenken ist es ein haltlos offenes Denken. Von diesem Ort der Distanz aus treffen beide, Adorno wie Heidegger, Urteile über das europäische Denken, die ihren Ort – zumindest ihrem Selbstverständnis nach – nicht wieder in diesem haben. Adorno bezeichnet es dadurch, dass es im Banne der Identität stehe und Identitätsdenken sei; Heidegger dadurch, dass es vor-stellendes, gegenständlich-technisches Denken sei. Vergleichen wir diese beiden Urteile bloß hinsichtlich ihres Aussagegehalts, so stimmen sie – bei allen sonstigen Unterschieden der beiden Denker – darin überein, dass sie das »Verfügen« als Charakteristikum des europäischen Denkens bezeichnen. Für Adorno zeigt sich dies Verfügen in der Beherrschung des Anderen durch das »Gleichmachen«; für Heidegger in einem berechnenden Denken, das sich das Seiende verfügbar macht. 27 Vgl. dazu R. Safranski: »Adorno und Horkheimer stellen der Moderne eine ähnliche Krankheitsdiagnose aus. Heidegger spricht vom neuzeitlichen Aufstand des Subjekts, dem die Welt zum Objekt von Machenschaften wird, ein Vorgang, der aufs Subjekt zurückschlägt mit der Folge, dass dieses sich nur als Ding unter Dingen verstehen kann. In Adorno/Horkheimer findet sich derselbe Grundgedanke: ›Die Gewalt, die der neuzeitliche Mensch der Natur zufügt, kehrt sich gegen die innere Natur des Menschen. Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen.‹« Safranski geht so weit, Parallelen in der Erklärung des Völkermords zu erkennen: »Adorno: ›Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen … bis man sie … buchstäblich austilgt.‹ Als Heidegger bei dem Bremer Vortrag 1949 erklärte: Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen und Gaskammern, löste diese Äußerung, als sie später bekannt wurde, große Empörung aus gerade bei denen, die an den ähnlichen Gedanken Adornos keinen Anstoß genommen
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Beide fassen also dieses Denken als in seinem Wesen aktivisch, praktisch auf, so nämlich, dass es die Differenz zu Seiendem als Grundkonstellation je schon vorfindet und darauf geht, dessen eigenes Sein zu negieren. Was diesem be-greifenden Denken gegenüber für Adorno ein Eingedenken der Natur wäre, das dem Anderen sich ›anschmiege‹, und für Heidegger ein Denken, das dem Sein gehört, wäre demnach als eine Weise zu verstehen, aus einer anderen Grundkonstellation zu denken, worin Denken und Sein in ›rechter Weise‹ eines sind. 28 Die bestimmtere Art dieses Denkens ist nicht unser Thema. Sie ist es nur insofern, als beide Denker diese Art in epistemischer Hinsicht ihrerseits als »wahres Denken« konzipieren, und ihr Urteil über das europäische Denken daher einen wesentlich normativen Charakter besitzt. Für Adorno ist europäisches Denken nicht nur identifizierendes Denken, sondern auch ein ungerechtes Denken, weil es dem Anderen Gewalt antut und es nicht in seinem Eigensein belässt; es wird nicht nur durch den Begriff des »Gleichmachen« beschrieben, sondern am Maß ursprünglicher Vernünftigkeit als Ideologie und falscher Schein beurteilt. Und auch Heidegger beschreibt das vorstellende Denken nicht nur als eine eigentümliche Weise des Daseins, sondern beurteilt es am Maß des Seinsdenkens als ein ver-stellendes Denken, welches, seinsvergessend, die Dinge nicht in ihrem Sein lässt. Damit aber beurteilen beide Denker das europäische Denken nicht nur aus der Distanz, sondern ordnen ihr Urteil zugleich dem epistemologischen Schema unter, worin der Ort des eigenen Denkens sich im ›Licht der Wahrheit‹ oder am ›Ursprung der Dinge‹ befinde, der Ort des europäischen Denkens hingegen der davon abgefallene und unwahre sei. Während im je eigenen Denken die Wahrheit zur
hatten. Dabei war Heideggers Äußerung durchaus im Sinne jenes kategorischen Imperativs gemeint, den Adorno so formulierte: ›Man muss das Denken und Handeln so einrichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.‹ Heidegger verstand sein Seinsdenken als eine Überwindung des modernen Willens zur Macht, der zur Katastrophe geführt hatte. Dieses Seinsdenken steht dem, was Adorno unter dem Titel ›das Denken der Nichtidentität‹ suchte, nicht allzu fern.« (Safranski 1994, 475 f.) 28 »So sehr«, urteilt J. Habermas, »die Intentionen ihrer jeweiligen Geschichtsphilosophien entgegengesetzt sind, so sehr ähneln sich beide, Adorno am Ende seines Denkweges, und Heidegger, in ihrer Stellung zum theoretischen Anspruch des objektivierenden Denkens und der Reflexion: das Eingedenken der Natur gerät in schockierende Nähe zum Andenken des Seins.« (Habermas 1981, Bd. 1, 516) – Vgl. auch: Mörchen 1980. A
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Sprache komme oder wenigstens ihren Platz halte, ist die Wahrheit des anderen Denkens eine bloß gemachte oder gestellte; ein Fetisch, der an sich selbst das Unwahre zeige. Beide Distanzierungen wenden sich so in verschiedener Weise von ihrem Gegenstand, dem europäischen Denken, ab: Adornos Negative Dialektik bestimmt dieses nicht nur als Identitätsdenken, sondern destruiert zugleich die Idee der Identität der Identität und Nichtidentität als falschen Schein, indem sie in solchem Denken das Nicht-Identische, das Widersprüchliche und Aporetische, als dessen Wahrheit aufzeigt. Heideggers Seinsdenken hingegen hat sich von solchem Denken entfernt; es hat sich vom Seinsvergessen des europäisch-abendländischen Denkens abgewandt und achtet der unvordenklichen Ankunft des Unabwendbaren. Im einen Fall besteht also der Ort des eigenen Denkens in der Kritik der Philosophie als des Inbegriffs des Unwahren und Ungerechten; im anderen Fall ist er von ihr als unwesentlichem Denken ab- und Künftigem zugewandt. Auch wenn diese beiden Thematisierungen der Philosophie das europäische Denken überhaupt als einen Gegenstand der Kritik und damit Orte jenseits der Philosophie etabliert haben, so lässt sich von ihnen aus dennoch keine Untersuchung durchführen, welche dieses Denken selbst zum Gegenstand hätte. Denn beide negieren es und wenden sich in je eigentümlicher Weise von ihm – als fluchbeladenem oder seinsvergessenem – Denken ab. Diese Art ihrer Distanzierung lässt jedoch nicht nur Fragen ohne Antwort zurück, sondern wirft zudem neue Fragen auf: Können die gefällten Urteile über ihren Gegenstand, das europäische Denken, auch für sich bestehen, oder setzen sie den je eigenen Ort des Denkens voraus? Wie eigentlich konnte der ›Abfall‹ vom ursprünglichen Denken oder dem Wahren und damit die Konstitution dieses Denkens überhaupt geschehen? Wie ist es zu erklären, dass solch ›falsches Denken‹ sich dennoch als ›wahres Denken‹ etablieren und geschichtlich dauern konnte? Und warum sollte sich europäisches Denken im Denken Adornos oder Heideggers wieder des Wahren besinnen? Auf solche, das europäische Denken selbst betreffende Fragen müssen die Antworten beider Denker als große Erzählungen erscheinen, die von Ereignissen berichten, aber keine Erklärung geben. Dass im Anfang sich Odysseus des Hörens beraubt habe, um dem süßen Klang der Sirenen zu entgehen; dass Platon die Idee von Ideen erfand, wird nur erzählt. Es scheinen mythische Urtaten zu sein, vom Schicksal geschickt. Dass 40
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am Ende aber die Vernunft oder das Sein sich entberge, wird glaubend erhofft. Diese Auslegungsweisen des eigenen und anderen, des eigentlichen und uneigentlichen, Denkens verlieren sich im ortlos Weiten und gehorchen geschichtlichem Walten, worin das historische Detail grau ist. Angesichts so großer Mythen bleibt nur ein abschließendes »So ist es« – Amen.
B.
Rekonstruktion der Philosophie als Epistemologie
Kehren wir angesichts der Kritik an dem ›Mystischen‹ und ›Mythischen‹, worin dieses utopische bzw. seinsvernehmende Denken sich verliert, nun nicht wieder zufrieden an den Ort zurück, den diese Distanzierungen ja überwunden haben, sondern halten fest, dass durch sie das europäische Denken zum Gegenstand gemacht worden ist, dann kommt es offenbar darauf an, sich eines Ortes zu vergewissern, von dem aus dieses Denken der Untersuchung unterzogen werden kann. Wir müssen dazu einen Ort finden, von dem aus das europäische Denken weder am Maß eigenen Denkens als ein unwahres oder verfallenes Denken denunziert noch so wie von den Kulturwissenschaften untersucht wird. Dieser Ort muss daher zum einen den epistemischen Verzicht einschließen, den Gegenstand, das europäische Denken, im Lichte der eigenen Wahrheit zu beurteilen; zum anderen aber muss von ihm aus dieses Denken nicht nur als eine gewisse Art zu denken, sondern zu demjenigen Gegenstand genommen werden, der nach dem ihm eigenen Anspruch »wahres Denken« ist. Dies aber, europäisches Denken zugleich als »wahres Denken« zu begründen, ist, so haben wir gesagt, die Philosophie. Also ist der gesuchte Ort jenseits der Philosophie, weil er auf eigene Wahrheit verzichtet; aber er hat die Philosophie als seinen Gegenstand, weil sie diejenige Veranstaltung ist, worin das europäische Denken sich als »wahres Denken« begründet. Von diesem Standort aus wollen wir – nichts. Wir wollen weder die Philosophie ›modernisieren‹ oder erneuern, noch in ihrem Rahmen einen ›Beitrag leisten‹ zur Vertiefung oder zur Erweiterung philosophischer Probleme. Wir wollen der Philosophie aber auch nicht den Prozess machen, weil sie etwa überflüssig, uneigentlich oder gefährlich wäre. Auch liegt es uns fern, abgeklärt zu erklären, dass es Wahrheit und Wissen nicht gebe, da dies ja der Gegenstand unserer Untersuchung sein soll. Unser Ort lässt sich am besten als das unA
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Einleitung
gläubige Staunen beschreiben, dass es so etwas wie eine »Philosophie« genannte Veranstaltung gibt. 29 Von diesem Ort jenseits der Philosophie nennen wir unsere Untersuchung des europäischen Denkens »Epistemologie« 30 und wollen zunächst den Gebrauch dieses Worts in Abgrenzung zu anderen GeDieser Ort entspricht vielleicht dem »gänzliche(n) Indifferentismus«, von dem Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« (A X) spricht. Kant meint jedoch, solche Gleichgültigkeit sei »umsonst«, weil »deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann«; sie zwinge aber, einen Gerichtshof einzusetzen, der »kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst« sei. – Da wir von diesem Ort des gänzlichen Indifferentismus aus jedoch nichts wissen – weder, was jene »menschliche Natur« sei, der jene Gleichgültigkeit nicht gleichgültig sei, noch, dass es eine solche Natur nicht gebe –, meinen wir auch nicht, dass dieser Standort »umsonst« ist. Wir wollen von ihm aus nur darauf sehen, wie europäisches Denken sich als ein solches Wissen konstituiert. 30 Das Wort »Epistemologie« wird üblicherweise in anderer Bedeutung gebraucht, als wir es verwenden. Es wurde 1901 von J. M. Baldwin als »epistemology« in das Dictionary of Philosophy and Psychology auf- und als »épistémologie« in das von A. Lalande herausgegebene Vocabulaire critique et technique de la philosophie übernommen. Zunächst als ein überflüssiger Neologismus abgelehnt, ist es 1906 von dem Erkenntnistheoretiker E. Meyerson in Identité et réalité (Paris 1908; dt.: Identität und Wirklichkeit, Leipzig 1930) als Synonym für die »Philosophie der Wissenschaften« (1) akzeptiert worden. In der Folgezeit hat man das Wort in der angelsächsischen Tradition im weiten Sinne zur Bezeichnung der Theorie menschlicher Erkenntnis gebraucht. Es bezeichnet hier »the study of the origin, nature, and limits of human knowledge« (Encyclopaedia Brittanica 1999). In der französischen Tradition hingegen bezeichnet es in einer engeren Bedeutung das Studium der wissenschaftlichen Erkenntnis, die im Zusammenhang mit der Geschichte der (Natur-)Wissenschaften gesehen wird. Vgl. dazu: Canguilhem 1974. Was uns zu unserem davon abweichenden Gebrauch des Worts »Epistemologie« berechtigt, ist, dass das griechische Wort »episthmh« im strikten Sinne nicht »Erkenntnis«, sondern »Wissen« bedeutet. Während man unter »Erkennen« eine auf ein Objekt gerichtete Handlung versteht, um dieses als etwas zu erkennen, drückt »Wissen« eine Beziehung zu einem Urteil oder einer Aussage aus. So kann man jemanden als Hans erkennen, aber nicht als Hans wissen; man weiß, dass dieser Hans ist. Daher untersucht eine Theorie des Wissens anderes als eine Theorie der Erkenntnis. Jedenfalls in Hinblick auf die Wortbedeutung muss es daher angemessener erscheinen, die Theorie der Erkenntnis »Gnoseologie«, die Untersuchung des Wissens aber »Epistemologie« zu nennen. Dieser Wortbedeutung entspricht die sogenannte »epistemische Logik«, die nicht die Ursprünge, die Natur oder die Grenzen der Erkenntnis, sondern die Struktur und die Bedingungen des Wissens untersucht. Allerdings setzt diese Untersuchung ihrerseits schon vieles voraus, was sie weiß: dass etwa die Aussage »p« verschieden ist vom Glauben, »dass p«; und dass dieser Glauben verschieden ist vom Wissen, »dass p«. Während diese also einen schon bestimmten, konkreten und eingeschränkten Begriff vom Wissen hat, mit dem sie an dessen Untersuchung herangeht, werden wir uns im Folgenden um einen allgemeinen und voraussetzungslosen Begriff vom Wissen bemühen. 29
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brauchsweisen erklären. Sie hat nicht die Erkenntnis, das Wissen oder die Wissenschaften zu ihrem Gegenstand, deren Natur, Ursprung oder Grenzen sie untersucht; denn so wäre sie selbst Philosophie. Sie analysiert kein gegebenes Wissen; sondern untersucht, wie gewisse Vorstellungen oder Gedanken europäischer Denker zu Wissen werden, wie sie von diesen Denkern selbst zu Repräsentanten von Wissen qualifiziert worden sind, die als solche das europäische Denken geformt und geprägt haben. – Unsere Untersuchung wird daher nicht kritisch im Sinne der Aufklärung sein, die ein vorhandenes Wissen am Maß eigenen Wissens als ein nur ›scheinbares Wissen‹ destruiert, und die diesen Schein des Wissens auf andere Motive zurückführt wie den Wunsch nach Glückseligkeit (Kant), die Furcht vor dem Anderen (Adorno), das Vergessen der Seinsfrage (Heidegger) oder den Willen zur Macht (Nietzsche). Vielmehr soll eben dieses Verfahren aufklärender Kritik selbst, die Destruktion von vorhandenem und die Konstitution von neuem Wissen, als eine der Eigentümlichkeiten des europäischen Denkens Gegenstand der Untersuchung sein. – Sie verfährt aber auch nicht analytisch, indem sie von einem vorhandenen Wissen ausgeht – sei es dessen ›unveränderlicher Kern‹ oder ›neuester Stand‹ –, um seine Elemente, seinen Aufbau und seine Struktur zu untersuchen. Denn diese Analyse des Wissens setzt selbst schon ein Wissen sowohl von ihrem Gegenstand als auch von ihrer Methode voraus, um dessen Genese es uns ja gehen soll. – Schließlich wird unsere Untersuchung auch nicht in konstruierender Absicht verfahren. Sie entwirft nicht a priori einen Begriff des »europäischen Denkens«, der Merkmale enthielte, um gewisse Gedanken, Ideen oder Einstellungen als »europäisch« klassifizieren zu können. Denn auch in diesem Fall müssten wir schon ein Wissen in Anspruch nehmen wie das, was »europäisches Denken« sei, dass Begriffe Intensionen und Extensionen haben oder haben können, oder dass der Begriff mit seinem Gegenstand übereinstimmen soll, – und setzten damit voraus, was doch erst untersucht werden soll. Wir wollen unsere Methode daher rekonstruierend nennen. Sie ist nicht Epistemologie im Sinne einer speziellen Wissenschaft vom Wissen, sondern sucht vielmehr, was als Wissen sich konstituiert, in seinem status nascendi auf. Die sie leitende Frage ist: Wie geschieht es, dass gewisse Gedanken oder Vorstellungen als Wissen konstituiert werden? Oder bestimmter: wie geschah es, dass gewisse Denkmuster zu den Grundsätzen und Prinzipien wurden, die für das europäische Denken bestimmend geworden sind? Die Frage geht also A
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Einleitung
nicht darauf, diese Gedanken oder Vorstellungen erklären oder verstehen zu wollen – denn die meisten sind, wie sich zeigen wird, einfach und manche trivial –; sie will sie aber auch nicht auf ihren Wissens- oder Wahrheitsgehalt hin prüfen oder hinterfragen, sondern nur nachvollziehen, wie sie zu Wissen wurden. 31 Diese rekonstruierende Epistemologie ist daher nicht selbst Epistemologie. Sie will Wissen weder erklären oder begründen noch als bloß vermeintliches Wissen der Kritik unterziehen; sie vollzieht nur nach, wie gewisse Gedanken oder Vorstellungen von Philosophen oder Epistemologen als Repräsentanten von Wissen ausgezeichnet wurden. Sie nimmt so den jenseitigen Standort eines staunenden Beobachters ein, der selbst nichts weiß und als solcher die Philosophen bei ihrem eigenartigen Tun betrachtet. 32 Zu dieser Rekonstruktion bedarf es einer allgemeinen Theorie des Wissens, die einerseits das, was »Wissen« ist, so unbestimmt lässt, dass unter sie alle möglichen Arten von Wissen fallen können, und die es uns andererseits erlaubt, das, was sich als »europäisches Denken« konstituiert hat, nachzuvollziehen. Sie wird im Folgenden skizziert. Die Lateinamerikanerin M. C. Boidi hat sich aus ihrer Sicht die Aufgabe gestellt, »die europäische Philosophie als das zu verstehen, was sie ist – nämlich die Philosophie einer Kultur, die sich selbst als die einzige, universelle, allumfassende darstellte.« (Boidi 1988, 116) Wir meinen allerdings, dass diese Darstellung selbst Philosophie ist, und wollen daher die europäische Philosophie nicht verstehen, sondern nachvollziehen, wie solches Darstellen funktioniert. 32 Unsere Methode der epistemologischen Rekonstruktion hat Ähnlichkeit mit M. Foucaults Diskursanalyse als einer Archäologie des Wissens. Und in der Tat gehen auch wir davon aus, dass es Wissen gibt; wir können Foucault auch darin zustimmen, dass es dessen Funktion ist, die tatsächlich vollzogenen Diskurse zu formieren und zu regulieren. Gleichfalls stimmen wir mit Foucault darin überein, dass diese epistemischen Strukturen nicht als geschichtslose Wesenheiten anzunehmen sind, sondern entstanden und daher kontingent sind. Aber wir setzen unserer Rekonstruktion nicht voraus, dass die Ursache der diskursregelnden Strukturen im sozialen Phänomen der Macht zu finden sei und diese daher als Dispositive der Macht zu analysieren seien. Denn woher sollten wir dies wissen? Und wüssten wir es, so wäre eben dieses Wissen vom Machtcharakter des Wissens selbst als ein gewisses Machtdispositiv zu analysieren. Anders als Foucaults Diskursanalyse setzen wir selbst kein Wissen voraus, und zielt unsere Methode der Rekonstruktion des Wissens nicht darauf, die je vorhandenen epistemischen Strukturen auf etwas anderes zurückzuführen als sie selbst sind. Sie vollzieht anhand bestimmter Muster, der europäischen, nur nach, wie sie zu solchen geworden sind. Sie analysiert daher keine sozialen Prozesse, die Diskurse formieren, sondern untersucht, wie gewisse Gedanken oder Vorstellungen epistemologisch als Wissen begründet worden sind. 31
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Weiterhin lassen wir unsere Untersuchung von dem Vorverständnis leiten, dass das europäische Denken aus zwei ›Anfängen‹ geformt wurde: dem »Griechischen« und dem »Römischen«. Für jenes schicken wir voraus, dass es ihm um »Autonomie«, für dieses um »Autorität« geht. Wenngleich dies erst das Ergebnis der Untersuchung sein kann, so erscheint es doch ratsam, einleitend die Bedeutung festzulegen, in der wir beide Begriffe gebrauchen werden.
II. Elemente zu einer Theorie des Wissens In dem berühmt gewordenen Brief des Suquamish-Häuptling Seattle an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, J. Q. Adams, in dem er der Legende nach die europäischen Eindringlinge rücksichtsloser Verbrechen beschuldigte, ist der Satz formuliert, der diese Anklage begründet: »Die Erde ist meine Mutter und die Tiere meine Brüder und Schwestern.« 33 Anhand dieses Satzes wollen wir einleitend den Bedingungen nachgehen, unter denen dieser »Satz des Häuptlings« ein Wissen repräsentiert, um daraufhin eine Definition von »Wissen« anzugeben. Setzen wir unseren gewöhnlichen und gemeinsamen ›europäischen Verstand‹ als Maßstab der Prüfung voraus, so kann dieser Satz in semantischer Hinsicht gar nicht als eine sinnvolle Proposition beurteilt werden, sondern muss als ein sinnloses Wortgebilde erscheinen. Denn der Satz kann nicht nur deshalb kein Wissen repräsentieren, weil ihm kein Sachverhalt entspricht, sondern weil in ihm die kategorialen Ebenen verwechselt und vermischt werden: der Begriff der Erde bezeichnet eine allgemeine und unbelebte Substanz, der daher schlechterdings nicht die Eigenschaft zukommen kann, die Mutter des Häuptlings zu sein; und ähnliches gilt für die Verwendung des Begriffs der Tiere, die als Nicht-Menschen in keiner Verwandtschaftsbeziehung zu ihm stehen können. An jenem Verstand gemessen erscheint es also als ganz unmöglich, dass der Satz des Häuptlings ein Wissen repräsentiert. In einem nächsten Schritt können wir nun von der propositionalen Gehaltlosigkeit des Satzes absehen und nach der subjektiven
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Siehe: Kaiser 1985. A
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Einleitung
Bedeutung für den Sprecher fragen. Er ließe sich in der ideologiekritischen Tradition der baconischen Idolenlehre als Äußerung eines kindhaft-anthropomorphisierenden Bewusstseins verstehen, das alle umgebenden Dinge in Bezug zu sich selbst setzt; oder er könnte in der hermeneutischen Tradition viconischer Geschichtsphilosophie als poetisch-bildhafter Ausdruck eines archaischen Menschheitsglaubens an ein ganzheitliches Mensch-Natur-Verhältnis gedeutet werden. Als Repräsentanten jenes gewöhnlichen Verstandes mögen wir es begrüßen oder bedauern, selbst einem solchen »Stand der Unwissenheit« enthoben zu sein, der sich in dem Satz ausdrückt; dies ändert jedoch nichts an dem Urteil über die propositionale Gehaltlosigkeit dieses Satzes. Was wären nun aber die Bedingungen, unter denen dieser Satz doch ein Wissen repräsentiert? Nehmen wir hierzu fraglos an, dass der Suquamish-Häuptling als Autor des Satzes über die subjektiven Fähigkeiten zur Urteilsbildung verfügt, dass er die nötigen Informationen über seine Verwandtschaftsverhältnisse besitzt und die Intelligenz hat, über sie ein angemessenes Urteil bilden zu können, sowie dass er ehrlich ist und mit der Äußerung dieses Satzes seine eigene Überzeugung ausdrückt. Unter diesen subjektiven Voraussetzungen lässt sich nun sagen, dass der »Satz des Häuptlings« offenbar nur dann ein Wissen repräsentieren kann, wenn er auf eine »Welt« bezogen ist, in welcher er keine Vermischung der kategorialen Ebenen darstellt. Dies wäre in einer Welt der Fall, die durch die Kategorie der Verwandtschaft bestimmt ist. In dieser Welt wäre der Satz: »Die Erde ist meine Mutter und die Tiere meine Brüder und Schwestern« ein sinnvoller Satz, weil er in dem, was er aussagt, der kategorialen Bedingung der Verwandtschaft entspricht. Hier entspricht der Satz der kategorialen Ebene und vermag daher Wissen zu repräsentieren. Wenn wir nun weiterhin annehmen, dass diese »Welt der Verwandtschaften« die vorhandene, in Überlieferungen, Erzählungen und Ritualen festgelegte und ausgestaltete Welt der Amerikaner ist, dann können wir sagen, dass der »Satz des Häuptlings« auch tatsächlich ein Wissen repräsentiert, weil und wenn er die Zuordnung der Begriffe von Erde und Tiere der Art der Verwandtschaft mit ihnen entsprechend angemessen ausdrückt. In dieser Welt kann der Satz also einen Sachverhalt angemessen beschreiben und daher Wissen repräsentieren. Diese vergleichende Überlegung verweist darauf, dass ein und derselbe Satz offensichtlich Nicht-Wissen und Wissen zu repräsen46
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tieren vermag. Während der Amerikaner Seattle den europäischen Eindringlingen, indem er sie des unsachgemäßen Umgangs mit Erde und Tieren anklagt, den Status der Unwissenheit zuweist, weisen die Europäer umgekehrt den amerikanischen Einwohnern den Status der Unwissenheit zu und halten diesen ihrerseits einen unsachgemäßen Gebrauch der Erde und der Tiere vor. Der Satz, der in der »Welt der Amerikaner« aufgrund ihres impliziten Kategoriensystems der Verwandtschaften ein Wissen darstellt, stellt in der »Welt der Europäer« aufgrund ihres impliziten Kategoriensystems ein Nichtwissen dar. Was Wissen ist, ist offenbar verschieden und hängt vom jeweiligen Kategoriensystem ab.
A. Wissen als »epistemische Tätigkeit« Halten wir als Resultat dieser einleitenden Überlegung die offensichtliche Gegensätzlichkeit der Urteile über den epistemischen Status dieses Satzes fest, so können wir in Hinblick auf eine entsprechende Definition von »Wissen« formulieren: ein Satz repräsentiert Wissen unter der Bedingung eines bestimmten »Kategoriensystems« und kann daher epistemisch gegensätzlich beurteilt werden, als Repräsentant von Wissen wie Nichtwissen. Diese epistemischen Beurteilungen von Sätzen geschehen auf der Grundlage eines je vorhandenen »Kategoriensystems«; sie stellen fest, ob ein Satz ihm entspricht oder widerspricht. Auf dieser Grundlage wollen wir »Wissen« nun folgendermaßen definieren: unter »Wissen« soll nicht die Relation der Übereinstimmung einer Aussage oder einer Vorstellung mit einem ihr entsprechenden Sachverhalt verstanden werden, der durch sie in sprachlicher oder bewusster Form repräsentiert wird, sondern diejenige Tätigkeit, welche gegebene Aussagen oder Vorstellungen auf einen je vorhandenen »epistemischen Code« bezieht und sie diesem Code gemäß als Repräsentanten von Wissen (bzw. Nichtwissen) beurteilt. Diese Definition des Wissens als einer solchen Tätigkeit erlaubt es uns auf einer metatheoretischen Ebene, jene beiden entgegengesetzten Urteile über den epistemischen Status des »Satzes des Häuptlings« erklären zu können. Denn beide Urteile stimmen in der Tätigkeit überein, die Satzaussage auf einen impliziten epistemischen Code zu beziehen, und sind daher beide Wissen; sie sind jedoch einander entgegengesetzt, weil der epistemische Code, auf A
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den sie die Aussage beziehen, je verschieden ist: der »Code der Amerikaner« ist nicht der »Code der Europäer«. Explizieren wir diese Definition, so soll unter dem Begriff des »epistemischen Codes« ein gewisser Corpus verstanden werden, der in impliziter Form das, was Wissen ist, birgt und speichert, und den, als unverfügbar vorhanden, die epistemisch tätigen Subjekte je vorfinden. Unter diesem allgemeinen Begriff eines »epistemischen Codes« wollen wir die konkreteren Gestalten, in denen er vorliegen kann, als »Ur-Erzählung«, »Ur-Bild«, Ur-Text« oder »Ur-Sache«, zusammenfassen. Er entspricht dem, was wir eingangs das »implizite Kategoriensystem« genannt haben. Die individuelle Gestalt, in der der epistemische Code je vorhanden ist, bestimmt die jeweilige Art des Wissens und prägt die jeweilige Kultur. Sie zu analysieren und zu vergleichen, ist Aufgabe der Ethnologie und der vergleichenden Kulturwissenschaft. 34 Unser Begriff des »epistemischen Codes« überschneidet sich mit dem strukturalistischen Begriff des »Zeichen-« oder »Symbolsystems«, da in beiden Fällen das Epistemische als Aktualisierung einer selbst invarianten Zeichenstruktur verstanden wird. Indem der Strukturalismus jedoch die individuellen, in Mythen und Riten vorhandenen Systeme auflöst – der ältere, um in ihnen einen »universellen Code« zu finden, der neuere, um der Genese und den Brüchen der Strukturen nachzugehen –, verfehlt er unseres Erachtens die spezifisch epistemische Qualität dieser Zeichensysteme. Denn sie codieren Wissen nur unter der Bedingung, dass sie in ihrer Individualität, d. h. als invarianter, schlicht vorhandener Maßstab von Wissen, vorausgesetzt sind. Wenn Strukturalisten daher in diesen Systemen nach einer »Universallogik« suchen oder ihrer Genese nachgehen, so verstehen sie die Systeme als etwas anderes, als sie selbst sind; sie zerstören sie damit als »epistemischen Code«. Nur unter der Bedingung der Invarianz codiert das jeweilige Symbolsystem Wissen; wird es als variant beurteilt – sei es als Variante eines universellen Codes oder als ein kontingentes Aggregat von Zeichen –, verliert es seine epistemische Qualität. »Der Mythos«, schreibt R. Panikkar, »kann nicht nachgedacht, ohne gestört und sogar zerstört werden. Der Mythos ist entweder gegeben oder nicht gegeben, kann aber reflektierend nicht nachgeholt werden.« (R. Panikkar, Mythos und Logos. Mythologische und rationale Weltsichten. In: Dürr 1991, 212). Gegen die strukturalistische Methode ist von unserem Standpunkt aus einzuwenden, dass sie zwar andere Symbolsysteme untersucht, aber nicht ihr eigenes. Sie setzt ihrer Untersuchung anderer Symbolsysteme ihr eigenes – das der »Universalität« oder der »Kontingenz« – als den selbst invarianten Maßstab der Untersuchung voraus, und beraubt so jene ihrer epistemischen Qualität, nicht aber das eigene. Ihr fehlt zu einer Theorie des Wissens die Selbstreflexivität. Um unseren Einwand mangelnder Selbstreflexivität zu erläutern, wollen wir auf die methodischen Überlegungen verweisen, die F. W. J. Schelling in seiner »Einleitung in die Philosophie der Mythologie« der Untersuchung verschiedener Symbolsysteme vorausschickt. Er unterscheidet hier zwischen zwei Untersuchungsmethoden: der allegorischen und der tautegorischen (Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 196). Die allegorische erkennt
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Der epistemische Code bliebe ein toter Zeichencorpus, wenn er nicht durch die epistemische Tätigkeit von Menschen aktualisiert würde 35. Unter dieser Tätigkeit soll, zunächst ganz allgemein, diejenige geistige Arbeit verstanden werden, die aus der Fülle der im menschlichen Bewusstsein gegebenen Vorstellungen diejenige Vorstellung oder diejenigen Vorstellungen auswählt, die das im epistemischen Code implizit vorhandene Wissen repräsentieren. Diese Arbeit decodiert gleichsam den epistemischen Code, indem sie die Vorstellungen auswählt oder auffindet, die dessen implizite Bedeutung explizieren. Diese epistemische Tätigkeit der Wissensrepräsentation kann in ganz verschiedener Weise geschehen und hängt von der Gestalt ab, in der der epistemische Code jeweils vorhanden ist. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige Arten der Wissensrepräsentation genannt: Tanzen, Träumen 36 , Meditieren, Beten, Textverstehen, Analyse oder Synthese von Aussagen, Beobachten. Als epistemische Tätigkeiten treffen sie darin überein, dass sie eine geistige Arbeit leisten, die gewisse Vorstellungen als aktuelle Repräsentanten des epistemischen Codes hervorbringen oder auszeichnen.
ihre Untersuchungsobjekte, die Mythen, als etwas anderes, als sie sind: Einkleidungen oder Entstellungen von ursprünglichen »Wahrheiten« oder bloß zufällig-willkürliche Erdichtungen. Die tautegorische hingegen fasst die Mythen selbst als »Wahrheiten« (ebd., 214). Nach dieser seien die Mythen als das aufzufassen, was sie innerhalb des jeweiligen epistemischen Bezugssystems sind: »Die Götter sind hier wirklich existirende Wesen, die nicht etwas anderes sind, etwas anderes bedeuten, sondern nur das bedeuten, was sie sind.« (ebd., 196) Sie seien invariante, vor-zeitliche ›epistemische Mächte‹, die das jeweilige Wissen spezifisch prägen. Insofern codieren die Mythen als Götterlehren Wissen. So provozierend dieser tautegorische Begriff vom Mythos als Wissen für das sogenannte »wissenschaftliche Denken« auch ist, – Schelling verlässt diesen Ansatz jedoch wieder, indem er die je individuellen Codes doch zu bloßen Stufen und Etappen eines theogonischen Geschichtsprozesses erklärt, der zu seinem Endpunkt die »philosophische Religion« habe. Schelling nimmt zwar andere, nicht-europäische Wissensformationen als solche ernst; er integriert sie dann aber doch in das Modell einer Universalgeschichte, das europäisch konnotiert ist. Für diese Inkonsequenz besteht heute kein Zwang mehr. – Zur aktuellen Problematik des »Verstehens anderer Kulturen« siehe: Habermeyer 1996. 35 Unsere Auffassung von der aktiven Rolle des Menschen im epistemischen Prozess widerspricht der strukturalistischen, nach der es nicht die Menschen seien, die in Mythen denken, sondern, wie C. Lévi-Strauss schreibt, »sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken.« (Lévi-Strauss 1976, 26). 36 Das Träumen bildet eine gewisse Ausnahme: Traumvorstellungen können Wissen repräsentieren, ohne dass das Träumen als geistige Arbeit bezeichnet werden kann. A
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Durch sie wird das implizit vorhandene Wissen als Vorstellung vergegenständlicht. 37 Wie zu jeder Arbeit bedarf es auch zur Ausübung dieser Tätigkeit gewisser subjektiver Dispositionen. Nicht jeder kann und nicht jeder muss diese Arbeit verrichten. 38 Es bedarf dazu der Kraft, die Trennung zwischen dem alltäglichen Haben beliebiger gegebener Vorstellungen und der Produktion von Vorstellungen als Wissensrepräsentationen bewusst und dauerhaft aufrecht erhalten zu können, sowie der Fähigkeit und Ausdauer, die epistemische Tätigkeit zweckmäßig auf diese Herstellung von Wissen auszurichten, und schließlich auch des Vermögens, das Produkt dieser geistigen Arbeit im gesellschaftlichen Kontext als Wissensrepräsentation zu vermitteln 39 . Der Besitz dieser Fähigkeiten kann sowohl auf einer Disposition gewisser Menschen beruhen als auch durch Übung erworben werden. Von dieser Definition des Wissens als einer besonderen Art der Arbeit nehmen wir an, dass sie es uns gestattet, ganz unterschiedlichen epistemischen Bezugssystemen gerecht zu werden. Sie gibt Unsere Definition von Wissen als geistiger Arbeit übernimmt das Marxsche Theorem, wonach die menschliche Tätigkeit wesentlich Arbeit ist. Während Marx jedoch den Arbeitsbegriff anhand der materiellen Reproduktion expliziert, wird er hier auf den Bereich der epistemischen Reproduktion menschlicher Gesellschaften bezogen. Sind die Konstitutionselemente materieller Arbeit der vorhandene Zweck der Arbeit, der gegebene Rohstoff als Gegenstand der Arbeit sowie die menschlichen Fähigkeiten und Werkzeuge als Mittel der Arbeit, so bilden in Analogie dazu der »epistemische Code« den je vorhandenen, invarianten Zweck der epistemischen Arbeit, die gegebenen mannigfaltigen Vorstellungen den zu bearbeitenden Rohstoff und die geistigen Fähigkeiten des Menschen die Mittel ihrer Bearbeitung. 38 Es liegt nahe, die Anforderungen, die die epistemische Arbeit stellt, in Abhängigkeit vom Organisationsgrad einer Gesellschaft zu betrachten, so dass in Gesellschaften mit geringem Differenzierungsgrad alle oder viele diese epistemische Arbeit verrichten, in Gesellschaften mit hoher Komplexität nur wenige. Für den ersten Fall wären australische Kulturen ein Beispiel, in denen offenbar alle Mitglieder an der Wissensproduktion teilgenommen haben, und es keine ausgeprägte Differenz zwischen Vorstellungen und Wissen gegeben hat, so dass jede Vorstellung zugleich eine epistemische Bedeutung hatte (siehe: Petri 1982, 404–428; vgl. auch: Schwarz 1995, 36–44). In sog. »Hochkulturen« hingegen ist die Wissensproduktion die Angelegenheit bestimmter sozialer Gruppen, in der Regel der Priester oder der Wissenschaftler, die dazu des Erwerbs spezifischer Fähigkeiten bedürfen. Dennoch scheinen auch in höher organisierten Gesellschaften gemeinschaftliche Feiern zur gemeinsamen Wissensrepräsentation als zwar gelegentliche, aber kulturell notwendige Handlungen beibehalten worden zu sein. 39 Vgl. Manning 1976. – Zur Diskussion um den epistemischen Status der afrikanischen Weisheit siehe: Presbey 1997, 74–93. 37
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einen genügend allgemeinen Rahmen, um die spezifischen Wissenssysteme in ihrer Eigentümlichkeit zu rekonstruieren, ohne selbst ein eigenes Wissenssystem vorauszusetzen. Denn nach dieser Definition ist Wissen kein idealer Zustand, der etwa in der Korrespondenz einer Vorstellung oder Aussage mit ihrem Objekt oder einer Tatsache besteht; nach ihr gilt vielmehr diese Idee des Wissens selbst als eine spezielle Art des Wissens, die einen ihr eigentümlichen epistemischen Code aktualisiert. Unsere Definition setzt also der Untersuchung der Wissensarten keinen eigenen Begriff vom Wissen voraus, sondern nennt nur die Bedingungen, unter denen unterschiedliche, historisch gegebene Wissenssysteme in ihrer Eigentümlichkeit rekonstruiert werden können. Sie nimmt zwar an, dass es Wissen gibt; aber nicht als Verwirklichung eines idealen Zustands, sondern als eine Vielzahl einzelner Wissenssysteme. Zudem erlaubt es uns eine solch allgemeine Definition von Wissen im Weiteren auch, Konflikte zwischen den Kulturen und die Entstehung neuer Kulturen als Transformationsprozesse gewisser Symbolsysteme in verbindliche und invariante epistemische Codes, als Kämpfe um deren Institutionalisierung und Standardisierung, zu lesen.
B.
Der Begriff: »epistemisches Gesetz«
Um unser Thema eingrenzen zu können, wollen wir im Folgenden den Bedingungen nachgehen, unter denen sinnvoll von einem »epistemischen Gesetz« gesprochen werden kann. Unter diesem Ausdruck verstehen wir eine gewisse Regel, die die epistemische Tätigkeit anleitet, die es also erlaubt, gewisse Vorstellungen epistemisch auszuzeichnen. Sie ›vermittelt‹ gleichsam zwischen dem implizit und invariant vorhandenen epistemischen Code einerseits und der Fülle der gegebenen Vorstellungen andererseits. Eine solche, die epistemische Tätigkeit anleitende Regel wäre informationstheoretisch als ein »Schlüssel« zu denken, der den Code ›knackt‹, der also eine geregelte Transformation des implizit vorhandenen Wissens in ein explizites und gegenwärtiges Wissen ermöglicht. Mit der Einführung eines solchen »epistemischen Gesetzes« schließen wir die Untersuchung solcher Wissensarten aus, deren epistemische Tätigkeit regellos ist und auf Intuitionen oder Assoziationen beruht, die man in kritischer Absicht als »Glossolalie« bezeichnen mag. Um das mit diesem Gesetz Gemeinte zu erläutern, wollen wir es A
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zunächst von äußeren Regelungen unterscheiden. So lassen sich Regeln anführen, nach denen gewissen Menschen die Kompetenz zugewiesen wird, den vorhandenen Wissenscode authentisch zu aktualisieren. Diese Kompetenzzuweisungsregeln können die Erbfolge oder das Charisma sein, wie im Schamanismus, die Adoption in gewissen Priesterschaften oder die Absolvierung von Ausbildungs- und Ausleseverfahren in einer Wissenschaftlergemeinschaft. Die Kompetenzzuweisung kann aber auch durch Initiationsriten geschehen wie dem schamanischen Neugeburtsritual, der Priesterweihe oder akademischen Habilitationsfeiern. Doch diese Regeln als soziale Verfahren der Kompetenzzuweisung geben nur äußerliche Regelungen an; sie enthalten aber kein epistemologisches Kriterium. Nun scheint es jedoch, als sei es in dem von uns gesetzten Rahmen unmöglich, dass es ein solches vermittelndes »epistemisches Gesetz« geben könne. Denn entweder ist ein solches Gesetz nur eine gewisse Vorstellung, die, um epistemisch als Gesetz ausgezeichnet werden zu können, schon die Existenz eines solchen Gesetzes voraussetzt. Man müsste schon wissen, dass diese Vorstellung den epistemischen Code ›knackt‹. Oder aber dieses Gesetz muss als diejenige invariante Instanz angenommen werden, nach der gewisse Vorstellungen epistemisch als Wissen ausgezeichnet werden, die als solche aber selbst nicht vorgestellt werden kann. Um also ein Gesetz anzunehmen, das die Transformation des impliziten in explizites Wissen regelt und leitet, müsste es ›irgendwie‹ beides zugleich sein: invariant, um die Qualität des Epistemischen zu haben; und variant, um überhaupt als Regel auf Vorstellungen anwendbar zu sein. 1.
Gesetz und Satz
Um nun den Bedingungen nachzugehen, unter denen die Existenz eines solchen epistemischen Gesetzes möglich ist, wollen wir uns in einer historisch-systematischen Skizze dem Begriff des Gesetzes zuwenden. Dazu soll unter einem Gesetz zunächst nur die Vorstellung von einer Regelmäßigkeit der Beziehung zwischen zwei Klassen von Vorstellungen verstanden werden. So wäre etwa die Vorstellung vom Wechsel von Tag und Nacht ein Gesetz, wenn vorgestellt wird, dass (wie etwa nach 1. Mose 1) jedem Tag eine Nacht und jeder Nacht ein Tag folgt. Wäre es jedoch so, dass zwar der Vorstellung vom Tag regelmäßig die Vorstellung von der Nacht folgte, ohne dass dadurch 52
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die Regelmäßigkeit von Tag und Nacht vorgestellt wird, so wäre diese regelmäßige Folge der Vorstellungen kein Gesetz, weil sie nicht die Regelmäßigkeit der Folge vorstellt. Umgekehrt jedoch wäre die Vorstellung der Regelmäßigkeit kein Gesetz, wenn der Vorstellung vom Tag nicht die Vorstellung von der Nacht folgte. Das Gesetz als Vorstellung der Regelmäßigkeit von Vorstellungen zwingt also der Abfolge von Vorstellungen gleichsam ›von außen‹ oder ›von oben‹ eine Regelmäßigkeit auf; und es gilt nur insofern als Gesetz, als es ihr diese Regelmäßigkeit aufzwingt. Gesetze in diesem Sinne als Vorstellungen über Vorstellungen setzen offenbar schon einen gewissen Grad der Selbständigkeit des vorstellenden Subjekts gegenüber seinen Vorstellungen voraus. Es bedarf der Fähigkeit einer zusammenfassenden Verallgemeinerung, um aus der Fülle der gegebenen Vorstellungen gemeinsame Eigenschaften hervorzuheben, diese von anderen Eigenschaften abzugrenzen und die Bildung von Klassen von Vorstellungen vorzunehmen; es erfordert zudem eines gewissen Grads der Distanzierung des Subjekts gegenüber seinen Vorstellungen, um die selbständige Vorstellung der Regelmäßigkeit von Vorstellungen herauszubilden; und drittens setzt diese Vorstellung einen Grad an Urteilskraft voraus, um die Vorstellung der Regel sowohl von den gegebenen Vorstellungen unterscheiden als sie auch auf diese beziehen zu können. – In historischer Hinsicht gilt als das erste überlieferte Dokument eines solchen Gesetzes der Codex Hammurabi, der die Vorstellungen des babylonischen Gesetzgebers als eine Reihe von festen »Wenndann«-Beziehungen zwischen Klassen vorstellt. So nennt eines der Gesetze die Regel: Wenn jemand Raub begeht und ergriffen wird, dann wird er getötet. Diese Regel, so dürfen wir annehmen, galt als Gesetz, weil und solange alle diejenigen, die geraubt haben und ergriffen wurden, tatsächlich getötet wurden. Die Geltung dieser Regel als Gesetz setzte also einen hohen Grad der Konzentration und Ausübung von Macht voraus, so dass wir annehmen können, dass die eigenständige Vorstellung des Gesetzes erst mit dem Bestehen der frühen Hochkulturen vorhanden war 40. Der Charakter der Allgemeinheit, der Festigkeit und Dauerhaftigkeit dieser Vorstellung von Gesetzen legt es nahe, sie in Verbindung mit der Entstehung der Schrift zu bringen. Denn wenn es der Zur Entstehung der Gesetzesvorstellung siehe: Cassirer 1994, 137 ff.; Wendorff 1985, 13 ff.; Frankfort 1978; Topitsch 1958.
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Vorzug der Schrift ist, gewisse Vorstellungen in der Gestalt dauerhafter Zeichen zu fixieren, so bietet sie sich wegen dieser Beständigkeit als das Medium an, um in ihr auch die Vorstellung von Gesetzen zu fixieren. Unabhängig von der historischen Frage, ob wir aus schriftlosen Kulturen keine Gesetze kennen, weil diese nicht schriftlich festgehalten worden sind, oder weil sie keine Gesetze in diesem Sinne hatten, liegt aus systematischen Gründen die Annahme nahe, dass zwischen der Herausbildung von Gesetzen und der Schriftentwicklung ein enger Zusammenhang besteht. Denn die Möglichkeit, Gesetze in schriftlicher Form zu fixieren, bedingt einen Grad der Entwicklung der Schrift, der dem Charakter der Abstraktion und der Eindeutigkeit von Gesetzen entspricht. Schriftliche Fixierungen von Gesetzen lassen sich daher erst dort finden, wo die Semantik der Schrift sich vom Bild zum Begriff entwickelt hat, wo also Schriftzeichen nicht nur Einzeldinge und Klassen (Götter, Könige, Soldaten etc.) darstellen, sondern auch abstrakte Dinge (Vorgänge, Eigenschaften etc.) in eindeutiger Weise bezeichnen. Diese Möglichkeit ist jedoch erst mit den Wortsilbenschriften der Hochkulturen und ihren Syllabarien seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. gegeben. 41 – Weiterhin macht es die schriftliche Fixierung von Gesetzen erforderlich, Zeichen- bzw. Wörterfolgen zu Sätzen zu organisieren, da ohne die Struktur des Satzes keine feste und eindeutige Beziehung zwischen den Zeichen, durch die Gesetze als Regeln erst schriftlich fixiert sind, gewährleistet ist. Diese syntaktische Gliederung der Schrift in Sätze finden wir zwar explizit erst in der griechischen Schrift, so dass wir uns hier mit der Annahme begnügen müssen und können, dass der Kreis der vormals Schriftkundigen so begrenzt und geschult war, dass er die semantische Gliederung der Zeichenreihen auch ohne syntaktische Zeichen vornehmen konnte. In unserem historisch-systematischen Kontext ist nun nicht die Entstehung der Schrift im Einzelnen von Bedeutung, wohl aber die Annahme, dass die Entstehung der Vorstellung von Gesetzen als Regeln zu ihrer schriftlichen Fixierung und damit zur syntaktischen Gliederung der Schrift zu Sätzen drängte. Zwar sind die allerwenigsten überlieferten Zeichenfolgen Darstellungen von Gesetzen; aber umgekehrt drängte das Bedürfnis nach einer bleibenden und adäqua-
Zur Entwicklung der Schrift vom Anschaulich-Bildhaften zum Abstrakt-Formalen siehe: Földes-Kapp 1975.
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Elemente zu einer Theorie des Wissens
ten Fixierung dieser Art von Vorstellungen zur Gliederung der Schrift in Sätze. 2.
Zur Dialektik von Gesetz und Satz
Unter der Voraussetzung dieses Zusammenhangs von Gesetz und Satz wollen wir uns ihrer speziellen Verbindung in einem Gesetzestext zuwenden. Gesetzestexte gelten zum einen, wie erörtert, als schriftliche Fixierung dessen, was von bestimmten Subjekten als Regeln vorgestellt wird. In dieser Hinsicht sind sie dauerhafte Repräsentanten dessen, was, nur vorgestellt, leicht vergessen wird; ein verlängertes und vergegenständlichtes Gedächtnis. Zum anderen jedoch kann dieses Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem umschlagen: Gesetzestexte repräsentieren nicht nur die Vorstellung von Gesetzen, sondern sie codieren selbst das, was als Gesetz vorzustellen ist. Der Text tritt als Bedeutungsträger an die Stelle des Subjekts und ersetzt dieses, so dass das Gesetz seinen Ursprung nicht mehr in der Vorstellung des Subjekts, sondern in sich selbst hat, und die Vorstellung nun mehr die Bedeutung aktualisiert, die im Gesetzestext codiert vorliegt. In dieser Hinsicht gleicht das Subjekt dem Zauberlehrling, dessen Produkt eine eigenständige Existenz gewinnt, weil die Zeichen das, was sie bedeuten, in sich selbst enthalten. Unter der Bedingung eines solchen semantischen Umschlags besitzen syntaktische Satzgebilde als Gesetzestexte offensichtlich einen semantischen Doppelcharakter: Sie sind einerseits literal verfasste Symbole, die dauerhaft das repräsentieren, was von Subjekten vorgestellt wird; andererseits codieren sie die Bedeutung selbst, so dass umgekehrt die Vorstellungen der Gesetze durch die Subjekte das repräsentieren, was in dem Gesetzestext enthalten ist. Diese beiden Eigenschaften von Gesetzestexten scheinen sich gegenseitig auszuschließen und doch zu bedingen: Gesetze als bloße Vorstellungen von Regeln drängen der Beständigkeit wegen zu ihrer schriftlichen Fixierung in Sätzen, die jene bedeuten; Gesetzestexte selbst sind jedoch nur ein Gerippe, dessen semantischer Gehalt vorgestellt, d. h. aktualisiert, ausgelegt und interpretiert, werden muss. Im Sinne dieses Doppelcharakters sind Gesetzestexte sowohl »Abbilder« als auch »Urbilder« von Gesetzen. 42 42
Zur philosophischen Deutung dieses Doppelcharakters vgl. Platon, Phaidros 274c– A
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Einleitung
Zur historischen Illustration dieser angenommenen semantischen Dialektik von Gesetzestexten mag das konfliktreiche Verhältnis zwischen der Königs- und Priesterherrschaft im alten Ägypten als Beispiel dienen. Dort galten anfangs, so weit wir wissen, die Gesetzesvorstellungen des Pharao als die maßgebende Instanz, während den Aufzeichnungen der Priesterschaft eine nur fixierende Funktion zukam, die damit die Rolle des Pharaos verherrlichten. Im neuen Reich (ab 1570 v. Chr.) erstarkte jedoch die Priesterschaft; sie schrieb sich nun – spätestens nach Echnaton und seit Tutenchamun – die semantische Macht zu, das in den »heiligen Schriften« Codierte authentisch auszulegen, während der Pharao zunehmend in die Funktion gedrängt wurde, das priesterliche Wissen umzusetzen und zu sichern. So konfliktreich das Verhältnis der beiden Gesetzesmächte, des Palasts und des Tempels, auch war, so blieben sie doch beide bis zuletzt aufeinander angewiesen. 43 – In ähnlicher Weise ließe sich auch die Konfliktlage zwischen Kaiser und Papst bzw. Adel und Klerus um die ›semantische Macht‹ im europäischen Mittelalter beschreiben. 3.
Das »epistemische Gesetz«
Gehen wir von diesem dargelegten Zusammenhang vom Gesetz als einer Regel und dem Satz als Bedeutungsträger aus, so ist die Existenz eines epistemischen Gesetzes, das die Transformation von implizitem in explizites Wissen regelt, offenbar dann möglich, wenn ein solches Gesetz in der Form eines Satzes vorhanden ist, der die Bedeutung codiert. Denn als Gesetzestext kann der Satz, so haben wir gesagt, in seiner syntaktischen Zeichenstruktur nicht nur die Vorstellung einer Regel repräsentieren, sondern diese Regel in sich selbst codieren. Unter der Bedingung der Schrift wäre also die Existenz eines epistemischen Gesetzes möglich. Dieses Gesetz nun müsste ein solcher Satz sein, der zum einen in sich enthält, was Wissen überhaupt ist, der also der »epistemische Code« ist, so dass alle Vorstellungen nur relativ zu ihm Wissen repräsentieren können, und der zum anderen die Regel formuliert, nach der implizites Wissen in 278b; W. v. Humboldt, Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In: Humboldt 1985, 77 ff.; sowie – als Gegenentwurf – Derrida 1974. 43 Vgl. Tokarew 1980, 422 ff.
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Elemente zu einer Theorie des Wissens
explizites Wissen transformiert und also ein explizites Wissen erzeugt werden kann. Dieser Satz wäre das gesuchte Dritte, das einerseits invariant codiert, was Wissen überhaupt ist, und andererseits zugleich die Regel darstellt, nach der Wissen erzeugt wird. Statt diesen Begriff des epistemischen Gesetzes als eines Satzes zu analysieren, wollen wir wiederum ein historisches Beispiel anführen, um an ihm zu erläutern, wie konsistent die Existenz eines solchen Gesetzes angenommen werden kann. Die Inschrift im Tempel von Sais lautete: »Ich bin alles, was war und was ist und was sein wird, und mein Kleid hat kein Sterblicher je enthüllt.« 44 – Dieser Satz enthält, so wollen wir ihn deuten, in seinem ersten Teil: »Ich bin alles, was war und was ist und was sein wird« die in der Aussage verschlüsselte Regel, nach der jede Vorstellung, gleichsam a priori, in ein festes und unauflösliches Verhältnis zum »Ich« als dem Subjekt der Aussage zu setzen ist. 45 Da er aussagt, Ich sei alles, so stimPlutarch überliefert in »de Iside et Osiride«: »In Saïs hatte der Sitz der Athene, die sie auch für die Isis halten, die folgende Inschrift: Ich bin alles, was war und was ist und was sein wird, und mein Kleid hat kein Sterblicher je enthüllt.« – Vgl.dazu auch: Herodot, Historien II, par. 59; Platon, Timaios 21. – Dass die Göttin für die Isis gehalten wurde, wie Plutarch berichtet, ist wohl späteren, hellenistischen Datums. Siehe dazu: Griffiths 1970, 283 f. 45 Wir merken an, dass der Satz weder eine Aussage macht, wer das »Ich« der Inschrift sei, noch darüber, wie das Verhältnis des Ichs zu allem zu verstehen sei. Daher legen die Deutungen, die im »Ich« die saitische Schutzgöttin Neith oder die Göttin Isis erkennen, die – nach dem rührenden Mythos, den Plutarch berichtet – von Alexandria aus in der spätantiken Welt weithin als die Spenderin allen Lebens, als Schmerzensmutter und als Heilerin verehrt wurde, in den Satz mehr hinein als er selbst enthält. – Das Gleiche gilt für spätere philosophische Bemühungen, sich jenes Verhältnis mittels der Kategorie der Substanz begreiflich zu machen und das »Ich bin alles« als materielle Substanz der Natur zu deuten. Schelling hält ihnen in seiner »Philosophie der Mythologie« entgegen, »dass in jener Inschrift etwas mehr gemeint war.« (Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 384) Um dieses Mehr jedoch erfassen zu können, meint Schelling, »braucht (es) dieser Inschrift nicht.« (ebd.) Das Gemeinte beziehe sich auf keine Substanz, sondern auf die Idee des ägyptischen dreieinigen Gottes Osiris, in dem sich »der Geist der ägyptischen Weisheit« ausdrückt: »Entschieden war der erste Osiris der Gott der Vergangenheit, der zweite der Gott der Gegenwart, der dritte der Gott der Zukunft im ägyptischen Bewusstsein, und der erste, zweite und dritte waren nur derselbe Gott. Aber dieser Monotheismus war kein abstrakter, rationeller oder philosophischer, es war ein überhaupt auf geschichtlichem Weg entstandener und bestimmt mythologischer Monotheismus, der eben darum auch keine Ursache hatte von seiner Voraussetzung sich loszureißen.« (ebd.) So wie Schellings Deutung jenes einfachen Satzes nicht nur die Kenntnis der ägyptischen Religion erforderlich macht, sondern auch seine eigene Philosophie der Mythologie und Offenbarung, so macht auch Novalis’ Isis-Verklärung in der Geschichte über »Hyacinth und Rosenblütchen«, die im Bild der »heiligen Göttin« die »Mutter der Dinge« erkennt, 44
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Einleitung
men alle diejenigen Vorstellungen mit der Satzaussage überein, die dieses Verhältnis des »Ich bin alles, …« explizieren, in denen also die jeweilige Vorstellung in dieses Verhältnis zum Ich gesetzt ist; und als nicht übereinstimmend – so wollen wir ergänzen – gelten demgegenüber all diejenigen Vorstellungen, die dieser Regel nicht entsprechen und daher dieses Verhältnis nicht explizieren. Der erste Satzteil enthält also in seiner Aussage eine allgemeine Regel, nach der Vorstellungen zu bilden seien. – Nun hat jedoch diese Aussage für sich allein noch keinen epistemischen Wert. Diesen erhält der Satz erst in Verbindung mit dem zweiten Teil der Inschrift. Er, so verstehen wir ihn, sagt aus, dass der erste Satz seine Wahrheit in sich enthält. Er ist das ›Geheimnis‹, das kein Sterblicher je enthüllt hat; nicht weil die enthüllte Wahrheit, die das Kleid verbirgt, schrecklich wäre, wie F. Schiller interpretiert 46 , sondern weil keine Vorstellung und kein Gedanke hinreicht, die Wahrheit des Satzes: »Ich bin alles, …« zu erkennen. Er ist jeder Vorstellbarkeit entzogen, unbegreiflich. Er erfüllt das Gemüt mit ›heiligem Schauer‹, weil sich nichts vorstellen lässt, in Bezug worauf dieser Satz gilt 47 . Er gründet in sich selbst und ist schlicht, ihn nicht deutlicher, sondern gibt nur beredte Auskunft über die romantische Sehnsucht nach der blauen Blume. – Nach unserer Auffassung hat der Satz keine extrinsische Bedeutung, die aufforderte, ihn zu verstehen; er nennt vielmehr eine Regel, die Fülle der Vorstellungen nach einem Prinzip zu organisieren. 46 Siehe: F. Schiller, Das verschleierte Bild zu Sais: »… Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund, / rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe. / Doch setzte nicht derselbe Mund hinzu: / Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen? / ›Sei hinter ihm, was will! Ich heb’ ihn auf.‹ / Er ruft’s mit lauter Stimm’: ›Ich will sie schauen.‹ / Schauen! / Gellt ihm ein langes Echo spottend nach. / Er spricht’s und hat den Schleier aufgedeckt. / ›Nun,‹ fragt ihr, ›und was zeigte sich ihm hier?‹ / Ich weiss es nicht. Besinnungslos und bleich, / so fanden ihn am andern Tag die Priester / am Fussgestell der Isis ausgestreckt. / Was er allda gesehen und erfahren, / hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig / war seines Lebens Heiterkeit dahin, / ihn riss ein tiefer Gram zum frühen Grabe. / ›Weh dem,‹ dies war sein warnungsvolles Wort, / wenn ungestüme Frager in ihn drangen, / ›Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld! / Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.‹« 47 Der Satz: »Ich bin alles, …« ließe sich, nach unserer Definition des Gesetzes, als Repräsentant einer Vorstellung deuten, die die Göttin, Neith oder Isis, (von sich) hat. Aber diese Deutung wäre ein »Anthropomorphismus«, der das Verkleidete entkleidete. Diesem Anthropomorphismus entspricht, wenn das Kleid und die Entkleidung sexuell konnotiert werden: »The reference to lifting the mantle is clearly sexual, and it is ecoed verbally in a magical papyrus of the time of Hadrian … : ›[Isis], pure virgin, give me a sign of the fulfilling (of the charm), lift the sacred mantle, shake thy black Destiny.‹« (Griffiths 1970, 284). Als Geheimnis jedoch entzieht sich das »Ich«, wie die Inschrift sagt, jeder Vorstellbarkeit durch »Sterbliche«.
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was er ist 48 . Als solcher aber codiert er, was Wissen ist. – Fassen wir die beiden Teile der Inschrift zusammen, so enthält sie offenbar nicht nur eine allgemeine Regel, nach der Vorstellungen zu bilden sind, sondern sagt auch aus, dass diese Regel Wissen codiert. Die Inschrift enthält daher sowohl die epistemische Begründung der Regel, die – selbst unvorstellbar – die Bildung von Vorstellungen leitet, als auch die Formulierung der Regel, der gemäß gewisse, der Regel entsprechende, Vorstellungen explizit Wissen repräsentieren. Die Inschrift codiert also, so unsere These, das epistemische Gesetz gänzlich in sich selbst 49 . Nach ihm repräsentieren allein diejenigen Vorstellungen Wissen, die die Aussage des Satzes: »Ich bin alles, …« explizieren; und alle anderen, die ihn nicht explizieren, Nichtwissen 50 . Anhand dieser Erläuterung eines Beispiels wollen wir unter dem Begriff des »epistemischen Gesetzes« nun folgendes verstehen: er bezeichnet weder eine gegebene Vorstellung noch die Vorstellung einer Regelmäßigkeit der Beziehung zwischen Vorstellungen; noch beschreiben wir damit den epistemischen Code, der invariant Wissen codiert; wir fassen darunter vielmehr einen Grund-Satz, der als solcher sowohl codiert, was Wissen ist, als auch die Regel enthält, nach der explizit Wissen hergestellt wird. Dieser Grundsatz leitet die epistemische Arbeit an, welche aus der Fülle der gegebenen Vorstellungen diejenigen Vorstellungen bildet, die dem, was der Grundsatz aussagt, entsprechen. Das Resultat der solcher Art gesetzmäßigen Ideologiekritisch mag eingewandt werden, dass dieser Satz nicht in sich gründet, sondern ein Gemachtes ist, ein Fetisch etwa, auf den ägyptische Priester und Priesterinnen ihren Herrschaftsanspruch gründeten. Unter der Bedingung der Ideologiekritik freilich ist der Satz kein epistemisches Gesetz, sondern ein analysierbarer und erklärbarer Satz. Uns geht es hier jedoch nicht um Kritik, sondern um die Erläuterung dessen, was wir das »epistemische Gesetz« nennen. 49 Diese Geschlossenheit des Satzes dürfte Kant zu dem Urteil veranlasst haben: »Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis …« (KU V 316, Anm.) Wir möchten dieses Urteil um die Bedingung ergänzen: wenn unter dem »Erhabenen« nichts anderes verstanden wird, als der Satz aussagt. 50 Vergleichen wir mögliche Urteile innerhalb dieser »Ich bin alles …«-Welt mit solchen aus der »Welt der Amerikaner« in unserem Anfangsbeispiel, so gibt die Inschrift eine eindeutige Regel an, wie der »Satz des Häuptlings«, die Erde sei seine Mutter, epistemisch zu beurteilen ist. Anders als in der »Welt der Amerikaner« repräsentiert dieser Satz in dieser Welt kein Wissen. Denn da die in ihm enthaltene Aussage nicht dem Satz entspricht, dass Ich es sei, was alles war, ist und sein wird, kann der Satz des Häuptlings in dieser Welt kein Wissen repräsentieren. In ihr kann richtigerweise nur das Ich, nicht aber die Erde, als Mutter des Häuptlings vorgestellt werden. 48
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Einleitung
Tätigkeit ist die Herstellung von explizitem Wissen, das in aktueller Form das vorstellt, was der Grundsatz codiert. Ein solcher Grundsatz ist nach unserer Definition ein Gesetz, weil er eine Regel zur Bildung von Vorstellungen enthält; und er ist ein epistemisches Gesetz, weil er codiert, was Wissen ist. Diese Eigenschaft eines epistemischen Gesetzes hat der Grund-Satz als syntaktisches Gebilde aber nur, weil, wenn und solange er der epistemischen Tätigkeit als Regel zur Erzeugung von explizitem Wissen dient. Fehlt dieser Gebrauch, bleibt er als epistemisch bedeutungsloses Zeichengerippe zurück.
III. Das Vorhaben Unsere Untersuchung des »europäischen Denkens« wird, wie oben erwähnt, davon ausgehen, dass es sich mithilfe des griechischen Begriffs der Autonomie und des römisch-lateinischen Begriffs der Autorität rekonstruieren lässt. Da wir beide Begriffe als zunächst zwei verschiedene epistemische Codierungen verstehen, die sowohl im Griechischen wie im Römischen jeweils bestimmen und regeln, was Wissen ist, wollen wir vorab die Bedeutung der beiden Begriffe explizieren und festlegen, in welcher Weise wir sie gebrauchen werden.
A. Der Autonomiebegriff Nehmen wir fiktiver Weise an, Herodot habe in seinem Bericht über die Meder den Satz formuliert: »Sie gaben sich die Gesetze selbst«, und deuten diesen Satz als erste Formulierung des Autonomiegedankens 51. Unter Absehung vom Wahrheitswert dieses Satzes, der sowohl die Richtigkeit von Herodots Bericht als auch die Authentizität Herodot selbst schreibt dies nicht. Er berichtet nur: »… indem diese [die Meder] um die Freiheit mit den Assyrern kämpften …, schüttelten sie die Knechtschaft ab und bekamen ihre Freiheit. Da machten auch die übrigen Völker dies den Medern nach. Als sie alle auf dem Festland autonom waren, gerieten sie auf diese Weise wiederum in die Tyrannis« (eontwn de autonomwn pantwn ana thn hpeiron wde auti@ e@ turranida perihljon; Herodotus 2004, I, par. 96). – Wir räumen zudem ein, dass Herodot in diesem historisch-politischen Kontext das Wort »autonomo@« nicht im Sinne einer Selbstgesetzgebung gebraucht, sondern dass es bedeutet: »unter eigenem Gesetz« leben. Siehe: R. Pohlmann, Autonomie: In: Ritter 1971 ff., Bd. 1, 701 f.
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Das Vorhaben
unseres Zitats betrifft, können wir in dem Satz zunächst zwei verschiedene Aussagen auffinden. Die eine macht eine Aussage über die Meder, die andere über die Gesetze der Meder. Die erste Aussage prädiziert den Medern die Eigenschaft der Selbstgesetzgebung; die zweite sagt aus, dass deren Gesetze nicht von anderen (Göttern, Heroen oder fremden Herren), sondern von den Medern gegeben wurden. Was schließlich die Ausdrücke »Meder« und »Gesetze« betrifft, so bezeichnet »Meder« ein altiranisches Volk und »Gesetze« geltende Normen des Handelns, die wohl auch Sanktionen impliziert haben. 1.
Die drei Dimensionen des Autonomiebegriffs
Fragen wir nach dieser Festlegung des Aussagegehalts nach der Bedeutung des Satzes, so zeigt sich, dass der Satz auf drei verschiedenen Ebenen thematisiert werden kann: er lässt sich erstens als eine Aussage verstehen, die eine historische Tatsache beschreibt, zweitens als ein Urteil über das politische System der Meder und drittens über deren Selbstverständnis. Diesen drei Ebenen wollen wir nachgehen, indem wir nach dem jeweiligen Verfahren der Bedeutungsgewinnung suchen, um sie abschließend in einer Definition des Autonomiebegriffs zusammenzufassen. a.
empirische Regel
Wird der Satz: »Sie gaben sich die Gesetze selbst« als Aussage über eine historische Tatsache aufgefasst, so erfordert diese Deutung des Satzes zunächst eine Präzisierung des Umfangs der Begriffe »Meder« und »Gesetze«. Bezieht sich das »Sie« im Satz auf alle Meder oder nur einige, während eines gewissen Zeitraums, nur auf Männer, Erwachsene, Freie, zur Gesetzgebung Versammelte? Und entsprechend: bezieht sich das Wort »Gesetze« auf alle medischen Gesetze oder nur die wichtigen, und welche Merkmale gelten hierfür? Der Satz lässt sich dann in eine Relation von Elementen der definierten Klasse der Gesetze zu denen der Klasse der Meder umformulieren. In diesem Falle dient der Ausdruck »Selbstgesetzgebung« offenbar als eine Regel, um Elementen der Klasse der Gesetze Elemente aus der Klasse der Völker zuzuordnen. Gemäß diesem Verfahren erhält der Satz über die Meder: »Sie gaben sich die Gesetze selbst« seinen Sinn dadurch, dass er dann als eine Aussage über eine historiA
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sche Tatsache gilt, wenn es zu einigen oder allen medischen Gesetzen der Meder (mindestens) einen Meder gibt, der das jeweilige Gesetz gegeben hat. Sowohl die umfangslogische Präzisierung der Begriffe als auch die Bewertung dieser Bedeutung des Satzes ist die Aufgabe der historischen Wissenschaften, die sich dazu der Dokumente, Berichte, deren Vergleiche usw. bedienen. Für uns ist hier nur wichtig, dass auf dieser Bedeutungsebene der Begriff der »Selbstgesetzgebung« offenbar eine Regel bezeichnet, durch die Gesetze historisch-empirisch als »sie« bezeichneten Subjekten zugeordnet werden können, dass er also zur Beschreibung von historischen Tatsachen dient. b.
politische Systemeigenschaft
Auf einer zweiten Bedeutungsebene enthält der Satz eine Aussage über das politische System der Meder. Der Ausdruck »Selbstgesetzgebung« bezeichnet hier keine Zuordnungsregel, sondern dient der Charakterisierung der politischen Organisationsform des medischen Volkes. An die Stelle der historischen Verifikation tritt auf dieser Ebene das Verfahren der Klassifikation, das politische Systeme anhand der Art der Gesetzgebung einteilt und typisiert. In diesem Bedeutungskontext macht der Satz: »Sie gaben sich die Gesetze selbst« eine Aussage darüber, dass das politische System der Meder dadurch gekennzeichnet war, dass es weder durch den Typus »Anarchie«, der Gesetzlosigkeit, noch durch den der »Heteronomie«, der Gesetzgebung durch andere, sondern durch den Typus der »Selbstgesetzgebung« beschrieben wird. Will man hier die typologische Klassifikation weiterführen, so wäre zu klären, ob gemäß der Art der Selbstgesetzgebung das politische System der Meder als monarchisches, aristokratisches oder demokratisches System zu bezeichnen wäre; und ob etwa ein monarchisches System dem Typus »Selbstgesetzgebung« entspricht oder ihm widerspricht. 52 Den Sinn und die Tragfähigkeit solcher Typologien und die konkreten Gehalte der Zuschreibung zu klären, ist Aufgabe der politischen Wissenschaften. In
Herodot jedenfalls legt letzteres nahe, wenn er in dem zitierten Bericht die Autonomie von der Tyrannis unterscheidet. – Zu Herodots ›politologischem Interesse‹ an einer Verfassungstypologie siehe insbesondere seine Erzählung der Unterredung dreier persischer Granden: Herodotus 2004, III, par. 80 f.
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unserem Zusammenhang wollen wir nur festhalten, dass auf dieser Ebene jener Satz seine Bedeutung dadurch erhält, dass die Selbstgesetzgebung als Eigenschaft politischer Systeme anderen Eigenschaften wie der Gesetzlosigkeit oder der Gesetzgebung durch andere, also der Begriff »Autonomie« den Begriffen »Anarchie« bzw. »Heteronomie«, entgegengesetzt wird. c.
moralisch-praktischer Begriff
Schließlich können wir den Satz auf einer dritten Bedeutungsebene als Aussage über das Verhältnis der Meder zu sich als Gesetzgeber interpretieren. So verstanden, hat der Satz die Bedeutung, dass es für die Meder »wichtig« war, sich die Gesetze selbst zu geben; dass sie darauf »stolz« waren oder zumindest Anlass dazu hatten. Das »selbst« in dem Satz drückt hier keine Relation von Klassen und keine Eigenschaft politischer Systeme aus, sondern besagt, dass die Selbstgesetzgebung für die Meder in gewisser Weise identitätsbildend war. Der Satz enthält damit eine Aussage über die Beziehung der Meder zu sich als den Urhebern der medischen Gesetze; er trifft also eine Aussage über deren Selbstverständnis. Lässt sich auch auf dieser Bedeutungsebene ein Verfahren der Sinngewinnung angeben? Jedenfalls sind dafür weder empirische Verifikations- noch typologisierende Klassifikationsverfahren hinreichend. »Selbstgesetzgebung«, verstanden als historische Tatsache oder als Kennzeichen politischer Systeme, erlaubt keine Auskunft darüber, ob die Meder auf die Tatsache, dass ihre Gesetze von ihnen stammten, etwa »stolz« waren. Historische Berichte, z. B. über Militäraktionen zur Vertreibung der nicht-medischen Assyrer, von denen Herodot erzählt, oder schriftliche Dokumente bieten allenfalls Anhaltspunkte, erlauben aber nicht den Schluss vom historischen Faktum ihrer Selbstgesetzgebung auf die Art ihres Selbstverständnisses. Es scheint demnach, als sei diese im Satz enthaltene Aussage zwar nicht ohne Bedeutung, aber ohne Sinn. Wollen wir dennoch an einem Sinngehalt des Satzes festhalten, so ließe sich sagen, dass er eine Einsicht Herodots in den (Selbst-)Bewusstseinszustand der Meder zum Ausdruck bringt, zu der ›große Historiker‹ in der Lage sind. Mit dieser Zuschreibung einer intuitiven Erkenntnis verlassen wir jedoch den Boden dessen, was mit Sinngebung gemeint ist: ein geregeltes Verfahren zur Explikation von Bedeutungen. A
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Ein anderes Verfahren der Sinngewinnung besteht nun darin, die Aussage von ihrem Tatsachencharakter zu lösen und den Satz in dieser Bedeutung als eine pragmatische Äußerung Herodots zu verstehen. Wir können so den Satz als eine Projektion dessen lesen, was Herodot selbst wichtig war. So gesehen, beschreibt der Satz: »Sie gaben sich die Gesetze selbst« keinen Sachverhalt, sondern stellt vielmehr eine praktische Bezugnahme des Geschichtsschreibers Herodot zu den Meder her: Herodot bewertet es als »gut«, sich die Gesetze selbst zu geben, d. h. er beurteilt die Selbstgesetzgebung in Bezug auf handelnde Subjekte als ihnen angemessen und überträgt diese Bewertung auf die Meder. Er unterstellt damit, dass auch die Meder ihr gesetzgebendes Handeln in Bezug auf sich als »gut« bewertet haben. Mit dem Satz könnte Herodot dann gemeint haben, dass die Meder, indem sie sich ihre Gesetze selbst gaben, ›damals noch‹ ein angemessenes Verhältnis zu sich als Subjekten hatten, oder, im Sinne einer kontinuitätsstiftenden Tradition, dass »sie« – so wie »ich« oder »wir« – dies Verhältnis zu sich gehabt hatten. In beiden Fällen drückt der Begriff der »Selbstgesetzgebung« eine moralisch-praktische Identifikation des Geschichtsschreibers mit seinem Objekt, den Medern, aus: sie gelten ihm als historische Vorbilder für das eigene Handeln oder als Elemente einer gemeinsamen Tradition eines moralisch-praktischen Selbstverständnisses. Diese Art identitätsbildender Projektion lässt sich nun aber als eine durchaus sinnvolle Tätigkeit einer pragmatischen Art von Geschichtsschreibung verstehen. Ob Herodot diesen Satz »Sie gaben sich die Gesetze selbst« tatsächlich mit dieser moralisch-praktischen Konnotation versehen hat, brauchen wir hier nicht zu erörtern. 53 Dies wirft seinerseits hermeneutische Probleme auf und betrifft methodologische Fragen der Geschichtsschreibung. Für uns ist hingegen wichtig, dass der Satz diese Bedeutung eines Selbstverhältnisses hat, und dass sich für sie ein präzisierbarer Sinngehalt angeben lässt.
Vgl. zu Sinn und Zweck der griechischen Geschichtsschreibung: Meier 1980, 360– 434. Chr. Meier verweist auf ein »neues, intensiv fragendes Orientierungsbedürfnis« (423), das mit der Etablierung demokratischer Verfassungen entstanden sei. – Vgl. auch: Jaeger 1934, 479–513.
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Die performative Struktur von Autonomie
Fassen wir unsere Analyse des Satzes zusammen, so müssen wir dem Begriff der Autonomie offenbar drei ganz verschiedene Dimensionen zuordnen: er dient der Beschreibung von historisch-empirischen Sachverhalten sowie der Kennzeichnung politischer Systeme, und er drückt ein praktisches Verhältnis des aussagenden Subjekts zu seinem Gegenstand aus. Wenn wir nun nach einem einheitlichen, diese drei Dimensionen zusammenfassenden Begriff von Autonomie suchen, dann müssen wir einen Wechsel der Perspektive vornehmen. Denn aus der gewählten Sicht des Historikers wird der Begriff in seinen Bedeutungen zwar analysierbar, aber er zerfällt auch in einen theoretischen Teil, der der Beschreibung von Ereignissen bzw. Strukturen dient, und in einen praktischen Teil, der ein Verhältnis des Geschichtsschreibers zu seinem Gegenstand, den handelnden Subjekten, ausdrückt. Beide Teile sind jedoch verschieden: weder lässt sich aus dem theoretischen Gebrauch auf die praktische Bedeutung schließen, noch folgt aus der praktischen Verwendung etwas für den theoretischen Gebrauch. Eine Zusammenführung dieser Teile gelingt daher nur, wenn wir den bisher eingenommenen Standort verlassen und annehmen, dass das Subjekt, das die Eigenschaft der Selbstgesetzgebung seinem Gegenstand zuordnet, mit dem Gegenstand, von dem die Selbstgesetzgebung ausgesagt wird, identisch ist; wenn wir also den Aussagesatz: »Sie gaben sich die Gesetze selbst« in den performativen Satz umformulieren: »Wir geben uns die Gesetze selbst«. In diesem Fall der Identität des Subjekts mit seinem Gegenstand sind die theoretischen Dimensionen des Autonomiebegriffs mit der praktischen Dimension verbunden, weil diejenigen Subjekte, von denen gesagt wird, dass sie sich die Gesetze selbst geben, und diejenigen Subjekte, die diese Aussage machen, dieselben sind. Zwar hängt der Sinn dieses Satzes weiterhin davon ab, dass die Subjekte sich tatsächlich die Gesetze selbst geben; aber die pragmatische Dimension, etwa des Stolzes, sich die Gesetze selbst zu geben, ist nun keine Projektion mehr auf andere, sondern drückt das Selbstverhältnis der Sprecher zu sich als den Subjekten aus, die sich die Gesetze selbst geben. Innerhalb dieser performativen Satzstruktur werden die drei Dimensionen des Begriffs »Autonomie« in ihrer je spezifischen Weise gehaltvoll, weil die im Satz behauptete Handlung der Selbstgesetzgebung von den Sprechern selbst vollzogen wird: sie geben sich tatsächlich die A
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Gesetze selbst; sie konstituieren dadurch eine politische Einheit; und sie finden dies gut. Wir wollen daher den Begriff »Autonomie« in der Weise definieren, dass er ein solches Verhältnis von Subjekten bezeichnet, die sich in ihren gesetzgebenden Handlungen die Eigenschaft der Selbstgesetzgebung zuschreiben. Als gewisse Handlungen sind sie historisch und haben eine Wirkung; als gemeinsame Handlungen liegt ihnen ein einheitlicher gesetzgebender Wille zugrunde; und als selbstgesetzgebend ist dieser Wille ihr Wille. In dieser Definition sehen wir also die historisch-empirische, die politische sowie die moralisch-praktische Dimension des Autonomiebegriffs zusammengefasst und enthalten; und in diesem ›Spannungsfeld‹ von Historizität, Kollektivität und Selbstbestimmung werden wir den Autonomiebegriff im Folgenden auch verwenden. Fragen wir zum Abschluss nach dem Geltungsbereich, den dieser Begriff umfasst, so kann er für alles gelten, was diese selbstbezügliche Struktur erfüllt, was also jenes selbstgesetzgebende Handeln als eine Eigenschaft haben kann. Dabei wollen wir den Bereich möglichst offen lassen. Zweifellos gibt es a priori gute Gründe, etwa Steine, Pflanzen oder auch Tiere als Kandidaten auszuschließen; hingegen wären Menschengruppen, Völker, Staaten, aber auch geistige Kollektive, wie »die Wissenschaft«, »die Kirche«, die Engelschar oder der Götterrat mögliche Kandidaten. Die Festlegung des Geltungsbereichs scheint davon abzuhängen, welchem Kollektiv sich diese Eigenschaft zuweisen lässt. – Erläuternd sei noch angefügt, dass in unserem Begriff von Autonomie eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen der Selbstgesetzgebung und den Gesetzen unterstellt ist. Der Satz: »Wir Hundezüchter geben uns die Gesetze des Straßenverkehrs selbst« enthält keine sinnvolle Aussage über die Selbstgesetzgebung, da zwischen den Fähigkeiten Hunde zu züchten und der Regulierung des Straßenverkehrs kein Zusammenhang besteht.
B.
Der Autoritätsbegriff
So verständlich der Autonomiebegriff auf den ersten Blick erscheint, so vieldeutig und missverständlich ist demgegenüber, was »Autorität« bezeichnen soll. Unumstritten scheint nur die Tatsache zu sein, dass es Autoritäten gibt. Doch die Kontroverse beginnt schon bei der Frage nach ihrer Legitimität und Begründbarkeit und setzt sich in der 66
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Diskussion fort, was unter »Autorität« eigentlich zu verstehen sei. Während die Befürworter Gründe anführen, die die Existenz von Autoritäten rechtfertigen sollen und allenfalls einen Mangel bzw. einen Verfall der Autorität beklagen, bestreiten die Gegner die Begründbarkeit von Autoritäten und bedauern deren Existenz. Der Autoritätsbegriff selbst hat dabei seinen präzisen Sinn verloren und ist zu einer Worthülse geworden, deren Bedeutung nur noch durch den Kontext erschließbar ist, in dem er verwandt wird. So erscheint »Autorität« im Rahmen des soziologischen Diskurses vornehmlich als eine – positiv oder negativ bewertete – besondere Art der Ausübung sozialer Macht; in den politologischen Diskussionen als eine spezifische Form legitimer bzw. illegitimer Herrschaft; und in der Psychologie als eine charismatische Begabung oder als eine Disposition zur Strafandrohung und Gewaltanwendung. Wenn man in diesen unterschiedlichen Verwendungsweisen überhaupt noch einen festen begrifflichen Kern erkennt, dann ist es bestenfalls die »Ansehensmacht« oder »Kompetenz«, die von den Befürwortern als Legitimitätsgrund von Autoritäten angeführt wird, während die Kritiker als ihren harten Kern die Ausübung von Herrschaft und Gewalt enthüllen. – Da zwischen diesen Mühlsteinen der begriffliche Gehalt von »Autorität« fast zur Unkenntlichkeit zerrieben worden ist 54 , soll zunächst einige Mühe darauf verwendet werden, den Autoritätsbegriff, auf den wir uns im Weiteren beziehen werden, herauszuarbeiten. Hannah Arendt, die sich unseres Erachtens das beste Gespür für den ursprünglichen und eigentlichen Sinn von »Autorität« bewahrt hat, sah in den Eltern das »uralte Modell für die Notwendigkeit von Autorität« 55 . So wie die Eltern, ihre Fürsorge und Liebe für das Leben und die Erziehung der Kinder unersetzbar seien, so seien auch im politischen und sozialen Leben verlässliche Autoritäten nötig. Obgleich Hannah Arendt um das Problematische der Analogie zwischen Eltern und Autoritäten weiß, dient ihr dieser Bezug doch dazu, das Verstärkt wurde diese ›konzeptionelle Verschleifung‹ durch die Rezeptionsgeschichte. So wurde das Wort »Herrschaft«, das schon M. Weber oft synonym mit dem der »Autorität« verwendet hat, in der amerikanischen Rezeption, insbesondere durch T. Parsons, generell mit »authority« übersetzt und als »Autorität« ins Deutsche reimportiert. Siehe: Sofsky 1994, 24, Anm. 55 Arendt 1957, 123. – Vgl. auch die Analogie zwischen »Eltern und Staatsmann als eminente Paradigmen«, die H. Jonas in »Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation« (Jonas 1984, 184 ff.) gezogen hat. 54
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Einleitung
Autoritätsverhältnis von anderen sozialen oder politischen Verhältnissen, die durch Macht oder Herrschaft oder durch Vertrag oder Freundschaft bestimmt sind, abzugrenzen. Um der eigentümlichen Bedeutung des Autoritätsbegriffs näher zu kommen, wollen wir uns daher zuerst dem Eltern-Kind-Verhältnis zuwenden. 1.
Das Eltern-Kind-Verhältnis
Sieht man von allem Kontingenten, den kulturellen Ausformungen, den sittlichen und rechtlichen Regelungen, ab, so lässt sich das Eltern-Kind-Verhältnis in seiner einfachsten Gestalt als eine Relation zwischen drei Menschen, einer Frau, einem Mann und einem dritten Menschen, gleichgültig ob Frau oder Mann, darstellen. In der ElternKind-Relation sind drei Menschen einander so zugeordnet, dass eine Frau und ein Mann für den dritten die Mutter und der Vater, resp. beide zusammen die Eltern, sind, und der dritte für beide das Kind ist. Wichtig ist hierbei erstens, dass alle drei Menschen nicht nur Eltern bzw. Kind sind, sondern auch andere Eigenschaften haben; und dass zweitens niemand Kind oder Eltern für sich ist, sondern sie dies nur innerhalb dieses Verhältnisses sind. Das »Eltern-« bzw. »Kind-Sein« ist also eine relationale Eigenschaft derart, dass, wer Eltern ist, (mindestens) ein Kind hat, und wer Kind ist, Eltern hat. Um der Besonderheit dieser Beziehung näher zu kommen, soll zunächst behauptet werden, dass für alle Menschen gilt, dass sie in der Eltern-Kind-Beziehung stehen. Zwar ist nicht jede Frau eine Mutter und nicht jeder Mann ein Vater, und haben nicht alle Eltern nur ein Kind; aber jeder Mensch hat genau eine Mutter und genau einen Vater, d. h.: jeder Mensch hat seine Eltern. Aus dieser Annahme folgen nun die beiden Sätze: »alle Menschen sind Kinder«, weil definitionsgemäß jeder Mensch Eltern hat und daher Kind ist; und: »einige Menschen sind Eltern«, nämlich diejenigen, die Kinder haben. Der erste Satz trifft die Aussage, dass der Umfang der Kinder dem der Menschen gleich ist, und der zweite Satz, dass die Eltern eine echte Teilklasse der Klasse der Menschen ist. Aus diesen beiden trivialen Aussagen über das Kind- bzw. Elternsein lässt sich nun aber der paradoxe Schluss ziehen: »alle Eltern sind Kinder und folglich Nicht-Eltern«. Denn da alle Eltern, als Teilklasse, zur Klasse der Menschen gehören, und die Klasse der Menschen dem Umfang der Klasse der Kinder gleich ist, gehören auch alle 68
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Das Vorhaben
Eltern der Klasse der Kinder an. Wie aber ist es möglich, dass Eltern Kinder sind, wenn der Definition nach Eltern zwar Kinder haben, aber keine Kinder sind? 56 Diese Paradoxie des Eltern-Kind-Verhältnisses lässt sich nun auflösen, indem man die Unterscheidung macht, nach der alle Menschen in einer Hinsicht gleich sind: sie sind Kinder und haben als solche Eltern; und nach der sie in anderer Hinsicht ungleich sind: nur einige sind Eltern und haben als solche Kinder. Das Kind-Sein und Eltern-Haben sowie das Eltern-Sein und Kind-Haben betrifft also unterschiedliche Gesichtspunkte, die als solche erst das ElternKind-Verhältnis konstituieren. Welches diese ›Gesichtspunkte‹ sind, die die Gleichheit aller Menschen als Kinder und die Ungleichheit der Eltern gegenüber den Kindern begründen, werden wir im Weiteren untersuchen. Fürs erste aber können wir als Resultat dieser Unterscheidung festhalten, dass den Menschen, die Eltern sind, offenbar beides zukommt: die Gleichheitsrelation, nach der sie Kinder sind, als auch die Ungleichheitsrelation, nach der sie nicht Kinder, sondern Eltern sind. Eltern sind also in verschiedener Hinsicht beides: Kinder und Eltern, und sie haben daher auch beides: Eltern und Kinder. Bevor wir nach der Eigenschaft fragen, die jene paradoxe ElternKind-Beziehung auflöst, soll ein kurzer Vergleich mit anderen sozialen Beziehungen angestellt werden, die diese paradoxe Struktur nicht aufweisen. Innerhalb der Ehe etwa ist ein Mann der Ehemann und hat als solcher eine Ehefrau (oder mehrere Ehefrauen), und umgekehrt; es ist jedoch nicht so, dass er in einer gewissen Hinsicht das, was er hat, auch wäre. Ähnliches gilt für Herrschaftsverhältnisse. Zwar mag es so sein, dass der Herr des einen der Knecht eines dritten ist; aber es gilt weder für alle Herren noch für alle Knechte, dass sie das, was sie haben, auch sind, so wie es gilt, dass alle, die Kinder haben, auch Kinder sind. Und schließlich gilt in Gleichheitsbeziehungen wie der Freund- oder der Partnerschaft, dass zwar, wer des einen Freund ist, diesen als Freund auch hat; sie schließen jedoch die AsymVielleicht ist diese Paradoxie des Eltern-Kind-Verhältnisses die Ursache für die alte Vorstellung von den »ersten Menschen«, die zwar Kinder haben, aber keine Kinder sind. In der jüdischen Mythologie überwindet die Vorstellung von Adam und Eva diese Paradoxie: sie gelten als Eltern, ohne Kinder zu sein. – Vgl. dazu die im Verwerfungsdokument von 1277 verurteilte These: »Es gab keinen ersten Menschen, und es wird keinen letzten geben, vielmehr gab es immer und wird es immer geben die Erzeugung eines Menschen aus einem anderen.« (Zit. nach: K. Flasch, Aufklärung und Gegenaufklärung im späten Mittelalter. In: Schmidt 1989, 153).
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metrie aus, wonach jemand einen Freund hätte, aber selbst kein Freund wäre. Ihnen gegenüber weist das Eltern-Kind-Verhältnis die paradoxe Struktur auf, dass Eltern beides sind: Eltern und Kinder, und doch beides nicht zugleich sein können. Suchen wir nach diesem Vergleich mit anderen sozialen Beziehungen nun nach der Eigenschaft, die das spezifische Eltern-KindVerhältnis konstituiert, so lässt sich etwa die Liebe als verbindende Qualität anführen. Sie könnte das soziale Band sein, das als Kinderliebe die Kinder an die Eltern und als Elternliebe die Eltern an die Kinder bindet. Und wenn wir annehmen, dass alle Eltern ihre Kinder lieben, und alle Kinder ihre Eltern, dann wäre die Eltern-Kind-Beziehung nicht auf elterliche Macht oder Gewalt gegründet, sondern auf die wechselseitige Liebe. Des weiteren ließe sich anführen, dass es Gründe der Klugheit sind, die das Eltern-Kind-Verhältnis konstituieren. So sei es für die Eltern aus Gründen der Altersvorsorge klug, Kinder zu haben, und – folgen wir dem vierten biblischen Gebot – auch für die Kinder klug, ihre Eltern zu ehren. – Doch allein das Referat dieser Qualitäten zeigt, dass die Eigenschaften der Liebe oder der Klugheit die Existenz des Eltern-Kind-Verhältnisses schon voraussetzen und es daher nicht konstituieren. Die Kinder können ihre Eltern nur lieben, weil sie sie schon haben; und auch die Eltern ihre Kinder nur, wenn sie schon da sind. Weder Liebe noch Klugheit machen Menschen zu Eltern oder zu Kindern. Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen, so ergibt sich, dass die gesuchte Eigenschaft, die das Eltern-Kind-Verhältnis konstituiert, weder politischer noch sozialer, aber auch nicht psychischer oder rationaler Natur sein kann. Die tatsächliche Ursache, die das Eltern-Kind-Verhältnis konstituiert, und der Grund dafür, dass alle Menschen Kinder, aber nur einige Eltern sind, ist ohne Zweifel der natürliche Zeugungsvorgang (generatio naturalis) bzw., genauer, die Verschmelzung der weiblichen Eizelle mit der männlichen Samenzelle zu einer Keimzelle (u. U. mehreren Keimzellen). Durch diesen Zeugungsvorgang werden eine Frau und ein Mann zu Eltern, entsteht ein Kind als ihr Kind und mit ihnen das Eltern-Kind-Verhältnis. Nimmt man nun einerseits an, dass kein Mensch existiert, ohne gezeugt worden zu sein, so folgt daraus, dass aufgrund seines Gezeugtseins jeder Mensch Kind ist und daher Eltern hat. Und nimmt man andererseits an, dass der Zeugung selbst mannigfache Bedingungen sozialer, psychischer, rationaler und physischer Natur vorausgehen, so erklärt diese Be70
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dingtheit der Zeugung, dass alle Menschen zwar Kinder, aber nur einige Eltern sind. Der Unterschied zwischen dem Unbedingten des Gezeugtseins einerseits und dem Bedingtsein des Zeugens andererseits gibt also die Erklärung, dass nur einige Menschen Eltern sind, die als Erzeuger Kinder haben, aber zugleich alle Menschen Kinder sind, die als Gezeugte Eltern haben. Die Annahme, dass die Zeugung diejenige Eigenschaft ist, die das Eltern-Kind-Verhältnis konstituiert, impliziert, dass alle anderen Qualitäten, soziale Verhältnisse, Gefühle oder Überlegungen, dem Zeugungsvorgang zwar vorausgehen, ihn begleiten oder ihm folgen können, dass sie aber für das Eltern-Kind-Verhältnis selbst nicht konstitutiv sind. Dieser vollzieht sich als ein natürlicher Vorgang, der unabhängig von allen sonstigen sozialen Beziehungen, den psychischen Verhaltensweisen und bewusst-rationalen Handlungen geschieht 57 . Aus dieser Natürlichkeit der Zeugung folgt nun aber gleichfalls, dass auch die soziale Eltern-Kind-Beziehung, die durch sie konstituiert wird, unabhängig vom Bewusstsein, von den Bedürfnissen und den Absichten der Bezogenen, besteht. Zumindest vermag es niemand, sich seine Kinder bzw. seine Eltern auszusuchen58 . Kehren wir abschließend zu der obigen Unterscheidung zurück, nach der Eltern in einer Hinsicht Kinder und damit allen anderen Menschen gleich, in anderer Hinsicht jedoch ungleich, Eltern und nicht Kinder, sind, so gibt der Zeugungsvorgang die Erklärung für diesen Unterschied. Als Eltern sind sie Zeugende, als Kinder Gezeugte. Zwar geriete man erneut in die Paradoxie, wenn man annimmt, Eltern wären Zeugende und Gezeugte zugleich; stellt man sich die qualitative Differenz von Zeugen und Gezeugtsein jedoch als eine zeitliche Abfolge vor, so dass Eltern zwar sowohl Zeugende als auch Gezeugte sind, aber nicht zugleich, sondern früher gezeugt, später zeugend, so verschwindet die Paradoxie. Sie wird in einer nicht-abschließbaren Kette aufgelöst, in der die Zeugenden früher selbst von Zeugenden gezeugt wurden, sowie die Gezeugten später die ZeugenDiese Unabhängigkeit des Zeugungsvorganges lässt sich dadurch erklären, dass die menschliche Gattung Bestandteil der organischen Natur, näher der Klasse der Säugetiere, ist und mit dieser die Art der Fortpflanzung teilt. Mir scheint jedoch auch ohne diese Erklärung die Annahme plausibel zu sein, dass Menschen nur aufgrund natürlicher Zeugung existieren. 58 Kompliziertere Probleme, die das Gen-Engineering, neue Reproduktionstechniken, die Abortion, das Kindersterben o. a. betreffen, lasse ich als hier unwesentlich außer Acht. 57
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Einleitung
den sein werden, die Gezeugte zeugen, usw. Unter der Bedingung, dass alle Menschen Kinder sind, ist also das Eltern-Kind-Verhältnis nicht anders konsistent denkbar als in einer nicht-abschließbaren Reihe von Generationen. Sie erklärt, dass alle Eltern nicht nur Kinder haben, sondern auch Kinder sind. 2.
Das Autoritätsverhältnis
Nun mag es scheinen, als seien wir durch Arendts Auffassung von den Eltern als Modell für Autorität auf eine falsche Fährte gesetzt worden. Denn mit Recht lässt sich fragen, was Zeugung und Generationen mit den Eigenschaften der »Macht«, »Herrschaft«, »Ansehen« oder »Gewalt« gemein haben, die mit dem Autoritätsbegriff verbunden werden. Gesetzt jedoch, die Annahmen sind richtig, dass – bei aller Liebe, Macht und Gewalt – der konstitutive Kern des Eltern-Kind-Verhältnisses der natürliche Zeugungsvorgang ist, und dass dieses Verhältnis das Modell für Autorität ist, dann muss der begriffliche Gehalt von Autorität in Analogie zu diesem Zeugungsvorgang bestimmt werden 59 . Im Folgenden soll daher der Autoritätsbegriff in der Weise expliziert werden, dass das soziale Verhältnis von Eltern und Kind auf die Ebene eines personalen Verhältnisses übertragen und der Begriff des »Menschen« durch den Begriff der »Person« ersetzt wird. Unter diesen Bedingungen ist unter dem Autoritätsbegriff ein Verhältnis von Personen zu verstehen, das – in Analogie – durch eine Art von ›Zeugung‹ konstituiert wird. Gehen wir zur Explikation des Autoritätsverhältnisses vom Begriff der »Person« aus, dann lässt sich nicht mehr – wie im Fall der Menschen – annehmen, dass alle Personen durch natürliche Zeugung entstanden sind. Denn unter dem Begriff der »Person« können auch rein geistige Wesen wie Engel oder Götter vorgestellt werden, die auf eine nicht-natürliche Art entstanden oder unentstanden sind. Der Begriff »Person« erlaubt daher widerspruchsfrei die Annahme, es Unser Vorgehen, den Autoritätsbegriff in Analogie zum Eltern-Kind-Verhältnis zu konstruieren, unterscheidet sich also von dem Verfahren, die Entstehung der Autoritätsvorstellungen zu erklären und ihren Ursprung etwa in der familialen Sozialisation zu verorten. Uns geht es hier nicht darum, die Existenz dieser Vorstellung zu erklären, sondern zu klären, was »Autorität« überhaupt ist. Zu jenen Erklärungen siehe: M. Horkheimer, Autorität und Familie (1936). In: Horkheimer 1970; E. Fromm, Studien über Autorität und Familie. In: Fromm 1980, 139–187; auch: Sennett 1985.
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gebe Personen, die, weil nicht natürlich gezeugt, nicht Kinder sind. Mit dieser Annahme aber verschwindet die Paradoxie, die in dem Satz »alle Eltern sind Kinder« enthalten war; denn da sich Personen denken lassen, die nicht natürlich gezeugt sind, ist der Satz falsch: »alle Personen sind Kinder«. Unter der Bedingung also, dass der Begriff »Mensch« durch den der »Person« ersetzt wird, lässt sich ein analoges Modell zum Eltern-Kind-Verhältnis konstruieren, in dem jedoch jene Paradoxie zwischen der Eltern- und der Kind-Eigenschaft nicht besteht, und das eine in sich stabile bipolare Struktur aufweist. Von diesem Modell nehmen wir an, dass sich mit ihm der Autoritätsbegriff explizieren lässt. a.
als personales Verhältnis
Unter »Autorität« verstehen wir nun diejenigen Personen, auf die die Eigenschaft der Eltern, nicht aber des Kindes, übertragen wird, die also im Autoritätsverhältnis die »Elternrolle« einnehmen. Diejenigen Personen hingegen, auf die die Eigenschaft des Kindes, nicht aber die der Eltern, übertragen wird, wollen wir »die anerkennenden« nennen 60 . Sie nehmen im Autoritätsverhältnis die »Rolle des Kindes« ein. Da nun drittens diejenige Eigenschaft, die das Eltern-KindVerhältnis konstituiert, der natürliche Zeugungsvorgang ist, entDiese Benennung trifft nicht das von uns Gemeinte. So schief es wäre, das Korrelat der Eltern nicht nach dem zu bezeichnen, was es ist, sondern nach dem, was es tut, d. h. nicht als »Kind«, sondern etwa als »das die Eltern Liebende«, so verfehlt ist es, das Korrelat der Autorität nicht nach dem, was es ist, sondern tut, zu benennen. Denn das Anerkennen ist, wie sich zeigen wird, ein Tun, das aus dem, was diese Person ist, folgt. – Ich habe in der Literatur jedoch kein Wort gefunden, das das Gemeinte treffend bezeichnet. Im Lateinischen war jemand, der der Autorität eines anderen unterworfen war, ein pupillus oder impubes, was ins Deutsche übersetzt »Mündel« heißt. Die hierin implizierten rechtlichen und sozialen Verhältnisse sind jedoch viel zu konkret, als dass diese Ausdrücke für eine allgemeine Definition des Autoritätsbegriffs taugen würden. In seiner Studie »Was ist Autorität?« definiert J. M. Bochenski (1974) Autorität als »eine dreistellige Relation zwischen einem Träger (T), einem Subjekt (S) und einem Gebiet (G)« (23). Seine Verwendung des Ausdrucks »Subjekt« für denjenigen, der einen anderen als Autorität anerkennt, ist jedoch nicht nur unbestimmter, sondern auch missverständlicher als unser Kunstwort einer »anerkennenden (Person)«. Dieser Missstand, keinen angemessenen Begriff für das Korrelat zu haben, scheint dahin zu drängen, das personale Verhältnis in sozialen Kategorien auszudrücken: Vater-Sohn, Herr-Knecht, Obrigkeit-Untertan. Solche Übertragungen verfehlen jedoch das Eigentümliche des Autoritätsbegriffs. Mit diesen Kautelen versehen werde ich das Korrelat der Autorität im Weiteren »die anerkennende (Person)« nennen.
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spricht diesem auf der Ebene der Autorität der Konstitutionsakt von Personen durch andere Personen. Von diesem Akt nehmen wir an, dass er das Autoritätsverhältnis, das Verhältnis von »Autorität« und »anerkennender Person« begründet. In seiner einfachsten Form besteht dieses Verhältnis nicht, wie im Fall der Eltern-Kind-Relation, aus drei Menschen, Vater, Mutter und Kind, sondern aus zwei Personen: der Autorität und der anerkennenden. Diese zahlenmäßige Differenz deutet darauf hin, dass der analoge Konstitutionsakt des Autoritätsverhältnisses nicht nach Art der natürlichen sexuellen Zeugung zu denken ist. Betrachten wir das so konstituierte Verhältnis der zwei Personen, so ist in ihm diejenige Person die »Autorität«, die selbst nicht entstanden ist, die aber bezüglich der anderen Person als deren ›Erzeuger‹, als Urheber (lat.: auctor) ihres Daseins gilt. Die »anerkennende« hingegen ist diejenige Person, die entstanden ist, und deren Dasein auf das Wirken der Autorität zurückgeführt wird. Von dem Akt nun, durch den mit der anerkennenden Person zugleich das Autoritätsverhältnis entsteht, müssen wir annehmen, dass er sich – in Analogie zum natürlichen Zeugungsvorgang – unabhängig vom Wissen und Wollen der beiden Personen vollzieht. Er hat sich, so wollen wir dies ausdrücken, je schon vollzogen, so dass beide sich immer schon im Autoritätsverhältnis als Autorität bzw. als anerkennende vorfinden. So verstanden, ist die eine Person je schon Autorität und wird nicht zu einer solchen, und ist die andere Person je schon die anerkennende und wird gleichfalls nicht zu einer solchen. In seiner einfachsten Gestalt stellt der Autoritätsbegriff demnach eine asymmetrische und irreflexive Beziehung zweier Personen dar. Die eine Person, die Autorität, kann nicht auch eine anerkennende (weder sich noch eine andere) sein; die andere Person kann sie nur anerkennen, nicht aber selbst auch Autorität sein 61 . Während Eltern, als Menschen, sowohl Kinder haben als auch Kinder sind, schließt dieses personale Verhältnis es aus, dass die Autorität auch anerkennend ist. Als diese asymmetrische und irreflexive Beziehung gründet das Autoritätsverhältnis in dem unüberbrückbar qualitativen Unterschied der Personen, worin die eine als Urheber des Daseins der anderen gilt 62 . Dieser qualitative Unterschied der beiden Personen verDie Frage, ob etwa, wenn A für B als Autorität gilt, B für C wiederum als Autorität gelten kann, ob also der Autoritätsbegriff eine transitive Relation bezeichnet und Autorität ›übertragbar‹ ist, möchte ich hier, wo es um den bloßen Begriff geht, offen lassen. 62 Diesen qualitativen Unterschied hat S. Kierkegaard treffend erläutert: »Wenn die 61
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hindert die Paradoxie, in die das Eltern-Kind-Verhältnis gerät, und gibt dem Autoritätsverhältnis seine stabile bipolare Struktur. Da der ursprüngliche Akt, der als je schon vollzogener Vollzug dieses personale Verhältnis zwischen der Autorität und der anerkennenden konstituiert, weder mit Begriffen noch mit Bildern angemessen beschrieben werden kann, er unseres Erachtens jedoch den Schlüssel zum Verständnis von Autorität bildet, soll er durch Abgrenzung von anderen Interpretationen erläutert werden. Es wäre demnach unpassend, sich das Autoritätsverhältnis als Resultat eines gewollten Prozesses, d. h. funktional, vorzustellen. Denn so wenig das Eltern-Kind-Verhältnis durch die Entscheidung konstituiert wird, ein Kind zu haben, so wenig hängt auch das Autoritätsverhältnis von einer vorhergehenden Willensbildung ab. Beide Personen können daher nicht auch außerhalb des Verhältnisses, als zwei, je selbständige Subjekte, gedacht werden. Daraus folgt, dass die Auffassung, Autoritäten verfügten an sich schon, etwa als »innere Gabe«, über die Eigenschaft der Autorität, die andere zur Anerkennung veranlassen würde, oder die umgekehrte Auffassung, Subjekte entschlössen sich aufgrund von Überlegungen zur Anerkennung von Autoritäten, dem, was Autorität ist, unangemessen sind. Sie sind der beste Weg, in einen Begründungszirkel zu geraten: anerkannt wird, wer Autorität besitzt; Autorität besitzt, wer anerkannt wird. Die Anerkennung wird durch Autorität, die Autorität durch Anerkennung erklärt. 63 Wortschöpfungen wie die einer »inneren AnseAutorität nicht das Andere (to eteron) ist; wenn sie auf irgend eine Weise bloß ein Potenzieren innerhalb der Identität bezeichnen soll, so gibt es keine Autorität … Wenn Christus sagt, ›es gibt ein ewiges Leben‹ ; und wenn der Kandidat der Theologie Petersen sagt ›es gibt ein ewiges Leben‹ : so sagen beide dasselbe; es ist in der ersten Aussage nicht mehr Deduktion, Entwicklung, Tiefsinn, Gedankenfülle enthalten, als in der letzten; beide Aussagen sind, ästhetisch gewürdigt, gleich gut. Und doch ist da wohl ein ewiger, qualitativer Unterschied! Christus ist als der Gott-Mensch im Besitz der spezifischen Qualität der Autorität, die keine Ewigkeit mediieren kann, so wenig wie sie Christus auf die gleiche Stufe mit der wesentlichen menschlichen Gleichheit stellen kann. Christus lehrte deshalb mit Autorität. Fragen, ob Christus tiefsinnig ist, ist Blasphemie und ein Versuch, hinterlistig (es sei nun bewusst oder unbewusst) ihn zu vernichten, denn in der Frage ist ein Zweifel in Richtung auf seine Autorität enthalten, und ein Versuch gemacht, in naseweiser Direktheit ihn zu würdigen und zensurieren zu wollen, als sei er zum Examen da und sollte überhört werden, statt dass er der ist, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden.« (Kierkegaard 1926, 170, 174 f.) 63 In ihrer Studie über »Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition« beschreiben W. Sofky und R. Paris »Die Struktur von Autorität«: »Autorität beruht auf Anerkennung. Eine Autorität ist jemand dann, wenn andere ihn als Autorität A
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hensmacht« einerseits oder einer »begründeten« bzw. »legitimierten Autorität« andererseits verfehlen den Bedeutungsgehalt von »Autorität«. Solchen Auffassungen liegen entweder soziale Herrschaftsoder diskursive Rationalitätsmodelle zugrunde, aber nicht das ElternKind-Verhältnis. Die Bedeutung von »Autorität« zu erfassen, mutet also zu, das Autoritätsverhältnis als ein solches personales Verhältnis zu beschreiben, in dem beide, die Autorität und die anerkennende, in entgegengesetzter Weise durch einen ursprünglichen Akt konstituiert werden bzw. je schon konstituiert sind. Dieser Akt gilt als der unverfügbare Grund ihres Verhältnisses, der nicht zur Disposition steht, sondern ein spezifisches inneres Verhältnis der Personen begründet. anerkennen, ihm aus freien Stücken Autorität zubilligen. Die Anerkennung wird der Autorität entgegengebracht; wo sie abgefordert oder gar erzwungen werden muss, ist der Autoritätsglaube bereits brüchig. Aufgenötigte Anerkennung ist keine.« (Sofsky 1994, 24) Nach dieser Erklärung der Autorität qua freier Anerkennung präzisieren sie: »Die Autoritätszuschreibung gründet in der Anerkennung einer fremden Überlegenheit … Die Überlegenheit eines anderen ist nicht einfach seine positionale Stärke oder individuelle Potenz, mit der er sich über Widerstände hinweg setzen kann; sie erscheint vielmehr als eine quasi-moralische Qualität, eine Kraft, die Gehorsam findet, ohne ihn einklagen zu müssen.« (ebd., H. v. m.) So sehr wir dieser Beschreibung der wesentlichen Merkmale von Autorität auch zustimmen können, – was in dieser Strukturanalyse fehlt, und auch im Weiteren von den Autoren nicht geklärt wird, ist die Frage nach dem Grund von Autorität. Zweifellos ist es so, dass jemand nur dann Autorität ist, wenn er anerkannt wird; aber ist er Autorität, weil er als solche anerkannt wird, oder wird er als Autorität anerkannt, weil er Autorität ist? Gründet jene »fremde Überlegenheit« in der Anerkennung durch andere oder diese in jener? Die Autoren schwanken in ihrem Urteil. Einmal schreiben sie: »Autoritäten sind Autoritäten durch andere. Eine Autorität, die dies nur in ihrer eigenen Einbildung und für niemanden sonst ist, ist eine komische, vielleicht tragische Figur.« (22) Dann aber schreiben sie: »Die Anerkennung der Autorität ist die Anerkennung der Werte, die sie repräsentiert.« (26) Dies aber kann nur so verstanden werden, dass sie diese Werte nicht repräsentiert, weil sie anerkannt wird, sondern umgekehrt, dass sie als Autorität anerkannt wird, weil sie diese Werte repräsentiert. Und wenn die Autoren dann weitergehend erklären: »Autorität beruht zuerst auf persönlicher Ausstrahlung, auf einem spontanen Eindruck von Kompetenz und Selbstsicherheit, der sich bis zum Gefühl der ›Außeralltäglichkeit‹ (Weber) steigern kann: Die höchste Autorität ist der charismatische Führer« (26), – so ist für sie nicht die Anerkennung der Grund für diese »Außeralltäglichkeit«, sondern vielmehr ist diese persönliche Ausstrahlung der Grund für ihre Anerkennung als Autorität. – Für uns heißt das: legt man dem Autoritätsverhältnis zwei selbständige Subjekte zugrunde, so wird man im Kreis geführt: dass jemand Autorität hat, wird durch die Anerkennung durch andere erklärt; dass jemand von anderen als Autorität anerkannt wird, wird durch das Haben von Autorität erklärt, usf. Damit aber wird Autorität nicht erklärt.
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b.
als Kommunikationsverhältnis
Nach der Darstellung der Elemente, die das Autoritätsverhältnis konstituieren, nehmen wir nun an, dass zwischen beiden Personen, der Autorität und der anerkennenden, ein aktives und gegenseitiges Verhalten besteht. So wie das Eltern-Kind-Verhältnis sich in der Zeugung zwar konstituiert, es aber in bestimmten Handlungen und Verhaltensweisen der Eltern und der Kinder besteht und sich äußert, so existiert auch das Autoritätsverhältnis in den Handlungen von Subjekten, die das personale Verhältnis gleichsam ›mit Leben‹ erfüllen. – Dazu ist erforderlich 64 , 1. dass die Autorität sich der anderen Person mitteilt. Diese Mitteilung, den Willen und die Fähigkeit dazu sowie die Äußerung, lässt sich in Analogie zur elterlichen Fürsorge und Pflege verstehen: so wie die Eltern sich dem Kind mitteilen können und wollen, weil es, wie Aristoteles sagt, gleichsam ihr »zweites Ich« 65 sei, so teilt die Autorität sich mit, weil sie als Urheber der anderen Person gilt. 2. dass diese Mitteilung mittels physischer Zeichen geschieht. Diese Zeichen können Gesten oder Taten, Reden oder Schriften, aber auch Ereignisse sein. Wichtig ist nur, dass diese Vorkommnisse als Äußerungen der Autorität gelten, durch die sie sich mitteilt. 3. dass die anerkennende Person a. diese physischen Zeichen wahrnehmen kann, b. sie tatsächlich wahrnimmt, c. ihren semantischen Gehalt versteht und d. sie als Mitteilung der Autorität erkennt. Diese sukzessive Art der Wahrnehmung und Erkenntnis der anerkennenden Person lässt sich gleichfalls in Analogie zur Kinderliebe verstehen: während die Liebe der Eltern von Beginn an besteht, braucht die Kinderliebe Zeit. Um die Eltern als Urheber der eigenen Existenz zu lieben, bedarf es der Vorgänge der Wahrnehmung der Eltern sowie des Verstehens. Wie das Kind wird daher auch die anerkennende Person erst durch Wahrnehmung und Verstehen zu demjenigen Subjekt, das in dem anderen Subjekt die Autorität als seinen Urheber erkennt. Das Autoritätsverhältnis stellt in dieser Hinsicht also eine dreiIm Folgenden übernehme ich gekürzt, was J. M. Bochenski in »Was ist Autorität?« (Bochenski 1974, 23 ff.) über die »Logik der Autorität« ausgeführt hat. 65 »… die Eltern lieben das Kind wie sich selbst – was aus ihnen entstanden ist, existiert ja nach dem Akt der Loslösung gleichsam als zweites Ich (eteroi autoi) weiter –, das Kind aber liebt seine Eltern, weil es von ihnen stammt.« (Aristoteles 1969, [1161 b 25], 235.) 64
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stellige Relation zwischen zwei Subjekten und einem Zeichensystem dar. Beide kommunizieren mittels eines bedeutungsvollen Zeichensystems, in dem die Autoritätsperson sich der anderen Person mitteilt, und durch das und in dem diese jene als Autorität erkennt. Diese Kommunikationsstruktur der Subjekte ließe sich in den Formeln ausdrücken: »Du bist, was du bist, weil ich bin« bzw. »Ich bin, was ich bin, weil du bist.« Vergleichen wir am Ende unserer Exposition den Autoritätsbegriff mit den Begriffen der »Macht«, »Herrschaft« und »Kompetenz«, die wir zu Beginn genannt haben, so lässt sich der Zusammenhang der Begriffe jetzt recht einfach herstellen, aber auch das Missliche dieser Assoziationen erkennen. Zwar können diese Begriffe durchaus auch als Eigenschaften von Autoritäten gedacht werden, aber sie definieren nicht, was »Autorität« ist. So übt eine Autorität über den, der sie anerkennt, zweifellos Macht aus, weil sie sein Verhalten bestimmt; verfügt sie über eine Kompetenz, die verstanden und erkannt werden muss; und schließt schließlich die Asymmetrie des Autoritätsverhältnisses das Element von Herrschaft ein. Aber diese Eigenschaften konstituieren das Autoritätsverhältnis sowenig wie die Macht, Kompetenz oder Herrschaft der Eltern das ElternKind-Verhältnis konstituieren. Der Autoritätsbegriff bezeichnet vielmehr ein ursprüngliches personales Verhältnis, dem eine eigentümliche Beziehung des Mitteilens und Anerkennens entspringt. Arendts Urteil über die Eltern als dem Modell für Autorität hat schließlich doch den Weg zum Verständnis von Autorität gezeigt. Allerdings müssen wir ihr Urteil einschränken: nur die Unverfügbarkeit des Eltern-Kind-Verhältnisses hat als Vorbild gedient; dass Arendt darüber hinaus annimmt, Autoritäten seien notwendig, lässt sich damit nicht begründen. Im Gegenteil, gerade die Unverfügbarkeit dieses Verhältnisses bedingt, dass sich für die Existenz von Autoritäten keine Gründe angeben lassen. So wenig es notwendig ist, dass Eltern existieren, so wenig müssen Autoritäten existieren. Es gibt sie oder gibt sie nicht. Ihre Existenz kann rational nicht begründet werden.
C. Ausblick Nach der Exposition unserer Grundbegriffe: epistemisches Gesetz, Autonomie und Autorität, die uns als Instrumentarium der Rekons78
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truktion dienen, wollen wir schließlich den methodischen Status dieser drei Begriffe erläutern, d. h. die unterschiedlichen Funktionen, die sie in der Rekonstruktion haben werden, und damit zugleich unser Vorhaben skizzieren. Unter dem Begriff des epistemischen Gesetzes verstehen wir erstens, wie ausführt, eine Regel, welche die epistemische Arbeit anleitet. Er erscheint uns einerseits als genügend allgemein, um unterschiedliche Wissenssysteme auf ihre epistemischen Grundlagen hin untersuchen zu können, andererseits jedoch als bestimmt genug, um die Anzahl von Wissensarten zu begrenzen. Denn unter diesen Begriff fallen keine epistemischen Gebilde, die ohne allgemeine Regel sind, die eine narrative Struktur haben oder auf Intuitionen gründen, und die daher mimetisch im Gesang oder Tanz oder aber im Zustand der Entrückung aktualisiert werden. Unter ihn fallen also nur solche Wissenssysteme, denen Sätze als epistemische Regeln zugrunde liegen. – Wir verwenden den Begriff des epistemischen Gesetzes zweitens als einen formalen Begriff. D. h.: er dient uns allein dazu, zwei Fragen zu stellen: zum einen, was im jeweiligen Wissenssystem der Grundsatz sei, der die Herstellung von explizitem Wissen regelt, und was er bedeutet; und zum anderen wie dieser bedeutungsvolle Satz epistemologisch als epistemisches Gesetz begründet wird. Dieser bloß formale Gebrauch erlaubt uns also die meta-epistemische Frage, wie es geschieht, dass gewisse Sätze zu epistemischen Gesetzen erhoben werden. Wir selbst gehen also von keinem Grundsatz aus, der festlegte, was Wissen sei, sondern lassen uns von der Frage leiten, wie ein gewisser Satz oder gewisse Sätze epistemologisch zum epistemischen Gesetz erhoben werden. Dieses Vorgehen entspricht dem von uns eingangs beschriebenen Standort einer bloß rekonstruierenden Epistemologie. Während wir den Begriff des epistemischen Gesetzes nur im formalen Sinn verwenden, verhält es sich anders mit den beiden Begriffen der Autonomie und der Autorität. Diese können nur auf der Grundlage desjenigen Denkens gebildet werden, das mit diesen Begriffen zugleich untersucht wird. Denn der begriffliche Gehalt von Autonomie und Autorität ist nicht abstrakt, sondern griechischen bzw. römischen Ursprungs. Wenn wir daher das griechische Denken mithilfe des Begriffs der Autonomie, wie wir ihn erörtert haben, rekonstruieren werden, dann unterstellen wir, dass sein begrifflicher Gehalt nicht ›von außen‹ an dieses Denken herangetragen wird, sondern dass sich mit der Bildung dieses Begriffs zugleich das grieA
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chische Denken als dessen Ursprungsort rekonstruieren lässt. Das gleiche gilt für den Begriff der Autorität zur Rekonstruktion des römischen Denkens. Das Vorhaben der Rekonstruktion von Wissenssystemen mittels der Begriffe der Autonomie und der Autorität bedeutet also eo ipso die Rekonstruktion des griechischen wie des römischen Denkens. Unsere Untersuchung des griechischen Denkens unter dem Prinzip einer Selbstgesetzgebung wird diese Art zu denken als reflexives Modell der permanenten Vergewisserung der epistemischen Grundlagen darstellen. In dieser Rückbezüglichkeit bringt es die Struktur einer kritisch-selbstkritischen Wissensinnovation hervor und stellt das dynamische Element epistemologischer Erneuerung bereit. Das römische Denken hingegen werden wir unter dem Autoritätsprinzip als Modell einer ›Vergewisserungsentlastung‹ durch die Anerkennung gesetzgebender Autoritäten rekonstruieren, das als solches das stabile, kontinuitäts- und traditionsstiftende Element der Wissensbewahrung enthält. Während das griechische Denken in der raschen Abfolge seiner Welterklärungsmodelle eine Wissensbegründungsstruktur qua Autonomie hervorgebracht hat, hat sich im römischen Denken der begriffliche Gehalt von Autorität allmählich, auf dem Hintergrund des entstehenden Weltreichs, herausgebildet. Als ›Markstein‹ der Verbindung dieser beiden Arten der Begründung von Wissen zum europäisch-abendländischen Denken betrachten wir Augustinus. Dieser hat am Ende der griechisch-römischen Antike und am Beginn des sog. »Mittelalters« das personale Autoritätsverhältnis und das selbstbezügliche Autonomieprinzip in seinem Modell des dreieinigen Gottes zusammengeführt, das im lateinisch geprägten Europa zur verbindlichen Grundlage des Wissens wurde. Den Ausgangspunkt der neuzeitlich-europäischen Wissenskonstellation sehen wir in der Epistemologie René Descartes’. Diese hat in ihrer Neubegründung des Wissens das Prinzip der Autonomie mit der Klarheit des »Ich denke« und das Prinzip der Autorität mit der Wahrheit des Urteilens auf neue Weise verknüpft. – Schließlich unternehmen wir es, die Philosophie Immanuel Kants als Epistemologie der Moderne zu rekonstruieren. Sie trennt die theoretische Gesetzgebung von der praktischen und konzipiert auf dieser Grundlage die Autonomie als Berufung des Menschen. Bei unserer Rekonstruktion des europäischen Denkens werden wir uns auf eine Anzahl von Sätzen beziehen und untersuchen, wie 80
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sie von ihren Autoren zu epistemischen Grundsätzen erhoben wurden. Diese Bezugnahme enthält zum einen die Einschränkung, dass unser Gegenstand Sätze, nicht aber ihre Autoren sind. Wir schreiben daher keine Geschichte, die versammelt, was europäische Denker gedacht haben. Sie bedeutet zum anderen, dass wir in der Reihe dieser Sätze keine ›Notwendigkeit‹ walten sehen, die uns ihre Formulierung erklärt oder ihre Abfolge – sei es als Fortschritts- oder Verfallsgeschichte – begreifen lässt; dass wir in ihr aber auch kein »ImmerGleiches« erkennen, das sich in diesen Sätzen nur verschieden auslegt. Wir streben also weder Vollständigkeit an noch verbinden wir unsere Untersuchung mit einem systematischen Anliegen. Damit haftet unserer Reihe von Sätzen etwas Willkürliches an: Wir betrachten sie als Sätze, die von ihren Autoren zu epistemischen Grundsätzen erhoben wurden und deshalb kontingent sind; es hätten andere Sätze von anderen Autoren dazu erhoben werden können. Zudem enthält unsere Auswahl Willkürliches, so dass die Anzahl der Sätze sicher erweiterungs-, kaum jedoch reduktionsfähig ist. Da wir auch hierbei keine Originalität beanspruchen, haben wir uns bei der Auswahl vom common sense leiten lassen.
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Das griechische »Projekt Autonomie«
I.
Thales: Der »Satz vom Wasser«
Seit Aristoteles ist es die weitgehend einhellige Auffassung, dass am Anfang dessen, was dann als »Philosophie« bezeichnet wurde, der sogenannte »Satz vom Wasser« steht, den Thales formuliert hat. Bevor wir diesen Satz als ersten Grundsatz der Philosophie rekonstruieren, wollen wir jedoch der Frage nachgehen, in welchem Sinn dieser Satz als »Anfang der Philosophie« bezeichnet werden kann.
A. Das Problem des Anfangs der Philosophie In der »Metaphysik« (983b 6 ff.) schreibt Aristoteles: »Twn de prwtwn yilosoyhsantwn oi pleistoi ta@ en ulh@ eidei mona@ whjhsan arca@ einai pantwn« (Von denen, die zuerst philosophiert haben, haben die meisten geglaubt, die Urgründe von allem seien nur im Stofflichen). Er führt daraufhin die Überlegung an, dass die arcai im Sinne der bleibenden Substanz (ousia upomenoush) des Entstehens und Vergehens von allem zu verstehen seien. Anschließend fährt Aristoteles fort: »to mentoi plhjo@ kai to eido@ th@ toiauth@ arch@ ou to auto pante@ legousin, alla Qalh@ men o th@ toiauth@ archgo@ yilosoyia@ udwr yhsin einai« (Über die Anzahl und die Art eines solchen Urgrundes haben freilich nicht alle dieselbe Meinung, sondern Thales, der Begründer solcher Art von Philosophie, sagt, das Wasser sei dieser Urgrund). Er nennt nun einige Gründe, die Thales zu dieser Annahme geführt haben könnten. Achten wir nicht auf die Inhalte: stofflicher Urgrund und Wasser, die Aristoteles nennt, sondern auf die Struktur seiner Darlegung, so sehen wir, dass Aristoteles den »Satz vom Wasser« nicht als den Anfang der Philosophie vorstellt. Denn im ersten Teil führt er Gründe an, die die ersten Philosophen annehmen (whjhsan) ließen, die arch wäre stofflich; so aber wären diese Gründe selbst schon PhiA
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losophie, und die Annahme wäre nicht ihr Anfang. Im zweiten Teil nennt Aristoteles Gründe, die Thales veranlasst haben könnten, zu sagen, die arch sei Wasser. Diese seien entweder gewisse Beobachtungen (oran), die Thales gemacht, oder gewisse Mythen, die er übernommen habe. In beiden Fällen setzt Aristoteles auch hier Thales’ Annahme Begründendes voraus: eine Methode, aufgrund von Beobachtungen zu gewissen Aussagen zu gelangen, oder die Geltung von Mythen, die Thales übernimmt; in keinem Fall aber stellt er den »Satz vom Wasser« selbst als den Anfang von Philosophie vor. Wenn wir nun unsererseits den Gründen nachgehen, die dieser Darstellung des Anfangs der Philosophie zugrundeliegen, so ist es offensichtlich die Unterscheidung, die Aristoteles zwischen der Annahme und ihrer Begründung macht. Zwar stellt er fest, dass Thales »zuerst philosophiert« hat; aber nicht der »Satz vom Wasser« selbst ist ihm das Erste, sondern die Begründung, die Thales für die in dem Satz enthaltene Annahme gegeben hat oder hätte geben können. Diese Begründung ist nun aber entweder selbst schon Philosophie oder eine Bezugnahme auf die Beobachtung oder ein Rekurs auf den Mythos, so dass sich bei den genannten Begründungsarten die Einsicht verliert, worin denn der Anfang der Philosophie besteht. – Statt vom »Satz vom Wasser« selbst als dem Anfang der Philosophie auszugehen, interpretiert Aristoteles diesen Anfang schon auf der Grundlage seines eigenen bzw. des von Platon übernommenen Begriffs von Philosophie, dass nämlich Philosophie ein »begründetes Annehmen« (doxa meta logon) sei. Daher sucht er nach Gründen, die Thales bewegt haben könnten, anzunehmen, die arch von allem sei Wasser. Aristoteles stellt also den Anfang der Philosophie nicht als Anfang dar; er setzt seiner Darstellung des Anfangs vielmehr einen Begriff von Philosophie voraus, mit dem die Philosophie nicht angefangen hat. Im Folgenden wollen wir daher den »Satz vom Wasser« unter der Voraussetzung interpretieren, dass es keiner außerhalb dieses Satzes liegender Gründe (Überlegungen, Beobachtungen oder Mythen) bedarf, um ihn als den Anfang der Philosophie bestimmen zu können. Der Satz soll vielmehr selbst als der Anfang der Philosophie rekonstruiert werden, um von hier aus im Weiteren nachzuvollziehen, wie ein Begriff von Philosophie hat entstehen können, der sie als ein »begründetes Annehmen« bestimmt.
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1.
Die Frage nach der Arch
Um das Anfängliche der Wissensart, die als »Philosophie« bezeichnet wird, erfassen zu können, wollen wir nicht nach den Gründen fragen, die zu jener Annahme geführt haben, sondern den »Satz vom Wasser« zunächst als Antwort auf eine Frage interpretieren. Hierzu gehe ich davon aus, dass das Frage-Antwort-Schema kein willkürlich gewähltes Mittel ist, sondern mit ihm sich die epistemische Situation beschreiben lässt, in der die Philosophie entstanden ist. Wenn wir daher den »Satz vom Wasser«, mit dem die Philosophie beginnt, als Antwort deuten, so setzt dessen Rekonstruktion die Suche nach der Frage voraus, auf die der Satz eine neue Antwort gibt. Was also ist diese Frage, und wer stellt sie? Und – gehört sie schon der Philosophie an oder geht sie ihr noch voraus? 1. Es kann in zweifacher Weise gefragt werden. Die eine, die relative und normale, Art zu fragen sucht eine Antwort. Sie setzt dabei voraus, dass es ein Wissen gibt, das die gestellte Frage beantwortet. So ist die Frage: »Wie spät ist es?« nur sinnvoll, wenn angenommen wird, dass es Uhren gibt, die die Zeit anzeigen, und sich damit die Frage beantworten lässt. In dieser Situation verhält sich ein nichtwissendes Subjekt zu einem vorhandenen Wissen, und die Frage regelt seine Tätigkeit, den Zustand des Nichtwissens durch den des Wissens zu überwinden. Diese besteht in der Aneignung des vorhandenen Wissens und endet mit dem Wissen, das die gestellte Frage beantwortet. Daher fragt weder der Nichtwissende, der keine Antwort sucht, noch der Wissende, der die Antwort hat; wer so fragt, sucht also den Zustand des Nichtwissens durch den des Wissens zu negieren. – Die andere, absolute und anormale, Art zu fragen setzt zwar ebenfalls voraus, dass es Wissen gibt; die Tätigkeit des Fragens ist jedoch nicht darauf gerichtet, es sich anzueignen, sondern als Wissen aufzulösen. Sie hat das Ziel, die Antworten epistemisch als »Irrtum«, »Meinung«, »Glaube« o. ä. zu desavouieren. Wer so fragt, hat nicht die Überwindung des Nichtwissens durch das Wissen, sondern umgekehrt des Wissens durch das Nichtwissen zum Ziel. Er sucht nicht die Frage zu beantworten, sondern befragt die Antworten. Diese Art zu fragen endet nicht mit der Antwort, sondern mit der Frage, nicht im Zustand des Wissens, sondern des Nichtwissens 1. In der Diese absolute Art des Fragens endet nicht mit der »sum-bolh«, der Vereinigung, sondern mit der »dia-bolh«, der Trennung. – Vgl. Bodenheimer 1984, 20 ff.
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Situation des absoluten Fragens eignet sich ein nichtwissendes Subjekt nicht vorhandenes Wissen an, sondern entfremdet sich von diesem und bezieht sich bloß auf sich. Es verhält sich in dieser Entfremdung zu sich als zu einem schlechthin nichtwissenden Subjekt. Während also das relative Fragen eine endliche Tätigkeit ist, die durch die Aneignung vorhandenen Wissens in der Antwort endet, ist das absolute Fragen eine unendliche Tätigkeit: das Fragen endet – im Fragen. Ordnen wir nun das Frage-Antwort-Schema dem »Satz vom Wasser« zu, so können wir ihn nur als eine Antwort verstehen, der die zweite Art zu fragen vorausgeht. Denn ginge ihm die erste, bloß relative Art zu fragen voraus, so ließe er sich nicht als eine neue Art der Antwort interpretieren. Er wäre das Resultat der Aneignung vorhandenen Wissens und repräsentierte bloß dieses Wissen. Wenn der »Satz vom Wasser« jedoch den »Anfang der Philosophie« bezeichnet, dann setzt er eine Art des Fragens voraus, die das vorhandene Wissen in Frage stellt, und mit Thales zugleich ein Subjekt, das sich im Zustand des fragenden Nichtwissens in Distanz zu diesem Wissen setzt. Dies aber ist die zweite, absolute und anormale Art zu fragen. Unter dieser Bedingung stellt sich für unsere Rekonstruktionsabsicht also die Frage, wie es überhaupt möglich ist, auf der Grundlage eines solchen absoluten Fragens dennoch den »Satz vom Wasser« als eine Antwort zu verstehen. 2. Bevor wir uns diesem Problem des »Übergangs« von Frage in Antwort zuwenden, möchte ich zunächst auf den Inhalt der Frage eingehen, auf die der »Satz vom Wasser« eine Antwort gibt. In der von Aristoteles überlieferten Version ist sie die Frage nach der arch 2 , die 2 Man hat eingewandt, dass die Frage nach der arch erst aristotelisch sei. So schreibt W. Schadewaldt: »Wenn wir gleich zu Anfang lesen, dass sich die Archai in der Wesensart der Materie bewegen, so sind die Begriffe arché und hyle spät und bestimmt nicht vor Aristoteles selbst.« (Schadewaldt 1978, 225). Er schlägt vor, den »Satz vom Wasser« so zu rekonstruieren: »udwr genesi@ apantwn« (226). – Dieser Auffassung stehen allerdings Zitate von Simplikios und Hippolyt entgegen, die nicht Aristoteles, sondern Anaximander als den ersten auszuweisen scheinen, der das Wort »arch« in diesem Sinn gebraucht hat: »prwto@ touto tounoma komisa@ th@ arch@« (Simplikios zu Aristoteles, Physik 24, 13); »prwto@ tounoma kalesa@ th@ arch@« (Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 6). An dieser Lesart hat J. Burnet Zweifel geäußert: Er liest nicht, Anaximander habe als erster das Apeiron als arch, sondern umgekehrt, er habe als erster die arch als Apeiron bezeichnet: »having been the first to introduce this name (i. e. to apeiron) for the arch« (Burnet 1930, 57, Anm. 1). Nach Burnet kam also bei Anaximander das Wort »apeiron«, nicht aber »arch« vor. Aus einem anderen Simpli-
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wir als Frage nach dem »Ur-« verstehen wollen 3 . Auf sie hatten bislang die Kosmogonien und Theogonien geantwortet. Sie repräsentierten das vorhandene Wissen von der arch. Wenn wir nun erstens davon ausgehen, dass Thales diese Antworten kannte, und wir zweitens Thales’ Frage nach der arch im Sinne des absoluten Fragens auffassen, dann ist sie so zu verstehen, dass sie das vorhandene Wissen von der arch in Frage stellt. Thales fragt nach der arch nicht, um das vorhandene Wissen sich anzueignen, sondern weil es für ihn zur bloßen Meinung geworden ist; er verhält sich zu diesem Wissen fragend, d. i. nichtwissend. 4 – Allerdings erlaubt es die Darstellung, die Aristoteles von der arch-Frage gibt, nicht, sie in diesem absoluten, sondern in einem nur eingeschränkten Sinn zu verstehen: als Frage nach der ulh, dem »Stoff«, aus dem alles hervorgeht. Wäre dem so, dann setzte die Frage nach der arch jedoch schon ein Wissen voraus, dass nämlich die arch »Stoff« – und nichts anderes – sei. Damit aber ginge dem »Satz vom Wasser« ein anderer Satz voraus: arch ulh esti. Jener wäre kein Erstes, sondern ein Zweites; und ihm ginge kein nichtwissendes Fra-
kios-Zitat dürfte jedoch jenes Verständnis unmissverständlich hervorgehen: »prwto@ auto@ [Anaximander] archn onomasa@ to upokeimenon« (Simplikios zu Aristoteles, Physik 150, 23). In diesem Satz ist zwar der Ausdruck »to upokeimenon« peripatetisch; aber die »Worte bedeuten unmissverständlich: ›Er gab ihm den Namen arch‹, wie sie auch richtig von Usener und Diels verstanden wurden.« (Jaeger 1968, 66, Anm. 28). – Vgl. auch: Schmitz 1988, 19 f. Für unseren Rekonstruktionszweck ist jedoch die Wahl des Wortes nicht von entscheidender Bedeutung. Wir nehmen an, dass es dieselbe Frage war, auf die Thales und Anaximander eine verschiedene Antwort gegeben haben, und die wir als »Frage nach dem Ur-« deuten. Unseres Erachtens liegt das Problem in der Wahl des Wortes, nicht in der Bedeutung. 3 Man erlaube mir diese Verwendung der Silbe »Ur-« als Wort. Denn die Wörter UrAnfang, Ur-Sprung, Ur-Sache, Ur-Grund konnotieren das Gemeinte in einer schon bestimmten und unterschiedlichen Weise: zeitlich, dynamisch, mechanisch, substanzhaft. Diese Konnotationen sollen jedoch ferngehalten werden. 4 Vgl. W. Jaeger: »Ein solches reserviertes Verhalten des Denkens setzt eine tiefgreifende Veränderung des Menschen voraus, verglichen mit dem Geisteszustand, der sich auf der Stufe des Mythos offenbart, und zugleich eine veränderte Stellung zum Mythos selbst. Es liegen uns zwar keine direkten Äußerungen der ältesten philosophischen Denker über ihr Verhältnis zu den überlieferten Mythen vor, aber es ist unvorstellbar, dass sie nicht ihr eigenes Denken als den äußersten Gegensatz (H. v. m.) zu einer Form der menschlichen Existenz hätten empfinden müssen, welche sich in allen entscheidenden Punkten auf die Voraussetzung der Wahrheit von allgemein geglaubten mythischen Erzählungen stützte. Insbesondere die Erkenntnis der Welt vertrug für diese Leute keine Einmischung der mujoi« (Jaeger 1968, 51 f.). A
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gen, sondern schon ein Wissen voraus 5. Da es uns jedoch um die Bestimmung des »Satzes vom Wasser« als Anfang der Philosophie geht, wollen wir von allen einschränkenden Voraussetzungen und Bedingungen absehen, um die Frage nach der arch im absoluten Sinn zu rekonstruieren. 2.
Der Anfang der Philosophie: die »Arch-Frage« oder der »Satz vom Wasser«?
Nun lässt sich die These aufstellen, dass, da dem »Satz vom Wasser« die Frage nach der arch vorangeht, der Anfang der Philosophie nicht in diesem Satz liegt, sondern in der Frage nach der arch. Die Philosophie beginnt demnach mit der Konstitution eines Subjekts, das sich als absolut fragend und nichtwissend in Distanz zum vorhandenen Wissen setzt. Die Philosophie wäre so, in ihrem Ursprung, keine besondere Art des Wissens, sondern eine des, fragenden, Nichtwissens. – Doch dieser These stehen sowohl systematische als auch historische Einwände entgegen. Denn wenn man den Anfang der Philosophie einseitig in die Frage nach dem »Ur-« verlegt, dann wird nicht mehr einsichtig, welchen epistemischen Wert der »Satz vom Wasser« hat. Er wäre jedenfalls nicht als eine Antwort zu verstehen, die das Fragen beendet; er könnte bestenfalls als eine hypothetische, selbst fragwürdige, Antwort gelten und wäre so eingereiht in eine Menge fragwürdiger Antworten. Damit aber verschwände der qualitative Unterschied zwischen den bisherigen, fragwürdig gewordenen, Antworten und dem »Satz vom Wasser« als einer neuen Antwort. Hält man jedoch daran fest, dass dieser Satz, wie allgemein angenommen, den Anfang der Philosophie bezeichnet, so ist es um die Erklärung dieses Anfangs zu tun. – Zudem hält die These vom Fragen als Es ist merkwürdig, dass Aristoteles zwar die allgemeine Feststellung trifft, die Menschen hätten zu philosophieren begonnen, weil sie sich über das Unerklärliche wunderten, das ihnen entgegentrat, und er denjenigen, der voller Fragen ist und sich wundert, als einen bezeichnet, der meint, in Unkenntnis zu sein, das Philosophieren aber als die Anstrengung, der Unwissenheit zu entkommen (Metaphysik, 982 b). Im konkreten Fall jedoch geht er nicht von dieser Unwissenheit, sondern schon von einem Wissen aus: dass nämlich Thales schon wusste, dass allem Werden und Vergehen eine unveränderliche Substanz zugrunde liegt, und dass diese stofflich ist, und er nur danach fragte, was dieser Stoff sei (und dies mit der Annahme beantwortete, er sei Wasser). Dies Wissen aber ist schon Philosophie, und kann nicht ihr Anfang sein.
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Anfang der Philosophie auch nicht dem Vergleich mit den historischen Tatsachen stand. Denn in der griechischen Kultur markiert die lyrische Dichtung den Bruch mit dem alten Wissen. In ihr artikulierte sich erstmals die Distanz eines freien Subjekts, das »an den Grundfesten einer Welt (rüttelt), deren Existenz sich auf überholte Wertauffassungen gründet.« 6 . Wenn also der Aufstellung des »Satzes vom Wasser« durch Thales der Auflösungsprozess des vorhandenen Wissens zeitlich vorangegangen ist, und wenn dieser Satz als eine neue Antwort das absolute Fragen voraussetzt, dann erlaubt dies nur die Auffassung, dass Thales zwar an diesem Auflösungsprozess des »alten Wissens« teilgenommen hat, dass sich aber nicht erst mit ihm ein freies, absolut fragendes Subjekt konstituiert hat. Im Gegenzug lässt sich die These vertreten, dass, wenn nicht das Fragen den Anfang der Philosophie bezeichnet, es offenbar die Antwort ist. Mit dem »Satz vom Wasser« beginnt ein neuer Diskurs, der dadurch beschrieben wird, dass er nicht mehr mythisch, sondern rational verfährt 7 . Diese Rationalität lässt sich nun so beschreiben, dass, wie es Aristoteles tut, mit dem »Satz vom Wasser« die Suche nach der stofflichen Substanz, aus der alles ent- und besteht, beginnt; oder dass in diesem Satz erstmals die Vielfalt der Erscheinungen in der Erkenntnis eines gemeinsamen Wesens zusammengefasst worden ist 8 ; oder schließlich dass mit Thales die Erforschung der natürlichen Ursachen beginnt. – Zwar deutet schon die Aufzählung hin, dass durchaus nicht klar ist, was mit der »Rationalität« gemeint ist, mit der Thales begonnen habe; sie hängt vom je eigenen Begriff von »Rationalität« ab. Doch selbst wenn wir einen solchen bestimmten Rationalitätsbegriff zugrunde legen, ergeben sich Erklärungsdefizite. Ebener 1985, XXXI. – Zu diesem Umbruch siehe: Fränkel 1955, 8; Snell 1955, 83–117; Nestle 1975, 53–80. 7 Vgl. W. Nestle: »… auf die Frage nach der letzten Ursache der Welt, nach dem Prinzip (arch) aller Dinge, gaben sie keine mythische Antwort mehr, sondern eine rationale, wenn sie dieses Prinzip in irgendeiner anfangslosen materiellen Substanz, in Wasser, Luft oder Feuer, in einem grenzenlosen und unbestimmten Stoff … fanden« (Nestle 1975, 81). G. S. Kirk, J. E. Raven, M. Schofield: »In Ionien fanden die ersten wirklich rationalen Versuche statt, die Natur der Welt zu beschreiben« (Kirk 1994, 83; auch 108.). Auch: Gigon 1945, 45 f. 8 So Hegel: »Der einfache Satz des Thales ist … darum Philosophie, weil darin nicht das sinnliche Wasser in seiner Besonderheit gegen andere natürliche Elemente und Dinge genommen ist, sondern als Gedanke, in welchem alle wirklichen Dinge aufgelöst und enthalten sind, es also als das allgemeine Wesen gefasst ist« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 202). – Siehe auch: Schadewaldt 1978, 218. 6
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Denn es entsteht die Schwierigkeit zu erklären, warum die Aussage, Wasser sei Ursprung von allem, der Anfang aller Rationalität sein soll 9 ; oder aber es wird unterstellt, Thales hatte die behaupteten Rationalitätsstandards schon vor der Aufstellung des Satzes, so dass die Aussage, die arch sei Wasser, das Resultat einer rationalen Untersuchung war 10. Dies aber hat erneut die Konsequenz, dass die Philosophie schon vor ihrem Anfang angefangen haben müsste. Thales hätte schon wissen müssen, was »rational« ist, und dass sein Satz eine rationale Aussage darstellt. Die Erklärung, der »Satz vom Wasser« sei der Beginn von Rationalität, kann also das Problem des Anfangs der Philosophie nicht zirkelfrei lösen. Sie setzt entweder einen je eigenen Rationalitätsbegriff voraus oder unterstellt ihn Thales als Voraussetzung seines Satzes. 3.
»Thales selbst«
Wenn nun weder die These, die Philosophie beginne mit dem absoluten Fragen nach der arch, noch die Gegenthese, sie beginne mit der neuen Rationalität des »Satzes vom Wasser«, ihren Anfang hinreichend erklären, so muss die Erklärung offenbar »zwischen« beidem, zwischen der Frage nach der arch und ihrer Antwort mit dem Zur Erklärung des Satzes werden meist Zufälligkeiten der Biographie Thales’ herangezogen: weil er die Erde und das Meer, die Pflanzen oder die Tiere beobachtet habe; weil er nach Ägypten gefahren sei … Unklar bleibt, wie diese Zufälle den Anfang von Rationalität ausmachen können. Es scheint eher, als müsse man mit der ›Irrationalität‹ der Aussage irgendwie fertig werden: »… haben wir kaum eine Vorstellung davon, wie man zu der Auffassung kam, die Dinge seien wesentlich auf Wasser bezogen.« (Kirk 1994, 104) – Hegel war der einzige, der den »Satz vom Wasser« als in sich rationalen Anfang gedeutet hat. Seine Artistik geht dabei in eine andere Richtung: die Philosophie müsse um der Idee willen mit dem ›spekulativen Wasser‹ beginnen. Dies Wasser sei »der Widerspruch des Begriffs des Allgemeinen (Formlosen) und seines Seins« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 201). Diese spekulative Erklärung ist jedoch ebenfalls wenig überzeugend. 10 So behauptet K. R. Popper, dass, weil alle wissenschaftlichen Sätze Hypothesen seien, die Sätze der Ionier kosmologische »Vermutungen« (conjectures) waren. Zwar stimmen wir ihm zu, wenn er feststellt, ihre Ideen »haben nichts mit neuen Beobachtungen zu tun«, sondern seien frei erfundene, »kühne(.) Theorien über die Welt« (Kosmologie und Veränderung. In: Popper 2000, 212). Wenn er sie jedoch hinsichtlich ihres epistemischen Status als »Vermutungen« beschreibt, dann erklärt Popper weniger den Anfang der Philosophie, als dass er uns die ersten Philosophen als die ersten »kritischen Rationalisten« vorstellt, die schon damals nach der Methode von »Versuch und Irrtum« gearbeitet hätten. Siehe auch: K. R. Popper, Die Anfänge des Rationalismus. In: Popper 2000, 4–11. 9
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»Satz vom Wasser«, gesucht werden. Als ein absolut fragendes Subjekt nimmt Thales einerseits an dem historischen Vorgang teil, der die theo- und kosmogonischen Antworten in Zweifel zieht und sich damit in Distanz zum vorhandenen Wissen setzt. Mit dem »Satz vom Wasser« gibt Thales andererseits eine neue Antwort auf die Frage nach der arch. Dieser Satz, so unterstellen wir, stellt für Thales keine selbst fragwürdige Annahme dar, sondern beantwortet die Frage nach der arch. Er beendet das Fragen und repräsentiert als solcher das Wissen, was die arch ist. Damit aber stehen wir vor die Frage: wie ist es möglich, dass dasselbe Subjekt – Thales von Milet – hinsichtlich derselben Frage sowohl ein fragendes und nichtwissendes als auch ein Antwort habendes und wissendes Subjekt ist? Darauf lässt sich nun die triviale Antwort geben, Thales sei als fragender aufgebrochen und als wissender zurückgekehrt. Mittels seiner Reise nach Ägypten, seinem Gang an den Strand von Milet oder seiner Fahrt in die mythische Vergangenheit sei aus einem fragend-unwissenden ein antworthabend-wissender geworden. Doch diese Antwort geht an der Frage vorbei, weil sie den »Übergang« vom Nichtwissen zum Wissen nach Art des bloß relativen Fragens beschreiben: als Aneignung eines schon vorhandenen Wissens. Sie erklärt, wie Thales aus dem Zustand des Nichtwissens in den des Wissens gelangt; aber nicht, wie unter der Bedingung der grundlegenden Infragestellung des vorhandenen Wissens dennoch neues Wissen entsteht. Ernster ist wohl die Erklärung zu nehmen, die diesen Übergang vom Nichtwissen zum Wissen nicht als eine äußere Erfahrung, sondern als eine Art innerer Erleuchtung beschreibt, als mystisch-intuitive Annehmung neuen Wissens 11. Auch wenn sich in diesem Fall interessante Parallelen zu Religionsstiftern, sowohl hinsichtlich der aporetischen Ausgangssituation als auch der Sicherheit des neu Gewussten, finden lassen, so hat sich offensichtlich weder Thales selbst als Prophet oder Religionsstifter verstanden, noch ist er – und mit ihm der Anfang der Philosophie – in der Folgezeit in dieser Weise gedeutet worden. Da die angeführten Erklärungen, die den Anfang der PhiloSo ist für F. Nietzsche z. B. der »Satz vom Wasser« ein »metaphysischer Glaubenssatz, der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat, und dem wir bei allen Philosophien, samt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen: der Satz ›Alles ist Eins‹. (Nietzsche 1968 ff., Bd. 1, 813).
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sophie als einen Vorgang der äußeren oder inneren Erfahrung beschreiben, ihn nicht als Anfang erklären, so bleibt die letztlich einfache Erklärung: Thales selbst hat die Antwort gegeben. Damit wird »Thales selbst« zum Anfang der Philosophie. Was bedeutet »Thales selbst«? Zum ersten soll dieser Ausdruck Thales als dasjenige Subjekt bezeichnen, das den Übergang vom epistemischen Zustand des Nichtwissens in den des Wissens vollzieht. Dieser beendet das Fragen, weil die Antwort, die Thales gibt, für ihn Wissen repräsentiert, er in Bezug auf diese also wissend ist. Da nun aber dieser Übergang nicht so erklärt werden kann, als wäre er durch die Aneignung eines vorhandenen Wissens vermittelt, kann er nur als ein vermittlungsloser, als ein durch Thales selbst bewirkter Vollzug gedacht werden. Das »selbst« bezeichnet hier also das Subjekt als den Autor seines Wissens; d. h. das autonome Subjekt, das weiß, weil es selbst die Antwort gibt und damit sein Wissen selbst setzt. Der Begriff des autonomen Wissenssubjekts gilt uns damit als die Lösung der Frage, wie Thales als absolut nichtwissendes Subjekt zugleich wissend werden kann; er erklärt, wie der Anfang der Philosophie als Anfang möglich ist. Zum zweiten bedeutet der Ausdruck »Thales selbst«, dass in Hinblick auf den geschichtlichen Anfang der Beginn zu philosophieren als eine historische Tatsache zu verstehen ist. Er ist weder durch äußere Faktoren verursacht, noch gehorcht er einer inneren Notwendigkeit, sondern ist schlicht das Resultat von Thales’ autonomem wissensetzendem Vollzug. Er ist ein Ereignis, das sich auch nicht hätte ereignen können. »Thales selbst« als Anfang der Philosophie bedeutet, dass ihr geschichtlicher Beginn die zufällige, kontingente Tat von Thales ist. – Zwar lassen sich für diese Tat Bedingungen anführen: die geographische, ökonomische und politische Lage der Handelsstadt Milet und die vorhandenen Kommunikationswege; die weltanschaulich-religiöse Krise des 7. und 6. Jahrhunderts; Thales’ soziale Stellung in seiner Heimatstadt und seine persönlichen Kenntnisse und Erfahrungen. Sie können jedoch nicht als die Ursache dafür gelten, dass Thales mit dem »Satz vom Wasser« zu philosophieren begonnen hat, sondern stellen nur Bedingungen dar. Ebenso wenig kann diese Tat als Folge einer Art »innerer Logik« erklärt werden, so als hätte die Philosophie mit dem »Satz vom Wasser« anfangen müssen, und Thales tat, was getan werden musste. Denn im Fall einer solch immanenten Erklärung müsste die Existenz eines Geschichtssubjekts angenommen werden, dem der thaletische »Satz vom Was92
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ser« als Moment eigenen Werdens zuzuschreiben wäre. Diese Erklärungsweise setzt jedoch schon den Begriff eines allgemeinen Subjekts voraus, um dessen Möglichkeit es hier im Anfang bestenfalls gehen kann. Die Erklärung des Anfangs erfolgte in einem kategorialen Rahmen, der als solcher erst das Ergebnis von Philosophie, nicht aber ihr Anfang ist. Drittens soll der Ausdruck »Thales selbst« noch die Bedeutung enthalten, die sich in psychologischer Hinsicht als Wirkung dieser Wissen setzenden Tat beschreiben lässt. Sie verweist auf ein neues Gefühl des Stolzes und der Stärke, die aus dieser Art autonomer Wissenssetzung hervorgeht. Zwar lassen sich diese »psychischen Qualitäten« von Thales kaum historisch-empirisch verifizieren; es ist jedoch schlecht in Abrede zu stellen, dass sie vorhanden waren und ihre Ausstrahlung auf andere hatten. »Thales selbst« bezeichnet in diesem Sinne die Eigenschaften der Kühnheit und des Mutes, die Thales als demjenigen zugesprochen werden, der mit der Philosophie angefangen hat.
B.
Der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz
Nachdem wir das Anfangsproblem der Philosophie mithilfe des Frage-Antwort-Schemas exponiert und als Anfang Thales als autonomes Subjekt angeführt haben, soll nun dem Umstand nachgegangen werden, dass dieses neue Wissen sich in Form des Satzes darstellt. Auch wenn uns die authentische Wortfolge des thaletischen »Satzes vom Wasser« unbekannt ist, so kann doch als gesichert gelten, dass Thales die Antwort auf die Frage nach der arch als Satz gegeben hat. 12 1.
Der Satz: Repräsentant von Wissen
Um die Struktur dieser neuen Wissensart genauer beschreiben zu können, soll zunächst die Form, in der das bisher vorhandene Wissen präsent gewesen war, in einer für unseren Vergleich hinreichenden Ausführlichkeit skizziert werden. Dieses Wissen lag, solange es die Frage nach der arch beantwortet hatte, in der Gestalt eines unver12
Siehe: Anmerkung 2. A
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fügbar vorhandenen epistemischen Codes vor. Er enthielt die sogenannte »Ur-Geschichte« 13 , die Genese, die Wirkungen und Handlungen von Göttern und Heroen, und prägte die geistig-kulturelle Identität des jeweiligen Stammes oder Volkes, einer Stadt oder Kultur. Die aktualisierende Repräsentation dieses vorhandenen Wissens vollzog sich in dessen ritueller, wieder-holender Nachahmung. Diese bestand teils in kultischen Inszenierungen, teils in der singenden oder redenden Nacherzählung der Ur-Geschichte 14. Die epistemische Gewähr für die Nachbildung des »heiligen Wissens« bot die Hinwendung der Seele zum Göttlichen und die Imagination durch göttliche Inspiration, die sich entweder im Rahmen kultischer Gemeinschaftsfeiern oder – stellvertretend – in der feierlichen Anrufung der Götter durch Priester, Seher, Sänger oder Dichter vollzogen 15 . In unserem Kontext ist nun von Interesse, dass sich diese Wissensrepräsentation in formaler Hinsicht als eine unabgeschlossene, locker gegliederte und sich wiederholende Reihung von einzelnen Szenen darstellte 16. Diese Szenenreihe füllte sukzessive und regresDer Religionsforscher M. Eliade beschreibt den Mythos: »Der Mythos erzählt eine heilige Geschichte; er berichtet von einem Ereignis, das in der primordialen Zeit, der märchenhaften Zeit der ›Anfänge‹ stattgefunden hat … Es handelt sich also immer um die Erzählung einer ›Schöpfung‹ : es wird berichtet, wie etwas erzeugt worden ist und begonnen hat, zu sein. Der Mythos spricht nur von dem, was wirklich geschehen ist, von dem, was sich voll und ganz manifestiert hat. Die Personen des Mythos sind übernatürliche Wesen.« (Eliade 1988, 15 f.) – Siehe auch: Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 7. 14 Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Mythos und Kult in der griechischen Kultur schreibt R. v. Ranke-Graves: »Man könnte den echten Mythos als erzählerische Kurzschrift kultischer Spiele, wie sie bei öffentlichen Festen aufgeführt wurden, definieren.« (Ranke-Graves 1984, 10 f.) – J. Campbell nennt die Mythen allgemein »das geistige Gerüst der Riten und die Riten die leibhaftige Aufführung der Mythen« (Campbell 1985, 54). 15 In der griechischen Kultur kam die vermittelnde Funktion zwischen mythischer Vergangenheit und aktueller Gegenwart den Musen zu: »als Göttinnen sind die Musen überall dabei und wissen alles im Gegensatz zu den Menschen, die vom Längstvergangenen nur durch Hörensagen wissen.« (W. Kraus, Die Auffassung des Dichterberufs im frühen Griechenland. In: Kraus 1984, 48, Anm. 13) – Zur Wissensart des griechischen Sängers schreibt B. Snell: »Wenn Homer anhebt: ›Singe mir, Göttin, den Zorn …‹ oder ›Nenne mir Muse, den Mann‹, so spricht der Dichter, der nicht von sich aus weiß, was er sagt, nicht durch eigene Begabung oder persönliche Erfahrung, sondern dem eine Gottheit es eingibt. Der Glaube, dass aus dem Dichter eine übermenschliche Stimme spricht, ist allgemein verbreitet …« (Snell 1955, 184). 16 In Hinblick auf den reihenden Stil dieser Wissensrepräsentation stellt H. Fränkel für die frühgriechische Erzählform fest: »Stockungen und Pausen, unserm Empfinden unentbehrlich als Ruhepunkte und zur Gliederung der Rede, werden gemieden. Vielmehr 13
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sive den Umfang der urgeschichtlichen Ereignisse aus und hatte in diesen ihren sachlichen Zusammenhang. Die Wissensrepräsentation besaß eine narrative Struktur: der Fortgang der Erzählung wird durch die Intuition und die Einbildungskraft des Erzählers bestimmt; die Unabgeschlossenheit der Erzählung drückt die Differenz zwischen dem vergangenen Ur-Geschehen und dessen wiederholender Vergegenwärtigung in der nachahmenden Erzählung aus. Wenn Thales nun dem bisherigen Wissen mit dem »Satz vom Wasser« ein neues Wissen entgegengesetzt hat, so besteht das Neue nicht im Inhalt, sondern in der Form des Wissens. Es waren nicht nur die Antworten, sondern es war die Art der Antworten, die nicht mehr überzeugte. Die kultischen Inszenierungen und feierlichen Erzählungen galten nicht mehr als epistemische Repräsentationen, sondern nur mehr als kontingente Ereignisse und Äußerungen. Dieser fragwürdig gewordenen Form des Wissens setzt Thales mit seiner Antwort den Satz als neuer Form des Wissens entgegen. Dieser repräsentiert Wissen in Gestalt eines in sich abgeschlossenen und sinnhaften sprachlichen Ausdrucks. Auch wenn, wie gesagt, die tatsächliche Antwort, die Thales auf die Frage nach der arch gegeben hat, nicht rekonstruierbar ist, so können wir mit Sicherheit annehmen, dass sie keine reihende Erzählung war: »Am Anfang war das Wasser und das Wasser war …«, sondern dass sie eine abgeschlossene Aussage in der Art eines Satzes war. In ihm sind die beiden Ausdrücke »arch pantwn« und »udwr« so zusammengefasst, dass sie ein Ganzes bilden und als dieses abgeschlossene Ganze zugleich Wissen repräsentieren. 2.
Die epistemologische Begründung des Satzes
Bevor wir auf die Struktur des Satzes näher eingehen, wollen wir erst der Frage nachgehen, wodurch der »Satz vom Wasser« nicht nur den Charakter einer Annahme hat, sondern eine neue Art von Wissen
wird durchgängiger, engster Anschluss zwischen den Nachbargliedern angestrebt. Dagegen sind die Fernbeziehungen locker und willkürlich, sie können aufgenommen oder vernachlässigt werden. Ebenso wenig wird eine mehrere oder alle Glieder durchziehende Norm geachtet: einen Zwang zur Konsequenz gibt es nicht. Jedes Glied der Rede wird so bald wie möglich zu freier Selbständigkeit und zu voller Geltung erhoben.« (Fränkel 1955, 50). A
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repräsentiert. Dabei unterstelle ich, dass dieser epistemische Wert des Satzes Folgen für das Verständnis seiner Struktur hat. Für die epistemische Auszeichnung des Satzes als Wissen lassen sich drei Begründungen anführen: es kann »die Sache« als Grund gelten, weshalb er Wissen repräsentiert; oder der »Satz selbst« enthält diesen Grund in sich; oder es ist drittens »Thales«, der dem Satz seinen epistemischen Wert zuweist. Im ersten Fall gründete dieser Wert in der Einsicht in den Sachverhalt, dass das Ur- von allem das Wasser ist, die Thales entweder methodisch durch Beobachtungen oder aber in einer Art »Ursprungsschau« 17 gewonnen hat. Der Satz repräsentierte Wissen, weil er den Sachverhalt abbildet. Doch diese Begründung des epistemischen Werts des Satzes wollen wir aufgrund der obigen Überlegungen zum Anfang der Philosophie ausschließen. – Im zweiten Fall entspricht der »Satz vom Wasser« keinem Sachverhalt, sondern codiert, als das gleichsam »ewige Wort«, Wissen. Dass das Ur- von allem Wasser ist, hätte seinen Grund im Satz selbst. Da man in diesem Fall Thales jedoch als Ausleger einer solch in sich selbst gründenden, ewigen Wahrheit deuten müsste, schließen wir auch diese Möglichkeit aus 18. – Im dritten Fall wäre Thales selbst der Grund, dass der »Satz vom Wasser« Wissen repräsentiert. Und in der Tat liegt diese Annahme als Konsequenz unserer Feststellung nahe, dass »Thales selbst« der Urheber des neuen Wissens ist. Denn wenn dieser Satz eine neue Art zu wissen darstellt, weil Thales ihn selbst gegeben hat, dann müsste er auch der Grund sein, dass der Satz Wissen repräsentiert. So aber wäre das bloße Geben des Satzes schon der hinreichende Grund, dass er auch Wissen repräsentiert. Das kontingente Faktum dieser Tat wäre zugleich Geltungsgrund des Satzes. Wenn wir daher an der Annahme festhalten, dass weder die Sache noch der Satz selbst, sondern Thales der epistemische Grund des »Satzes vom Wasser« ist, dann kann er dies nicht in der Eigenschaft sein, Autor des Satzes zu sein. Denn in diesem Fall fragen wir, wer den Satz gibt; nicht aber, was ihn als Wissen begründet. Ist Thales also der Grund, warum der »Satz vom Wasser« Wissen repräsentiert, dann ist er dies nicht als Autor des Satzes, sondern als Träger und Vgl. dazu: Jaeger 1968, 54. Zwar führt Aristoteles als Grund für Thales’ Annahme, die arch sei Wasser, in der Tat die Ehrwürdigkeit des Schwurs der Götter auf das Wasser an (Metaphysik, 983b 30). Aber er referiert nur die Auffassung »einiger«, und geht der Frage nach, wie Thales zu der Annahme kam, nicht aber, wodurch der Satz als Wissen begründet ist. 17 18
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Subjekt dieses Wissens. Das »Thales« genannte, Individuum, diese eine und unteilbare ›Persönlichkeit‹ ist der Grund, dass der »Satz vom Wasser« nicht nur eine Annahme ist, sondern Wissen repräsentiert. Es ist Thales, der weiß, dass das Ur- von allem Wasser ist. Aus dieser Erklärung des epistemischen Grundes folgt, dass das Wissen jetzt nicht mehr, wie in den mythischen Wissensarten, in Bezug auf einen vorhandenen, den Subjekten unverfügbar gegebenen und von ihnen zu entschlüsselnden epistemischen Code begründet wird, sondern dass das Subjekt selbst diejenige invariante Instanz ist, durch die Vorstellungen und Annahmen als Wissen begründet werden. Der Wissensgrund ist nicht mehr außerhalb, in einer Welt der Götter und Helden, sondern im Subjekt selbst. Damit aber besitzt das Wissen jetzt eine dem epistemischen Subjekt durchsichtige Struktur; denn der Grund des Wissens ist nichts Vorhandenes mehr, dessen sich die epistemisch tätigen Subjekte durch die feierliche Anrufung zu vergewissern hätten, sondern das Subjekt selbst, das als Autor des Satzes zugleich Grund des Wissens ist. Statt in der offenen Form der Anfangserzählungen ist im »Satz vom Wasser« das Wissen in der geschlossenen Form eines epistemisch durchsichtigen Satzes gefasst: Thales weiß, dass das Ur- von allem Wasser ist, weil der Autor des Satzes selbst für dessen Geltung verbürgt. 3.
Der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz
Wenden wir uns nach der epistemologischen Begründung der Struktur des Satzes zu: den zwei Bestandteilen, der »arch pantwn«und dem Wort »udwr«, sowie der Art ihrer Verknüpfung. Der Ausdruck »arch pantwn« bezieht sich auf etwas, was ich das »Ur- von allem« nenne. Es ist das, was allen Vorstellungen voraus ist, was, selbst unvorstellbar, nicht entsteht, aus dem aber alles Vorstellbare entsteht. Das Wort »udwr« hingegen bezeichnet eine gegebene und zudem gewöhnliche Vorstellung: Wasser. Das Eigentümliche nun, wodurch der »Satz vom Wasser« den Anfang der Philosophie bildet, ist die Verbindung des unvorstellbaren Ur- mit der Vorstellung vom Wasser, durch die der »Satz vom Wasser« zugleich Wissen repräsentiert. Wie aber ist diese Verbindung zu verstehen? Dazu nehmen wir an, dass der Satz in der von uns beschriebenen Weise Wissen repräsentiert, weil die beiden Ausdrücke »arch pantwn« und »udwr« durch ihre Einheit im Satz ihre spezifische A
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Bedeutung erhalten. Zwar fehlt dem »Satz vom Wasser« in seiner authentischen Formulierung wohl die Kopula »ist«, die die Einheit explizit macht; aber unter der Annahme, dass der Satz Wissen repräsentiert, stellt er die Verbindung von arch pantwn, dem unvorstellbaren Ur- von allem, und udwr, dem vorstellbaren Wasser, als unauflöslich Eines dar: das Ur- von allem ist Wasser. So gefasst, hat der »Satz vom Wasser« keine Erzählstruktur; er erzählt nicht, was »im Anfang war«, weder im Sinne einer mythischen Urgeschichte noch als ein historischer Bericht, sondern sagt aus, was das Ur- von allem ist. Als solcher aber repräsentiert er nicht nur, sondern codiert auch Wissen, indem er einen ganz neuen Zeitbezug konstituiert. Denn die Aktualisierung von Wissen geschieht jetzt nicht mehr in der Hinwendung zu vergangenem Urgeschehen, sondern in der Zuwendung zur gegenwärtigen Welt der gegebenen Vorstellungen. Anders als der Okeanos im Mythos ist das Wasser des Thales eine gegebene, dem Subjekt jederzeit verfügbare und gegenwärtige Vorstellung. Im »Satz vom Wasser« ist also das Ur- von allem nicht mehr als ein Vergangenes codiert, sondern als ein Gegenwärtiges 19 ; und das Wissen ist nicht mehr mimetisch in der Vergegenwärtigung des Vergangenen präsent, sondern in der Vergegenwärtigung des Gegenwärtigen. An die Stelle des träumenden und entrückten »arcaiologein« des Sängers tritt nun das wache und präsente »logon didonai«, das »Satz geben« des Philosophen, der das »Ur-« von allem als ein jederzeit Gegenwärtiges weiß. Mit dem »Satz vom Wasser« setzt ein Diskurs ein, der das Wissen an die Gegenwärtigkeit des Vorstellbaren knüpft; was diesem Kriterium widerspricht, verfällt dem Verdikt unkontrollierter und unkontrollierbarer Schwärmerei 20 . Wenn Aristoteles behauptet hat, die Frage, was das Seiende ist, sei »bereits von alters her erhoben [worden, werde] auch heute erhoben … und immer erhoben werden und Gegenstand der Ratlosigkeit sein« (Metaphysik, 1028 b), so drückt er damit zwar den neuen Bezug zum Gegenwärtigen aus, nimmt ihn aber als einen immer schon gegenwärtigen an. Auf diese Weise lässt sich jedoch das Neue, der Bruch der Philosophie mit der Nicht-Philosophie, nicht begreifen. 20 In seiner Interpretation des griechischen Wissens hebt M. Heidegger dessen Vergangenheitscharakter hervor: »Der Seher«, so deutet Heidegger Homer am Beginn der ›Ilias‹, »ist derjenige, der das All des Anwesenden im Anwesen schon gesehen hat; lateinisch gesprochen: vidit; deutsch: er steht im Wissen. Gesehenhaben ist das Wesen des Wissens.« (Der Spruch des Anaximander. In: Heidegger 1963, 321) Das Wissen sei »das Gedächtnis des Seins« (ebd., 322). Der Seher vermag dies durch »die von Gott verliehene mantosunh« (ebd., 320). – So berechtigt nach unserer Interpretation diese Deutung 19
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In diesem Satzganzen erhält zudem der Ausdruck »udwr« eine neue und spezifische Bedeutung. Zwar hat Thales den Ausdruck wohl ohne Artikel gebraucht. Aber »udwr« ist weder der Sammelname für alles Wässrige noch der Name einer mythischen Vorstellung; er bezieht sich vielmehr auf die ›reine‹ und allgemeine Vorstellung vom Wasser als einem, wie es später heißen wird, Element. Nur durch die Abstraktion der gegebenen Vorstellungen zum allgemeinen und entmythifizierten Begriff: das Wasser kann es im »Satz vom Wasser« mit dem selbst unvorstellbaren Ur- von allem verknüpft werden und ist als solches das Ur- von allem. Zwar verfügt Thales, am Anfang der Philosophie, nicht über diese Kategorien, des Begriffs oder des Elements; doch die Analyse des »Satzes vom Wasser« zeigt, dass hierfür der Anfang gemacht ist 21 . Die neue Art des Wissens, das Unvorstellbare mit Vorstellbarem zu vereinen, drängt die Sprache, die Vorstellungen in ihrer Fixierung als Begriffe angemessen darzustellen 22 . Durch diese Struktur, in der das unvorstellbare Ur- mit dem Begriff des Wassers unauflöslich verbunden ist, vermag der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz nun auch die Regel abzugeben, nach der gegebene Vorstellungen als Wissen ausgezeichnet werden können. Denn wenn das Ur- von allem das Wasser ist, dann ist umgekehrt auch das Wasser das Ur- von allem, und daher stellen nach diesem Gesetz nur diejenigen Vorstellungen Wissen dar, in denen das Wasser als das Ur- vorgestellt wird. Dieser Anwendung des »Satzes vom Wasser« als epistemischer Regel entspricht Aristoteles’ Bericht, Thales habe erklärt, die Erde ruhe auf dem Wasser, weil dieses
des traditionell-mythischen Wissens ist, so unberechtigt ist sie, wenn das »Gesehenhaben« mit der neuen Art des philosophischen Wissens identifiziert wird. Thales’ Bezugnahme auf das Wasser als der arch wird nicht verständlich, wenn sie als Vergegenwärtigung von Vergangenem, sondern nur, wenn sie als Vergegenwärtigung des immer schon Gegenwärtigen interpretiert wird. Nicht die gottverliehene mantosunh, sondern die dem Menschen eignende swyrosunh, nicht das »Gedächtnis«, sondern das »Wachsein« verbürgt dem Subjekt hier Wissen. – Vgl. dazu auch: Snell 1955, 412–416. 21 Unseres Erachtens macht es einen Unterschied, ob man mit Aristoteles, behauptet, Thales habe angenommen, der Stoff, aus dem alles besteht, sei Wasser, oder ob die rekonstruierende Analyse des »Satzes vom Wasser« zeigt, dass der Ausdruck »Wasser« in einem Sinne zu verstehen ist, der später als »Element« bezeichnet wurde. Im einen Fall geht die kategoriale Bestimmung der Darstellung vorher, im anderen Fall wird sie als ein nachfolgendes Ergebnis betrachtet. – Vgl. dazu: Diels 1899. 22 Vgl. Snell 1955, 301 f. A
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die arch von allem sei 23 . Diese Erklärung lässt sich als Anwendung des epistemischen Grundsatzes auf gegebene Vorstellungen verstehen: Die Vorstellung der auf dem Wasser ruhenden Erde repräsentiert Wissen, weil ihr der »Satz vom Wasser« als epistemisches Gesetz zugrunde liegt 24 . Betrachten wir zum Abschluss den »Satz vom Wasser« nicht als neuen epistemischen Grundsatz, sondern aus der Perspektive des Beobachters gleichsam von außen, dann muss uns dessen Aussage bestenfalls als eine trockene Versicherung erscheinen. Denn für uns ist die Verknüpfung des Ur- von allem mit dem Begriff des Wassers gänzlich kontingent. So gesehen, können also weder »wir« noch eine andere allgemeine Instanz der Grund der epistemischen Geltung dieses Satzes sein, sondern muss in der Tat in der Individualität des Thales liegen. Nur für ihn repräsentiert der Satz keine fragwürdige Meinung, sondern Wissen. Für uns hingegen ist der Satz als ein möglicher Grundsatz irgendwie ›unfertig‹. Und dies Unfertige verweist darauf, dass der »Satz vom Wasser« offenbar nicht die Philosophie ist, sondern bloß ihr Anfang.
C. Die »Nachfolger« und das Problem der Dauer So wie wir diese neue Art des Wissens rekonstruiert haben, scheint sie keine dauerhafte und tragfähige Struktur herausbilden zu können. Denn der »Satz vom Wasser« verschwindet als epistemischer Grundsatz mit Thales; er hat kein epistemisches Subjekt, das ihn dauerhaft trägt. Für die Nachfolger wäre daher die epistemische Geltung dieses Satzes nicht auf sie selbst gegründet, sondern auf Thales, der so als Begründer des (neuen) Wissens anerkannt würde. Doch Aristoteles, Metaphysik, 983 b 21: »… Qalh@ … [arch] udwr yhsin einai (dio kai thn ghn ey’ udato@ apeyaineto einai) …« (H. v. m.). 24 Diese Erklärung lässt sich als erste Philosophie im Sinne eines »begründeten Annehmens« (doxa meta logou) verstehen. In ihr ist nicht die Vorstellung von der Erde als schwimmender Scheibe neu, die damals »Gemeingut der Kulturnationen« (Capelle 1968, 70) war, aber ihre Erklärung aus einem Grundsatz. Gleichfalls wäre die Erklärung des Erdbebens als eines Schwankens auf dem Wasser, die Seneca dem Thales zuschreibt (ebd.), als ein solches begründetes Annehmen zu interpretieren. – Dieses Verfahren scheint für andere »Erkenntnisse«, die Thales zugeschrieben werden, den »Satz des Thales«, seine Sonnenfinsternisprognose und die Erklärungen der Nilschwelle oder des Magnetsteins, nicht zu gelten. Sie zeigen Thales als einen »vielerfahrenen Mann« und guten Beobachter, aber nicht als den, der mit der Philosophie angefangen hat. 23
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dieses Verfahren, ein schon vorhandenes Wissen sich anzueignen und zu übernehmen, widerspricht dem, was wir als die Art dieses neuen Wissens beschrieben haben: die autonome Setzung durch das epistemische Subjekt. Der neuen Wissensart scheint daher das zu fehlen, was das mythische Wissen ausgezeichnet hat: ein epistemischer Code, der – dem epistemischen Subjekt unverfügbar – schlechterdings vorhanden ist. Für unsere Rekonstruktion stellt sich somit die Frage, wie diese »Philosophie« genannte Wissensart überhaupt dauern konnte. 1.
Kritik und Setzung
Wenn Simplikios Anaximander den »Schüler und Nachfolger des Thales« (majhth@ kai diadoco@) 25 nennt, so meint er damit offenkundig nicht, dieser habe die Lehre seines Lehrers weitergeführt, indem er den »Satz vom Wasser« etwa zur Grundlage einer umfassenden »Wasserlehre« gemacht hat; denn der Schüler ›lehrt‹ anderes als der Lehrer. Die Bezeichnung »Nachfolger und Schüler« kann daher nur heißen, dass Anaximander Thales in der neuen Art zu wissen gefolgt ist, und dass er darin dessen Schüler war. Demnach muss Anaximander zum einen den von Thales aufgestellten »Satz vom Wasser« als epistemischen Grundsatz in Frage gestellt und damit als erster Philosoph den Bruch mit dem Wissen des Vorgängers vollzogen haben, und so zum ersten ›Vatermörder‹ der Philosophie geworden sein. Zum anderen muss Anaximander einen neuen Satz aufgestellt haben, der seine Geltung als epistemischer Grundsatz in gleicher Weise dadurch erhält, dass »Anaximander selbst« der Urheber dieses Satzes ist. Und in der Tat gibt Anaximander auf die gleiche Frage nach der arch mit seinem »Satz vom Apeiron« eine eigene und andere Antwort. In ihm ist die arch nicht mit »Wasser«, sondern mit »dem Apeiron« (to apeiron) zu einem neuen epistemischen Grundsatz vereinigt. – Denselben Vorgang der Kritik des Wissens des Vorgängers und der Setzung eines neuen Grundsatzes vollzieht Anaximanders Nachfolger: »Anaximenes selbst« gibt auf die Frage nach der arch eine wiederum eigene, andere und neue Antwort: Luft (pneuma kai ahr [Aetios 26 ]). 25 26
Simplikios zu Aristoteles, Physik 24, 13. Aetios’ Referat scheint ein authentisches Zitat Anaximenes’ zu sein: »oion h vuch … A
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Diese Art der raschen Abfolge je neuer epistemischer Grundsätze ist zweifellos durch »eine erstaunliche Rücksichtslosigkeit und produktive Kraft der Sinngebung« 27 geprägt. Hinsichtlich des Dauerns dieser neuen Wissensart stellt sich jedoch die Frage, ob sie sich nur durch die Wiederholung der Kritik und der Setzung je neuer epistemischer Grundsätze zu reproduzieren vermag, oder ob sich in dieser Reihe von Brüchen und Anfängen eine Kontinuität finden lässt, die es gestattet, diese Anfänge als ein »gemeinsames Projekt« zu interpretieren; ob also die Philosophie am Beginn mehr ist als die Abfolge von Grundsätzen einzelner ›Heroen‹. 2.
Das »unaufhörliche Entstehen« als Bedingung von Wissen
Auf eine Gemeinsamkeit der ersten Philosophen deutet eine Überlegung von Aristoteles hin, der als Begründung für Anaximanders »Satz vom Apeiron« anführt, dass »wohl nur so Entstehen und Vergehen nicht verschwinden, wenn das unbegrenzt ist, woraus das, was entsteht, entnommen ist.« 28 Nehmen wir diese Überlegung als authentisch an, dann lässt sich der »Satz vom Apeiron« jedoch nicht mehr eine freie Setzung verstehen, deren epistemischer Grund »Anaximander selbst« wäre; denn der Satz erfüllt offenbar eine Bedingung: das Bleiben von Entstehen und Vergehen, der Sätze, die die Frage nach der arch beantworten, genügen müssen. Damit aber unterwirft Anaximander die epistemische Geltung von Grundsätzen einer Bedingung. Der »Satz vom Apeiron« setzt offenbar die Annahme voraus, dass Entstehen und Vergehen nicht aufhören, sondern bleiben. Lässt sich diese Annahme jedoch ihrerseits begründen? – Mit Sicherheit können wir ausschließen, dass die Annahme eines solchen unaufhörlichen Entstehens und Vergehens ein Wissen repräsentiert, das durch Anaximander selbst gesetzt ist. Denn sie nennt ja die Bedingung, der h hmetera ahr ousa sugkratei hma@, kai olon ton kosmon pneuma kai ahr periecei.« (siehe: Kirk 1994, 173 f.). Im Folgenden soll, wenn wir von »Luft« reden, »pneuma kai ahr« gemeint sein. 27 Fränkel 1955, 187. – Vgl. auch: Popper 2000, 4–11. 28 Aristoteles, Physik III 4, 203b 15. Vgl. auch Physik III 8, 208a 8: »damit das Entstehen nicht aufhört« (ina h genesi@ mh elleiph). – Da Aristoteles offenbar die Schrift Anaximanders besaß, können wir davon ausgehen, dass der Text der Überlegung Anaximanders entspricht. Vgl.: Kirk 1994, 123 ff.; Hölscher 1968, 23, Anm. 41.
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solch selbst gesetzte Grundsätze zu genügen haben, unter der ihnen also der Status eines epistemischen Grundsatzes zukommen kann. Als solche aber kann sie selbst kein epistemischer Grundsatz sein. – Es kann aber auch die Erklärung nicht überzeugen, die die Annahme eines unaufhörlichen Entstehens als Vergegenwärtigung eines mythischen Wissens beschreibt. Mögen sich auch historisch interessante Vergleiche zwischen dieser Annahme Anaximanders und orientalischen Mythen vom Unerschöpflichen anstellen lassen 29 , – als »Schüler und Nachfolger des Thales« jedenfalls kann Anaximander nicht auf Erzählungen zurückgreifen, deren epistemischer Status ja gerade fragwürdig geworden ist. Die Geltung epistemischer Grundsätze von mythischem Wissen abhängig zu machen, wäre keine »Nachfolge«, sondern die Rückkehr zu einer anderen, alten Art von Wissen. Wenn nun aber die Annahme vom unaufhörlichen Entstehen und Vergehen weder ein von Anaximander selbst gesetzter Grundsatz ist noch auf ein mythisches Wissen zurückgreift, worauf bezieht sie sich dann? Wir interpretieren sie als Ausdruck einer bestimmten »Weltanschauung«, die Anaximander den epistemologischen Grundlegungen offenbar als eine gemeinsame und selbst unbefragte Anschauungsweise voraussetzt. Sie betrachtet alles als ein unaufhörliches und insofern ewiges Entstehen und Vergehen. 30 So verstanden aber ist diese Art der Anschauung gerade nicht mythisch. Denn während die mythischen Theo- und Kosmogonien einen Anfang von allem angenommen und alles als ein in Bezug auf diesen Anfang bedeutungsvolles Geschehen gedeutet hatten, hat das absolut fragende Ich sich aus der Bindung an dieses Wissen gelöst. Für dieses Ich hat daher das Entstehen von allem keinen Anfang und ist daher unaufhörlich. So gefasst, ist Anaximanders Annahme nicht nur un-, sondern auch antimythisch 31 . Sie enthält einerseits die Kritik am Mythos, der die arch von allem als ein Geschehen annimmt und also erzählt werden kann; sie nennt andererseits die Bedingung, der die Siehe: Hölscher 1968, 88 f. Simplikios schreibt über Anaximander und andere: »… und sie setzten die Bewegung als ewig voraus. Denn ohne Bewegung gäbe es weder Entstehen noch Vergehen.« (Simplikios zu Aristoteles, Physik 1121, 5 ff.; zit: nach: Capelle 1968, 84). – Zur unbefragten Selbstverständlichkeit der Annahme, gegen die sich erst Parmenides richtet, siehe: Kahn 1960. 31 Vgl. zur »kritisch-antireligiösen Weltbetrachtung« der ersten Philosophen: Reinhardt 1959, 255 ff. 29 30
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Sätze über das, was die arch von allem ist, genügen müssen. Nur dann, so die Überlegung, wenn alles als ein unaufhörliches Entstehen und Vergehen betrachtet wird, kann die Frage nach der arch ›angemessen‹ beantwortet werden. 3.
Die Prüfung der Grundsätze
Wenn Anaximander diese Annahme als Bedingung einführt, der Sätze über die arch zu genügen haben, so unterstellt er die darin ausgedrückte Anschauung offenbar als die gemeinsame Anschauungsweise. Es ist zwar nicht mehr rekonstruierbar, ob Thales dieser Annahme seines Schülers zugestimmt hätte; aber so wie Anaximander sie einführt – als Bedingung der Sätze über die arch und als Begründung für seinen »Satz vom Apeiron« –, setzt sie voraus, dass Thales ihr hätte zustimmen müssen. Als eine solche gemeinsame und selbst unbefragte Weltanschauung formuliert sie das ›Band‹, hinsichtlich dessen sich die Abfolge der epistemischen Grundsätze der ersten Philosophen als ein »gemeinsames Projekt« rekonstruieren lässt. Unter der Annahme eines unaufhörlichen Entstehens und Vergehens als gemeinsamer Bedingung lässt sich nun die Abfolge der epistemischen Grundsätze nicht nur als Abbruch und Neuanfang rekonstruieren, sondern als Vorgang der kritischen Prüfung der Grundsätze in Hinblick auf diese Bedingung. Anaximander stellt demnach das Wissen seines Vorgängers nicht überhaupt in Frage; vielmehr impliziert seine Infragestellung die kritische Prüfung des »Satzes vom Wasser« am gemeinsamen Maß der Annahme eines unaufhörlichen Entstehens und Vergehens. Sie stellt fest, dass der Satz dieser Bedingung nicht genügt. Denn, so die Kritik, wenn die arch von allem das Wasser wäre, so hörte hier das Entstehen auf, und das Wasser wäre selbst unentstanden. Da aber, der gemeinsamen Anschauung gemäß, das Entstehen nicht aufhört, kann die arch von allem nicht das Wasser sein. Hingegen genügt der »Satz vom Apeiron« dieser Bedingung, weil in ihm »to apeiron« eben das Unbegrenzte bezeichnet, das als solches die, selbst unentstandene, arch des unaufhörlichen Entstehens und Vergehens ist 32 . Während also Man kann Anaximander selbst eine solche Beweisführung wohl nicht zurechnen. Aber er muss eine vergleichende Überlegung zwischen Thales’ Aussage, die arch sei
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Thales’ »Satz vom Wasser« die Behauptung enthält, das unvorstellbare »Ur-« von allem sei, als Wasser, eine bestimmte Vorstellung – und damit das Unvorstellbare vorstellbar –, widerspricht Anaximander dieser Behauptung: das unvorstellbare Ur- von allem muss selbst ein Unvorstellbares sein 33 . Dieser Bedingung aber genügt der unbestimmte Begriff: »to apeiron«. Demnach stellt Anaximenes gleichfalls das Wissen seines Vorgängers nicht überhaupt in Frage; seine Kritik impliziert ebenfalls die Prüfung des »Satzes vom Apeiron« an der gemeinsamen Bedingung des unaufhörlichen Entstehens von allem: Zwar sagt dieser Satz aus, dass die arch von allem das Unbegrenzte ist; aber er sagt nicht aus, dass das Unbegrenzte die arch von allem ist. Er erklärt nicht, wie das unentstanden Unbegrenzte zugleich die arch des Entstehens von allem ist, wie also alles aus ihm als der arch entsteht. 34 Wenn Simplikios daher kommentiert, Anaximenes lasse die arch »nicht unbestimmt (aoriston) wie jener, sondern bestimmt (wrismenhn), indem Wasser, einerseits und der Begründung: »damit das Werden nicht aufhöre«, angestellt haben. Simplikios’ Erklärung, Anaximander habe »den Wandel der vier Elemente (tettarwn stoiceiwn) ineinander beobachtet (jeasameno@)« und daher »nicht eins von diesen als Grundlage annehmen wollen« (zu Aristoteles, Physik 24, 21), dürfte jedenfalls nicht richtig sein. Denn diesen Wandel hat er gewiss nicht beobachtet; und hätte er ihn beobachtet, hätte er die Beobachtung nicht als Begründung verwendet. – Vgl. dazu: Kirk 1994, 141; Capelle 1968, 82. 33 Folglich ordnet Anaximander dem Apeiron auch bloß negative Eigenschaften zu: »un-sterblich« (ajanaton) und »un-vergänglich« (anwlejron) (Aristoteles, Physik III 4, 203b 6 ff.), vielleicht auch »ewig« (aidion) und »nicht-alternd« (aghrw) (Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 6. Zit. nach: Kirk 1994, 116). 34 Gegen diese Kritik lässt sich einwenden, dass zwar der »Satz vom Apeiron« die Frage nach dem ›Wie‹ des Entstehens nicht beantwortet, aber der sog. »Spruch des Anaximander«: »kata to crewn« (gemäß der Notwendigkeit), der das Entstehen und Vergehen als eine Art von Strafe und Vergeltung beschreibt. Doch wie immer man diesen Spruch interpretiert, ob als eine mythisch-religiöse Aussage über die Schuld all dessen, was ist, oder als Übertragung der politischen Rechtsvorstellungen von Schuld und Strafe auf das, was ist, – aus der Perspektive der anaximeneischen Kritik jedenfalls fehlt zwischen diesen zwei Sätzen der innere Zusammenhang. Aus dieser Perspektive lässt sich sogar sagen, Anaximander habe deshalb auf solche Vorstellungen zurückgreifen müssen, weil der Satz vom Apeiron selbst keine Erklärung des Wie des Entstehens enthält. – Würden wir mit Aristoteles (Physik I 4, 187a 20) annehmen, dass aus dem Einen, dem Apeiron, die Gegensätze sich aussondern (ekkrinesjai), oder mit Simplikios (zu Aristoteles, Physik 24, 21), dass sie sich absondern (apokrinesjai), dann müsste das Apeiron die Gegensätze schon als ein in sich Gemischtes (migma) oder als ein in sich Begrenztes enthalten. Dies aber widerspricht dem Begriff des Apeiron als des schlechterdings Unbegrenzten. – Vgl. zum »Ausscheiden der Gegensätze«: Hölscher 1968, 9–25; Kirk 1994, 140 ff. A
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er die Luft als Urgrund erklärt« 35 , so könnte dieser Kommentar durchaus die Überlegung des Anaximenes gewesen sein. Auf das gemeinsame Problem der ersten Philosophen, wie unter der Bedingung des unaufhörlichen Entstehens die Frage nach der arch zu beantworten sei, gibt Anaximenes eine genial-einfache Antwort. In seinem »Satz von der Luft« hat der Ausdruck »Luft« (pneuma kai ahr) einerseits die Bedeutung des Unbegrenzten: die Luft ist selbst unentstanden und unbegrenzt; sie ist andererseits aber die arch von allem so, dass durch ihre Verdichtung (puknwsi@) und Verdünnung (araiwsi@) alles entsteht 36 . Die Luft hat so die Bedeutung, dass nicht nur alles aus ihr, sondern auch durch sie, als Verdichtung und Verdünnung, entsteht. Anaximenes’ »Satz von der Luft« ist also hinsichtlich dessen, was die arch ist, unbestimmt genug, um der Bedingung des unaufhörlichen Entstehens zu genügen; und er ist bestimmt genug, um die Bedingung des Entstehens von allem aus der arch zu erfüllen. Weil in diesem Satz der Ausdruck »Luft« (pneuma kai ahr) die unvorstellbar-vorstellbare arch bezeichnet, aus der alles entsteht 37 , ist der »Satz von der Luft« ein epistemischer GrundSimplikios zu Aristoteles, Physik 24, 21 (Zit. nach: Capelle 1968, 95). So Simplikios zu Aristoteles, Physik 24, 26 ff. – Die Frage der Authentizität lässt sich heute wohl nur dadurch beantworten, dass Simplikios (zu Aristoteles, Physik 149, 32) bemerkt, Theophrast habe bei Anaximenes zuerst von Verdünnung und Verdichtung gesprochen. – Vgl. dazu: Kirk 1994, 161 f., Anm. 37 Gegen unsere Darstellung der Luft als »unvorstellbar-vorstellbarer arch« lässt sich einwenden, es sei nicht denkbar, dass ein und dasselbe zugleich unvorstellbar und vorstellbar sei. Diesem Einwand entspricht das weitgehend abschätzige Urteil über Anaximenes, er habe wieder ›Grob-Sinnliches‹ zum Prinzip gemacht und sei daher hinter Anaximander zurückgefallen. Anaximenes mag ein guter »Naturwissenschaftler« gewesen sein, war aber ein schlechter Philosoph. Gehen wir von unserer epistemologischen Problemstellung aus, dann kann dieser Einwand nicht überzeugen. Denn Anaximander behauptet zwar, dass die arch von allem das Unbegrenzte sei, dass aus ihm alles entstehe, und dass dieses Entstehen gesetzmäßig sei; aber er kann diese drei Behauptungen nicht in einem Grundsatz zusammenfassen. Anaximenes’ Grundsatz hingegen schließt alle drei ein: Die Luft ist das Unbegrenzte; sie ist das, aus dem alles entsteht; und sie ist das, woraus nach ihrem Gesetz der Verdickung und Verdünnung alles entsteht. Evident ist, dass der Ausdruck »Luft« nichts »Stoffliches« bedeutet – Anaximenes hätte gefragt, was das heißt –; dass er aber auch keine sinnliche Vorstellung bezeichnet, denn diese sollen ja erklärt werden. Anaximenes’ Satz zwingt also, die Luft als das aufzufassen, was Gedachtes und Vorgestelltes, Begriffliches und Sinnliches ist. Insofern ist es nicht richtig, Anaximenes’ Satz als einen ›Rückfall‹ in Sinnliches zu bezeichnen. Der Einwand jedoch, Anaximenes’ Satz vereinbare, so verstanden, Unvereinbares, legt der Beurteilung einen späteren Maßstab an, der dem Problem der ersten Philosophen fremd ist. 35 36
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Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
satz, der in sich selbst die Regel enthält, nach der die gegebenen Vorstellungen Wissen repräsentieren: als Verdichtungen oder Verdünnungen der Luft 38 . Mit dem »Satz von der Luft« ist, so nehmen wir an, das Problem der ersten Philosophen (twn prwton yilosoyhsantwn) gelöst und das gemeinsame Projekt, die Frage nach der arch von allem unter der Bedingung der Unaufhörlichkeit des Entstehens zu beantworten, abgeschlossen. Dieser Satz erfüllt erstens das Kriterium dieser neuen Wissensart, die Frage nach der arch nicht durch die Vergegenwärtigung eines vorhandenen epistemischen Codes, sondern durch das Geben eines Satzes, nicht durch das entrückte »arcaiologein«, sondern durch das wache »logon didonai« zu beantworten; er ist von Anaximenes selbst gegeben worden. Er erfüllt zweitens die gemeinsam angenommene Bedingung des unaufhörlichen Entstehens von allem: die Luft ist das selbst Unbegrenzte, aus dem alles unaufhörlich entsteht. Und er besitzt zum dritten die Funktion eines epistemischen Grundsatzes: er enthält die Regel, nach der Wissen erzeugt wird. Nach ihm repräsentieren diejenigen gegebenen Vorstellungen Wissen, die als Verdichtungen oder Verdünnungen von Luft vorgestellt sind. In diesem Satz sind »Zustimmung und Widerspruch gegenüber den Lehren der Vorgänger … zu einer Korrektur [vereinigt], in welcher der berichtigte Gegenstand zugrunde geht, um in anderer Gestalt neu zu erstehen« (Fränkel 1955, 187).
II. Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden« Es scheint, als gehöre der »Satz vom Seienden«, den Parmenides aufgestellt hat, auch in die Reihe der Grundsätze der »ersten Philosophen«. Denn Parmenides stellt gleichfalls die Sätze der Vorgänger in Frage und gibt selbst einen neuen Satz: den »Satz vom Seienden«. Mit diesen zwei Merkmalen endet jedoch die Gemeinsamkeit. Parmenides ändert durch seinen Satz diese neue Art zu wissen so grundlegend, dass es unzutreffend wäre, ihn in die Reihe der ersten PhiWie fruchtbar dieser Satz als epistemisches Gesetz war, belegen die kosmo-, meteoround psychologischen Erklärungen, die Anaximenes zugeschrieben werden. Ihnen liegt dasselbe Prinzip, der »Satz von der Luft«, zugrunde.
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losophen einzuordnen. Er gilt als der »Vater« der Logik und der Ontologie, und letztlich auch der Wissenschaften. Mit ihm, sagt Hegel, habe »das eigentliche Philosophieren angefangen« (Hegel 1969, Bd. 18, 290). Es muss uns also darum gehen, Parmenides’ »Satz vom Seienden« als eine erneute Grundlegung von Wissen aufzufassen. Im Folgenden stehen daher weder Parmenides’ onto- und kosmologischen Aussagen über das Seiende und die Welt im Mittelpunkt, noch soll ideengeschichtlich ihrer Herkunft nachgegangen werden. Stattdessen wollen wir das Begründungsverfahren rekonstruieren, durch das der »Satz vom Seienden« als epistemischer Grundsatz aussagt, was überhaupt Wissen bzw. Wissen überhaupt ist. Wir werden Parmenides also als den ersten Epistemologen thematisieren, der keine Aussagen über etwas macht, sondern begründet, was Wissen ist. Hierzu soll im ersten Teil Parmenides’ Kritik an den Grundsätzen der ersten Philosophen und im zweiten Teil der »Satz vom Seienden« und seine epistemologische Begründung nachvollzogen werden.
A. Kritik der »ersten Grundsätze« Suchen wir, um die Art der Kritik von Parmenides an seinen Vorgängern bestimmen zu können, in einem ersten Schritt nach dem Ort seiner Kritik. Die nächstliegende These wäre, dass Parmenides den ersten Philosophen in der Frage nach der arch folgt, mit dem »Satz vom Seienden« aber eine neue Antwort gibt. Nachdem Anaximenes die arch als Luft bestimmt hat, kehrt Parmenides wieder zur abstrakteren Bestimmung zurück; er bestimmt die arch jedoch nicht, wie Anaximander, als Apeiron, sondern, einfacher, als: to eon. Doch diese These kontrastiert so sehr mit dem, was Parmenides’ »Satz vom Seienden« aussagt, dass sie kein angemessenes Fundament der Interpretation abgibt. 39 Gehen wir daher davon aus, dass der »Satz vom Seienden« sich nicht in den Kontext der ersten Philosophen einreiht, so lässt sich annehmen, er sei als Antwort auf eine neue Frage zu verstehen. Statt nach der arch von allem zu fragen, fragt Parmenides nach dem, was alles ist, und antwortet darauf mit seinem »Satz vom Seienden«. DaDiese These hat J. Stenzel vertreten: er nimmt an, dass »das starre, feste, allem zugrunde liegende Sein« des Parmenides »die arch auch alles dessen (sei), was in diesem Ganzen geschieht, sich verändert, entsteht, vergeht.« (Stenzel 1971, 54).
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von ausgehend kann man nun nach den Ursachen und Gründen für diese neue Frage suchen. Es ließe sich anführen, dass sie in einem anderen geistig-kulturellen Umfeld entstanden ist: anders als die Ionier, die ›geborene Naturforscher‹ waren, sind die Italer ontologisch orientiert gewesen. Im Zentrum ihres Denkens sei nicht die AnfangsFrage, sondern die Seins-Frage gestanden. Zum Beleg kann auf Einflüsse der pythagoreischen Zahlenlehre oder der Theologie von Xenophanes auf die Entstehung der parmenideischen Seinslehre verwiesen werden. – Man kann aber auch anführen, dass sowohl die Entstehung seines Lehrgedichts als auch Parmenides’ Gewissheit des unfehlbar Erkannten nicht anders zu erklären sind, als dass sie Ergebnis einer ursprünglich erfahrenen Wahrheit seien. Der Gehalt des Lehrgedichts, die Fahrt zur Göttin und die Rede der Göttin, wie auch der Gesamtzusammenhang seiner Seinslehre seien nur als Darstellung einer ursprünglichen Erfahrung erklärbar. Diese Erfahrung ließe sich als ein »Geschick des ›Seins‹«, als »eine lichthafte Erscheinung, die seinen Geist umgab und durchdrang« oder als »Erlebnis des Transzendenten« beschreiben 40 . – In beiden Fällen wäre es so, dass der Ort von Parmenides’ Seinslehre nicht der Ort der Kritik an den Grundsätzen der Vorgänger wäre, sondern dass er unabhängig davon in einem anderen, eigenen Kontext stünde. So sinnvoll diese Ortszuschreibungen sein mögen, so bleibt bei diesen Interpretationen doch die geschichtliche Wirkung des parmenideischen Denkens unterbestimmt. Sie geben zwar detaillierte Einblicke in die damalige Situation und Konstellation des Denkens; sie können aber nicht verdeutlichen, worin die Bedeutung dieser Lehre liegt, die Parmenides zum »Vater der Philosophie« gemacht hat. Um dieser Wirkung zu entsprechen, möchte ich den Ort seiner Seinslehre zum einen in Bezug zu den Grundsätzen seiner Vorgänger setzen, ihr zum anderen jedoch eine andere und neue Ebene zuweisen. Diese soll als »epistemologische Meta-Ebene« bezeichnet werden. Auf ihr werden keine Antworten gesucht oder gegeben – weder auf die Frage nach der arch von allem noch auf die Frage nach dem eon –; auf ihr M. Heidegger, Moira (Parmenides, Fragment VIII, 34–41). In: Heidegger 1954, 251 ff. – W. J. Verdenius, Parmenides’ Conception of Light. In: Parmenides 1985, 57. – Mansfeld 1964, 273. – F. Nietzsche behauptet in kritischer Absicht, »Parmenides hat, wahrscheinlich erst in seinem höheren Alter, einmal einen Moment der allerreinsten, durch jede Wirklichkeit ungetrübten und völlig blutlosen Abstraktion gehabt« (Nietzsche 1994, 39 f.). Siehe auch: M. Theunissen, Die Zeitvergessenheit der Metaphysik. Zum Streit um Parmenides, Fr. 8.5–6a. In: Theunissen 1991, 117.
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werden vielmehr die epistemischen Grundsätze selbst zum Gegenstand genommen und einer kritischen Prüfung unterzogen. Diese Ortszuschreibung impliziert die These, dass Parmenides die bisherige Art zu wissen weder fortgeführt noch erneuert, sondern sie als ein grundsätzlich unangemessenes Verfahren der epistemischen Gesetzgebung kritisiert hat 41 und mit dieser Kritik zum »Vater der Philosophie« geworden ist. 1.
Die »ersten Grundsätze« als etera
In Fr. 8, 6 f. seines Lehrgedichts lässt Parmenides die Göttin im Rahmen ihrer Aussagen über die Merkmale des Seienden zwei Fragen stellen: tina gar gennan dizhseai autou; ph pojen auxhjen? (denn welches Entstehen desselben wirst du suchen wollen; wie, woher sollte es gewachsen sein?) Von welcher Art nun sind diese Fragen der Göttin nach dem Entstehen? – Erinnern wir uns: die Annahme des unaufhörlichen Entstehens von allem war die gemeinsame und unbefragte Bedingung, unter der die ersten Philosophen nach der arch gefragt und sie durch ihre Grundsätze beantwortet haben. Wenn Parmenides die Göttin nun ebenfalls fragen lässt, so fragt sie nicht, um nach Art der ersten Philosophen eine andere, neue Antwort zu geben, sondern um die Frage nach der arch selbst, nach dem Wie und Woher des Entstehens, in Frage zu stellen. Während für jene die Annahme des Entstehens von allem fraglos gültig war, ist sie für Parmenides eine selbst fragwürdige Annahme, die ihrerseits Bedingungen zu unterwerfen ist, um ihren epistemischen Wert zu überprüfen. Vollziehen wir die Einwände gegen diese Annahme anhand einer kritischen Prüfung der »ersten Grundsätze« nach. Diese Grundsätze sind vom Typ: »Die arch pantwn ist …«. Formulieren wir nun mit Parmenides’ Göttin die folgende Alternative: entweder ist diese arch, aus der alles entsteht, Nicht-Seiendes (mh eon), oder sie ist Seiendes (eon). – Gesetzt nun, die arch ist nicht-seiend 42 , so Vgl. auch H. Fränkel, der Parmenides’ Lehre »als eine Korrektur der … arch-Lehren überhaupt« (Parmenides und Anaximander. In: Fränkel 1955, 193) interpretiert hat, sowie W. Schadewaldt: »So ist seine [Parmenides’] ganze Lehre gerichtet gegen die Grundlagen des milesischen Denkens.« (Schadewaldt 1978, 326) 42 Die Passage lautet (Fr. 8, 7–11): »Ich werde nicht zulassen, ›aus Nichtseiendem‹ zu sagen oder zu denken; denn weder zu sagen noch zu denken ist, was gar nicht ist. Wel41
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ist entweder, wie sie sagt, »aus Nicht-Seiendem« (ek mh eonto@) gar nicht zu sagen oder zu denken, oder aber es müsste einen »Zwang« (creo@) geben, der treibt, das Entstehen vom Nicht-Seienden anzufangen. Einen solchen Zwang vom Nicht-Seienden anzufangen aber, müssen wir ergänzen, gibt es nicht 43 . Also kann die arch nicht nichtseiend bzw. Nicht-Seiendes nicht die arch sein. – Gesetzt hingegen, die arch ist seiend, so müsste das, was »aus Seiendem« entsteht, »etwas über dasselbe hinaus« (ti par’ auto) sein. Dies aber, dass etwas über Seiendes hinaus entsteht, lasse die »Stärke der Überzeugung« (pistio@ iscu@) nicht zu 44 . Also kann die arch nicht seiend bzw. Seiendes nicht die arch sein. – Der Satztyp: »Die arch pantwn ist …« nimmt, so das Fazit, Unmögliches an; denn die arch kann weder Nicht-Seiendes noch Seiendes sein. Nun lassen sich die Grundsätze der ersten Philosophen gegen diese Kritik durch den Nachweis verteidigen, dass sie von ihr nicht getroffen sind. Denn diese Sätze drücken weder aus, dass die arch von allem nicht-seiend ist, noch dass sie seiend ist, sondern dass sie beides ist: nicht-seiend und seiend. Insofern die arch das ist, aus dem alles, was ist, entsteht, ist sie nicht-seiend (weil das, woraus alles Seiende entsteht, nicht ebenfalls seiend sein kann); insofern jedoch aus der arch alles, was entsteht, ist, ist sie seiend (weil aus NichtSeiendem nichts entsteht). Demnach ginge die Kritik an dem vorbei, was die Grundsätze aussagen: sie trennt, was nur zusammen gilt. Nun lässt sich jedoch gegen diese Verteidigung ein Einwand formulieren, der das Ziel der Kritik erreicht, und der auch das Kriterium nennt, das Parmenides zur Prüfung epistemischer Grundsätze aufstellt. Gehen wir dazu vom eben Gesagten aus: Die Grundsätze drücken beides aus: die arch als nicht-seiend und seiend. Gegen diese cher Zwang sollte es auch getrieben haben, früher oder später, vom Nichts anfangend, zu entstehen? Also besteht der Zwang, dass es entweder gänzlich ist oder gar nicht.« – Hier wie im Folgenden wird zitiert nach: Parmenides 1985. 43 Diese Ergänzung: »den ›Zwang vom Nicht-Seienden anzufangen‹ gibt es nicht« lässt sich entweder als direkte Folge der Behauptung deuten, dass weder zu sagen noch zu denken ist, was gar nicht ist; oder als Beweis: gesetzt, es gäbe den »Zwang von NichtSeienden anzufangen«, dann wäre die arch nicht nichts, sondern etwas; dies aber widerspricht der Voraussetzung, dass die arch nicht-seiend ist. 44 Die Passage lautet (Fr. 8, 12–13): »Und auch nicht ›aus Seiendem‹ wird die Stärke der Überzeugung zulassen, dass etwas über dasselbe hinaus entsteht.« – Diese »Stärke der Überzeugung« können wir uns vorläufig so erklären, dass das »Über Seiendes hinausEntstehende« ebenfalls Seiendes ist. (Vgl. Fr. 8, 25: Seiendes schließt an Seiendes an«). Denn wenn Seiendes aus Seiendem entsteht, dann ist Seiendes. A
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Aussage lässt sich nun mit Parmenides’ Göttin der Einwand der Inkonsistenz erheben. Denn was auch immer diese Grundsätze aussagen, sie selbst sagen aus, dass Nicht-Seiendes und Seiendes dasselbe ist. Als die arch, woraus alles Seiende entsteht, ist sie nicht-seiend; als das Wasser, das Apeiron oder die Luft hingegen ist sie seiend; und doch wird in diesen Sätzen ausgesagt, dass beides dasselbe ist, z. B.: »die arch ist Wasser«. Zum einen ist also das Ausgesagte ein mh auton: die arch nicht-seiend, das Wasser seiend; zum anderen aber ist das Ausgesagte ein auton: »die arch ist Wasser«. Weil also die Grundsätze selbst dies Eine aussagen: nicht dasselbe ist dasselbe 45, so sind sie, wie ich es nennen möchte, selbst Andere, etera 46 . Dieser Einwand der Inkonsistenz trifft die Grundsätze der ersten Philosophen zwar nicht auf der epistemischen Ebene, auf der es um die Frage nach der arch geht. Er trifft sie aber auf der epistemologischen Ebene. Denn auf dieser Ebene werden nicht Sätze gegeben, sondern auf ihre innere Konsistenz geprüft. – Nun haben wir jedoch gesehen, dass die Grundsätze der ersten Philosophen zwei epistemische Funktionen erfüllt haben: sie codierten Wissen, und sie dienNach unserer Interpretation trifft, was die Göttin in Fr. 6, 7 ff. allgemein über die »Törichten« (kwyoi) sagt, auch auf die ersten Philosophen zu, dass nämlich »ihnen Seiendes und Nichtseiendes als dasselbe gilt und nicht als dasselbe« (oi@ to pelein te kai ouk einai tauton nenomistai kou tauton). – Dieser Satz ist anders ausgelegt worden. So übersetzt L. Tarán: »Being and non-Being each one being a tauton and when compared with the other a mh tauton« (Tarán 1965, 64 f.). U. Hölscher liest: sie glauben, »dass etwas ›sowohl ist, wie auch nicht ist‹, dass es ›dasselbe ist und nicht dasselbe‹«. Hölscher will also – im Anschluss an K. Reinhardt – vor ›tauton‹ interpungieren (Hölscher 1968, 102 f.). – Diese Deutung – die zudem in den Text eingreifen muss – bringt jedoch Parmenides’ Kritik um ihre Pointe. Wäre es so, dass Parmenides’ Göttin sagt: sie glauben, dass etwas sowohl ist, wie auch nicht ist, sowohl dasselbe ist als auch (when compared with the other) nicht dasselbe ist, so wäre nicht einsichtig, warum sie diese urteilsfähige Spezies einen »urteilslosen Haufen« (akrita yula) und den Weg, den sie gehen, »rücklaufend« (palintropo@) nennt. Sie wüssten ja zu urteilen: das eine ist das eine, und das andere ist das andere. Unseres Erachtens hat Hegel den springenden Punkt der Kritik richtig erfasst: Ihr, der Törichten, Weg »ist eine sich immer widersprechende, sich auflösende Bewegung. Der menschlichen Vorstellung gelte jetzt dies für das Wesen, jetzt sein Gegenteil, und dann wieder eine Vermischung von beiden, – ein beständiger Widerspruch.« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 288). 46 Parmenides selbst verwendet den Ausdruck »to eteron« in diesem Zusammenhang nicht; dies tut erst Platon im »Parmenides« (143b). Ich meine jedoch, dass der Ausdruck das Intendierte: »tauton kou tauton« gut trifft. – In Fr. 8, 58 verwendet Parmenides die Formulierung: ewutw pantose twuton, tw d’ eterw mh twuton (demselben völlig dasselbe, dem anderen nicht dasselbe). Zu dieser Stelle siehe U. Hölschers Interpretation: »Jedes der beiden ist ein ›Anderes‹.« (Hölscher 1968, 107). 45
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ten der Erklärung. Ihre Codierungsfunktion erfüllten sie, weil in ihnen das, was sie aussagen, unauflöslich Eines ist: die arch von allem ist Wasser. In dieser Hinsicht unterstehen sie selbst der Konsistenzbedingung. Die Erklärungsfunktion jedoch erfüllten sie, weil das, was sie aussagen, auf die Welt der gegebenen Vorstellungen bezogen ist. So gab der Grundsatz: »die arch von allem ist Luft« die Regel, um die Entstehung von allem aus Luft zu erklären. Parmenides’ Einwand lässt sich nun so deuten, dass beide Funktionen einander widersprechen, weil die Erfüllung der einen Funktion zugleich die der anderen ausschließt. Denn die Konsistenzbedingung erfüllt nur der Satz: »die arch von allem ist – die arch von allem«. Dieser drückt zwar ein unauflösliches auton aus, ihm fehlt aber die Erklärungsfunktion. Diese hingegen erfüllt zwar der Satz: »die arch von allem ist – Luft«, da alles Entstehen aus Luft erklärt werden kann; aber er widerspricht der Konsistenzbedingung, weil er kein unauflösliches auton, sondern nur ein Verschiedenes, ein eteron ausdrückt. Daher sind die Sätze der ersten Philosophen nicht, was sie vorgeben: epistemische Grundsätze. 2.
Die Heteronomie des »Wissens der Sterblichen«
Parmenides belässt es nicht bei der Kritik dieser Grundsätze, sondern gibt für sie auch eine Erklärung. Die Ursache solcher »etera« sei, wie er die Göttin in Fr. 7 sagen lässt, die »vielerfahrene Gewohnheit« (ejo@ polupeiron). Sie veranlasse, »das ziellose Auge, das wiederhallende Ohr und die Zunge« zu verwenden. Auf dieser Gewohnheit, so können wir ergänzen, gründet die Annahme, alles habe ein Entstehen und Vergehen, und Wissen müsse daher Erfahrungswissen, das Gewusste sichtbar, hörbar und sprechbar, sein. Diese Gewohnheit sei jedoch eine fremde Macht. Denn sie führe vom Wissen weg auf eine Bahn, auf der »nichtswissende Sterbliche umherirren« und »Ratlosigkeit den irrenden Verstand lenkt«. – Beziehen wir diese Erklärung auf jene Grundsätze, so ist es also die »Gewohnheit«, die Sinne zu verwenden, welche die ersten Philosophen auf den Weg geführt hat, Nicht-Seiendes mit Seiendem, die unvorstellbare arch mit Vorstellbarem ineinszusetzen und zu unterscheiden und so zu sich widersprechenden Grundsätzen zu gelangen. Diese Erklärung, die Parmenides die Göttin als Ursache der »etera« anführen lässt, scheint nun aber der Erklärung zu widerA
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sprechen, die wir für die ersten Grundsätze gegeben haben. Denn für uns war es nicht die Erfahrung, die Thales zu seinem Grundsatz geführt hat, sondern »Thales selbst«, der ihn gegeben hat. Diese Erklärung aber bestreitet Parmenides implizit, wenn er nicht das ›SelbstGeben‹, sondern die fremde Macht der »vielerfahrenen Gewohnheit« als Ursache dieses Satzes annimmt. Uns galt das Subjekt als autonom, weil es den Satz selbst gibt; für Parmenides hingegen ist es heteronom, weil es einer fremden Macht unterliegt. Ist diese Gegensätzlichkeit beider Erklärungen zu vereinbaren? Ihre Vereinbarkeit erscheint dann als möglich, wenn man präzisiert, was in den beiden Fällen unter dem »Subjekt« verstanden wird. Parmenides’ Göttin nennt die Subjekte, die der Macht der Gewohnheit unterliegend irren, »die Sterblichen« (oi brotoi), so dass der Weg, der zu jenen sich widersprechenden Grundsätzen führt, der »Weg der Sterblichen« ist. Wenn diese Sterblichkeit nun der Grund ist, warum sie – der Gewohnheit gehorchend, die Sinne zu gebrauchen – urteilslos Seiendes und Nicht-Seiendes für dasselbe und nicht für dasselbe halten, dann stehen nicht nur ihr Denken und Sagen, sondern diese Subjekte selbst unter einer fremden Macht. Sie selbst sind heteronom: geboren und sterbend, seiend und nicht-seiend, und stehen – im Gegensatz zur unsterblichen Göttin – unter dem Gesetz des Entstehens und Vergehens. Als Sterbliche unterliegen sie einer Macht, die sie zwingt anzunehmen, alles entstehe und vergehe, und kommen daher, urteilslos, zu in sich widersprechenden Grundsätzen. Die Inkonsistenz der ersten Grundsätze hat folglich ihre Ursache in der Macht der Gewohnheit, die Sinne zu gebrauchen; aber dieser Gebrauch ist nicht willkürlich, sondern hat seinen Grund in der Sterblichkeit dieser Subjekte. Die Inkonsistenz ihrer Sätze ist die Art, in der die Sterblichen wissen. 47 – Diese Sterblichkeit haben nun aber auch wir angenommen. Sie diente uns zwar nicht, die Inkonsistenz der Sätze zu erklären, aber die Kontingenz des Anfangs der Philosophie als historischer Tat sowie die Diskontinuität der ersten Philosophie als Abbruch und Neubeginn. Insofern ist beide Male die Annahme der Sterblichkeit das Argument, das einen Mangel der ersten Unsere Interpretation setzt voraus, dass die Aussagen über die »nichtwissenden Sterblichen«, über die »Doppelköpfigen, die taub, blind und urteilslos dahinschwanken«, keine Polemik Parmenides’ gegen irgendwen sind, sondern als Aussagen der Göttin die Art beschreiben, wie Sterbliche wissen. Siehe dazu die erhellenden Ausführungen von K. Reinhardt: Reinhardt 1959, 64 ff. Vgl. auch: H. Schwabl, Sein und Doxa bei Parmenides. In: Gadamer 1968, 409.
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Philosophie – einmal die Inkonsistenz ihrer Sätze, zum anderen die Kontingenz der neuen Wissensart – erklärt. Auf Grundlage dieser Sterblichkeit der Subjekte entsprechen sich nun aber beide Erklärungen. Denn auch Parmenides’ Göttin erklärt die ersten Sätze als freie Setzungen, die als solche freilich nur eine trügerische Ordnung vorstellen, in der Meinung, sie seien Wissen 48 . Während wir auf diese freie Setzung jedoch ihre epistemische Geltung als Grundsätze zurückgeführt haben, ist sie für die Göttin Ausdruck der Ratlosigkeit des irrenden Verstandes der Sterblichen. Die Grundsätze der ersten Philosophen, so können wir beide Erklärungen zusammenfassen, sind nur scheinbar Setzungen autonomer Subjekte; sie sind ›in Wahrheit‹ Setzungen heteronomer, d. h. sterblicher Subjekte, die als solche keine konsistenten und dauerhaften Grundsätze zu geben vermögen. Akzeptieren wir diese Kritik der bisherigen Grundsätze und deren Erklärung, so stellt sich folgendes Problem: wenn es sterblichen Subjekten unmöglich ist, Wissen in Gestalt von Sätzen zu codieren, weil sie dazu ihrer sterblichen Natur nach unvermögend sind, dann kann ein Satz, der Wissen konsistent und dauerhaft codiert, nicht von der Art der Grundsätze Sterblicher sein. Wie aber ist ein solcher Satz möglich, wenn man annimmt, dass Parmenides, der einen solchen Satz gibt, selbst sterblich ist? Dieser Problemstellung gehen wir in Folgenden nach.
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Der »Satz vom Seienden«
Nach unserer Darstellung der Kritik der ersten Grundsätze ist es einfach, den Satz zu finden, der die parmenideische Konsistenzbedingung erfüllt: »einai esti, mh einai ouk esti. Er sagt schlicht aus: Seiendes ist; und Nicht-Seiendes ist nicht. Dieser sog. »Satz vom Seienden« ist kein »eteron«, sondern ein »auton«. Er ist leicht zu finden, weil er so einfach ist 49 . Siehe Fr. 8, 38 f.: »Wortbildend ist alles, was die Sterblichen festgesetzt haben, in der Überzeugung, wahr zu sein: Entstehen und Vergehen, Sein und nicht …«; Fr. 1, 30: »Annahmen der Sterblichen, denen nicht die eine wahre Überzeugung innewohnt, …« und in Fr. 6, 8 der Ausdruck »nenomistai«. 49 Daher ist das Geraune um diesen Satz schwer nachzuvollziehen, mit dem ihn etwa K. Jaspers umgibt: »Das Selbstverständlichste ist das Rätselvollste, aber auch das Klarste … Der leerste Gedanke bedeutet das Ungeheuerste …« (Jaspers 1959, 640 f.) Zu einer 48
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Betrachten wir diesen Satz auf dem Hintergrund jener Kritik, so stellt er zunächst nur das Unauflösliche als Satz dar. Denn er sagt nichts anderes aus, als dass das, was ist, ist (und das, was nicht ist, nicht ist). Er vereint nicht verschiedenes, sondern dasselbe. In diesem Fall bedarf die Annahme der Verbindung der Satzelemente keiner zusätzlichen Begründung, weil der Satz sie in seiner Struktur enthält bzw. zeichenhaft darstellt. Er ist keine doxa, der die Konsistenz fehlt, sondern – wie wir es nennen können – das axiwma. Dieser »Satz vom Seienden« ist nun in der Tat von anderer Art als die ersten Grundsätze. Denn diese vereinten, um ihre epistemischen Funktionen zu erfüllen, Verschiedenes, die unvorstellbare arch und Vorstellbares, Wasser oder Luft. Der »Satz vom Seienden« vereint jedoch – dasselbe. Er ist daher kein »eteron«, sondern ein »auton«. Er ist konsistent; dafür aber auch trivial, epistemisch bedeutungslos. Wenn diesem Satz daher, über die Konsistenzbedingung hinaus, auch die Bedeutung eines epistemischen Grundsatzes zukommen soll, er also Wissen repräsentiert, dann bedarf es dazu einer Begründung, die, nach dem Vorherigen, weder auf einen vorhandenen Code noch auf ein sterbliches Subjekt rekurrieren kann. Diese epistemologische Begründung des Satzes soll in zwei Schritten nachvollzogen werden: Im ersten Schritt wird Parmenides’ Göttin als die Instanz rekonstruiert, die die epistemische Geltung begründet; der zweite geht der Frage nach, wie Parmenides diesen Satz als epistemischen Grundsatz ausweist. 1.
Das autonome Subjekt: die Göttin
Die Kritik der ersten Grundsätze als »etera« verhindert, die bisherige Art, Grundsätze aufzustellen, weiterzuführen. Will man angesichts dieser aporetischen Situation am »Projekt Autonomie« festhalten, dann ergeben sich allein aus der beschriebenen Destruktion der bisherigen Grundsätze die entscheidenden Elemente für dessen Weiterführung. Soll der »Satz vom Seienden« nicht nur der Konsistenzbedingung genügen, sondern darüber hinaus ein epistemischer Grundsatz sein, dann bedarf es zu dessen Begründung der Annahme starken Behauptung kommt es erst, wenn darüber hinaus behauptet wird, der Satz beschreibe, was das Seiende ist, und habe also eine epistemische Bedeutung. Diese Behauptung ist in der Tat »ungeheuer«, aber nicht der Satz selbst.
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eines Subjekts, das erstens nicht sterblich ist wie Thales oder Anaximander, das also selbst nicht dem Gesetz des Entstehens und Vergehens unterliegt, sondern das ungeworden und unvergänglich ist; das zweitens die Ursache dafür ist, dass es so ist, wie der »Satz vom Seienden« aussagt, dass es sei; und das drittens der Grund ist, dass der »Satz vom Seienden« das aussagt, was ist. Kurz gesagt: es bedarf der Annahme eines schlechterdings autonomen Subjekts. a.
Qea: die »mitteilende Göttin«
Gehen wir mit dieser Vorgabe an das Lehrgedicht des Parmenides, so lassen sich zunächst zwei Teile unterscheiden: der erste beschreibt Parmenides’ Fahrt zur Göttin, der zweite Teil berichtet, was sie ihm gesagt hat 50 . Diese – »Qea« genannte – Göttin steht im Zentrum des Lehrgedichts. Sie empfängt Parmenides, und sie spricht zu ihm. Sie teilt ihm zu Beginn ihrer Rede mit, dass das, was er erfahren wird, »das unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« sei: Alhjeih@ eupeijeo@ atreme@ htor. Achten wir auf den epistemischen Status dieser Eingangsrede, so teilt sie ihm nicht dieses »Herz der Wahrheit« mit, sondern nur, dass das, was sie ihm sagen wird, das »Herz der Wahrheit« ist. Diese Aussage befindet sich epistemologisch auf einer Ebene, auf der sie Parmenides den epistemischen Status ihrer Rede mitteilt: dass ihre Rede zugleich die Mitteilung des »Herzens der Wahrheit« sein wird. Das aber bedeutet, dass die in dem Lehrgedicht »Qea« genannte Göttin nicht nur Urheberin ihrer Rede ist, sondern dass Parmenides das »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« auch in Form der Rede mitgeteilt wird 51 . Es bleibt allerdings offen, ob das, Im Folgenden beschränken wir uns auf den ersten Teil der Rede, in dem die Göttin das »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« mitteilt. Den zweiten Teil über die »Meinungen der Sterblichen« (doxai broteiai) lassen wir außer Acht. 51 Unsere Deutung unterscheidet sich von der Interpretation M. Heideggers. Für ihn steht nicht Qea, sondern Moira im Mittelpunkt, und der Moira-Satz (Fr. 8, 37 f.) gilt als »der Satz aller seiner Sätze«: epei to ge Moir’ epedhsen oulon akinhton t’ emmenai. Heidegger deutet Moira als »das Geschick des ›Seins‹ im Sinne des eon«, so aber, dass im Geschick das »Wesen der Alhjeia … verhüllt (bleibt).« (Heidegger 1954, 251 ff.). Diese Interpretation gelingt jedoch nur, weil Heidegger willkürlich einen Nebensatz ins Zentrum stellt und den systematischen Stellenwert des von uns zitierten Eingangssatzes außer Acht lässt. Dieser Satz sagt nicht aus, dass das »Wesen der Alhjeia« verhüllt wird, sondern dass Parmenides es erfahren soll: crew de se pujesjai. – Zudem gibt der Text keinen Anhaltspunkt, »die vernehmende Beziehung zum 50
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was die Göttin mitteilen wird, dies unerschütterliche Herz selbst ist, oder ob es von wohlüberzeugender Wahrheit ist. b.
Dikh: Die Göttin der »gerechten Gewalt«
Neben der »mitteilenden Göttin« wird »Dikh« genannt, die jedoch in zwei verschiedenen Rollen auftritt. Im ersten Teil des Gedichts nennt Parmenides die »Dikh polupoino@« (Fr. 1, 14), was sich mit »die vielstrafende« oder »die unerbittliche Dike« übersetzen lässt. Sie hat die Schlüssel zum Tor der Wahrheit und entscheidet durch Öffnen bzw. Schließen des Tores über den Zugang 52 ; ihr verdankt Parmenides den Eintritt ins ›Haus der Wahrheit‹. Im zweiten Teil des Gedichts jedoch ist Dikh die »bindende Gewalt«, von der die Göttin sagt (Fr. 8, 13–15), sie sei es, die das Entstehen und Vergehen abweist und das Seiende festhält. Parmenides selbst also erkennt im ersten Teil Dikh als die Göttin des Rechts 53, die über Recht und Unrecht entscheidet und als solche den Zugang zur Wahrheit gewährt oder verwehrt; im zweiten Teil hingegen spricht Qea von ihr als der Göttin der Gewalt, die als solche die mächtige Urheberin dessen sei, dass das Seiende ist, und Entstehen und Vergehen vertrieben sind. Sind diese Zitate aus den zwei Teilen des Lehrgedichts als Funktionsbeschreibungen ein und derselben Göttin zu verstehen? Von der Gewalt, die das Seiende bindet und fesselt und das Entstehen und Vergehen vertreibt, spricht Qea, die »redende Göttin«, neben der »Dikh« auch von der »kraterh anagkh« (Fr. 8, 30) und der »moira« (Fr. 8, 37). Da diese drei jedoch in gleicher Funktion genannt werden, nämlich das Seiende zu binden, fällt es schwer, sie als drei verschiedene Göttinnen zu verstehen. Sie sind vielmehr drei ›Aspekte‹ der einen, das Seiende fesselnden Gewalt. Während der Ausdruck »kraterh anagkh« die Stärke und Unüberwindlichkeit Anwesen des Anwesenden«, wie Heidegger behauptet, »als ein Sehen (eidenai)« zu bestimmen (ebd.). Die Göttin fordert Parmenides ausdrücklich auf, die gehörte Rede zu bewahren (Fr. 2, 1: komisai de su mujon akousa@). Die Verknüpfung des Vernehmens der Wahrheit mit dem Sehen ist ein Zusatz, der nicht die »vernehmende Beziehung« beschreibt, die Parmenides selbst beschreibt. 52 Für den schwer zu interpretierenden Satz (Fr. 1, 14): »twn de Dikh polupoino@ exei klhida@ amoibou@« hat H. Fränkel eine einleuchtende, sich in den Kontext einfügende Erklärung gegeben: »Dike lohnt durch Öffnen des Tors, und sie straft, indem sie es vor dem Eingang Suchenden verschlossen hält.« (Fränkel 1955,168). 53 H. Fränkel nennt Dikh »die Potenz des Rechts und der Richtigkeit« (Fränkel 1962, 401). – Siehe auch: Deichgräber 1958.
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Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
der Fesseln bedeutet 54 und »moira« das Geschick, das dem Seienden dadurch zuteil wird, 55 bezeichnet »Dikh« darüber hinaus und vor allem die Rechtmäßigkeit dieser Fesselung des Seienden. Durch »Dikh« ist, dass das Seiende ist und nicht wird, nicht nur notwendig und schicksalhaft, sondern gerecht. Ihretwegen ist die Gewalt, die das Seiende fesselt, nicht willkürlich, sondern rechtmäßig; durch sie ist sie gerechtfertigt. Die Bindung des Seienden, dass es ist und nicht wird, ist anagkaia kai dikaia; sie hat eine gerechte Ursache: Dikh. Diese ist daher als das schlechterdings autonome Subjekt zu verstehen, weil ihre Fesselung des Seienden zugleich nach ihrem Gesetz geschieht. So aber müssen die »unerbittliche Dike«, die im ersten Teil des Gedichts als Göttin des Rechts über den Zugang zur Wahrheit wacht, und die »bindende Dike«, die im zweiten Teil als Göttin der Gewalt das Seiende fesselt, als ›Manifestationen‹ der einen Göttin verstanden werden. Sie ist die Eine gerechte Gewalt, die sowohl lohnt und straft als auch bindet. 56 54 »Ananke ist hier auch insofern verschieden, als sie Muß ist, nicht Soll … Daher das Beiwort kraterh, das nicht stark bedeutet, sondern stärker, überlegen, zwingend.« (Fränkel 1955, 164, Anm.) 55 »Moira ist ein Muß der Bestimmung … Daher erscheint hier moira in Verbindung mit dem betonten to ge: gerade dieses hat Moira gebunden unbeweglich zu sein.« (ebd.) 56 Parmenides’ »Dikh« hat mit traditionellen Vorstellungen nichts zu tun. Denn nirgends ist »Dikh« so gedacht worden, dass sie das Entstehen und Vergehen verwehrt, sondern dass sie verteilt und ausgleicht. Noch Anaximander verwendet »dikh« und »adikia«, um die Rechtmäßigkeit von Entstehen und Vergehen auszudrücken (siehe: Fränkel 1955, 165). In Parmenides’ Lehrgedicht jedoch erscheinen Dikh und Qemi@, die alten Mächte der gerechten Ordnung und des Rechts, in der neuen Manifestation des Zwangs und der Gewalt gegenüber dem Seienden (vgl.: E. Heitsch, Logischer Zwang und die Anfänge der Beweistechnik. In: Hoermann 1975, 24 f.). Ideologiekritisch lässt sich ein plausibler Begründungszusammenhang zwischen den Attributen der Gewalt und des Rechts herstellen: Parmenides stellt das Verhältnis zwischen dem bestimmenden Subjekt und dem Seienden offen als ein Gewaltverhältnis dar. Das Seiende wird gefesselt, es wird gezwungen, zu bleiben und nicht zu werden. Um so notwendiger erscheint es da, diese Gewalt zu rechtfertigen. Dass Parmenides sie der Göttin des Rechts zuschreibt, wird, so gesehen, plausibel, weil durch sie die Ausübung der Gewalt als rechtens erklärt wird. Da Dikh als Göttin des Rechts selbst diese Gewalt ausübt, ist die Vergewaltigung des Seienden rechtens. – Durch feministische Patriarchatsanalysen sensibilisiert stellt sich uns die – hier nicht zu klärende – Frage, warum Parmenides diese Vergewaltigung durch das weibliche Geschlecht stattfinden lässt. Dikh, Moira, Anagkh sind klar erkennbar Göttinnen. Mythologisch aber war die Aufrichtung einer bleibenden Seinsordnung gegen das Walten von Entstehen und Vergehen männlich konnotiert: Tiamat, die babylonische Göttin des Entstehens und Vergehens,
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Das griechische »Projekt Autonomie«
c.
Eine »Göttin«
Die für unsere Rekonstruktion der parmenideischen Epistemologie entscheidende Frage ist nun, ob das Lehrgedicht im Kern von zwei Göttinnen handelt, von Qea, die sagt, sie werde Parmenides das »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« mitteilen, und von Dikh, von der Qea dann sagt, sie sei es, die das Seiende rechtens bindet; oder ob wir beide als personifizierte Attribute ein und desselben Subjekts interpretieren müssen. Sind also Reden und Tun auf zwei verschiedene Subjekte bezogen, so dass Qea über das Tun der Dikh redet, oder sind beide, die Mitteilung der Wahrheit durch Qea und die Bindung des Seienden durch Dikh, die Handlungen eines Subjekts? Da wir nicht unterstellen, Parmenides sei sein Begründungsdiskurs auseinandergefallen, nehmen wir an, dass sein Gedicht von einem unsterblichen Subjekt handelt. Um das Lehrgedicht als ein solch einheitliches Ganzes zu rekonstruieren, greifen wir erneut auf die Idee der Autonomie als Selbstgesetzgebung zurück. Wir beziehen sie jedoch nicht auf Philosophen als sterbliche Subjekte, sondern auf die parmenideische »Göttin« als das eine unsterbliche Subjekt. Sie dient uns daher nicht, Grundsätze als »freie Setzungen« zu erklären, sondern dazu, sowohl die Mitteilung, die Qea dem Parmenides über Dikh macht, als auch die gerechte Gewalt, die Dikh gegen das Seiende ausübt, als Handlungen eines Subjekts begreifen zu können. Bislang war für uns die Kernaussage der »mitteilenden Göttin«, dass sie Parmenides in ihrer Rede das »unerschütterliche Herz der Wahrheit« mitteilen werde. Es war offen geblieben, ob diese Mitteilung von wohlüberzeugender Wahrheit oder deren unerschütterwird durch Marduk, den Gott des »neuen Rechts«, bekämpft, besiegt und zerstückelt. Fesseln, Binden, Bezwingen etc. galten als »männliche Tugenden«. Warum lässt Parmenides dieses Geschäft Frauen verrichten? Liegt der Wahl das größere Vertrauen (»pistio@ iscu@«) zugrunde, das die weiblichen Gottheiten hatten? Der Zusammenhang von Gewalt und Recht wird auf den Kopf gestellt, wenn man das Verhältnis umkehrt, wenn also das Recht nicht der Gewalt, sondern die Gewalt dem Recht dient. So schreibt H. Fränkel: »Sie [Dikh] hält das Sein fest in seinem eigenen Wesen und seiner Reinheit, sie gibt es nicht frei wider seine eigene Natur zu werden und zu vergehen.« (Fränkel 1955, 173). Warum aber muss dann das Seiende durch kraterh anagkh und moira gefesselt werden? Warum sollte es »wider seine eigene Natur« werden und vergehen? Was wäre der ›widernatürliche Zwang‹ ? Der sowohl zwingende als auch schicksalhafte Charakter der Fesselung, die Parmenides beschreibt, wird nur verständlich, wenn sie umgekehrt als eine ›widernatürliche‹ und deshalb zu rechtfertigende Gewalt gegen die ›eigene Natur‹ zu werden und zu vergehen aufgefasst wird.
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Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
liches Herz selbst ist. Würden wir nun annehmen, ihre Mitteilung sei ›von wohlüberzeugender Wahrheit‹, so würde sie anderes als deren Herz mitteilen. Dies aber widerspricht dem, was die Göttin ankündigt. Nehmen wir daher an, dass die Göttin so, wie sie sagt, in ihrer Rede das »unerschütterliche Herz« mitteilt, so lässt sich dies zunächst in dem Sinne verstehen, dass das, worüber sie redet, das »Herz der Wahrheit« sei. Doch in ihrer Rede selbst teilt sie nichts über dieses Herz mit, sondern berichtet über anderes: über Dikh, die das Seiende bindet, und über das Seiende, was es ist, und was es nicht ist. Wenn nun aber das, was sie mitteilt, weder von wohlüberzeugender Wahrheit ist, sie aber auch nicht über das Herz der Wahrheit spricht, so bleibt nur die Annahme, dass ihre Rede selbst dieses »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« ist. Dieses Herz kann nichts von ihrer Rede verschiedenes sein; ihre Rede ist dies Herz, und dies Herz ist ihre Rede. Da nun aber die Göttin in ihrer Rede dieses »Herz der Wahrheit« mitteilt, muss die redende Göttin selbst das Herz der Wahrheit sein; d. h. sie muss in ihrer Rede sich selbst mitteilen. Ist nun aber die redende Göttin selbst das »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit«, dann kann Dikh, die Göttin der gerechten Gewalt, über die sie redet, kein anderes Subjekt als sie selbst sein. Denn sonst würde sie in ihrer Rede nicht sich als dieses Herz mitteilen, sondern würde über ein anderes Subjekt reden, das ausdrücklich nicht dieses »Herz der Wahrheit« ist. Parmenides’ Lehrgedicht erscheint daher in epistemologischer Hinsicht nur dann als konsistent, wenn die Rede der Göttin performativ ist 57 , wenn also Qea, die »redende Göttin«, und Dikh, die »tätige Göttin«, über die sie redet, ein und dasselbe Subjekt ist, wenn also die Ausschließung des Andersseins nicht nur für das Seiende, sondern auch für das Subjekt gilt 58 . vgl. dazu: Einleitung, III, A. 2. Da uns die Annahme unplausibel erscheint, Parmenides habe zwar hinsichtlich des Seienden alles Anderssein ausgeschlossen, hinsichtlich der epistemologischen Begründung jedoch eine Vielzahl von Göttinnen angenommen, bedarf es einer Erklärung der Vielzahl. Denn im Lehrgedicht ist in der Tat von einer Reihe von Göttinnen und Dämoninnen die Rede: kourai, Dikh, Qea, Qemi@, Anagkh, Peijw, Alhjeih, Moira. Die sinnvollste und mit Parmenides’ Anliegen übereinstimmende Interpretation ist, dass diese Ausdrücke keine Eigennamen sind, sondern in poetischer Form Funktionen des einen wissensbegründenden Subjekts bezeichnen. – Vgl. dazu K. Reinhardts Deutung: »Die Gestalten sind, als Mythologie betrachtet, wesenlos und schemenhaft, und das aus keinem anderen Grunde, weil sie ausschließlich Ausdruck der Gedanken sind, und die
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Das griechische »Projekt Autonomie«
Unter dieser Bedingung müssen wir also die Mitteilung des Herzens der Wahrheit und die rechtmäßige Fesselung des Seienden als Handlungen eines Subjekts verstehen, das in beiden Handlungen sowohl der unerschütterliche Wahrheitsgrund der Rede als auch die unerbittliche Ursache für die Fesselung des Seienden ist. Denn nur dann ist es möglich, dass die Göttin, indem sie Parmenides über die Fesselung des Seienden durch Dikh berichtet und darüber, was das Seiende ist, ihm zugleich das »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« mitteilt. Die Übereinstimmung von Reden und Tun, der Mitteilung der Wahrheit in der Rede und der Fesselung des Seienden durch die rechtmäßige Gewalt, ist so in der Autonomie des Einen Subjekts begründet. Denn nur diese Autonomie gewährleitet, dass die Aussage der Göttin, dass sie das »Herz der Wahrheit« mitteilen wird, mit dem, was sie als »Herz der Wahrheit« mitteilt, übereinstimmt 59 .
Gedanken wiederum können es zu einer kräftigen und lebendigen Personifikation nicht bringen, weil sie nur mit dem Verstande und nicht aus den Bedürfnissen des Gefühls gewonnen sind. Daher der Eindruck des Gemachten und der Kälte.« (Reinhardt 1959, 67.) Auch J. Mansfeld hat die Auffassung vertreten, dass die Einheit des parmenideischen Lehrgedichts nur gefunden werden könne, wenn die Göttin Dikh und ihre Offenbarung in den Mittelpunkt gerückt wird. Sein Argument für die Identität von Dikh und Offenbarung ist etymologisch: »Die Begriffe der ›Mitteilung‹ und der ›Bekanntgabe‹ sind von alters her im Griechischen mit den Worten dikh und deiknumi verbunden … Die Bedingungen für die Einheit von logischer und offenbarender Göttin sind in den Bedeutungskreisen der Worte krisi@ und dikh schon in der griechischen Sprache gegeben. Die ›Personifikation‹ der Dikh als offenbarender Göttin ist sozusagen in der Sprache schon vorbereitet.« (Mansfeld 1964, 270). – Dieser Hinweis auf den juristischen Sprachgebrauch von dikh im Griechischen legt die Einheit im Lehrgedicht nahe. Er kann jedoch nicht das systematische Argument ersetzen, dass in epistemologischer Hinsicht Rechtsetzung und Offenbarung in einem Subjekt verbunden sein müssen, da sonst der Begründungsdiskurs auseinanderfällt. 59 Unser Autonomiebegriff impliziert nicht, Parmenides’ Gesamtkonzeption »monotheistisch« zu nennen, wie dies etwa W. R. Chalmers (Parmenides and the Beliefs of Mortals. In: Parmenides 1985, 75) tut und J. Mansfeld nahelegt (Mansfeld 1964, 269 ff.). Denn uns geht es hier nur um die Rekonstruktion der Bedingungen, unter denen der »Satz vom Seienden« als epistemischer Grundsatz begründbar ist. Der weitergehende Problembereich, Parmenides’ Darstellung der »doxai broteiai« und, damit verbunden, die Frage, ob jene »Daimwn«, die inmitten alles lenkt (Fr. 12, 3), dieselbe Göttin wie Dikh ist, ob sie eine »Sub-Göttin« oder gar »Gegen-Göttin« ist, wird von uns ausgeklammert.
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Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
2.
Der »Satz vom Seienden« als epistemischer Grundsatz
Nach der Rekonstruktion der parmenideischen Göttinnen als einem Subjekt gehen wir der Frage nach, wie Parmenides den »Satz vom Seienden« als epistemischen Grundsatz begründet. Als dieser Satz muss er zum einen Wissen codieren, indem er festlegt, was Wissen überhaupt ist; zum anderen muss er regeln, wie ein aktuales Wissen erzeugt wird. Beiden Funktionen soll zunächst getrennt nachgegangen werden. a.
Der »Satz vom Seienden« als epistemischer Code
Nach dem Bisherigen erscheint es als einfach, den »Satz vom Seienden« als epistemischen Code zu begründen. Zwar stellt der Satz, als axiwma, zunächst bloß die Konsistenzbedingung von Wissen zeichenhaft dar: »IST IST«, und hat keine andere Bedeutung als das unauflösliche auton. Als Mitteilung der Göttin jedoch besitzt er einen epistemischen Wert; sie nennt ihn den »Weg der Überzeugung« (Fr. 2, 4). Der Satz codiert demnach Wissen, weil die Göttin in diesem Satz mitteilt, dass sie selbst dem Seienden dasjenige Gesetz gibt, das der Satz aussagt. Da sie die Gewalt ist, die das Seiende fesselt und Entstehen und Vergehen vertreibt, ist der Satz »IST IST« nicht leer, sondern von der Art, dass in ihm codiert ist, was Wissen ist: Seiendes ist; Nicht-Seiendes ist nicht. Dies teilt sie Parmenides als den »Weg der Überzeugung« mit, so dass Wissen nicht anders als in Bezug auf diesen Satz möglich ist. – In Parmenides’ Epistemologie ist daher weder ein mythisch Vorhandenes noch ein »sterbliches Subjekt« der Grund für die Auszeichnung von Sätzen als Wissen, sondern das »unsterbliche Subjekt«, das dem, was ist, selbst das Gesetz gibt, das es im »Satz vom Seienden« zugleich mitteilt. 60 Auf diese Begründung des »Satzes vom Seienden« lässt sich die Probe machen. Nehmen wir dazu an, die Instanz, die ihn als Wissen begründet, wäre nicht die Göttin, sondern »Parmenides selbst«, dann wäre die Begründung inkonsistent. Denn Parmenides müsste das »Unerschütterliche« des Satzes durch Rekurs auf sich als »sterbliches Subjekt« begründen, von dem er zugleich doch annimmt, es sei von »irrendem Verstand«. Wenn, wohl dieser Ungereimtheit wegen, die Auffassung vertreten wurde, Parmenides habe sich nach seiner »Himmelfahrt« den Unsterblichen zugehörig geglaubt (vgl. G. Vlastos, Parmenides’ Theory of Knowledge (1946). In: Parmenides 1985, 54) oder sei »als Entrückter nicht nur seiner Weltlichkeit und Menschlichkeit ledig geworden …, sondern auch seiner Individualität und Zeitlichkeit« (Fränkel 1962, 417 ff.), so widerspricht diese Auffassung dem Aufbau des Lehrgedichts. Denn es beschreibt seine
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Das griechische »Projekt Autonomie«
b.
»Das Denken« als Repräsentation von Wissen
Größer hingegen ist der Aufwand, die epistemische Funktion zu begründen, nach der der »Satz vom Seienden« auch für »sterbliche Subjekte« ein Wissen zu repräsentieren vermag. Denn da nach Parmenides die Wissensart der »Sterblichen« unter der Heteronomie der Erfahrung steht und daher allemal nur eine »trügerische Ordnung« konstituiert, scheint es unmöglich zu sein, dass der Satz, dass das Seiende nicht entsteht und vergeht, sondern (nur) ist, für Sterbliche ein Wissen repräsentiert. Dies wäre nur möglich, so können wir vorab sagen, wenn Sterblichen doch ein ›Vermögen‹ zukommt, durch das sie die Macht der »vielerfahrenen Gewohnheit« überwinden, und durch dessen Tätigkeit sie das erfassen können, was im »Satz vom Seienden« epistemisch codiert ist. Dieses Vermögen, der »vielerfahrenen Gewohnheit« nicht gehorchen zu müssen, nennt Parmenides »das Denken« (noo@, noein), sodass es um die Klärung geht, welche Rolle diesem Vermögen im epistemologischen Kontext zukommt. 1. Unter dem Ausdruck »Denken« versteht man zunächst die menschliche Tätigkeit, gegebene Vorstellungen unter Begriffen zusammenzufassen und diese zu verbinden. In diesem Sinne haben die ersten Philosophen allgemeine Begriffe: das Wasser, das Apeiron, die Luft gebildet und ihnen Vorstellungen sowie andere Begriffe zugeordnet. Parmenides selbst jedoch hat das Denken nicht auf diese Weise zur ›Verarbeitung‹ gegebener Vorstellungen gebraucht, sondern es, auf der »Metaebene«, zur Untersuchung von Sätzen angewandt und sowohl die Aussagen der »Sterblichen« der kritischen Prüfung unterzogen als auch den »Satz vom Seienden« als konsistenten Aussagesatz aufgestellt. Während »Denken« also im einen Fall eine Tätigkeit bezeichnet, durch die »Sterbliche« zum Wissen gelangen, ist es im zweiten Fall ein bloßes Prüfungsverfahren von Sätzen am Maßstab der Konsistenz. – Von diesen zwei Arten des Denkens können wir nun sagen, dass sie beide durchaus den »Sterblichen« zukommen: im einen Fall wissen sie und prüfen nicht; im anderen Fall prüfen sie und wissen nicht. Die Frage kann also nicht sein, ob »Sterbliche« in dieser Weise zu prüfen vermögen, sondern ob durch die Tätigkeit des bloß prüfenden Denkens für sie auch Wissen konFahrt zur Göttin und ihre Mitteilung der Wahrheit, die sie an ihn, den »jungen Mann« (Fr. 1, 24: kouro@) richtet, und die er weitergeben soll (Fr. 2, 1). Dass Parmenides geglaubt habe, er sei selbst unsterblich, ist unseres Erachtens eine überflüssige Spekulation.
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Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
stituiert wird. Diese Frage beantwortet Parmenides durch den Rekurs auf Aussagen der Göttin: Sie teilt ihm mit, dass durchs bloße Denken das, was das Seiende alhjeia ist, erfasst wird, so dass also die »nichtswissenden Sterblichen« zwar ›aus eigener Kraft‹ zu denken, aber nur kraft Mitteilung der Göttin nach Art der Unsterblichen zu wissen vermögen. Diese epistemologische Begründung soll anhand des Lehrgedichts im Folgenden nun so rekonstruiert werden, dass deutlich wird, welche Aussagen der Göttin von der Art sind, dass sie von den Sterblichen der kritischen Prüfung unterzogen werden können und damit dem Postulat des krinai logw (Fr. 7, 5) unterliegen, das die Göttin an Parmenides richtet; und welche ihrer Aussagen Mitteilungen solcher Art sind, dass sie von Sterblichen nicht prüfbar sind, für sie aber Wissen begründen. Dazu möchte ich zuerst auf die Aussagen über das Denken (Fr. 4), dann auf die über die Dieselbigkeit von Gedachtem und dem, was das Seiende ist, (Fr. 8, 34 ff.) eingehen. 2. Nach der Anfangsthese, Denken und Sein sei dasselbe, fordert die Göttin Parmenides auf, darauf zu achten, was das Denken ›tut‹. Fr. 4: »Sieh, dem Denken ist Wegseiendes so sicher wie Daseiendes« 61 . Daraufhin gibt sie die Begründung: »denn es trennt nicht vom Zusammenhalt mit Seiendem das Seiende, weder als ein in seinem Gefüge überallhin völlig Zertrenntes noch als ein Zusammengesetztes.« 62 Bevor wir auf die Bedeutung der beiden Sätze eingehen, soll zunächst gefragt werden, worauf sich der Ausdruck »Denken« (noo@) bezieht, welches Denken hier also beschrieben wird. Ist es das Denken der »Unsterblichen«, denen als solchen Wegseiendes so sicher wie Daseiendes ist; oder ist es ein Denken der »Sterblichen«, das durch diese Aussage charakterisiert wird? Die Tatsache, dass die Göttin hier keine »Wahrheit« mitteilt, sondern Parmenides auffordert, selbst zu sehen, was das Denken ›tut‹, deutet daraufhin, dass das »leusse d’ omw@ apeonta now pareonta bebaiw@.« – W. Capelle übersetzt: »Sieh, wie auch das Ferne deinem Geist greifbar nahe ist.« (Capelle 1968, 164). – J. Mansfeld: »Betrachte mit Verständnis das Abwesende als genauso zuverlässig anwesend [wie das Anwesende].« (Parmenides 1994, 9) – G. S. Kirk, J. E. Raven, M. Schofield: »Schaue jedoch auf abwesende Dinge, wie sie dem Geist dennoch zuverlässig gegenwärtig sind.« (Kirk 1994, 288). 62 »ou gar apotmhxei to eon tou eonto@ ecesjai oute skidnamenon panth pantw@ kata kosmon oute sunistamenon.« – Bei »kata kosmon« folge ich der von H. Diels vorgeschlagenen Übersetzung: »Gefüge«. Siehe dazu: Reinhardt 1959, 50, Anm. 1. 61
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Das griechische »Projekt Autonomie«
Denken hier in der zweiten Bedeutung gemeint ist: Wer als Sterblicher darauf achtet, was geschieht, wenn er denkt, kann prüfend nachvollziehen, was die Göttin über das Denken sagt. Fassen wir die Aussagen über das Denken nun in dieser Weise auf, so können wir den ersten Satz so verstehen, dass in den durch das zusammenfassende Denken gewonnenen Begriffen Daseiendes und Wegseiendes gleich sicher ist. In Begriffen ist gegenwärtig, was als Vorstellung nicht gegenwärtig sein muss. »Denken« bezeichnet demnach hier den Vorgang der Begriffsbildung, wie wir ihn bei den ersten Philosophen beschrieben haben: to udwr z. B. als Inbegriff alles Wässrigen. Den zweiten Satz verstehen wir nun so, dass er eine Reflexion, ein ›Achten‹ auf dieses Denken beschreibt. Dieses ›Achten‹ zeigt, dass das Denken selbst nicht trennt, sondern eint. Dies geschieht, wenn etwa die abwesende Vorstellung als Gedanke anwesend ist, wenn Wasser als die arch von allem gedacht wird oder wenn Sätze auf ihre Konsistenz hin geprüft werden. Die Aussage ist also, dass sowohl das Zertrennte als auch das Zusammengesetzte nicht dem Denken entstammen, sondern, so können wir ergänzen, das, was trennt, die »vielerfahrene Gewohnheit« ist, und dass daher solches ein »eteron« ist; dass hingegen das, was rein gedacht ist, ein auton ist, oder, wie es hier ausgedrückt wird, ein Zusammenhalt von Seiendem mit Seiendem (to eon tou eonto@ ecesjai). So verstanden, enthalten also die Aussagen der Göttin über das Denken nichts, was von Sterblichen nicht auch ohne die Göttin nachvollziehbar wäre. Sie haben den Status von Aussagen Sterblicher über das Denken von Sterblichen. Sie sagen jedoch nichts darüber aus, ob durch eine solch einende Tätigkeit auch ein Wissen konstituiert wird. 3. Vergleichen wir diese Aussagen über das Denken von Sterblichen mit denen über das ›Tun‹ der Göttin, so stellen wir in Bezug auf den »Satz vom Seienden« eine ›Parallele‹ fest. Einmal ist es das Denken, das eint; einmal ist es die Gewalt, die das Seiende festhält. Beide Male ist das Resultat der Handlung das »tauton«: to eon tou eonto@ ecesjai im Falle des Denkens; im Falle der Gewalt das »ecei« der Göttin. Aber während die Göttin weiß, dass der »Satz vom Seienden« ›wahr‹ ist, weil sie selbst das Seiende bindet, ist für Sterbliche das auton ein bloß Gedachtes, da diese nur wissen, wenn und weil sie der Macht der sinnlichen Erfahrung gehorchen. In der autonomen Wissensart der Göttin drückt der »Satz vom Seienden« also aus, was das Seiende alhjeia ist; in der heteronomen Art der Sterblichen drückt er ein bloß gedachtes auton aus. 126
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Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
Soll der »Satz vom Seienden« nun für die Sterblichen über das bloße Gedachtsein hinaus als Wissen begründet werden, so bedarf es offenbar der Ermächtigung des Denkens zum epistemischen Vermögen durch die Göttin: Sie muss sagen, dass das Gedachte und das, was das Seiende ist, dasselbe ist. Denn nur sie weiß, dass die Sterblichen durch die einende Tätigkeit ihres Denkens zugleich erkennen, was das Seiende alhjeia ist. Ihre Mitteilung gibt die epistemologische Begründung, dass das auton als der bloße Gedanke Sterblicher zugleich Wissen repräsentiert. Nur als Mitteilung der Göttin, die selbst das Seiende bindet, wäre also der »Satz vom Seienden« als epistemischer Grundsatz verbürgt. – Diese Ermächtigung des Denkens durch die Göttin soll nun anhand Fr. 8, 34 ff. in der Weise paraphrasierend nachvollzogen werden, dass durch Textergänzungen die unterschiedlichen Aussagenebenen deutlich werden: zum einen die Aussagen der Göttin über das Denken Sterblicher, die an den hörenden und kritisch-prüfenden Parmenides gerichtet sind; zum anderen die Mitteilungen über ihr eigenes Tun, die von Parmenides gehört und nur vernommen, nicht aber geprüft werden können. Nachdem die Göttin auf dem »Weg der Überzeugung« die Merkmale (shmata) des Seienden genannt hat, sagt sie im Anschluss, was ich folgendermaßen lese 63 : »(Wenn du, Parmenides, auf dein Denken achtest, so wirst du mir nach kritischer Prüfung zugeben müssen:) dasselbe ist das Denken und Sagen und wesbezüglich der Gedanke und die Aussage ist 64 . Denn (– du magst prüfen, wie du willst –) du wirst das Denken und Sagen niemals antreffen ohne das Seiende, in dem das Gedachte und Ausgesagte ist. (Nun aber teile ich »tauton d’ esti noein te kai ouneken esti nohma‡ ou gar aneu tou eonto@, en w peyatismenon estin, eurhsei@ to noein‡ ouden gar hhi estin h estai allo parex tou eonto@, epei to ge Moir’ epedhsen oaulon akinhton t’ emenai‡ tw pant’ onomastai ossa brotoi katejento pepoijote@ einai alhjh, gignesjai te kai ollusjai, einai te kai ouci, kai topon allassein dia te croa yanon ameibein.« – Ich ersetze »denken« durch »denken und sagen« bzw. »sagen« durch »denken und sagen«, da Parmenides zwischen beiden keinen sachlichen Unterschied macht. Siehe Fr. 2, 7 f.: »oute gar an gnoih@ … oute yrasai@«; Fr. 6, 1: »crh to legein te noein t’ eon emmenai«; Fr. 8, 7 f.: »out’ … yasjai @’ oude noein«; Fr. 8, 8 f.: »ou gar yaton oude nohton estin …«; Fr. 8, 50: »… piston logon hde nohma amyi@ alhjeih@«. 64 Dieser Satz gilt einerseits als ein Kernsatz der parmenideischen Theorie und ist auch für unsere Rekonstruktion von zentraler Bedeutung; er hat sich andererseits jedoch als äußerst auslegungsfähig und -bedürftig erwiesen. Ich werde es an anderer Stelle unternehmen, die vorgelegte Interpretation, insbesondere die Verwendung des Ausdrucks »wesbezüglich«, durch die Kritik anderer Interpretationen zu rechtfertigen. 63
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als Hüterin der Wahrheit dir mit:) nichts anderes ist oder wird je sein außer dem Seienden! (Der Grund für die Wahrheit dieser Aussage ist: ich weiß:) Moira hat das Seiende gefesselt, ganz und gar unbeweglich zu sein. (Daher ist nichts anderes oder wird je sein außer dem Seienden.)« – Nun würden wir erwarten, dass die Göttin die positive Aussage trifft: ›Daher ist, wesbezüglich der Gedanke und die Aussage ist, dasselbe wie das, was das Seiende ist.‹ Doch Parmenides lässt sie die negative Aussage treffen: »Daher sind ›Entstandensein und Vergangensein‹, ›Sein und Nichtsein‹, ›den Ort wechseln‹ und ›die leuchtende Farbe ändern‹ alles nur Wörter, die Sterbliche festgelegt haben, überzeugt, wahr zu sein. (Aber wahr ist: ›Seiendes ist.‹)« Vollziehen wir den Gang der Paraphrase nach, so ist der entscheidende Punkt der epistemischen Ermächtigung des Denkens durch die Göttin der »Wechsel der Ebene«. Sie führt Parmenides zunächst bis zu der für ihn – als sterbliches Subjekt – nachprüfbaren Aussage: ›Denken und Sagen ist nicht ohne das Seiende anzutreffen‹ oder: ›nicht denk- und sagbar ist Nicht-Seiendes‹. Dann aber wechselt sie die Ebene. Ihre Aussage: ›nichts außer Seiendem ist, weil Moira es gefesselt hat‹, ist für Parmenides – als sterbliches Subjekt – keine prüfbare Aussage. Denn die Göttin sagt hier nichts über das Denken des sterblichen Subjekts, sondern über das Tun des unsterblichen Subjekts aus. Diese Aussage hat den Status einer »Offenbarung«; sie kann vom sterblichen Subjekt nicht gedacht, sondern als Mitteilung des unsterblichen Subjekts nur vernommen werden. Mit ihr teilt die Göttin den Grund mit, warum das Seiende, in dem das Gedachte und Ausgesagte ist, und das, was das Seiende alhjeia ist, dasselbe ist: Sie selbst als die das Seiende fesselnde Gewalt ist Ursache und Grund, dass der »Satz vom Seienden«: ›einai esti‹ wahr ist. Im Kontext unserer Rekonstruktion ist also der Satz, dass das Gedachte und das, was das Seiende ist, dasselbe ist, nicht nur die Eröffnungsthese der Rede der Göttin, sondern auch der Schlusssatz 65 . Er enthält die Begründung, dass das reine Denken der Sterblichen die Macht hat oder ist, das, was alhjeia ist, zu erkennen, und damit auch, dass die Sterblichen diese Wahrheit durch reines Denken Während Dikh nach der Eingangsthese, Denken und Sein sei dasselbe, Parmenides auffordert, das, was sie über das Seiende sagt, kritisch zu prüfen, kommt sie am Ende dieser Prüfung zur Aussage, dass es in der Tat dasselbe ist, was sie sagt, dass das Seiende ist, und was gedacht ist, was das Seiende ist. – Siehe zu dieser Zirkularität Fr.5: »Ein Gemeinsames ist es für mich, woher ich anfange; denn dorthin werde ich wieder zurückkehren.«
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wissen können. Der »Satz vom Seienden« codiert also nicht nur als Aussage der Göttin über ihre Gesetzgebung Wissen, sondern sagt auch aus, dass für Sterbliche im reinen Gedanken Wissen repräsentiert ist. Das gedachte auton bezeichnet die Art, in der Sterbliche wissen, und das Denken den Weg, Wissen zu erzeugen.
C. Zusammenfassung Parmenides, so haben wir das Lehrgedicht rekonstruiert, hat in die Philosophie die epistemologische Ebene eingeführt. Er hat keinen neuen Grundsatz über das aufgestellt, woraus alles ist, sondern hat diese Sätze selbst auf ihre Konsistenz überprüft. Dieser Bedingung genügen allein tauta, Sätze, die dasselbe aussagen. Das entscheidend Neue seines Lehrgedichts besteht jedoch nicht in dieser Art der Prüfung, sondern darin, dass es dieses, in epistemischer Hinsicht belanglose, Verfahren der Kritik zu der allein Wissen konstituierenden Tätigkeit erhoben hat. Es hat damit eine ganz neue epistemologische Instanz etabliert. Parmenides nennt sie »Qea«, die die Wahrheit mitteilt, und »Dikh«, die das Seiende bindet; wir haben sie als das schlechterdings autonome Subjekt rekonstruiert, welches die Diesselbigkeit des bloß gedachten auton mit dem, was das Seiende in Wahrheit ist, verbürgt und die Gültigkeit des »Satzes vom Seienden« garantiert. Diese Instanz hat weder, wie im Mythos, den Status eines je schon vorhandenen Codes, der erzählend vergegenwärtigt wird, noch ist sie ein Mensch als sterbliches Subjekt, das Sätze über das Prinzip alles Erfahrbaren aufstellt; sie ist vielmehr das eine und unsterbliche Subjekt, das die Wahrheit des Satzes verbürgt, weil es dem, was ist, selbst das Gesetz gibt. Sie ermächtigt, das bloß Gedachte als das Wahre anzunehmen, und erhebt damit das reine Denken zu derjenigen Tätigkeit, die allein dem Wahren folgt. Wenn Parmenides also in historischer Sicht als »Vater« und eigentlicher Begründer der Philosophie beurteilt wird, dann kann diese Rolle nicht darin gesehen werden, dass er, wie Thales am Beginn, einen Grundsatz aufgestellt hat, der die wissenschaftliche Tätigkeit regelt und orientiert; und auch nicht darin, dass er solche Grundsätze der prüfenden Kritik unterzogen hat. Sie liegt vielmehr darin, dass durch sein Lehrgedicht ein neuer Diskurs gestiftet wurde, der im Glauben an die Macht des Denkens gründet. Parmenides hat – noch in der Form der Erzählung – gegen die bisherige Macht sinnlicher A
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Erfahrung das reine Denken als die wahre wie gerechte Macht instanziiert. So widersinnig den Repräsentanten des bisherigen Wissens dieser neue Glaube erscheinen mochte, – sie sind mit diesem neuen Diskurs entmachtet worden. Nicht mehr Dichtung und Gesang repräsentieren nunmehr das Wissen, und mit ihnen nicht der Mythologe oder Rhapsode, aber auch nicht der vielerfahrene soyo@ und yusiko@, sondern der Philosoph. Seither hat die Philosophie sich als die »Hüterin des Seienden« und »Wahrerin des Einen« verstanden, die den Daimon der Entgrenzung bannt, das urteilslose Werden stoppt und die »trügerischen Ordnungen« der Sterblichen prüft und richtet. Parmenides hat seinen Ehrenplatz bei den Freunden der Idee wie den Anhängern des Atoms, bei Theologen wie Ontologen, bei Mathematikern wie Physikern. Und seither rebelliert im europäischabendländischen Denken gegen diese Glaubensmacht untergründig die entmachtete Sinnlichkeit im Namen des »Lebendigen«, des »Natürlichen«, des »Schönen«, des »Wirklichen« – und wird doch immer wieder von den Hütern des Seienden in die unerbittlichen Fesseln der festen Begriffe und klaren Formeln geschlagen 66 .
III. Heraklit: Der »Satz vom Logos« A. Vorüberlegungen 1.
Die aporetische Situation
Mit Thales hatte eine Art des Wissens begonnen, die nicht in der Aktualisierung eines vorhandenen Codes bestand, sondern im Geben eines Satzes, der die epistemische Tätigkeit leitet. Gegen diese WisFür Nietzsche, den Diener des Dionysos, ist klarerweise der »kaltes, stechendes Licht um sich ausgießend(e)« Parmenides »ungriechisch wie kein andrer in den zwei Jahrzehnten des tragischen Zeitalters« (39 f.), und doch so folgenreich: »›Folgt nur nicht dem blöden Auge, so lautet jetzt sein Imperativ, nicht dem schallenden Gehöre oder der Zunge, sondern prüft allein mit des Gedanken Kraft!‹ Damit vollzog er die überaus wichtige, wenn auch noch so unzulängliche und in ihren Folgen verhängnisvolle Kritik des Erkenntnisapparats: dadurch dass er die Sinne und die Befähigung Abstraktionen zu denken, also die Vernunft jäh auseinander riss, als ob es zwei durchaus getrennte Vermögen seien, hat er den Intellekt selbst zertrümmert und zu jener gänzlich irrthümlichen Scheidung von ›Geist‹ und ›Körper‹ aufgemuntert, die, besonders durch Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt.« (Nietzsche 1994, 46)
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sensart hat Parmenides eingewandt, dass Sätze solchen Typs nur eine »trügerische Ordnung von Wörtern« vorstellen, aber kein Wissen codieren. Diese codiert nur der »Satz vom Seienden«. Vergleichen wir diese beiden Typen epistemischer Grundsätze, so stellt sich das Projekt in epistemologischer Hinsicht als Aporie dar: Die Grundsätze der ersten Philosophen haben zwar eine Erklärungsfunktion – sie geben Regeln, nach denen gegebene Vorstellungen aus einem Prinzip erklärt werden –, aber ihnen fehlt die Codierungsfunktion. Sie sind doxai, kein axiwma. Diese Funktion besitzt hingegen der »Satz vom Seienden«, der das unauflöslich Invariante des epistemischen Codes darstellt, dem aber die Erklärungsfunktion der Regel fehlt. Er dient nur dazu, Grundsätze kritisch zu prüfen 67 . Einmal ist also das autonom begründete Wissen der Form nach kein Wissen: die Grundsätze sind Setzungen, denen die Konsistenz fehlt. Das andere Mal ist es dem Inhalt nach kein Wissen: dem »Satz vom Seienden« fehlt die Funktion, gegebene Vorstellungen zu erklären. Das Projekt, Wissen auf die Selbstgesetzgebung des Subjekts zu gründen, hat sich in der Antinomie von Form und Inhalt verfangen. Es gibt gleichsam zwei »epistemische Reiche«: ein inkonsistentes ErDiese Methode der kritischen Prüfung hat Parmenides’ Schüler Zenon ausgearbeitet. Seine Beweisführungen haben dasselbe Ziel wie Parmenides’ Kritik der »vielerfahrenen Gewohnheit« : die Grundannahmen der Erfahrung, dass alles veränderlich, bewegt und Vieles sei, als widersprüchliche und inkonsistente Aussagen nachzuweisen. – Im »Parmenides« lässt Platon Zenon sagen, er habe zeigen wollen, dass die Annahme: »wenn Vieles ist« noch Lächerlicheres ertragen müsse als die Annahme: »wenn Eines ist« (128d). Doch die »Lächerlichkeit« ist eine jeweils andere. Wer von der Annahme: »Eines ist« ausgeht, macht sich lächerlich in Bezug auf die Erfahrung, weil er das augenscheinlich Viele bestreitet. Wer hingegen von der Annahme: »Vieles ist« ausgeht, macht sich lächerlich in Bezug auf das Denken, weil er sich in Widersprüche verwickelt. Der eine gilt als lächerlich, weil er als ›weltfremd‹ erscheint, der andere, weil er ›Unfug‹ redet. Beides sind verschiedene Arten von »Lächerlichkeit«. Wenn Platon Zenon den Komparativ »lächerlicher« bilden lässt, scheint er zu meinen, dass es angesichts dieser Antinomie besser sei, ›weltfremd‹ zu sein als ›Unfug‹ zu reden, d. h. dem Denken den Vorzug vor der Erfahrung zu geben. Wie Zenon verfährt auch Gorgias. Seine rein negative Beweisführung zieht die letzte Konsequenz aus dem eleatischen Wissenskonzept: es gibt keinen Satz – nicht einmal den, dass es Seiendes gibt –, der dem formellen Wissenskriterium der Diesselbigkeit genügt. Gorgias zeigt damit, schreibt Th. Buchheim, »dass das so allein gelassene on einer es selbst zerstörenden Widersprüchlichkeit verfällt.« (Buchheim 1989, XVI) – Vgl. auch O. Gigon, Gorgias ›Über das Nichtsein‹. In: Gigon 1972, 96 f.; Calogero 1970, 171 ff. – Zur Aufnahme dieser Kritikfigur in der ersten Untersuchung des »Parmenides« Platons siehe: Chr. Iber, Platons eigentliche philosophische Leistung im Dialog Parmenides. In: Angehrn 1992, 197 f. 67
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fahrungswissen der Sterblichen und ein konsistentes reines Wissen der Unsterblichen. Jedem fehlt das andere Moment, um Wissen als ein konsistentes Erfahrungswissen zu begründen. Im Folgenden soll die Philosophie Heraklits als Lösung dieser skizzierten Aporie rekonstruiert werden. Heraklit gilt uns als der erste Epistemologe, der auf Grundlage dieser Antinomie das Konzept eines Erfahrungswissens formuliert, in dessen Zentrum der »Satz vom (alles beherrschenden) Logos« steht. – Diese Rekonstruktion bedarf allerdings vorab der Klärung der chronologischen Voraussetzungen sowie der systematischen Verortung der Philosophie Heraklits. 2.
Chronologische Voraussetzungen
Unsere Rekonstruktion muss davon ausgehen, dass Heraklit Parmenides’ Konzeption kannte. Denn wenn Heraklits Philosophie als eine Antwort auf die genannte aporetische Situation verstanden werden soll, dann setzt sie deren Kenntnis voraus. Heraklit muss daher zeitlich nach Parmenides philosophiert haben. Dieser Annahme steht jedoch die Auffassung vieler Historiker entgegen, Heraklit habe vor Parmenides philosophiert; danach aber scheint es unmöglich zu sein, Heraklits Philosophie als Antwort auf Parmenides und als Lösung jener Aporie zu interpretieren. Es bedarf daher der Rechtfertigung unserer Annahme. Zur Stützung der Auffassung, Heraklit habe vor Parmenides philosophiert, ist auf zwei Arten von Quellen Bezug genommen: auf chronologische Datierungen sowie auf die Texte beider Autoren. Hinsichtlich der Chronologie schließen wir uns der Auffassung an, dass die von K. Reinhardt initiierte Debatte über die Qualifizierung und die Kohärenz der verschiedenen überlieferten Datierungen das Ergebnis hatte, dass die bisherige Annahme, Heraklit gehe Parmenides voraus, nicht haltbar ist. Die Datierungen machen es wahrscheinlicher, dass Parmenides vor Heraklit philosophiert hat 68 . Hinsichtlich der Textlage sind Aussagen von Parmenides und U. Hölscher, der u. a. den Datierungen Apollodors, Platons und Eusebius’ nachgegangen ist, kommt zum Ergebnis: »Für die Schrift des Parmenides bleibt ein Spielraum von etwa 510 bis allerspätestens 475. Dass er Heraklits Schrift gekannt hätte, ist danach so gut wie ausgeschlossen.« (Hölscher 1968, 165)
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Heraklit angeführt worden. Die Sätze in Fr. 6 des Lehrgedichts von Parmenides über die »nichtswissenden Sterblichen« und über »die Doppelköpfigen«, denen Sein und Nichtsein dasselbe ist, sind seit den »Abhandlungen« von J. Bernays 69 als Polemik gegen Heraklit und dessen Lehre interpretiert worden. Sie dienten als Beleg, Heraklit habe vor Parmenides philosophiert. Weiterhin wurde festgestellt, dass Heraklit in Fr. 40 zwar namentlich gegen die »Vielwisserei« des Hesiod, Pythagoras, Xenophanes und Hekataios polemisiert, nicht aber gegen Parmenides. Dies Fehlen ist damit erklärt worden, dass Heraklit Parmenides nicht gekannt habe. Aus diesen Interpretationen der beiden Textstellen schloss W. Kranz: »Herakleitos zitiert und bekämpft den Pythagoras, Xenophanes und Hekataios, nicht den Parmenides; dieser aber zitiert und bekämpft den Herakleitos«. Diese Konstellation nennt er »die Ecksteine der Geschichte der Vorsokratiker.« 70 Diese chronologische Zuordnung steht jedoch auf schwachen Füßen. Hinsichtlich der Polemik des Parmenides hat K. Reinhardt überzeugend eingewandt, dass es den Charakter des Lehrgedichts sprengen würde, wenn Parmenides der Göttin einen polemischen Ausfall gegen einzelne Denker in den Mund gelegt hätte. Das Fr. 6 enthalte keine Polemik gegen eine »besondere Klasse von Querköpfen«, sondern beschreibe allgemein – so wie auch wir es angenommen haben – die Wissensart der »Sterblichen« 71 . Im zweiten Fall erwähnt Heraklit in seiner Polemik zwar den Parmenides tatsächlich nicht. Die Erklärung jedoch, weil er ihn nicht gekannt habe, ist vorschnell; denn wie hätte Heraklit Parmenides begründeterweise der »Vielwisserei« anklagen können, da dieser doch nur das Eine versichert hat, dass in Wahrheit nur Eines ist? 72 Weder die überlieferten Datierungen noch die angeführten Bernays 1850, 90–116. Zit. nach: Capelle 1968, 165. 71 Reinhardt 1959, 66: »Wenn von den Sterblichen, brotoi, die Rede ist, so muss vor allem daran erinnert werden, dass dies alles nicht Parmenides, sondern die Göttin spricht, und dass diese von den Sterblichen nicht anders redet als wie es die Götter im Epos eben zu tun pflegen: oion dh jeou@ brotoi aitiowntai.« 72 Hölscher 1968, 165: »Ich sehe, bei aller Differenz, keinen Grund, und nicht einmal die Möglichkeit, wie Heraklit über den strengen Denker des Seins in ähnlicher Weise sich hätte auslassen können wie über Xenophanes und die anderen. Tatsächlich musste ihm der Nachweis eines Seienden, der Gedanke der Einheit, die Antithese einer durch Logos zu erfassenden Wahrheit und einer menschlichen Welt der dokeonta im letzten sympathisch sein.« 69 70
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Textstellen belegen, Heraklit habe vor Parmenides philosophiert. Es besteht daher kein sachlicher Grund, nicht wieder zu der Chronologie zurückzukehren, die schon Platon im »Sophistes« (242) gegeben hat. Er beschreibt dort die Philosophie Heraklits und Empedokles’, der »ionischen und der sikelischen Musen«, als spätere Bemühungen, eine Antwort auf die eleatische Lehre vom Einen zu geben. 73 3.
Systematische Verortung
Heraklit ist nicht als Epistemologe, sondern als Naturphilosoph und Ontologe rezipiert worden. Er gilt zum einen als der Begründer der Lehre von der »Welt als ewig-lebendigem Feuer«, die auf die Ausbildung der stoischen Pneuma-Lehre und der christlich-hellenistischen Geist-Lehre gewirkt habe. Zum anderen sieht man in ihm den ontologischen Antipoden von Parmenides, der statt des unveränderlichen Seins das unaufhörliche Werden von allem gelehrt habe. In diesem Sinne zitiert ihn Platon: Heraklit habe gesagt, »dass Alles davon geht und nichts bleibt«, und habe alles Seiende einem strömenden Flusse verglichen 74 ; und Aristoteles schreibt, es sei die Lehre Heraklits, »dass alles sei und nicht sei« 75 . Für beide Klassifizierungen lassen sich Belege anführen. Heraklits Aussagen über das »Weltenfeuer« sind zahlreich und können als Elemente eines umfassenden kosmologischen Modells gedeutet werden. Gleichfalls sind genügend Zitate über den Wandel, das Fließen und die Relativität von allem überliefert, die Heraklit zum Vorläufer, ja Begründer der sophistischen ›Relativitätstheorie‹ machen können. Die Möglichkeit und der Sinn dieser Zuordnungen soll und kann nicht bezweifelt werden. Ich möchte jedoch die darüber hinausgehende Frage nach dem epistemologischen Status dieser naturphilosophischen und ontologischen Aussagen stellen: sind sie als doxai nach »Schwer begreiflich«, bemerkt dazu U. Hölscher, »wie leicht sich die Philosophiegeschichte über Platons Urteil hinwegsetzt. Es ist das authentischste, was wir über die Zeitfolge der beiden Philosophien haben, durch keinerlei Interesse des Autors verdächtig. Platon fasst sowohl Heraklits wie Empedokles’ Lehre als Antworten auf den Eleatismus auf …« (Hölscher 1968, 163) H.-G. Gadamer räumt ein: »Beider [U. Hölschers und Ch. H. Kahns] Ergebnis stärkt mich in der Überzeugung, dass Heraklit weit jünger ist als die sogenannten ›Eleaten‹ Xenophanes und Parmenides.« (Gadamer 2000, 12) 74 Platon, Kratylos 402 a. 75 Aristoteles, Metaphysik 1012a 20 ff.; siehe auch: 1005b 25, 1010a 10. 73
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Art der ersten Philosophen oder als Ausdruck epistemologischer Reflexion zu verstehen? Befinden sie sich auf der Ebene jenes ›vor-kritischen‹ Wissens, auf der Grundsätze ›dogmatisch‹, ohne Reflexion auf ihre Begründbarkeit, aufgestellt wurden, oder befinden sie sich auf der Metaebene reflexiver Wissensbegründung, so dass in diesen Sätzen zugleich ein Wissen vom Wissen ausgedrückt ist? Einfach gefragt: Unterbieten Heraklits Aussagen die parmenideische Kritik oder wollen sie diese überbieten? Dieser Frage nach dem epistemologischen Status der Philosophie Heraklits möchte ich zunächst und vorgreifend anhand Heraklits Aussagen über das Vermögen der Sinne nachgehen. Denn ›vor Parmenides‹ und dessen Kritik an dem Gebrauch der Sinne als der Quelle der Widersprüche und »Ratlosigkeit« wäre eine Reflexion auf deren Vermögen unnötig; ›nach Parmenides‹ wäre eine unkritische Bezugnahme auf diesen Gebrauch ein Rückfall hinter die epistemologische Begründungspflicht. Die beiden diesbezüglichen Aussagen Heraklits lauten: Fr. 107: »Schlechte Zeugen sind Augen und Ohren den Menschen, die barbarische Seelen haben.« und Fr. 55: »Wovon Gesicht, Gehör und Erfahrung, dies ziehe ich vor.« 76 – Aus dem ersten Zitat hat Sextus Empiricus geschlossen, Heraklit verwerfe die Sinneswahrnehmung und mache die Vernunft zum Prüfstein der Wahrheit. 77 Demnach stimmte Heraklit hinsichtlich der Kritik der Sinneswahrnehmung mit Parmenides überein. Das zweite Zitat trifft jedoch die gegenteilige Aussage: das sinnlich Erfahrbare erhält – offenbar gegenüber dem Gedachten – den Vorzug; sie scheint Parmenides’ Aussage über den »Weg der Überzeugung« zu widersprechen. Auch wenn diese beiden Zitate einander auszuschließen scheinen – einmal die Kritik, einmal die Bevorzugung der Sinne –, so sind sie zunächst Belege für die Annahme, dass Heraklit sich gegenüber den Sinnen nicht, wie die ersten Philosophen, unkritisch verhält, sondern deren epistemische Funktion beurteilt 78 . Die Heraklitfragmente werden zitiert nach: Snell 1995. Sextus Empiricus, adversus Mathematicos, VII 126 f. (zit. nach: Kirk 1994, 205) 78 K. Reinhardt übersetzt das zweite Zitat: »›Was man sehen, hören, lernen kann, Symbol und Gleichnis ziehe ich abstrakter Logik vor‹. Das Fragment ist echt, Hippolytos bürgt für seine Echtheit; an seiner erkenntnistheoretischen Bedeutung kann kein Zweifel sein.« Er stellt anschließend die Frage: »Aber wie konnte es einem Philosophen einfallen, die Sinne in Schutz zu nehmen, wenn niemand sie zuvor verdächtigt und verworfen hatte? Ja, wie konnte überhaupt die sinnliche Erkenntnis zum Problem werden, 76 77
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Suchen wir im zweiten Schritt nach einem kohärenten Sinn dieser scheinbar gegensätzlichen Aussagen. Das erste Zitat – und erst recht die Interpretation von Sextus Empiricus – legt nahe, Heraklit verwerfe die Sinneswahrnehmung und stimme darin mit Parmenides überein. Aber dies ist nicht die Aussage des Zitats. Parmenides hatte davor gewarnt hat, die Sinne zu gebrauchen und dem Weg der »vielerfahrenen Gewohnheit« zu folgen; Heraklit jedoch schränkt diese Kritik ein: Augen und Ohren seien schlechte Zeugen nur für solche Menschen, die barbarische Seelen haben. Daraus müssen wir folgern, dass die Kritik am Gebrauch der Sinne nicht für Menschen gilt, die keine barbarischen Seelen haben, dass für diese Menschen also Augen und Ohren keine schlechten Zeugen sind. Unterstellen wir nun, dass Heraklit sich selbst zu der Art von Menschen zählt, die keine barbarische Seele haben, so ergibt das zweite Zitat einen mit dem ersten kohärenten Sinn: »Ich (der keine barbarische Seele hat) ziehe Augen, Ohren und Erfahrung vor«. So verstanden, richtet sich die Kritik Heraklits nicht – wie die des Parmenides – gegen den Gebrauch der Sinne überhaupt, sondern nur gegen gewisse ›Seelen‹. Nicht das Auge und das Ohr, sondern eine bestimmte Beschaffenheit der Seele ist der Gegenstand seiner Kritik 79 . Heraklit verlagert damit das Problem der Wissensbegründung: nicht mehr die sinnliche Erfahrung als solche gilt als die Quelle des Nichtwissens, sondern dasjenige Subjekt, das von den Sinnen keinen rechten Gebrauch macht. Auch wenn wir mit dieser Erläuterung auf manches Folgende schon vorgegriffen haben, so macht diese Interpretation der beiden Zitate es schlicht unglaubhaft, Heraklit habe seine Aussagen über den epistemischen Status der Sinne ohne Kenntnis der Kritik an der sinnlichen Erfahrung getroffen. Wir gehen daher in unserer Rekonstruktion davon aus, dass die Aussagen Heraklits über das »Weltenfeuer« und das »Werden von allem« nicht als ›naturphilosophische‹ oder ›ontologische‹ Grundsätze, sondern als Elemente einer nachparmenideischen Wissensbegründung zu interpretieren sind, die die genannte Antinomie von Form und Inhalt auflöst. 80 Heraklit gilt uns mithin als Schöpfer eines Modells, das die Kluft zwischen den kontingenten etera der sinnlichen Erfahrung und dem konsistenten wenn nicht durch die Entdeckung einer übersinnlichen Erkenntnis?« (Reinhardt 1959, 213) 79 Siehe Kirk 1994, 205, Anm. 7. 80 In ähnlicher Weise auch H.-G. Gadamer, Heraklit-Studien. In: Gadamer 2000, 48.
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auton des reinen Denkens überwindet und in dieser Funktion prägend für die Gestalt des »europäischen Denkens« wurde.
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Der »Satz vom Logos«
Der Satz, der die Epistemologie Heraklits prägnant formuliert, und den ich als den »Satz vom Logos« bezeichne, lautet: Fr. 50: »ouk emou, alla tou logou akousanta@ omologein soyon estin en panta einai.« (Nicht mich, sondern den Logos hörende stimmen überein: Wissen ist: Eines ist alles) Die Auszeichnung dieses Satzes als Grundsatz Heraklits mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen; er vereinigt jedoch in konziser Form die drei Elemente seines Wissensbegründungsmodells 81. 1. Der Teilsatz: »Wissen ist: Eines ist alles.« enthält die epistemologische Aussage über das Wissen. Wissen, so deuten wir ihn, besteht nicht als Differenz zwischen dem rein zu denkenden En der Unsterblichen und dem sinnlich erfahrenen panta der Sterblichen, sondern in der Vereinigung des konsistenten ›Seinswissens‹ mit dem kontingenten ›Erfahrungswissens‹. Wissen ist daher konsistentes Erfahrungswissen. – So gelesen, ist die Aussage dieses Teilsatzes sowohl gegen die Grundsätze der ersten Philosophen als auch gegen den »Satz vom Seienden« des Parmenides gerichtet. Gegen jene behauptet er, dass Wissen nicht im Inhalt besteht, sondern in der Form, die das gedachte ›Eine‹ und das sinnlich erfahrbare ›alles‹ verbindet. Trotzdem bleibt es misslich, aus der Menge der überlieferten Heraklit-Fragmente die Nr. 50 auszuwählen und sie zum Grundsatz zu erheben. Einiges mag die Entstehungsgeschichte der Nummerierung erklären: Das von Heraklit verfasste Werk ist nicht überliefert. Die von H. Diels gesammelten Zitate spätantiker Autoren scheinen allesamt Theophrasts Werk »yusikwn doxai« als Quelle verwendet zu haben, so dass Heraklits Werk nur auf diesem Weg fragmentarisch überliefert ist. Diels hat nun da, wo Kriterien fehlten, die Fragmente in der alphabetischen Reihenfolge der Autoren geordnet, wodurch inhaltlich verschiedene Aussagen zusammengestellt und ähnliche auseinandergerückt wurden. Dies erklärt zumindest, dass die Ordnungszahl nichts über den systematischen Platz im ursprünglichen Werk aussagt. – Siehe dazu: Capelle 1968, 16–23. Hinsichtlich Heraklits Werk lässt sich als philologisch gesichert annehmen, dass es mit Fr. 1 beginnt. Dieses Fragment besagt, dass den immerseienden Logos die Menschen nicht begreifen. Es dürfte aber auch als sicher gelten, dass dieses Zitat das Werk nur eröffnet, nicht aber schon das Prinzip formuliert. K. Reinhardt hat bemerkt, dass das Fr. 50 als einziges das Logos-Wissen inhaltlich bestimmt (Reinhardt 1959, 219); und auch W. Capelle beginnt seine Darstellung der »Metaphysik« Heraklits mit diesem Fragment (Capelle 1968, 131). 81
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Auf die Frage nach dem, was Wissen ist, lässt sich nicht antworten: die arch von allem ist Luft. Es bedarf – vor allem Inhalt – der Bestimmung dessen, was Wissen ist. Gegen Parmenides hingegen behauptet der Satz, dass sich das Wissen nicht im Satz: ›(nur) Seiendes ist‹ erschöpft – mag dessen ›Wahrheit‹ durch die Göttin noch so verbürgt sein –, sondern in einem Satz, der das ›gefesselt‹ Eine und das ›ungefesselt‹ alles vereinigt. Wissen auf die Konsistenz des Gedachtseins festzulegen, so lässt sich sagen, ist für eine epistemologische Bestimmung ›zu wenig‹ ; es muss beides, das Gedachte und das Erfahrbare, ›einschließen‹. 2. Der »Satz vom Logos« schreibt zweitens dem Logos eine gemeinschaftsbildende Kraft zu: »den Logos hörende stimmen überein«. Durch das Hören des Logos wird die Übereinstimmung im Wissen, dass Eines alles sei, bewirkt. Dieser Teil des Satzes bezeichnet den Ort des Wissens. Er ist ausdrücklich nicht die Inspiration des Sängers oder Dichters, aber auch nicht »Heraklit selbst«, der als ›kühner Denker‹ dies Wissen bewirkt, und gleichfalls nicht das parmenideische »Haus der Göttin«. Als der Ort des Wissens gilt vielmehr diejenige Gemeinschaft der Wissenden, die durch das Vernehmen des Logos in den Hörenden bewirkt wird 82 . 3. Schließlich führt der »Satz vom Logos« den epistemischen Grund für die Aussage über das Wissen an. Denn der Logos bewirkt nicht nur die Übereinstimmung der ihn Hörenden, sondern begründet auch, dass die Aussage, Eines sei alles, Wissen ist. Heraklit bezieht sich weder auf Vergangenes, wie der Mythos, noch auf die Göttin als »Herz der Wahrheit«, und schließt ausdrücklich sich selbst als Begründungsinstanz aus. Der Satz bezeichnet vielmehr »den Logos« als diejenige Instanz, die jene Aussage als gemeinschaftliches Wissen begründet und garantiert. Fassen wir zusammen, so bestimmt der »Satz vom Logos« erstens das Wissen als eine Einheit von Einem und allem; er erhebt zweitens die Gemeinschaft der Logos-Hörenden zum Repräsentanten dieser Art des Wissens; und er führt drittens den Logos als Begründungsinstanz für das Wissen der Wissenden an. – Diese drei Bestandteile des Satzes sollen der Reihe nach untersucht werden: zuerst der Grundsatz, der festlegt, was Wissen ist; dann die episteDas Wortspiel »tou logou akousanta@ omologein« lässt sich ins Deutsche nicht übertragen. Ich interpretiere den Ausdruck so, dass er eine ›Logos-Gleichheit‹ vieler als Wirkung des einen Logos aussagt.
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Heraklit: Der »Satz vom Logos«
mischen Funktionen, die Heraklit dem Logos als gemeinschaftsbildender Kraft zuschreibt; und schließlich die Bedeutung des Logos als wissensbegründender Instanz. Hierzu werde ich auf andere Zitate Heraklits zurückgreifen, die die jeweilige Aussage konkretisieren bzw. deren Sinn erläutern. 1.
Der epistemische Grundsatz: »Eines ist alles«
1. Der Satz vom Logos enthält den Satz: »Wissen ist: Eines ist alles«. Dieser Satz sagt zwar aus, was Wissen ist; er nennt aber keine Regel, wie Wissen ist. Der Satz lässt sich daher so deuten, als bestünde Wissen darin, alles auf das ›in Wahrheit‹ Eine zurückzuführen, und enthielte so die Anweisung, von allem nur das eine auszusagen, dass es Eins sei, en kai sunece@. Wir hätten uns damit jedoch nicht vom Standpunkt des Parmenides entfernt, für den das Wissen nur im tauton bestand. Umgekehrt kann man den Satz auch so verstehen, dass ›in Wahrheit‹ Eines alles sei, und er die Anleitung enthielte, vom Einen nicht bloß Eines, sondern alles auszusagen sei. Dieses Verständnis des Satzes führte dazu, Heraklit als den Begründer einer Sophistik aufzufassen, die damit auf die Auflösung von Wissen zielt. 83 Mit dem Satz beschreibt Heraklit jedoch, so nehmen wir an, einen ›dritten Weg‹ : Wissen besteht weder in der ›Fesselung‹ des Seienden und ›Vertreibung‹ des Nicht-Seienden noch in der ›EntFesselung‹ des Einen in alles, sondern in der Vereinigung des Einen mit allem. Wenn wir zur Erläuterung der gemeinten Art dieser Vereinigung das Fragment Nr. 10 84 hinzuziehen, können wir präzisieren: »ek pantwn en kai ex eno@ panta« (aus allem Eines und aus Einem alles). Nach dessen Aussage wird also die wissensbildende Vereinigung von Heraklit nicht als ›Negation‹ des einen im anderen, sondern – irgendwie – als ein wechselweises ›Übergehen‹ des Einen in alles und umgekehrt konzipiert. Fürs erste wollen wir daher festhalten, dass der Satz offenbar die Anweisung enthält, dass das Wissen in einer Art ›rückläufigen Übergehens‹ von Einem und allem besteht. Zu den sog. »Herakliteern« siehe: Kirk 1994, 202. Fr. 10: »Verbindungen: Ganze und nicht Ganze, Zusammentretendes – Außereinandertretendes, Zusammenstimmendes – Missstimmendes; aus allem Eines und aus Einem alles.«
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2. Es ist bemerkenswert, dass Heraklit – nach allem, was wir wissen – diesen Satz weder begründet noch erklärt. Er gibt keine Antwort auf die Frage, warum dem rein gedachten Begriff des Einen der disparate Begriff von »allem« folgt. Der Satz behauptet dies schlicht. Ebenso fehlen Erklärung, wie und wodurch aus Einem alles bzw. aus allem Eines entstehen kann. An diesen Fragen zeigt Heraklit kein Interesse. Nach unserer Interpretation unterlässt Heraklit dies mit Recht. Denn wenn der Satz: »Eines ist alles« als epistemischer Grundsatz gilt, dann kann er nicht seinerseits einer Begründung unterworfen sein oder als Antwort auf eine ihm vorausgesetzte Frage verstanden werden. Er legt vielmehr a priori fest, was überhaupt Wissen ist. Würde daher Heraklit die Frage der parmenideischen Göttin beantworten, welcher »Zwang« denn bestehe, vom ›Einen‹ zu ›allem‹ überzugehen, so ginge er von dem Grundsatz aus, dass (nur) Seiendes ist, nicht aber vom Satz, dass Eines alles ist. Er überwände so nicht die Antinomie zwischen dem Seins- und dem Erfahrungswissen. Würde man den Satz hingegen als Antwort auf die Frage nach der arch verstehen, so verfehlte man gleichfalls den epistemologischen Status des Satzes; denn er sagt nicht aus, was das Ur- ist, aus dem alles entsteht, sondern definiert, was Wissen ist. Nach unserer Interpretation ist Heraklit kein yusiko@, sondern ein Epistemologe 85. 3. Vergleichen wir diesen Satz abschließend mit Parmenides’ »Satz vom Seienden« und ziehen daraus einen ersten Schluss hinsichtlich Heraklits Wissensbegründungsprogramm. Parmenides hatte die epistemische Geltung des Satzes: »(nur) Seiendes ist« mit der Macht und Kraft des reinen Denkens verbunden, während jegliches Erfahrungswissen sich nur in doxai ausdrücke. ›Wahres Wissen‹ bestehe daher im Wissen des Einsseins des Seienden, unter Ausschluss alles Andersseins. Demgegenüber legt der Grundsatz Heraklits das Wissen auf den Einschluss alles Andersseins fest: Wissen besteht in der Vereinigung, näher: im wechselweisen Übergehen von Einem und allem. Er formuliert damit die Alternative zur Epistemologie des Parmenides: der ›Weg des Wissens‹ führt nicht abgetrennt und jenseits des ›Weges der Erfahrung‹, sondern führt geradewegs in sie hinein und aus ihr heraus. Wissen, so können wir als Ergebnis des Vergleichs festhalten, besteht für Heraklit in der – paradoxen – Ver-
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Vgl. dazu: Reinhardt 1959, 206.
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einigung des autonom Gedachten der ›Unsterblichen‹ mit dem heteronom Erfahrenen der ›Sterblichen‹. 2.
Die drei Funktionen des Logos
Bevor wir uns den einzelnen Funktionen zuwenden, die Heraklit dem Logos zuschreibt, soll zunächst erläutert werden, in welchem Sinn wir den Ausdruck »o logo@« verwenden, und was unter den »epistemischen Funktionen« zu verstehen ist. Die Deutung des Ausdrucks »o logo@« ist für die Interpretation der Philosophie Heraklits von zentraler Bedeutung. Von ihr hängt ab, wie Heraklit historisch und systematisch beurteilt wird. Bezeichnet der Ausdruck die »göttliche Weltvernunft«, wie schon Sextus Empiricus (adversus Mathematicos, VII 126 ff.) ihn auslegte 86, den »Weltprozess« (Seidel 1987, 75) oder »den Sinn« – der Welt wie der Lehre (Snell 1926, 386, Anm. 1; auch: 1995, 19)? Bezeichnet er die Sprache, so dass Heraklit als der Entdecker der Sprachstrukturen als Bedingungen von Erkenntnis gelten könnte (Hoffmann 1925, 1 ff.)? Meint »o logo@« die Regeln, an denen das Denken sich orientieren müsse, und lässt sich demnach Heraklit als Begründer der Logik deuten (Reinhardt 1959, 219)? Bedeutet der Ausdruck die »vernünftige Rede« oder bezeichnet er schlicht das, was Heraklit sagt und schreibt, und könnte daher als »Rede Heraklits« übersetzt werden (Hölscher 1968, 130 ff.)? – Diese Unsicherheit über das von Heraklit Gemeinte ist zweifellos durch das Fragmentarische des überlieferten Textes und durch die Mehrdeutigkeit bedingt, mit der Heraklit den Ausdruck verwendet hat 87 . Ein Teil des Problems dürfte jedoch auch darin liegen, dass die Interpreten jeweils erkenntnistheoretische bzw. ontologische Differenzierungen wie »subjektiv-objektiv«, »Sprache-Rede«, »Logik-Denken« voraussetzen, die in dieser Form doch erst spätere Resultate sind und daher den Zugang zu der anfänglichen Bedeutung eher verstellen. Im Folgenden werden wir den Ausdruck rein epistemologisch Vgl. auch: Gadamer 2000, 44: »… in Wahrheit ist der Logos als Weltprinzip gedacht. Hegel ante diem.« 87 O. Gigon rechnet mit einer absichtlichen Mehrdeutigkeit des Ausdrucks, der einmal Wahrheit und Sinn des Alls, dann göttliches Gesetz, schließlich das göttliche Wesen bedeute. Siehe: Gigon 1945, 201 ff. 86
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deuten. Das heißt: wir fragen nicht, was der Ausdruck »o logo@« bedeutet, sondern welche Funktionen ihm innerhalb des »Satzes vom Logos« zukommen, welche Aufgaben also der Logos erfüllt, um den Satz: ›Wissen ist: Eines ist alles‹ als gemeinschaftlichen epistemischen Grundsatz zu begründen. Dabei werden wir den Ausdruck auf zwei verschiedene Weisen verwenden: zuerst soll er das Objekt bezeichnen, dem Heraklit, als Subjekt, die Funktionen zuspricht, durch die in den Hörenden ein gemeinschaftliches Wissen bewirkt wird. Diese Funktionen sind, so nehmen wir an, erstens das Gesetz, nach dem von ihnen alles als Eines gewusst wird, zweitens die »epistemische Kraft«, durch die das gemeinschaftliche Wissen bewirkt wird, sowie drittens der Zustand der »Erkenntnis«, in dem die LogosHörenden sich befinden. 88 Im Weiteren dann bezeichnet »o logo@« das Subjekt, das die von Heraklit entwickelte Logos-Theorie als Wissen begründet. Diese Verwendungsweise entspricht der Aussage im »Satz vom Logos«, dass diejenigen im Wissen übereinstimmen, die nicht auf ihn (Heraklit), sondern auf den Logos hören. a.
Die epistemische Regel: »Einheit Entgegengesetzter«
1. Betrachten wir zunächst die Zitate, die dem Logos die Funktion des Gesetzes zuschreiben, nach dem, wie es in Fr. 1 heißt, alles geschehe: »ginomenwn gar pantwn kata ton logon …«. Dabei soll unter dem Begriff des Gesetzes nur diejenige allgemeine Regel verstanden werden, nach der sich das Wissen bildet, dass Eines alles ist. Eine Gruppe von Zitaten lässt sich so deuten, als fasse Heraklit diese Regel als ein ›Fließen‹ auf. Fr. 49a: »In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht.« Fr. 12: »Steigen wir hinein in die gleichen Ströme, fließt andres und andres Wasser herzu«. Demnach wäre die im Bild des Flusses ausgedrückte Aussage, dass Eines alles ist, weil alles fließt, Seiendes nicht-seiend und Nicht-Seiendes seiend wird, jedes zugleich ein Anderes ist. Wäre nun aber dieses Fließen tatsächlich die Regel, von der Heraklit sagt, dass nach ihr alles geschehe, so hätten die Recht, die behaupten, dass
88 Wir nehmen also an, dass die Ausdrücke: »o nomo@ tou jeiou« (Fr. 114), »o jeo@« (Fr. 67; 88; 102), »to en soyon« (Fr. 108) oder »o logo@ ode« (Fr. 1), keine Mehrzahl von Subjekten, sondern unterschiedliche Funktionen Eines Subjekts bezeichnen. – Wir folgen H.-G. Gadamer: »… sein Logos ist Einer.« (Gadamer 2000, 54)
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nach Heraklit ein Wissen unmöglich sei 89 . Denn wenn das »alles fließt« die Regel wäre, dann wäre es nach ihr nicht möglich, dass alles Eines ist. Das »alles fließt« schließt das Einssein aus. 90 Heraklits Aussagen über das Fließen müssen daher einen anderen Sinn haben, als die Regel zu benennen, nach der alles geschieht. Es liegt deshalb nahe, sich auf andere Zitate zu beziehen. Eine Gruppe scheint diese Regel als einen »Kampf Entgegengesetzter« zu beschreiben. Fr. 53: »Krieg (polemo@) ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die andern als Menschen, – die einen lässt er zu Sklaven werden, die anderen Freie.« Fr. 80: »Zu wissen aber tut not: Der Krieg führt zusammen, und Recht ist Streit, und alles Leben entsteht durch Streit und Notwendigkeit.« Nach dieser Regel des »Kampfs Entgegengesetzter« wäre alles in dem Sinne Eines, dass alles in seiner Entgegensetzung Eines wäre, es – wie Platon im »Sophistes« (242d) über die »ionischen Musen« schreibt – »sich immer sondernd mische«. Jedes wäre in dem, was es ist, nicht ohne das Entgegengesetzte, und so wäre in der Tat Kampf und Streit der ›Vater‹ aller Dinge. Diese Fassung der Regel hätte zwar die Struktur einer Regel – sie wäre das unveränderlich Eine Gesetz, nach dem alles geschieht –, aber sie erfüllt nicht die Funktion, den Satz: ›Eines ist alles‹ als epistemischen Grundsatz zu erklären. Denn wäre es so, dass alles nach diesem Gesetz als ein Kampf Entgegengesetzter geschieht, dann wäre für dieses Wissen nicht der Satz: ›Eines ist alles‹, sondern: ›Zwei ist alles‹ die angemessene Beschreibung. Diese Regel formuliert den ›Dualismus‹ als Prinzip, nicht aber den ›Monismus‹. Sie erfüllt daher nicht die Funktion, jenen Satz als epistemischen Grundsatz zu erklären 91 . Eine dritte Gruppe von Zitaten schließlich be- und umschreibt die epistemische Regel als »Einheit Entgegengesetzter«. Fr. 8: »Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem UnstimAristoteles, Metaphysik, 1078b 15: »… denn vom Fließenden existiert keine Wissenschaft.« 90 Aristoteles hat treffend auf den Selbstwiderspruch dieser Annahme hingewiesen: wäre alles im Flusse, dann müsste die Aussage: »alles fließt« auch ›fließen‹. Dies aber würde jedem Gespräch, wie er meint, die Grundlage nehmen. – Siehe Metaphysik 1062a 30 ff. Vgl. auch: Platon, Kratylos 440 a ff. 91 K. Reinhardt bemerkt dazu, dies sei die Lehre der Eleaten: »alles in der Welt ist Gegensatz; folglich ist diese Welt der Gegensätze falsch, und wahr ist nur das ewig unveränderliche On.« (Reinhardt 1959, 208) Demgegenüber behaupte Heraklit »die Coinzidenz (H. v. m.) des Seins und Nichtseins«; »es ist alles in der Welt tauton« (ebd., 210). 89
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migen schönste Harmonie.« Fr. 51: »Sie verstehen nicht, wie das Unstimmige mit sich übereinstimmt: rückwendendes Maß wie bei Bogen und Leier.« 92 Nach dieser Fassung der Regel als »Einheit Entgegengesetzter« ist alles nicht nur entgegengesetzt, sondern ist aus seiner oder durch seine Entgegensetzung zugleich Eines. Nach ihr »fließt« weder alles noch ist alles »im Streit«, sondern ist alles in diesem Streit Eines. Erst diese Fassung der Regel, der gemäß alles widerstrebend sich vereinigt, erlaubt den Satz: ›Eines ist alles‹ als epistemischen Grundsatz zu erklären. Denn wenn diese »Einheit Entgegengesetzter«, to antixoun sumyeron, als die allgemeine und selbst unveränderliche Regel angenommen wird, nach der alles geschieht, dann erklärt sie zugleich, wie der Satz: »Wissen ist: Eines ist alles« als Grundsatz möglich ist. 2. Fragen wir noch nicht, ob nach dieser Regel überhaupt konsistente Aussagen gemacht werden können, sondern sehen zunächst auf den epistemischen Status, den sie in Heraklits Konzeption einnimmt, so können wir mit Sicherheit ausschließen, dass sie ein Gesetz der Erfahrung ist. Denn auf dem Weg der »vielerfahrenen Gewohnheit« kann eine solche Regel nicht gewonnen werden. Sie zeigt vielmehr, dass alles entsteht und vergeht. Sie ist aber sicher auch nicht das Gesetz des reinen Denkens, nach dem das Gedachte ein auton ist, das für Parmenides allein wahr ist. Heraklits Regel sagt weder aus, dass alles entsteht und vergeht, noch, dass nur Seiendes ist. Sie schließt weder das Seiendsein noch das Entstehen und Vergehen aus. Sie hat also weder den Status eines Erfahrungsgesetzes noch den des reinen Denkgesetzes. Angesichts dessen ließe sich nun annehmen, dass die Regel als »Einheit Entgegengesetzter« das sogenannte »Weltgesetz« beschreibt, so dass Aussagen, die nach dieser Regel gebildet werden, Wissen repräsentieren, weil sie mit diesem Gesetz übereinstimmen. Wir müssten dann aber Heraklit als einen »Mystiker« 93 deuten, dem über die Vermögen der sinnlichen Erfahrung und des kritisch-begrifflichen Denkens noch das Vermögen zukäme, ein solch inneres Weltgesetz zu schauen. Vgl. auch: »Es strebt wohl auch die Natur nach den Gegensätzen und wirkt aus ihnen den Einklang, nicht aus dem Gleichen. So führt sie das Männliche mit dem Weiblichen zusammen (und nicht etwa ein jedes zu seinesgleichen) und knüpft so den allerersten Bund durch die entgegengesetzten Naturen.« Der erudierte Satzaufbau weist jedoch daraufhin, dass dieser Text kein Originalzitat ist. – Siehe: Capelle 1968, 134. 93 So Reinhardt 1959, 256 f. 92
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Da wir Heraklit jedoch als Epistemologen verstehen, erklären wir diese Regel nicht aus einer solchen Schau, sondern aus der epistemischen Funktion, die Heraklit dem »Logos« zuschreibt 94 . Als solche formuliert sie das Prinzip, nach welchem die empirische Kontingenzbedingung und die logische Konsistenzbedingung, die etera und das auton, zusammen als ein Erfahrungswissen möglich sind. Denn nach ihm ist weder alles ein unaufhörliches Entstehen und Vergehen, wie es die Erfahrung zeigt, noch ist Seiendes nur seiend wie im reinen Denken, sondern alles ist in seiner Entgegensetzung zugleich Ein Seiendes. Dieses Prinzip nennt damit die epistemologische Bedingung, unter der die Antinomie zwischen dem heteronomen Erfahrungswissen und dem autonomen Seinswissen überwunden ist, da unter ihr ein Wissen als Einheit von heteronomer Erfahrung und autonomem Denken möglich ist. Es ist das Gesetz, nach dem, gemäß dem »Satz vom Logos«, alles als Eines und Eines als alles gewusst wird. b.
Die epistemische Kraft
1. Heraklit erläutert das Prinzip anhand einer Reihe von Sätzen. Fr. 88: »Ein und dasselbe ist Lebendiges und Totes und Wachendes und Schlafendes und Junges und Altes«. Fr. 62: »Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich, – lebend einander ihren Tod, ihr Leben einander sterbend.« Fr. 58: »Gut und Übel ist eins.« Fr. 61: »Meerwasser ein sauberstes und abscheulichstes«. Fr. 60: »Der Weg hin und her ist derselbe.« Fr. 111: »Krankheit macht Gesundheit süß und gut, Hunger die Sattheit, Mühe die Ruhe.« – Sucht man in diesen Sätzen das Gemeinsame, so ist es ihre paradoxe Struktur: entgegengesetzte Erfahrungsbegriffe, ›Lebendiges-Totes‹, ›Gut-Übel‹, ›sauber-abscheulich‹, ›hin-her‹, werden in eins gesetzt. Demnach ist
Auffassungen, das Prinzip der Einheit der Gegensätze künde vom Tiefsinn des Philosophen oder einer religiösen Betroffenheit, verzichten auf Erklärung. Wir sehen in Heraklit ein Arbeiter am griechischen »Projekt Autonomie«, das mit Thales begann und von Parmenides weitergeführt wurde. Kontrahenten Heraklits sind daher auch nicht wahllos andere, sondern die, die das Projekt gefährden: die Sänger Homer, Hesiod, Archilochos und Xenophanes, der Zahlenspekulant Pythagoras und der Geschichtenerzähler Hekataios. Sie gefährden durch ihre anmaßende Vielwisserei das Vorhaben, Wissen auf das Eine zu gründen. Es fällt deshalb auch kein polemisches Wort gegen die Mileter oder Parmenides.
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offenbar die Paradoxie die Satzstruktur, in der nach Heraklit dem epistemischen Grundsatz gemäß Wissen hergestellt wird 95 . Die Paradoxie ist als Eigenart der Philosophie Heraklits oft beschrieben worden. Aber der epistemologische Kontext, in dem sie rekonstruierbar wird, blieb vergessen. Schon Platon zeigt für diesen Zusammenhang kein Interesse mehr: dass entgegengesetztes zugleich mit sich übereinstimmt, ist für ihn keine begründbare Aussage mehr, sondern ein »völliger Widersinn« (Symposion 187a). Aristoteles nennt es die Behauptung Heraklits, entgegengesetzte Aussagen seien in Hinblick auf dasselbe wahr, und kommentiert, dieser sei sich wohl nicht recht bewusst gewesen, was er sage (Metaphysik 1062a 30). Je nach Standpunkt erscheinen Heraklits Paradoxien als Reden eines »Trunkenen«, »rätselhaft«, »tief« oder »dunkel«. Sie dienen als Kontrast zur Auszeichnung sinnvoller Sätze oder gelten als Ausdruck einer tiefen Religiosität dieses Denkers. Erst Hegel hat für sie wieder ein philosophisches Verständnis eröffnet; aber er interpretiert sie im Rahmen seiner Philosophie als spekulative Sätze: sie drückten das Werden des Absoluten aus, das sich sein Entgegengesetztes setzt. 96 Die Ursache der Verständnislosigkeit sehen wir in der Ausblendung des epistemologischen Zusammenhangs, in dem die Paradoxien stehen. Während Heraklit ringt, die heteronome Erfahrung überhaupt der epistemischen Herrschaft des rein gedachten unveränderlich Einen zu unterwerfen, setzen die Nachfolgenden diese Herrschaft schon als fraglos voraus. Ob unter dem Namen des »Guten«, »Gottes« oder der »Vernunft« – in jedem Fall gilt Eines als das Prinzip, das alles beherrscht. Unter dieser Voraussetzung aber müssen Heraklits Paradoxien in der Tat als unverständlich erscheinen. Dass dem Einen Gegensätzliches zugleich zukomme bzw. einander Entgegengesetztes mit sich übereinstimme, dies kann nur noch als ein unverständliches Gerede rezipiert werden 97 . Insofern verstehen wir Vgl. dazu Hölscher 1968, 136 ff. Hegel anerkennt die Paradoxien Heraklits, weil er ihn ›tauft‹. Er unterstellt, dass für Heraklit der Logos Ursache und Prinzip der Bewegung sei. »Dies Eine ist nicht das Abstrakte, sondern die Tätigkeit, sich zu dirimieren (H. v. m.); das tote Unendliche ist eine schlechte Abstraktion gegen diese Tiefe, die wir bei Heraklit sehen … Dass Gott die Welt geschaffen, sich selbst dirimiert, seinen Sohn erzeugt hat u. s. f., – alles dies Konkrete ist in dieser Bestimmung enthalten.« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 326) 97 Dieser Erklärung entspricht, dass eine positive Rezeption der Paradoxien Heraklits erst erfolgte, als die »Entwicklung« oder der »Fortschritt« zum Paradigma erhoben und 95 96
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unsere epistemologische Rekonstruktion der Paradoxien Heraklits auch als eine ›Archäologie‹ dieser Art des Wissens. 2. Um die Paradoxie der zitierten Sätze erklären zu können, wollen wir zunächst auf die zweite Funktion des Logos, die »epistemische Kraft«, eingehen. Sie bewirkt, nach dem »Satz vom Logos«, die Übereinstimmung im Wissen, dass alles Eines ist. Diese Kraft hatte Parmenides als Dikh, die »gerechte Gewalt«, vorgestellt, die dem Seienden das Gesetz der Identität aufzwingt; der Logos Heraklits hingegen zwingt dem, was ist, ein anderes, sein Gesetz auf, die »Einheit Entgegengesetzter«. Die Kraft des Logos besteht daher nicht in der Vertreibung des Andersseins, sondern in der Unterwerfung von allem, was ist, unter sein Gesetz und damit im Einschluss des Andersseins unter dessen Herrschaft. Hier konstituiert sich also das »Reich des Wissens« nicht jenseits der Erfahrung im reinen Denken, sondern in derjenigen Erfahrung, der der Logos sein Gesetz aufzwingt. – Nach dieser Erklärung der epistemischen Kraft sind also die Paradoxien, die Vereinigungen Entgegengesetzter, nicht nur Eigentümlichkeiten Heraklits; sie sind vielmehr Ausdruck der Gewalt, mit der der Logos das Veränderliche der sinnlichen Erfahrung unter seine Herrschaft, die Herrschaft des Einen, zwingt. Für diese Art des Logos-Wissen ist weder die doxa noch das axiwma, sondern das paradoxon, die Ineinssetzung Entgegengesetzter, die angemessene Darstellungsform. Statt dieser Erklärung der Paradoxien nun im Allgemeinen nachzugehen, wollen wir ein Heraklit-Zitat interpretieren, das den Zusammenhang zwischen den Paradoxa als Darstellungsform des Wissens vom »All-Einen« und der epistemischen Kraft des Logos veranschaulicht. – Fr. 94 überliefert den merkwürdigen Satz: »Die Sonne wird die Maße nicht überschreiten; wenn aber doch, werden die Erinnyen, der Dike Schergen, sie erwischen.« In diesem Fragment macht der erste Satz keine Schwierigkeit. Er drückt die geläufige, auf Erfahrung gegründete Vorstellung vom regelmäßigen Aufgang und Untergang der Sonne aus 98. Diese Darstellung des Phänomens lässt der »Antagonismus« als deren Mittel formuliert wurde. Auf dieser Grundlage wurden die Paradoxien als bildhafte Ausdrücke einer dialektischen Logik interpretierbar. Es ist jedoch evident, dass für Heraklit selbst eine solche »Logik der Entwicklung« weder das Problem noch das Thema war. 98 Heraklit erklärt dieses Phänomen allerdings nicht durch den Kreislauf der Sonne um die Erde (oder deren Rotation), sondern durch die tägliche Neugeburt und den täglichen Tod der Sonne. – Vgl. Fr. 6; auch: Diogenes Laertius 1998, IX 9–11. A
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sich auch zwanglos unter die Regel der »Einheit Entgegengesetzter« bringen: im regelmäßigen Wechsel des Entstehens und Vergehens bleibt die Sonne selbst das unveränderlich Eine. Heraklits Aussage, dass die Sonne ihre Maße nicht überschreitet, entspricht so nicht nur der Erfahrung, sondern auch seiner aufgestellten Regel. Wie aber kommt Heraklit zur Annahme, die Sonne könne die Maße überschreiten und werde dafür verfolgt? Um diese Aussage zu verstehen, genügt es offenbar nicht, nur Heraklits Darstellung des Phänomens nachzugehen. Sie gewinnt nur Sinn, wenn sie auf einer Ebene interpretiert wird, auf der es nicht um die Darstellung, sondern um die Kritik und Begründung von Wissen geht. Auf dieser Ebene lässt sich der zweite Satz des Fragments als Beschreibung eines Konflikts zweier Subjekte interpretieren: Wenn Heraklit annimmt, die Sonne könne die Maße überschreiten, dann setzt er offenbar voraus, die Sonne sei selbst ein mächtiges Subjekt oder das sichtbare Zeichen eines solchen. Hlio@, als selbstmächtiges Subjekt, vermag es, den Maßen zu widerstreben und sie zu überschreiten. Wenn Heraklit nun im Fall der Überschreitung mit der Verfolgung durch Dikes Schergen droht, so setzt diese Drohung zum einen den Widerstreit zweier Subjekte voraus: Dikh, die der Sonne die Maße setzt, und Hlio@, der aus eigener Macht das gesetzte Maß zu überschreiten vermag. Zum anderen impliziert die Drohung eine Rangordnung beider Subjekte: das Subjekt der Verfolgung ist Dikh, die Göttin des Rechts, die die Überschreitung der Maße als »Unrecht« qualifiziert, und die Erinnyen als deren ›Polizei‹, die qua Verfolgung die Herrschaft des maßgebenden Subjekts (wieder)herstellen. Hlio@ hingegen ist der Adressat der Drohung: er wird zum unrechtmäßigen Subjekt und zum rechtmäßig unterworfenen Objekt erklärt, dessen Lauf nicht aus eigener Macht geschieht, sondern den gesetzten Maßen zu genügen hat. Fassen wir diese im zweiten Satz formulierte Folge von Überschreitung und Verfolgung zusammen, so können wir sagen: aus dem Konflikt beider Subjekte geht – qua Sanktionsandrohung – unter der Herrschaft des einen Maß und Harmonie hervor. Der in diesem Zitat dargestellte Konflikt zwischen Hlio@ und Dikh lässt sich sinnvoll nur als Beschreibung des epistemologischen Kampfes um die Entmythologisierung und die Logifizierung des Erfahrungswissens deuten. Der die Maße überschreitende Hlio@ repräsentiert das mythische Wissen, das im Auf- und Untergang der Sonne die Wirkung einer eigenen Macht erkennt. Aus dem Wissen um 148
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diese Eigenmacht resultierte die Furcht, die Sonne könne sterben oder verschwinden, ohne Wiedergeburt und Neuentzündung, oder könne nicht verlöschend alles verbrennen und vertrocknen; eine Furcht, die durch Rituale der Sonnenverehrung gebannt wurde. Dieser Wissensart sagt Heraklit den Kampf an: das mythische soll durch die Art eines gemeinschaftlichen Erfahrungswissens ersetzt werden, in dem alles der Herrschaft des einen Subjekts als der allein und zu Recht maßgebenden Instanz untergeordnet ist. Was widerstrebt, wird der Verfolgung ausgesetzt. 99 – Auch wenn Heraklit im Zitat die rechtmäßige Vollzugsgewalt die »Erinnyen« nennt, so fasst er sie doch nicht mythisch als selbständige Handlungssubjekte auf, sondern als Bild für die unwiderstehliche Wirkungsmacht, die er dem maßgebenden Einen zuschreibt. Hatte Parmenides die Welt der Erfahrung noch der Heteronomie wegen aus dem »Reich des Wissens« verbannt, geht es Heraklit jetzt um die ›Umwandlung‹ des mythischen in logisches Erfahrungswissen, um den Sieg des Einen, allein und allem maßgebenden Subjekts über die heteronomen Mächte. Aus diesem Kampf aber gehe jenes als »Freier«, diese als »Sklave« hervor; während jenes die Maße setzt, geben diese den bloß sinnlichen ›Stoff‹ 100 . 3. Lesen wir Heraklits Paradoxien auf dem Hintergrund dieses Kampfes, so verdeutlicht er, in welchem Sinn sie Entgegengesetztes vereinigen. Sie setzen nicht, wie Aristoteles annimmt, ein Eines voraus, von dem dann Entgegengesetztes ausgesagt wird. Das Wesentliche dieser Paradoxien ist aber auch nicht, dass Entgegengesetztes ineinander umschlägt. Es liegt vielmehr darin, dass im haltlosen Umschlagen Entgegengesetzter ineinander sich zugleich die Kraft des Logos zeigt, die alles unter die Herrschaft des einen Gesetzes zwingt; dass dem Widerstrebenden ›in Wahrheit‹ kein Eigensein zukommt, sondern alles nur unter dem einen Gesetz geschieht. Daher lässt sich Diese epistemologische Dimension des Konflikts verdeutlicht Fr. 28: »Dike wird die Schmiede und Zeugen der Lügen fassen.« 100 Das Zitat zeigt Heraklit an der Nahtstelle zwischen mythischem und logischem Erfahrungswissen. Was er noch als Konflikt zwischen dem mythischen Wissen der Sonne als Eigenmacht und dem logischen Wissen als selbstlosem Objekt beschreibt, hat die Philosophie rasch verdrängt und vergessen. Für Anaxagoras schon und für Leukipp und Demokrit ist es ausgemacht, dass die Sonne nichts als ein »glühender Brocken« ist, der selbstlos von der Macht der Notwendigkeit getrieben wird; für Platon und Aristoteles ist sie ein »göttlicher Weltkörper«, der gleich den anderen Gestirnen selbstlos-selig seine Kreisbahn ewig durchläuft. Die Vorstellung von der Sonne als Eigenmacht erscheint rasch nur noch als ein Märchen aus alter Zeit. 99
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die Struktur dieser Paradoxien nicht so beschreiben, als begönne Heraklit mit dem Einen, dem auton, von dem dann Entgegengesetztes ausgesagt würde. Er beginnt vielmehr mit etera, mit Erfahrungsbegriffen, dem Sterblichen, dem Lebenden, dem Kranksein; diese werden aber nur dann in die Form des Wissens gebracht, wenn sie nicht – mythisch – in ihrem ›Eigensein‹ erkannt werden, sondern wenn sich in ihrem haltlosen Umschlagen ins Entgegengesetzte zugleich das Eine als das Unveränderliche, allein Maßgebende und Mächtige zeigt, wenn also in diesem Umschlagen die Begriffe der Erfahrung dem rein gedachten Einen untergeordnet sind. Für diese Art des Einesseins Entgegengesetzter aber ist die Paradoxie die angemessene Darstellungsform. 101 Diese Kraft, die in allem dieses Einessein bewirkt, können wir nun im Allgemeinen mit Heraklit als »das Göttliche« (to jeion) bezeichnen, von dem das Fr. 114 sagt: »… denn das herrscht so weit es will und reicht hin im All und setzt sich durch.« Die so begründete Art des Erfahrungswissens besteht daher sowohl ›nach dem Logos‹ (kata ton logon) als auch ›kraft des Logos‹ (dia ton logon). Diese Kraft bewirkt, dass dem »Satz vom Logos« gemäß ein gemeinschaftliches, auf das Eine gegründetes Wissen entsteht. c.
Die Erkenntnis
Schließlich spricht Heraklit dem Logos die Funktion der Erkenntnis (h gnwmh) zu. Es fällt allerdings schwer, aus den überlieferten Fragmenten einen bestimmteren Begriff dieser Erkenntnis zu gewinnen. Denn dass, wie es in Fr. 78 heißt, die Erkenntnis nicht menschlicher, sondern göttlicher Art ist, sagt nicht aus, was sie ist. Und Fr. 41 sagt zwar aus, was Erkenntnis ist; aber es ist so vieldeutig 102 , dass sich 101 Diese paradoxe Satzstruktur macht die Figur des Kreises anschaulich: Auf der Ebene des Gedachten ist der Kreis das unbeweglich Eine, das weder Anfang noch Ende hat. Von diesem unbeweglich Einen sagt Parmenides (Fr. 8, 3), es sei eine »wohlgerundete Kugel« (eukuklo@ syaira). Auf der Ebene der Erfahrung hingegen ist der Kreis die Gestalt einer Bewegungsart, die sowohl Anfang als auch Ende hat, aber so, dass der Fortgang vom Anfang zugleich Rückkehr ist. Von ihm sagt Heraklit in Fr. 103: »Gemeinsam ist Anfang und Ende auf dem Umfang des Kreises.« Nach unserer Deutung ist nun aber dieser rückläufige Fortgang nicht die ursprüngliche Bewegungsform; er ist vielmehr die Wirkung der »Kraft des Logos«, die dem Bewegenden die ›Form‹ des Einen gewaltsam einbildet. Erst ›nach‹ diesem Akt der Ein-bildung lässt sich sagen, dass die Kreisbewegung das Eine ab-bilde. 102 Fr. 41: »Einai gar en to soyon, epistasjai gnwmhn, oteh ekubernhse panta dia
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Heraklit: Der »Satz vom Logos«
daraus kaum ein klares Verständnis gewinnen lässt. Um daher dieser Funktion des Logos näherzukommen, wählen wir den Vergleich. Da Heraklits Aussagen über das menschliche Erkennen nachvollziehpantwn.« Dieses Fragment ist durch Diogenes Laertius (IX, § 1) überliefert. Es ist oft so übersetzt worden: Eines ist weise (oder: das Weise), die Einsicht zu erkennen, die alles durch alles lenkt. (vgl. Diogenes Laertius 1998, Bd. 2, 159; Capelle 1968, 139). Diese Übersetzung stimmt mit der stoischen Auffassung überein, wonach es dem Weisen zukomme, in allem die alles lenkende Weltvernunft zu erkennen. Ist dies aber auch die Aussage des Fragments? Gegen diese Deutung von »en to soyon« hat K. Reinhardt eingewandt, dass Diogenes Laertius offenbar zwei verschiedene Heraklit-Zitate zusammengestellt habe: dasjenige Zitat, das gegen die Vielwisserei Hesiods, Pythagoras’ u. a. polemisiert (Fr. 40), und obiges Zitat. Würde man das Zitat jedoch aus diesem Kontext lösen und es mit Fr. 32 korrelieren, das vom »en to soyon« aussagt, es wolle und wolle nicht ›Zeus‹ genannt werden, und – so wollen wir hinzufügen – mit Fr. 108, das von ihm aussagt, es sei das von allem Abgesonderte, so ließe sich »en to soyon« nicht durch »Eines ist weise« übersetzen, sondern müsse durch »das Eine, das All-Weise« übersetzt werden. In diesem Fall aber, so Reinhardt, könne das folgende »epistasjai gnwmhn« nicht heißen: »die Einsicht erkennen«, sondern: »die Erkenntnis besitzen«, so dass seine Übersetzung lautet: »Wahre Einsicht hat allein das Eine, das Allweise, als die da ist: alles durch alles zu regieren« (Reinhardt 1959, 200, Anm. 1). Akzeptiert man die Interpretation, »to soyon« nicht prädikativ, sondern substantivisch als das Eine Subjekt zu verstehen, dem das »Erkenntnis besitzen« prädiziert wird, so ergibt sich als weiteres Problem, wie der Nebensatz: oteh ekubernhse panta dia pantwn zu verstehen ist. G. S. Kirk et al. führen insgesamt sechs Textversionen an (Kirk 1994, 221, Anm. 22): oteh kubernhsai, ot’ egkubernhsai, oteh ekubernhse, oph kubernatai, oteh kubernatai, okh kubernatai. Während die einen Versionen den Nebensatz mit dem Relativpronomen »die« oder »welche« (oteh) beginnen lassen, das sich auf »gnwmh« bezieht, und folglich das Verb des Nebensatzes aktivisch deuten, lassen die anderen den Nebensatz mit der Konjunktion »wie« oder »dass« (oti, okh, oph) beginnen und deuten das Verb passivisch. Das eine Mal also: »…, welche alles durch alles regiert«; das andere Mal: »…, wie/dass alles durch alles regiert wird.« Im einen Fall ist die Erkenntnis das, was regiert; im anderen Falle ist sie das, was die Art des Regiertwerdens erkennt. Von jener Deutung können wir sagen, dass hier die Erkenntnis (gnwmh) mit dem zusammenfällt, was wir als die »epistemische Kraft« des Logos rekonstruiert haben; sie ist das, was alles regiert. Nach der zweiten Deutung wird sie jedoch als eine andere Eigenschaft aufgefasst, nämlich als die, die dies Regiertwerden erkennt. Wenn nun das »en to soyon«, womit das Zitat beginnt, nicht das »Weise-Sein« bedeutet, sondern das »Allweise«, von dem Heraklit auch sagt, es sei das von allem Abgetrennte, dann fällt es schwer zu verstehen, wie dies Abgetrennte zugleich doch alles regieren soll; leichter jedoch, dass es das Regiertwerden erkennt. Uns erscheint es daher sinnvoller, die Erkenntnis (gnwmh) als eine andere, vom Regieren (ekubernhse) verschiedene Eigenschaft zu rekonstruieren, um erst dann zu fragen, wie beide in Heraklits Gesamtkonzept ›zusammenhängen‹. Wir übersetzen Fr. 41 also: »Denn es ist das Eine Wissende, das die Erkenntnis besitzt, wie alles durch alles regiert wird.« A
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barer sind, versuchen wir auf diesem indirekten Weg zu klären, was jene »göttliche Erkenntnis« ist, und welche Rolle ihr im epistemologischen Kontext zukommt. 1. Fragen wir, wann Menschen erkennen, so antwortet Heraklit: im Zustand des Wachseins. Fr. 89: »Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt (ena kai koinon kosmon); im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu.« Demnach erklärte Heraklit den epistemischen Zustand der Erkenntnis durch den psychischen Zustand des Wachseins. Was aber kann »Wachsein« bedeuten, wenn der psychische Zustand nicht zirkulär durch den epistemischen erklärt wird, und Heraklit damit offenbar auch nicht den alltäglichen Wachzustand meint 103 ? Da Heraklit nun diejenigen als »unwissend« (axunetoi) bezeichnet, die erfahrend unerfahren sind (Fr. 1), die hörend taub und anwesend abwesend sind (Fr. 34) 104 , lässt sich schließen, dass ihm umgekehrt derjenige »wissend« ist, der erfahrend erfährt, hörend hört und anwesend anwesend ist. Zur Kennzeichnung dieses Zustands einer anwesenden Anwesenheit erscheint mir nun der Ausdruck der »Gegenwärtigkeit« als angemessen. Denn er bezeichnet anderes als das bloße Wachsein, nämlich einen Zustand, worin Wachsein und Wissen, der psychische und epistemische Zustand, ›zusammenfallen‹. Diesen Zustand der Gegenwärtigkeit verstehen wir nun als den der Erkenntnis. Während Parmenides noch, wie gesehen, diese Gegenwärtigkeit nur auf das reine Denken bezogen hat, dem (auch) abwesendes anwesend ist, bezieht sie Heraklit, seinem Grundsatz gemäß, auf das Haben der einen und gemeinsamen Welt. Erkenntnis besteht für ihn also darin, dass in allem, was erfahren wird, zugleich das Eine als das allem Gemeinsame gegenwärtig ist. Heraklit formuliert damit eine Theorie der Erkenntnis, die sie auf den Begriff des Gemeinsamen, des xun-on, festlegt, in dem das All der Erfahrung und das Eine des reinen Denkens nicht getrennt, sondern als Ein Kosmos miteinander ›verbunden‹ sind. 105 103 Denn sonst könnte Heraklit nicht sagen (Fr. 1), den Menschen bleibe verborgen, was sie wachend tun, wie sie im Schlaf es vergessen. 104 Vgl. Fr. 19: »Die zu hören nicht verstehen noch zu sprechen.« Die Aussage des Zitats kann nicht sein, dass sie taub und stumm sind, sondern dass sie zwar hören und reden, aber dies nicht verstehen. Sie vergegenwärtigen nicht ihr Hören und Reden; sie werden vom Gehörten und Geredeten besessen, statt es zu besitzen. 105 Vgl. auch Gadamer 2000, 56: »Es ist gerade nicht Unterscheiden, sondern in allem Unterschiedenen das Eine gewahren: Das ist die heraklitische Botschaft. Was die ande-
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2. Nun stellt sich unserem Vorgehen jedoch das Problem, dass wir diesen Begriff der Erkenntnis aus Zitaten über das menschliche Erkennen gewonnen haben, dass für Heraklit jedoch die Erkenntnis nicht von menschlicher, sondern allein göttlicher Art ist. Daher gelte selbst für den wachesten Menschen, dass er nicht das allem Gemeinsame erkennt, sondern im eigenen Meinen befangen bleibt (Fr. 28), und dass er im Vergleich mit Gott wie ein Affe (Fr. 83) bzw. wie ein Kind erscheint (Fr. 79). Wir haben folglich den Erkenntnisbegriff anhand der menschlichen Erkenntnisart zu klären versucht, von der Heraklit jedoch annimmt, sie sei keine wahre Erkenntnis. Diesem Problem begegnen wir nun mit der Annahme, dass jener Zustand der Gegenwärtigkeit in der Tat nur dem Göttlichen zukommt. In Fr. 41 nennt Heraklit es »das Eine, das weiß« (en to soyon). Dieses Eine besitzt die Gegenwärtigkeit, die in allem zugleich das Eine als das Gemeinsame erkennt, und die der Mensch nicht besitzt. Für das Eine gilt also, dass ihm die Differenz zwischen einem »Wachsein«, dem alles ein gemeinsamer Kosmos ist, und dem Zustand, in dem selbst der wissendste Mensch im eigenen Meinen verbleibt, fehlt, dem also in der Tat alles als ein gemeinsamer Kosmos gegenwärtig ist. Diesem Einen ist daher alles, wie es in Fr. 102 heißt, schön, gut und gerecht; während die Menschen trennen und das eine als unrecht, das andere als recht annehmen. Nun macht diese Zuordnung der Erkenntnis zum Göttlichen freilich nur Sinn, wenn sie zu erklären vermag, wie auch dem Menschen ein solcher Zustand der Gegenwärtigkeit möglich ist. Denn wie sonst könnte der »Satz vom Logos« aussagen, dass die Menschen im Hören des Logos zum gemeinschaftlichen Wissen gelangen; und wie sonst könnte Heraklit sagen, was Wissen ist und wie jedes sich verhält? Wenngleich es nach Heraklit nicht die menschliche Art ist, das Gemeinsame zu erkennen, so muss die menschliche Seele offenbar doch ein Vermögen besitzen, sich dem Zustand solch göttlicher Gegenwärtigkeit anzunähern. Denn nur unter dieser Bedingung lässt sich sagen, dass das Logos-Hören ein gemeinschaftliches Wissen bewirkt.
ren für verschieden halten, wie Hesiod Tag und Nacht, ist in Tat und Wahrheit eins und dasselbe. Die heraklitische Lehre wird ständig in dieser Weise formuliert: en to soyon. Ich halte das für den eigentlichen und ursprünglichen Satz, der von Heraklit in seinem Buche anscheinend mehrfach wiederholt wird.« A
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Nach dem uns Überlieferten hat Heraklit dies nicht näher ausgeführt. Der »Satz vom Logos« nennt das Hören des Logos als die Bedingung gemeinschaftlichen Wissens; die Fragmente 2 und 114 postulieren die Notwendigkeit, dem gemeinsamen Logos zu folgen bzw. sich auf das Gemeinsame von allem zu stützen, und Fr.112 sagt aus, dass diese Erkenntnisart die höchste Tugend sei. Wie jedoch das Hören des Logos als ein Vorgang der Seele zu verstehen ist, die sich von der menschlichen Art des eigenen Meinens ab- und der göttlichen Art der Gegenwärtigkeit der einen gemeinsamen Welt zuwendet, und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Menschen dem gemeinsamen Logos folgen können, lässt Heraklit ungeklärt 106 . Er scheint ein solches Vermögen der menschlichen Seele nur behauptet 107 und ihren Gebrauch nur postuliert zu haben. Er benennt das Problem, nicht die Lösung. Doch er hat mit diesem Problem, wie denn das Logos-Wissen in der menschlichen Seele überhaupt aktualisierbar ist, das Gebiet einer neuen, epistemologisch begründeten Anthropologie und Seelenlehre vorgezeichnet 108 . Die Bilder vom Aufstieg, der Teilhabe oder des göttlichen Funkens, die das Verhältnis der menschlichen Seele zur göttlichen Erkenntnis zu fassen suchen, sind jedenfalls späteren Datums.
C. Der »Logos selbst« Wir sind vom »Satz vom Logos« ausgegangen, der nicht nur den epistemischen Grundsatz formuliert, dass alles Eines ist, sondern 106 Es sei denn, man hält die Theorie der Einatmung (anapnoh) des göttlichen Logos, die Sextus Empiricus (adversus Mathematicos VII, 129) gibt, als erklärungskräftig. Siehe: Kirk 1994, 225 f.; Capelle 1968, 149, Anm. 2. 107 So, wenn Heraklit sagt: Fr. 116: »Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.« 108 Im Kontext einer solchen Seelenlehre steht wohl die eingangs zitierte Unterscheidung zwischen den »Barbarenseelen« (vucai barbarai) und den »griechischen« (?) Seelen. Diese können jedenfalls weder nur als parmenideische brotoi aufgefasst werden, die von der Macht der »vielerfahrenen Gewohnheit« getrieben sind, noch nur als die ›schlafenden‹ Wesen, die Heraklit beschreibt. Denn unter diesen Bedingungen wäre ein Wissen, wie es Heraklit aufstellt, für Menschen nicht möglich. Heraklits LogosEpistemologie erfordert eine neue Anthropologie, die Menschen oder einige als Wesen beschreibt, die ›irgendwie‹ an der göttlichen Erkenntnisart teilzuhaben vermögen. – Zur Genesis der »universalistischen Sprachfigur« des Hellenen, der dem Logos folgt, und dem Barbaren, der vernunft- und daher gesetzlos ist, siehe: Eichler 1992, 859–869.
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auch die Theorie eines gemeinschaftlichen Logos-Wissens impliziert. Diese haben wir anhand der drei Funktionen rekonstruiert: dem Gesetz der »Einheit Entgegengesetzter«, nach dem alles als Eines, der Kraft, durch die alles als Eines, und der Erkenntnis als Art, wie alles als Eines gewusst wird. Was aber ist der Logos selbst? Und wie hängen die drei Funktionen mit ihm zusammen? Hatte Parmenides die Einheit noch in Gestalt der Göttin vorgestellt, die als Dikh das Gesetz gibt und das Seiende bindet und als Qea das »Herz der Wahrheit« mitteilt, fehlt bei Heraklit ein solches Bild. Er benennt das Eine nur mit den Namen »o logo@« (Fr. 1), »en to soyon« (Fr. 41) oder »en to jeion« (Fr. 114), und sagt von ihm doch, es wolle nicht und wolle »Zeus« genannt werden (Fr. 32). – Dieses Fehlen von Aussagen über das Eine selbst soll nun weder als konzeptioneller oder begrifflicher Mangel noch als Ausdruck des religiösen Schweigens gedeutet, sondern als notwendiges Element der heraklitischen Epistemologie erklärt werden. 1.
Das Absolute als epistemischer Grund
Das einzige überlieferte Zitat, das das Fehlen von Aussagen über das Eine erklärt, besagt, dass »das Wissende« getrennt von allem sei. Fr. 108: »So vieler Reden (logou@) ich gehört habe, keiner ist dazu gelangt zu erkennen, dass das Wissende getrennt von allem ist (oti soyon esti pantwn kecwrismenon).« Da dieses Fragment dem »Satz vom Logos« in gewisser Hinsicht ähnlich ist, soll es mit ihm zunächst verglichen werden. Formulieren wir dazu die Aussage des Satzes dementsprechend um, lässt er sich folgendermaßen lesen: »Wer nicht auf die vielen »logoi« hört, sondern auf den einen »logo@«, gelangt zur Erkenntnis, dass das Wissende getrennt von allem ist.« So gelesen, scheint der Satz nun aber das Gegenteil des »Satzes vom Logos« zu behaupten; denn dieser sagt aus, dass man im Hören auf den Logos erkennt, dass Eines alles ist. Wie aber ist es möglich, im Hören auf dasselbe, den Logos, einmal zu erkennen, dass Eines alles ist, das andere Mal aber, dass das Eine getrennt von allem ist? Um den Widerspruch beider Sätze aufzulösen, wollen wir zwei Ebenen unterscheiden: auf der einen, der epistemischen Ebene, enthält der Satz die negative Aussage, dass es zwar Wissen ist, dass Eines A
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alles ist, dass aber vom Wissenden selbst, weil getrennt von allem, ein Wissen nicht möglich ist; auf der anderen, der epistemologischen Ebene, enthält der Satz jedoch die positive Aussage, dass das Wissende getrennt von allem ist, weil es der Grund des Wissens ist, dass Eines alles ist. 1. Auf der epistemischen Ebene folgt aus der Erkenntnis des Getrenntseins, dass vom Wissenden selbst ein Wissen nicht möglich ist. Denn da das Wissen, nach dem »Satz vom Logos«, darin besteht, dass Eines alles ist, das Wissende selbst aber getrennt von allem ist, ist von diesem ein Wissen nicht möglich. Dieses Wissende ist offenbar kein Seiendes von der Art, dass es dem Werden und dem Gesetz der »Einheit Entgegensetzter« unterläge; es ist aber auch nicht die eine und gemeinsame Welt, wie sie der Erkenntnis gegenwärtig ist. Getrennt von allem kann vom Wissenden nichts gewusst werden. Es ist auf der epistemischen Ebene also ein Absolutum, ein ›Nichts‹, das weder vorgestellt noch gedacht noch erkannt werden kann. So verstanden, gibt uns der Satz die Erklärung, warum wir keine Aussage Heraklits über das Eine selbst finden. Heraklits Aussage, dass noch keiner zu dieser Erkenntnis gelangt sei, lässt sich auch als Kritik an Parmenides verstehen. Denn in seinem Lehrgedicht war das Wissende zwar von göttlicher Art, aber nicht getrennt von allem ist. Parmenides stellt es vielmehr in Gestalt der Göttin vor, die nicht nur das Seiende fesselt und NichtSeiendes vertreibt, sondern ihm zudem das »Herz der Wahrheit« in der veränderlichen Form der Rede mitteilt. Parmenides’ Vorstellung der Göttin vereinigt so zwei disparate ›Aspekte‹ : einerseits das Wissende selbst, das als das »unzerstörbare Herz der Wahrheit« codiert, was Wissen ist, und das als dies »Herz« getrennt vom Handeln und Reden ist, weil es der Grund dieses Handelns und Redens ist; andererseits aber ein handelnden und redenden Subjekt, das durch das, was es tut, eine Veränderung bewirkt: im Seienden, das es als nur seiend fesselt, und in Parmenides, in dem es redend ein Wissen bewirkt. Parmenides, so wollen wir die implizite Kritik deuten, stellt sich das Wissende wie ein Mensch vor, der ein Herz hat, in dem die Wahrheit sitzt, der Hände hat, die das Seiende fesseln, und einen Mund, der die Wahrheit mitteilt. So aber könne das Wissende selbst nicht bestimmt werden. 2. In positiver Hinsicht verstehen wir den Satz über das Getrenntsein als eine epistemologisch notwendige Annahme. Er erfüllt in Heraklits Programm die Funktion, den »Satz vom Logos« zu 156
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begründen. Während der »Satz vom Logos« festlegt, was Wissen ist, und wir rekonstruiert haben, nach welchem Gesetz, durch welche Kraft und auf welche Weise dieses Wissen statthat, ist der Satz vom Getrenntsein des Wissenden auf den Grund der epistemischen Geltung dieses Satzes bezogen. Dieser Grund aber kann nicht gewusst sein, eben weil er der Grund des Wissens ist. In dieser positiven Bedeutung des Satzes besteht der springende Punkt nun darin, dass in ihr nicht nur die Ebene, sondern auch das Subjekt gewechselt wird. War das Subjekt bislang Heraklit, der angesichts der Antinomie von Seins- und Erfahrungswissen erneut festlegte, was Wissen ist, und dem Logos die Funktionen zuschrieb, die ein solches Wissen bewirken, wird durch den Ebenenwechsel der Logos selbst zum Subjekt. Dieser Bedeutung des Wissenden als Grund des Wissens entspricht die Aussage im »Satz vom Logos«, dass diejenigen im Wissen übereinstimmen, die nicht auf ihn (Heraklit), sondern den Logos hören: »ouk emou, alla tou logou akousanta@ …« Damit aber stellt sich die Frage, wie dieser Wechsel des Subjekts, von Heraklit, dem Epistemologen, zum Logos, dem Wissenden selbst, überhaupt möglich ist. Wie kann Heraklit das Wissende – getrennt von allem – nicht nur als ein ›epistemisches Nichts‹, sondern auch positiv als die Instanz bestimmen, die seine eigene Theorie des Wissens als Wissen begründet? 2.
Die Idee der Autonomie
1. Wenn nach obigem Zitat das Wissende als das erkannt wird, das getrennt von allem ist, es nach dem »Satz vom Logos« jedoch der Grund ist, der Heraklits Theorie als Wissen auszeichnet, dann müssen wir es offenbar als Eines annehmen, das dennoch verschieden ist. Denn getrennt von allem ist es eben getrennt von allem; als epistemischer Grund jedoch ist es die Instanz, die die Theorie begründet, die Heraklit formuliert hat. Wie aber ist diese Verschiedenheit zu verstehen? Auf diese Frage gibt Heraklit selbst keine Antwort. Wir finden nur die gegensätzlichen Aussagen, dass das Wissende (to soyon) getrennt von allem sei (Fr. 108), und dass es doch auch das sei, das herrscht, soweit es will, das alles überwindet (Fr. 114) und alles erkennt (Fr. 41). – Um nun diesen ›Mangel‹ nicht nur zu konstatieren, sondern das ›Verhältnis‹ zwischen dem absoluten ›Selbstsein‹ des A
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Einen und seiner Begründungsfunktion nachvollziehen zu können, greifen wir erneut auf die Idee der Autonomie zurück. Denn der Autonomiebegriff erlaubt es zum einen, die gesetzgebende Handlung als den Selbstvollzug eines Subjekts, als Akt der Selbstgesetzgebung, zu bestimmen; er enthält jedoch zum anderen das Problem, wie von einem anderen Subjekt sinnvoll ausgesagt werden kann, dieses sei selbstgesetzgebend. Hatte in Parmenides’ Lehrgedicht die Autonomie noch eine performative Struktur, weil die Göttin über sich redete, ist es jetzt Heraklit, der über den Logos sagt, was dieser ›sagt‹. Um den Wechsel der Subjekte zu beschreiben, wollen wir das Bild der Außen- und der Binnenperspektive verwenden. So lange Heraklit das Subjekt ist, ordnet er dem Logos als Objekt ›von außen‹ Funktionen zu, die den Grundsatz erklären, dass Eines alles sei. In dieser Außenperspektive ist Heraklit der Epistemologe, der eine Theorie formuliert, welche die Aporie zwischen Seins- und Erfahrungswissen überwindet. In der Binnenperspektive jedoch ist es der Logos, dem nicht, als Objekt, Funktionen zugeordnet werden, sondern der das eine Subjekt ist, das, getrennt von allem, die Funktionen als quasi innere Vollzüge besitzt, und das durch diese Vollzüge den »Satz vom Logos« epistemologisch begründet. Wie aber lässt sich diese Binnenperspektive beschreiben – so zwar, dass dem von allem getrennten Logos die Funktionen, die Heraklit ihm ›äußerlich‹ zuschreibt, auch ›innerlich‹ zukommen? Eine solche Beschreibung erlaubt unseres Erachtens allein der Begriff der Autonomie. Denn er beschreibt das Verhältnis zwischen einem Subjekt und seinem gesetzmäßigen Handeln so, dass es ihm nicht von außen ›zu-kommt‹, sondern es sich darin selbst das Gesetz gibt, d. h. als einen Selbstvollzug. Betrachten wir daher jene drei epistemischen Funktionen unter dem Autonomiebegriff, so ist offenbar das absolute und unerkennbare Eine dasjenige Subjekt, das als invariabler Grund zugleich der Ursprung der drei Funktionen ist. Es ist das, das selbst das Gesetz gibt, nach dem alles Eines ist; selbst die Kraft ist, durch die es alles regiert; und selbst die Gegenwärtigkeit ist, die alles als eine einzige gemeinsame Welt erkennt. Nach dem Autonomiebegriff ist der Logos also das gleichsam ›ewige Selbst‹, das je schon der Welt der Erfahrung die »Einheit der Entgegengesetzten« als Gesetz gibt, in ihr die allein die maßgebende Gewalt ausübt und sie als den einen und gemeinsamen Kosmos erkennt. – Nur diese aller Erfahrung und allem Denken vorausgehende Idee der Selbstgesetzgebung vermag jene heraklitische Unterscheidung zu erklären, 158
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nach der das Eine selbst getrennt von allem ist, und dennoch alles nach ihm geschieht. 109 Als das absolute und autonome Subjekt codiert es, was Wissen ist, und gibt zugleich die Regel, nach der Wissen statthat. Fehlte diese übergreifende Idee, so wäre nicht nachvollziehbar, wie das Eine Wissende von allem getrennt sein und doch in allem herrschen kann. 2. Akzeptieren wir diese Interpretation des Logos aus der Binnenperspektive, so ist damit freilich nicht das Problem gelöst, wie der Wechsel dieser Perspektiven überhaupt möglich ist. Denn da der Begriff der Autonomie eine performative Struktur besitzt, muss der Perspektivenwechsel, den Heraklit vornimmt, als ungereimt erscheinen. Denn im »Satz vom Logos« redet er ja ausdrücklich nicht über sich, sondern über den Logos als ein anderes Subjekt: »ouk emou, alla tou logou …« Wie und woher aber sollte Heraklit wissen, dass das, was er über den Logos sagt, dessen Selbstvollzug ist? Der Wechsel lässt sich daher nur als ein unbegreiflicher Sprung verstehen, in dem Heraklit das, was er in seiner historischen Situation als Wissen konzipiert, erst in den Rang eines zeitlos Unbedingten erhebt, dem er sich dann hörend unterwirft. Mit dem »Satz vom Logos« sagt Heraklit, paradoxerweise, was der Logos ›sagt‹. 110 Von unserem Standort einer epistemologischen Rekonstruktion muss dieser Wechsel der Subjekte wie ein magischer Zauber erscheinen, der in seiner Naivität ergreifend ist. War es im Fall des »Satzes vom Wasser« Thales selbst, den wir als wissensbegründende Instanz ausmachen konnten, und rekurrierte der »Satz vom Seienden« auf die unsterbliche Göttin, die in ihrer Rede dessen Wahrheit verbürgte, so mutet uns Heraklit zu, zu verstehen, dass er seinen Satz, als doxa broteia, selbst zum epistemischen Gesetz, zur episthmh jeia, erhebt. – Hinsichtlich der historischen Wirkung müssen wir jedoch Für dieses autonome Subjekt erscheint uns der Ausdruck »o logo@«, den Heraklit so schillernd und auslegungsfähig gebraucht, als treffend und passend. Denn dieser bezeichnet, so gesehen, das eine universelle Gesetz, in dem sich das Eine Wissende (en to soyon) selbst aussagt (legein). 110 Diese Paradoxie lässt sich auch als Abbruch eines unendlichen Begründungsregresses verstehen: Ist es die Behauptung Heraklits, alles geschehe gemäß dem Logos (kata ton logon), so lässt sich diese Behauptung durch den Rekurs auf den Logos begründen, dem gemäß alles geschieht. Um diesen Rekurs seinerseits zu begründen, bedarf es erneut des Rekurses ad infinitum. Um ihm zu entgehen, ist der Wechsel des epistemischen Bezugssystems erforderlich: nicht Heraklit darf die Behauptung machen, sondern der Logos selbst muss ›sagen‹, was Heraklit behauptet. Die Aussagen Heraklits über den Logos werden so zu Aktualisierungen des Logos selbst; er spricht sich in ihnen aus. 109
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feststellen, dass in der Folge das europäische Denken diesem Zauber erlegen ist. Heraklit, so haben wir ihn rekonstruiert, vollzog als erster das Geschäft des Epistemologen, der als epistemischer Gesetzgeber dadurch auftritt, dass er sogleich ›hinter‹ seiner Gesetzgebung verschwindet, dessen Setzungen nicht als eigene, sondern als Repräsentation des Absoluten gelten. Unter verschiedenen Namen und in verschiedener Auslegung ist der so instanziierte Logos als die Instanz verehrt worden, die allein Wissen begründet und als gemeinschaftsbildende Kraft ein gemeinschaftliches Wissen bewirkt. Die Idee der Autonomie, so erklären wir den Zauber, hat sich offenbar in moralisch-praktischer Hinsicht als so anziehend und gemeinschaftsbildend erwiesen, dass die Deutung der Welt der sinnlichen Erfahrungen als Selbstvollzug des einen Subjekts für das europäische Denken prägend und verbindlich wurde. Dass es darum gehe, die Heteronomie der sinnlichen Erfahrung zu überwinden, um sie an den unwandelbar einen, sie bestimmenden Grund zu binden, war nicht nur der Ausgangspunkt der weiteren Philosophie, sondern wurde sogar zur Definition dessen, was Wissen überhaupt ist: doxa logikh, begründetes Meinen.
IV. Die Antinomie des Logos-Wissens Mit dem Logos als der Instanz, die den Satz: »Eines sei alles«, begründet, hat Heraklit nicht nur die Aporie der zwei »epistemischen Reiche«, der autonomen Wissensart der ›Unsterblichen‹ und der heteronomen Wissensart der ›Sterblichen‹, überwunden. Er hat damit auch am Schnittpunkt des alten, mythisch begründeten und des neuen, auf Autonomie gegründeten Erfahrungswissens das epistemologische Fundament für die nachfolgenden Konzeptionen gelegt. Dass der Logos ein gemeinschaftliches Erfahrungswissen bewirke, bleibt die selbst unproblematisierte Grundlage der nachfolgenden Epistemologien und Wissenssysteme. Für sie gilt, dass die Welt der sinnlichen Erfahrung nicht ihrer Heteronomie wegen aus dem »Reich des Wissens« ausgeschlossen ist, sondern der Herrschaft des gesetzgebenden Einen unterliegt, und dass dieses Wissen auch für Menschen – sofern sie keine »Barbarenseele« haben – möglich ist. – Diese Epistemologien sollen im Folgenden nur insoweit rekonstruiert werden, als sie den Grundsatz, dass der Logos herrscht, voraussetzen, 160
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sich jedoch hinsichtlich der Art, wie der Logos herrscht und daher Erfahrungswissen möglich ist, von der Konzeption Heraklits unterscheiden und über sie hinausgehen. Heraklit hat die Art, in der der Logos herrscht, als Kampf und Gewalt beschrieben. In den Paradoxien, die entgegengesetzte Erfahrungsbegriffe vereinen, ist, so haben wir gesagt, der Streit und Kampf ausdrückt, in dem die heteronomen Mächte der sinnlichen Erfahrung der Gesetzgebung des gedachten Einen unterworfen werden. Diesem polemischen Charakter entspricht die dialektische Formel der »Einheit Entgegengesetzter«. Sie spiegelt den Antagonismus wider, in dem das Heteronome der »vielerfahrenen Gewohnheit« unter die allein maßgebende Herrschaft des unveränderlich Einen gebracht wird. – An diesem Gewaltcharakter der Logos-Herrschaft setzen die nachfolgenden Revisionen an. Da sie das Prinzip der Logos-Herrschaft nicht erst aufstellen und begründen, sondern von ihm schon ausgehen, löschen sie das Bewusstsein vom Kampf zwischen dem mythischen und dem Logos-Wissen, das in den Paradoxien Heraklits noch gegenwärtig war. Sie machen vergessen, dass die neue Wissensart aus diesem Kampf hervorgegangen ist. 111 Diesen Vorgang der Überwindung des polemischen Charakters nennen wir die »Logifizierung der Erfahrung«. Sie nimmt dem sinnlich Erfahrenen schon im Ursprung die epistemische Selbständigkeit, die es bei Heraklit noch hatte, indem sie es als je schon ›logisch‹ voraussetzt. Das Logos-Wissen konstituiert sich daher nicht mehr dadurch, dass im einander Entgegengesetzten das Eine erkannt wird, sondern dass im Gegebenen selbst das Logische schon enthalten ist. Diese Logifizierung der Erfahrung, die die epistemologischen 111 Damit ändert sich auch der Charakter des Philosophierens. Es werden nicht mehr neue Grundsätze verkündet, sondern das schon gegebene Prinzip wird verbindlich gemacht. Auf diese ›Änderung‹ verweist O. Gigon: »Grundsätzlich stehen alle Philosophen von den Milesiern bis zu den Atomisten in einem gewollten und betonten Gegensatz zu den Anschauungen, die von ihrer Umwelt und vor allem von dem geistigen Beherrscher dieser Umwelt, dem homerischen Epos vertreten wird. Wenn Anaximander, Xenophanes, Parmenides und Heraklit schreiben, so ist überall die pathetische Behauptung zu spüren: ich allein weiß die Wahrheit, die Leute dagegen bewegen sich in törichten Meinungen. – Mit den Atomisten scheint sich ein Umschlag anzubahnen, der dann bei Aristoteles sich vollendet. Nun wird das, was die Philosophen schreiben, zu der gereinigten Form dessen, was die Menschheit im Grunde schon seit jeher gedacht hat. Das Ziel der Philosophen wird nun nicht mehr so sehr die Überwindung des menschlichen Irrens als vielmehr die Interpretation des Consensus gentium.« (Gigon 1972, 60 f.)
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Grundlagen für die Wissenschaft als einer in der Tat gemeinschaftlichen Veranstaltung bereitstellt, soll im Folgenden anhand von zwei einander ausschließenden Verfahren rekonstruiert werden. Das eine Verfahren ordnet das Erfahrbare der Notwendigkeit unter, nach der alles geschieht, so dass die Wissenschaften in der Erkenntnis der Notwendigkeit jeglichen Geschehens besteht; diese Art der Logifizierung möchte ich das »meta-physische Verfahren« nennen, weil es dem sinnlich Gegebenen Prinzipien voraussetzt. Das andere hingegen gründet Wissen auf die Produktivität des Logos bzw. Nous, so dass die Wissenschaft darin besteht, das All der sinnlichen Erfahrung als das Produkt des Einen zu erkennen; dieses Verfahren nenne ich die produktive oder »erzeugende Methode«. Beiden Verfahren ist der Grundsatz gemeinsam, dass der Eine Logos in allem herrscht. Während im einen Fall jedoch angenommen wird, dass diese Herrschaft in einer Art ›äußeren‹ Gesetzmäßigkeit besteht, gründet sie im anderen Fall in einer Art ›inneren Ordnung‹ aller Erfahrung. – Diese zwei entgegengesetzten Logifizierungsverfahren sollen anhand der Philosophie von Leukipp bzw. Demokrit sowie von Sokrates bzw. Platon nachvollzogen werden. Wir unterstellen dabei, dass diese zwei Konzeptionen nicht nur wirkungsgeschichtlich die bedeutendsten waren, sondern dass sie auf das Problem, wie der Logos herrscht, eine in sich konsistente, einander aber widersprechende Antwort gegeben haben.
A. Demokrit: Die »Notwendigkeit von allem« als Grundsatz des Logos-Wissens Von Leukipp selbst ist nicht mehr überliefert als das Zitat: »Nichts geschieht umsonst/von selber, sondern alles aus dem Logos und unter der Notwendigkeit.« (ouden crhma mathn ginetai, alla panta ek logou te kai up’ anagkh@) 112 Aristoteles führt ihn jedoch wiederholt auch als den Begründer einer Art von Philosophie an, die annimmt: alles bestehe aus Vollen oder Atomen 113 und dem Leeren. 114 Wenngleich wir von Leukipp selbst nicht mehr Gesichertes wissen, so können wir doch begründeterweise davon ausgehen, dass Demokrit Aetios I 25, 4. Zit. nach: Kirk 1994, 457. Zu den unterschiedlichen Bezeichnungen der »Vollen« oder der »Atome« vgl. auch: Pechmann 1999, 389. 114 Aristoteles, Metaphysik I 4, 985b 4; Vom Werden und Vergehen I 8, 325a 23 ff. 112 113
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dann auf diese beiden Grundsätze gestützt eine umfassende Theorie der Atome formuliert sowie ein vielseitiges System von ›Ursachenerklärungen‹ entwickelt hat. Unser Interesse soll sich allerdings weder auf die historische Existenz dieser Personen noch auf das System Demokrits richten, sondern auf die Begründungsstruktur der zwei Sätze, die die Notwendigkeit alles Geschehens sowie die Atome und das Leere als die ›Bausteine‹ von allem aussagen. Wir rekonstruieren das epistemologische Verfahren, nach dem die beiden Sätze offenbar zusammengehören, und das sie als Grundsätze ausweist. Hierzu fragen wir zuerst nach dem epistemologischen Status der Begriffe des »Vollen« bzw. »Atoms« und des »Leeren«, untersuchen dann die Bedeutung des Ausdrucks »Notwendigkeit«, um schließlich die Art der epistemischen Gesetzgebung zu beschreiben, die in den beiden Sätzen ausgedrückt ist. 1.
Der »Satz von den Atomen und dem Leeren«
Beginnen wir mit der Frage nach dem Status der Begriffe des »Atoms« und des »Leeren«. Das diesbezügliche Demokrit-Fragment Nr. 9 115 lautet: »Setzung ist Süßes, Setzung Bittres, Setzung Warmes, Setzung Kaltes, Setzung Farbe; wahr aber ist: Atome und Leeres.« (nomw gluku, nomw pikron, nomw jermon, nomw vucron, nomw croih, eteh de atoma kai kenon). Dieser Satz scheint auf den ersten Blick an die parmenideische Antinomie zwischen den zwei »epistemischen Reichen« anzuschließen: während die sinnlichen Erfahrungsbegriffe nur Setzungen (nomoi) ›Sterblicher‹ sind, besteht wahres Wissen in dem, was rein gedacht ist. Der zweite Blick aber zeigt, dass diese Deutung nicht stimmt; denn der Ausdruck »atoma kai kenon« bezeichnet nicht das rein gedachte Eine Seiende, sondern offenbar eine Vielzahl Seiender und ein Nicht-Seiendes. Welchen Status aber kann dieser Ausdruck dann haben, wenn er weder einen Erfahrungs- noch einen reinen Begriff vertritt; und wie dann ist die Entgegensetzung von ›Setzung‹ und ›Wahrheit‹ (nomw – eteh) zu verstehen?
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Sextus Empiricus, adversus Mathematicos VII, 135. Zit. nach: Kirk 1994, 447. A
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a.
»atoma kai kenon«: das »dritte Reich« zwischen Denken und Erfahrung
1. Sinnvoll wird der Satz, wenn wir statt des parmenideischen den heraklitischen Bezugsrahmen wählen und damit von der Einheit von Gedachtem und Erfahrenem ausgehen. Auf dieser Grundlage lässt er sich als Kritik der Methode Heraklits verstehen. Denn für diesen hatte – unter der Regel der »Einheit Entgegengesetzter« – die sinnliche Erfahrung in der Tat ›Wahrheit‹. Zwar zeigte sie sich nicht am Sinnlichen selbst, aber im Umschlagen ins Entgegengesetzte: die ›Wahrheit‹ des Süßen war – um Demokrits Beispiel aufzunehmen – das Bittere, und dessen ›Wahrheit‹ wiederum das Süße. Für Heraklit war daher die Paradoxie, die Einheit entgegengesetzter Begriffe, die Darstellungsform der ›Wahrheit‹. Gegen diese Dialektik richtet sich die Aussage des Satzes: die Erfahrungsbegriffe haben keine ›Wahrheit‹ ; sie sind nur Setzungen und erfassen nicht das, was ›in Wahrheit‹ (eteh) ist. Wovon die Erkenntnis vielmehr auszugehen habe, sind die Begriffe der Atome und des Leeren, um aus ihnen das sinnlich Gegebene zu erkennen. Das aber heißt: für Demokrit ist nicht mehr erklärungsbedürftig, wie im Veränderlichen der sinnlichen Erfahrung denn überhaupt das unveränderlich Eine herrscht, sondern wie umgekehrt aus dem Unveränderlichen das sinnlich Veränderliche besteht. Demokrit dreht Heraklits Methode um: was erkannt werden soll, ist nicht das unveränderlich Eine im veränderlich Vielen, sondern das Veränderliche aus dem Unveränderlichen. Was Heraklits Methode noch zeigte, dass und wie im Veränderlichen das Unveränderliche zum Herrschenden wird, setzt Demokrit schon fraglos voraus: nicht, wie in allem das Eine ist, ist das explandandum, sondern wie aus »atoma kai kenon« alles besteht. 116 Akzeptieren wir diese Deutung des Ausdrucks »eteh atoma kai kenon«, dann sind für Demokrit diese beiden Begriffe die Grundlage jeder möglichen Erfahrungserkenntnis. Was aber ist ihr epistemischer Status? Denn die Begriffe des Atoms und des Leeren bezeichnen weder das rein gedachte Seiende noch entstammen sie der sinnlichen Erfahrung; und sollen dennoch ein Unveränderliches dar116 vgl. dazu P. Natorps Darstellung: »Wahrhaft ›ist‹ nur, was nicht auch Entgegengesetztes sein kann, sondern in dem, was es ist, identisch verharrt; das ist die Norm des Wahren in Demokrits Erkenntniskritik; nach dieser Norm, deren Ursprung aus der eleatischen Philosophie offenkundig ist, verwarf er die Realität der sinnlichen Qualitäten.« (Natorp 1884, 204)
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stellen, aus dem alles Veränderliche besteht. Sie beziehen sich offenbar auf ein ›Drittes‹, das weder das rein Gedachte ist noch aus der Erfahrung entstammt, das aber beide Bereiche irgendwie ›verbindet‹. Was aber kann ein solches »drittes Reich« zwischen dem rein Gedachten und dem sinnlich Erfahrenen sein? 2. Ein möglicher Weg zur Beantwortung dieser Frage wäre, dieses Unveränderliche im sinnlichen Erfahrenen selbst aufzufinden. Einen solchen Versuch hat wohl als erster Empedokles unternommen. Er nahm an, dass alles aus den »vier Elementen« (tessara pantwn rizwmata) 117 , Wasser, Luft, Feuer und Erde, als deren Mischung und Trennung (mixi@ te diallaxi@) entsteht und vergeht. Diese vier seien selbst unentstanden und in ihrem Kreislauf unauflöslich. Doch – gesetzt, Empedokles hat die Annahme als Lösung jenes Problems verstanden – er blieb auf halber Strecke stecken. Denn auf der einen Seite sollen diese vier Elemente das unveränderlich Seiende darstellen, aus dem alles sinnlich Gegebene als Mischung besteht; auf der anderen Seite aber entspringen diese vier Begriffe und die Vorstellung ihres Kreislaufs selbst der sinnlichen Erfahrung, die durch sie doch erkannt werden soll. Wasser, Luft, Feuer und Erde sind Erfahrungsbegriffe und haben als solche keine Unauflöslichkeit; sie taugen daher nicht als Grundbegriffe. 118 Sie sind etera, und für sie gilt, was schon Parmenides gegen die Grundbegriffe der ersten Philosophen eingewandt hat: sie sind Namen, die Sterbliche festgesetzt haben in der Überzeugung, wahr zu sein. – Einen anderen Versuch hat Anaxagoras unternommen, der bei der Lösung des Problems jedoch über das Ziel hinausgeschossen ist. Er nimmt an, dass das, woraus alles besteht, keine endliche Menge von Elementen, sondern eine unendliche Menge unendlich Kleinster sei. Fr. 1: »Zusammen waren die Dinge alle, unendlich die Menge und die Kleinheit.« Diese Kleinsten seien die »Samen aller Dinge« (Fr. 4: spermata Fr. 6; Aetius I, 3, 20. Zit. nach: Kirk 1994, 316. An dieser Untauglichkeit ändert auch der Zusatz nichts, diese Elemente seien ›ganz klein‹ : »Empedokles … denkt sich die Elemente aus kleineren Stücken zusammengesetzt, die eben die kleinsten sind und gleichsam die Elemente der Elemente.« (Aetios I 17, 3; zit. nach: Capelle 1968, 192) Sie bleiben Erfahrungsbegriffe. – Mit Recht sagt Aristoteles, dass »Empedokles sich selbst und der Erscheinung widerspreche. Denn das eine Mal behauptet er, dass keines der Elemente aus dem anderen entspringe, sondern alles andere aus ihnen; zugleich aber lässt er sie in Ein Ganzes werden und aus diesem Einen wieder … ; so dass nicht deutlich wird, ob er eigentlich das Eine, oder das Viele zum Wesen macht.« (Vom Werden und Vergehen I, 1) – Siehe auch: Metaphysik I 8, 988b 25 ff.; 989a 20 ff. 117 118
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pantwn crhmata), die als solche alles sinnlich Erfahrbare in sich schon enthalten, worin also »alles an allem Anteil hat« (Fr. 6). Die Erkenntnis der Dinge bestehe demnach darin, im jeweils Gegebenen die je besondere Zusammenmischung der Teilchen zu erkennen, worin eine der Eigenschaften die andere überwiegt. 119 Doch auch dieser Versuch, im Veränderlichen das selbst Unveränderliche aufzusuchen, entkommt nicht dem Einwand der Inkonsistenz. Denn einerseits müssen die unendlich Kleinsten selbst unvermischt sein, einfache und reine tauta, weil aus ihnen ja alles Gemischte besteht; andererseits aber müssen sie als die »Samen aller Dinge« schon alles in sich enthalten und damit etera sein, die »allerlei Formen, Farben und Wohlgeschmack haben« (Fr. 4). Anaxagoras’ unendlich Kleinste sollen also von aller Erfahrung abgesonderte nohmata sein, und doch sind sie nicht abgesonderte crhmata; sie sind gedacht und vorgestellt zugleich. 120 3. Angesichts dieser aporetischen Versuche bedarf es offenbar der Annahme eines selbständig dritten epistemischen Reiches ›zwischen‹ dem rein gedachten Einen und dem All der sinnlichen Erfahrung, das zum einen weder das Denken noch die Sinne als Ursache hat, das zum anderen den Widerspruch, rein Gedachtes und sinnlich Vorgestelltes zugleich zu sein, löst oder verschwinden lässt, und das schließlich dennoch beidem genügt, dem reinen Gedanken des auton und den etera der sinnlichen Erfahrung 121 . Als ein solches drittes epistemisches Reich soll im Folgenden Leukipps und Demokrits Konzept der »Atome und des Leeren« rekonstruiert werden. Es gibt eine konsistente Lösung des Problems, wie auf der Grundlage der LogosHerrschaft das rein Gedachte und das sinnlich Erfahrene zusammen als ein Erfahrungswissen möglich sind. 119 Fr. 12: »… nichts anderes (ist) irgendetwas sonstigem gleich; wovon vielmehr am meisten in jedem einzelnen Gegenstand ist, das als das deutlichste ist und war er.« (Kirk 1994, 398) 120 Auf diesen Widerspruch zwischen dem Unvermischten und Vermischten weist Aristoteles in Metaphysik 989a 30 ff. hin. Er hilft Anaxagoras und sich, indem er dessen Aussagen ›modernisiert‹ : man müsse seine Elementenlehre so auffassen, dass das Unvermischte das Unbestimmte vor der Bestimmung bezeichne: Es sei das – gegenüber dem Nous – »Andere, welches wir als das Unbestimmte vor der Bestimmung oder der Teilhabe an einer Form bezeichnen.« Damit aber gibt Aristoteles erklärtermaßen eine Lösung, die Anaxagoras eben nicht gegeben hat. – Vgl. auch: Kirk 1994, 401 f. 121 A. Gianaras sagt treffend, die Atomlehre schiebe »ein Drittes zwischen die strukturlose, überhomogene und geschlossene Einheit des Parmenideischen eon und die strukturierte Vielheit der empirischen Realität« ein. (Gianaras 1977/78, 60)
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b.
Die metaphysische Grundlegung des Erfahrungswissens
Demokrit selbst hat den Satz: »eteh d’ atoma kai kenon« offenbar ohne Angabe von Gründen als epistemischen Grundsatz aufgestellt. Dieser Satz entfaltete zum einen seine Wirkung als Leitsatz einer wissenschaftlichen Erkenntnis: sinnlich gegebene Vorstellungen seien in ihre elementaren ›Bausteine‹, aus denen sie bestehen, aufzulösen, um sie als deren Zusammensetzungen zu erkennen. Zum anderen aber ist es ebenso unbestritten, dass der Satz auch eine Antwort auf das epistemologische Problem gibt, wie Erfahrungswissen überhaupt konsistent konzipiert werden kann. Auf diese Antwort werden wir uns im Folgenden konzentrieren. Sucht man nach einer Begründung der Aussage, es gebe (nur) Atome und das Leere, so begegnet man zwei entgegengesetzten Argumentationsmuster: ein empiristisches und ein methodologisches. Jenes Muster hat Simplikios überliefert, der auf die sinnliche Erfahrung rekurriert: da diese das Gegebene als zusammengesetzt zeigt, bedarf es der Annahme von Kleinsten, aus denen es zusammengesetzt ist, die aber selbst nicht zusammengesetzt sind. 122 Diese unteilbar Kleinsten aber könnten ihrer Kleinheit wegen nicht sinnlich wahrgenommen werden, sondern würden durch das Denken erkannt 123 . – Doch diese Begründung, die aus dem Zusammengesetztsein des sinnlich Gegebenen auf ein unteilbar Kleinstes schließt, ist nicht haltbar; denn mit demselben Recht lässt sich das Gegenteil begründen: da das sinnlich Gegebene sich als zusammengesetzt zeigt, muss die Teilung bis ins Unendliche fortgesetzt werden. 124 Die Begründung für die a-toma kann daher nicht aus der Erfahrung stammen; sie muss anderswoher kommen. Eine andere Argumentation trägt Aristoteles vor 125. Er stellt Leukipp und Demokrit als Methodologen vor, die »methodisch bestens und mit einem Grundsatz« (odw de malista kai peri pantwn eni logw) eine Theorie formuliert haben, die mit der Erfahrung über122 Simplikios zu Aristoteles, Physik 925, 13: »Leukipp und Demokrit sagen, dass nicht allein die Leidenslosigkeit der Grund für die Unteilbarkeit der ersten Körper ist, sondern auch, dass sie klein und ohne Teile (smikron kai amere@) sind. – Siehe auch: Galen, De elementis secundum Hippocratem I, 2 (DK 68 A 49). 123 siehe: Fr. 125 (Kirk 1994, 449); Fr. 11 (Sextus Empiricus 1998, 38). 124 Vgl. Kirk 1994, 453, Anm. 13: »Der Gedanke, dass Kleinheit irgend etwas unteilbar machen könnte, ist äußerst merkwürdig, …« 125 Aristoteles, Vom Werden und Vergehen I 8, 324b 34 ff.
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einstimme (pro@ thn aisjhsin omologoumena). Hierzu beginnt Aristoteles mit der Darstellung der Seinslehre der Eleaten, nach der das Seiende notwendigerweise Eines und unbeweglich sei; denn da das Leere nicht ist, das Bewegtsein aber nicht ohne ein Leeres sein könne und das Viele nicht ohne das, was trennt, sei weder das Bewegtsein noch das Viele möglich. Daraufhin stellt Aristoteles dar, dass Leukipp dieser Theorie über das Bewegtsein und das Leere als Nicht-Seiendes zugestimmt, dass er aber nicht nur ein Seiendes, sondern unbegrenzt viele Seiende angenommen habe 126 . Er fährt dann fort: Diese Vielen bewegten sich im Leeren – denn das Leere gebe es (kenon gar einai) – und bewirkten durch Zusammensetzung Entstehen und durch Ablösung Vergehen. Befragen wir nun Aristoteles’ Darstellung nach dem Einen Grundsatz (eni logw), mit dem Leukipp jene mit der Erfahrung übereinstimmende Theorie aufgestellt habe, dann kann dieser Satz nur die – von Aristoteles eher beiläufig erwähnte – Annahme sein: kenon einai, es gibt das Leere. Denn erst diese Annahme macht es möglich, Seiendes nicht als notwendigerweise Eines und unbeweglich zu denken, sondern es – in Übereinstimmung mit der Erfahrung – als ein Vieles und Bewegtes zu konzipieren. 127 Wenn nun aber Leukipp – nach Aristoteles – der These zustimmt, das Leere sei nicht seiend, dann setzt die Annahme, dass es das Leere gibt, den Satz voraus: es gibt Nicht-Seiendes. Angenommen nun, es ist dieser Satz, der Leukipp seine mit der Erfahrung übereinstimmende Theorie ermöglicht, – wie kann Aristoteles dann behaupten, Leukipps Theorie sei »methodisch bestens und mit einem Grundsatz«? Denn der Satz: »es gibt Nicht-Seiendes« ist mit dem Logischen unvereinbar 128 ; er ist das als
126 Nach Aristoteles begründet also Leukipp die Unteilbarkeit »eleatisch«: die vielen sind unteilbar, nicht weil sie die »kleinsten«, sondern weil sie »voll« (pamplhre@) und »nicht nicht-seiend« (oujen mh on) sind. 127 vgl. Johannes Philoponos: »Wenn es Bewegung gibt, gibt es auch Leeres. Nun aber gibt es Bewegung, also gibt es Leeres. Auch hier nahm er [Leukipp] die erste Prämisse genau so wie Parmenides, die zweite aber nicht mehr.« (de gen. et corr. 324b 25 ff.; zit. nach: Löbl 1989, 16 f.) 128 B. Russell: »Die Auffassung des Parmenides lässt sich folgermaßen formulieren: ›Sagt man, es gebe die Leere, dann ist der leere Raum nicht Nichts; daher ist es also auch kein leerer Raum.‹ Tatsächlich haben die Atomisten dieses Argument niemals widerlegt: sie schlugen nur vor, es auf sich beruhen zu lassen, da Bewegung eine Erfahrungstatsache sei und es infolgedessen einen leeren Raum geben müsse, auch wenn es noch so schwierig sei, ihn sich vorzustellen.« (Russell 1999, 91). – Siehe auch: Kirk 1994, 454.
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undenkbar Ausgeschlossene! 129 Daraus folgt, dass die Begründung für die Existenz des Leeren nicht dem Denken entstammen kann, sondern anderswoher kommen muss. Ziehen wir aus den beiden Argumentationsmustern die Schlussfolgerung, so ist die Annahme, dass das Seiende unteilbar ist, nur durch das Denken, nicht aber durch die sinnliche Erfahrung begründbar; denn diese zeigt nur Zusammengesetztes und Teilbares. Umgekehrt lässt sich die Annahme, es gebe das Leere, nicht durchs Denken begründen, dem sie widerspricht, sondern nur auf die sinnliche Erfahrung stützen, die Gegebenes als vieles und bewegt zeigt. Wenn nun aber die Annahme des unteilbar Seienden der Erfahrung und die Annahme des Leeren dem Denken widerspricht, wie ist dann der Satz: es gebe (nur) Atome und das Leere, der beides vereinigt, begründbar? Wie lässt sich aus Gründen der Autonomie des Wissens an der Annahme, dass es unteilbar Seiendes gibt, und zugleich aus Gründen der Heteronomie an der Annahme, dass das Leere existiert, festhalten? Wie also sind Autonomie und Heteronomie epistemologisch vereinbar? a. Der Raum als Einheit des »Vollen und Leeren« Sollen das durchs Denken als unteilbar begründete Seiende und das aus Erfahrung gewonnene Leere zusammen ein Erfahrungswissen konstituieren, so bedarf es eines ›Dritten‹, das weder logischen noch sinnlichen Ursprungs ist, das aber zugleich das widerspruchsfreie Zusammen der beiden ermöglicht. Dieses Dritte ist, so unsere These, in der leukipp-demokritischen Epistemologie der ›Raum‹. – Da es für diese These in der Überlieferung kaum Anhaltspunkte gibt 130 , sind wir auf systematische Überlegungen angewiesen, die schließlich auch erklären sollen, warum dafür die Hinweise fehlen. Üblicherweise wird der leukipp-demokritische Raum mit dem kenon identifiziert: Raum = Leere. In diesem Sinn überliefert Sim129 siehe dazu Melissos’ Argumentation: »Auch ist es nichts leeres; denn das Leere ist nichts; und was nichts ist, kann schwerlich sein« (nach: Simplikios zu Aristoteles, Physik, 112, 6). 130 »Nur an einer Stelle referiert Simplikios, dass Demokrit eigentlich den Raum vom Leeren unterschieden haben müsste: to de diasthma touto […] kenon einai legousin outw@ wste pote men plhrousjai swmato@ pote de kai kenon apoleipesjai (Simplikios, In Phys. 571, 27–29). Es wurde also unter dem Leeren ›to diasthma to metaxu twn escatwn tou perieconte@‹ verstanden, welches bald mit einem Körper erfüllt, und bald leer ist.« (Nikolaou 1998, 112 f.)
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plikios (de caelo, 295, 1 ff.), Demokrit habe für den Raum die Namen: »das Leere«, »das Nichts« oder »das Unbegrenzte« verwendet. Man hat dann gesagt, nach Leukipp und Demokrit bewegten sich die Atome im Leeren, dessen Existenz die Bedingung ihrer Bewegung sei. Dabei begnügte man sich mit der Feststellung, es sei ihr entscheidender Schritt gewesen, das undenkbar Nicht-Seiende des Parmenides in den physischen leeren Raum verwandelt zu haben, ohne freilich zu erklären, wie ein solcher Schritt überhaupt möglich ist 131 . Nun ist verschiedentlich der Einwand erhoben worden, dass das Verständnis des leukipp-demokritischen Raums insbesondere durch die aristotelische Raumvorstellung verstellt worden sei 132 . Denn Aristoteles habe das Raumproblem auf dem Hintergrund seiner eigenen, teleologischen Prinzipien diskutiert. Es sei daher eine naheliegende Überlegung, dass in Hinblick auf das leukipp-demokritische Konzept die übliche Identifizierung des Raums mit dem Leeren in die Irre führt und der Raum als eine »eigene Größe« 133 anzunehmen ist. Von dieser Überlegung ausgehend müssen wir den epistemischen Grundsatz Demokrits offenbar so verstehen: »wahr ist: voller Raum und leerer Raum«. In diesem Fall ist der Raum nicht identisch mit dem Leeren; er ist keine ›physikalische Größe‹, sondern ein dem Vollen (plhre@) und dem Leeren (kenon) gegenüber selbständig
131 M. A. Dynnik: »Die Kategorie des Seins und Nicht-Seins bekommt im frühgriechischen Denken eine neue Interpretation auf dem Weg ihrer Identifizierung mit den Atomen und dem Leeren: das Sein nahm das Aussehen des Systems der materiellen Teilchen an (d. h. wurde zum …), aber das Nicht-Sein verwandelte sich in das physische Sein des nicht ausgefüllten leeren Raumes. Also: das Nicht-Sein ist eine Art des Seins.« (Istoria anticnoj dialektiki, Moskau 1972, 131; zit: nach: Löbl 1987, 69) Nach der Beschreibung solch geheimnisvoller Transsubstantiation des Nicht-Seins in Sein raunt Dynnik vom dialektischen Charakter dieser Prinzipien, die von Demokrit nun »unter dem Aspekt der ›Wirklichkeit‹« interpretiert würden. – Ähnlich auch: Pleger 1991, 134; Kirk 1994, 454. – H.-G. Gadamer beschreibt wenigstens die Aporie: »Aber wie das Leere etwas Seiendes sein kann, und gar etwas, das zum Sein der körperlichen Dinge stets und notwendig gehört, das war mit den Mitteln des griechischen Seinsbegriffs schwer auszudenken …« (Antike Atomtheorie. In: Gadamer 2000, 111 f.) – Siehe auch: Russell 1999, 91; Kirk 1994, 454. 132 Siehe: Gianares 1977/8, 50–56; Sedley 1982, 179–183; Löbl 1987, 131–139. 133 Löbl 1987, 134. – D. N. Sedley nimmt an: »And the symmetrical looking pairing of to plhre@ and to kenon suggests that if to kenon is empty space then to plhre@ is filled space«. Er schließt daraus: »It may be objected that the scheme as I propose to interpret it is in danger of hypostatising place as a third kind of existing thing« (Sedley 1982, 179 f.; H. v. m.).
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Drittes 134. Den Raum als dieses Dritte deuten wir nun als die epistemologische Bedingung, unter der die unvereinbaren Begriffe des Vollen oder Unteilbaren einerseits und des Leeren andererseits in einem Wissenskonzept widerspruchsfrei vereinbar sind. Als diesem Dritten kommen dem Raum die zwei Vereinbarkeitsfunktionen zu: er gibt zum einen den gemeinschaftlichen Boden ab, auf bzw. in dem die Antinomie zwischen dem logisch begründeten Vollen und dem sinnlich gewonnenen Leeren aufgelöst und verschwunden ist; und er bildet zum anderen das strukturierende Prinzip, durch welches beide, das Volle und das Leere, voneinander verschieden sind, das Volle also nicht das Leere ist, in dem beide aber ein gemeinsames und durchgehendes Bestehen haben: voller und leerer Raum. Unter der Annahme des Raumes als dieser Bedingung lassen sich nun der logische Satz: »Seiendes ist« in »es gibt erfüllten Raum« sowie der a-logische Satz: »Nicht-Seiendes ist« in »es gibt leeren Raum« umformulieren, und die Antinomie: »Seiendes ist und NichtSeiendes ist« in den widerspruchsfreien Satz: »es gibt erfüllten und leeren Raum« auflösen. Der Raum ist hier also die Bedingung, unter der die epistemische Antinomie zwischen dem rein Gedachten und dem sinnlich Erfahrenen aufgelöst ist, beide Wissensarten vereinbar sind, und der »Satz von den Atomen und dem Leeren« als ein epistemischer Grundsatz möglich ist. b. Die »reine Anschauung« Statt den Raum in Hinblick auf die Eigenschaften zu explizieren, die ihm im Rahmen der Lehre von den Atomen zukommt, soll vielmehr nach dem Vermögen gefragt werden, dem er als das gemeinschaftliche Dritte entspringt, da er weder dem Vermögen der Sinne noch dem des Denkens entstammt. Denn der Raum kann nicht als das Leere aufgefasst werden, das als Bedingung des Bewegt- und Zusammengesetztseins des sinnlich Erfahrenen angenommen werden muss, da er ja nicht die Bedingung sinnlicher Erfahrung ist, sondern den Boden abgibt, auf dem das Leere und das Volle zusammen das konstituieren, was nach Demokrit ›in Wahrheit‹ ist. Der Raum kann deshalb nicht der sinnlichen Erfahrung entstammen und nicht die Sinne als Ursache haben. Umgekehrt kann er aber auch nicht dem Denk134 Vgl. Löbl 1987, 135: »Ist plhre@ der volle und kenon der leere Raum, dann sind ›voll‹ und ›leer‹ nur Prädikate eines Dritten, des Subjekts, von dem sie ausgesagt werden – und das ist der ›Raum an sich‹ oder die bloße ›Räumlichkeit‹.«
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vermögen entspringen; denn durch dieses wird das Seiende ja nur als ein Unteilbares und Volles, als ein unveränderliches auton, bestimmt. Der Raum aber soll ein »Drittes« sein, worin eine Vielzahl im Leeren bewegter Atome bestehen kann. Er kann daher auch nicht das Produkt des reinen Denkens sein. Welchem Vermögen aber entspringt er dann? Da der Raum, worin das Volle und Leere zusammen bestehen, weder ein Erfahrungs- noch ein logischer Begriff ist, müssen wir offenbar ein zusätzliches und neues Vermögen annehmen 135 , dem er als Bedingung eines konsistenten Erfahrungswissens entspringt. Dieses neue Vermögen bezeichne ich als das »reine Anschauen« und verstehen darunter die Setzung des reinen Andersseins als einer Voraussetzung. Erläutern wir zunächst den Ausdruck »Setzung des reinen Andersseins« anhand der epistemologischen Problemlage: wenn auf der einen Seite das Denken den Begriff des auton bildet und das Seiende als unwandelbar festhält, wenn auf der anderen Seite die sinnliche Erfahrung Gegebenes als veränderlich vorstellt und daher den Begriff des Nicht-Seienden notwendig macht, und wenn es drittens eines Konzepts bedarf, das beide, das unwandelbar Seiende und das veränderlich Gegebene, zu einem Erfahrungswissen zu vereinigen erlaubt, dann erfordert dessen Durchführung die Existenz eines dritten epistemischen Vermögens, das diese Vereinigung ermöglicht. Dazu aber muss es in der einen Hinsicht die Unwandelbarkeit des Seienden garantieren – dass es un-teilbar und voll ist und bleibt –, und muss in der anderen Hinsicht dem sinnlich Gegebenen die Wandelbarkeit gewähren – dass es entsteht und vergeht, geteilt und bewegt ist. Die Leistung des Vermögens, das diese Funktionen erfüllt, nenne ich die »Setzung des reinen Andersseins«. Denn dieses Gesetzte ist grundlegend verschieden sowohl vom Begriff des auton als Leistung des 135 Der leukipp-demokritische Raum lässt sich mit mythischen Vorstellungen des Anfangs, dem cao@ Hesiods, dem Tohuwabohu des Alten Testaments, dem Grenzenlosen des Phönikiers Sanchunjaton oder dem »weder Nichtsein noch Sein« des Rigveda-Weltschöpfungslieds in Verbindung bringen. Doch diese Vorstellungen haben eine ganz andere epistemische Funktion als der philosophische ›Raum‹. Dieser ist ein Aporie lösendes Konstrukt; jene die »Ur-Anschauung« des Sängers und Erzählers. – Wenn Aristoteles bei der Diskussion des Raumbegriffs (Physik III 8, 208a 29) bemerkt, Hesiod sei im Recht, wenn er mit dem cao@ angefangen habe, weil dieses vor allem anderen da sei, dann vergisst er diesen Unterschied. Hesiod hätte wohl nicht verstanden, was Aristoteles mit »im Recht sein« meint.
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Denkens als auch von dem der etera, wie sie die sinnliche Erfahrung zeigt. Es ist aber auch nicht das undenkbare Nicht-Seiende oder die Vorstellung eines sinnlich bedingten Leeren. Es gilt uns vielmehr als Leistung eines eigenständig dritten Vermögens, das reine Anderssein zu setzen. In Abgrenzung zum logischen auton und zu den empirischen etera können wir den so gesetzten Raum auch als das bloße ›eteron‹ bezeichnen oder ihn als das selbst- und veränderungslose ›Auseinander‹ umschreiben 136 . Von diesem dritten Vermögen nehmen wir an, dass es die Bedingung setzt, unter der das gedachte auton und die erfahrenen etera so vereinbar sind, wie es der epistemische Grundsatz Demokrits ausdrückt: »wahr aber ist: Atome und Leeres.« Es stellt gleichsam die ›Folie‹ bereit, auf der das ewig Seiende des Denkens und das immer Andersseiende der Erfahrung als bloß verschieden Seiende ein gemeinsames Bestehen haben können, auf der also die epistemische Antinomie zwischen Denken und Erfahrung verschwunden ist. Das reine Anderssein als Setzung eines eigenständigen, weder sinnlichen noch logischen, Vermögens verstehen wir also als die Bedingung, die das geforderte Erfahrungswissen ermöglicht. Nun verhält es sich freilich so, dass nur wir – in Absicht der Rekonstruktion des »Satzes von den Atomen und dem Leeren« – dieses Vermögen angenommen haben, dass Leukipp und Demokrit selbst jedoch nur vom Denken und von den Sinnen gesprochen haben. Zudem kann unsere Annahme eines solchen dritten und neuen Vermögens nicht erklären, wie durch die bloße Setzung des ›reinen Andersseins‹ ein bleibendes und zudem gemeinschaftliches Wissen begründet werden kann. Mag die Annahme aus Rekonstruktionsgründen notwendig sein; in epistemischer Hinsicht muss sie als willkürlich erscheinen. Als bloßer Setzung fehlt ihr die epistemische Qualität. Um also erklären zu können, dass Leukipp und Demokrit von einem solchen Vermögen nicht gesprochen haben, und um diese Set136 Unser sog. »reines Anderssein« nennt Hegel »das Prinzip der höchsten Äußerlichkeit und damit der höchsten Begriffslosigkeit« (Hegel 1969 ff., Bd. 5, 186). Er bleibt jedoch in der Polemik gegen dieses atomistische Prinzip stecken und erkennt nicht das epistemologische Problemlösungspotential. Er kann daher auch nicht erklären, warum das »berüchtigte atomistische System« sich jederzeit erhalten hat. – Platon nennt es im »Timaios« »cwra«: ein »unsichtbares, gestaltloses und allaufnehmendes Wesen« (51a), das weder durch Denken noch durch die Sinne zu erfassen sei. Siehe dazu unten: Teil I, IV. B. 3. c.
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zung als eigenständige epistemische Leistung zu begründen, muss der willkürliche Charakter der Setzung verschwinden. Der Raum als das reine Anderssein darf nicht als Resultat eines Konstrukts erscheinen, das die epistemologische Aporie von Denken und Erfahrung löst, sondern muss den Charakter einer vorhandenen, sich selbst verstehenden Bedingung annehmen, unter der alles Erfahrungswissen je schon steht. Die rekonstruierte Setzung des Andersseins muss also die Form der Voraussetzung annehmen, in der der Charakter einer Setzung verschwindet oder, besser, verschwunden ist. Das aber heißt, dass das dritte und neue Vermögen, das reine Anderssein zu setzen, nur dann die Qualität eines epistemischen Vermögens erhält, wenn es als das theoretische Vermögen der reinen Anschauung gilt, in der das, was ursprünglich gesetzt ist, bloß geschaut wird. Diese Anschauung, in der die willkürliche Setzung des reinen Andersseins in der Form des Anschauens verschwunden ist, verstehen wir als denjenigen Raum, der den gemeinsamen Boden abgibt, auf dem die Atome und das Leere zusammen und nebeneinander ihr Bestehen haben. 137 137 Die Alternative zu unserer These vom Raum als reiner Anschauung ist, dass das gemeinsame Dritte ›das Denken‹ sei. So stimmt R. Löbl in seiner kenntnisreichen Arbeit über »Demokrits Atomphysik« mit unserer Rekonstruktion zunächst überein. Er führt aus, dass die Gründe für die Existenz von Atomen logischer Natur seien, die Gründe für das Leere jedoch in der sinnlichen Erfahrung liegen. Er nimmt dann jedoch an, Demokrit habe den »Satz von den Atomen und dem Leeren« mit der überlieferten Formel »um nichts mehr« (ou mallon) begründet: »wenn zwei gleichrangige Möglichkeiten gegeben sind, gibt es prinzipiell keinen zwingenden Grund, einer davon den absoluten Vorrang einzuräumen.« (Löbl 1987, 95) Er zitiert zustimmend A. Graeser, in der ou mallon-Formel habe Demokrit das Instrument gehabt, »dem eleatischen Dogma (nur Sein ist) … die logische Möglichkeit der Existenz des Nichtseienden entgegenzuhalten.« (Graeser 1970, 303). Gäbe diese Formel tatsächlich die hinreichende Begründung, so gliche Demokrit dem Witzbold, der auf die Frage des Gangsters: »Geld oder Leben?« antwortet: »Dann nehme ich beides.« Es bedarf daher der Begründung der Formel. Löbl erklärt dementsprechend auch, dass die Antinomie nur zu überwinden sei, »wenn [Demokrit] dem Parmenides auch das Argument entwinden konnte, dass Nichtseiendes nicht gedacht werden konnte. Er musste beweisen, dass es gedacht werden muss.« (Löbl 1987, 95; H. v. m.) Dieser Beweis gelingt Löbl, indem er Demokrit flugs zum Hegelianer erklärt: »Der Grund liegt eben in der dialektischen Relation der Gegensatzpaare, in der jeder der Terme in der Negation des anderen, also seiner Negation, er selbst wird.« (ebd.) Er zitiert daraufhin die Passage in Hegels »Wissenschaft der Logik«, die die Dialektik des Einen und Leeren darstellt. Nun ist es in der Tat so, dass sich die Einheit der beiden Prinzipien, des Atoms und des Leeren mit Hilfe der dialektischen Logik begründen lässt. In der »Geschichte der Phi-
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Fassen wir abschließend unsere Rekonstruktion des »Satzes von den Atomen und dem Leeren« zusammen, so repräsentiert dieser Satz nicht Meinung, sondern Wissen, weil das neu geschaffene dritte losophie« zeigt Hegel, dass Leukipp nur das ausgesprochen habe, was in der eleatischen Philosophie schon enthalten war, nämlich dass das Nichtsein, das die Eleaten als nichtseiend bestimmten, »in Wahrheit« ist: »Das Sein ist, aber das Nichtsein, da es eins mit dem Sein, ist ebensowohl; oder Sein ist sowohl Prädikat des Seins als des Nichtseins … was in Wahrheit bei den Eleaten vorhanden war, spricht Leukipp als seiend aus« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 355). Hegel setzt damit die seiende Einheit von Sein und Nichtsein in das Logische: Leukipp spricht aus, was der notwendige Fortgang des Gedankens fordert. Das Atom sei der Begriff dieser konkreten Einheit von Sein und Nichtsein, die Hegel »das Fürsichsein« nennt. [So auch K. Marx: »… das Atom (ist) die unmittelbare Negation des abstrakten Raums: also ein räumlicher Punkt.« Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie. In: Marx 1983, 198.] Nach Hegel hat also Leukipp in der Tat bewiesen, dass das Nicht-Seiende als seiend gedacht werden muss. Doch ist diese Interpretation gerechtfertigt? Hegel räumt im Folgenden selbst ein, dass sich diese Deutung nicht mit dem Grundsatz deckt; denn dieser sagt nicht aus, dass sowohl Sein als auch Nichtsein ist, sondern dass in Wahrheit das Volle und das Leere ist. Den Schluss, den Hegel aus dieser Verschiedenheit zieht, ist, dass der Satz die seiende Einheit von Sein und Nichtsein so aussagt, wie sie für die sinnliche Anschauung sei: »Das Sein aber und Nichtsein, beide mit der Bestimmung eines Gegenständlichen oder, wie sie für die sinnliche Anschauung sind, ausgesprochen, so sind sie der Gegensatz des Vollen und Leeren (to plhre@ kai to kenon) … – Sein-für-Anderes, und Reflexion-insich, nur sinnlich, nicht an sich bestimmt; denn das Volle ist sich selbst gleich, wie das Leere.« (ebd.). Einerseits unterstellt Hegel also, dass es in Leukipp um die Dialektik von Seiendem und Nicht-Seiendem geht, dass somit das Nicht-Seiende als seiend gedacht werden muss; andererseits muss er zugestehen, dass dies nicht geschieht, sondern dass es um das Volle und Leere geht, »wie sie für die sinnliche Anschauung sind«. Hegel unterscheidet also den ›eigentlichen Leukipp‹, der das Nicht-Seiende als seiend denkt, vom ›tatsächlichen‹, der das Volle und das Leere sinnlich anschaut. Welcher Leukipp aber gilt nun? Halten wir uns an den ›eigentlichen‹, so hat er das Nicht-Seiende als seiend gedacht; halten wir uns an den ›tatsächlichen‹, so hat er das Volle und das Leere geschaut, und das Argument fehlt, er habe bewiesen, dass das NichtSeiende ist. Hegel verfängt sich mit dieser Unterscheidung im eigenen Schema. Denn er kann weder erklären, warum Leukipp, wenn es ›eigentlich‹ doch um den Fortgang des Logischen geht, ›tatsächlich‹ so an der Form der Anschauung festgehalten hat; noch umgekehrt, warum es sich, wenn es ihm um die Anschauung des Vollen und des Leeren zu tun war, ›eigentlich‹ um den Fortgang des Begriffs handelt. Die Ursache dieser Erklärungsnot sehe ich in der Ausgangslage Hegels. Hegel geht aus von der »Wahrheit« des sich in Gegensätzen entfaltenden, dialektischen Denkens, die er europa-geschichtlich expliziert. Wo er in Konflikt mit den historischen Tatsachen gerät, löst er ihn nach Maßgabe der eigenen Grundsätze, – und produziert Missverständnisse. Denn auch wenn Hegel nicht umhin kann, festzustellen, dass nicht das Denken, sondern die Anschauung dem »Satz von den Atomen und dem Leeren« zugrunde liegt, so ist es ein Missverständnis, diese Anschauung als sinnlich zu deuten, – als hätte Leukipp oder Demokrit je behauptet, die Atome und das Leere wären durch Auge, Ohr oder Tastsinn A
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Reich der Atome und des Leeren unmittelbar angeschaut wird, weil also im gesetzten Raum die Setzung verschwunden ist, und dieses Reich die Form des schlicht Vorhandenen hat. Was sich uns beim »Satz vom Logos« als ein »unbegreiflicher Sprung« gezeigt hat, in dem Heraklit das, was er selbst als Wissen konzipiert, zugleich in den Rang eines zeitlos Unbedingten erhebt, ist in diesem Fall das »Vergessen« der Setzung. Nur weil in der Anschauung des Raumes der willkürliche Charakter des Aporie lösenden »Dritten« getilgt ist, kann Demokrit sagen: eteh d’ atoma kai kenon. Es bedarf keiner Göttin mehr, die das »Herz der Wahrheit« mitteilt, und auch keines gemeinschaftlichen Hörens des Logos, sondern nur des voraussetzungslosen Schauens, um zu erkennen, dass ›in Wahrheit‹ alles voller und leerer Raum ist. Dass dieser Satz konsistent ist, macht die Idee eines Dritten nötig, in dem das gedachte atomon und das empirisch gewonnene kenon zusammenbestehen können; dass er aber wahr ist, setzt voraus, dass er das Ausgesagte als ein in der Anschauung schlicht Vorhandenes repräsentiert 138 .
gegeben. – Wir interpretieren den »Satz von den Atomen und dem Leeren« anders: er bildet keine Etappe des sich entwickelnden Begriffs, sondern gibt eine Lösung für das epistemologische Problem, wie unter dem Prinzip einer autonom-logischen Wissensbegründung eine Wissensart möglich ist, die mit der Heteronomie sinnlicher Erfahrung übereinstimmt. Die These, dass weder das Denken noch die sinnliche Anschauung, sondern der ›Raum‹ und – wie wir es nennen – die ›reine Anschauung‹ das Dritte ist, das die Vereinbarkeit des Vollen und des Leeren begründet, erscheint mir als zutreffender als die Gegenthese von der logischen Begründung, um sowohl das Problem als auch die Lösung rekonstruieren zu können. 138 Betrachtet man diese Lösung aus der Distanz, so lässt sie sich nur als »genial« bezeichnen. Hatte Parmenides seine Lehre von der Trennung der zwei epistemischen Reiche noch durch Rekurs auf eine göttliche Offenbarung gerechtfertigt, und Heraklit die Erkenntnis des All-Einen auf eine Art gottgleicher »Gegenwärtigkeit« gegründet, brauchen Leukipp und Demokrit keine »höhere Instanz« mehr. Um die Annahme von der Einheit des Gedachten mit dem Erfahrenen als wahres Wissen auszuweisen, bedarf es nur der Anschauung des Vorhandenen. Das epistemologische Begründungsproblem verschwindet in der einfachen und rechten Anschauung, die die Welt als eine unendliche Vielzahl im Leeren bewegter Atome zeigt. Sie beendet den Grundlagendisput und macht Platz für die Wissenschaften, die alles empirisch Konkrete aus den einfachen Elementen erklärt, aus denen es zusammengesetzt ist. Setzt man diese Weltanschauung ins Verhältnis zur Wirkung, die sie seither für die Wissenschaften hatte, und den Erfolgen, die auf dieser Grundlage erzielt wurden, kann man die Konzeption nur als »genial« bezeichnen.
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2.
Der Satz von der Notwendigkeit
Wenden wir uns nun dem zweiten Grundsatz zu, der die Notwendigkeit alles Geschehens aussagt: »Nichts geschieht zufällig/von selber, sondern alles aus dem Logos (ek logou) und unter der Notwendigkeit (up’ anagkh@).« Dieser Satz scheint, für sich genommen, nur zu wiederholen, was schon Heraklit gesagt hatte. Denn auch er nannte das Subjekt, nach dem alles geschieht, »o logo@« und erklärte ebenfalls alles Geschehen als notwendig. 139 Insofern schließt dieser Satz offenbar programmatisch an Heraklits Konzept an, Erfahrungswissen als Logos-Wissen zu begründen. – Der Unterschied ergibt sich jedoch, wenn wir diesen Satz im Kontext des »Satzes von den Atomen und dem Leeren« explizieren. Denn während Heraklit diese Notwendigkeit als einen Kampf und Streit der allein gesetzgebenden Macht des Logos gegen die widerstrebenden Mächte des Mythos verstand, ist die Bezugsebene in diesem Fall jenes »dritte Reich« des vollen und leeren Raums. Unter dieser Voraussetzung aber kann das, was geschieht, nicht mehr, wie von Heraklit, als ein Umschlagen sinnlicher Qualitäten ineinander begriffen werden, sondern als eine nur räumliche Bewegung der Atome 140, so dass der »Satz von der Notwendigkeit« in der Weise zu verstehen ist, dass er aussagt, dass diese räumliche Bewegung der Atome nicht zufällig, sondern »aus dem Logos und unter der Notwendigkeit« geschieht. Allerdings lässt es der Satz im Unklaren, worauf er eigentlich antwortet. Liegt ihm die Frage nach der Ursache allen Geschehens, dem »Wodurch« der Bewegungen, zugrunde, oder aber nach der Art des Geschehens, dem »Wie« der Bewegungen? Im ersten Fall enthielte der Satz die Aussage, dass alles durch den Logos und die Notwendigkeit geschieht; im anderen Fall jedoch, dass alles gemäß dem Logos und der Notwendigkeit geschieht. Wir gehen daher zuerst der
139 Siehe Fr. 80: »… kai ginomena panta kat’ erin kai crewmena.« Anstelle der »anagkh«verwendet Heraklit allerdings den prosaischen Ausdruck »crewmena«. 140 Siehe Aristoteles, Physik VIII 9, 265b 24 ff.: »Dass die Ortsbewegung die primäre unter den Bewegungsarten ist, bekunden alle, die auf die Bewegung eingehen … In der gleichen Weise äußern sich diejenigen, die … lehren, Bewegung erfolge wegen der Leere. Denn auch sie sagen, die Natur bewege sich in der Weise der räumlichen Bewegung …, und sie meinen, von den anderen Bewegungsarten komme keine den Primärkörpern zu, sie begegneten vielmehr den aus den Primärkörpern zusammengesetzten Dingen.«
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Frage nach der Ursache der Bewegung nach, um den Satz dann als Antwort auf die Frage nach der Art des Geschehens zu interpretieren. a.
Die Ursache der Bewegung
1. Hinsichtlich der Ursache der Atombewegungen lassen sich zwei mögliche Verständnisarten anführen: eine äußere oder eine innere Ursache141. Nach der ersten ist die Ursache der Bewegung ein Anstoß von außen, durch den das Atom durch ein anderes in Bewegung gesetzt wird. Der Satz hätte dementsprechend die Bedeutung, dass die Ursache der Bewegung nicht zufällig, sondern logischer- und notwendigerweise von außen kommt. Im zweiten Fall ist anzunehmen, dass die Ursache der Bewegung den Atomen immanent ist, und sie daher selbstbewegend sind. So verstanden, bedeutet der Satz, dass die Bewegung den Atomen nicht zufällig, sondern aufgrund einer inneren Notwendigkeit zukommt. Die Schwierigkeit, zwischen beiden Lesarten entscheiden zu können, resultiert nun offenbar daraus, dass nach Leukipp und Demokrit den Atomen die Bewegung zwar durch einen von außen kommenden Stoß, den sog. »Schlag« (plhgh), mitgeteilt wird 142 ; dass sie aber zugleich sagen, die Atome seien immer in Bewegung (aei kineisjai) 143 . Beide Aussagen scheinen einander jedoch zu widersprechen; denn wenn man behauptet, dass den Atomen die Bewegung von außen mitgeteilt wird, dann müssen diese selbst als unbewegt angenommen werden, und können daher nicht immer bewegt sein. Sagt man hingegen, die Atome seien immer in Bewegung, dann scheint die Ursache ihrer Bewegung nicht von außen zu kommen,
141 Eine dritte mögliche Lesart, die als Bewegungsursache einen Zweck annimmt, lässt sich mit Aristoteles ausschließen: »Demokrit lehnt es ab, von einem Zweck zu sprechen, und führt alles, dessen sich die Natur bedient, auf die Notwendigkeit zurück.« (Über die Entstehung der Tiere V 8, 789b 2 f.) 142 Simplikios zu Aristoteles, Physik, 42, 10: »Demokrit nennt die Atome von Natur unbewegt und sagt, sie seien durch einen ›Schlag‹ in Bewegung gesetzt worden.«. – Siehe auch: Alexander von Aphrodisias, In Aristotelis Metaphysica commentaria 36, 21; Aetios I, 12, 6; I, 23, 3. (zit. nach: Kirk 1994, 461); Cicero, de fato 46. 143 Aristoteles, Über den Himmel 300b 8. Auch: Metaphysik XII 6, 1071b 31 ff.; Simplikios zu Aristoteles, De caelo, 583, 20; Cicero, de finibus bonorum et malorum I, 6, 17; Eusebius, Praeparatio evangelica XIV 3 (DK 68A43); Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I 13, 2 (DK 68A40); Galen, De elementis secundum Hippocratem I, 2 (DK 68A49).
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sondern muss in ihnen selbst liegen. 144 Wie also können die beiden Aussagen über den äußeren Stoß als Ursache und das Immer der Bewegung konsistent erklärt werden? 2. Nun scheint die naheliegende Lösung dieser Schwierigkeit in der Annahme zu bestehen, Leukipp und Demokrit hätten zwei Ursachen, eine primäre Art der inneren Selbstbewegung und eine sekundäre Art des äußeren Bewegtwerdens, unterschieden145 . Die Atome teilten zwar einander ihre Bewegung durch den Stoß mit; aber ihre Bewegung selbst sei ewig und immer aufgrund ihrer immanenten bewegenden Kraft; und diese innere Kraft lasse sich als ihre Schwere oder ihr Gewicht deuten 146 . Unter der Voraussetzung einer solchen inneren Kraft wäre also der Grundsatz so zu interpretieren, dass »der Logos« und »die Notwendigkeit« diejenige Ursache alles Geschehens sei, die in den Atomen selbst liegt; sie wären mit dieser inneren Ursache der Bewegung identisch 147 . Doch die Annahme einer inneren Ursache ist mit der Theorie des Atoms, wie wir sie rekonstruiert haben, nicht vereinbar. Denn die Auffassung einer räumlichen Bewegung der Atome stellt nach unserer Interpretation die Lösung des epistemologischen Problems dar, wie das volle und sich selbst gleiche Seiende, das auton des reinen Denkens, und das Veränderliche, die etera der sinnlichen Erfahrung, in einem Erfahrungswissen zu vereinen sind. In diesem Rahmen kann jedoch die Frage nach der Ursache der Bewegung nur so beantwortet werden: durch einen Anstoß von außen. Denn wenn man den Atomen als Ursache ihrer Bewegung eine innere Kraft, die 144 Diesen Widerspruch zwischen »äußerer« und »innerer Ursache« formuliert – offenbar unwissentlich – Simplikios. Im Kommentar zu Aristoteles’ Physik (42, 10) schreibt er, dass Demokrits Atome von Natur unbewegt und durch einen ›Schlag‹ in Bewegung gesetzt werden«. Im Kommentar zu Aristoteles’ Über den Himmel (583, 20) hingegen heißt es, die Atome »bewegten sich ständig aus sich selbst (kat’ autou@)«. – Siehe dazu: Löbl 1987, 112 f. 145 So V. E. Alfieri, der zwischen einem primären »movimento precosmico« und einem sekundären »movimento cosmogonico« unterscheidet. (Alfieri 1953, 84 f., 89). – Vgl. auch Fritz 1963. 146 Siehe Simplikios zu Aristoteles, Physik 1318, 35: »… diese Körper nannten jene Philosophen Natur und behaupteten, sie seien infolge der ihnen innewohnenden Schwere (kata thn en autoi@ baruthta) in Bewegung und bewegten sich durch das Leere hindurch …« Auch Cicero spricht in de fato 46 von einer »vis impulsionis« bei Demokrit. 147 So Schreckenberg 1964, 115, Anm. 99: »Die rätselhafte Ananke muss mit dieser Ursache identisch sein.«
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Schwere oder das Gewicht, zuschreibt, dann wäre das Atom nicht mehr das sich selbst Gleiche, der schlicht volle Raum, sondern wäre ein Anderes seiner selbst, ein eteron. Besäße also das Atom eine solche Kraft, wäre es sich selbst gleich und nicht sich selbst gleich. Es ist daher ungereimt, einerseits davon auszugehen, die Theorie des Atoms basiere auf dem Begriff des unteilbar und unveränderlich Einen, andererseits aber dem Atom eine inhärente Bewegungskraft zuzuschreiben. Eine solche Theorie der Selbstbewegung bedürfte ganz anderer Annahmen über den Raum, des »vollen« wie des »leeren«, als die von uns rekonstruierten 148 . Die Frage nach dem »Wodurch« 148 Angesichts der unübersichtlichen Überlieferungslage gehen die meisten Interpreten von der Erfahrung aus – und geraten in Widersprüche: weil uns die Erfahrung die Dinge als schwer zeigt, muss, so der Schluss, Demokrit die Atome selbst als schwer angenommen haben. Dieser Schluss geht jedoch auf Kosten eines konsistenten Atombegriffs. Diese Konfusion lässt sich exemplarisch an K. Marx’ Schrift über die »Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie« nachvollziehen. Marx skizziert zunächst die kontroverse Situation und schließt dann: »Es folgt …, dass Demokrit die Schwere nicht als eine wesentliche Eigenschaft der Atome hervorhebt. Sie versteht sich ihm von selbst, weil alles Körperliche schwer ist.« (Marx 1983, 207) Wenn Marx anschließend diesen ›Begriff‹ des Atoms expliziert, so ist vom demokritischen nichts mehr zu erkennen; er gleicht weit mehr einer Leibnizschen Monade bzw. dem Hegelschen Fürsichsein. Dem solcher Art ›dynamisierten‹ Atom muss freilich die Schwere als eine innere Kraft zukommen und das Atom so das Negative seiner selbst, ein sich Widersprechendes sein: »Allein die Schwere widerspricht auch direkt dem Begriff des Atoms; denn sie ist die Einzelheit der Materie als ein idealer Punkt, der außerhalb derselben liegt. Das Atom ist aber selbst diese Einzelheit, gleichsam der Schwerpunkt, als einzelne Existenz vorgestellt.« (208; H. v. m.) Doch, was hat dieser »Widerspruch im Begriff des Atoms zwischen Wesen und Existenz« (209) mit dem demokritischen Atom als einfach Seiendem zu tun? Marx räumt denn auch ein, Demokrit – immerhin Begründer der Atomtheorie – habe sich für den Atombegriff gar nicht interessiert: »(Er) betrachtet nirgends die Eigenschaften in Bezug auf das Atom selbst, noch objektiviert er den Widerspruch zwischen Begriff und Existenz, der in ihnen liegt. Vielmehr geht sein ganzes Interesse darauf, die Qualitäten in Bezug auf die konkrete Natur, die aus ihnen gebildet werden soll, darzustellen … Der Begriff des Atoms hat daher nichts mit ihnen zu schaffen.« (205) Erst unterstellt Marx also die Schwere als eine ›sich selbst verstehende‹ Eigenschaft des Atoms; er konstatiert dann den Widerspruch im Begriff des Atoms; und erklärt schließlich, weil er diesen dialektischen Begriff bei Demokrit nicht findet, er habe sich dafür nicht interessiert. Eine entgegengesetzte und unseres Erachtens angemessene Erklärung hat J. Burnet (Burnet 1930, 341–346) gegeben. Um die erfahrbare Schwere der Körper zu erklären, geht er davon aus, dass Demokrits Atome selbst keine Schwere haben, dass sie ihnen vielmehr erst aufgrund der ›Wirbelbewegung‹ zukommt. In diesem Wirbel bewegten sich größere Dinge zum Zentrum, kleinere zur Peripherie hin. Das Gerichtete dieser Bewegungen werde als schwer oder leicht erfahren. Burnet versteht also die Schwere bei Demokrit nicht als eine primäre, den Atomen innewohnende Qualität, sondern als
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der Bewegung kann daher unseres Erachtens nur mit: »durch Anstoß von außen« beantwortet werden. 3. Wie aber lässt sich dann die andere Aussage Leukipps und Demokrits erklären, die Atome seien immer in Bewegung? Eine solche Erklärung der ewigen Bewegung ist nun hinreichend in dem Einwand enthalten, den Aristoteles formuliert hat: »Leukipp und Demokrit, die behaupten, dass die ersten Körper im Leeren und im Unendlichen sich immer bewegen, müssen sagen, welche Bewegung sie ausführen und welche ihre naturgemäße Bewegung ist. Denn wenn eins der Elemente vom anderen mit Gewalt bewegt wird, dann muss notwendigerweise aber auch eine naturgemäße Bewegung eines jeden da sein, gegen die die gewaltsame ist. Und es ist nötig, dass das erste Bewegende nicht gewaltsam bewegt, sondern naturgemäß; denn es geht ins Unendliche (ei@ apeiron), wenn nicht irgendetwas da ist, was als erstes naturgemäß bewegt.« 149 Fasst man diesen Einwand zusammen, so sagt er aus, dass die Annahme einer »gewaltsamen Bewegung« von außen als einziger Ursache notwendig in einen unendlichen Progress führt. Die Ursache des bewegten Atoms ist ein anderes bewegtes Atom – bis ins Unendliche. Formulieren wir Aristoteles’ Kritik um, so nehmen Leukipp und Demokrit offenbar an: »es gibt keine erste Ursache der Bewegung« 150 . Zwar ist Aristoteles der Auffassung, es müsse eine solche erste Ursache geben – und es gebe sie –; aber er nennt in seiner Kritik zugleich das Argument, dass mit der Annahme eines unendlichen Progresses der Bewegungsursachen die beiden Aussagen über den Anstoß von außen und das Immer der Atombewegung nicht nur vereinbar sind, sondern dass aus ihnen diese Annahme auch notwendig folgt. Der Satz: »es gibt keine erste Ursache der Bewegung« erlaubt es also, die Bewegung der Atome einerseits als Wirkung eines Aneine sekundäre, durch jenen Wirbel bedingte Eigenschaft. – Diese Erklärung stimmt mit Aristoteles (Vom Werden und Vergehen I 8, 326a 9 ff.) und Theophrast (de sensu 61; DK 68 A 135) überein, die zwar feststellen, dass für Demokrit die Atome schwer oder leicht bezüglich ihrer Größe sind, die aber nicht von einer inneren Qualität der Atome sprechen. Und sie folgt Aetios, der in I, 3, 18 berichtet: »Demokrit sprach von zwei (Eigenschaften der Atome), Größe und Gestalt; Epikur fügte diesen als dritte noch die Schwere hinzu«. (vgl. auch: I, 12, 6). 149 Aristoteles, Über den Himmel III 2, 300b 8 ff. – Siehe auch: Metaphysik 1071b 32; Physik 250b 20, 251b 11 ff.; Alexander von Aphrodisias, In Aristotelis Metaphysica commentaria, 36, 21 (Kirk 1994, 461). 150 Darauf weist Aristoteles’ Kritik in Physik VIII 1, 252a 32 ff. hin: »… für das ›Immer‹ hält [Demokrit] es nicht für angemessen, den Anfang zu suchen.« A
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stoßes von außen zu konzipieren, ohne andererseits annehmen zu müssen, die Atome seien nicht immer bewegt. 151 Geht man von dieser Erklärung der Atombewegung durch eine äußere Ursache aus – was kann dann der Satz bedeuten, dass alles »aus dem Logos und unter der Notwendigkeit« geschieht? Versteht man ihn weiterhin als Antwort auf die Frage nach der Ursache alles Geschehens, dann sagt er nur aus, was wir ohnehin wissen: dass die Bewegung nicht zufällig, sondern notwendig von außen kommt. Wir interpretieren daher den Satz als Antwort auf die Frage nach der Art des Geschehens. b.
Die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens
Um den »Satz von der Notwendigkeit« in dieser Weise zu verstehen, soll er zuerst mit Heraklits Begriff der Notwendigkeit verglichen werden. Nach Heraklit herrscht der Logos durch den Streit; er geht siegreich aus dem Kampf mit dem Widerstrebenden hervor, dem er sein Gesetz, die Einheit im Entgegengesetzten, aufzwingt. Mit der Einführung des »dritten Reichs« der Atome und des Leeren erscheint jedoch die Art der Logos-Herrschaft in ganz anderer Weise. Denn das sinnlich Erfahrene wird jetzt nicht mehr als ein Eigenständiges dem Logos unterworfen, sondern unterliegt als selbstloses Objekt je schon dem Logos. Die sinnlichen Qualitäten, die Farben, die Süße oder die Wärme, sind nichts für sich, sondern nur das ›Spiel‹ der immer seienden, im Leeren bewegten Atome. Was die Sinne zeigen, wird also von vornherein auf die Art räumlicher Objekte angeschaut, denen ausdrücklich kein Eigensein zukommt. Das Sinnliche wird nicht erst, wie bei Heraklit, im Kampf der Herrschaft des Einen unterworfen, sondern ist, schon immer, eine Menge selbstloser Objekte, von außen bewegter Atome. Unter der Bedingung einer solchen logifizierten Erfahrungswelt 151 Es verwundert, dass auch heutige Interpreten die Auffassung kolportieren, die Atome müssen eine innere Bewegungsursache haben. So ›beweist‹ R. Löbl: »Wenn also für Demokrit die Bewegung immer stattfindet, dann ist sie eine Bewegung ohne ersten Anstoß; das aber führt zwangsläufig zu dem Schluss, dass ihre Quelle im Atom selbst zu suchen ist.« (Löbl 1989, 52; H. v. m.) Dem entgegen hatte doch schon Kant in der Transzendentalen Dialektik (KrV B 473) gezeigt, dass die Annahme einer inneren Bewegungsursache keineswegs notwendig, vielmehr in den Wissenschaften bloß der »Gemächlichkeit zuträglich ist« (B 498), und hatte ihre Ablehnung mit der antiken Atomtheorie verbunden (vgl. B 479).
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Die Antinomie des Logos-Wissens
wird nun der »Satz von der Notwendigkeit« als folgerichtige Konsequenz verständlich: da alles, was geschieht, nichts als die räumlichen Bewegungen einer Vielzahl einfacher und subjektloser, von außen angestoßener Atome ist, geschieht nichts durch Zufall, sondern alles allein nach dem Logos als der gesetzgebenden Instanz und unter der Macht der Notwendigkeit 152 . Weil alles sinnlich Erfahrbare je schon in der Form des selbstlosen und bewegten Objekts angeschaut wird, ist das, was geschieht, nichts, als was der Logos exekutiert. Die Heteronomie der sinnlichen Erfahrung – deretwegen Parmenides sie aus dem Reich des ›wahren Wissens‹ verbannt und Heraklit sie dem Logos im Kampf unterworfen hatte – ist gleichsam ›hinter‹ der Anschauung des Gegebenen als bloß räumlicher Objekte gebannt und verschwunden. Dieser Logifizierung der Erfahrungswelt wegen sind nun aber auch die epistemischen Funktionen des »logo@« und der »anagkh« neu zu bestimmen, da ihnen jetzt alles Polemische fehlt. Da das Sinnliche keine ›Wahrheit‹ mehr hat, die Empfindungen der Farben, des Süßen, des Warmen nur Setzungen sind, und alles in der Form von einfachen, im leeren Raum bewegter Atome angeschaut wird, fehlt dem Geschehen ganz das Eigensein, das ein Widerstreben bewirkte. Damit aber drückt der leukipp-demokritische Begriff der »anagkh« – im Unterschied zu Parmenides und Heraklit – nichts GewaltsamZwingendes mehr aus. Durch sie wird weder das Nicht-Seiende vertrieben noch wird das Heteronome bekämpft. Der Begriff der »anagkh«drückt vielmehr nur die Tatsache aus, dass eben alles, was geschieht, nach dem einen Gesetz des Logos geschieht. 153 152 Als letzter Reflex des Kampfs des Logischen gegen das Mythische lässt sich vielleicht Leukipps Aussage deuten: »ouden crhma mathn ginetai«. Denn »mathn« heißt nicht nur »umsonst, zufällig«, sondern auch »fälschlich, töricht«. Mataiologie ist ein leeres Geschwätz und ein Mataiologe ein Schwätzer. So verstanden richtet sich die Aussage gegen das ›Geschwätz‹ der Mythologen, die nur erzählen, wie ein jedes entstand, aber nicht erklären, wie alles entstehen musste. Sie betrachten so jedes in seinem eigenen Sein, nicht aber nach dem einen und allgemeinen Gesetz der Notwendigkeit. – Vgl. auch Demokrit, Fr. 119: »Die Menschen haben sich ein Trugbild des Zufalls erdichtet, als einen Deckmantel ihrer eigenen Ratlosigkeit …« 153 Wir interpretieren also Leukipps »anagkh«nicht als die »kraterh anagkh« (Fr. 8, 30) des Parmenides, die Entstehen und Vergehen vertreibt und das Seiende fesselt; aber auch nicht als ›blinde Macht‹, die zufällig wirkt. Denn wie hätte Leukipp sie mit dem ›logo@‹ zusammen nennen und dem Zufälligen entgegensetzen können? Wenn daher Aristoteles feststellt: »Demokrit lehnt es ab, von einem Zweck zu reden, und führt alles, was die Natur gebraucht, auf die Notwendigkeit (ei@ anagkhn) zurück« (Über die Ent-
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Auf der Grundlage eines solchen »dritten Reichs« der bewegten Atome lassen sich die zwei epistemischen Funktionen, das Gesetz, nach dem alles geschieht, und die Kraft, durch die alles geschieht, auch nicht mehr als zwei getrennte Funktionen unterscheiden. Denn zwischen der gesetzgebenden Instanz, dem Logos, und der alles bewirkenden Kraft, der anagkh, besteht nicht mehr die funktionale Differenz, die wir bei Heraklit anhand der gesetzgebenden Dikh und ihren Schergen, den Erinnyen, beschrieben haben, weil sich jetzt alles je schon unter dem Logos-Gesetz vollzieht, und die Vorstellungen von Gewalt und Strafe deshalb als absurd erscheinen müssen. Wenn der »Satz von der Notwendigkeit« dennoch zwischen dem »logo@« und der »anagkh« unterscheidet, dann kann der Begriff der »anagkh« hier keine andere Bedeutung haben, als festzustellen, dass eben alles, was geschieht, unter dem einen Gesetz geschieht, d. h. dass alles gesetzmäßig geschieht. Und der Begriff des »logo@« kann nur das Eine Gesetz bezeichnen, das schlechthin einfach und unauflöslich ist, und das zugleich doch allgemein ist, weil nach ihm, wie der Satz sagt, alles geschieht. Dieses Gesetz lässt sich daher das »Gesetz der Erfahrung« nennen, weil nichts, was irgend geschieht, aus Zufall, sondern alles nach diesem Einen Gesetz geschieht 154 . Die Annahme einer solchen Gesetzmäßigkeit allen Geschehens löst nun in konsistenter Weise die Frage, wie das sinnlich Veränderliche unter das gedachte Eine gebracht, wie also sinnliche Erfahrung und reines Denken zu einem Erfahrungswissen verbunden werden können. Denn in der Form der Anschauung des Gegebenen als selbstloser, im Leeren bewegter Atome hat das Logos-Gesetz nicht mehr die paradoxe Struktur einer Einheit Entgegengesetzter, sondern ist das einfach Allgemeine. Es ist einfach, weil es rein gedacht ist; es ist allgemein, weil alles nach ihm, d. h. gesetzmäßig, geschieht. Dieses »Gesetz der Erfahrung«, das der »Satz von der Notwendigkeit« ausdrückt, ist freilich nicht aus der Erfahrung gewonnen, da diese nichts Einfaches zeigt; es entstammt aber auch nicht dem reinen Denken, weil dieses nicht die Allgemeinheit des Gesetzes begründet. Ihm liegt vielmehr das epistemologische Prinzip zugrunde, dass der Logos in stehung der Tiere V 8, 789b 2), dann versteht auch er die »anagkh« nicht im Sinne des Zufalls. 154 F. A. Lange geht zu weit, wenn er dieses Gesetz umstandslos mit dem »mathematisch-mechanischen Gesetz« identifiziert, »dem die Atome in ihrer Bewegung mit unbedingter Notwendigkeit folgen« (Lange 1974, Bd. 1, 16). Vgl. dazu: Gadamer 2000, 108 ff.
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Die Antinomie des Logos-Wissens
allem herrscht; und gibt auf die Frage des »Wie« der Herrschaft eine einfache und konsistente Lösung: weder durch Zufall noch Gewalt, sondern durch Gesetzmäßigkeit. a.
Das Gesetz der Gleichheit
Nun ist die Annahme einer Gesetzmäßigkeit allen Geschehens in epistemischer Hinsicht nur formell, wenn nicht auch gesagt wird, was das Gesetz sei, das die Bewegung der Atome ›steuert‹. Als Gesetz, das alle Erfahrung bestimmt, kann es nicht nur das Eine in allem sein, sondern muss auch die Funktion der epistemischen Regel enthalten, nach der das sinnlich Gegebene in seiner ›Wahrheit‹ erkannt wird. Doch welches Gesetz ließe sich anführen, das zum einen in der Autonomie des Logos begründet ist, und das zugleich doch die Regel enthält, die die Erfahrungswelt ordnet? Eine solche Regel hat Demokrit – vielleicht schon Leukipp – mit dem Gesetz der Gleichheit aufgestellt: »Gleiches zu Gleichem« (to omoion pro@ to omoion). 155 Zwar ist von ihm gesagt worden, es sei eine alte Lehre 156 , und man hat nahegelegt, Demokrit habe es empirisch, aus der Beobachtung der Natur, gewonnen 157 . Umgekehrt wird aber auch berichtet, Demokrit habe mit ihm nicht nur einzelne Vorgänge wie den Magnetismus oder die Entstehung des Meeres 158, sondern auch die Entstehung der Weltordnung insgesamt bzw. der Welten (kosmoi) erklärt 159 . Wir betrachten daher das Gesetz der Gleichheit in letzterem Sinn als Bestimmung der universellen Regel, nach der, wie Leukipp und Demokrit sagen, alles geschieht. So gesehen mag das ›Alter‹ und der empirische Charakter dieses Gesetzes als
155 Sextus Empiricus 1998, VII 116 f.: »Es gibt eine alte … Lehre, dass Gleiches durch Gleiches erkannt werden kann … Demokrit stellt dieses Gesetz für beseeltes und unbeseeltes auf.« – siehe auch: Diogenes Laertius 1998, IX 31. 156 Aetios IV 19: »w@ aiei ton omoion agei jeo@ w@ ton omoion« [Odyssee 17, 218] – Vgl. Müller 1965. 157 Sextus Empiricus 1998, VII, 116 f. (Fr. 164) »… Denn dort ordnen sich durch den Wirbel des Siebes gesondert Linsen zu Linsen, Gerste zu Gerste und Weizen zu Weizen; hier aber werden durch die Bewegung der Welle die länglichen Kiesel zu dem den länglichen selben Ort gestoßen, die runden zu dem den runden – als hätten die Dinge die Gleichheit in sich, die sie zusammenführt.« 158 Alexander von Aphrodisias, Quaestiones II 23 (Jürss 1977, 145); Theophrast Fr. 8 (DK 68 A 99a). 159 siehe insbesondere: Diogenes Laertius 1998, IX 31.
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Belege dienen, dass es für sie schon immer und überall seine Geltung hatte 160 . Versteht man den Satz: »Gleiches zum Gleichem« zunächst nur als Formel für den Grundsatz, dass »alles aus dem Logos und unter der Notwendigkeit geschieht«, so folgt daraus, dass der Logos weder nach dem Gesetz der Identität, wie für Parmenides, noch nach der »Einheit Entgegengesetzter«, wie für Heraklit, sondern nach dem Gesetz der Gleichheit herrscht; dass daher das Seiende auch nicht ›gefesselt‹ ist oder alles ins Entgegengesetzte umschlägt, sondern dass alles, was ist, gleich ist. Nach dieser Regel ist also ›in Wahrheit‹ alles gleich bzw. kommt zu Gleichem nur Gleiches. Unter seiner Herrschaft ist, so interpretieren wir das Gesetz, alles Heterogene und Polyvalente ausgelöscht, zur bloßen Meinung (nomo@) herabgesetzt. ›Wahr‹ hingegen (eteh) ist: alles ist gleich, im leeren Raum gleichartig bewegte Gleiche. 161 Insofern ist die Gleichheit das Gesetz, das im Reich der Atome und dem Leeren herrscht. Nun hat das Gesetz der Gleichheit für Demokrit jedoch nicht nur diese meta-physische Bedeutung, sondern auch die phänomenologische Funktion, die sinnliche Erfahrungswelt zu erklären, in der freilich das, was ist, nicht gleich, sondern als verschieden und veränderlich gegeben ist. Wie aber kann unter dieser Voraussetzung der einfache Satz: »Gleiches zu Gleichem« als allgemeines Gesetz der Erfahrung begründet werden? Dieses Problem von metaphysischer Gleichheit und empirischer Vielfalt löst Demokrit bekanntlich mit der Annahme, dass die Atome zwar Volle sind, einfach Seiende; dass ihnen aber unveränderlich eine unendliche Vielzahl der Gestalten und Größen zukommt 162 . Diese unteilbar Seienden, die zugleich Gestalt und Größe haben 163 , hat er 160 So Löbl 1987, 121: »… die Beispiele … haben nur induktive Funktion; sie sollen das Bestehen, die Gültigkeit des Gesetzes ›Gleiches zu Gleichem‹ aus der Natur belegen.« 161 Vgl. Aristoteles, Vom Werden und Vergehen, I 7, 323b 10 ff. 162 Gegen die unendliche Vielzahl der Größen hat Epikur eingewandt, dass man dann »auch Atome von unendlicher Größenordnung annehmen (müsste)« (Brief an Herodotes 42; zit. nach: Jürss 1977, 207; vgl. auch Aetios I, 12, 6). Simplikios führt als Begründung Demokrits an, dass es apriori kein Argument gebe, die Vielfalt der Größen zu beschränken. – Zum »ou mallon«-Argument siehe: Kirk 1994, 453, Anm. 14. 163 Hegel sieht darin einen Widerspruch: »Die Atome sind ganz einfache Eins; von Gestalt, Ordnung kann da nicht die Rede sein; sie sind einander vollkommen gleich, einer solchen Verschiedenheit gar nicht fähig; …« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 363; auch: Bd. 5, 186). Hegel hat jedoch ein anderes Anliegen: er will nicht das Vielfältige der sinnlichen Erfahrung überhaupt unter die Form eines einfachen Gesetzes bringen, sondern erkennt
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vielleicht – im Unterschied zu den rein angeschauten atoma – als »ideai« bezeichnet 164 . Unter der Annahme einer solchen unendlichen Vielzahl von »Ideen« formuliert nun aber der Satz: »Gleiches zu Gleichem« das Gesetz, nach dem diese gestalteten Raumgrößen – wie Kiesel in der Brandung – aus dem ordnungslosen Zustand ihrer räumlichen Bewegung in einen geordneten Zustand übergehen, indem solche von gleicher Art – »als hätten sie die Gleichheit in sich« (Fr. 164) – zusammengeführt und solche von ungleicher Art getrennt werden. So verstanden benennt also dieser Satz nicht nur das Prinzip der Gleichheit von allem, sondern führt auch die Regel an, nach der der Logos in allem herrscht: ›in Wahrheit‹ ist das sinnlich Vielfältige und Veränderliche nichts als das Geschehen des Auf- und Abbaus von Ordnungszuständen verschieden gestaltiger Atome, das sich nach dem einen Gesetz der Gleichheit vollzieht. Nehmen wir an, dass diese zwei Bedeutungen des Satzes: »Gleiches zu Gleichem«, die metaphysische, nach der alles Seiende von gleicher Natur ist, und die phänomenologische, nach der Gleichgestaltiges mit Gleichgestaltigem zusammengeführt wird, sich auf ein und dasselbe Gesetz beziehen 165 , dann lässt sich in der Tat sagen, im Atom die logischen Bestimmungen des ›Fürsichseins‹. So verstanden, muss freilich der ›Übergang‹ von der Gleichheit der Atome zur Verschiedenheit ihrer Gestalten als willkürlich erscheinen. Doch Hegels Problem ist nicht das »der Alten«. – Näher kommt dem P. Natorps Erklärung: »Das ›Wahre‹, die Realität, liegt auch bei den Atomisten … in Begriffen des Verstandes; nur nicht in solchen, welche, wie die eleatischen, die Erscheinung einfach und schlechthin negiren, sondern auf sie allerdings eine nothwendige Beziehung haben und ihre Bewährung allein darin finden, dass sie die Erscheinungen erklären, ein Verständnis derselben eröffnen« (Natorp 1884, 171). 164 siehe Plutarch, adversus Colotem, 8, 1110F (DK 68 A 57); Löbl 1987, 93; Löbl 1989, 26; Wismann 1979, 41. 165 Diese Ineinssetzung kann nicht außer Acht lassen, dass die Bezugsebenen dennoch verschieden sind. Im Fall der atoma ist die Gleichheit arithmetisch, im Fall der ideai ist sie geometrisch. Epikur hat deshalb zwischen den »Atomminima« (atomoi arcai), die nur gedacht werden, und den »Atomkörpern« (atoma stoiceia), aus denen alles sinnlich Wahrnehmbare besteht, unterschieden. Doch auch mit dieser Unterscheidung löst Epikur die Aporie nicht, sondern formuliert sie nur: Wenn die Atome Größe haben, müssen sie als teilbar angenommen werden; wenn sie als unteilbar angenommen werden, können sie keine Größe haben. (siehe: Epikur, Brief an Herodotos 56–59; zit. nach: Jürss 1977, 73 f., 503 f.). Der Differenz der zwei Bezugsebenen korrespondieren zwei Demokrit-Bilder: der kalte Analytiker, der in »eisige(r) Konsequenz … alle qualitativen Differenzen aus den primären Wirklichkeiten des Seins und alle geistigen Kräfte aus dem Begriff der Naturordnung ausschaltet« (Gadamer 2000, 110), und der umtriebige Empiriker, der für alles A
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dass Demokrit mit diesem Satz ein einfaches und zugleich allgemeines Gesetz aufgestellt hat, dem die Welt der Erfahrung unterworfen ist. Die Instanz, die den Satz epistemisch begründet, ist der Logos, der das Gesetz der Gleichheit selbst gibt (»ek logou«); und die Instanz, die die allgemeine Geltung des Gesetzes bewirkt, ist die Notwendigkeit, unter der alles sinnlich Erfahrbare nach diesem Gesetz geschieht (»up’ anagkhn«). Mit dessen Geltung ist die sinnliche Erfahrung, die das Gegebene als verschieden, als entstehend und vergehend, zeigt, zur bloßen »Meinung« (nomo@) herabgesetzt, da allem ›in Wahrheit‹ (eteh) das Gesetz der Gleichheit zugrunde liegt. Dieses Gesetz vereinigt so das Vielfältige und Veränderliche, wie es die Erfahrung zeigt, mit der Idee des unveränderlich Einen in einem Erfahrungswissen, weil es nicht nur angibt, dass alles gesetzmäßig, sondern auch wie es gesetzmäßig geschieht. b. Anhang: der »Wirbel« (dino@) Leukipps und Demokrits Theorie der Weltentstehung kann als Prüfstein dienen, ob alles tatsächlich nach dem Gesetz: »Gleiches zu Gleichem« geschieht. Denn wenn es möglich ist, die Komplexität der Erfahrungswelt mittels dieses einfachen Gesetzes zu erklären, dann würde dies beweisen, dass es keiner zusätzlichen Annahmen von ordnenden ›Mächten‹ oder wirkenden ›Kräften‹ bedarf. In diesem Sinne bildet die Kosmogonie quasi die ›Deduktion‹ von der metaphysischen Ebene des Reichs gleichartiger Atome auf die phänomenologische Ebene der Sinnenwelt. Diese »Deduktion« soll als Exkurs skizziert werden. a) Im Zentrum dieser Kosmogonie steht der »Wirbel« (dino@). Dies belegen Aristoteles, Simplikios, und Diogenes Laertius 166. Unter einem »Wirbel« verstehen wir die rotierende Bewegung vieler und verschiedenartiger Atome. b) Hinsichtlich des Anfangszustands besteht Übereinstimmung, und jedes eine Erklärung gibt. Für jenes Bild hat schon Epikur die Vorlage gegeben: »Denn es wäre besser, dem Mythos über die Götter zu folgen, als sich zum Sklaven der Schicksalsnotwendigkeit der Naturphilosophen zu machen.« (Brief an Menoikeos 134; zit. nach: Jürss 1977, 239 f.) Dieses Bild zeichnet B. Russell: »Diese Philosophen interessierten sich für alles – für Meteore und Finsternisse, für Fische und Wirbelstürme, Religion und Moral; scharfer Verstand paarte sich bei ihnen mit kindlichem Eifer.« (Russell 1999, 94). 166 Aristoteles, Physik II 4, 194a 24; Simplikios zu Aristoteles, Physik 327, 23; Diogenes Laertius 1998, IX, 31.
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dass die Atome ursprünglich im Zustand der Bewegung waren 167 ; Uneinigkeit jedoch, über die Art der Bewegung. Während Diogenes Laertius und Hippolyt von einer gleichgerichteten Bewegung der Atome »in das große Leere« (ei@ mega kenon) berichten 168 , beschreiben Simplikios, Aetios und Eusebios den Anfangszustand als zufällig, regellos und ungerichtet 169 . Wir folgen letzteren, da sich jener Bericht wohl auf Epikurs – anders motivierte – Theorie des »freien Falls« bezieht 170 , und nehmen daher an, dass das regellose und ungerichtete ›Spiel der Atome‹ den Anfangszustand bezeichnet. 171 c) Auf die Frage nach der Ursache des Wirbels sind zwei scheinbar verschiedene Antworten gegeben worden: das »von selbst« (automatw@) bzw. das »notwendig« (anagkh). Aristoteles und Simplikios überliefern, Leukipp und Demokrit hätten den Wirbel »aus dem von selber und dem Schicksal« (apo tautomatou kai tuch@) hervorgehen lassen. 172 Diogenes Laertius hingegen berichtet, Ursache sei der Wirbel, den Demokrit anagkh nennt 173 . Wenn wir angesichts dessen annehmen, dass die Antworten eigentlich dasselbe bezeichnen, nämlich die »anagkh« als eine zwecklos und insofern »von selber« wirkende Ursache, dann stimmen beide mit Leukipps Grundsatz überein, dass nichts umsonst, sondern alles – damit auch der Wirbel – aufgrund der Notwendigkeit (up’ anagkh@) geschieht. 174 167 Dieser Anfangszustand bezeichnet die Differenz zur Kosmologie des Anaxagoras. In ihr waren alle Dinge anfänglich zusammen (Fr. 1) und sind durch den Geist (nou@) in den Wirbel versetzt worden. In ihr ist der Geist die Ursache der Bewegung und der Rotation. – Leukipps Schrift »peri nou« könnte eine Auseinandersetzung darüber enthalten haben. Vgl. Kirk 1994, 442. 168 Diogenes Laertius 1998, IX, 31; Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 12, 1 (DK 67A10). 169 Simplikios, Über den Himmel, 242, 15 ff.; Aetios, I, 4, 1 ff. (DK 67 A 24); Eusebios, Praeparatio evangelica, XIV 23, 2 (DK 68A43). 170 zur Differenz der demokritischen zur epikureischen Theorie der »Anfangsbedingungen« siehe: Jürss 1977, 127, Anm. 3. 171 Siehe auch: Guthrie 1969, 404; Luria, Mechanika Demokrita, 132. – Neben der Regellosigkeit kann noch ein Zustand der Gleichverteilung der Atome nach dem demokritischen Prinzip des »ou mallon« angenommen werden. Siehe dazu: Aristoteles, Physik III 4, 203b 25: »Warum nämlich sollte ein Mehr des Leeren in diesem als in jenem sein?« 172 Aristoteles, Physik II 4, 196a 24 ff.; Simplikios zu Aristoteles, Physik 327, 23 ff. 173 Diogenes Laertius 1998, IX, 45: »th@ dinh@ aitia@ oush@ th@ genesew@ pantwn, hn anagkhn legei.« 174 In diesem Sinne sagt auch Aristoteles: Demokrit »führt alles, dessen sich die Natur bedient, auf die Notwendigkeit (ei@ anagkh@) zurück« (Über die Entstehung der Tiere V 8, 789b 2 f.).
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Unter diesen Bedingungen lässt sich nun die Entstehung des Wirbels als ›Übergang‹ aus dem regellosen Anfangszustand der Atome in den geordneten Zustand der rotierenden Bewegung verstehen, der notwendig und gesetzmäßig geschieht: im homogenen, regelund richtungslosen Anfangszustand verursacht die anagkh nach dem Gesetz der Gleichheit irgendwo im Raum eine Änderung 175 . Sie beschreibt Diogenes Laertius (IX, 31) als eine »Ballung« (ajroisjenta), die sich von dem Unendlichen abtrennt (apotomh ek th@ apeirou). In dieser abgetrennten »Ballung« entsteht nun ›plötzlich‹ (exaiynh@) ein Wirbel, in dem die Atome eine gleichartige Kreisbewegung haben. Durch die Rotation streben jetzt gleiche zu gleichen, die größeren Atome streben zur Mitte und die kleineren an die Peripherie; sie erhalten dadurch die wahrnehmbare Qualität der Schwere bzw. der Leichte, so dass die festwerdende Erde und der sichtbare Himmel sich trennen, die Sterne durch Rotation sich entzünden und leuchten, und so die sichtbare Ordnung entsteht. Nach diesem kosmogonischen Modell entsteht also der Wirbel nicht ›zufällig‹, sondern ›plötzlich‹. 176 Seiner Entstehung geht das Wirken der anagkh voraus, die nicht ›blind‹, sondern nach dem einfachen Gesetz des »Gleiches zu Gleichem« in der regellosen Homogenität des unendlichen Raumes eine Inhomogenität bewirkt, aus der plötzlich ein rotierende Bewegung entsteht. Das ›plötzlich‹ drückt aus, dass ein solcher Wirbel einerseits nicht aus Zufall, sondern nach dem Gesetz des Logos entsteht; dass er andererseits aber nicht zweckmäßig, sondern gesetzmäßig, nicht durch den nou@, sondern durch die anagkh nach dem Gesetz der Gleichheit entsteht. Die Entstehung von Ordnung aus Unordnung ist weder zufällig noch absichtlich; sie entsteht plötzlich, aber notwendig. 177 175 Dem ›irgendwo‹ entspricht, dass Leukipp und Demokrit die Existenz nicht nur des einen Kosmos’, sondern vieler Kosmoi angenommen haben, und der sichtbare nur einer von vielen sei. Siehe dazu: Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 13, 2 f. 176 Die Annahme des ›plötzlich‹ der Entstehung von Ordnung aus Unordnung hat Ähnlichkeit mit modernen Theorien spontaner Selbstorganisation. Vgl. dazu: Prigogine 1984, 14. 177 vgl. dazu F. Nietzsches Deutung: »Die Weltbildung dachte Demokrit sich so: im unendlichen Raume schweben die Atome in ewiger Bewegung: dieser Ausgangspunkt wird oft im Alterthum getadelt: aus dem ›Zufall‹ concursu quodam fortuito … sei die Welt bewegt und entstanden. Der ›blinde Zufall‹ herrsche bei den Materialisten. Dies ist eine ganz unphilosophische Ausdrucksweise: es soll heissen, die zwecklose Causalität, die anagkh ohne Zweckabsichten; es gibt eben hier gar keinen Zufall, sondern strengste Gesetzmässigkeit, nur nicht nach vernünftigen Gesetzen.« (Nietzsche 1994, 97).
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Unsere Rekonstruktion kann nicht entscheiden, wie Leukipp und Demokrit die Entstehung des Wirbels ›tatsächlich‹ konzipiert haben. Sie sollte nachzeichnen, dass der »Übergang« aus dem metaphysischen Reich der bewegten Atome in das phänomenologische Reich der erfahrbaren Vielfalt nicht vermittlungslos als ein ›Sprung‹ verstanden werden muss – und damit der »Satz von der Notwendigkeit« leeres Gerede wäre. Denn wenn Leukipp und Demokrit die Entstehung der sinnlichen Erfahrungswelt nach dem einfachen Gesetz der Gleichheit erklärt haben, dann wäre diese Erklärung der Beweis für den Grundsatz, dass in der Tat alles, was geschieht, »aus dem Logos und unter der Notwendigkeit« geschieht. 178
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Platon: Die »gute Ordnung« als Grundsatz des Logos-Wissens
Der folgende Teil wird die Philosophie Platons nur in so weit rekonstruieren, als sie die Alternative zu dem Konzept darstellt, das Erfahrungswissen auf die Idee der Notwendigkeit zu gründen. Dazu gehen wir davon aus, dass ihr zwar gleichfalls der »Satz vom Logos« vorausgesetzt ist und mit ihm die Annahme des Einen, das allem das Gesetz gibt; dass sie aber auf das Wie der Herrschaft eine entgegengesetzte Antwort gibt: statt Erfahrungswissen auf die Anschauung der im Leeren bewegten Atome und die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit allen Geschehens zu gründen, gründet es Platon auf den nou@, der alles »auf das Beste« (beltista) ordnet. Bleibendes Erfahrungswissen wird daher nicht durch die Prinzipien der Gleichheit und Notwendigkeit, sondern durch das Prinzip der »guten Ordnung« begründet; und es besteht in der Erkenntnis dessen, was das Beste ist. Dieses Konzept der »guten Ordnung« soll in drei Schritten rekonstruiert werden: Im ersten Schritt wird Platons Lehre vom Wis178 Diese Kosmogonie unterscheidet sich wesentlich von den späteren Kosmogonien Descartes’ und Kants. Zwar gehen auch sie von einem Anfangswirbel aus, nehmen aber zur Erklärung der Weltordnung mathematische Gesetze an: Descartes des Stoßes, Kant der Gravitation. Von seiner »Theorie des Himmels« bemerkt Kant, sie scheine mit der von Demokrit und Epikur »größte Ähnlichkeit« zu haben (TH I 226), aber der große Unterschied sei, dass dort alles aus dem Zufall hergeleitet würde, während hier notwendige Gesetze zugrundegelegt werden, die auf eine »höchst weise(.) Absicht« (I 228) hindeuten. Die Idee des weisen Weltplaners fehlt Leukipp und Demokrit in der Tat; sie brauchen ihn nicht.
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sen als Schau der ewigen und unbewegten Ideen dargestellt, an denen die sinnlichen Dinge teilhaben. Im anschließenden Teil wird Platons kritische Reflexion auf diese Lehre behandelt und die Erkenntnis der »guten Ordnung« als Produkt des »noetischen Denkens« rekonstruiert. Der dritte Teil schließlich geht der Konzeption nach, die sinnliche Erfahrungswelt als Abbild der noetischen Ordnung darzustellen. Bei diesem Vorgehen stellt sich uns in methodischer Hinsicht das entgegengesetzte Problem. Hatten wir die Epistemologien bislang aus dem rudimentären Bestand der überlieferten Fragmente rekonstruiert, besteht im Fall der Philosophie Platons nicht nur das Problem der Fülle des Überlieferten, sondern auch des literarischen Charakters der Dialoge. Hinzu kommt die Frage nach Platons »ungeschriebener Lehre«. Was wir daher in Absicht der Rekonstruktion auswählen und hervorheben, bildet in der Gestalt der einzelnen Dialoge wie auch im Gesamtwerk Platons ein weit komplexeres Ganzes. Unser Vorgehen, zunächst die Lehre von der Schau der Ideen vom Konzept des noetischen Denkens zu unterscheiden, um auf dieser Grundlage dann Platons Kosmologie zu rekonstruieren, geschieht jedoch nicht aus hermeneutischem Interesse; es beansprucht weder, die Dialoge, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, noch das Gesamtwerk Platons verstehend nachvollziehen. Es folgt vielmehr der genannten systematischen Fragestellung, wie Platons Philosophie das epistemologische Problem löst, das heteronome Erfahrungswissen auf ein gesetzgebendes Prinzip zu gründen. 1.
Die Schau der Ideen
Im »Phaidon« (96a–101e) lässt Platon Sokrates berichten, er sei zu einer »zweiten Fahrt« (deutera plou@) aufgebrochen, nachdem die erste gescheitert sei. Nachdem er sich den Satz, dass der Nous alles ordne und die Ursache von allem sei, als Grundsatz zu eigen gemacht habe, sei er von der Art enttäuscht worden, wie dieser Grundsatz angewandt wurde. Statt des Nous seien »die Luft und der Äther und das Wasser und manches Ungereimte mehr« zur Ursache der Ordnung der Dinge gemacht worden. Diese Erklärungen aber machten vom Begriff der Ursache keinen richtigen Gebrauch. Es dürfte nun diesem Bericht nicht widersprechen, wenn wir zu den genannten Ursachen noch die bewegten Atome hinzufügen (und dem »manches 192
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Die Antinomie des Logos-Wissens
Ungereimte mehr« zuordnen). Sokrates’ Enttäuschung lässt sich dann so verstehen, dass es ihm widersinnig erschien, den Nous zwar zum Ordner und Urheber von allem zu erheben, dann aber statt dessen gewisse Elemente wie Luft, Wasser oder Atome – von uns so genannte »logifizierte Vorstellungen« – zur Ursache zu machen, um aus deren Beschaffenheit oder Anordnung die sichtbaren Dinge zu erklären. Denn dadurch werde – entgegen dem Grundsatz – nicht der Nous selbst, sondern etwas anderes, was doch nur Mittel ist 179 , zum Prinzip der Erklärung gemacht. Dies aber sei keine konsistente Auslegung des Grundsatzes. a.
Die »zweite Fahrt«
Nach dem Scheitern der »ersten Fahrt« beschloss Sokrates, sich nicht mehr den Dingen (pragmata), sondern den sogenannten »logoi« (99e) zuzuwenden und in diesen die »Wahrheit über das Seiende« zu erforschen. Diese »zweite Fahrt« kann nach dem Bisherigen nur darin bestehen, von dem Grundsatz ausgehend, dass der Nous der Ordner und Urheber von allem sei, diejenige Ordnung der Dinge zu suchen, in denen dieser selbst als Urheber erkannt wird. Die gesuchten »logoi« sind demnach zwar – wie die Atome – als ein eigenständiges »drittes Reich« zwischen dem Gedachten, das nur ist, und dem Sinnlichen, das nur wird, als ein Reich von sich selbst gleichen tauta zu verstehen. Aber ihre Bestimmtheit kann nicht in der räumlichen Anschauung, in Bewegung, Größe und Gestalt gegeben sein, sondern muss in der Seele selbst in derjenigen einfachen und vollkommenen Bestimmtheit gefunden werden, die Sokrates das »to auto kaj’ auto« nennt. 180 Denn nur von solch Vollkommenen ließe sich sagen, dass sie den Nous als Urheber haben. 179 Platon, Phaidon 99b: Wörtlich: »… etwas anderes, ohne welches die Ursache nicht Ursache sein könnte« (… allo de ekeino aneu ou to aition ouk an pot’ eih aition). 180 Sokrates verdeutlicht diesen Unterschied am Beispiel des Schönen: »… wenn mir einer behauptet, dass irgend etwas deshalb schön sei, weil es eine glänzende Farbe habe oder eine schöne Gestalt oder sonst etwas dieser Art, dann lasse ich das alles unbeachtet, weil es mich doch nur verwirrt, und halte mich schlicht und einfach und vielleicht einfältig nur an das eine, dass gar nichts anderes es schön macht als die Gegenwart jenes Schönen oder die Gemeinschaft mit ihm, oder wie der Zusammenhang zwischen den beiden sein mag – darüber will ich nichts Bestimmtes mehr behaupten, sondern nur – dass alles Schöne durch das Schöne schön ist (oti tw kalw panta ta kala [gignetai] kala). Denn diese Antwort kann nach meiner Überzeugung ich und jeder andere mit unbedingter Gewissheit (asyalestaton) geben.« (Phaidon 100c-d) – Während also
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Diese »zweite Fahrt« wollen wir also in der Weise nachvollziehen, dass sie vom Grundsatz ausgeht, dass der Nous der Ordner und Urheber von allem sei; dass sie von da aber nicht in die räumliche Anschauung »logifizierter Vorstellungen«, den sog. »Elementen«, springt, sondern das Programm formuliert, in der Seele selbst nach denjenigen Seienden zu suchen, die dem Grundsatz entsprechen. Wie aber können die gesuchten gefunden werden? a. Die Seele als »Spiegel« der Ideen Im »Staat« (507b–509b) vergleicht Sokrates die Erkenntnis der gesuchten logoi mit dem Sehen (oran). Denn, so das Argument, wenn es darum geht, den Nous als den Urheber solcher logoi zu erkennen, dann kann ihre Erkenntnis mit keinem anderen Sinn als dem Sehen verglichen werden, da die anderen Sinne keines Dritten (triton) bedürfen. Nur das Sehen bedarf dreierlei: des Gegenstands, des Auges sowie des Lichts. Und so wie das Auge sieht, weil das Gesehene durch ein Drittes, das Licht, sichtbar wird und das Auge durch das Licht seine Sehkraft erhält, so erkennt – in Analogie dazu – die Seele die Ideen (eidh) im ›Lichte‹ eines Dritten. Sie erkennt die Ideen, weil sie durch dieses Dritte erkennbar werden, und die Seele durch es die Kraft der Erkenntnis erhält. Von diesem Dritten nun, »das dem Erkannten die Wahrheit verleiht und dem Erkennenden die Kraft gibt, sage, es ist die Idee des Guten. Diese Ursache des Wissens und der Wahrheit wird zwar durch den Verstand erkannt, aber – wiewohl beide, die Erkenntnis und die Wahrheit, schön sind – so wirst du das Rechte treffen, wenn du sie selbst als ein anderes und schöneres annimmst« (508e; H. v. m.), weil, so wollen wir ergänzen, durch sie erst die beiden anderen schön sind. Und so wie die Gegenstände durch das Licht der Sonne nicht nur sichtbar werden, sondern das Licht sie auch wachsen lässt, ohne selbst zu wachsen, so werden auch die Ideen durch das Gute nicht nur erkennbar, sondern erhalten »von ihm auch das Sein und das Wesen; es selbst aber ist kein Seiendes, sondern reicht über das Seiende an Würde und Kraft hinaus« (509b). Diese Analogie der Erkenntnis mit dem Sehen ist offenbar als Einlösung des Programms jener »zweiten Fahrt« zu verstehen, das Wissen von dem, was ist, auf nichts als den Nous als Urheber zu gründen. Die Idee des Guten (idea tou agajou) ist die Ursache sojene Art von Antworten nur Verwirrung stiftet, ist diese Art der Antwort von unbedingter Gewissheit.
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wohl der Wahrheit des Erkannten als auch der Erkenntnis der Seele, so dass für die menschliche Seele ein im Nous begründetes und bleibendes Wissen nur in Bezug auf dieses Dritte möglich ist. Weder, so können wir daraus schließen, können die gesuchten logoi unmittelbar in der menschlichen Seele gefunden werden, noch besitzt sie aus sich selbst die Kraft, sie zu erkennen; sie werden als Ideen nur im und durch das Licht des überseienden Guten erkennbar, und nur durch es erwächst der Seele die Kraft ihrer Erkenntnis. Hier also wird die Wahrheit des Erkannten nicht, wie bei Parmenides, in »verlässlicher Rede« (pisto@ logo@) offenbart und mitgeteilt und auch nicht, wie bei Heraklit, im »Hören des Logos« (tou logou akousa@) vernommen, sondern im »Licht des Guten« eingesehen. Auf die Frage also, wie die gesuchten logoi zu finden seien, lässt Platon Sokrates antworten: sie werden ›im Licht des Guten‹ gefunden. Doch erfüllt dieses Konzept des Schauens der Ideen, was die »zweite Fahrt« bringen soll: nämlich ein Wissen von der Art, dass – anders bei Luft, Äther, Wasser »und manchem Ungereimten mehr« – in den logoi zugleich der Nous als Urheber von allem erkannt wird? Zwar gründet in diesem Fall die Erkenntnis dessen, was ist, in der Tat in einem Dritten, das die Ursache der Wahrheit und der Erkenntnis ist. Aber in der Form des Sehens werden die Ideen nur in ihrem Ansichsein (auto kaj’ auto), in ihrer »königlichen Abgeschiedenheit« 181 , erkannt; nicht jedoch, dass der Nous ihr Urheber ist. Denn so wie im Licht der Sonne die Dinge zwar gesehen werden, aber das ›Ursache-Sein‹ des Sonnenlichts nicht gesehen wird, sondern hinzugedacht werden muss, so werden im Licht des Guten zwar die Ideen wie auch die Idee des Guten selbst erkannt, aber das, worauf es ankommt, nämlich das ›Ursache-Sein‹ des Guten für die Erkenntnis und das Erkannte wird auf diese Weise nicht erkannt. – Wenn Platon also im »Staat« anstelle des Hörens das Sehen in die Epistemologie einführt – und er die Sehkraft als den »weit kostbarsten« (polutelestathn; 507c) der Sinne bezeichnet –, um zu erklären, wie jene logoi, die den Nous zum Urheber haben, erkannt werden können, so erreicht dieses Gleichnis nicht sein Ziel. Es kann das Programm nicht einlösen, weil nach Art des Sehens im Licht des Guten zwar 181 Diesen treffenden Ausdruck hat J. Dewey geprägt: »Der wirkliche Gegenstand, der in seiner königlichen Abgeschiedenheit so unverändert ist, dass er für jeden schauenden Geist, der auf ihn blickt, ein König ist. Das unvermeidliche Ergebnis ist eine Zuschauertheorie des Erkennens.« (Dewey 1998, 27).
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die Ansichseienden, aber nicht das ›Ursache-Sein‹ des Guten erkannt wird. Platon wäre denn auch nicht Platon, würde er Sokrates’ Rede nicht kontern lassen: »Da rief Glaukon recht spöttisch (mala geloiw@): ›Bei Apoll, das ist ein wunderbares/sames Hinausragen!‹ (daimonia@ uperbolh@)« (509c). 182 182 Das Konzept der Ideenschau gibt Anlass, auf die Kritik der Philosophie einzugehen, die R. Rorty in »Der Spiegel der Natur« (1985) vorgetragen hat. Rorty stellt – unter Bezugnahme auf Dewey, Heidegger und Wittgenstein – in seiner Kritik die »visuelle Metapher« ins Zentrum. Die abendländische Philosophie sei vom Bild des Geistes als dem »Spiegel der Natur« geleitet worden. Auch wenn Rorty dann näher auf die neuzeitlichen Philosophen, Descartes, Locke und Kant, eingeht und sie von der antiken Philosophie dadurch unterscheidet, dass diese den Geist als »Spiegel« aufgefasst habe, während jene diesen »Spiegel« noch einmal beobachtet haben, so sei das Spiegel-Bild des Geistes doch der Mythos, der, selbst unbefragt, der abendländischen Philosophie zugrunde liegt und in der griechischen Antike seinen Anfang hat. Mit der Aufklärung über diesen Mythos verbindet Rorty die Hoffnung, ihn zu beenden. An die Stelle der Konfrontation: Ding – Spiegel solle die Kommunikation treten. Angesichts der zentralen Bedeutung, die Rorty dem Spiegel-Bild für die abendländische Philosophie zuschreibt, erscheint es merkwürdig, wie nonchalant er mit der Entstehungsfrage dieser Metapher umgeht. Er schreibt: »Wie wir Neuzeitlichen mit der Undankbarkeit späterer Einsicht [vollzieht sich die Kritik der Ein-Sicht wiederum als EinSicht?] sagen können, gab es keinen besonderen Grund, warum diese visuelle Metapher von der Phantasie der Begründer des westlichen Denkens Besitz ergreifen konnte. Es geschah jedoch, und die Philosophen arbeiten noch immer die Konsequenzen aus. Sie analysieren die Probleme, die sich daraus ergaben, und stellen die Frage, ob an der Sache nicht ›doch etwas dran‹ gewesen sein mochte. Die Vorstellung der Kontemplation, der Kenntnis allgemeiner Begriffe und Wahrheiten als Qewria, macht das innere Auge zum unausweichlichen Modell des besseren Wissens. Es ist jedoch fruchtlos, die Frage aufzuwerfen, ob die griechische Sprache oder die griechischen ökonomischen Bedingungen oder die müssige Phantasie eines namenlosen Vorsokratikers dafür verantwortlich sind, dass dieses Wissen als ein Sehen von etwas aufgefasst wurde (statt etwa als ein Sichreiben gegen etwas, oder als ein Am-Boden-Zertreten von etwas, oder als den Umstand, mit ihm Geschlechtsverkehr zu haben).« (51) Und in der Fußnote fügt Rorty hinzu: »Es lässt sich schwer sagen, ob die visuelle Metaphorik dafür verantwortlich war, dass man sich den Gegenstand echter Erkenntnis als ewig und unveränderlich dachte, oder vielmehr umgekehrt; jedenfalls scheinen beide Vorstellungen wie gemacht füreinander.« Nun ist in Hinblick auf die Geltung des Mythos seine Entstehung in der Tat ohne Bedeutung; denn er gilt, weil und solange er gilt. In Hinblick auf seine Kritik jedoch wird die Frage nach seiner Entstehung zentral. Rorty hat sicher Recht, wenn er mit Ironie feststellt, es sei müßig, die Übertragung des Sehens in die Philosophie der altgriechischen Grammatik, der Produktionsweise oder einem (noch) unbekannten Talent zuschreiben zu wollen. Aber nicht müßig ist es, nach den Gründen zu fragen, das Wissen als ein Sehen von etwas – und nicht als ein Sichreiben gegen, Am-Boden-Zertreten von oder Geschlechtsverkehrhaben mit etwas – zu konzipieren. Diese Frage aber fällt mit den Gründen zusammen, die Sokrates nach dem Referat Platons veranlasst haben, seine
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b. Die Seele als Ort der logoi In anderen Dialogen beschreibt Platon die Erkenntnis der gesuchten logoi nicht mit dem Gleichnis des Sehens, sondern als Gang der Seele zu sich selbst, die sich von ihrer Bindung ans Vergängliche ab- und dem ihr Eigenen zuwendet. 1. Im »Theaitetos«, der der Frage nach dem, was Wissen ist, nachgeht, wird das Wissen als eine Folge von Stufen dargestellt: die erste Stufe sei die Wahrnehmung (aisjhsi@), auf der die Seele in einer Wahrnehmung vermittelst der Sinne erkennt, was wahrnehmbar ist (184d). Die nächste Stufe sei die richtige Meinung (alhjh@ doxa), wo die Seele mit sich selbst beschäftigt ist (187a) und die falsche Meinung von der richtigen unterscheidet. Die dritte Stufe schließlich sei die richtige Meinung, die mit Erklärung verbunden ist (doxa alhjh@ meta logou), die in der Angabe der spezifischen Differenz (diayora) besteht. Worin jedoch das Eigentümliche dieser »erste Fahrt« aufzugeben. Sokrates führt gute Gründe an, warum er gegen eine taktile Metaphorik des Stoßen und Drückens ist. (Er nennt das Ziehen und Drücken der Glieder; er hätte aber auch das Sichreiben oder das Zertreten nennen können). Auf diese Weise, so die Begründung, sei es nicht möglich, zu erkennen, dass der Nous der Urheber von allem sei. Wenn Platon nun die »visuelle Metapher« in die Epistemologie eingeführt hat, so liegt ihr – zumindest nach unserer Rekonstruktion – die Annahme zugrunde, es müsse sog. »logoi« geben, unveränderliche und ansichseiende Entitäten. Deren Erkenntnis beschreibt er im »Staat« als Widerspiegelung der Ideen. Ist dadurch aber das Bild des menschlichen Geistes als »Spiegel der Natur« zum unhinterfragten Mythos der abendländischen Philosophie geworden? Wäre dem so, warum hat Platon selbst andere Bilder geprägt? Nach unserer Auffassung ist nicht das Bild vom Geist als Spiegel der unbefragte Mythos, der die Identität der abendländischen Philosophie stiftet, sondern die Idee des autonomen Subjekts, die unter verschiedenen Namen als »Logos«, »Nous«, »Ratio« oder »Vernunft« dieselbe geblieben ist. Sie liegt den Aporien und Antinomien, den kritischen und selbstkritischen Lösungsversuchen der abendländischen Philosophie zugrunde. Dieser Idee gegenüber sind die Bezugnahmen auf sinnliche Erkenntnis- und Verhaltensweisen sekundär; sie sind Arten, wie dieser »Mythos« konsistent und überzeugend auszulegen sei. Ob die Idee der Herrschaft des Einen dem auditiven Modell des parmenideischen oder heraklitischen Hörens der Wahrheit, dem Riechmodell des Anaxagoras’schen Nous, dem taktilen Modell des Stoßens und Drückens der leukipp-demokritischen Atome im Leeren, dem sexuellen Modell der Vereinigung Entgegengesetzter des Empedokles, dem erotischen Modell der »Heiligen Hochzeit« der menschlichen Seele mit dem Göttlichen in Platons »Symposion« oder eben dem visuellen Modell des Sehens der Ideen nachgebildet wird, – sie umkreisen alle das eine Problem: wie ist die Idee der Autonomie als epistemologisches Prinzip auf die veränderliche Welt der sinnlichen Erfahrungen anzuwenden? Nach unserer Auffassung ist die visuelle Metaphorik eine, wenn auch einflussreiche, Variante abendländischer Philosophie, aber nicht ihr identitäts- und kontinuitätsstiftender Mythos. A
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Wissensart gegenüber der zweiten besteht, wodurch und warum die Verbindung der Meinung mit dem logo@ Wissen ist, und ob dies das gesuchte Wissen ist, lässt der Dialog offen. 183 Sokrates beendet ihn mit der Aporie: »Auch weiß ich nichts von dem, was die anderen berühmten und bewundernswerten Männer der Vergangenheit und Gegenwart wissen und wussten« (210c). 2. Im »Menon« hingegen lässt Platon den Sokrates sagen, dass die gesuchten logoi in der menschlichen Seele schon enthalten seien. In einem gleichsam »mäeutischen Experiment« 184 schließt Sokrates aus der Tatsache, dass der ungelehrte Sklave nur aufgrund von Fragen die richtigen Antworten gibt, dass sie in seiner Seele schon waren, und er sie erinnernd aus sich hervorgeholt habe: »In dem Nichtwissenden also sind von dem, was er nicht weiß, dennoch richtige Meinungen« (85c) 185 . Diese These vom Enthaltensein der logoi erlaubt es Platon zwar, den Gang der Seele zu sich nicht nur als einen Weg vom Meinen zum aporetischen Nichtwissen oder als verschiedene Stufen des Wissens zu beschreiben, sondern ihn als Weg zur Erkenntnis zu begründen, weil das, was die Seele rein aus sich hervorbringt, zugleich als die logoi gelten kann, die, jener Forderung entsprechend, nichts als den Nous zum Urheber haben. Doch mit der Einführung dieser These vom Wissen als Erinnern verschiebt sich nur das Problem der Begründung: sie beantwortet zwar die Frage, warum die Beschäftigung der Seele mit sich in epistemischer Hinsicht ein »Wissen« genannt werden kann, aber sie provoziert die Frage, wie diese These sich ihrerseits begründen lässt. Denn die Annahme, dass das, dessen sich die Seele erinnert, zugleich das sei, das den Nous zum Urheber hat, setzt offenbar ein Wissen über die Seele voraus, dass sie nämlich von der Art sei, dass das, was sie in sich hat, jene gesuchten logoi sind. 3. Eine solche Theorie der menschlichen Seele lässt Platon den Sokrates im »Phaidon«, der die Frage nach ihrer Unsterblichkeit behandelt, ausführen (79c f.): bedient die Seele sich der Sinne, dann wird sie zu dem hingezogen, was niemals sich gleichbleibt; sie ist dann schwankend, irrt und taumelt wie betrunken. Wendet sie sich hingegen auf sich und beschäftigt sich mit dem ihr Eigenen, dann Zur Aporie des Schlusses vgl.: Hare 1990, 67. G. Reale, Die Begründung der abendländischen Metaphysik: Phaidon und Menon. In: Kobusch 1996, 78. 185 Siehe auch: Phaidon 73a–b. 183 184
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erhebt sie sich zu dem immer Seienden (aei on), dem Unsterblichen und Unvergänglichen 186 . Da sie, so das Argument, mit dem immer Seienden verwandt (sungenh@) sei, so bleibe sie diesem verbunden, so oft sie sich auf sich bezieht 187 . Diesen Zustand der menschlichen Seele nenne man die »vernünftige Einsicht« (yronhsi@). Diese Darlegung lässt sich in der Sprache unserer Rekonstruktion so deuten: bedient sich die Seele der Sinne, so ist Heteronomie ihr Gesetz; sie gleicht den nichtswissenden Sterblichen des Parmenides, die taub und blind dahintreiben. Beschäftigt die menschliche Seele sich hingegen mit dem ihr Eigenen, so besitzt sie darin ein bleibendes Wissen, weil sie in dem, was sie ist, dem immer seiend Einen verwandt ist. Interpretieren wir diese Verwandtschaft nun so, dass zwischen dem, womit die Seele befasst ist, und dem immer Seienden eine solche Art der Ähnlichkeit besteht, dass das der Seele Eigene den logoi entspricht, die den Nous zum Urheber haben, dann begründet die Annahme eines solchen Verhältnisses der Ähnlichkeit in der Tat ein bleibendes Wissen. Zwischen der menschlichen Seele als dem ›heautonomen Subjekt‹, wie man sie nennen könnte, und dem göttlichen Nous als dem ›autonomen Subjekt‹ besteht eine Verwandtschaft, und zwischen dem Eigenen der Seele und den logoi eine gleichsam ›prästabilierte Harmonie‹. Wie aber kann die Annahme einer solchen Verwandtschaft der menschlichen Seele mit dem göttlichen Nous begründet werden? Zumindest die Art dieser Verwandtschaft lässt Platon den Sokrates im »Phaidros« (249b–d) erklären: Der Mensch, führt er aus, müsse Einsicht gewinnen, indem er von den vielen Wahrnehmungen zum durch Überlegung zusammengefassten Einen kommt. Diese Einsicht aber sei die Erinnerung an das, »was unsere Seele einst gesehen hat, als sie gemeinsam mit dem Gott dahinfuhr, als sie auf das herabsah, von dem wir jetzt sagen, dass es sei, und als sie emporblickte zu dem wahrhaft Seienden.« Daher sei derjenige Mensch wahrhaft vollkommen, der mit seiner Erinnerung stets nach Kräften bei den Dingen ist, dank derer ein Gott göttlich ist. Konzentrieren wir uns bei dieser Hymne auf den beim Gött186 Siehe auch Theaitetos 176a-b: »Deshalb muss man auch versuchen, von hier möglichst schnell dorthin zu fliehen. Diese Flucht aber ist die möglichste Ähnlichkeit mit Gott; und diese ist, mit vernünftiger Einsicht gerecht und fromm zu werden.« 187 Die »Ähnlichkeit« (to omoion) der Seele mit dem Göttlichen und Vernünftigen wird in Phaidon 81a beschrieben. – Zur ›Verwandtschaft‹ siehe auch: Staat 611e: »… w@ sungenh@ ousa tw te jeiw kai ajanatw kai tw aei onti.«
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lichen weilenden Philosophen nur auf die Darstellung der Beziehung der Seele zum Göttlichen, so bleibt als Kern erneut die »visuelle Metapher«: das der Seele Eigene ist ihr eigen, weil sie das wahrhaft Seiende »einst gesehen hat« (pot’ eiden), so dass das, was in ihr enthalten ist, durch diese einstige Schau bewirkt ist. »Jede Seele eines Menschen«, führt Sokrates aus, »hat schon von Natur das Seiende geschaut (tejeatai), sonst wäre sie gar nicht in dieses Lebewesen hineingekommen.« (249e). In epistemologischer Hinsicht bedeutet dies, dass die Beschäftigung der Seele mit dem ihr Eigenen aus dem Grunde zugleich die Erkenntnis der immer seienden logoi ist, weil sie die Erinnerung des einst Geschauten ist. Auch wenn Sokrates hier nicht vom ›Licht des Guten‹ spricht, sondern vom »überhimmlischen Ort« (uperouranio@ topo@; 247c), den das wahrhaft seiende Wesen einnimmt, welches das Geschlecht des wahren Wissens (to th@ alhjou@ episthmh@ geno@) um sich schart; und auch wenn das Schauen hier als eine Fahrt der Seelen um diesen Ort beschrieben wird – es ist das Sehen, das in der menschlichen Seele das Enthaltensein der logoi bewirkt. 188 Trotz des Hymnischen bleibt auch in dieser Darstellung das Verhältnis der Seele zum Göttlichen ›distanziert‹. Die Seele bleibt der ›Spiegel‹, der die immer seienden logoi als Ideen abbildet. Sie erkennt darin aber nicht, was wir schon vom ›Licht des Guten‹ gesagt haben, dass der göttliche Nous ihr Urheber und Ordner ist. Die Beziehung: erkennende Seele – ansichseiende logoi – wissensbegründender Nous wird als eine räumliche Anordnung, als ein Kreis, ein Dreieck oder als ein Unten und Oben, vorgestellt. Auf diese Weise jedoch lässt sich das Vorhaben der »zweiten Fahrt«, nämlich diejenige »gute Ordnung« zu finden, die den Nous als Urheber hat, nicht einlösen.
Man mag einwenden, dass im Phaidros nicht die Ideenlehre das Thema ist, sondern die Redekunst, Rhetorik und Dialektik, und dass Sokrates’ Rede nur als Beispiel Bedeutung hat, die daher, fast scherzhaft, als ein »mythischer Hymnus auf den Eros« (265c) wieder zurückgenommen wird. (Heitsch 1992, 169–180.) Der Dialog lässt sich umgekehrt als »Programm der platonischen Philosophie« deuten, der am Anfang einer Reihe von Dialogen, dem Theaitetos, Phaidon, Menon und dem Staat, steht, wie er in der Nachfolge Schleiermachers von P. Natorp interpretiert wurde (Natorp 1994, 60 ff.). Wie ersichtlich, haben wir unser Augenmerk nur auf die Beschreibung des überhimmlischen Orts gerichtet, von dem Sokrates sagt (247c), ihn könne der Dichter nicht würdig besingen, seine Wahrheit aber müsse, wo es um die Wahrheit geht, gesagt werden.
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Die kritische Prüfung der Ideen
Platon hat die These, dass die gesuchten logoi – im ›Licht des Guten‹ oder am ›überhimmlischen Ort‹ – schauend erkannt werden, einer kritischen Prüfung unterzogen. Dieser Prüfung liegt der Einwand zugrunde, dass in der Schau zwar die Ideen in ihrem Ansichsein (kaj’ auta) erfasst werden; dass aber die gesuchte Ordnung der Ideen, ihre Beziehungen und ihr Zusammenhang, nur durch das Denken erkannt wird. Da nun aber das Denken, das trennt und verbindet, die Ideen verändert, werden sie auf diese Weise nicht in ihrem Ansichsein erkannt. Damit aber stellt sich die Frage, wie ein Wissen der logoi möglich ist, wenn das Schauen zwar die Ideen in ihrem Ansichsein erfasst, nicht aber ihre Ordnung, das Denken jedoch die Ordnung erkennt, nicht aber das, was die Ideen an sich sind. 1. Den Nachweis, dass die Ideen, wenn das Denken sich auf sie richtet, zu anderen werden, hat Platon im »Parmenides« geführt. Im ersten Teil dieses Dialogs lässt Platon, nachdem die Fragen nach dem Umfang des Reichs der Ideen und ihrer Beziehung zu den sinnlichen Dingen behandelt wurden, den (jungen) Sokrates als Vertreter dieser Lehre sagen, dass die Annahme unproblematisch sei, dem Sinnlichen kämen gegensätzliche Bestimmungen zu. Denn, so können wir erläutern, sie sind allemal etera, selbst Andere, von denen ein bleibendes Wissen unmöglich ist. Nun fährt Sokrates jedoch fort: »Falls jemand zuerst aus dem von mir eben genannten Bereich [des Sichtbaren] die Ideen getrennt, rein für sich, abtrennen würde, wie die Gleichheit und Ungleichheit, die Vielheit und das Eine, die Beharrung und die Veränderung und alles solches, und falls er dann zeigte, dass diese es in sich selbst vermögen, miteinander verbunden und voneinander getrennt zu werden, so würde mich dies, sagte er, ganz außerordentlich erstaunen … Es würde mich, wie gesagt, wundern, wenn jemand dieselbe Aporie, die ihr bei dem Sichtbaren in ihrer vielfältigen Verflechtung durchgegangen seid, bei den Ideen zeigen könnte, die sich nur mit dem Denken erfassen lassen.« (129d–130a) Das Aporetische dieser vielfältigen Verflechtung lässt Platon im zweiten Teil des Dialoges den Parmenides auch im Reich der Ideen zeigen. Dazu sei es jedoch nicht nur erforderlich, in jedem Fall zu prüfen, was der jeweiligen Idee sowohl in Bezug auf sich als auch in Bezug auf anderes notwendig zukommt (ti crh sumbainein; 137b), sondern auch, was ihr zukommt, wenn sie nicht ist. Hinsichtlich der Idee des Einen (to en auton), die Parmenides zum Gegenstand der A
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Untersuchung nimmt, werden nun insgesamt acht Annahmen (upojesei@) gemacht und acht Untersuchungen durchgeführt. 189 – Die Resultate dieser Prüfungen hinsichtlich dessen, was dem Einen zukommt und was nicht, lassen sich hinsichtlich ihrer positiven wie negativen Konsequenzen so zusammenfassen: Wenn das Eine für sich und getrennt von allem vorausgesetzt wird, dann ergeben sich negative Konsequenzen: in Bezug auf sich nimmt das Eine in keinerlei Weise an anderem teil, so dass es von ihm, weil es alles andere ausschließt, »weder einen Namen noch eine Erklärung noch eine Erkenntnis, Wahrnehmung oder Meinung« (142a) geben könne; die anderen aber, da sie »des Einen gänzlich beraubt sind« (160b), haben gleichfalls an nichts teil, da sie sonst doch 189 Wir folgen dem Schema von Brisson 1994, 46: 1. Wenn Eines ist, was folgt für das Eine? (137c) 2. Eines, wenn ist, was folgt für das Eine? (142b) 3. Eines, wenn ist, was folgt für die anderen? (157b) 4. Wenn Eines ist, was folgt für die anderen? (159b) – 5. Wenn Eines nicht ist, was folgt für das Eine? (160b) 6. Eines, wenn nicht ist, was folgt für das Eine? (163b) 7. Wenn Eines nicht ist, was folgt für die anderen? (164b) 8. Eines, wenn nicht ist, was folgt für die anderen? (165e) Ohne hier auf die Diskussion um die Gliederung der Untersuchung des Einen näher einzugehen, sei ein gewichtiger Einwand gegen das Schema genannt: dass nämlich den acht Reihen nicht vier Hypothesen zugrunde liegen. So hat H. G. Zekl angenommen, dass die von Proklos diskutierte Frage nach der Anzahl der Hypothesen so beantwortet werden müsse: »Es ist im Grunde eine, indem der Satz ›Eins ist‹ einmal gesetzt, einmal negiert wird« (Zekl 1971, 213). Wie aber ist es unter dieser Annahme zu erklären, dass aus ein und derselben Hypothese, dem »Wenn Eins ist, …«, in der ersten und der zweiten Reihe Gegensätzliches folgt, »insofern,« wie Zekl schreibt, »in der zweiten Reihe dem Eins alle Bestimmungen zugesprochen sind, die ihm in der ersten abgesprochen werden« (ebd., 214)? Er erklärt diesen Gegensatz aus dem Unterschied der Perspektiven: Zwar sei der Satz »Wenn Eins ist« derselbe; aber in der ersten Reihe werde das »ist« »vergessen« (16), d. h. bewusst vernachlässigt, in der zweiten Reihe dann daran erinnert, »dass wir es bei der Setzung ›Eins ist‹ doch mit schon zwei Elementen zu tun haben, dem »Eins« und dem »ist« (16). – Ähnlich argumentiert R-P. Hägler: Beiden Deduktionen liegt das »wenn Eins ist, …« zugrunde (Hägler 1983, 85 ff.). Im Fall der ersten Deduktion ist »jedes Prädikat dem Einen abzusprechen« (138); im Fall der zweiten wird »eine andere Voraussetzung der Hypothesis ans Licht geholt … : Wenn das Eine ist, muss es am Sein teilhaben.« (139) Was aber soll es heißen, dass zwar die Hypothese dieselbe, die Perspektiven oder Voraussetzungen jedoch andere sind? Es sind dann eben zwei Voraussetzungen – das heißt ja »upojesi@« –, von denen in beiden Reihen jeweils ausgegangen wird. Unsere Unterscheidung zwischen »Wenn Eines ist« (ei en estin) und »Eines, wenn ist« (en ei estin) soll dem Unterschied der Hypothesen syntaktisch Rechnung tragen. Denn wenngleich der Satz »Eines ist« derselbe ist, so sind doch seine Bedeutungen und so auch die Hypothesen, aus denen gefolgert wird, verschieden. Dieser Differenz folgt obiges Schema.
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Eines sein müssten. Wenn also das Eine rein für sich (kaj’ auta) ist, wie dies Sokrates angenommen hatte, dann wäre sowohl das Eine als auch alles andere gänzlich unbestimmbar. – Wenn hingegen vom Einen angenommen wird, dass es ist, d. h. »dass es am Sein teil hat« (142c), dann ergeben sich positive Konsequenzen: als seiend sind das Eine wie auch alles andere ein vielfältig Verflochtenes: »eines und vieles, Teile und Ganzes, sowie begrenzt und unbegrenzt der Menge nach« (145a). Unter der Voraussetzung also, dass das Eine ist, zeigt sich die Idee des Einen, was Sokrates für so erstaunlich hielt, sowohl in Bezug auf sich als auch in Bezug auf anderes vielfältig mit- und untereinander verbunden. Dem Einen wie den anderen kommen »all die Gegensätze« (159a) zu. – Am Ende der ersten vier Untersuchungen stellt Parmenides zusammenfassend fest: »Wenn also Eines ist, so ist das Eine alles und nicht einmal eins, und zwar in Bezug auf sich selbst als auch auf die anderen in der gleichen Weise.« (160b) Die folgenden vier Untersuchungen setzen die These voraus, dass das Eine nicht ist. Wird angenommen, dass es das Eine ist, das nicht ist, so ergeben sich daraus positive Konsequenzen: denn, um vom Einen anzunehmen, dass es nicht ist, muss es doch etwas sein, das nicht ist, und hat als solches an anderem teil 190 ; wird hingegen von den anderen gesagt, dass sie zwar sind, ihnen aber das Einssein fehlt, dann sind sie ein scheinhafter »einsloser Haufen« (165b), begrenzt und unbegrenzt, ähnlich und unähnlich, identisch und verschieden, eben weil ihnen das Einssein fehlt. – Wenn schließlich vom Einen angenommen wird, dass es nicht ist, ergeben sich negative Konsequenzen: denn da das Eine schlechterdings nicht ist, so ist das Eine in Bezug auf sich »in keiner Weise irgendwie beschaffen« (164b), und also nichts; und die anderen sind, wenn das Eine schlechterdings nicht ist, gleichfalls nichts, da sie sonst doch irgendwie Eines wären. »Wenn [also] Eines nicht ist,« schließt Parmenides, »ist nichts« (166c). Die ganze Untersuchung lässt Platon den Parmenides nun in der »nicht mehr überbietbaren Paradoxie« 191 enden: »ob nun Eines ist oder nicht ist, es ist offensichtlich, dass es selbst und die anderen, sowohl in bezug auf sich als auch in bezug aufeinander, alles völlig 190 vgl. Hägler 1983, 208: »Hier aber bleibt es bei dem Paradoxon: Das Nichtseiende muss gemäß 161a, b sein, wenn es wahrhaft nicht sein soll, aber es darf andererseits nicht sein, da es doch nicht ist.« (H. v. m.) 191 ebd., 210.
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sowohl ist als auch nicht ist und sowohl scheint als auch nicht scheint.« – »Vollkommen wahr« (166c). 2. Dieser Dialog ist vor allem seines zweiten Teils wegen die umstrittenste Schrift Platons 192. Der Streit betrifft dabei zum einen den epistemischen Status der Untersuchung, zum anderen die Funktion, die er in Platons Gesamtwerk einnimmt. Das Spektrum der Deutungen reicht dabei von der Annahme, dass in den Untersuchungen des Einen die Theologie und Ontologie Platons entfaltet wird (Wyller 1960), bis zur Auffassung, es könne sich nur um einen nicht ernstgemeinten Scherz handeln (Taylor 1926). Darüber hinaus ist dieser Dialog, insbesondere sein erster Teil, als Beleg für die Selbstkritik Platons genommen worden, der den Abschied des späten Platon von seiner frühen Ideenlehre markiere (Ryle 1994; Vlastos 1973). Statt auf die kontroverse und komplexe Diskussion einzugehen, erscheint es mir ratsamer, den Ort zu benennen, in dem dieser Dialog in unserem Rekonstruktionskontext steht, und zu erläutern, in welchem Sinn wir die Kritik der Ideenlehre verstehen. In diesem Kontext kann die Untersuchung des Einen im »Parmenides« nicht als ein kohärenter philosophischer Gesamtentwurf verstanden werden 193 , aber auch nicht als ein nur geistvolles Spiel oder eine »Begriffskomödie« (Gadamer 1983, 41) ohne rechten Sinn. Wir deuten sie vielmehr als diejenige »anstrengende Übung« (pragmateiwdh paidia, 137b), als die sie von Parmenides am Beginn bezeichnet wird. Diese Charakterisierung richtet sich offensichtlich nicht gegen die Lehre von den Ideen; bildet deren Existenz doch die Voraussetzung und den Ausgangspunkt der Untersuchungen, »ohne die man nichts hätte,« wie Parmenides sagt, »worauf sich das Denken richtet« (135b). Sie wendet sich jedoch gegen eine bestimmte, ›naive‹ Auffassung, die die Ideen rein für sich und getrennt von allem betrachtet, wie sie Sokrates im ersten Teil des Dialogs vorgetragen hat. 192 R. E. Allen: »Twenty-five hundred years after it was written, the Parmenides remains a puzzle for ordinary readers, and for scholars whose business it is to understand, a scandal.« (Allen 1983, 198) 193 Die Deutungen des »Parmenides« als eines Systems haben sich mit dem Einwand auseinander zu setzen, dass es schwer zu verstehen ist, wie Platon »in einer Untersuchung, die gewissermaßen den Grundstein für das System legen soll, auch nur den Schein des Widersprüchlichen hätte zulassen können – es sei denn, um zu zeigen, dass es ein solches System nicht gibt noch geben kann.« (Hägler 1983, 83) Für H. G. Zekl folgt daraus »dass man die Widersprüchlichkeit des Ganzen als wirksam bestehend und als solche vom Autor intendierend hinnimmt, m. a. W. … als umfassendes Paradox.« (Zekl 1971, 7)
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Diese Kritik verstehen wir in der Weise, dass ein epistemologisches Konzept, das die Erkenntnis der Ideen als ein Schauen begreift, nicht die Aporie erkennt, in die es gerät. »Wenn daher jemand behauptet,« gibt Parmenides zu bedenken, »dass das, was wir für die Ideen als notwendig erachten, gar nicht erkannt werden kann, dem könne man nicht nachweisen, dass er etwas Falsches sagt.« (133b) Parmenides’ anstrengende Übung zeigt, dass sowohl die Annahme der Ideenlehre, dass es das Eine gibt, als auch die ihrer Gegner, dass es das Eine nicht gibt, in Aporien endet. 194 Daher sich lässt die Erkenntnis der Ideen nicht einfach auf das Schauen gründen; sie müssen zum Ausgangspunkt ihrer denkenden Untersuchung gemacht werden. Hinsichtlich des Erkenntnisvermögens aber bedeutet diese Kritik, dass die Seele offenbar nicht allein nach Art des »Auges« oder »Spiegels« aufgefasst werden kann, der die immer Seienden ›im Licht des Guten‹ abbildet, sondern offenbar als ein produktives Vermögen zu verstehen ist, das sich auf die Analyse der Ideen richtet bzw. auf die Untersuchung dessen, was mit ihnen notwendig verbunden ist. Diese Erkenntnis aber ist kein seliges Schauen, sondern ein mühsames Geschäft, das der »anstrengenden Übung« bedarf, um von den Ideen einen ihnen angemessenen Gebrauch machen zu können 195 . 3. In positiver Hinsicht liefert diese Kritik freilich kein fertiges Resultat. Denn der »Parmenides« zeigt nicht, wie die Idee des Einen angemessen gebraucht wird. Ihre vollständige Prüfung zeigt vielmehr jene gänzliche Aporie, die das paradoxe Resultat der einzelnen acht Untersuchungen zusammenfasst. Nimmt man nämlich vom Einen an, es sei rein für sich, so folgt, dass es selbst wie die anderen gänzlich bestimmungslos und auf keine Weise ist. Nimmt man jedoch an, dass das Eine ist, dann erweist sich, dass es all die Gegensätze an sich hat und Eines alles ist. Wer hingegen leugnet, dass es das Eine gibt, muss zum einen etwas annehmen, was es doch gar nicht gibt, und hat zum anderen unterschiedlos einen »einslosen Haufen« vor sich; oder er ist zu der Folgerung gezwungen, dass nichts ist. In all diesen Fällen ist das Verfahren der Untersuchung und der Sinn der Übung das Dialektische, dass die Hypothese »p« in »non-p« umgewandelt wird 196 ; und in jedem Fall ist es das Denken, das diese Wider194 A. Graeser deutet diese Kontroverse als eine akademieinterne Auseinandersetzung (Kobusch 1996, 146–166). 195 Vgl.: Wieland 1999, § 7: Die Kritik der Ideenlehre, 105–124. 196 Siehe: A. Graeser, Wie über Ideen sprechen?: Parmenides. In: Kobusch 1996, 159.
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sprüche zwischen der vorausgesetzten These und dem gewonnenen Resultat produziert. Versteht man diese Untersuchung also nicht als ein epistemologisch sinnloses Spiel, das sich um der Paradoxie willen in Schein- und Trugschlüssen herumtreibt, sondern als Verfahren einer kritischen Prüfung, die untersucht, was dem Einen, seiend oder nicht-seiend, notwendig zukommt bzw. nicht zukommt, dann muss diese Produktion von Widersprüchen über sich hinausweisen 197 . Sie fordert zur Suche nach der Quelle dieser Widersprüche heraus bzw. zur Frage nach der Verfasstheit eines Denkens, das die Ideen, dem Programm der »zweiten Fahrt« gemäß, in ihrer Ordnung, in ihrem Fürsichsein wie in ihrer Beziehung zueinander, widerspruchsfrei zu erkennen vermag. Dies aber führt zur Frage: »Wie eigentlich vollzieht sich menschliches Denken?« 2.
Das noetische Denken
Da die im »Parmenides« angestellte Untersuchung des Einen ein Geflecht von Widersprüchen zum Ergebnis hatte, bedarf es der Revision des bisher Dargestellten: Die gesuchte Erkenntnis der »guten Ordnung«, die den Nous zum Urheber hat, kann nicht allein rezeptiv als Schau der immer seienden Ideen verstanden, sondern muss auch als ein nohton, als das Produkt der denkenden Seele aufgefasst werden, die die Erkenntnis dieser Ordnung widerspruchsfrei hervorbringt. Diese Art des Denkens, das die »gute Ordnung« erkennt, nennen wir das »noetische Denken«. Zu dessen Rekonstruktion wenden wir uns zuerst der Natur des menschlichen Denkens zu, die Platon im »Sophistes« untersucht; dann der Beziehung der menschlichen Seele zum göttlichen Nous, wie sie im »Symposion« dargestellt wird; schließlich vollziehen wir anhand des »Philebos« dasjenige Denken nach, von dem Platon sagt, es bringe ein bleibendes Wissen vom Guten hervor.
Zu einem ähnlichen Urteil kommt H. G. Zekl: »So zeigt der ›Parmenides‹ die Notwendigkeit einer Lösung, aber er zeigt ihre Möglichkeit und Richtung nur indirekt, indem man das bei ihm Falsche auflösen muss.« (Zekl 1971, 188).
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a.
Das diskursive Denken: »die Differenz« als Gesetz des menschlichen Denkens
1. Der »Parmenides« hat anhand des Einen gezeigt, dass nicht nur die sinnlichen Dinge, sondern auch die immer seienden Ideen, wenn das Denken auf sie gerichtet ist, sich als veränderlich, als etera, erweisen. Im Dialog über den »Sophisten« nun analysiert Platon diese aporetische Erkenntnissituation. Er lässt dazu den Gesprächsführer, den »Gast aus Elea«, zunächst unterschiedliche Annahmen über das Seiende (to on) anführen (242c ff.). So habe von »hochberühmten und altehrwürdigen Männern« (243a) jeder seine Geschichte erzählt: der eine sagte, das Seiende sei dreierlei: mal im Streit, mal freund, mal paarend; ein anderer, es sei zweierlei: feucht und trocken oder warm und kalt; weitere, wie Xenophanes, alles Seiende sei nur Eines. Dann aber haben andere gemeint, es sei besser zu verbinden, und gesagt, das Seiende sei Vieles und auch Eines 198. Jetzt aber sei eine »wahre Riesenschlacht« (246a) zwischen den »Irdischen« (spartoi te kai autocjone@; 247c) mit den »Freunden der Ideen« (248a) entstanden. Jene erklären, dass Körper und Sein dasselbe seien, und behaupten, »das allein sei, was ein Zugreifen und Berühren zulässt« (246a); diese hingegen behaupten, »gewisse gedachte und unkörperliche Ideen seien das wahre Sein« (246b) und schreiben den Körpern »statt des Seins ein herumgetragenes Werden« (246c) zu. Auf beide Weisen sei jedoch eine Erkenntnis des Seienden nicht möglich. Denn wenn alles bewegt und in Veränderung ist, dann ist eine Erkenntnis des Seienden nicht möglich. Aber auch dann, wenn die unkörperlichen und unveränderlichen Ideen das wahre Sein sind, ist das Seiende nicht erkennbar, weil die Erkenntnis, wie gesehen, ein veränderndes Tun ist. Wäre das Seiende daher unveränderlich, dann gäbe es »von nichts nirgendwo Verstand« (249b). Aus dieser Aporie zieht der Gast nun den Schluss: um des Wissens willen müsse der Philosoph, »wie nach dem Wunsch der Kinder beides vom Seienden und dem All sagen, dass es unbewegt und dass es bewegt sei.« (249b) Er zeigt jedoch, dass auch dieser Schluss nicht 198 Wenn mit den »ionischen Musen« (242d) offenbar Heraklit gemeint ist, der sagte, »das Seiende sei Vieles und auch Eines« (242e), so kann die distanzierte Erwähnung nicht darüber hinwegtäuschen, dass Platon dieselbe Annahme macht. Die Kritik sich richtet sich deshalb auch nicht gegen diese Annahme, sondern gegen die apodiktische und monologische Art. Die »Alten« haben nicht darauf geachtet, »ob wir ihnen folgen in ihren Reden oder zurückbleiben« (243a-b).
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die Erkenntnis des Seienden ermöglicht. Denn wenn die Bewegung und die Ruhe einander entgegengesetzt sind, dann ist das Seiende selbst weder unbewegt noch bewegt, sondern ist, unerkennbar, ein Drittes. »Also ist nicht Bewegung und Ruhe zusammengenommen das Seiende, sondern ein von diesen verschiedenes … Seiner eigenen Natur nach also ruht das Seiende weder noch bewegt es sich« (250b-c). Demnach ist vom Seienden selbst eine Erkenntnis unmöglich. Der Gast endet mit der Aussage, dass das, was schon vom NichtSeienden gilt, dass es unerkennbar ist, offenbar auch vom Seienden gilt 199 . Es scheint daher, als befinde man sich »in völliger Ratlosigkeit« (249d). Beide, das Nicht-Seiende und das Seiende, »haben gleichermaßen Anteil an unserer Verlegenheit« (250e). 2. Der Darlegung dieser Situation der Unerkennbarkeit des Seienden lässt Platon nun die Analyse des Redens und Denkens folgen 200 . Diese Analyse geschieht zunächst ganz unabhängig vom epistemischen Kontext. Sie will nicht klären, was das Seiende ist, und ob und wie es erkannt wird, sondern sucht vielmehr nach einem allgemeinen Gesetz, nach dem sich jegliches Reden und Denken vollzieht. Hierzu geht der Gast aus Elea von der Annahme aus, dass alle Reden – nicht, so wollen wir einschränkend hinzufügen, Gesänge oder Gedichte sind, sondern – aus Satzaussagen (logoi) bestehen. Diese Satzaussagen aber sind Verknüpfungen von etwas mit anderem, sodass »wir jedes als eines setzen und umgekehrt doch von diesem vieles und mit vielen Namen sagen.« (251b) Ohne diese Verknüpfungen sind Aussagen nicht möglich. Wer daher sagt, etwas sei an sich, ohne Gemeinschaft mit anderem, widerspricht durch seine Aussage sich selbst: »Sind sie doch bei allem gezwungen, das ›Sein‹ (einai) zu gebrauchen, und das ›Getrennt‹ (cwri@) und das ›Anderer‹ (twn allwn) und das ›Ansich‹ (kaj’ auto) und tausenderlei verschiedenes, dessen sie sich nicht enthalten können, in ihren Reden zu verknüpfen, und bedürfen daher gar keiner Widerlegung durch andere, sondern haben ihren Gegner und Widerpart sozusagen im eigenen Haus« (252 c). Würde man daher die Verknüpfbarkeit von etwas mit anderem leugnen, so wäre keine Aussage, nicht einmal Vgl. M. Frede, Die Frage nach dem Seienden: Sophistes. In: Kobusch 1996, 190 ff. Da für Platon Denken und Reden dasselbe sind, das Denken »der Dialog der Seele mit sich, der ohne Laut geschieht«, die Rede aber »der Fluss, der aus ihr laut durch den Mund kommt« (263e), nehmen wir an, dass aus der Analyse des Redens (logo@) auf die Analyse des Denkens (dianoia) als »innerer Rede« geschlossen wird. 199 200
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deren Leugnung, möglich. Das Reden ist, so wollen wir sagen, allemal diskursiv, und das Denken daher allemal diskursives Denken. Auf der Grundlage dieser Diskursivität werden nun erneut die drei Gattungen (genh): das Seiende selbst, die Ruhe und die Bewegung untersucht. Jetzt jedoch nicht hinsichtlich der Erkenntnis des Seienden, sondern nur hinsichtlich ihrer Verknüpfbarkeit untereinander. Dabei zeigt sich, dass Ruhe und Bewegung miteinander nicht verknüpfbar sind, das Seiende jedoch mit beiden verknüpft werden kann (254d). So lässt sich von der Ruhe wie der Bewegung sagen, dass sie ist; aber nicht, dass die Ruhe bewegt ist oder die Bewegung ruht. Daraus wird geschlossen, dass jede der drei Gattungen offenbar von den beiden anderen verschieden, mit sich selbst jedoch identisch ist. Daraufhin werden nun die zwei erschlossenen Begriffe des Verschiedenen (jateron) und des Identischen (tauton) untersucht, – mit dem Ergebnis, dass sie einerseits sowohl voneinander als auch von jenen drei Gattungen verschieden sind, dass sie andererseits aber mit allen drei verknüpfbar sind. Jede der drei Gattungen: das Seiende, die Ruhe und die Bewegung ist identisch mit sich gemäß ihrer Teilhabe am Begriff des Identischen; und jede der Gattungen ist verschieden von den anderen »nicht wegen ihrer Natur, sondern wegen des Teilhabens an der Idee des Verschiedenen« (dia to metecein th@ idea@ th@ jaterou; 255e). Welche Rolle spielen nun die beiden Begriffe des Identischen und des Verschiedenen, wenn sie von jenen drei Gattungen zwar verschieden sind, die Untersuchung von deren Verknüpfbarkeit jedoch notwendig zu ihnen geführt hat? Sie bezeichnen, so nehmen wir an, nichts Seiendes; sie benennen vielmehr die zwei Gesetze, denen gemäß sich nach Platon menschliches Denken vollzieht: Wer denkt, setzt Gegebenes identisch und unterscheidet es von anderem. 201 Er hält »weder denselben Begriff für einen anderen, noch einen anderen für denselben« (253d). Gegebenes wird nach dem Gesetz der Identität als mit sich identisch und nach dem Gesetz der Verschiedenheit als verschieden von anderem gedacht. Beides, das Identischsetzen und das Verschiedensetzen, geschieht, so möchten wir es formulieren, nach dem »Gesetz der Differenz«, nach dem sie zwei ergänzende 201 Wir verstehen die Untersuchung der Verknüpfbarkeit von Begriffen nicht als Analyse des reinen (vgl. Natorp 1994, 280), sondern des menschlichen Denkens. Denn sie setzt die Tatsache voraus, dass Menschen reden, d. h. Aussagen machen. Diese Tatsache ist aber durch reines Denken nicht zu begründen.
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Handlungen der denkenden Seele des Menschen sind. Ohne sie fänden Aussagen und Urteile nicht statt. 202 3. Dieses Konzept vom Denken nach diesem »Gesetz der Differenz« setzt der Gast nun dem »Satz des Vaters Parmenides« (241d) entgegen, demgemäß es die Tätigkeit des Denkens ist, das Seiende als Eines festzuhalten, – während alles andere nur ein urteilsloses Meinen ist. Gegen diesen Satz lässt sich jetzt einwenden, dass seine Aussage sich selbst widerspricht. Denn wenn vom Seienden gesagt wird, es sei Eines, dann werden Seiendes und Eines unterschieden und Zwei gesetzt, obgleich doch nur Eines ist (244b f.) Das Ausgesagte widerspricht so der Aussage. Nimmt man daher mit Parmenides an, dass das Denken nach dem Gesetz des auton geschieht, dann ist diese Annahme gar nicht auszusagen; denn es wäre »die völligste Vernichtung alles Redens, ein jedes von allem zu trennen.« (259e). Nimmt man hingegen mit Platon an, dass das Denken nach dem Gesetz des jateron geschieht, dann widerspricht man zwar dem »Satz des Vaters Parmenides«, aber man kann reden; »denn nur durch gegenseitige Verflechtung der Begriffe entsteht uns ja die Rede.« (259e). Während im einen Fall die Konsequenz ist, dass auf dem »Weg der Überzeugung« (Parmenides: Fr. 2, 4) die menschliche Rede niemals das Seiende erfasst, ergibt sich im anderen Fall das Problem, wie das diskursive Denken, das Identisch- und Verschiedensetzen, anders als durch den Rekurs auf die vorausgesetzte Praxis der menschliche Rede zu begründen ist 203 . Wie dem auch sei, jedenfalls erlaubt es das Konzept des diskursiven Denkens, die Aporien aufzulösen, in die das Denken bei der Erkenntnis des Seienden geraten ist. Denn jetzt gilt nicht mehr, dass nur das Bewegte oder nur das Unbewegte als seiend, oder aber dass nur das Seiende selbst als seiend, das Bewegte und Unbewegte jedoch Unsere Interpretation »des Identischen« (tauton) und »des Verschiedenen« (jateron) als Gesetze des Denkens stützt sich auf Platons Aussagen über die dialektische Wissenschaft (253d): Wenn diese darin besteht, denselben Begriff für denselben und nicht für einen anderen Begriff zu halten, dann ist das »Halten für« (hghsasjai) kein Begriff, sondern ein Tun, ein bestimmtes Denken. 203 Platon belässt es nur bei der Feststellung, dass das Unterscheiden von Identischem wie das Identischsetzen von Verschiedenem ›lächerliche‹ Handlungen sind, wenn nicht ihrer Einheit nachgegangen werde: »Aber dasselbe, ganz unbestimmt wie, als verschieden erscheinen zu lassen und das verschiedene als dasselbe, und das Große als klein und das Gleiche als ungleich, und sich freuen, in seinen Reden immer Gegensätze vorzubringen, das ist keine wahrhafte Untersuchung, sondern der unreife Versuch von jemandem, der erstmals mit dem Seienden in Berührung kommt.« (259d) 202
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als nicht-seiend zu denken ist. Denn an die Stelle eines Denkens, das alles Anderssein als ein Nicht-Seiendes ausschließt, ist jetzt ein diskursives Denken getreten, das nach dem »Gesetz der Differenz« das Andere als ein Verschiedenes einschließt: »Wenn wir vom Nichtseienden sprechen,« sagt der Gast aus Elea, »so sagen wir nicht, wie es scheint, das Entgegengesetzte des Seienden, sondern nur ein Verschiedenes.« (257b) Denn es ist die »Natur des Verschiedenen« (256 d), die das je Andere zu einem Verschiedenen macht. Hier also setzt Platon an die Stelle des ausschließend-trennenden Denkens nach dem Gesetz der Identität eine Art des einschließend-umgreifenden Denkens, das aber nicht, wie in den Paradoxien Heraklits, das Entgegengesetzte schlicht als Eines begreift, sondern das Gegebenes sowohl nach dem, was es selbst, als auch nach dem, worin sie von anderen verschieden ist, erfasst. 204 Diese Untersuchung des Redens hat zwar in epistemischer Hinsicht nichts ergeben, weil sie nur den Bedingungen nachgeht, denen die menschliche Art der Erkenntnis unterliegt; aber sie bildet doch erst die Alternative zu dem Konzept, das von Leukipp und Demokrit formuliert wurde. Während hier der Gegensatz zwischen dem unteilbar Seienden und dem, was immer anders ist, wie gesehen, in der räumlichen Anschauung verschwunden ist, wird dieser Gegensatz im Konzept Platons in der menschlichen Rede aufgelöst. Weil die Redepraxis zeigt, dass sie das Andere nicht als nicht-seiend ausschließt, sondern nach der »Natur des Verschiedenen« als ein bloß Verschiedenseiendes einschließt, gilt sie als das »Dritte«, das den Gegensatz des rein Gedachten und des nur Erfahrenen überwindet. War im leukipp-demokritischen Modell der Raum das Medium, in dem das ›Feste‹ des rein Gedachten beweglich wird und das ›Fließende‹ der sinnlichen Erfahrung seinen festen Ort erhält, ist es hier der Diskurs, der das Identische als ein auch Verschiedenes aussagt und dem Beliebigen zugleich die feste Struktur gibt. Beide Konzepte geben insofern eine verschiedene Antwort, wie das Eine zugleich ein Verschiedenes sein kann. Von der Suche nach der Erkenntnis des Guten jedoch scheint die Untersuchung des Redens weggeführt zu haben, da sie wieder das Tor 204 vgl. K. Gaiser: »Der ›kategoriale‹ Gegensatz von Selbigkeit und Verschiedenheit (tauton : jateron) ist ferner gleichbedeutend mit dem Gegensatz des An-sich-Seienden und des Relativen (kaj’ auta : pro@ ti, pro@ allhla) …« (Gaiser 1963, 344, Anm. 38).
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fürs beliebige Meinen geöffnet hat, das Platon durch die Hinwendung der Seele zum immer Seienden hatte verschließen wollen. Denn wenn es das Ergebnis der Analyse ist, dass jedes auf »tausend und zehntausenderlei« Weise verschieden, seiend und nicht seiend ist, dann sind viele Verknüpfungen und Verknüpfungen von Verknüpfungen sag- und denkbar. Im »Sophistes« wird keine Instanz genannt, hinsichtlich derer gewisse Verknüpfungen in epistemischer Hinsicht als »wahr« oder »falsch« zu beurteilen wären. Es wird nur gesagt, dass wenn es – für Menschen – ein Wissen gibt, es in diskursiver Form repräsentiert ist. 205 b.
Die Vereinigung der Seele mit dem Nous
Was nun die Erkenntnis des Guten und seiner Ordnung betrifft, so hat Platon den Sokrates im »Staat« (509 d ff.) sagen lassen, dass die menschliche Seele dann erkennt, wenn sie nicht von gegebenen Ideen als upojesei@ ausgeht, sondern mittels ihrer zum voraussetzungslosen Anfang von allem aufsteigt, diesen ergreift und hat, und von ihm aus von Ideen durch Ideen zu Ideen herabschreitet, um in diesen zu enden. Dieses Denken, das vom Voraussetzungslosen ausgeht und ohne Hilfe des Sinnlichen bloß durch sich selbst fortschreitet, verstehen wir als das »noetische Denken«, das auf die Verbindung der Seele mit diesem Anfang gegründet ist. Die Erkenntnis wird hier nicht als ein »Sehen« (oran) der immer seienden Ideen im ›Licht des Guten‹ beschrieben, sondern als ein »Ergreifen« (aptein) und »Haben« (ecein) des Anfangs, wodurch das menschliche Denken zum erkennenden Denken wird. Wie aber ist diese erkenntnisbegründende Verbindung der Seele mit dem Anfang von allem zu verstehen? Was Platon im »Staat« nur als Prinzip und Methode des noetischen Denkens benennt, führt er im »Symposion« (201c ff.) näher aus. Anhand des Gesprächs der Diotima mit Sokrates gibt Platon eine Erklärung für die Erkenntnis des Seienden, die nicht mehr die visuelle Metapher verwendet, sondern das Bild der erotisch-sexuellen Vereinigung. Das gesuchte Wissen der »guten Ordnung« wird hier 205 Platon führt im »Sophistes« zwar die Argumentation weiter; da er dem Sophisten gegenüber zeigen will, dass nicht jede Aussage wahr ist, sondern manche wahr und manche falsch sind, bzw. dass diese Annahme nicht widersprüchlich ist. Um dies zeigen zu können, bedarf es zuvor jedoch der Untersuchung der Aussagen überhaupt, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt.
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als die gemeinsame Frucht der menschlichen Seele mit dem göttlichen Nous konzipiert. Diotima, die Priesterin der Liebe, vergleicht in diesem Gespräch Sokrates, das Wissen suchende Subjekt, mit dem Eros. Dieser sei weder schön noch hässlich, sondern »etwas dazwischen« (ti metaxu). Ihm fehle zwar die Schönheit, und er sei insofern hässlich; aber er stelle allem Schönen und Guten nach und sei so die Liebe zum Schönen. Sie stellt ihn als den daimon des Philosophen vor; denn da das Wissen zum Schönsten gehöre, müsse »der Eros notwendig weisheitsliebend sein« (204b). Als solcher stehe er zwischen den Menschen und Göttern, der, wie Sokrates, weiß, dass er nichts weiß, aber das Wissen begehrt. Er liebt das Wissen als das Schönste überhaupt, und insofern ist die Philosophie selbst diese Liebe zum Wissen. Nach diesem Vergleich mit dem Eros besitzt also die menschliche Seele selbst kein bleibendes Wissen, aber strebt nach dem, was sie nicht hat. Und das Wissen wird als Besitz des Begehrten verstanden, so dass an die Stelle der visuellen Konfrontation der Seele als »Spiegel der Ideen« jetzt das erotische Bedürfnis nach Kommunion tritt. Wie aber wird dieses Bedürfnis des Philosophen nach Wissen erfüllt? Platon lässt die Priesterin der Liebe darauf eine eindeutige Antwort geben: nach Art der Sexualität. Diotima klärt Sokrates darüber auf, dass es dem Eros nicht um das Schöne, sondern um das Gute geht: »›Denn der Eros, Sokrates‹, sagte sie, ›richtet sich nicht eigentlich auf das Schöne, wie du meinst.‹ – ›Sondern worauf denn?‹ – ›Auf die Fortpflanzung und die Zeugung im Schönen (th@ gennhsew@ kai tou tokou en tw kalw)‹« (206e). Diotima unterscheidet also zwischen dem Besitz des Wissens als dem erstrebten Guten und dem Schönen, das die Bedingung und das Mittel ist, um in diesen Besitz zu gelangen. Das »Werk« (ergon, 206b) aber sei die Zeugung im Schönen. Von allen Menschen, sagt sie, verlange ihre Natur zu zeugen, und des Mannes und Weibes Vereinigung bedeute Zeugung. Diese sei eine göttliche Sache und in den Sterblichen als etwas Unsterbliches enthalten (206c). Während nun aber die, die »vom leiblichen Zeugungsdrang erfüllt sind, … sich mehr den Frauen zu(wenden)« (208e), richten sich die in der Seele zeugungsbereiten, wenn sie das göttliche Schöne selbst in seiner Eingestaltigkeit (monoeide@) zu sehen vermögen, auf das, was dieser Seele zu zeugen und gebären gemäß ist: die Zeugung des Wahren. Dies Gezeugte seien die ›unsterblichen Kinder‹ der Weisheit, der Tugend und Kunst, in denen die Seele unsterblich ist (209d). – Hier also wird das Wissen A
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nicht als Einsicht der Seele in die ansichseienden Ideen beschrieben, sondern als das Werk der Seele, die das Wahre in der Vereinigung mit dem Schönen im Schönen zeugt. Und das Erkenntnissubjekt ist nicht nur die nichtwissende, aber Wissen begehrende, sondern auch die zeugungsfähige, -willige und -bereite Seele, die der Vereinigung mit dem Schönen, der »Schicksals- und Geburtsgöttin« (206d), bedarf, um mit ihr zusammen das bleibende Wissen als Frucht dieser Vereinigung zu zeugen. Um das begehrte Gute zu besitzen, bedarf es demnach dreierlei: der begehrenden und zeugungsfähigen Seele, des ermöglichenden Schönen selbst und ihrer Vereinigung in der Zeugung im Schönen. Mit dieser erotisch-sexuellen Metapher formuliert Platon im »Symposion« ein Modell, das das gesuchte Wissen nun mehr als das Produkt der Seele bestimmt. Dieses Wissen ist weder in der menschlichen Seele ursprünglich vorhanden, noch vermag sie, es autonom zu setzen, sondern ist in der Liebe des Schönen und in der Vereinigung mit ihm gegründet, durch die sie das Wissen als gemeinsame Frucht erzeugt. Das Schöne selbst, das der Eros begehrt, und das Diotima im Gespräch das nennt, was »an sich und mit sich selbst ist, eingestaltig und immer seiend« (211b), ist hingegen das autonome Subjekt, das Platon ansonsten als das »Gute selbst« bezeichnet oder den »Nous«, der die Ursache von allem sei 206 . Er ist als solcher der bleibende Grund des in und mit ihm gezeugten Wissens. Platons Darstellung der Verbindung der menschlichen Seele mit dem göttlich Schönen im »Symposion« präzisiert und erläutert, was im »Staat« das Ergreifen und Haben des voraussetzungslosen Anfangs genannt wird, von dem aus das noetische Denken rein durch sich von Idee zu Idee fortschreitet. Das gesuchte Wissen wird zum Besitz, wenn und weil es die gemeinsame Frucht der denkenden Seele mit dem Nous als dem Urheber von allem ist. Mit ihm zusammen besitzt die menschliche Seele das Vermögen, ein Wissen hervorzubringen, das zugleich an diesen Grund gebunden bleibt. 207 206 Vgl. P. Natorp: »Es [das an sich Schöne] ist also das anupojeton, der voraussetzungslose, selbst nicht bloß voraussetzungsweise geltende Anfang, die unbedingte Bedingung des ›Staats‹. Dass dies Selbige einmal das Schöne, das andermal das Gute heißt … kann keinen Augenblick Bedenken machen, wenn man sich erinnert, wie unmittelbar diese beiden Begriffe für Plato überhaupt zusammengehören.« (Natorp 1994, 177). 207 Nach unserer Deutung steht nicht die Schau, sondern die Zeugung im Schönen im Zentrum der Diotima-Rede. Wäre nur von der Schau des Schönen die Rede, so stellte sich zu Recht die Frage: »Diotimas ›Mysterium des Eros‹ – die Ideenlehre? oder genauer:
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Wie lässt sich nun auf den zwei dargelegten Grundlagen, der Diskursivität des menschlichen Denkens nach dem »Gesetz der Differenz« sowie dem Prinzip der Kommunion der Seele mit dem Nous, eine Art die Hinführung zur Idee des Schönen? Wieso ›Mysterium‹ ? Und warum fürchtet Diotima, Sokrates vermöge noch nicht zu fassen, was sie ihm zu sagen hat, wo Platon die Ideenlehre an anderer Stelle doch als ›Allerweltszeug‹ bezeichnet?« (R. Rehn, Der entzauberte Eros: Symposion. In: Kobusch 1996, 80). Das Mysterium ist vielmehr das der Zeugung, das Diotima Sokrates offenbart: »›So will ich es dir sagen‹, erwiderte sie. ›Es ist dies die Zeugung im Schönen, sowohl nach dem Leibe als nach der Seele.‹ – ›Der Seherkunst bedarf das, was du da sagst‹, erwiderte ich, ›und ich verstehe es nicht.‹ – ›So will ich denn deutlicher sprechen …‹« (206b-c). Dieses ›deutlicher sprechen‹ deute ich als Paradigmenwechsel von der visuellen zur sexuellen Metapher: Die Erkenntnis des Seienden wird nach Art der Fortpflanzung konzipiert. Diotimas Mysterium ist die Unsterbliches verheißende ›Heilige Hochzeit‹ der menschlichen Seele mit dem Göttlichen. Diesem Paradigmenwechsel gehen viele Interpreten aus dem Weg. So bemerkt O. Gigon, dass da, wo es um die Zeugung geht, »die Ausführungen Diotimas immer verschlungener und, wie wir uns eingestehen müssen, unübersichtlicher« werden (Gigon 1970, LII). R. Rehn fragt: »Wie ist dieses orakelhafte Wort der Priesterin aus Mantineia zu deuten?« Er deutet die Zeugung im Schönen »im Kern als Maieutik, als geburtshelferische Kunst« (Kobusch 1996, 89) – eine eigenwillige Fortpflanzungstheorie! J. N. Findlay verfehlt unseres Erachtens die Pointe, indem er den Zusammenhang umdreht: statt die Liebe des Schönen als Mittel zur Zeugung des Guten aufzufassen, stellt er zwei Wege vor: der eine Weg, »der über die genannte zeugende Tätigkeit hinausgeht«, sei der Aufstieg zur Schau des Schönen selbst; der andere bestehe darin, »Weisheit und Tugend in der Seele eines geliebten Schülers hervorzubringen« (Findlay 1994, 72 f.). Andere gehen zwar explizit auf den Paradigmenwechsel ein, deuten ihn jedoch um. So will H. Neumann zeigen, dass Diotimas Rede nicht Platons Ansicht wiedergebe, weil »all or part of Diotima’s teaching negates the concept of the soul’s immortality taught by Socrates in such dialogues as the Phaedo, the Phaedrus, and the Republic« (Neumann 1965, 34). Denn nach ihr ist die Seele nicht unsterblich, sondern erwirbt die Unsterblichkeit erst durch die Zeugung im Schönen. F. Schleiermacher lässt es im Unklaren, ob das Unsterbliche der Seele als ein Erworbenes oder nicht doch als ein Sein aufzufassen sei. Das eine Mal beschreibt er die Erkenntnis als ein »sterbliches Vorkommen«, das »durch dies Übertragen von einem auf den andern im sterblichen unsterblich« wird (Schleiermacher 1919, 11); das andere Mal jedoch ist ihm »die natürliche Geburt nichts anderes … als ein Wiedererzeugen derselbigen ewigen Form und Idee und also die Unsterblichkeit derselben in dem Sterblichen.« (5) Deutlicher wird P. Natorp: »Das Gastmahl weiß nichts von persönlicher Unsterblichkeit, oder lehnt sie wohl bewusst ab« (Natorp 1994, 171). Doch er will diesen Gegensatz zur Anamnesis-Lehre versöhnen: die Unsterblichkeit der Seele sei »beständige Selbsterneuerung«; während die Ideen ewig seien, sei die Seele immer. Dennoch kommt er nicht umhin, den Unterschied zwischen jener weltflüchtigen Ideenschau am »überhimmlischen Ort« im »Phaidros« und der Todesbejahung im »Phaidon« einerseits und der »immanente(n), weltbejahende(n) Auffassung der Idee« (173) im »Symposion« andererseits zu konstatieren. »Das ist nicht«, hält Natorp fest, »bloß augenblickliche Stimmung, es setzt eine tiefe Wandlung A
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des Denkens konzipieren, das nur von Ideen zu Ideen fortschreitend dasjenige Reich der logoi zu erkennen vermag, das, wie Sokrates sagte, allein den Nous zum Urheber und Ordner hat? – Diese Frage soll anhand des Dialogs »Philebos« beantwortet werden. Dieser Dialog behandelt zwar die Frage, ob das Wohlbefinden oder das Vernünftigsein das erstrebte Gute sei; aber dazu wird dieses Problem in einem Rahmen erörtert, der es ermöglicht, Platons Begriff eines noetischen, d. h. nur durch sich selbst fortschreitenden, Denkens zu rekonstruieren, das schließlich in einem Wissen endet, welches das erstrebte Gute besitzt. a. Die zwei Gattungen des Seienden: pera@ und apeiria 1. Sokrates nennt es im »Philebos« (16 c ff.) den schönsten Weg, der »eine Gabe der Götter an die Menschen« sei, und den zu beschreiben leicht, zu beschreiten jedoch höchst beschwerlich sei: »dass zwar aus Einem und Vielem alles ist, wovon jedesmal gesagt wird, dass es ist, es aber die Grenze und das Unbegrenzte in sich verbunden hat« 208 . Da dies so sei, müsse man immer »einen Begriff von allem« annehmen, suchen und finden; von diesem ausgehend sei zu betrachten, ob zwei, drei oder »irgendeine andere Zahl« darin enthalten ist, so dass man sieht, dass alles nicht nur Eines und auch Vieles ist, sondern wie vieles. Fassen wir diese »Gabe der Götter« als Anweisung auf, nach der das Seiende von Menschen erkannt wird, so kann es nicht, wie die »Freunde der Ideen« meinen, als ein Unbewegtes und immer Seiendes aufgefasst werden, dem sie das sinnlich Körperliche als nicht-seiend entgegengesetzen; aber auch nicht, wie von den »irdisch Gesonnenen«, als ein wahrnehmbar Körperliches, dem das bloß Gedachte als nicht-seiend entgegengesetzt wird. Das Seiende müsse vielmehr als eine Verbindung beider bestimmt werden, die, nach dem Gesetz voraus.« (ebd.). – Diese »tiefe Wandlung« erklärt sich unseres Erachtens aus der epistemologischen Perspektive: da das im »Phaidon« formulierte Programm der Erkenntnis einer Ordnung, die den Nous zum Urheber hat, durch die Schau des wahrhaft Seienden nicht eingelöst werden kann, bedarf es einer Konzeption, die die Erkenntnis nicht als ›Widerspiegelung‹ begreift, sondern als das Produkt eines Denkens, das seine epistemische Kraft durch die Vereinigung mit dem göttlichen Nous erwirbt. 208 F. Schleiermacher übersetzt »men … de« einfach mit »und«. Unsere Übersetzung mit dem konzessiven »zwar … aber« ist zweifellos zu stark, aber das koordinierende »und« lässt die Nuance außer Acht. G. Striker paraphrasiert: »es ist zwar richtig, dass … ; dabei muss man aber beachten, dass …« (Striker 1970, 18).
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der Differenz, zwei verschiedene Gattungen des Seienden sind. Demnach sei es falsch, das sinnlich Viele, das seiner Natur nach »Zerspaltene und Zerrissene« (25a), seiner Heteronomie wegen aus dem »Reich des Seienden« auszuschließen, sondern sei unter derjenigen Gattung zusammenzufassen, die an sich selbst das Unbegrenzte (apeiria) ist, in Bezug auf die entgegengesetzte Gattung, die Grenze (pera@), jedoch der Begrenzung fähig ist 209 . Und umgekehrt ist das gedachte Eine nicht das vom Vielen getrennte auton, sondern diejenige Gattung des Seienden, die in Bezug auf die entgegengesetzte Gattung, das Viele, das Begrenzende und Bestimmende ist 210 . Das Eine und das Viele werden also richtigerweise nicht ins ausschließende Verhältnis von Seiendem und Nicht-Seiendem gesetzt, sondern in das einschließende Verhältnis verschieden Seiender. Jede Gattung ist, was sie ist, und zugleich in Bezug zur entgegengesetzten: das Viele als das an sich Unbegrenzte, aber Begrenzbare; das Eine als das auton, aber zugleich Begrenzende. 2. Diese zwei Seinsarten, pera@ und apeiria, sind freilich, trotz ihres Verhältnisses, in epistemischer Hinsicht ganz verschiedenen Ursprungs. Denn die Gattung des Einen kann zunächst nur durch das reine, alles Anderssein ausschließende Denken erfasst werden, und ihre Erkenntnis ist das Produkt des sich auf sich beziehenden Denkens; die Gattung des Vielen hingegen wird nur durch das verallgemeinernde Denken erfasst, und ihre Erkenntnis ist die Zusammenfassung des sinnlich Wahrgenommenen zum Einen, die sunagwgh ei@ en. Der Begriff des Einen ist daher einfach und rein gedacht, der des Vielen jedoch allgemein und zusammenfassend. Während also die Erkenntnis der Seinsart des Einen der Autonomie des reinen Denkens entspringt, resultiert die des Vielen aus der Heteronomie der sinnlichen Erfahrung und stellt das Gemeinsame im Begriff vor. 211 209 In Politikos 283e heißt es, das Unbegrenzte habe »zwei verschiedene Arten zu sein«. Die eine bestehe in der Beziehung des Großen und des Kleinen aufeinander, die andere im Bezug auf das Angemessene. 210 vgl. Stenzel 1971, 137: »Peras und Eins ist scharf gesehen nicht dasselbe, Peras ist die Verfassung, in die das Eins ›die anderen Dinge‹ bringt, die an sich Apeira sind«. 211 Der Auffassung, dass die »pera@« genannte Gattung der Natur nach Eines ist, stehen andere Interpretationen entgegen. Da Sokrates von der »Familie des pera@« (thn tou perato@ gennan) spricht, ist diskutiert worden, ob und wo er diese Familie gebildet hat, und man hat diese Fragen auf dem Hintergrund des klassenlogischen Schemas von »Merkmal« und »Element« interpretiert. Während G. Stallbaum (1826, 65), J. C. B. Gosling (1975, 92) und R. Hackforth (1958, 47, Anm. 1) die Auffassung vertreten ha-
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Dieser verschiedene Ursprung aber bedeutet, dass die beiden Seinsarten nicht aufeinander reduzierbar und gleich ursprünglich ben, Sokrates habe kein Merkmal der »pera@«-Klasse angegeben, vertrat L. M. Crombie (1963, 368, Anm. 1) die entgegengesetzte Auffassung: er habe zwar das gemeinsame Merkmal angeführt, aber nicht die dazu gehörenden Elemente genannt. R. G. Bury (1973, 167 f.) wiederum interpretiert Sokrates’ Eingeständnis, die »Familie der Grenze« nicht zusammengebracht zu haben (25d: ou sunhgagomen), so, dass Platon keine vollständige Klassenbildung durchgeführt habe. G. Löhr (1990, 228 f.) schließlich ist der Auffassung, er habe eine durchaus hinreichende Klassenbildung vorgenommen: das »gemeinsame Merkmal aller perata« sei ihre Funktion, »Übermaß zu verhindern und jedes apeiron am Weiterschreiten in alle Extreme zu hindern« (229); zudem werden hinreichend Elemente dieser Klasse genannt: »›das Gleiche‹, ›das Doppelte‹ etc (25a7– b2)« (228). Diese These von der Klassenbildung hat freilich die Schwierigkeit, sie in Übereinstimmung mit Sokrates’ Feststellung zu bringen, dass man die »Familie der Grenze« nicht zusammengebracht habe. Löhr deutet sie in Anlehnung an G. Striker (1970, 61) so: Sokrates verweist darauf, dass »erst bei der Betrachtung der [aus apeiron und pera@] gemischten Gegenstände deutlich wird, inwiefern Zahlen und Maße eine Grenze bilden, d. h. man kann den Charakter des pera@ erst dann erfassen, wenn es mit einem Apeiron in Verbindung getreten ist und einen gemischten Gegenstand bildet … Folglich kann eine sachgemäße sunagwgh der Klasse des pera@ erst erfolgen, wenn zugleich die gemischten Entitäten in Betracht gezogen werden.« (Löhr 1990, 233 f.) Doch diese Deutung der perata als Klasse der gemischten Gegenstände widerspricht klar der zentralen Aussage über die »Lehre der Alten«, dass alles aus Einem und Vielem sei und pera@ und apeiria in sich verbunden habe (16c). Denn wenn das pera@ als Klasse sowohl aus einem Merkmal und vielen Elementen besteht, dann wäre es selbst aus Einem und Vielem zusammengesetzt. Das pera@ wäre einmal das, was pera@ und apeiria in sich verbunden hat, und einmal das, woraus alles verbunden ist; es wäre das Verbundende und das verbindende Nicht-Verbundene zugleich. Will man diesen Widerspruch vermeiden, dann kann das pera@ nicht als Klasse verstanden werden. Sokrates’ Aussage, das pera@ sei von Natur (yusei) Eines (26d), zeigt klar, dass es keine Klasse, sondern eben Eines ist. Statt des eigenen Schemas wird nun der Text in Frage gestellt, obwohl, wie eingeräumt wird, »die Handschriften dazu keinen Anlass geben.« (Löhr 1990, 241) Im anstößigen Satz: »Das pera@ aber hatte weder Vieles (oute polla eicen) noch waren wir im Zweifel, dass es nicht seiner Natur nach Eines wäre (w@ ouk hn en yusei)«, wird das skandalöse »oute polla eicen« wegretuschiert. »Schütz schlägt vor: ›oute w@ polla eicen …‹ Badhams Konjekturen lauten entweder: ›… oti polla eicen outoi eduskolainomen …‹ oder, wie auch Apelt, Taylor: ›… ote polla eicen ouk eduskolainomen‹. Ein Vorschlag von Bury lautet, vor ›eicen‹ ein ›ei‹, ausgefallen durch Haplographie, einzufügen. Diès fügt, entsprechend einem Vorschlag von Gloel, vor ›eicen‹ ein ›ouk‹ ein. Der überzeugendste Vorschlag stammt von Bury, Hackforth schließt sich ihm an: vor ›polla‹ ist ein durch Haplographie mit ›oute‹ ausgefallenes ›oti‹ einzufügen …« (ebd., 241; hier auch die Literaturhinweise). Nicht aus grammatischen Gründen oder einer verschieden überlieferten Textstelle wegen, sondern aus sachlichen Gründen wird in den Text eingegriffen, um die entgegengesetzte Aussage zu erreichen!
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sind. 212 Deshalb lässt sich die Erkenntnis des Einen nicht aus dem Vielen durch Verallgemeinerung gewinnen, noch kann umgekehrt von der Seinsgattung des Einen auf das Viele geschlossen werden. Eine Metabasi@ ei@ allo geno@ ist nicht möglich, da die Erkenntnis der Gattungen ganz verschiedenen Ursprungs ist. Diese irreduzible Dualität des Einen und des Vielen als Arten des Seienden deuten wir so, dass sie für Platon eine Grundtatsache der menschlichen Erkenntnis ist, die nicht weiter begründet werden kann, weil sie die »Natur« des menschlichen Denkens darstellt. 213 Sie ist, wie Sokrates im »Philebos« sagt, »ein unsterbliches und nie veraltendes Geschick der Reden selbst in uns« (15d). Diese Annahme der Irreduzibilität scheint nur wieder die bekannte Aporie zwischen Denken und Erfahrung auszudrücken, die schon Parmenides in seinem Lehrgedicht in die zwei Wissensarten der Unsterblichen und der Sterblichen unterschieden, Heraklit jedoch im »Satz vom Logos« schlicht als Eines ausgesagt hatte. Platon geht jedoch mit jener »Gabe der Götter« den entscheidenden Schritt weiter, indem er das Verhältnis des Einen und Vielen weder als ausschließendes noch einschließendes, sondern, der Analyse der menschlichen Rede gemäß, als das der Verschiedenheit annimmt. Das Eine ist daher weder das getrennte auton noch zugleich alles, sondern ist in Bezug Diesen Interpretationen liegt offenbar die Intuition zugrunde, im Text werde das Verhältnis der sinnlichen Dinge zu den ›übersinnlichen‹ Ideen behandelt, wie dies so nachdrücklich H. Cherniss vertreten hat. Für ihn ist es klar erkennbar, dass die Frage nach dem Eins und Vielen »die unwandelbare und unteilbare Einzigartigkeit jeder Idee im Verhältnis zur Vielheit ihrer Erscheinungen betraf« (Cherniss 1966, 18). Daher sei unter »apeiron« die Klasse der sinnlichen Dinge zu verstehen, unter »pera@« aber die Klasse der Dinge, die Platon sonst als »Ideen« bezeichnet hat. Unter dieser Prämisse ist dann die Aufregung groß, wenn es heißt, das »pera@« habe nicht Vieles und sei der Natur nach Eines. – P. Wilpert hat zurecht bemerkt, dass wir hier »nicht auf die bekannte Trennung der Seinsbereiche in einen topo@ orato@ und nohto@ zurückgreifen (dürfen), die das Reich der Ideen als den eigentlichen Bezirk des Erkennens von der Wahrnehmungswelt scheidet. Es geht um eine andere Trennungslinie«. (Eine Elementenlehre im Philebos. In: Wippern 1972, 317 f.) Diese Linie ziehen wir zwischen dem auton und dem eteron, dem rein gedachten, sich selbst gleichen Einen und dem sinnlich gegebenen, veränderlichen Vielen. Zwar ist auch sie Interpretation; aber sie greift nicht um eines Vorverständnisses willen in den Text ein. 212 Zur Gleichursprünglichkeit siehe: Natorp 1994, 315. 213 Unsere Annahme einer »Natur« des menschlichen Denkens impliziert nicht, dass nach Platon alle Menschen so denken, sondern nur, dass diese zwei Arten zu denken dem Menschen möglich sind. Der Mensch kann das Eine denken und sinnlich Vieles in Begriffen zusammenfassen. Er kann aber nicht aus dem gedachten Einen das sinnlich Viele deduzieren oder aus diesem das gedachte Eine gewinnen. A
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auf das Viele das Begrenzende; und das Viele ist umgekehrt weder das nur »Zerspaltene und Zerrissene« noch zugleich Eines, sondern in Bezug auf das Eine das der Begrenzung fähige. – Hatte Platon im »Parmenides« noch die Dialektik aufgewiesen, in die ein Denken gerät, wenn es von den Ideen keinen angemessenen Gebrauch zu machen versteht, stellt er im »Philebos« dieses Angemessene als die Regel dar, nach der in jedem Seienden das Eine und das Viele als pera@ und apeiria verbunden (xumyuton) sind. Da nun aber die beiden Gattungen in dieser Weise verbunden sind, kann das Eine nicht mehr nur im reinen Denken, getrennt von allem, festgehalten werden, sondern erfordert ein Denken, das gleichsam über sich ›hinausstrebt‹ und ›bestimmen will‹, ohne es freilich durch sich selbst zu können; und das Viele wird jetzt als eine Art des Seienden aufgefasst, das nicht nur das schlicht bestimmungslos Werdende ist, sondern das seiner Bestimmung ›harrt‹ 214 . 3. Diese Darstellung des »schönsten Wegs« im »Philebos« scheint nun freilich unserer obigen Annahme zu widersprechen, nach der das noetische Denken vom Einen, dem voraussetzungslosen Anfang, ausgeht, und von ihm aus durch sich selbst fortschreitet. Denn dieser Weg hat ja die Dualität des Einen und des Vielen zum Ausgangspunkt. Daher müsste jener Gang vom Einen aus nicht der »schönste Weg« sein, den die Götter gewiesen haben, oder dieser Weg wäre nicht derjenige, auf dem das Denken durch sich selbst zum begehrten Guten führt. Angesichts dieser Differenz der Methoden legt es Platon nahe, mit dem »schönsten Weg« die Technik oder Kunst zu verstehen, die den Menschen von die Götter gegeben ist, um mittels dieser Erkenntnis der Arten des Seienden – mühsam (pancalepon; 16c) – zum Wissen zu gelangen 215 ; dass das Wissen selbst jedoch, das seinen Ort, wie Sokrates sagt, in »der Wohnung des Guten« (64c) hat, keine solche Kunst ist, sondern das Produkt der Seele, die in ihrer Vereinigung mit dem voraussetzungslos Einen das Gute zeugt. So verstanden, besteht zwar der Anfang des noetischen Denkens in der unreduzierDer apeiria über die Fähigkeit, vom Einen begrenzt zu werden, noch ein Verlangen nach Bestimmung, eine »Strebebewegung« (orexi@) zuzuschreiben, geht über den Text hinaus. Vgl. dazu: C. J. de Vogel, Die Spätphase der Philosophie Platons und ihre Interpretation durch Léon Robin. In: Wippern 1972, 202. 215 Wenn Sokrates den Überbringer der Göttergabe »einen Prometheus« (16c: ti@ Promhjeu@) nennt, dann verbindet er mit dieser Kunst wohl auch die Mühen, die aus ihrer Anwendung entstehen. 214
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baren Dualität der Seinsgattungen, die der ›Natur‹ des menschlichen Redens und Denkens geschuldet ist, und das daher von der Differenz zwischen dem Einen und dem Vielen auszugehen hat; aber es wird auf diesem Weg am Ende, wie wir sehen werden, zu dem ›wahren Anfang‹ geführt, wo in allem nur mehr das Eine, der alles ordnende Nous, erkannt wird. b. Die Zahl als dritte Gattung des Seienden 1. Auf der Grundlage der Gattungen des pera@ und der apeiria als den zwei irreduziblen Tatsachen menschlicher Erkenntnis verstehen wir nun die dritte Gattung des Seienden als das Erzeugnis eines Denkens, das nach seinem eigenen Gesetz fortschreitet. Diese Gesetzmäßigkeit besteht zunächst darin, dass das Denken und Reden, wie Sokrates sagt, nicht von der einen Gattung in die andere ›springt‹, wie die »jetzigen Weisen unter den Menschen«, die »Eines setzen, wie sie es eben treffen, dann Vieles, schneller oder langsamer als es nötig ist, nach dem Einen aber gleich Unendliches« (17a) – oder, wie es im »Sophistes« heißt, sich freuen, in ihren Reden immer nur Gegensätze vorzubringen (259d) –, sondern dass es »das in der Mitte« (ta mesa) trifft, wodurch sich die dialektische Untersuchung von der Eristik unterscheidet (17a). Dieses »die Mitte treffende« Denken ist, jener Anweisung entsprechend, das zahlenerzeugende Denken, weil das »Gemischte« (meikton), das durch die Verbindung von pera@ und apeiron entsteht, die Zahlen sind. Zwar nimmt Sokrates im Gespräch mit Philebos und Protarchos diese Begrenzung der dritten Gattung des Seienden auf das Reich der Zahlen so eindeutig nicht vor. Er verdeutlicht vielmehr die Funktion der Zahlen an der Kunst, auf dem Gebiet der Töne (17c ff.) oder der Laute (18b ff.) Unterscheidungen zu erkennen und in Arten einzuteilen; und verwendet den Begriff der Zahl oft gleichbedeutend mit dem des Maßes, des Schönen oder des Wahren 216 . Da diese Erläuterungen jedoch das Verständnis der Gattung des »Gemischten« eher erschweren, erscheint es uns aus Gründen der Systematik als sinnvoll, diese Gattung des Seienden auf das Reich der Zahlen zu beschränken 217 . z. B. Philebos 25a, 25e–26d, 57d. Auf das Verwirrende des Dialogs ist wiederholt hingewiesen worden: Wie verhält sich die Diskussion über Lust und Vernunft zu der in 16c ff. beschriebenen Methode? Illustrieren die Beispiele über die Töne oder Sprachlaute (17c–18d) dasselbe wie das über 216 217
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Platon hat im Dialog »Philebos« zweifellos keine Theorie der Zahlen vorgelegt, da es in ihm ja um das Verhältnis von Lust und Vernunft in Bezug auf das Gute ging. Wenn er Sokrates jedoch den »schönsten Weg« so beschreiben lässt, nach dem Eins nicht sogleich das Viele und Unendliche zu setzen, sondern vom Einen ausgehend zu sehen, ob nicht zwei, drei oder irgendeine andere Zahl enthalten sei, um es erst dann ins Unendliche freizulassen (16e); und wenn das begrenzt Viele oder die begrenzten Mengen der Gattung nach die Zahlen sind 218 , dann kann dasjenige Seiende, das aus der »Vermischung« der zwei ersten, der Grenze und des Unbegrenzten, entsteht, nur das Reich der Zahlen sein 219 . Darüber hinaus müsste es verwundern, wenn Platon der Unterschied zwischen den Zahlen (arijmoi) und den Maßen (metra), die Sokrates im Gespräch oft verbindet, nicht bewusst gewesen wäre 220 . das Wärmere oder Kältere (24c f.)? Sind die Mischungen aus dem Begrenzenden und dem Unbegrenzten in jedem Fall »gute Mischungen«? – Zum Problembestand des Dialogs siehe: J. C. B. Gosling, Metaphysik oder Methodologie?: Philebos. In: Kobusch 1996, 213–228. 218 Philebos 18b: »arijmon au tina plhjo@ ekaston econta«. Siehe auch: Aristoteles, Metaphysik 1020a; Gericke 1970, 24–31. 219 vgl. G. Cantor, der zum Begriff der »Menge« erklärt: »Ich glaube hiermit etwas zu definieren, was verwandt ist … mit dem, was Platon in seinem Dialoge ›Philebos oder das höchste Gut‹ mikton nennt.« (Cantor 1932, 204) 220 Hinsichtlich der Systematik macht es Platon schwer, zwischen der dritten Gattung und der vierten klar zu unterscheiden. Denn das eine Mal (25e–26b) wird das Angemessene und Schöne zur dritten Gattung, dem Gemischten, gerechnet; ein anderes Mal (64c–65a) erklärt Sokrates, Schönheit, Angemessenheit und Wahrheit (kallo@ kai summetria kai alhjeia) gehörten der vierten Gattung an. – Angesichts dieser Unklarheit zeigen sich zwei Interpretationsmöglichkeiten: Die meisten Kommentatoren verzichten auf die Unterscheidung zwischen dem ›Gemischten‹ und der ›guten Mischung‹ ; damit werden ›Zahl‹ und ›Maß‹ zu einer, der dritten, Gattung des Seienden gerechnet. Es entsteht dann freilich die Schwierigkeit, die Systematik der vier Seinsgattungen zu verstehen. Denn wenn das »Hineinbringen« des pera@ in die apeiria als eine ›Leistung‹ des Nous gedeutet wird, die das Gutsein des Gemischten bewirkt, dann scheint die vierte Gattung der dritten vorauszugehen. »Die ganze Schwierigkeit liegt hier darin:«, schreibt P. Natorp, »im Zusammentritt des Unbestimmten und der Bestimmung scheint der logische Grund des Seins schon aufgezeigt; und nun wird noch ein besondres Prinzip des Grundes aufgestellt.« (Natorp 1994, 327). Wenn Sokrates von diesem Prinzip dann sagt, es sei der »König des Himmels und der Erden« (28c), dann könne diese Rede nur so verstanden werden, dass Platon »in dieser Personifikation dem einmal unbesieglichen poetischen Hang seiner Darstellung nicht ungern nachgibt« (332). Die Rede vom Nous als vierter Gattung wird so als eine nachträgliche dichterische ›Verdinglichung‹ der bestimmenden Tätigkeit erklärt. – Die andere Interpretationsmöglichkeit, der wir nachgehen, unterscheidet zwischen dem ›Gemischten‹ und der ›guten Mischung‹ (siehe auch:
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2. Wenn wir uns aus diesen Überlegungen auf die Rekonstruktion nur des zahlenerzeugenden Denkens konzentrieren, das die dritte Gattung des ›Gemischten‹ hervorbringt, dann besteht dieses Denken in der für sich einfachen Kunst, nicht vom Einen ins Viele oder umgekehrt zu ›springen‹, sondern die zwei verschiedenen Gattungen des Seienden, pera@ und apeiria, zu verknüpfen 221 . Diese Verknüpfung beschreibt Sokrates näher so, dass in das Unbegrenzte das Gleichmäßige und Zusammenstimmende hineingebracht (enjeisa) und dadurch die Zahl hervorgebracht wird (arijmon apergazetai; 25e), die als die dritte Gattung »ein aus diesen beiden zusammengemischtes Eines« (23c-d) ist. Durch diese Operation des Hineinbringens, sagt Sokrates, hören die beiden entgegengesetzten Arten auf, sich zueinander entgegengesetzt zu verhalten (25e); das Unbegrenzte erhält durch die Begrenzung die Grenze und wird dadurch zum Grenze Habenden (pera@ econ). Hinsichtlich des Werdens lässt sich diese Gattung des Seienden als das ›begrenzte Unbegrenzte‹, hinsichtlich ihres Seins als das ›grenzhabende Eine‹ bezeichnen. Das gesamte Erzeugnis ist so ein »Werden zum Sein«: das durch die Begrenzung des Unbegrenzten entstandene grenzhabende Eine (26d). – Fassen wir dieses grenzhabende Eine nun erneut als Grenze, von der das Unbegrenzte ein verschieden Seiendes ist, so entsteht durch die Wiederholungen der einfachen Grundoperation der Begrenzung des Unbegrenzten eine fortlaufende Reihe, die sich hinsichtlich ihrer Erzeugung als Anzahlen Gleichartiger, hinsichtlich ihres Seins als einfache Zahlen beschreiben lässt 222 . Veranschaulicht man sich die Verlaufsform dieser zahlenerzeugenden Tätigkeit im Bild, so vollzieht sich dieses Eins und Vieles verbindende Denken weder nach Art eines Flusses oder eines Sprunges noch in Form des Kreises, sondern schreitet linear fort. Es fließt nicht zu immer anderem und springt nicht vom Einen ins Viele, es Sayre 1983, 159 f.; Migliori 1993, 157 f.), und daher zwischen ›Zahl‹ und ›Maß‹. Hiernach wird die dritte Gattung des ›Gemischten‹ durch das diskursive menschliche Denken erkannt, indem es das Eine und das Viele verbindet; die vierte Gattung hingegen ist der Nous, der in das ›Gemischte‹ Schönheit, Angemessenheit und Wahrheit ›hineinbringt‹. – Vgl. auch: Stenzel 1933, 2 ff.; Wippern 1972, XX ff. 221 Das »höchst Beschwerliche« der Kunst, von der Sokrates spricht (16c), entsteht demnach aus der Anwendung der Zahlen auf das konkrete Gebiet, der Töne, Laute oder Gesundheit. 222 Was Aristoteles (Metaphysik 987b 33) hinsichtlich der »aoristo@ dua@« bemerkt, dass Platon sie angenommen habe, weil sich aus ihr bequem (euyuw@) alle Zahlen wie aus einer bildsamen Masse erzeugen lassen, lässt sich auch auf die apeiria übertragen. A
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kehrt aber auch nicht, fortlaufend, zum Anfang zurück, sondern schreitet, Schritt für Schritt, fort. Jeder Schritt hat einen Anfang, pera@ und apeiron als verschieden Seiende, und ein davon unterschiedenes Ende, das aus beiden zusammengemischte Eine, das der Anfang des folgenden Schritts ist. Dieses schrittweise Fortgehen hat und verfolgt das Ziel, die Begrenzung des Unbegrenzten, die am Anfang nicht da ist, sondern erst durch die Tätigkeit des »Hineinbringens« der Grenze ins Unbegrenzte erreicht wird. Das Denken gehorcht darin nur seinem Gesetz der Differenz: dem Identisch- und Verschiedensetzen; denn indem es in der Gattung der apeiria das pera@ hineinbringt und dadurch die Gattung des meikton erzeugt, setzt es die verschieden Seienden als ein Seiendes. 223 Es ist einerseits diskursiv, weil es nicht im auton verbleibt und anderes als Nicht-Seiendes ausschließt; es bleibt andererseits jedoch ›bei sich‹, weil es nicht springt, sondern nur nach dem eigenen Gesetz der Differenz fortschreitet. 224 g. Das Noetische als vierte Gattung des Seienden 1. Das Reich der Zahlen ist freilich nicht die »gute Ordnung«. »Ich wäre, wie es scheint, ein spaßiger Mensch,« räumt Sokrates ein, nachdem er die drei Gattungen genannt hat, »wenn ich nach Arten auseinanderstellte und zusammenzählte« (23d). Daher sei noch eine vierte Gattung nötig. Denn die Kunst des Zählens soll ja zur Erkenntnis desjenigen Seienden hinführen, das den Nous zum Urheber und Ordner hat. Da das Reich der Zahlen jedoch nur das diskursive Denken zur Ursache und dessen Gesetz zum Ordner hat und es daher nur ein aus Einem und Vielem Gemischtes ist, bedarf es der Annahme einer weiteren Gattung, nach der das Seiende »auf das Beste« (beltista) ist. Deren Ursache nennt Sokrates die »aitia« (23d), durch die das Gemischte zugleich eine ›gute Mischung‹ sei. Von ihr sagt Sokrates nur, dass alle Wissenden übereinstimmen – um, wie er süffisant hinzufügt, sich selbst zu feiern (eautou@ ontw@ semnunonte@) –, dass sie der Nous ist: »der König des Himmels und der Erde« (28c). vgl. P. Natorps Interpretation des meikton: Natorp 1994, 317 ff. Auf die Frage: »Woher weiß ich, dass auf die drei die vier folgt?« wäre nach unserer Rekonstruktion die Antwort: »Weil du ein Mensch bist«. Für Götter ist alles Eines und die Gattungsdifferenz des Einen und Vielen keine Tatsache; hier ›folgt‹ nichts. Für ›Sinnenwesen‹ hingegen ist alles Vieles, nichts Eines. Nur der Mensch, für den die Differenz zwischen dem gedachten Einen und dem sinnlich Vielen eine Tatsache ist, vermag die Folge zu wissen, weil er sie selbst erzeugt. 223 224
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Schon die Vorfahren haben gesagt, dass eine »wundervolle Vernunft und Einsicht alles anordnend beherrscht« (28d). Mit der Erklärung dieser Ursache beruft sich Sokrates offenkundig nicht auf die Götter, die den Menschen die Kunst des Zählens gegeben haben, sondern nur auf die »Vorfahren«, die gesagt haben, dass die Ursache von allem nicht eine »Kraft des Alogischen und Ungefähren und Zufälligen« (h tou alogou kai eikh dunami@ kai to oph etucen; 28d) sei, sondern »Weisheit und Vernunft« (soyia kai nou@; 30c) genannt werde. Er zitiert nur den bekannten Grundsatz, wonach es das Eine sei, das alles ordnet, und sieht selbst die Gefahr, bei der Bestimmung dieser Gattung des Seienden nur Fremdes nachzusagen (29a). Er erklärt damit jedoch nicht die epistemologische Frage, wie denn aus einem Zitat der Vorfahren eine eigene Gattung des Seienden werden kann. Sokrates versichert denn auch nur, dass es sich so verhält (w@ tauj’ outw@ ecei), und versteht diese Versicherung offenbar selbst als die Alternative zu Demokrit, dem »gewaltigen Mann«, der sagt: »es verhält sich nicht so, sondern ganz unordentlich« (29a). 225 2. Nehmen wir trotzdem mit Sokrates an, dass es sich so verhält, so stellt sich als zentrale Frage, wie diese vierte Gattung des Seienden vom Menschen überhaupt erkannt werden kann. Denn aus eigener Kraft vermag die menschliche Seele in allem, was ist, nur die Ordnung nach Zahlen zu erkennen, nicht aber diejenige Ordnung, die den Nous zum Urheber hat. Wie also lässt sich die Metabasi@ ei@ tetarton geno@ verstehen, die Platon den Sokrates im »Philebos« vornehmen lässt? Greifen wir hierfür zunächst auf das Vereinigungsmodell der menschlichen Seele mit dem Göttlichen zurück, das im »Symposion« vorgestellt wird, so lässt sich der Übergang von der dritten zur vierten Gattung so verstehen: zwar ist die Seele für sich unvermögend, diese vierte Gattung des Seienden zu erkennen; aber sie dann vermögend ist, wenn sie in der Vereinigung mit dem Einen die noetische Ordnung selbst zeugt. In ihr erkennt die nach Wissen strebende Seele nicht nur, dass alles, was ist, in sich die Grenze und das Unbegrenz-
225 »Auffallend ist, dass Platon Demokrit in keinem seiner Dialoge erwähnt. Nur an zwei Stellen im ganzen Corpus Platonicum stellt man mit Recht eine Bezugnahme auf Demokrit fest: ›Philebos‹ 29A3–4 … und ›Timaios‹ 55C7–8 … Im ›Philebos‹ kann der deino@ anhr kein anderer als Demokrit sein …« (Nikolaou 1998, 201)
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te verbunden hat, sondern darüber hinaus das Gutsein des Verbundenen, das als ein solches den Nous zur Ursache hat. So verstanden, bildet das Reich der diskursiv erzeugten Zahlen den Weg, auf dem die Seele zur Erkenntnis des Guten bereit und fähig wird; um jedoch das Wissen dieser Ordnung zu besitzen, bedarf es der Gemeinschaft mit dem göttlichen Nous, durch die erst aus dem dritten Reich der Zahlen das vierte Reich der »guten Ordnung« erkannt wird. Diese Gattung des Seienden wäre sowohl die durch das menschliche Denken diskursiv erzeugte Ordnung als auch die intuitiv erfasste »gute Ordnung«, als deren Urheber der Nous gewusst wird 226 . 3. Für dieses Modell enthält der Text jedoch keine Hinweise. Sokrates konstatiert nur, dass es sich mit der vierten Gattung so verhält, und verbindet zudem im Gespräch allzu oft das bloß Gemischte mit der »guten Mischung«, die dritte mit der vierten Gattung. Im Weiteren dann führt er jedoch die drei Begriffe der Schönheit, der Angemessenheit und der Wahrheit (kallo@, summetria und alhjeia) an, von denen er sagt, dass sie der vierten Gattung des Seienden zugehören. Zwar sei das, schränkt er sein, was nach diesen drei verbunden ist, nicht das Gute selbst; aber in ihrer Dreieinigkeit könne es nur als das aufgefasst werden, das des Guten wegen geworden ist: »Wenn wir also nicht in einer Form das Gute fangen können, so wollen wir es in diesen dreien zusammenfassen: Schönheit und Angemessenheit und Wahrheit, und sagen, dass diese als eines mit Recht als Ursache angesehen werden können dessen, was in der Mischung ist, und dass sie dieses Guten wegen eine solche geworden ist.« (64e f.) Wenn also, so deuten wir die Funktion dieser drei, das diskursive Denken das Seiende als eine solche Mischung von Einem und Vielem erkennt, die die Schönheit, die Angemessenheit und die Wahrheit als Gesetze ihrer Entstehung haben, dann ist das Seiende von der Art, dass es des Guten wegen geworden ist. Demnach ist die schöne, angemessene und wahre Ordnung die Gattung des Seienden, die zwar nicht das Gute selbst, aber des Guten wegen geworden ist. Bedauerlicherweise präzisiert Sokrates diese drei, das Gute ›vermittelnden‹ Begriffe nicht 227 . Doch so viel lässt sich erschließen: sie Vgl. zu diesem »sowohl – als auch«: Hoffmann 1891, 241. Platon macht es in der Tat schwer, den begrifflichen Gehalt von Schönheit, Angemessenheit und Wahrheit zu rekonstruieren. Statt anzugeben, was jede Idee für sich (kaj’ auto) und in Bezug zu den anderen (pro@ alla) ist, regiert das ›auch‹ : die ›gute Mischung‹ sei schön und auch angemessen und auch wahr. Ein Zusammenhang wird jedoch im Satz: »metrioth@ gar kai summetria kallo@ dhpou kai areth pantacou 226 227
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müssen Ideen sein, die ihre Ursache und ihren Grund im Nous haben; denn sonst wäre nicht einsichtig, warum das, was nach diesen drei zusammen ist, des Guten wegen ist. Sie müssen aber auch Begriffe sein, die in Hinblick auf die Erkenntnis der vierten Gattung das diskursive Verfahren regeln 228 . So verstanden lässt sich der Nous erstens als »das Schöne selbst« bezeichnen, das durch die Idee des Schönen der Erkenntnis des Schönen das Vorbild gibt, nach dem das aus pera@ und apeiria gemischte Erzeugnis zugleich als ein ›zusammenstimmendes Gefüge‹ erkannt wird. Der Nous wäre zweitens das »absolute Maß« 229 , das durch das Prinzip der Angemessenheit die Regel gibt, im Gemischten das ›symmetrische Verhältnis‹ zu erkennen. Er wäre schließlich drittens die »aitia«, die als die Wahrheit dem Wahren das Gesetz gibt, nach dem das, was ist, als seinem Begriff oder Wesen entsprechend erkannt wird 230 . In der Einheit dieser drei wäre die vierte Gattung des Seienden erkannt; sie wäre zugleich das von Beginn an gesuchte Wissen, weil in dieser Gattung der Nous als Ursache und Ordner erkannt ist. Mit dem nach diesen drei Ideen gezeugten Wissen stünde die menschliche Seele nicht nur, wie Sokrates sagt, »am Eingang des Guten und dessen Wohnung« (64 c), son-
sumbainei gignesjai« (64e) hergestellt. Wenn man den Satz allerdings in der Weise versteht, dass durch die Angemessenheit Schönheit und Tugend entstehen, dann wäre das Angemessene die Ursache des Schönen. Diese Aussage ist jedoch nicht einsichtig, und Sokrates nennt selbst Beispiele: Farben, Düfte oder Töne sind schön, nicht weil sie ›angemessen‹ sind, sondern weil sie rein, lauter und einfach sind (51b-d). Umgekehrt ist gleichfalls nicht einsichtig, warum Maßverhältnisse selbst schön sein sollten. – Wenn also diesen drei Ideen in Hinblick auf das Gute ein Gemeinsames zukommen soll, sie untereinander jedoch unterschieden sind, so dürfte nichts dagegen sprechen, im Sinne Platons zu sagen: eine »gute Mischung« ist die, die erstens (auch) ohne Maß ›schön‹ ist, für die es zweitens ein Maß gibt und die daher ›symmetrisch‹ ist, und die drittens als ein Ganzes ›wahr‹ ist. Die »gute Mischung« ist demnach die, in der keine dieser Eigenschaften auf die andere reduzierbar oder der anderen gleich ist; wobei aber »die Symmetrie das Schöne mit dem Wahren zusammenhält, weil erst die maßbestimmende Mischung ein Seiendes ohne Verdeckungen und Überdeckungen ganz in dem heraustreten lässt, was es ist.« (Janke, Das Schöne. In: Krings 1973 f., Bd. 5, 1271). Vgl. auch: Pechmann 1980, 48 ff. 228 J. Stenzel: Der »Philebos« zeigt »den Weg …, auf dem für Platon Zahlenlehre und Lehre vom Quantum, von den Größen, durch den Mittelbegriff des Gemessenen (summetron) in die Sphäre des Guten einbezogen werden können.« (Stenzel 1933, 70). 229 H. J. Krämer schreibt den aristotelischen Ausdruck des »akribestaton metron« dem platonischen Guten zu (Krämer 1972, 436–9). 230 vgl. Platon, Staat 508e: dort ist die Idee des Guten die Ursache der Wahrheit (aitia alhjeia@). A
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dern befände sich, in der Einheit der drei, wohl auch in der ›Wohnung des Guten‹. 231 231 Sokrates lässt uns hier, »am Eingang des Guten« stehen, so dass wir nicht wissen können – und wohl auch nicht sollen –, was sich in der »Wohnung des Guten« vollzieht. Es liegt jedoch nahe, sie als die Akademie zu verstehen und als den Ort, wo von der zeugungsbereiten Seele und dem ihr Gunst gewährenden Nous die »Heilige Hochzeit« vollzogen wird. Und so wie die Gäste zur Vermählung geladen sind, das Paar sich zur Hochzeit dann entzieht, so werden auch wir, die Unkundigen, zur »Wohnung des Guten« zwar geladen, ohne sie betreten zu dürfen. Von dem, was dort sich vollzieht, deutet Platon nur an, dass es weit »wertvolleres« (timiwtera; Phaidros 278d) sei als das bisher Verfasste, und wir dürfen nicht grundlos vermuten, dass die dort gezeugten »unsterblichen Kinder« (Symposion 209c) nun schließlich die logoi sind, deren Besitz für Platon das erstrebte Gute ist, und die die »Ideen-Zahlen« genannt worden sind. – Da der fehlenden Quellen wegen ein genaues und umfassendes Verständnis dieser Theorie wohl unmöglich bleiben wird, der »Vierzahl« im Folgenden jedoch eine zentrale Rolle zukommt, seien einige Überlegungen zur Funktion der Lehre und zu den Eigenschaften der Zahlen angemerkt. 1. Mit den sog. »Ideen-Zahlen« ist offenbar nicht jene dritte Gattung des Seienden gemeint, die aus pera@ und apeiron zusammengesetzt ist. Sie gelten vielmehr als einfache, »unzusammengesetzte Zahlen« (asumblhtoi arijmoi), die als solche das Gute sind oder repräsentieren. Jedenfalls spricht hierfür der Bericht von Aristoxenos, Platons Vorlesung »Über das Gute« habe nur von Mathematik und Zahlen gehandelt. Akzeptiert man diese Annahme, dann ist H. Gomperz’ Vermutung überzeugend, dass die Ideen-Zahlen in methodischer Hinsicht ein »Ableitungssystem« aus einfachsten Prinzipien darstellen (H. Gomperz, Platons philosophisches System. In: Wippern 1972, 161). Desweiteren lässt sich mit K. Gaiser sagen, dass es sich bei ihnen weder um natürliche Zahlen noch um Zahlenverhältnisse handelt, sondern dass mit einer »inneren LogosStruktur jeder einzelnen Idee oder auch, von Zahl zu Zahl, mit komplizierteren LogosVerhältnissen« (Gaiser 1963, 119) zu rechnen ist. 2. Gehen wir von dieser epistemischen Funktion der Ideen-Zahlen aus, das Gute darzustellen, dann müssen sie ein System von Zahlen bilden, das – zumindest dem »Philebos« gemäß – nach den drei Gesetzen der Schönheit, des Maßes und der Wahrheit geordnet und daher seiner Anzahl nach begrenzt ist. Für letzteres spricht die Aussage von Aristoteles, Platon habe die Zahlen auf die Dekade begrenzt (Metaphysik 1084a 12). Leider sagt er nicht, wie diese Begrenzung zu verstehen ist. Seine Ausführungen zeigen nur seinen Widerwillen gegen eine solche Zahlenlehre, wie seine bissige Bemerkung beweist, in Falle der Beschränkung gingen schnell die Formen aus. Verständlich wird die Begrenzung auf die Dekade nur, wenn sie nicht als willkürliche Beschränkung, sondern im Sinne der »vollkommenen Zahl« verstanden wird. Damit aber stellt sich die Frage, wie diese Vollkommenheit der Dekade zu deuten ist. Gegen die Möglichkeit, die Zehnzahl aus der Verdopplung der ersten geraden und der ungeraden Zahl hervorgehen zu lassen, hat schon Aristoteles bemerkt: »Den Ursprung der ungeraden Zahl geben sie [die Platoniker] nicht an« (Metaphysik 1091a 23). Eine andere Möglichkeit, die K. Gaiser (1963, 119 ff.) vorgestellt hat, ist das »dimensionale Teilungsverfahren«, dem aber die Herleitung der Zahlen 5 und 7 fehlt, die doch, wie Gaiser selbst bemerkt, »in der Dekas der Ideen-Zahlen nicht fehlen dürfen« (122). Man wird daher W. Bröcker zustim-
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3.
Die Erfahrungswelt als Abbild der »guten Ordnung«
Mit dem Konzept des »noetischen Denkens« hat Platon den Weg beschrieben, der zur Erkenntnis der Ordnung des Seienden hinführt, men müssen: »Wie freilich Plato diese Deduktion der Ideen aus den Prinzipien durchgeführt hat, wenn er überhaupt mehr getan hat, als das Postulat einer solchen Ableitung aufzustellen, darüber vermögen wir nichts auszumachen …« (W. Bröcker, Plato über das Gute. In: Wippern 1972, 237 f.) – Bei diesen Versuchen der »Herleitung« der Zehnzahl aus einfachen Prinzipien bleibt die »klassische« Erklärung unbeachtet, nämlich die Definition der Dekade als »vollkommener Zahl« als Summe der ersten vier Zahlen: 1 + 2 + 3 + 4 = 10. Diese Deutung kann auf die Aussage der Pythagoräer zurückgreifen, die deka@ sei deshalb die »vollkommene Zahl«, weil sie die Vollendung der Tetraktys, der »tätigen Vier« (tettara + agein), sei. Hier gilt die Vier als die »heilige Zahl«, von der Sextus Empiricus 1998, VII, 94–5 schreibt, sie sei für die Pythagoreer »die Quelle und Wurzel der ewig fliessenden Natur« (phgh aenaou yusew@ rizwma); nach ihr sei »der ganze Kosmos harmonisch verwaltet.« Akzeptiert man diese Deutung, so reduziert sich das Problem der »vollkommenen Zahl« auf das Verständnis der Vierzahl im Kontext von Platons Theorie der Ideen-Zahlen. Diese Theorie lässt sich von der pythagoreischen Lehre nun dadurch unterscheiden, dass Platon die Vierzahl nicht als »die Quelle und Wurzel der ewigen Natur« behauptet, sondern dass er sie – im »Philebos« – als je verschiedene Gattungen des Seienden begründet: 1. das rein gedachte en als bestimmende pera@; 2. die Zusammenführung (sunagwgh) der sinnlich gegebenen polloi im Begriff der apeiria (bzw. der unbestimmten Zweiheit); 3. die Verbindung beider in der Mischung (meixi@); 4. das durch den Nous als Ursache (aitia) Gewordene. Jede dieser vier besitzt als Gattung eine je eigene, unreduzierbare »Logos-Struktur«, und diese vier logoi zusammen begründen die Erkenntnis des vollendet Seienden. Platons Aussagen über die Vierdimensionalität des Raumes (Punkt-Linie-Fläche-Körper), die Aristoteles in »de Anima« (406b 16–27) überliefert, über die Vierzahl der Elemente (Feuer-Luft-Wasser-Erde) und der Gattungen des Lebenden (Götter-Vögel-Fische-Landtiere) im »Timaios« oder über das Vierfache der erkennenden Seele (aisjhsi@–doxa–doxa alhjh@–episthmh; aisjhsi@–eikasia–dianoia– nou@) im »Theaitetos« bzw. im »Staat« (509d ff.) sind insofern ›Anwendungen‹ der Logos-begründeten Vierheit des Seienden. 3. Diese Deutung der Vierzahl schöpft Platons Theorie der »Ideen-Zahlen« zweifellos nicht aus, wie allein die Ausführungen über die Planetenbahnen oder die Zusammenfügung der Weltseele im »Timaios« zeigen. Auch bleibt im Dunklen, wie die Zehnzahl als Summe der vier Zahlen darzustellen wäre. In philosophiehistorischer Hinsicht bedeutsamer als die Rekonstruktion dieser ausdrücklich esoterischen Zahlenlehre Platons und der Akademie dürften jedoch die anschließenden Reflexionen über die »Vierzahl« sein. Hierzu gehören die »artigen Betrachtungen«, die Kant anlässlich der Kategorientafel in den §§ 11 und 12 der »Kritik der reinen Vernunft« über die Vierzahl der reinen Verstandesbegriffe anstellt und über die Dreizahl der Kategorien jeder Klasse sowie der Transzendentalien des Einen, Wahren und Guten; oder Schellings »Ableitung« der vier Prinzipien, die er in der 17. Vorlesung seiner »Darstellung der reinrationalen Philosophie« vornimmt. Hierzu gehören auch die Überlegungen, ob und inwiefern die Vierzahl ›heidnisches Vernunftdenken‹, die Dreizahl hingegen ›christliches Versöhnungsdenken‹ repräsentiert. A
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die den Nous zum Urheber hat. Schönheit, Maß und Wahrheit sind die Kriterien, nach denen das aus Einem und Vielem Gemischte des Guten wegen geworden ist. Doch mit diesem Konzept ist noch nicht der programmatische Grundsatz eingelöst, dass alles so geordnet ist, wie es am besten ist. Denn dazu bedarf es nicht allein der Erörterung der Arten des Seienden, sondern der Beantwortung der epistemologischen Frage, ob nach diesen Prinzipien auch ein Erfahrungswissen möglich ist. Die Beantwortung dieser Frage kann freilich nicht allein auf dem Weg des Denkens geschehen, sondern beruht auf den zwei verschiedenen epistemischen Vermögen: dem Denken und der Erkenntnis dessen, was immer ist, und der Sinnlichkeit und ihren Vorstellungen von dem, was immer anders wird. Diesen Weg in die Erfahrung hat Platon im »Timaios« beschritten, dem wohl einflussreichsten Dialog seines Gesamtwerks. 232 Er enthält die Rede des sternkundigen Timaios über das All, »wie es entstanden oder auch nicht entstanden ist« (27c). Diese Rede betrachten wir allerdings nicht unter dem Aspekt, ob sie die Kosmologie Platons enthält oder nur in mythischer Form die Entstehung der Welt erzählt, sondern betrachten sie hinsichtlich des Verfahrens der »Logifizierung der Erfahrung«, da Timaios es unternimmt, das Werdende, dieses sichtbare und betastbare All (28b), als ein nach den Gesetzen der Schönheit, des Maßes und der Wahrheit geordnetes Ganzes zu begreifen. 233 Im Folgenden geht es uns daher weder um den Dialog als Ganzen noch um die einzelnen Inhalte, sondern um 232 »Up until the humanistic revival of the Renaissance, the Timaeus was Plato’s most influential work.« (Reale 1997, 149) 233 Den politisch-ideologischen Gründen der platonischen Kosmologie als »Fundamentalphilosophie« ist A. Müller nachgegangen: dem mythischen Wissen wie auch dem Atheismus konnte erst dann der Boden entzogen werden, wenn die Vernunftordnung auch als sinnlich erfahrbar bzw. das sinnlich Erfahrene auch als durch Vernunft erkennbar nachgewiesen ist. »Mit dieser Leistung ist die zentrale Stellung der Kosmologie in den ›Nomoi‹ und seitdem in der gesamten hellenistischen Theologie gerechtfertigt.« (Müller 1975, 29) – In anderer Weise hat auch P. Kalkavage das politische Interesse ins Zentrum des »Timaios« gestellt: »Socrates does not meet Timaeus by chance and ask him ›What is the cosmos?‹ The dialogue begins instead by directing our attention to the Republic, to the question ›What is the best political order by nature?‹ The true theme of the Timaeus is revealed not by the speech of Timaeus per se, but by Socrates’ longest speech in the dialogue at 19b3–20c3. Socrates desires to hear about the best city’s involvement in a beautiful war. All three of Socrates’ ›hosts‹ in the dialogue are, furthermore, outstanding political men. It seems then that politics and war rather than cosmology are the true center of the Timaeus.« (Kalkavage 1983, 2 f.) Der Hinweis auf das praktischpolitische Interesse ist berechtigt; er steht aber nicht, worauf A. Müller verwiesen hat,
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die Begründung dieser Ordnungslehre sowie das Verfahren der Logifizierung. Diese sind im Wesentlichen im Proömium der TimaiosRede (27c–29d) sowie in der Darlegung der zwei Anfänge der Weltentstehung (29d–30b, 47e–53c) enthalten. Zwar werden wir zur Klärung und Erläuterung auch auf andere Stellen zurückgreifen; das Anliegen ist jedoch die Rekonstruktion der epistemologischen Begründungsstruktur eines solchen Erfahrungswissens. a.
Die epistemologische Grundlegung
Bevor Timaios darlegt, warum, wodurch und wie die Welt als ein auf das Beste geordnetes Ganzes entstanden sei, umreißt er in der Vorrede die Ausgangslage. Er geht aus von der Differenz von Seiendem und Werdendem, führt den Begriff der Ursache des Gewordenen ein, bestimmt den Begriff des »Welturhebers« und bezeichnet schließlich den epistemischen Charakter seiner Rede über die Weltordnung. Im Folgenden soll darum gehen, wie diese grundlegenden Aussagen von Timaios begründet werden bzw. erklärt werden können. a. Die absolute Differenz von Seiendem und Werdendem Timaios beginnt: »Es ist nun nach meiner Meinung das Erste, dies zu unterscheiden: das stets Seiende, das kein Entstehen hat, und das immer Entstehende, das niemals ist; das eine, durch das logische Denken erfasst, ist das stets demselben gemäß Seiende; das andere, durch die alogische Sinnlichkeit vorgestellt, ist Vorgestelltes, entstehend und vergehend, niemals seiend. « (27d ff.) Betrachten wir diesen Satz als Beschreibung der Ausgangslage, so gibt es hier, am Beginn, kein »Erstes«, das den zwei Reichen, dem des stets Seienden und dem des niemals Seienden, vorausginge, aber auch kein »Drittes«, das beide irgendwie verbindet. Es gibt also keine parmenideische Göttin, die den »Weg des Wissens« mitteilt; keinen heraklitischen Logos, der ›sagt‹, was alles ist; keinen leukippischen »Raum«, in dem das Unveränderliche und das Veränderliche ein gemeinsames Bestehen haben; es gibt aber auch keinen wirkenden Nous, der alles schon geordnet hat. Das Seiende und das Entstehende sind daher auch nicht zwei verschiedene Gattungen des Seienden und stehen in keiner Beziehung oder Verbindung zueinander. Es gibt nur Timaois’ Meinung, in Gegensatz zur Annahme, dass es in diesem Dialog um die kosmische Ordnung geht, die der politischen Ordnung das sichtbare Vorbild gibt. A
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dass das eine nur ist und nie wird, das andere aber nur wird und nie ist. 234 Er beschreibt also »das Erste« als absolute Differenz von rein gedachtem Seienden und sinnlich vorgestelltem Werdenden, und beide Reiche sind gleichursprünglich. Epistemologisch könnte der Anfang nicht aporetischer dargestellt werden. b. Die Ursache des Gewordenen Erst im zweiten Schritt führt Timaios den Begriff der Ursache (aition) ein: »Alles Gewordene hat unter einer Ursache (up’ aitiou tino@) aus Notwendigkeit (ex anagkh@) sein Entstehen.« (28a) Deuten wir diesen Satz als eine ›meta-physische‹ Aussage, so sagt er von allem Gewordenen aus, dass es nicht zufällig, sondern unter einer Ursache entstanden sei; »denn«, so das Argument, »allem ist es unmöglich, ohne Ursache sein Entstehen zu haben.« (28a) Diese Ursache aber, weil sie die Ursache alles Gewordenen ist, kann selbst nicht entstanden sein und daher nicht durch die Sinne erfasst werden; sie ist offenbar als ein Drittes anzunehmen, durch das oder unter dem alles sinnlich erfassbar Gewordene entstanden ist. – Da Timaios es ganz unbestimmt lässt, was diese Ursache sei, sondern nur feststellt, dass alles Gewordene unter irgendeiner Ursache (up’ aitiou tino@) sein Entstehen hat, so können wir sie uns als die jeoi der Mythologien, die arch der ersten Philosophen, den logo@ Heraklits, den nou@ des Anaxagoras oder die anagkh des Leukipp vorstellen. Die Aussage ist nur, dass überhaupt etwas sei, unter dem alles Gewordene entstanden ist. 234 Insofern vermisst P. Kalkavage in seinem Kommentar des Anfangs scheinbar zu Recht das Dritte, das Sokrates im »Staat« (509d ff.) genannt hatte: »Timaeus leaves out a third mode of ›being‹. He leaves out the most important segment on the divided line, the segment that corresponds to images and the recognition of images as images. He leaves out eikwn and eikasia. This omission is most curious given the fact that for Timaeus the cosmos is an image (29b1–2)«. Angesichts dieser »Kuriosität« stellt Kalkavage die Frage: »How, in other words, can Timaeus represent as mutually exclusive the two natures whose mixture is required for cosmos understood as an image?« Er beantwortet sie als eine »inconsequence« von Timaios. (Kalkavage 1983, 60 f.) – Abgesehen davon, dass Timaios nicht mit zwei »modes of ›being‹« beginnt, sondern mit dem Unterschied zwischen »being« und »becoming«, ist es unseres Erachtens in der Tat diese Frage ist, die Timaios zu beantworten unternimmt. Im »Staat« hat Sokrates die keineswegs evidente These aufgestellt, die sinnliche Welt sei als »image« der gedachten Welt zu begreifen; im »Timaios« soll sie eingelöst werden. Dazu kann jedoch das zu Begründende – die sinnliche Welt als »image« der gedachten – weder nur behauptet noch schon vorausgesetzt werden. Daher ist es in der Tat das Erste, dass das sinnlich Vorgestellte und das rein Gedachte als »mutually exclusive« anzunehmen sind.
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Desweiteren sagt der Satz aus, dass das Verhältnis des Gewordenen zu seiner Ursache notwendig sei. Diese Notwendigkeit lässt sich nun nicht im ›metaphysischen‹ Sinn verstehen; denn der Satz sagt nichts über diese Ursache aus, sondern behauptet nur, dass allem Gewordenen das Ursache-Haben notwendig sei. Da nun aber diese Notwendigkeit weder durch das logische Denken (nohsi@ meta logou) begründet werden kann, das ja nur das erfasst, was stets ist, noch durch die Sinnlichkeit (aisjhsi@ alogo@), die ja nur das vorstellt, was wird, lässt sie sich offenbar nur in Bezug auf den Menschen und seine Erkenntnisart begründen: für Menschen ist es – im Unterschied zu Göttern und Tieren – notwendig, eine Ursache anzunehmen, unter der Gewordenes entstanden ist. Angesichts der Ausgangslage zwischen der logischen Konsistenz dessen, was stets ist, und der sinnlichen Kontingenz dessen, was nie ist, ist dem Menschen die Annahme eines ›Dritten‹ notwendig, das ihm das Entstehen des Kontingenten erklärt. 235 g. Der Demiurg als Urheber der Weltordnung 1. Im dritten Schritt erst zeichnet Timaios diese Ursache alles Gewordenen ›metaphysisch‹ als den Demiurgen aus: »otou men oun an o dhmiourgo@ …« (28a). Achten wir hierbei nicht, wie Timaios es sogleich tut, auf die dadurch bestimmte Art der Entstehung des Gewordenen, sondern auf den Charakter der Ursache selbst, so müssen wir sie offenbar als ein Subjekt und die Art des Wirkens als dessen Handlung auffassen. Daraus lässt sich schließen, dass Timaios vom sinnlich wahrnehmbaren Gewordenen nur dann ein Wissen als möglich erachtet, wenn sein Entstehen nicht als Wirkung irgendeiner, sondern dieser Ursache, d. h. als Resultat der Handlung des Demiurgen, 235 Diese behauptete Notwendigkeit impliziert die Kritik sowohl an Parmenides als auch an Protagoras, die beide diese Notwendigkeit bestritten haben. Parmenides, weil ›in Wahrheit‹ nur Seiendes ist und daher die Annahme des Entstehens nur eine doxa brotwn sei (siehe dort); Protagoras hingegen, weil Wissen Wahrnehmen ist, eine solche Ursache aber nicht wahrnehmbar sei (vgl. Platon, Theaitetos 151e f.). Beiden hält Platon entgegen, dass für den Menschen diese Annahme notwendig ist, weil der menschlichen Seele weder ein logisches Wissen ohne Bezug zur Wahrnehmung noch ein Wahrnehmen ohne Bezug auf ein Bleibendes möglich ist. In diesem Sinne einer Ursache überhaupt sagt auch D. Hume – wenn der Exkurs gestattet ist –, dass es zu ihrer Annahme ein »Verlangen« (propensity) gebe, »[that] point out a principle of human nature, which is universally acknowledged, and which is well known by its effects.« Hume nennt sie »the ultimate principle, which we can assign, of all our conclusions from experience« (Hume 1984, V, 36).
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erkannt wird. Da die Einführung des Demiurgen keineswegs als notwendig erscheint – und Timaios, anders als im Fall der Ursache überhaupt, eine solche Notwendigkeit auch nicht behauptet –, soll es zunächst um die Gründe oder Motive gehen, die diese Auszeichnung der Ursache erklären oder begründen. Die nächstliegende Erklärung ist wohl die, den Begriff des Demiurgen wörtlich zu nehmen und ihn auf das Vorbild des Handwerkers zu beziehen. So wie Arbeitsprodukte als diese nur erkannt werden, wenn ihre Entstehung auf eine zweckmäßig wirkende Tätigkeit zurückgeführt wird, so wird, in Analogie, auch das sichtbare All nur erkannt, wenn seine Entstehung nicht durch blind wirkende Ursachen, sondern durch die Handlung eines Subjekts erklärt wird. Die Einführung des Begriffs des Demiurgen wird so qua Anthropomorphie, genauer: qua Technomorphie, erklärt. Diese Erklärung ist zumeist mit der ideologiekritischen Intention verbunden, die Analogie des kosmologischen Begriffs der Ursache mit der Zweckmäßigkeit des menschlichen Handwerks als Ausdruck einer mythisch-naiven Projektion zu deuten 236 . Ein anderes Erklärungsmuster betrachtet die Einführung des Demiurgen durch Timaios als Symbolisierung des Nous. Der Demiurg stelle bildlich die wirkende Kraft des Nous selbst dar. Er sei daher nicht als eine eigenständige dritte Realität anzunehmen, die ›neben‹ oder ›zwischen‹ den zwei Reichen des Seienden und des Werdenden besteht, sondern stelle in mythischer Gestalt das Dynamische und Weltbildende des Noetischen vor; er sei »nichts anderes als der anschaulich beschriebene Dynamis-Aspekt der Idee« (Gaiser 1963, 193). Diese Erklärung bindet die Figur des Demiurgen, die Timaios in der Vorrede beschreibt, an den Grundsatz der Philosophie Platons zurück, wonach als Ursache von allem der Nous anzunehmen sei, so dass die Bedeutung, auf die das Wort verweist, nicht das Handwerk, sondern das ewig Tätige des Nous ist. Bezieht man sich allerdings auf die Aussagen des Timaios, so stimmen beide Erklärungen mit ihnen nicht überein. Denn er beschreibt ihn zunächst weder als zweckmäßig handelndes Subjekt noch als noetische Wirkkraft, sondern als ein indifferentes Subjekt, das nach dem einen oder dem anderen Gesetz handeln und dementsprechend Entgegengesetztes bewirken kann: »Wessen Hersteller nun, auf das stets sich gleich Verhaltende blickend, nach einem sol236
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Siehe: Topitsch 1958; 1959. – Vgl. auch: Kant, KU V 388 f.; Marx 1972, 27.
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chen Vorbild dessen Form und Kraft erschafft, das muss notwendig schön zu einem gewordenen Ganzen vollendet sein; nach Gewordenem als Vorbild aber, nicht schön.« (28a-b) Wenn, so paraphrasieren wir, der Demiurg nach dem stets Seienden handelt, dann ist das, dessen Gestalt und Form er herstellt, notwendig schön; wenn aber nach dem immer Werdenden, dann ist das Geschaffene notwendig nicht schön.237 Das aber heißt, dass der Demiurg als ein eigenständiges »Drittes« aufzufassen ist, das für sich selbst ohne Gesetz ist, das aber die Kraft hat oder ist, nach diesem oder jenem Vorbild zu wirken; ein gleichsam hypothetisches Subjekt, das, wenn es handelt, entweder Schönes oder Nicht-Schönes herstellt. Fürs erste jedenfalls unterscheidet Timaios klar zwischen der Ursache, die das Entstehen alles Gewordenen bewirkt, und den zwei Reichen des Seienden und des Werdenden, auf die der Demiurg blickt. 2. Erst im Anschluss daran erfolgt der Schluss von der Indifferenz des Demiurgen auf sein Gut-Sein. Dazu geht Timaios von der Alternative aus, die wir so formulieren: wenn das sichtbare All schön und sein Hersteller daher gut ist, dann ist das Vorbild, nach dem er sich richtet, das stets Seiende; wenn es hingegen nicht schön und sein Erzeuger daher schlecht ist, dann ist das Vorbild das stets Werdende. Nun aber sei es, so das Argument, einerseits Frevel, den zweiten Fall überhaupt auszusprechen; andererseits sei es jedem »klar« (saye@; 29a), dass dieses All das Schönste alles Gewordenen und sein Hersteller die beste aller Ursachen ist. Aus diesem »Klar-Sein« schließt Timaios, dass das sichtbare, fühlbare und körperliche All nach dem durch Denken und Einsicht (logw kai yronhsei) erfassten Seienden hergestellt und daher dessen Abbild (eikwn) sei. Wie aber lassen sich diese zwei Aussagen, das ›Sage-Verbot‹ der einen und die ›Klarheit‹ der anderen Alternative, erklären? Oder anders: Worin ist die Klarheit der Einsicht gegründet, der Urheber alles Gewordenen könne nur ›gut‹, nicht aber ›schlecht‹ sein? Dieser Grund kann jedenfalls nicht das Logische sein; denn danach ist vielmehr zu erwarten, dass das All, da es nur mit den a-logischen Sinnen erfasst wird und sich als Werdendes zeigt, nach dem Vorbild des stets Werdenden entstanden ist, dass es daher nicht-schön und sein Urheber schlecht ist. Sich widersprechend hingegen ist die Annahme, dass das Vorbild, nach dem das hergestellt ist, was immer nur wird und 237 So auch H.-G. Gadamer, Idee und Wirklichkeit in Platos ›Timaios‹. In: Gadamer 2001, 40.
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nie ist, dasjenige sei, das immer ist und nie wird. Wenn Timaios dem gegenüber behauptet, dass jener Schluss gar nicht auszusprechen, die ihm entgegengesetzte Annahme jedoch »klar« ist, dann kann nicht die Logik diese Behauptung begründen. Würde man angesichts dieser Paradoxie zwischen dem Logischen, aber Unsagbaren und dem Klaren, aber Wider-Logischen das Gewordene in zwei Arten unterscheiden, in die noetische und daher schöne Welt und in die sinnliche und daher nicht-schöne Welt, oder würde den »schlechten Demiurgen« als einen in sich widersprüchlichen Begriff aufweisen, da doch die Gesetzlosigkeit nicht als Gesetz dienen könne, so entfernte man sich mit diesen Erklärungen zweifellos von dem, was Timaios sagt. Da also die Klarheit, die Timaios für die Schönheit des Alls und die Güte seines Herstellers behauptet, und das Unsagbare des Gegenteils nicht aus der denkenden Einsicht folgen, müssen sie in etwas anderem begründet sein. Dieses andere aber kann nur jener epistemische Grundsatz sein, dass der Nous es sei, der alles auf das Beste ordnet, den Platon folglich nicht nur der Erkenntnis des immer Seienden, sondern auch des stets Werdenden zugrunde legt, so dass das durch die Sinne erfasste Gewordene je schon schön und dessen Urheber gut ist. Mit der Begründung der Klarheit durch diesen Grundsatz ist freilich nicht nur das vorausgesetzt, was Timaios doch erst zeigen will; sie führt ihn auch zu der logischen Paradoxie, dass das stets Werdende nach dem Vorbild des immer Seienden hergestellt, das Entgegengesetzte jedoch Anathema ist. – Zudem kann dieses ›andere‹, Platons epistemischer Grundsatz, erklären, warum es so schwer sei, wie Timaios einleitend sagt, den Erbauer und Vater des Alls (poihth@ kai pathr toude to panto@) überhaupt zu finden, und unmöglich, ihn allgemein mitzuteilen. Diese Schwierigkeiten erklären sich daraus, dass der Grund für die Erkenntnis dieses Erbauers eben jenseits alles Erfahrbaren und Denkbaren liegt. 238
238 Th. Szlezák hat zu Recht bemerkt, dass es hier nicht um »Geheimhaltung«, sondern um »Esoterik« geht: »ein aprorrhton kann nicht ›an alle‹ mitgeteilt werden, weil es, vorzeitig mitgeteilt, nichts klar machen würde. Die Natur des Demiurgos ist offenbar ein solches aprorrhton: sie ist prinzipiell auffindbar und auch sagbar, aber nicht ›an alle‹«. (197) Im Weiteren stellt er über die »Natur des Demiurgos« fest: »Das ›Wissen‹ (oiden) [des platonischen Dialektikers] von den arcai wird hier also nicht mitgeteilt, hier so wenig wie 29e4–30a2, wo das entscheidende Prinzip (arch) des Werdens, nämlich das Gutsein (H. v. m.) des Demiurgos, von einsichtigen Männern (par’ andrwn
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d. Die Gewissheit und Wahrscheinlichkeit der Rede Da der Inhalt des »Klaren« in dem Paradox besteht, dass das stets veränderliche All nach dem Vorbild des stets Seienden entstanden und dessen Abbild ist, ergibt sich aus dieser Art des Wissens, dass die Aussagen, die Timaios über die sinnliche Welt als Abbild der noetischen macht, nur den Charakter einer »wahrscheinlichen Rede« (eikw@ mujo@) haben. Der Paradoxie wegen können sie weder in der Form »zusammenstimmender und genau bestimmter Sätze« (§ 29c) noch in Gestalt einer bildhaften Erzählung vom Anfang der Welt dargestellt und mitgeteilt werden. Denn weder die Begriffe von dem, was immer ist, noch die Vorstellungen von dem, was stets wird, können jenes undenk- und unvorstellbare Verhältnis von Seiendem und Werdendem darstellen, das der Demiurg herstellt. Aus dieser Unmöglichkeit aber folgt, dass Timaios’ Rede über das All in epistemologischer Hinsicht als ein Amalgam aus heterogenen, teils logischbegrifflichen, teils sinnlich-vorgestellten Elementen verstanden werden muss, das weder noetisch noch poetisch ist. Sie kann in dieser Hinsicht nur ein ›Bastard‹ aus begrifflicher Ontologie und sinnlicher Kosmogonie sein, der auf die Gewissheit gegründet ist, dass das stets Veränderliche das Abbild des immer Unveränderliche sei. 239 yronimwn, 30a1) zu übernehmen ist – wie diese Männer zu ihrer grundlegenden Einsicht gelangt sind, wird im Timaios weder gefragt noch dargelegt.« (Szlezák 1997, 199) 239 K. Gaiser hat gleichfalls auf die Paradoxie der Welterklärung Platons verwiesen. Platon habe zunächst eine konsistente und rekonstruierbare Lehre vom Seienden gegeben, die aus dem Gegensatz der Prinzipien des Einen oder der Grenze und der unbestimmten Zweiheit oder dem Apeiron deduktiv und systematisch nach Zahl und Maß entwickelt ist. Die Paradoxie nun sieht Gaiser in der Frage enthalten: »Warum hat der Demiurgos einmal aus dem Chaos den Kosmos geschaffen, und zwar so, dass die göttliche Herrschaft im Kosmos nicht ständig dauert? Wie ist es möglich, die beiden Prinzipien der Potenz nach als gleichwertig, ontologisch und axiologisch aber doch nur das eine als positiv (Seinsgrund), das andere als negativ (Grund des Nichtseins) zu verstehen?« (Gaiser 1963, 200) Da Platon auf diese Fragen keine Antworten gibt, dürfe diese Lehre »nur als hypothetischer Entwurf aufgefasst werden«. Platons Prinzipienlehre biete »auch in ihrer esoterisch-mündlichen Form keine perfekte Welterklärung …, sondern (führe) systematisch zu einer einzigen, alles einbeziehenden Paradoxie hin …« (ebd., 201). Wir sehen diese Paradoxie allerdings nicht in der ontologisch-axiologischen Differenz zwischen der Gleichwertigkeit und Gegensätzlichkeit der zwei Prinzipien, sondern im epistemologischen Widerspruch, dass das Vorgestellte, das stets wird und nie ist, zugleich das ist, was das Gedachte, das stets ist und nie wird, abbildet. Der »Timaios« wird von uns daher auch nicht als ein »nur hypothetischer Entwurf« aufgefasst, sondern als ein notwendig paradoxes Amalgam aus teils rationalen, teils ästhetischen Elementen. A
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Timaios selbst charakterisiert seine Rede anders. Zwar hat sie auch für ihn den Charakter des Wahrscheinlichen; aber er erklärt ihn nicht aus der Paradoxie, sondern teils aus der Abbildlichkeit der gewordenen Welt, teils aus den Grenzen der menschlichen Natur. Denn da die Weltordnung das Abbild von etwas sei, sich zum Abbild aber das Vorbild »wie zum Werden das Sein« verhält, so verhalte sich auch die Rede darüber »wie zum Glauben die Wahrheit« (29b). Und da ihm wie auch seinen Zuhörern eine menschliche Natur eigne, müsse man sich damit zufrieden geben, dass die Aussagen möglichst wahrscheinlich sind, und gezieme es sich, nichts über die Grenze dessen zu suchen (29b f.). Doch zumindest Timaios’ erste Erklärung des Wahrscheinlichen stimmt mit unserer Interpretation überein. Denn der Annahme, dass das sichtbare All sich zum stets Seienden wie das Abbild zum Vorbild verhält, und daher die Rede wahrscheinlich ist, liegt ja jene Gewissheit zugrunde, dass der Nous es ist, der alles auf das Beste ordnet. Fehlte diese Gewissheit, hätte seine Rede den Charakter der bloßen Meinung (doxa), nicht aber den des Wahrscheinlichen (eikw@). 240 – Allerdings ist die zweite Erklärung wenig überzeugend. Denn wenn der Wahrscheinlichkeitscharakter seiner Rede aus den Grenzen der menschlichen Natur erklärt wird, dann müssten auch die Aussagen über das Gute als Ursache des Alls und über das Schönste alles Gewordenen den Status des nur Wahrscheinlichen haben; denn es ist zweifellos Timaios, der sie trifft und den Zuhörern mitteilt. Was aber sollte es bedeuten, wenn das, was ihm klar (saye@) ist, nur wahrscheinlich ist? Der Wahrscheinlichkeitscharakter der Rede über das All kann daher seine Erklärung nicht in den Grenzen der menschlichen Natur finden, sondern in Timaios’ Gewissheit, dass die sinnliche Welt das Abbild der noetischen ist. Diese Gewissheit gründet jedoch nicht in der menschlichen Natur, sondern in der Seele des Philosophen, der darin – wie Sokrates (selbst)ironisch angemerkt hatte (Philebos 28c) – sich selbst verherrlicht, und in der »kleinen Gruppe von Menschen« (51e), von der Timaios sagt, sie sei dieser Einsicht teilhaftig. Wenn es also das Fazit des Proömiums ist, dass das Wahrscheinliche der anschließenden Rede über die Ordnung der Welt aus der Einsicht resultiert, dass die sinnliche Welt das Abbild der noetischen 240 Zur Unterscheidung des eikw@ logo@ von der doxa und dem orjo@ logo@ siehe: Santa Cruz 1997, 138.
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ist, diese Einsicht aber in der Gewissheit gründet, dass der Nous es ist, der alles ordnet, dann scheint das Programm, dieses Gewisse auch in ein konsistentes Erfahrungswissen umzusetzen, nicht durchführbar zu sein. Denn eine solche Lehre von der Weltordnung kann nur das Amalgam aus logoi, logisch erfassbaren Sätzen, und aus mujoi, vorgestellten Bildern, sein, das als ein Ganzes jedoch weder logisch noch ästhetisch ist. Dieses Vermittlungslose zwischen dem LogischNoetischen und dem Sinnlich-Ästhetischen soll im Folgenden anhand der zwei Anfänge der Weltentstehung nachvollzogen werden, die Timaios darstellt: das »In-die-Ordnung-Bringen« des Ordnungslosen durch den Demiurgen sowie das Zusammenwirken von nou@ und anagkh aufgrund »besonnener Überredung«. b.
Der erste Anfang: die »Gewalt des Guten«
Timaios stellt die Entstehung des Weltganzen in zweifacher Weise dar. Dabei wird sich uns ergeben, dass es im ersten Fall die Gewalt ist, die der Demiurg um des »Schönsten alles Gewordenen« willen anwendet; dass es im zweiten Fall eine »geheime Überredung« des heteronomen Prinzips des Werdens, der anagkh, durch das autonome Prinzip des Seienden, den nou@, ist, die der Ordnung der Welt vorhergeht. Der erste Anfang stellt das gleichsam ›despotische Modell‹ der Herrschaft des Guten dar, der zweite das ›zivile Gegenmodell‹. a. Der Beschluss Timaios beginnt seine Darstellung der Weltentstehung mit dem Beschluss des Demiurgen: »Sagen wir also, nach welchem Grund der Zusammensetzer das Entstehende und dieses All zusammensetzte. Er war gut; dem Guten aber entsteht niemals Neid. Diesem fern, beschloss er, dass alles ihm selbst aufs Beste ähnlich werde.« (29d-e) Wer sich dieser Rede weiser Männer vom vorzüglichsten Anfang (kuriwtath arch) anschließt, fügt er hinzu, möchte das Rechte annehmen. – Vergleichen wir diesen Beginn mit dem der Vorrede, so unterscheidet Timaios hier nicht zuerst die zwei epistemischen Reiche des Seienden und des Werdenden – worauf als Drittes der Demiurg folgt –, sondern fängt nach der Rede weiser Männer mit dem so schwer aufzufindenden guten Demiurgen an. Das Erste ist hier: »Er war gut.« Nun folgt diesem Gutsein des Demiurgen jedoch nicht sogleich die Handlung des »Zusammensetzens«, sondern erst der BeA
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schluss (boulh), alles möge ihm, dem Guten, möglichst ähnlich werden. Timaios, so schließen wir daraus, unterscheidet zwischen dem, was der Demiurg ist, und dem, was er will; und er sieht den Grund für die Entstehung dieses Alls nicht im Gut-Sein des Demiurgen, sondern in seinem Willen, das, was durch ihn entsteht, möge dem, was er selbst ist, möglichst ähnlich werden. Dem Gutsein selbst entströmt nur neidlos Gutes; die Entstehung der Welt aber folgt dem Beschluss, das All ihm selbst möglichst ähnlich zu machen. Dieser Anfang sei von jenen weisen Männern zu übernehmen. 241 Was aber ist der Inhalt des Beschlusses? Beschließt der Demiurg, das ihm selbst möglichst ähnliche All herzustellen, oder, dass das All ihm möglichst ähnlich werde? Im einen Fall wäre der Beschluss Grund und Ursache des Alls; im anderen Fall jedoch ginge die Existenz des Alls dem Beschluss vorher. Nun versteht Timaios den Beschluss des Demiurgen zweifellos im letzteren Sinne; er fährt fort: »Denn beschließend, dass alles gut und nach Vermögen nichts schlecht sei, und vorfindend, dass das sichtbare All in der Weise war, nicht Ruhe gebend, sondern ungehörig und ordnungslos bewegt, da brachte der Gott es in die Ordnung aus der Unordnung, annehmend, dass jenes durchaus besser als dieses sei.« (30a) Dieser Darstellung nach ist der Beschluss des Demiurgen zwar der Grund für die Ordnung der Welt; aber er setzt zweierlei voraus: zum einen das Vorfinden des Alls als »ungehörig und ordnungslos bewegt«, zum anderen die Überlegung, Ordnung sei besser als Unordnung. Diese zwei verschiedenen ›Einsichten‹ gehen dem Beschluss voraus; denn es wäre widersinnig anzunehmen, erst sei der Beschluss, alles möge möglichst gut sein, und dann folge die Erfahrung, dass alles in Unordnung sei, und die Überlegung, Ordnung sei besser als Unordnung. 242 241 Die neuplatonische Deutung, die Timaios’ Unterscheidung zwischen dem Sein und dem Willen des Demiurgen aus Gründen der Darstellung (didaskalia@ carin) erklärt, der jedoch Platons eigentliche Auffassung vom ewigen Hervorgehens der Welt aus dem göttlichen Nous zugrundeliege (siehe: Halfwassen 2000, 57), stimmt zumindest darin mit Timaios’ Rede nicht überein, dass er den Beschluss als den »vorzüglichsten Anfang« ausgezeichnet, der dem entspreche, was »weise Männer« gesagt haben. Warum aber sollte Platon den Timaios den Anfang in dieser Weise auszeichnen lassen, wenn er es nicht ist? – Diese Debatte um den Anfang dürfte nachträglich entstanden sein, nachdem Platon von Aristoteles vorgehalten worden war, dass so etwas Schönes wie der Kosmos nicht entstanden sein könne, und Platon von Speusippos und Xenokrates mit dem Hinweis verteidigt wurde, dies sei nur der Darstellung geschuldet. 242 Aus dieser Differenz zieht Hegel den philologisch bedenklichen Schluss, man dürfe das Geschriebene nicht ernst nehmen: »Hiernach sieht es so aus, als habe Plato ange-
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Wenn Timaios vom Demiurgen jedoch sagt, dass er sowohl das sichtbare All als ordnungslos-bewegt vorfindet als auch einsieht, Ordnung sei besser als Unordnung, dann muss der Demiurg auch die zwei Vermögen besitzen, nämlich das eine vorzufinden und das andere einzusehen. Er hat das sinnliche Vermögen, das das All als ordnungslos bewegt wahrnimmt, sowie das Denkvermögen, das das Gut- bzw. Bessersein von Ordnung erfasst. Ohne die Annahme dieser beiden Vermögen lässt sich nicht erklären, wie Timaios sagen kann, dass der Demiurg das All ohne Ordnung vorfindet, das Entgegengesetzte aber, die Ordnung, gut findet. Das aber heißt, dass zwar der Anfang der Welt im Beschluss des ›guten Demiurgen‹ liegt, dass alles ihm möglichst ähnlich sei, dass ihm aber zwei ›Einsichten‹ vorausgehen, die Wahrnehmung des ordnungslos bewegten Alls und das Erfassen des Gutseins von Ordnung. Auf beide gründet sich der Beschluss, dass alles gut und möglichst nichts schlecht sei. b. Die Anfangshandlung Von der Handlung selbst, durch die der Demiurg seinen Beschluss, das All sich selbst möglichst ähnlich zu machen, verwirklicht, sagt Timaios nur, dass er das All aus dem Zustand der Unordnung in den der Ordnung bringt: »ei@ taxin auto hgagen ek th@ ataxia@« (30a). Das Resultat dieser ersten Handlung ist also der Zustand der Ordnung, der den Beschluss des Demiurgen dadurch verwirklicht, dass das All aus der Unordnung in die Ordnung umgewandelt ist. Wie aber ist dieses »In-die-Ordnung-Bringen« des schlechterdings Ordnungslosen überhaupt möglich? Da wir uns im Folgenden nur auf diese ›Ur-Tat‹ des Demiurgen konzentrieren wollen, soll auf drei Interpretationen näher eingegangen werden, die für die Möglichkeit der ordnungsbildenden Handlung eine Erklärung gegeben haben. 243 nommen, Gott sei nur der dhmiourgo@, der Ordner der Materie, und diese als ewig, selbstständig von ihm vorgefunden, als Chaos.« (Hegel 1969 ff., Bd. 19, 88). Doch das pan oraton paralabwn sei nur »ein mythischer Ausdruck« Platons; »es ist ihm nicht Ernst damit; dieses ist nur nach der Vorstellung gesprochen, solche Ausdrücke haben keinen philosophischen Gehalt.« (ebd.) Er schließt daraus: »Wir müssen uns an das Spekulative Plato’s halten.« (ebd.) 243 Ein Beispiel für die Interpretationsvielfalt gibt das Ringen Schellings um diese »Hauptstelle« zeit seines philosophischen Lebens, angefangen von seinem frühen Timaios-Aufsatz von 1794 bis zur späten »Philosophie der Mythologie und Offenbarung«. – Siehe dazu: H. Krings, Genesis und Materie – Zur Bedeutung der »Timaeus«-Handschrift für Schellings Naturphilosophie. In: Schelling 1994, 115–155; auch: Pechmann 1999, 127–141. A
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1. Ein Interpretationsmuster orientiert sich am Dualismus von Form und Materie und betrachtet das »ordnungslos Bewegte«, das der Demiurg in die Ordnung bringt, als ein eigenes, zweites Prinzip: die selbst ordnungslose Materie gegenüber der ordnenden Form. Diese Deutung kann sich auf den »Philebos« (16c) stützen, wo Sokrates es die »Gabe der Götter« nennt, dass alles, was ist, die Grenze und das Unbegrenzte in sich verbunden hat, als auch auf den »Timaios« (50d), wo von den zwei Ursachen die Rede ist, dem Nous und der Chora, die, wie Vater und Mutter, die beiden Ursachen alles Gewordenen sind. Unter der Voraussetzung dieser zwei Prinzipien lässt sich der Demiurg dann als der »Zusammensetzer« (o xunista@, 29d) verstehen und sein Handeln als Zusammenfügung der Weltordnung aus den immer seienden Formen, auf die er als Vorbild hinblickt, und aus dem ordnungslosen Stoff, den er vorfindet. Nach dieser Interpretation bildet der Demiurg also – wie in der Vorrede – eine eigene, dritte Realität; er stellt, wie ein Handwerker, im sinnlich Veränderlichen nach dem gegebenen Vorbild die Weltordnung her. »Um sein Ziel zu verwirklichen, betrachtet der Demiurg ein Modell, das die Gesamtheit der Ideen enthält, und gestaltet sein Material nach bestimmten Regeln.« »In der Handwerkermetapher steckt im Grunde der gesamte Timaios.« (Brisson, in: Kobusch 1996, 231) Das zweite Prinzip, die Materie oder Chora, lässt sich in diesem Schema in zweierlei Weise auffassen. Sie ist einmal der gleichsam passive Stoff oder das »reine Seinkönnen« (Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 391) 244 , dem zugleich die Bedürftigkeit und Fähigkeit innewohnt, die seienden Formen aufzunehmen 245 , so dass die Handlung des Demiurgen als die Verwirklichung des Möglichen, als Akt der Überführung des Nicht-Seienden in Seiendes verstanden wird 246 . Die Materie lässt sich aber auch als »das Prinzip des Widerstandes gegen die vernünftige Ordnung« (Brisson, in: Kobusch 1996, 231) deuten, als eine gleichsam natürliche, der Ordnung widerstrebende Kraft (conatus naturale), so dass die Herstellung der Ordnung im Ordnungslosen als ein Kampf des guten Prinzips gegen das widerstrebend schlechte oder böse erscheint. 247 Vgl. Halfwassen 1997, 193–209. siehe: G. Reale, Plato’s Doctrine of the Origin of the World. In: Calvo 1997, 149–164, 159. 246 ebd., 157. 247 Diese von Plutarch stammende Deutung der Materie als »böser Kraft« wurde in der neuzeitlichen Platon-Rezeption als Beleg für das ›Unchristliche‹ der Platonischen Lehre 244 245
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Das andere Interpretationsmuster, das sich am neuplatonischen Nous-Modell orientiert, geht demgegenüber nicht von drei ›Realitäten‹ aus, dem Seienden, dem Werdenden und dem Demiurgen, sondern von zwei Ursachen, dem weltschaffenden Nous einerseits und der Chora andererseits. Es rückt nicht die Handwerkermetapher ins Zentrum, sondern das »Gutsein« des Demiurgen. Wenn, so das Argument, der Demiurg im »Timaios« als »Gott« (30a) und als die »beste aller Ursachen« (o aristo@ twn aitiwn; 29a; auch 30a) bezeichnet wird, und wenn das Paradigma, das die Gesamtheit der Ideen enthält, als ein »vollkommenes Lebendes« (pantele@ zwon; 30c) beschrieben wird, dann legt dies den Schluss nahe, dass die Rede von den zwei verschiedenen Realitäten, der Ideenwelt als causa exemplaris und dem Demiurgen als causa efficiens, nur von didaktischem Wert ist (didaskalia@ carin); dass im eigentlichen platonischen Sinn jedoch die Ideenwelt und das Demiurgische dasselbe noetische Prinzip sind. »Als der alle Ideen in sich selbst umfassende Nus ist die Idee der Einheit das Ideenganze, das autozwon, das als Demiurg den Kosmos und die Seele neidlos aus sich hervorbringt.« (Halfwassen 2000, 61) Beide Interpretationsmuster, das am aristotelischen Form-Materie-Dualismus wie das am neuplatonischen Nous-Modell orientierte, lassen sich im Kontext der platonischen Lehre – der geschriebenen wie ungeschriebenen – zweifellos rechtfertigen und belegen. Beziehen wir uns allerdings auf den Text, dann erscheint es als wenig einleuchtend, dass hier, wo es um die Darstellung des ersten Weltanfangs geht, von zwei Ursachen die Rede ist. Timaios spricht weder vom »Unbegrenzten«, das der Begrenzung bedarf, noch von der »Chora« als Ursache des Werdens. Er nennt vielmehr ausdrücklich nur ein Prinzip, den »guten Demiurgen« ; dieser sei als der vorzüglichste Anfang zu nehmen. Vom All hingegen sagt Timaios nur, dass der Demiurg es als ungehörig und ungeordnet bewegt vorfindet, ohne ihm die Disposition zur Ordnung oder ein eigenes Werdeprinzip unterzulegen. Beide Interpretationen entfernen sich vom Text, genommen. Platons Theologie, so J. Brucker in seiner einflussreichen »Historia critica Philosophiae« (1742–1744), »stehe unter dem Schatten eines Unrechts gegen Gott: etsi splendide de Deo disserat Plato, magnam tamen ex semel admissa de duplici principio hypothesi fecisse divinae perfectioni injuriam. Als Beleg dafür wird sofort jene refractaria naturae vis aufgeführt, die der Schöpfergott wie einen rebellischen Genius habe unterdrücken müssen, und das auch noch nur ›nach Kräften‹, soweit es in seinen Kräften stand.« (Franz 1996, 68) A
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indem sie zur Erklärung der Anfangshandlung auf Grundsätze in anderen Zusammenhängen verweisen. Anders jedoch als im »Philebos«, wo die Grenze und das Unbegrenzte als die zwei Gattungen des Seienden genannt werden, wird im »Timaios« zwischen dem stets Seienden und dem immer Werdenden unterschieden; und die Chora als das Prinzip des Werdens wird erst dann genannt, wo es um die Darlegung des zweiten Weltanfangs (48e ff.) geht 248 . 2. Die Differenz, die Timaios beschreibt, ist offenbar keine ontologische. Denn er setzt der ›Ur-Tat‹ des Demiurgen nicht den Unterschied zweier Gattungen oder Prinzipien voraus, sondern das Prinzip des stets Seienden, das nur durch das Denken zu erfassen ist, dem Prinzip-losen, das, ordnungslos bewegt, niemals ist und immer wird, und das nur mit den Sinnen wahrgenommen wird. Während daher das stets Seiende, auf das der Demiurg hinblickt, eine logisch-noetische Struktur besitzt, hat das ungeordnet bewegte All, das er vorfindet, eine sinnlich-ästhetische Struktur und ist daher »an sich nur der ›sinnlichen‹ Erfahrung des Sehens zugänglich.« (Gadamer 2001, 41) Von diesem Eigentümlichen des ersten Anfangs aber entfernen sich die onto-logischen Interpretationen, wenn sie vom Seienden und Werdenden als zwei Prinzipien oder Ursachen ausgehen. Angemessener erscheint uns daher die Interpretation, die die Ausgangslage als epistemo-logische Differenz beschreibt, und die Handlung des Demiurgen, das In-die-Ordnung-Bringen des Ordnungslosen, als Umwandlung des sinnlich wahrgenommenen Alls in das noetisch erfassbare Abbild des Seienden versteht. Hier steht der »Demiurg des Timaios … für nichts weiter als für die Überführung eines Zustandes ungeordneter Bewegtheit in einen Zustand der Ordnung.« (Gadamer 2001, 42) 249 Diese Interpretation setzt nicht voraus, dass das sinnliche All ›an sich‹ schon die Disposition hat, die noetische Ordnung aufzunehmen; oder ihm die ›Kraft‹ zum Widerstand innewohnt, sondern dass es schlicht so ordnungslos bewegt ist, wie Timaios es beschreibt. 248 Vgl. C. Baeumker: »Da die ›Aufnehmerin‹ dieses Abschnittes als unsichtbar (51A, 52A-B) und stets gleich (50B) beschrieben wird, so kann sie mit der als sichtbar und bewegt geschilderten Masse, welche der Weltordner beim Beginn seiner Tätigkeit übernahm (30A) nicht ohne weiteres zusammenfallen« (Baeumker, 1890, 136). 249 »Bewegung hat aber für Plato als bloßes fortgehendes Durcheinander überhaupt keine ›Ursache‹, am allerwenigsten die des Lebendigen, der Seele, die auf keinen Fall eine wild durcheinandergehende Bewegung verursacht: Kreislauf, Rhythmik, Ordnung!« (Gadamer 2001, 80, Fn. 5.)
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Unter dieser Voraussetzung lässt sich nun die Anfangshandlung in Bezug auf den Demiurgen als die Verwirklichung des Guten deuten, durch die er seinen Beschluss, dass alles möglichst gut werde, in die Tat umsetzt und das All aus der Unordnung in die Ordnung bringt. Durch diese Handlung wird das Gute tatsächlich zur Ursache alles Gewordenen, da es um des Guten willen geworden ist. Sie löst das Programm der »zweiten Fahrt« des Sokrates ein, in allem nach derjenigen Ordnung zu suchen, die den Nous als Urheber hat. Und der Demiurg als der »gute Weltordner« ist das autonome Subjekt, weil das Gesetz, nach dem er handelt – sei es aufgrund seiner guten Natur oder kraft eigenen Beschlusses –, sein Gesetz ist, und weil durch ihn als der ordnenden Kraft in allem Gewordenen das Prinzip der Autonomie herrscht. In Bezug auf das sichtbare All jedoch lässt sich die »Ur-Tat« des Demiurgen nicht als die Verwirklichung des an sich Möglichen im bloß passiven Stoff deuten, sondern muss als gewaltsame Umwandlung des sinnlich wahrgenommenen Ordnungslosen in die noetisch erfassbare Ordnung verstanden werden. Denn da das All, wie Timaios es beschreibt, so ordnungslos bewegt ist, wie die Sinne es eben erfassen, kommt die Ordnung, die der Demiurg bewirkt, schlicht von außen; und der Zustand der Unordnung kann daher nur durch Gewalt (bia) beendet werden. Was also in Bezug auf den Demiurgen teleologisch die Verwirklichung des Guten ist, ist in Bezug auf das sichtbare All gleichsam ›kata-strophisch‹ die gänzliche Umwandlung des Zustands sinnlicher Ordnungslosigkeit in den Zustand noetischer Ordnung. Beides gehört untrennbar zusammen; denn der Demiurg kann nicht, indem er dem Vernunftlosen Seele und Vernunft gibt, das seiner Natur nach schönste und beste Werk vollenden, ohne zugleich mit der durch die Sinne erfassten Ordnungs- und Vernunftlosigkeit Schluss zu machen. Er verwirklicht das Noetische, aber beendet das Ästhetische. Nach dieser dritten, epistemologischen Interpretation der Anfangshandlung ist die Frage, wie das »In-die-Ordnung-Bringen« des schlechterdings Ordnungslosen überhaupt möglich ist, so zu beantworten: durch Gewalt. Sie hebt nicht einseitig die Verwirklichung des Noetischen hervor, sondern bringt die Kehrseite, den Zwangscharakter, in den Blick, wie er nach Platon allem Handwerk eignet. So lässt er im »Gorgias« (503e–504a) Sokrates sagen: »Wie wenn du die Maler ansehen willst, die Baumeister, die Schiffbauer, alle anderen Handwerker, welche du willst, so setzt jeder jedes, was er hinzusetzt, A
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in eine bestimmte Ordnung und zwingt (prosanagazei) jedes, sich zu dem andern zu fügen und ihm angemessen zu sein, bis er das ganze Werk geordnet und schön gestaltet zusammengefügt hat.« Hier beschreiben die zwei Begriffe der Gestaltung und des Zwangs die Handlung des Handwerkers, wie sie auch für den Weltordner zutreffen. 250 Zwar gebraucht Timaios für die anfängliche Umwandlung des ordnungslos Bewegten in die Ordnung nicht diesen Begriff; er hebt ihn dann aber bei der Schaffung der Seele hervor, durch die der Demiurg die Natur des Verschiedenen mit der des Selben »mit Gewalt« (bia; 35a) vereint. Für Platon jedenfalls ist die Gewalt offenbar Element jeder demiurgischen Tätigkeit, da nur durch sie das Heteronome, das von Natur Verschiedene, mit dem Autonomen, dem von Natur Selben, verbunden wird. 251 250 Zur demiurgischen Handlung: »Die Herstellung einer analogen bzw. mimetischen Ordnung im Bereich des Sinnlich-Veränderlichen muss immer einen Widerstand brechen: die platonische ausgedehnte Masse ist im Unterschied zur aristotelischen Hyle auf regellose Weise selbstbewegt. Daher besteht der Akt der Formung des Stoffes nicht in der Auswahl der Materie, die eine bestimmte Form oder Funktion bereits als Möglichkeit in sich enthält – so das Modell des Aristoteles –, sondern in einem Urakt, der Widerstände brechen muss, das heisst der den Stoff erst zu einer aristotelischen Materie verwandeln, ihn gefügig machen muss, damit er die Möglichkeit der Form zur Wirklichkeit werden lassen kann.« (Neschke-Hentschke 2000, XXVI) 251 Wo auf diese ›Gewalt des Guten‹ eingegangen wird, wird sie zumeist legitimiert. So etwa hebt Hegel das Gewaltverhältnis im »Timaios« ausdrücklich hervor, deutet es aber zugleich so, dass es als legitim erscheint: »Dies ist allerdings die Gewalt des Begriffs, der das Viele, Außereinander, idealisiert und als Ideelles setzt.« (Hegel 1969 ff., 95) Hegel erkennt darin die Gewalt der einigenden Vernunft gegen den trennenden Verstand. Während dieser nach dem Satz vom Widerspruch auf dem Unterschied zwischen Denken und Sinnlichkeit insistiere, gehe die Vernunft auf die Einheit und verbinde unter Verletzung des Widerspruchsprinzips das Getrennte zur spekulativ-dialektischen Einheit der Unterschiedenen. Hegel kann daher im »Timaios« die Grundfigur seiner eigenen Lehre entdecken (vgl. dazu: Halfwassen 1997, 193–209). Eine solche Legitimation der Gewalt ist allerdings tautologisch; denn die Gewalt, die die Vernunft ausübt, erscheint aus dem Grunde legitim, weil die Vernunft sie ausübt. Ihre Illegimität ist daher nur jenseits der tautologischen Vernunft denkbar. Kritische Untersuchungen zur »Gewalt des Begriffs« sind, soweit ich sehe, entweder zu unspezifisch oder zu speziell. Th. W. Adornos und M. Horkheimers »Dialektik der Aufklärung« oder Th. W. Adornos »Negative Dialektik« haben zwar diese Gewalt zum Zentrum; sie thematisieren jedoch all zu viel: Mythos und Logos, Ontologie und Kosmologie, Transzendental- und Identitätsphilosophie, Logik und Mathematik. M. Foucaults Analyse der Gewalt in Diskursen, die er in »Die Ordnung der Dinge« (Frankfurt/Main 1971) und »Die Archäologie des Wissens« (Frankfurt/Main 1973) dargelegt hat, bietet zweifellos einen fruchtbaren Ansatz; sie ist jedoch vor allem an Institutionen und nicht an Epistemologien ausgerichtet. Zudem ist das Feld seiner Kritik die Neuzeit. Andere
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g. Die Unterwerfung der Sinnlichkeit unter das Denken 1. Für die epistemischen Vermögen des Denkens und der Sinne bringt die »Ur-Tat« des Demiurgen, die Umwandlung des ordnungslosen Alls in das Abbild der noetischen Ordnung, auf der einen Seite die Ermächtigung des Denkens zu dem Organ, das jetzt nicht allein die Ordnung des stets Seienden erfasst, sondern auch im sinnlich Wahrgenommenen die noetische Ordnung erkennt, die der Demiurg dem Vernunftlosen aufzwingt. Hier verweist die Gewalt »auf die überlegene Macht des das Viele einigenden Einheitsprinzips« (Halfwassen 1997, 203). Für die Sinnlichkeit jedoch bedeutet diese Umwandlung ihre Unterwerfung unter das Denken und den Verlust ihrer Eigenständigkeit. Denn nach der Ordnung stiftenden Handlung des Demiurgen sind die Sinne nicht mehr die Vermögen, durch die dieses All (to pan tode) überhaupt erfasst wird und eine Untersuchung darüber stattfinden kann. Seh-, Hör- und Tastsinn verlieren – als Quellen der Heteronomie – diese epistemische Qualität; sie sind zu disziplinierten und unselbständigen Vermögen ›umfunktioniert‹, deren Rolle es jetzt ist, im Wahrgenommenen zugleich die noetische Ordnung abzubilden. Indem also das sinnlich wahrgenommene All zum Material umgewandelt wird, in dem der Demiurg nun mehr weltbildend seine Ordnung verwirklicht, wird die Sinnlichkeit als aktives zum passiven Vermögen, in das der Demiurg die noetische, nach Zahl und Maß bestimmte, Ordnung ein-bildet, und das diese Ordnung, unvollkommen und wahr-scheinlich, ab-bildet und nachahmt. 252 Im Sinne dieser Unterordnung unter das Denkvermögen schreibt Timaios im Weiteren (47a–e) denn auch der Sehkraft und dem Hören vor, dass es ihre Aufgabe nicht sei, sich am sinnlich Wahrnehmbaren zu erfreuen, sondern in ihm das Verständige, die mathematisch-geometrische Ordnung, wiederzufinden. Untersuchungen wie H. Arendts »Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart« (Frankfurt 1957), P. Kondylis’ »Der Philosoph und die Macht« (Hamburg 1992) oder A. Müllers »Theorie, Kritik oder Bildung« (Darmstadt 1975) diskutieren die Gewaltfrage kritisch nur anhand des Themas »Platon als Politiker«. So weit ich sehe, fehlen Arbeiten, die das Element der Gewalt in Platons Epistemologie weder referieren noch legitimieren, sondern das Aporetische offenlegen. 252 So auch H.-G. Gadamer: »Auf die Abbildstruktur also gründet sich die Möglichkeit, von dieser Werdewelt wirklich etwas zu wissen. Freilich kann dieses Wissen vom Werdenden nur im Sinne wahrscheinlicher Annahmen gelten (29c 8), die den Charakter der Glaubhaftigkeit haben.« (Gadamer 2001, 41) A
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2. Vergleichen wir diese Darstellung des ersten Weltanfangs abschließend mit dem alternativen Erfahrungsmodell, das Leukipp und Demokrit formuliert haben, so ist hier nicht der Raum das Dritte, das die Vereinigung der zwei epistemischen Reiche des stets Seienden und des immer Werdenden ermöglicht; und es ist nicht das »dritte Reich« der im Leeren bewegten Vollen, aus denen alles sinnlich Wahrnehmbare besteht. Im »Timaios« stellt Platon diese Vereinigung als das Verhältnis der gedachten »guten Ordnung« zum sinnlich Wahrnehmbaren als deren Abbild dar, das durch die Handlung des Weltordners geschaffen wird. Diese Vereinigung der beiden Reiche zu einem Erfahrungswissen gründet nicht in der räumlichen Anschauung, worin der epistemische Gegensatz zwischen dem Gedachten und dem sinnlich Erfahrenen, wie wir gesagt haben (174), »verschwunden« ist, sondern geschieht in der paradoxen Handlung einer »guten Gewalt«, die der ordnungslosen Welt des Sinnlichen die Ordnung und Gesetze einschreibt, durch die sie die gedachte Ordnung abbildet. War für Leukipp und Demokrit die »wahre Welt« eine Welt: das ›gesetzmäßige Spiel‹ der im Leeren ewig bewegten Atome, aus dem alles entsteht und vergeht, besteht sie für Platon aus zwei Gattungen (duo eidh; 48e): der noetischen Weltordnung als dem immer seienden Vorbild (paradeigma) und der ästhetischen Ordnung als dem werdenden Nachbild des Vorbilds (mimhma paradeigmato@). Diese Art der Logifizierung der sinnlichen Welt, die Platon im ersten Weltanfang beschreibt, hat freilich das Widersprechende, dass die Herstellung der schönen Ordnung als Abbild der guten zugleich auf der Gewalt des Demiurgen beruht, die die Sinne entmachtet, dass also, pathetisch ausgedrückt, das Reich des Nou@ zugleich auf der Schädelstätte der Aisjhsi@ errichtet ist. c.
Der zweite Anfang: die »besonnene Überredung«
Timaios nennt einen zweiten Anfang. Danach sei die Ordnung des Alls nicht, wie bisher angenommen, das Werk des »guten Demiurgen«, der das sichtbare All zum Abbild der noetischen Ordnung macht, sondern entstehe durch das Zusammenwirken zweier Ursachen: »Gemischt nämlich ist diese Ordnung entstanden, aus dem Zusammentreten der anagkh und des nou@« (48a). Dieses Zusammentreten der beiden aber gründe auf dem Sich-Fügen der anagkh »durch die besonnene Überredung« (upo peijou@ emyrono@; 48a) 248
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des nou@. Mit diesem Anfang beginnt Timaios einen neuen Diskurs, der nicht mehr das Handeln des Demiurgen zum Thema hat, sondern das Wirken des zweiten Prinzips, das auf jene Überredung gegründet ist. 253 Insofern ist erst jetzt von zwei Prinzipien die Rede, durch die das All entstanden ist, während wir, wie Timaios sagt (48e), vorher glaubten, auch ohne ein weiteres auszukommen 254 . Die Notwendigkeit zu diesem Neuanfang sieht Timaios in dem Einwand begründet, ob vom Bisherigen überhaupt mit Recht gesagt werden könne, dass der »Leib des Alls« (31b) aus den vom Demiurgen nach Zahl und Maß geschaffenen vier unterschiedlichen und unveränderlichen Arten, Feuer und Erde, Luft und Wasser, besteht. Denn die Erfahrung zeigt diese Arten niemals als unveränderliche Elemente, sondern immer im Wandel, die bald so, bald anders werden. Wasser verdichtet zu Erde, Erde verdünnt zu Luft, diese entzündet zu Feuer, Feuer verlöscht zu Luft. Wir bemerken so, dass die Arten in diesem Kreis das Entstehen an einander übergeben (49c). Folglich wird der »Leib des Alls« nicht als ein unveränderliches, nach Zahl und Maß geordnetes Ganzes erfasst, da die Erfahrung ihn vielmehr als veränderlich zeigt. Die vier Arten seien daher niemals seiend, kein »dieses« (tode), sondern immer nur ein »solches« (toiouton). Deshalb könne niemand ohne Scham mit Sicherheit behaupten, dass irgendetwas ein identisch dieses ist und nichts anderes (49d); ja, es bestehe die Gefahr, dass das bisher Gesagte nur leere Worte waren, die »überhaupt nichts« (oudamh oudamw@; 51c) bezeichnen. Da nun aber der Kreislauf der vier Arten ineinander nicht den Demiurgen als Ursache haben kann, der sie am Vorbild des stets Seienden als unveränderlich »diese« herstellt, müsse eine zweite Ursache angenommen werden, die die vier Arten in ihrem Wandel aufnimmt, und aus der sie heraustreten. Diese arch des Entstehens und Vergehens der Arten aber sei eine höchst »schwierige und dunkle Gattung« (calepon kai amudron eido@; 49a), da sie weder durch das Denken, das nur Seiendes erkennt, noch durch die Sinne, die 253 Diesen zweiten Diskurs unterscheidet H. G. Zekl vom ersten dadurch, dass das ›Zusammentreten‹ von nou@ und anagkh »nach dem dialogischen Vorbild zwischenmenschlichen Verkehrs« geschehe, während in der ersten Rede »das, was sich da nicht fügen wollte, auch ›mit Gewalt‹ angefasst wird.« (Zekl 1992, 208) 254 Wir deuten dies als Bestätigung unserer Interpretation, den ersten Anfang als Differenz von Prinzip und Nicht-Prinzip zu verstehen, da sich Timaios erst jetzt veranlasst sieht, ein zweites Prinzip anzunehmen.
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nur Werdendes wahrnehmen, zu erfassen ist. Von dieser dunklen Gattung nehmen wir an, dass sie die Ursache der Weltentstehung ist, die Timaios als »anagkh« bezeichnet. Da dieses Prinzip, das Sokrates veranlasst hatte, seine »erste Fahrt« abzubrechen (Phaidon 99a ff.), Ähnlichkeit mit Leukipps und Demokrits anagkh hat, sich Timaios’ Darstellung von ihr jedoch in gewisser Hinsicht grundlegend unterscheidet, werden wir zunächst beide Konzeptionen vergleichen, um dann der Frage nach der Art des Zusammenwirkens der anagkh und des nou@ nachzugehen. a. Die anagkh als vernunftlos wirkende Ursache Betrachtet man Timaios’ Darstellung dieser zweiten Ursache sowohl hinsichtlich dessen, was sie ist, als auch hinsichtlich ihrer Wirkung, so fällt auf, dass sie in zwei wesentlichen Aspekten mit Demokrit übereinstimmt: zum einen ist es die Bestimmung dieser »dunklen Gattung« als Raum oder Chora, zum anderen die Beschreibung ihres ›Wirkmechanismus‹ als eines »Schüttelns«. Unberücksichtigt bleibt jedoch die Lehre von den unteilbar Seienden als Atomen und folglich auch die vom Leeren, so dass die anagkh, trotz der Ähnlichkeit, im »Timaios« eine andere Rolle einnimmt als in der Atomlehre. Hinsichtlich der Bestimmbarkeit dieser Ursache des Gewordenen nimmt Timaios an, dass sie weder ist noch wird, weder durch das Denken noch durch die Sinne zu erfassen ist, sondern ein gleichsam unfassbares Unwesen sei: unsichtbar und ohne Gestalt und doch alles aufnehmend (anoraton eido@ ti kai amoryon, pandece@; 51a). Ihre Existenz könne daher nur scheinhafter Weise erschlossen 255 und in ihrer amorphen Allgestaltigkeit geschaut werden (pantodaphn men idein; 52e). Sie sei wie ein Gefäß (upodoch), das die vier Arten in ihrem Kreislauf ineinander aufnimmt und ihrem Entstehen doch einen Ort gewährt. – In dieser Hinsicht gleicht die »Chora« genannte Ursache dem, was wir in Leukipps und Demokrits Epistemologie als das »reine Anderssein« rekonstruiert haben, das weder ist noch nicht ist, das jedoch den »Boden« abgibt, auf dem das unteilbar »Volle« und das nicht-seiend »Leere« überhaupt zusammen bestehen. Was wir dort jedoch als unausgesprochene Voraussetzung der Atomistik angenommen haben, unternimmt Timaios hier, als ein
255 Vgl. dazu die erhellenden Ausführungen über den »illegitimen Logismus«: Natorp 1994, 371 ff.
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solch scheinhaftes Drittes zu umschreiben, das angenommen werden muss, ohne doch gedacht oder gesehen werden zu können. Weiterhin übernimmt Timaios von Demokrit die Theorie, nach der die im Raum anfangs entstehende Ordnung nach Art des Siebens geschieht: »gleichwie, wenn man Getreide in Sieben und vermittelst der übrigen zur Reinigung desselben dienenden Werkzeuge durchschüttelt und ausworfelt, alles was fest und schwer, und wiederum alles was locker und leicht ist, an verschiedenen Stellen zu liegen kommt.« (52e–53a) 256 Auf diese Weise sei das Ungleichartige geschüttelt worden und habe das Ungleichste sich am weitesten voneinander getrennt und das Gleichste am meisten zu demselben zusammengedrängt. Allerdings unterscheidet sich Timaios’ Beschreibung des Anfangszustands grundsätzlich von der Demokrits. Denn sie setzt keine unendliche Vielzahl von verschiedenartigen unteilbar Seienden voraus, die im Leeren ordnungslos bewegt sind, sondern nimmt einen Zustand der völligen Indifferenz an, eine Art amorphes ›Plasma‹ (ekmageion), in dem alles nur ›schwebt‹ : »da der Raum weder mit gleichen Kräften noch mit gleich starken erfüllt ist, befindet sich in ihm nichts im Gleichgewicht, sondern ist alles überall ungleichmäßig schwebend« (52e). Dieser Zustand scheint weit eher dem des Anaxagoras zu gleichen, wo anfangs »alle Dinge ungetrennt zusammen waren« (Fr. 1), bevor der Nou@ sie schied. Von der Bewegung nun, die ursprünglich die Trennung der Arten bewirkte, nimmt Timaios an, dass sie auf die Weise des Seismos, der Selbsterschütterung, geschah. Denn da nichts im Gleichgewicht war, wurde der Raum – Timaios nennt ihn hier die »Amme des Werdens« (tijhnh genesew@) – durch jene ungleichen Kräfte geschüttelt und schüttelte, einmal in Bewegung gesetzt, umgekehrt jene, so wie ein Gerät die Stöße weitergibt (52e). Nicht von außen bewegt, sondern durch sich selbst 257 trat so aus dem Zustand der Indifferenz die Siehe: Demokrit, Fr. 164; vgl. dazu: Nikolaou 1998, 197. Setzt man voraus, dass Bewegtes eines Bewegenden bedarf, dann kann die Bewegungsursache nicht die »Amme des Werdens« selbst, sondern muss ein ›erster Beweger‹ von außen sein. In diesem Sinne schreibt L. Robin: »Die ideelle Form ist folglich die Bewegerin im Hinblick auf das, was ohne jede Form ist, den Raum; die völlig unbestimmte und formlose Beweglichkeit des Raumes wird dadurch, dass sie die Form der Idee erhält, festgelegte, aber noch nicht organisierte Bewegung. Die Welt oder die Organisation wird das spätere Werk des Demiurgen sein.« (In: Wippern 1972, 272). Dieses Verständnis entspricht jedoch nicht dem Text. Denn hier wird der Anfang der Bewegung 256 257
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Trennung der Verschiedenartigen hervor. Durch den Mechanismus des Seismos kam, wie beim Sieben, Festes und Schweres, Lockeres und Leichtes an verschiedenen Stellen zu liegen, und nahm jede der vier Arten schon einen Ort ein, bevor dann der Demiurg aus ihnen das All ordnete (53a) 258 , indem er es durch Arten und Zahlen gestaltete und auf das möglichst schönste und beste zusammenfügte (53b). Diese Darstellung des zweiten Weltanfangs stimmt offenbar mit der von Demokrit nur darin überein, dass der Mechanismus der Entstehung derselbe ist, nach dem Gleiches zu Gleichem kommt und Ungleiches von Ungleichem sich trennt 259 . Aber die ›Kraft‹, die diese Art von Ordnung bewirkt – auch wenn beide sie mit demselben Wort »anagkh«bezeichnen – ist ganz verschieden. Für Demokrit ist sie die Notwendigkeit, durch die das Gesetz des Logos über das Reich der ewig bewegten Atome herrscht; für Timaios hingegen ist sie die »dunkle Gattung«, die durch sich selbst und ganz ohne Vernunft (aneu dianoih@) wirkt, indem sie die räumliche Trennung der Verschiedenartigen hervorbringt, die dann der Demiurg zum nach Arten und Zahlen geordneten Ganzen formt. Während die anagkh also bei Demokrit eine äußere Macht ist, die die Bewegung der verschiedenartigen Atome ›steuert‹, ist sie im »Timaios« ein Prinzip, das das Verschiedenartige ohne Verstand und Maß (alogw@ kai ametrw@; 53a) aus sich gebiert. 260
als ein ›interner‹, spontaner und wechselseitiger Vorgang ohne äußere Ursache beschrieben, der die Trennung der vier Arten zum Resultat hat. Dieser Kosmogonie liegt unseres Erachtens dieselbe Problemstellung wie die des Leukipp und Demokrit zugrunde: Wie ist erfahrbare Ordnung erklärbar ohne Einwirkung ›von außen‹ ? 258 J. N. Findlay betont zwar zu Recht, dass »der Raum seinen Inhalt selbst erschüttert haben und von ihm erschüttert worden sein (soll)« (Findlay 1994, 143; H. v. m.); wenn er das Resultat dann aber als das »Chaos« fasst, dem »Gott … ein Ende gesetzt und alles nach den Vorbildern der Ideen und Zahlen eingerichtet habe« (ebd.), so verfehlt er die Pointe. Denn die durch den Seismos bewirkte Trennung der vier Arten ist nicht Chaos, sondern Ordnung. 259 »Bei Demokrit ist die Rede von Atomen, die einen Wirbel bilden, wenn sie sich aus dem Leeren absondern (diakrinesjai) und sich sammeln. Durch den Wirbel bewegt sich Gleiches zu Gleichem. Bei Platon handelt es sich um ein Schütteln, weil es kein Leeres gibt und somit keine Atome aus dem Leeren zusammenströmen. Das Resultat ist das gleiche: Was sich bewegt und von einander gesondert ist, wird dahin und dorthin getragen (Tim. 52E5–6).« (Nikolaou 1998, 198) 260 Dieses Prinzip entspricht wohl der Ursache, die im »Sophistes« die »von selbst und ohne Verstand wirkende« (265c) genannt wird und sich von der unterscheidet, die »von Gott mit Vernunft und göttlichem Wissen« (ebd.) kommt. Sie hatte Sokrates veranlasst,
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b. Das Zusammenwirken der zwei Ursachen 1. Wenn wir nach dieser vergleichenden Charakterisierung der anagkh als zweiter Weltursache nach der Rolle fragen, die sie im Rahmen der Epistemologie Platons einnimmt, so kommt ihr offensichtlich die Funktion zu, zwischen der durchs Denken zu erfassenden Ordnung des stets Seienden und der durch die Sinne wahrgenommenen Ordnungslosigkeit des Alls »zu vermitteln« (Natorp 1994, 372). Fehlt, wie im ersten Anfang, eine solche Instanz, dann ist die das Seiende abbildende Ordnung auf die vermittlungslose Tat des Demiurgen gegründet, und kann die vorgefundene Ordnungslosigkeit nicht anders als mit Gewalt beendet werden. Da sich nun aber die Sinnlichkeit, wie Timaios selbstkritisch bemerkt, dieser Unterwerfung unter das Denken ›entzieht‹, weil durch die Sinne doch niemals ein »dieses« (tode), sondern immer nur ein »solches« (toiouton) vorgestellt wird, übernimmt die anagkh als zweites Prinzip die Gewähr, dass durch ihr Wirken eine Art der sichtbaren Ordnung hervorgeht, die vom Demiurgen dann nach Arten und Zahlen gestaltet wird. 261 Damit wird die anagkh einerseits als eine eigenständige Ursache eingeführt, die als die dunkle, nur scheinhafter Weise erschlossene Gattung bloß durch sich selbst und ohne Einwirkung des nou@ wirkt; die andererseits jedoch im Werdenden bereits »gewisse Spuren« (icnh atta) der vier Arten als die Bedingungen hervorbringt, unter denen das All dann als das sichtbare Abbild des Noetischen gestaltet wird. Insofern entsteht die Ordnung des Alls in der
seine »erste Fahrt« abzubrechen, weil sie, statt zum Mittel, zur einzigen Ursache gemacht wurde (Phaidon 99a ff.). Platons Kritik richtet sich unseres Erachtens nicht dagegen, dass dieses Prinzip keine Ordnung bewirke, sondern es ohne Vernunft hervorbringt. Deutet man die anagkh als ›Chaos-Produzentin‹, deren Wirkung die »wirre Verschiedenheit und reine Beweglichkeit« (Robin, in: Wippern 1972, 271) sei, so bleibt unverständlich, wie durch ihr Zusammentreten mit dem nou@ die Welt-Ordnung entstanden sein sollte. – Uns scheint jedoch auch die Reduktion dieses Prinzips auf die Kategorie des »Grundes« oder des »Substrats« zu kurz zu greifen, wie sie Th. Buchheim vorgenommen hat (Buchheim 1987, 31). Im »Timaios« wird sie zwar »die Mutter und Aufnehmerin des sichtbaren und durchaus wahrnehmbaren Gewordenen« (51a) genannt; aber so wenig wie das »MutterSein« es ausschließt, zu gebären, oder das »Amme-Sein«, zu ernähren, so wenig schließen die Aussagen über diese Gattung es aus, dass sie nicht nur als Grund und Substrat des Gewordenen gilt, sondern auch als die – wenngleich vernunftlose – Urheberin seiner Ordnung. 261 Vgl. dazu: Gadamer 2001, 63. A
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Tat aus dem Zusammenwirken der zwei Ursachen, der alogischen anagkh und des unsinnlichen nou@ 262 . Wie aber ist ein solches Zusammenwirken dieser zwei prinzipiell verschiedenen Ursachen möglich? Denn auf der einen Seite ist die eine Ursache – unreduzierbar – nicht die andere: der nou@ ist die helle und durchsichtige Ursache, die nach dem Vorbild des stets Seienden die unveränderliche Ordnung erzeugt, die anagkh hingegen die dunkle und schwierige Gattung, die im Ungestalten – vernunftund maßlos – ein Auseinander von Verschiedenen hervorbringt. Auf der anderen Seite jedoch ergänzen sich beide: die anagkh bringt den sinnlich erfahrbaren Inhalt hervor, der den Erzeugnissen des nou@ fehlt, und der nou@ schafft die bleibende Formen, die den Geburten der anagkh fehlen. Das yusei on und das tecnh on ergänzen einander und bewirken so ein bleibendes Erfahrungswissen. Wie aber ist diese Ergänzung möglich, wenn beide in epistemischer Hinsicht doch zwei ganz verschieden wirkende Ursachen sind? 2. Diese Ergänzung hat offenbar einen gemeinsamen Inhalt: die Vierzahl. Sie bildet in Timaios’ Darstellung die Klammer und das Medium, wodurch die noetische mit der erfahrbaren Ordnung verbunden ist. Denn diese Zahl bestimmt zum einen die Anzahl der Arten: Feuer, Luft, Wasser und Erde, die von der anagkh im Seismos hervorbracht werden (53a) 263 ; sie ist zum anderen die »ideale Zahl«, nach der das Seiende als das Gute erkannt wird und der Demiurg den »Leib des Alls« schafft 264 . Die zwei verschiedenen Vermögen, die gebärende anagkh und der erzeugende nou@, bringen hervor bzw. 262 Insofern haben die nicht recht, die, wie Kant, Platon vorhalten, er habe die Sinnenwelt verlassen, »weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes.« (KrV B 9). Zumindest hier hat Platon mit der anagkh dem reinen Verstand den ›Widerhalt‹ in der Sinnenwelt gegeben. 263 Dieser, in unserem Kontext wesentliche, Gesichtspunkt der Vierzahl fehlt in der Analyse des »neuen Anfangs«, die Th. Buchheim vorgelegt hat. Er interpretiert diesen Anfang nicht als Einführung einer zweiten kosmologischen Ursache, sondern als Platons Spekulation des Werdens überhaupt, eines ›ersten‹ Werdens, das »im Deutschen ›Entstehen‹ heißt« (Buchheim 1987, 23). Platon thematisiere hier das Treten ins Dasein, das Buchheim als ein So-Sein (toiouton) deutet, dem das wahrnehmungslose »›Worin‹ als der Sinn des ›So‹« (ebd., 30) zugrunde liegt. Er unterstellt, Platon habe jene dunkle und höchst unzugängliche (51b: dusalwtotaton) dritte Gattung gedacht, und daher seien die vier Elemente ihr nicht wesentlich, sondern nur Beispiele der Inblicknahme des Werdens überhaupt. 264 Zur Zusammensetzung des sichtbaren Alls aus den Gattungen zum einem vierfach Ganzen siehe: 31b–32c.
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schaffen also, scheinbar unabhängig voneinander, nach derselben Zahl, so dass die sichtbare Ordnung des Alls in diesem Zusammenwirken beider begründet ist. Diese Übereinstimmung ermöglicht es Timaios zu sagen, dass die vier Arten aus den »vier schönsten Körpern« (kallista swmata tettara) gestaltet sind: Feuer ! Tetraeder, Luft ! Oktaeder, Wasser ! Ikosaeder, Erde ! Hexaeder (53c– 56c) 265 . Die Vierzahl ist damit offenbar die entscheidende Bedingung, um sagen zu können: das nach Zahl und Maß Hergestellte ist das, woraus dieses All besteht; oder: das durch das noetische Denken erzeugte »dieses« ist das, was die alogischen Sinne selbst als ein »solches« vorstellen. 266 g. Das Geheimnis der Überredung 1. Wie aber lässt sich diese Übereinstimmung in der Vierzahl erklären? Für den nou@ ist die Erklärung einfach: wenn der »schönste Weg« zur Erkenntnis des Guten, wie beschrieben, die Vierzahl der Gattungen des Seienden ist, dann muss der Demiurg, auf das immer Seiende blickend, den »Leib des Alls« auf das Schönste aus den vier Elementen herstellen. In dieser Vierzahl haben sie den nou@ als Ur265 Dieses Begrenzte der Zahl hebt Aristoteles als einen wesentlichen Unterschied zwischen Leukipp und Platon hervor: »Leukipp denkt ebenso, wie Platon im ›Timaios‹ geschrieben hat; denn nur insofern äußert sich Platon nicht in genau der gleichen Weise wie Leukipp, als der eine die unteilbaren als feste Körper bezeichnet, der andere als Flächen, und der eine die unteilbaren festen Körper durch unendlich viele Formen, der andere hingegen durch eine begrenzte Zahl bestimmt sein lässt; denn dass sie unteilbar und durch Formen bestimmt sind, sagen beide.« (Vom Werden und Vergehen I 8, 325b 24 ff.) Während für Platon die Vierzahl das ›Symbol‹ des Guten und daher die Anzahl der Formen begrenzt ist, ist für Demokrit das ›ou mallon‹ das Prinzip, aus dem die Annahme unendlich vieler Formen folgt. Vgl. Kirk 1994, 453. 266 Dieses Zusammenhangs wegen erscheint es uns als unangemessen, in Platon den »Großvater der neuzeitlichen Naturwissenschaft« zu sehen (Böhme 1980, 81. – Vgl. auch: Weizsäcker 1977, 319–345; Gloy 1990, 651–659). Denn Platon war weder Mathematiker noch Physiker, sondern Epistemologe. Er betrieb keine Analyse oder Konstruktion der Zahlen oder Figuren und erforschte auch nicht die Natur. Sein Bestreben war, das Programm einzulösen, dass das Gute die Ursache von allem und die sichtbare Welt daher schön sei. Um diese These zu begründen, übernahm er die geometrische Theorie der »regulären Körper« – vom Mathematiker Theaitetos, wie man heute glaubt (vgl.: Nikolaou 1998, 143; Anm. 9) – sowie die Naturlehre von den vier Elementen. Dabei entstanden Aporien, die Platon ungeklärt ließ. So ist die Anzahl der regulären Körper fünf, der »schönsten Körper« jedoch vier. »Es gibt zwar noch eine fünfte Figur,« heißt am Ende ihrer Herleitung, »aber die verwendete der Gott für das All, indem er es vorschematisierte.« (55b) Wie jedoch die von Platon angenommene Kugelgestalt des Alls überhaupt polygon schematisiert werden kann, scheint ihn nicht interessiert zu haben.
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sache ihres Entstehens. – Erklärungsbedürftig aber ist die These, auch die anagkh sei Ursache der Vierzahl der Arten; die »Amme des Werdens« bringe durch Selbsterschütterung Feuer, Luft, Wasser und Erde als die vier Arten des Kreislaufs hervor, die zwar ohne Maß und Verhältnis sind, aber bereits »gewisse Spuren von sich selbst« (53b) besitzen. Wie ist dieser ›Übergang‹ vom Schwebezustand des Amorphen, den Timaios als den Anfangszustand annimmt, zu dem zahlenmäßig bestimmten Unterschied der Arten zu erklären? Wie also kommt durch die bloße Selbsterschütterung dieser »Art schweifenden Ursache« (eido@ th@ planwmenh@ aitia@; 48a) die Vierzahl in das Entstehen hinein? Die Entstehung dieser zahlenmäßigen Ordnung lässt sich jedenfalls nicht als logische Folge erklären. Denn wenn der Anfangszustand als ein indifferentes Schweben angenommen wird, dann folgt aus dem Mechanismus des Schüttelns keine zahlenmäßige Bestimmtheit des Entstandenen. Nimmt man umgekehrt jedoch an, die vier Arten seien im Anfangszustand schon vorhanden und würden durch den Vorgang des Schüttelns nur räumlich getrennt, dann kann der Anfangszustand nicht als indifferent und amorph angesehen werden. Logisch kann also die Entstehung dieser Ordnung nicht erklärt werden. Die Annahme einer Vierzahl der Arten kann aber auch nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung des Alls erklärt werden; denn die Sinne selbst zeigen keine zahlenmäßige Ordnung, sondern nur ein stetes Werden. Diese Unerklärbarkeit freilich kann nicht überraschen, ist die anagkh doch die dunkle Gattung, die weder logisch noch sinnlich erfasst werden kann. Suchen wir dennoch nach einem Grund für diese Vierzahl der Arten und schließen aus, dass Timaios schlicht Tradiertes, etwa Empedokles’ Vier-Elementen-Lehre, übernimmt, so kommt als einzig überzeugende Erklärung für das Hineinkommen dieser Zahl die These von der »besonnenen Überredung« (peijw emyrwn) in Betracht. Sie kann zugleich erläutern, was mit der Überredung der anagkh durch den nou@ gemeint ist, auf die Timaios das Zusammenwirken der beiden Ursachen gegründet sieht. Demnach ist es zwar unbegreiflich, dass die vernunftlos wirkende anagkh genau diese vier: Feuer, Luft, Wasser und Erde als Arten hervorbringt; da der nou@ jedoch diese dunkle Gattung vor allem Anfang überredete, »das meiste des Entstehenden zum Besten zu führen« (48a), und da das Beste alles Gewordenen die Vierzahl ist, bringt die anagkh unter diesem Gebot im Kreislauf von Entstehen und Vergehen die vier Arten hervor. 256
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Überredet, ahmt sie, indem sie aus sich selbst das räumliche Auseinander der vier hervorbringt, die ideale Zahl nach. Zwar ist dieser Kreislauf noch ein haltloses Werden, in dem alles sich befindet, »wenn der Gott davon noch fern ist« (53b); aber jener Seismos bewirkt in seiner zahlenmäßigen Bestimmtheit doch die Trennungen, die dem nou@ dienen, das sichtbare All »aus einem nicht so beschaffenen Zustand auf das möglichst schönste und beste … zusammen(zufügen)« (53b) 267 . Die Erklärung ist daher: aufgrund der besonnenen Überredung treten die zwei Ursachen des Gewordenen, der bestimmende nou@ und die dienende anagkh, zusammen und bewirken gemeinsam die Entstehung des Alls als »des sich selbst genügenden, höchst vollendeten Gottes« (68e). 2. Für diese Überredung gibt Timaios selbst keine Begründung. Er behauptet nur, dass das Weltganze am Anfang mittels der anagkh, unterworfen von besonnener Überredung, hervortrat (48a). Fragt man jedoch, wie diese Annahme begründet werden kann, so lässt sich die Begründung weder in einem göttlichen noch in einem menschlichen Verstand finden. Denn göttliches Wissen bedarf nicht der Annahme einer solchen Überredung; für Menschen hingegen muss es paradox und unbegreiflich bleiben, wie die Vernunft durch Vernunft Vernunftloses zu Vernunftgemäßem bestimmen können sollte. Timaios’ Annahme einer solchen anfänglichen Überredung der anagkh durch den nou@ kann daher nur auf ein Geheimnis verweisen, das nicht erklärbar ist und das sich nur den wenigen Menschen offenbart. 268 267 So auch H.-G. Gadamer: »Man muss genau darauf achten, dass Timaios nirgends den Gott für diese vor-elementaren Prozesse verantwortlich macht, sondern der Gott lässt sich die im Gröbsten vorgeordneten Elemente für die eigentliche Weltfabrikation liefern. Er hat die Ananke ›überredet‹ – offenbar dazu, dass sie ihm ein dafür geeignetes Material vorstrukturiert liefert. Auch wenn der Gott bei der gesamten mechanischen Verordnung nicht dabei ist – er weiß eben die Notwendigkeit sich dienstbar zu machen.« (Gadamer 2001, 61) 268 A. Neschke-Hentschke ist der Auffassung, dieses Geheimnis könne durchaus verständlich gemacht werden: »Überreden heißt, auf den Willen des anderen einzuwirken, also bewirken, dass er selber will, was ihm aufgetragen wird. Das setzt voraus, dass das ihm Aufgetragene in seinen Möglichkeiten liegt. Auf die Urmasse bezogen muss das lauten: da die Urmasse Ausdehnung besitzt (cwra), enthält sie per se die Möglichkeit, die geregelte Ausdehnung (megejo@) der geometrischen Formen annehmen zu können. Die Überredung des Demiurgen muss dann darauf hingehen, sie zu überzeugen, dass es ›besser‹ ist sich der Regel zu unterwerfen als ihr zuwiderzuhandeln (48 e3: ta pleista epi to beltiston agein).« (Neschke-Hentschke 2000, XXIII f.) Wird dadurch das Paradoxe dieser Überredung verständlich? Es wird nur gesagt, dass es der Urmasse möglich
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Diesen Charakter des Geheimnisses der Überredung erklären wir nun seinerseits als Folge aus jener paradoxen Klarheit und Gewissheit, die Timaios in der Vorrede darin zum Ausdruck brachte, dass alles Gewordene allein das Gute als Ursache habe. Danach drückt die These von der besonnenen Überredung als Grund des Zusammenwirkens der zwei Ursachen in besonderer Weise aus, was der Grundsatz im Allgemeinen aussagt. Hatte es Timaios im ersten Teil seiner Rede unternommen, die ordnende Kraft des Guten als demiurgische Handlung des »In-Ordnung-Bringens« darzulegen, die das sichtbare All zum Abbild des Guten macht, lässt er im zweiten Teil das Gute mittels der besonnenen Überredung des vernunftlosen Prinzips herrschen. Weil nun aber jener Grundsatz von der Herrschaft des Guten weder aus die Erfahrung gewonnen noch durch das Denken erfasst werden kann, sondern als fraglos gewiss vorausgesetzt ist; es zur Einlösung dieses Grundsatzes jedoch des Wirkens des vernunftlosen Prinzips, der anagkh, bedarf, muss um der Geltung des Satzes willen eine ursprüngliche Übereinstimmung zwischen dem nou@, dem autonomen Prinzip, und der anagkh, dem heteronomen Prinzip, postuliert werden. Diese Übereinstimmung stellt Timaios anhand des politisch-rhetorischen Modells der Überredung (peijw) vor 269. Während der »erste Anfang« die vorgefundene Unordnung gleichsam despotisch beendet und auf dieses Ende das Reich des wohlgeordnet Schönen errichtet hatte, konzipiert der »zweite Anfang« die Herrschaft des Guten nach dem gleichsam zivilen Modell der Kollaboration, die nicht auf der Gewalt gegründet ist, sondern auf der Überredung des Vernunftlosen durch die Vernunft. 270 sein müsse, die Formen anzunehmen, und einzusehen, es sei ›besser‹, zu dienen als zu opponieren. Aber woher sollte der »Urmasse« diese Einsicht kommen, wenn sie ausdrücklich ohne Einsicht (aneu dianoia@) ist? 269 Vgl. Neschke-Hentschke 2000, XXIII. 270 In seiner »Darstellung der rein rationalen Philosophie« stellt Schelling diese Herrschaft als »Rechtsvergleich« dar: »Die Wissenschaft, in der wir uns bewegen, kennt kein anderes Gesetz, als dass alle Möglichkeit sich erfülle, keine unterdrückt werde; das einzige Gelübde, das sie ablegt, ist, dass was die Ordnung der Wesen betrifft, alles vernunftmäßig zugehe; die Vernunft aber ist interesselos, gegen alles gleichgesinnt (omnibus aequa), sie will daher, dass nichts gewaltsam, nichts durch Unterdrückung geschehe. Der Widerstreit zwischen dem ersten, keineswegs schon an sich materiellen Princip, und dem höheren, dem es sich als Materie hingeben soll, ist nicht dadurch zu bereden, dass das eine schlechthin unterliegt, das andere unbedingt siegt, sondern durch einen Vergleich, wobei jedem sein Recht widerfährt. Diese Gerechtigkeit, die sich die Wissenschaft zum Gesetz macht, ist zugleich das höchste Weltgesetz.« (Schelling 1856 ff.,
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Mit dieser Erklärung des Grunds für das Zusammenwirken der zwei Ursachen erweist sich jedoch Platons Programm, das Erfahrungswissen auf das Prinzip der »guten Ordnung« zu gründen, als eine große epistemologische Tautologie. Denn um zu zeigen, wie es der »Timaios« unternimmt, dass für die menschliche Seele ein bleibendes Wissen nicht nur von dem möglich ist, was durch das Denken als stets seiend erfasst wird, sondern auch von diesem sichtbaren All, setzt Platon das, was zu zeigen wäre, schon als Tatsache voraus. Einerseits wird, um dies darlegen zu können, das eigenständige Wirken der anagkh als der »dunklen Gattung« als notwendig erachtet, damit die mathematische, nach Zahl und Maß erzeugte Ordnung keine leeren Worte sind, sondern das darstellt, »was wir sehen und sonst vermittels des Körpers wahrnehmen« (51c). Andererseits jedoch bedarf es, damit diese eigenständige Gattung eben die Bedingungen hervorbringt, unter denen diese Ordnung keine leeren Worte sind, ihrer Überredung durch den nou@. Das aber heißt: was die Bedingung für den bestimmenden nou@ ist, gründet in der Bestimmung durch den nou@. Der nou@ ist bestimmend, weil – er das Bestimmende ist. Damit aber endet das Programm in der Aporie, dass dieser Grundsatz für den Satz selbst nicht gilt. Seine Geltung entzieht sich der Vernunft; er ist als unbegreifliches Geheimnis nur einer »kleinen Gruppe von Menschen« (51e) zugänglich.
C. Der Antagonismus der epistemologischen Modelle 1. Vergleichen wir abschließend die zwei rekonstruierten Wissensbegründungsmodelle: das leukipp-demokritische und das platonische. Beiden Modellen liegt der »Satz vom Logos« zugrunde, der die Herrschaft des Einen in allem aussagt. Dieser gilt einerseits als der epistemische Grundsatz, der codiert, was überhaupt Wissen ist, und formuliert andererseits programmatisch die Regel, eine konsistente Theorie des Erfahrungswissens zu konzipieren. Beide Modelle galten uns daher nicht als Ontologien, die beschreiben, was ist, sonBd. II/1, 492) – In seinem frühen »Timaios-Kommentar« (1794) wusste Schelling mit dem Begriff der »Überredung« nichts anzufangen (siehe: H. Krings, Genesis und Materie. In: Schelling 1994, 133, Anm. 26). Auch wenn obige Darstellung der Vernunftherrschaft nicht direkt darauf Bezug nimmt, macht sie deutlich, dass er mit diesem Begriff jetzt durchaus etwas anzufangen wüßte. A
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dern als Lösungen des epistemologischen Problems, wie das epistemisch Verschiedene, das rein gedachte auton und die sinnlich erfahrenen etera, in Einem Logos-Wissen zu vereinigen sind. Das Gemeinsame der beiden Lösungen sehen wir nun darin, dass jedes Modell ein »drittes Reich« konzipiert, in das die zwei epistemischen Gebiete, das rein gedachte Seiende und das sinnlich vorgestellte Veränderliche, als Konstitutionselemente eingehen, und das sie in je besonderer Weise verbindet. Diese Verbindung haben wir die »logifizierten Vorstellungen« genannt: einmal die bewegten und verschiedenartigen Atome, aus denen alles besteht, das andere Mal die aus Einem und Vielem zusammengesetzten Zahlen und Maße, durch die alles geordnet ist. Sie unterscheiden sich dadurch von anderen Modellen: dem Umschlagen Entgegengesetzter Heraklits, der Elementenlehre des Empedokles oder dem Nous- und Homoiomerienmodell von Anaxagoras. Das »dritte Reich« des Leukipp und Demokrit besteht aus nichts als den im Leeren bewegten atoma, die durch ihre Gestalt und Größe voneinander verschieden sind. Diese Konzeption löst das Problem der Vereinbarkeit des epistemisch Verschiedenen, des rein gedachten Seienden und des sinnlich wahrgenommenen Veränderlichen, durch die Setzung des Raumes, in dem die unveränderlichen Atome ihren Ort und ihre Bewegung haben. Das, was ist und nie wird und nur durchs Denken zu erfassen ist, wird darin als eine unendliche Anzahl unteilbar und unzerstörbar Voller im Leeren angeschaut; das Veränderliche der sinnlichen Erfahrung hingegen wird durch die Bewegungen der verschiedenartig Seienden im Leeren erklärt. Dieses Reich der ewig bewegten Formen haben wir als die anschaulich-objektive Bedingung verstanden, unter der alles, was geschieht, nach dem Einen Gesetz und durch die Notwendigkeit geschieht. Nach diesem Modell besteht also Erfahrungswissen in der Erklärung des sinnlich Wahrgenommenen als ein solch objektives und gesetzmäßiges Geschehen. Das »dritte Reich« Platons haben wir in zwei Etappen rekonstruiert: ausgehend von dem Einwand, dass in der Schau das Reich der unwandelbaren Ideen, an denen die sinnlichen Dinge teilhaben, zwar in seinem Ansichsein erkannt wird, aber nicht die ordnende Kraft des Guten, haben wir zunächst das noetische Denken als Erkenntnisweise dieser ordnenden Kraft dargestellt. Wir sind dann den zwei »Weltanfängen« nachgegangen, in denen einmal der Demiurg durch die Zahlen und Maße die sinnliche Welt als Abbild der »noetischen Ordnung« schafft, zum anderen das Zusammenwirken von nou@ und 260
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anagkh die Ordnung des Alls bewirkt. Hier ist das Problem der Vereinbarkeit des gedachten Seienden und des sinnlich Werdenden durch das Wirken des Noetischen gelöst, durch die die Erfahrungswelt als Abbild der guten Ordnung erkannt wird. 2. Die wesentliche Differenz zwischen diesen beiden Modelle besteht offenbar in der Weise, wie der »Satz vom Logos« ›operationalisiert‹ wird. Im ersten Modell wird das dritte, Seiendes und Veränderliches verbindende, Reich in der Setzung des Raumes als des rein ›Anderen des Denkens‹ konstituiert, das die gesetzgebende Herrschaft des Logos ermöglicht. Alles sinnliche Eigensein und Qualitative ist hier in der Form der Anschauung ewig bewegter Objekte verschwunden, und dadurch alles, was geschieht, dem Logos-Gesetz und der Kraft der Notwendigkeit unterworfen. Im platonischen Modell hingegen ist das dritte Reich durch die produktive Kraft des Noetischen konstituiert, die nach dem Gesetz des stets Seienden das Eine und das Viele verbindet und das sinnliche All nach Zahlen und Maßen ordnet. Während also nach dem einen Modell das Erfahrungswissen auf die Anschauung des sinnlich Vielfältigen als einer gesetzmäßigen Anordnung räumlich bewegter Objekte gegründet ist, ist nach dem anderen Modell die ordnende Vernunft der Grund des Erfahrungswissens, das daher in der Erkenntnis des Guten in allem besteht. Leukipp und Demokrit haben Wissen als Erkenntnis der gesetzmäßigen Notwendigkeit in allem und jedem konzipiert, Platon hingegen als Erkenntnis der nach Maßen und Zahlen gestalteten Ordnung des Ganzen. Nach jenem Wissensmodell bestehen die Wissenschaften als ein offenes System von ›rationalen Erklärungen‹, die die Gesetzmäßigkeit der Vorgänge erforschen; nach diesem Modell hingegen bilden sie ein geordnetes und geschlossenes System ›rationaler Begründungen‹, die in jedem das Gute als dessen Ursache suchen. Für unsere Rekonstruktion des gesamten ›Projekts Autonomie‹ ist nun die Annahme entscheidend, dass diese beiden Modelle nicht nur zwei verschiedene Konzeptionen auf gemeinsamer Grundlage darstellen, sondern dass sie in epistemologischer Hinsicht einander ausschließen. Jedes Modell schließt, weil es dasselbe Programm auf seine Art vollständig einlöst, durch die Art der Lösung das andere aus. Diese Einlösung ist vollständig, weil jedes dem sinnlich Wahrnehmbaren konsequent ein rein gedachtes Prinzip – und kein wahrnehmbares »Element« – zugrunde legt: die ewigen und unteilbar Seienden als ›Bausteine‹ oder ›Buchstaben‹, aus denen alles WahrA
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nehmbare besteht, bzw. die rein noetische Ordnung, deren Abbild das erfahrbare All ist. Daher muss, wenn das Programm der Herrschaft des autonom Einen nur dann verwirklicht ist, wenn alles, was geschieht, als ein objektives und gesetzmäßiges Geschehen erklärt wird, die Annahme eines inneren Grundes des Geschehens aus dem Bereich der Wissenschaft ausgeschlossen werden; sie kann nur als ein Irrtum beurteilt werden, der menschliches Meinen mit der Wahrheit verwechselt. Und umgekehrt muss, wenn dieses Programm nur dann realisiert ist, wenn in allem, was ist und geschieht, dessen innerer Grund erkannt ist, die Annahme einer bloßen Gesetzmäßigkeit aus dem Bereich der Wissenschaft ausgeschlossen werden; sie kann gleichfalls nur als Irrtum beurteilt werden, der die Wahrheit verkennt. Dieser Antagonismus der beiden Verfahren, den »Satz vom Logos« zu operationalisieren, schließt nun aber die Übereinstimmung darüber aus, wie das Eine herrscht: durch die Kraft der gesetzmäßigen Notwendigkeit, die über das Reich der ewig bewegten Atome regiert, und die man dann »den Verstand« genannt hat; oder durch die Kraft des ordnenden Prinzips, die alles zum möglichst Besten führt, und die man dann »die Vernunft« genannt hat. Denn jeder Versuch der Übereinstimmung setzt das eine Urteil über die Art der Herrschaft voraus, und schließt damit das andere aus. Im einen Fall ist diese Voraussetzung die »rechte Weltanschauung« als »voller« und »leerer« Raum, die wir als die Bedingung für jene Art der Logos-Herrschaft rekonstruiert haben; im anderen Fall ist sie die dem Philosophen eignende Gewissheit, dass der ordnende Nous in allem die Ursache sei. Ob das Eine daher nach Art der ›unerbittlichen‹ anagkh herrscht, wie Leukipp und Demokrit behauptet haben, oder nach Art des ›wohlordnenden‹ nou@, wie Platon behauptet hat, – diese Frage ist innerhalb des ›Projekts Autonomie‹ unentscheidbar und muss ohne Antwort bleiben. Mit den Mitteln der Vernunft ist über das Mittel der Vernunft nicht zu entscheiden 271 . Eine Lösung dieses epistemolo271 Diese Konfliktlage zeigen insbesondere Platons »Nomoi«. Auch wenn Leukipp oder Demokrit dort nicht genannt werden, sondern Platon sich allgemein gegen die wendet, die sagen, dass »dies alles nicht mit Vernunft, noch geleitet durch irgendeine Gottheit oder auf dem Wege der Kunst, sondern … lediglich ein Werk der Natur und des blinden Zufalls« (889c) sei, so ist doch anzunehmen, dass sie vor allem gemeint sind (vgl.: Nikolaou 1998, 201). Da Platon überzeugt ist, dass »die Vernunft des Seienden in den Gestirnen wohne« (967e), folgt für ihn, dass die Auseinandersetzung mit den dauerhaften Leugnern dieser Vernunft letztlich mit den Mitteln der Gewalt geführt werden
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gischen Antagonismus konnte deshalb nur außerhalb dieses Projekts gefunden werden. Das Ende des »Projekts Autonomie« Diesen mit den eigenen Mitteln unlösbaren Konflikt über das, was Wissen ist, beendet Aristoteles, indem er das ›Projekt Autonomie‹ überhaupt beendet. Es begann, als für die ersten Philosophen Wissen nicht mehr als erzählende Repräsentation eines schlicht vorhandenen epistemischen Codes galt, und sie den Satz zum Repräsentanten des Wissens machten. Mit diesem ›Satz geben‹ wurde das autonome Subjekt zur Begründungsinstanz von Wissen erhoben. Der Projektcharakter dieses neuen Diskurses bestand nun in der Einlösung dieser Idee der Autonomie als epistemologischen Prinzips. An die Stelle des heteronomen Wirkens einer Vielfalt mythischer Mächte sollte die Selbstgesetzgebung des Einen in allem treten. Die Einlösung dieses Prinzips, erst durch Parmenides’ Trennung des rein gedachten Wahren vom bloß sinnlichen Meinen, dann Heraklits’ Vereinigung von Denken und Erfahrung, führte jedoch in die Aporie des epistemologischen Antagonismus: zwischen der anagkh als der Kraft, durch die alles nach dem einen Gesetz geschieht, und dem nou@ als dem alles ordnenden Prinzip. Ob daher die Idee der Autonomie in der gesetzmäßen Verbindung und Trennung ewig bewegter Atome oder in der Schönheit des Kosmos als Abbild des Guten zu finden ist, ist mit den Mitteln dieses Projekts nicht auszumachen. Aristoteles schloss dieses Projekt ab; nicht indem er den Antagonismus auflöste, sondern indem er die epistemologische Frage des Projekts, wie das Autonomieprinzip in allem herrscht, als je schon gelöst behauptete. Für ihn formuliert der »Satz vom Logos« kein könne und müsse (907d ff.). – Bedauerlich ist, dass uns zum Nachvollzug des Umgekehrten, der leukipp-demokritischen Kritik am Nousmodell, das Textmaterial fehlt und wir nur auf Vermutungen angewiesen sind. (z. B. Kirk 1994, 442: »Der Inhalt dieses Fragments [Leukipps »Peri nou«] … könnte Teil einer Attacke auf die Konzeption des Geistes bei Anaxagoras gewesen sein.«) Sieht man von der eher literarischen Wirkung von Lukrez’ Werk »de rerum natura« und von dem »Häretiker« Nikolaus von Autrecourt ab, der die 1346 von Papst Clemens VI. verurteilten Thesen vertrat, die Welt sei ewig und in der Natur gebe es nichts als die Trennung und Verbindung der Atome, begann eine originäre Kritik am Nousmodell erst in der Spätrenaissance mit F. Bacons und P. Gassendis Wiederanknüpfung an die antike Atomlehre. – Siehe: Lange 1974, Bd. I., 235 ff. A
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Programm mehr, das einzulösen wäre, sondern besitzt den Status der Evidenz. Er beschreibt eine schlicht vorhandene Tatsache. Dieser Ausgangslage entsprechend haben für Aristoteles die Annahmen, dass der sichtbare Kosmos göttlich (Metaphysik 1074b 1–14), dass »alles auf das Eine hingeordnet ist« (1075a 18), keinen programmatischen Status mehr, sondern sind Aussagen, die sowohl die erfahrbare Ordnung beschreiben als auch mit den Mitteln der Logik beweisbar sind. Sie formulieren nichts Außergewöhnliches, zu dessen Einsicht nur wenige fähig wären, sondern Vorhandenes, das daher von allen mittels Wahrnehmung und Denken eingesehen werden kann 272 . Aristoteles kann deshalb auch den polemischen Urteilen seiner Vorgänger gegen die Sinnlichkeit als eines heteronomen, irrenden, eigenmächtigen, a-logischen Vermögens ebenso wenig abgewinnen wie der Grundannahme einer absoluten Differenz zwischen dem ewig Seienden, das niemals wird, und dem sinnlich Veränderlichen, das niemals ist. Die Aussagen der Vorgänger über ein solches ›Gegen-Prinzip‹ des Logischen erscheinen ihm als ein unverständiges Gerede, das sowohl der Erfahrung als auch der Logik widerspricht273 . Ja, sie gelten ihm nicht nur als haltlose Sätze, sondern als gottlose Vgl. dazu: Gigon 1972, 60 f. Durch Aristoteles’ Rede von den verschiedenen Arten des Seienden ist der Blick auf das voraristotelische Problem der Wissensbegründung verstellt worden. Was wir sowohl bei Demokrit als auch bei Platon als ein »drittes Reich« rekonstruiert haben, in dem das sinnlich Gegebene allererst logifiziert wird, muss nach Aristoteles als ein fremdartiges und unerklärliches Prinzip erscheinen. In diesem Sinne deuten wir J. Derridas Ausführungen über Platons Chora, die er zu Recht nicht als Vorläuferin der aristotelischen Hyle oder gar der cartesischen Ausdehnung deutet: »Chora resists all these interpretations. What interests me is that since chora is irreducible to the two positions, the sensible and the intelligible, which have dominated the entire tradition of Western thought, it is irreducible to all the values to which we are accustomed – values of origin, anthropomorphism and so on … it is something which disrupts this tradition from within … Many have thought that it is a foreign element entering Plato’s texts from the early materialists. I thought it was a foreign graft within Plato’s text. But how is a graft possible, anyway? … One would be to say that it’s neither sensible nor insensible, but both. It is a participation of the two. We have no language that can ever struggle to describe this thing, because, as soon as we describe it, we project anachronically into it … You may think of negative theology, but this would be wrong. It is nothing sacral or theological – it’s a space. It is a space that cannot be represented, so it is a challenge to anything solid«. (Derrida 1997, 10 ff.) Platons Chora erscheint Derrida als ein »fremder Pfropfen« in dessen Text. Wir haben sie als das in der Tat unbeschreibbare »Gegen-Prinzip« des Logischen erklärt, das »durch besonnene Überredung« die Verbindbarkeit des Sensiblen mit dem Intelligiblen in Einem Wissen und damit »the entire tradition of Western thought« erst ermöglicht hat. 272 273
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Äußerungen, die wider alle Vernunft die Alleinherrschaft des Vernünftigen zu bestreiten scheinen. 274 Da Aristoteles von dem Grundsatz schon ausgeht, dass es nur Seiendes gibt 275 , und daher alles sinnlich Wahrnehmbare auch denkbar und das ›richtig‹ Gedachte auch erfahrbar ist, zielen seine Bemühungen nicht mehr darauf ab, das Prinzip der Autonomie gegenüber anderen Wissensarten epistemologisch zu begründen und diese als bloße doxai von der episthmh zu trennen. Mit ihm beginnt ein anderer Diskurs: die Untersuchung der vorhandenen »Sache«, sowohl hinsichtlich ihrer Arten zu sein, als auch hinsichtlich der Weisen, in denen über sie geredet wird. Dieser Diskurs ermäßigt die Polemik des ›entweder-oder‹ zum umsichtigen »sowohl-als auch«. Mit ihm tritt an die Stelle der Begründung von Wissen die sich selbst genügende Wissenschaft.
274 Aristoteles übt schon in seinem frühen Werk »Über Philosophie« Kritik auch an Platons Demiurgen. So überliefert Cicero (Academica priora II, 119): »… die Welt ist auch nicht geworden, weil ein so herrliches Werk nicht auf Grund eines neu gefassten Entschlusses seinen Anfang genommen haben kann, und sie ist nach allen Seiten so vollkommen, dass keine Kraft so starke Bewegungen und eine solche Veränderung bewirken, kein Alter in der Länge der Zeiten zustande kommen kann, wodurch jemals der Zerfall oder der Untergang dieses Weltenbaus herbeigeführt werden könnte.« Aristoteles wendet sich daher nicht nur gegen Demokrits Theorie der Entstehung der Welt aus einem ›Wirbel‹ (Physik 196a 24 ff.), sondern gegen jede Theorie ihrer Entstehung. 275 Den ›Umschlag‹ markiert der Begriff der ulh: die Verwandlung des nicht Seienden in das der Möglichkeit nach Seiende. Von ihm sagt P. Natorp zutreffend, er sei »die Rumpelkammer, in die dieser ordnungsliebende Geist die störenden Probleme abschob, die er nicht zu erledigen wusste.« (Natorp 1994, 404).
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II Die römische Autorität
Im vorhergehenden Teil haben wir die Genese der griechischen Philosophie anhand des Autonomiebegriffs dargestellt. Dieser Begriff diente dazu, sie als gemeinsames Projekt einer folgenreichen epistemischen Neucodierung zu rekonstruieren. Im Folgenden soll der römischen Wissensart nachgegangen werden, die wir als die zweite Quelle des europäischen Denkens betrachten. Wir unterstellen dabei, dass dessen römisches Erbe sich nicht auf die Vermittlung und Tradierung schon vorhandener epistemischer Inhalte beschränkt, sondern dass es auch in der Übernahme einer spezifisch römischen Wissensstruktur besteht, die den Inhalten die Form der Dauerhaftigkeit und traditionsbildenden Beständigkeit gegeben hat. Hatte die griechische Epistemologie sich in Brüchen, Neuanfängen und Überbietungen vollzogen und als ein strukturell antagonistischer und kritischer Diskurs etabliert, so zeichnet die römische Epistemologie sich ihr gegenüber durch eine Stabilität und Kontinuität des Diskurses aus, die, so nehmen wir an, durch den spezifisch römischen Begriff der Autorität beschreibbar wird. Dieser bezeichnet – in dem von uns einleitend beschriebenen Sinne – als »auctoritas« ein personales Verhältnis der Urheberschaft, welches die Beständigkeit des römischen Denkens begründet. In methodischer Hinsicht ist es für unsere Rekonstruktion der römischen Autorität von grundlegender Bedeutung, dass die auctoritas, ihrer Personalität wegen, im römischen Denken keine Idee und keinen Begriff bezeichnet, der für sich Bedeutung hätte, sondern eine Eigenschaft, die untrennbar mit den Personen verbunden ist, die sie haben. Von »Autorität« zu reden, ohne sie auf die Person zu beziehen, die sie hat, entspräche, so gesehen, der Denkungsart der Griechen, nicht aber der römischen. Wir verfahren daher im Folgenden so, dass zuerst, als Hinführung zur Thematik, drei verschiedene Weisen angeführt werden, in denen der Gebrauch des Ausdruck »auctoritas« überliefert ist, und nach den Personen gefragt wird, denen er zukommt. Daraufhin werden in kritischer Absicht zwei Erklärungsmuster vorgestellt. Der Hauptteil schließlich unternimmt die ReA
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Die römische Autorität
konstruktion der auctoritas maiorum, die uns als der Schlüssel zum Verständnis dessen gilt, was im römischen Denken Autorität bedeutet. Dabei werden wir uns vor allem auf Aussagen von Cicero beziehen, den wir allerdings nicht als eigenständigen Denker in den Blick nehmen, sondern nur insofern, als er das Verständnis der auctoritas maiorum erschließt.
I.
Die Gebrauchsweisen von »Auctoritas«
»Auctoritas« ist von den Römern in späterer Zeit in den verschiedensten Kontexten gebraucht worden. Wenn wir allerdings nach dem ursprünglichen, spezifisch römischen Bedeutungsgehalt des Wortes fragen, so ist er offenbar zunächst nur in drei, jeweils fest umrissenen Bereichen gebraucht worden: als Begriff des Zivilrechts, der die Verbindlichkeit von Rechtsgeschäften beschreibt; im Verfassungsrecht, in dem er die Art des Senatsbeschlusses bezeichnet; und als eine Eigenschaft, die gewissen Personen eignet bzw. zugesprochen wird. Das Referat dieser drei Verwendungsweisen wollen wir im Folgenden mit der Frage nach dem »Träger« verbinden, dem im jeweiligen Fall die »auctoritas« zugesprochen wurde, beziehungsweise der über diese Eigenschaft verfügte.
A. Die zivilrechtliche »Auctoritas mancipationis« Der älteste und für uns wohl auch am schwierigsten zu deutende Gebrauch des Worts »auctoritas« ist der zivilrechtliche. Im Zwölftafelgesetz von 450 v. Chr. bezeichnet »auctor« diejenige Person, die der Besitzübertragung einer Sache, der sog. Mancipation, ihre Zustimmung geben musste. Mit ihr übernahm der auctor die Gewähr, dass kein Dritter rechtmäßige Besitzansprüche auf die Sache anmeldet, und haftete im Falle des Gegenteils vor Gericht 1 . Wie es scheint, brauchte diese Zustimmung weder mündlich noch schriftlich gegeben werden, sondern konnte auch aufgrund der bloßen Anwesenheit des auctors erfolgen. Wenn wir nach dem »Träger« fragen, dem diese gesetzliche Zu1
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Siehe: Kaser 1971, 45 f.; Heinze 1972, 44 f.; Miethke 1980, 18.
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Die Gebrauchsweisen von »Auctoritas«
stimmungspflicht bei der Besitzübertragung zukam, so erscheint es zunächst als naheliegend, den auctor mit der juristischen Person des »Eigentümers« zu identifizieren. Der Eigentümer, so ließe sich sagen, musste der Besitzübertragung zustimmen, weil sie ohne dessen Zustimmung nicht rechtskräftig geworden wäre. 2 Doch diese Erklärung ist unbefriedigend; denn wenn wir annehmen, der zustimmungspflichtige auctor wäre zugleich der Eigentümer der übertragenen Sache gewesen, dann wird nicht einsichtig, warum er mit seiner Zustimmung zugleich die Haftung vor Gericht gegenüber möglichen Ansprüchen Dritter übernommen hat. Der Zusammenhang von Zustimmung und Haftung – und damit die Rolle des auctors bei der Besitzübertragung – wird nur dann einsichtig, wenn wir annehmen, dass es offenbar ungeklärt oder unklar war, wem der Eigentumstitel an der übertragenen Sache zukam, und dass der auctor dieser Rechtsunsicherheit wegen für die Rechtmäßigkeit der Besitzübertragung haftete 3. Gehen wir von dieser Deutung aus, so können wir zunächst nur sagen, dass der zustimmungspflichtige auctor eine Person eigenen Rechts war, von deren Zustimmung eine bindende Wirkung auf das Rechtsgeschäft ausging, dass diese bindende Wirkung aber nicht auf der zivilrechtlichen Funktion des Eigentümers beruhte. Belassen wir es vorläufig bei dieser unzureichenden Erklärung der zivilrechtlichen auctoritas und fragen stattdessen allgemein nach den Trägern des zivilen Rechts, so weisen die einschlägigen Texte darauf hin, dass, zumindest in der Zeit der römischen Republik, Personen eigenen Rechts nur die patres familias waren 4 . Nur sie waren Personen sui juris und, so können wir folgern, durch das Zwölftafelgesetz verpflichtet, Besitzübertragungen ihre Zustimmung zu geben und dadurch für deren Rechtmäßigkeit zu bürgen. Hinsichtlich des zivilrechtlichen Gebrauchs können wir also fürs erste festhalten, dass mit »auctoritas« eine gewisse Fähigkeit bezeichnet wurde, die sich erstens als Zustimmung zu einer Besitzübertragung äußerte, von der zweitens die beschriebene bindende Wirkung
Siehe: Heinze 1972, 18. So H. Rabe: »Noch die großen Lexika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa Ersch-Gruber oder Pierer, sprechen ausführlich von der auctoritas als der Gewährleistung des Verkäufers für den Fall, dass der verkaufte Gegenstand von einem Dritten, etwa dem Eigentümer, herausverlangt wird« (Rabe 1972, 7). 4 Vgl. Th. Mommsens eindrucksvolle Schilderung der altrömischen Familie in: Mommsen 1856, 53–59; auch Fueyo 1968, 215. 2 3
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auf zivile Rechtsgeschäfte ausging, und die drittens, zunächst ausschließlich, den patres familias zukam.
B.
Die staatsrechtliche »Auctoritas senatus«
Für uns greifbarer und auch geläufiger ist der Gebrauch des Ausdrucks im Rahmen der römischen Staatsverfassung. »Auctoritas« bezeichnet hier die eigentümliche Rolle, die der Senat im Verhältnis zu den anderen Institutionen des römischen Staates innehatte. Während, wie Cicero dies Verhältnis klassisch formuliert hat (de re publica, II, 57), »libertas« das Recht des römischen Volkes bezeichnete, an den Gesetzgebungsversammlungen teilzunehmen und den Magistrat zu wählen, und die »potestas« das Recht des römischen Magistrats, Beschlüsse zu fassen und Amtshandlungen durchzuführen, bezeichnete »auctoritas« das Recht des römischen Senats, vom Magistrat befragt zu werden und einen diesbezüglichen Beschluss zu fassen sowie die Volksbeschlüsse zu bestätigen. Die verfassungsrechtliche Besonderheit der sog. »auctoritas senatus« war nun, dass die Beschlüsse des Senats für den Magistrat auf der einen Seite keine rechtliche Bindung hatten: der Beschluss, das senatus consultum, war keine Anordnung, sondern ein »Rat«: »Wenn es den Beamten richtig erscheint, dies zu tun« (si eis videatur) – war die Schlussformel des Senatsbeschlusses 5. Die Folge dieser verfassungsrechtlichen Konstruktion war, dass der römische Magistrat seine Amtsgewalt rechtlich uneingeschränkt ausüben konnte, und der römische Senat für die Handlungen oder Unterlassungen des Magistrats rechtlich nicht verantwortlich war. Auf der anderen Seite ist trotz der verfassungsrechtlich machtlosen Stellung des Senats bis in die Spätzeit der römischen Republik anscheinend keine Amtshandlung gegen ein diesbezügliches senatus consultum ausgeführt worden 6 ; das heißt, es hat keine Amtshandlung gegeben, die nicht »in auctoritate senatus« stand. Nicht zuletzt aus diesem Tatbestand haben die Rechtshistoriker »Wenn er [der Senat] dieses oder jenes zu tun riet, fügte er die Klausel hinzu, ›wenn es ihnen richtig erscheint, es zu tun‹.« (Adcock 1961, 33) – siehe auch: Meyer 1975, 205. 6 »Eine vom Gesamtwillen der Aristokratie unabhängige Magistratur fand in dem aristokratisch geführten Gemeinwesen keinen Platz.« (Graeber 2001, 158) – siehe auch: Biscardi 1987, 9: »Gli antichi autori ci attestano concordemente che la validità degli atti comiziali nel diritto pubblico romano era in origine subordinata all’auctoritas patrum 5
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– soweit ich sehe – übereinstimmend den Schluss gezogen, dass im römischen Staat der Senat, trotz beziehungsweise wegen seiner verfassungsrechtlichen Machtlosigkeit, gegenüber den beiden anderen Institutionen die politisch maßgebende Institution war 7, und dass im römischen Staatsdenken die auctoritas senatus der »politische Zentralbegriff« (Eschenburg 1965, 12) war. – Auch über die Wirkungsart der auctoritas senatus besteht unter Historikern offenbar Übereinstimmung: sie wirkte nicht mittels Sanktionsandrohungen als Befehl, dem zu gehorchen wäre, sondern aufgrund einer zwanglosen Anerkennung des Senatsbeschlusses durch den Magistrat und das Volk. Die Senatsbeschlüsse erreichten ihre politisch bindende Wirkung nicht durch Zwang, sondern als eine Art von Ratschlag, »dessen Befolgung«, wie Th. Mommsen ihn umschreibt, »man sich füglich nicht entziehen kann« (1889, Bd. 3/2, 1028). Während also dem Magistrat zwar die verfassungsrechtlich gesicherte staatliche Gewalt zukam, und den zwei Konsuln die höchste Gewalt, war dennoch der Senat die politisch maßgebende Institution im römischen Staat. Fragen wir auch hier nach den »Trägern« der auctoritas senatus, so waren es in diesem Falle offenbar ebenfalls die patres familias. Da Mitglied des römischen Senats nur werden konnte, wer zwar die Ämterbahn durchlaufen hatte, aber keine Amtsgewalt mehr besaß; und da die Ämter anfangs den Patriziern vorbehalten war, waren in der früheren Zeit die römischen Senatoren die patres familias. Auf diese Trägerschaft weist ferner hin, dass im römischen Sprachgebrauch die Ausdrücke »auctoritas senatus« und »auctoritas patrum« in verfassungsrechtlicher Hinsicht in gleicher Weise verwendet wurden und dasselbe bezeichneten: den Beschluss des Senats 8. Diese Belegquellen erlauben sinnvoll nur den Schluss, dass der römische Senat, in seiner ältesten Form, die »Versammlung der Väter« war, und dass die verespressione con la quale essi intendono manifestamente alludere ad un’approvazione o ratifica del senato.« 7 Th. Mommsen nennt es den »Grundgedanken des römischen Staates für alle Zeiten«: »… trotz der wandelnden Formen steht es fest, solange es eine römische Geschichte gibt, dass der Beamte befiehlt, dass der Rat der Alten die höchste Autorität im Staate ist, und jede Ausnahmebestimmung der Sanktionierung des Souveräns bedarf, das heißt der Volksgemeinde.« (zit. nach: Christ 1983, 42.) – Siehe auch Meyer 1975, 210: »… Und wenn der Senat auch im rechtlichen Sinne nicht regierte, sondern nur die regierenden Beamten beriet, tatsächlich darf man doch den Senat als die eigentliche Regierung Roms bezeichnen.« 8 siehe: Livius 1980, XXXII 31, 6; XXXIV 56, 4; XLV 1, 8; XXII 14, 11. A
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fassungsrechtliche – wie schon die zivilrechtliche – auctoritas von den patres familias ausgeübt wurde. Hinsichtlich des staatsrechtlichen Gebrauchs können wir also zusammenfassen: »auctoritas« bezeichnet die Fähigkeit eines staatlichen Organs, des Senats, erstens durch seine Beschlüsse bindend auf die anderen Organe, den Magistrat und das Volk, zu wirken, diese Bindung zweitens durch die zwanglose Anerkennung der Beschlüsse zu erreichen, und drittens als Träger die patres familias zu haben, denen diese Fähigkeit zukam.
C. Die individuelle »Auctoritas patris« Über die beiden jurifizierten Bereiche hinaus ist das Wort auch in einem allgemeinen Sinn gebraucht worden. Hier bezeichnet »auctoritas« eine kontextunabhängige Fähigkeit von gewissen Personen, die sich auf alle Bereiche des sozialen und öffentlichen Lebens erstreckte. Um diesen Wortgebrauch zu erhellen, sollen drei Zitate von Cicero angeführt werden, die drei verschiedene Aspekte dieser individuellen auctoritas beschreiben: die Wirkungsweise, das Wirkungsfeld sowie ihren ethischen Wert. Cicero berichtet von Cato, er habe über Paulus, Scipio und Maximus gesagt: »… quorum non in sententia solum, sed etiam in nutu residebat auctoritas.« 9 Auch wenn wir berücksichtigen, dass Ciceros Rückblicke auf die altrömische Republik im Allgemeinen keine bloß historischen Berichte gaben, sondern auch die ideologische Funktion ihrer Verklärung hatten, so können wir dieses Zitat doch als eine Aussage interpretieren, in der sich eine spezifisch römische Auffassung von der Wirkungsart der individuellen auctoritas ausdrückt. Danach war ihre Wirksamkeit nicht notwendig an die Sprache gebunden, und äußerte die auctoritas sich nicht allein in mündlicher oder schriftlicher Form, sondern konnte sich auch – vielleicht wirkungsvoller – durch einfache Gesten ihrer Träger mitteilen. Dies aber bedeutet, dass die in späterer Zeit vorherrschende Verbindung der Cicero, Cato Maior de senectute, 61 (2001, 42). – Siehe auch Ciceros Aussage (Pro M. Fonteio, 24), M. Aemilius Scaurus habe »mit einem Wink fast den ganzen Erdkreis regiert.« (… nutu prope terrarum orbis regebatur.) – Auf die etymologische Verbindung von »numen« mit »nuere« (nicken) weist Mommsen 1889, 73 ff. hin; auch: Arendt 1957, 155.
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Die Gebrauchsweisen von »Auctoritas«
auctoritas mit in Rede- oder Textform dargestellten Aussagen anfangs als nicht wesentlich angesehen worden ist; die auctoritas konnte auch mittels einfacher non-verbaler Zeichen wirken. Das zweite Zitat zeichnet ein Bild von dem umfassenden Bereich, auf dem die individuelle auctoritas wirksam wurde. In »de oratore« lässt Cicero Crassus berichten: »Wir haben auch M’. Manilius gesehen, wie er quer über das Forum ging; das war das Zeichen, dass einer sich allen Bürgern zur Verfügung stellte, um einen Rat zu erteilen; und diese Leute wurden einst auf dem Forum oder zu Hause so angegangen, dass man sie nicht nur in juristischen Dingen befragte, sondern auch über die Verheiratung der Tochter, den Kauf eines Grundstücks, die Bestellung des Ackers, kurz über Tätigkeiten und Geschäfte jeder Art« (de oratore, III 133). Nach dieser Darstellung des Wirkungskreises, auf den die auctoritas sich erstreckte, umfasste sie offenbar, über die zivile und staatliche Rechtssphäre hinaus, alle Bereiche des sozialen Lebens der Römer. Die Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen können, ist, dass der Wirksamkeit der auctoritas ursprünglich keine Grenze zwischen einem öffentlichen und einem privaten Bereich gezogen war, dass durch ihr Wirken vielmehr eine mögliche Grenzziehung verhindert wurde. Das dritte Zitat schließlich gibt ein Urteil über den Besitz von auctoritas als ethisches Gut. Im Rahmen einer abwägenden Diskussion ethischer Werte, in der er durchaus seine Trauer über den Verlust der Lebensfreuden der Jugend zu erkennen gibt, stellt Ciceros Cato abschließend fest: »apex est autem senectutis auctoritas« 10 . Interpretieren wir dieses Zitat als eine, Cato in den Mund gelegte, Aussage von Cicero über das »Römer-Sein« – und sehen darin keine Übernahme griechisch-stoischer Grundsätze 11 –, so drängt sich hier die Parallele zwischen Politik und Ethik auf: so wie die auctoritas senatus als die politisch maßgebende Instanz im Verfassungsrahmen des römischen Staates galt, so bildete für den Römer die auctoritas den Cicero, Cato Maior de senectute, 60 (2001, 41 f.) – Vgl. auch: ebd., 61 (42): »Man besitzt im Alter, zumal wenn man ehrenvolle Ämter bekleidet hat, ein Ansehen, das mehr wert ist als alle Sinnenfreuden der Jugend.« (Habet senectus, honorata praesertim, tantam auctoritatem, ut ea pluris sit quam omnes adulescentiae voluptates.) 11 »In den griechischen Ausführungen und Schriften peri gerw@, die man, um Ciceros ›Quellen‹ festzustellen, eifrig durchsucht hat, findet sich nichts dergleichen; für das Verständnis Ciceros aber und aus ihm für das Verständnis des Römertums sind gerade die Äußerungen in seinen philosophischen Schriften die wichtigsten, zu denen sich keine griechischen Parallelen beibringen lassen.« (Heinze 1972, 53) 10
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letzten und höchsten Wert, und der Besitz dieses Gutes galt ihm als sein Lebensziel. Auch hier, im Falle der individuellen auctoritas, kommen als »Träger« anfangs nur die patres familias in Betracht. Zwar geben uns die angeführten Cicero-Zitate über die Trägerschaft keine eindeutige Auskunft. Es ist aber sicher kein Zufall, dass die Personen, die Cicero nennt, Aemilius Paulus, Scipio Africanus, Fabius Maximus und M’. Manilius, dem Patriziat angehörten, sodass wir vermuten können, dass ihm für die frühe Republik dieser Zusammenhang als selbstverständlich erschien. Fassen wir die Aspekte auch dieses Wortgebrauchs zusammen, so bezeichnet »auctoritas« in diesem Falle die Fähigkeit von Personen, einen maßgeblichen Einfluss auf die öffentlichen wie privaten Entscheidungen anderer auszuüben. Sie äußert sich durch Reden oder Gesten und kommt auch hier den patres familias zu, die dem Besitz dieser Fähigkeit ein hohes Gut zuerkennen. 12
II. Auctoritas: Macht durch Anerkennung Suchen wir nach der Darstellung dieser drei ursprünglichen Gebrauchsweisen von auctoritas nach dem gemeinsamen Merkmal, das in jedem der Fälle dem jeweiligen Träger zugesprochen wird, so bezeichnet »auctoritas« offenbar die Fähigkeit ihres Trägers, eine Verbindlichkeit zu bewirken. Im Zivilbereich erhielt die Besitzübertragung durch die Zustimmung des auctors ihre rechtliche Verbindlichkeit; im Politischen erlangten die Beschlüsse des Magistrats sowie des Volks durch den Senatsbeschluss ihre politische Verbindlichkeit; und im sozialen Bereich erhielten die familiären oder häuslichen Entscheidungen durch den Rat gewisser Personen ihre Verbindlichkeit. Diese Fähigkeit, die in den drei Fällen ihrem jeweiligen Träger zugeschrieben wurde, möchte ich mit dem Ausdruck »Macht« bezeich-
In späterer Zeit häufen sich die Texte, in denen die Trägerschaft von auctoritas erweitert und die Gebiete spezifiziert werden. Personen wird nun aus ihrem Sozialprestige, ihrem bestimmten Fachwissen oder einer großen Leistung, der Besitz von auctoritas zugesprochen (siehe: Bleiken 1985, 137). Im Laufe der Zeit nähert sich der Wortgebrauch der uns geläufigen Verwendung im Sinne von »Prestige« oder »Kompetenz« an. – Zur Vielzahl der Wortbedeutungen siehe: Georges 1988, Bd. 1, 706 ff.
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nen, und unter Macht zunächst nichts anderes verstehen als die Fähigkeit, Verbindlichkeit zu bewirken. 13 Sehen wir auf das Eigentümliche dieser Macht, so besteht sie offenbar darin, dass die Herstellung der Verbindlichkeit hier an keinen Rechtstitel gebunden ist und daher nicht auf den Sanktionsmitteln der staatlichen Gewalt beruht, sondern dass die Verbindlichkeit durch die zwanglose und freiwillige Anerkennung der Äußerungen ihrer Träger durch andere bewirkt wird. Die Besitzübertragung wurde nicht durch den Nachweis des Eigentumstitels oder eine einklagbare Versicherung seitens des Verkäufers verbindlich; es genügte die bloße Anwesenheit des auctors. Die Beschlüsse des Senats wirkten weder als Befehl noch nach einem anderen, rechtlich einklagbaren Verfahren, sondern durch die »fügliche Anerkennung« der Senatsbeschlüsse. Und die individuelle auctoritas erzeugte Verbindlichkeit durch die freie Annahme der geäußerten Willensbekundung oder des geäußerten Rates. In all diesen Fällen bezeichnet also »auctoritas« die Fähigkeit von Personen, auf andere Macht durch Anerkennung auszuüben. 14 – Da diese eigentümliche Art der Macht ursprünglich den patres familias zugeschrieben wurde, und sie als die Träger dieser Macht galten, möchte ich sie in dem Ausdruck »auctoritas patrum« zusammenfassen und im Weiteren ihrer Erklärung nachgehen.
Statt einer Rechtfertigung dieser Definition sei nur eine Erläuterung angemerkt: definiert man »Macht« mit M. Weber als »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen« (Weber 1981, 89; H. v. m.), so verfehlt man schon im Ansatz das Eigentümliche von Autorität. Ihr widerfährt dasselbe Schicksal wie etwa den Begriffen einer »Macht der Vernunft« oder einer »Macht der Liebe«. Sie werden aufgrund dieser Definition entweder als utopische Vorstellungen desavouiert oder als Mittel entlarvt, die Chancen zu erhöhen, den eigenen Willen durchzusetzen. – Unsere Definition von Macht hat Ähnlichkeiten mit H. Arendts Überlegungen zur Macht, wenn sie davon spricht, dass die Macht in der »Übereinstimmung vieler Willensimpulse und Intentionen« (Arendt 1983, 195) erfahrbar wird. Bei ihren Überlegungen bleibt jedoch unklar, ob sie unter »Macht« eine Fähigkeit von Personen oder allgemein einen Zustand des Politischen versteht. 14 Das Relationale des auctoritas-Begriffs hebt Th. G. Ring treffend hervor: auctoritas »ist in doppelter Hinsicht eine persönlichkeitsgebundene Größe: Sie hängt sowohl von den Qualitäten ihres Inhabers als auch von der Anerkennung und dem Vertrauen von seiten des anderen ab. Man könnte sie demzufolge als dialogisch bezeichnen, während man potestas monologisch nennen muss, insofern ihre Wirksamkeit nicht in der Zustimmung durch das betroffene Objekt beruht.« (Ring 1975, 222) 13
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A. Erklärungsmuster von »Auctoritas« Aus unserer Sicht ist die altrömische auctoritas patrum in der Tat erklärungsbedürftig. Denn es erscheint kontrafaktisch, dass dem Willen anderer ohne Gewalt oder Gewaltandrohung, zumindest dauerhaft, gefolgt wird. Diese Erklärungsbedürftigkeit wollen wir in die Frage kleiden: Wie ist es zu erklären, dass freie Personen den Beschlüssen anderer Personen sowohl ohne Zwang als auch auf Dauer Folge leisten 15 ? Zur Beantwortung dieser Frage sollen zuerst zwei Erklärungen der römischen auctoritas, die soziologische und die psychologische, vorgestellt und geprüft werden, um dann zu einer Erklärung überzuleiten, die sich auf unser Konzept einer »epistemischen Autorität« stützen wird. 1.
Autorität als »soziale Ansehensmacht«
Das der Sache nächstliegende Erklärungsmodell scheint das soziologische zu sein, das die Autorität als eine »Figuration sozialer Macht« (Sofsky 1994) beschreibt. Die in diesem Rahmen wohl geläufigste, auf Th. Geiger zurückgehende Definition der Autorität ist die der sozialen »Ansehensmacht« 16 . Nach dieser gilt das ›öffentliche Ansehen‹ oder das ›Prestige‹, das dem Träger eignet, als Grund für die freiwillige Anerkennung seiner Äußerungen. In Hinblick auf die römische Tradition heißt dies, dass zivile Rechtsgeschäfte oder familiäre Entscheidungen wirksam wurden, wenn ihnen eine Persönlichkeit öffentlichen Ansehens zugestimmt hatte, und dass politische Beschlüsse verbindlich wurden, wenn sie durch das Ansehen, das der römische Senat besaß, getragen waren. Bezeichnen wir den Ausdruck »öffentliches Ansehen« mit dem lateinischen Wort »dignitas«, so Dies Phänomen hat schon die griechischen Geschichtsschreiber verwirrt. So übersetzte Dion Cassius in seiner Römischen Geschichte den lateinischen Ausdruck »auctoritas senatus« als »probouleuma«. »Mais«, kommentiert M. L. Freyburger-Galland, »ce terme ne satisfait pas Dion car il ne s’agit pas dans ce cas d’une décision préalable, mais d’un vote invalidé. En outre, aucun mot grec ne permet de garder le rapport d’auctoritas avec auctor et la racine *aug- en général. Il ne lui reste donc qu’une solution: garder le mot latin en s’excusant: … ellhnisai gar auto kajapax adunaton esti … : il est impossible de le traduire en grec.« (Freyburger-Galland 1997, 28) – Siehe auch: Graeber 2001, 160. 16 Th. Geiger, Art. Führung. In: Vierkandt 1931, 137. – siehe auch: Rabe 1972, 8; H. Rabe, Autorität. In: Brunner 1972, Bd. 1, 383. 15
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wird in diesem Erklärungsrahmen die auctoritas auf die dignitas, die dem Träger zukam, zurückgeführt 17 . Demnach scheint die auctoritas eine der dignitas ›entspringende‹ Qualität gewesen zu sein. Wir müssen diese Art der Erklärung nicht ablehnen, um festzustellen, dass sie nicht hinreicht. Denn auf die Frage, worauf diese Ansehensmacht beruht, kommt als Antwort: dass ihr ohne Zwang gefolgt wird. Fragen wir umgekehrt, warum gewissen Personen ohne Zwang gefolgt wird, so erhalten wir die Antwort: weil sie Ansehensmacht besitzen. Die zwanglose Befolgung wird durch die Ansehensmacht; diese aber durch die zwanglose Befolgung erklärt. Dieses Erklärungsmuster scheint der beste Weg zu sein, sich im Kreise zu drehen. Der Begriff »Ansehensmacht« gibt keine hinreichende Erklärung; er beschreibt eigentlich nur das Phänomen. Zumindest hinsichtlich der Autorität des römischen Senates ist dieser Begriff der Ansehensmacht präzisiert worden. Von dem Rechtshistoriker F. Wieacker stammt der Vorschlag, die eigentümliche Macht des römischen Senats als eine »nicht ausgeübte, also ersparte und gehortete soziale Macht« (Wieacker 1961, 12) zu erklären, so dass sich also die Wirksamkeit dieser Macht der Sparsamkeit ihres Einsatzes verdankt habe. – Diese weitergehende Erklärung halten wir jedoch für einen nicht nachvollziehbaren Einfall. Denn mit ihr wird zwar versucht, die Macht des Senates nicht nur durch dessen Ansehen zu beschreiben, sondern sie aus ihrer inneren Eigentümlichkeit zu erklären, – was jedoch unter dem Begriff einer »nicht ausgeübten sozialen Macht« vorgestellt oder gedacht werden soll, bleibt unklar. Verstehen wir nämlich unter dem Begriff der sozialen Macht die Wirkung von Personen (oder Institutionen) auf die Entscheidungen und das Handeln anderer, so ist eine Macht, die nicht ausgeübt wird, eine Macht, die nicht wirkt, und ist daher keine Macht. Der Begriff einer »nicht ausgeübten Macht« ist ein paradoxes und inhaltsloses Wortgebilde. Zudem beansprucht dieser Begriff, die Macht zu erklären, die der römische Senat über Jahrhunderte hindurch ausgeübt hat. Diese faktische Machtausübung aber durch die Nicht-Machtausübung als einer besonderen Art der Machtausübung zu erklären, mutet dem Verstand Unzumutbares zu 18 . Vgl. Fueyo 1968, 215 f.: »Die zutiefst aristokratische Mentalität, die mit der römischen Tradition einhergeht, verlangte als gesellschaftliches Kriterium, dass jede Entscheidung solcher Art einer auctoritas unterworfen werden sollte, d. h. einer öffentlich wegen ihrer dignitas bekannten Persönlichkeit.« 18 Auch der Philosoph H. Kuhn gibt für diese Freiwilligkeit keine Erklärung, wenn er 17
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Autorität als »geistige Macht«
Im Unterschied zur soziologischen Erklärung der Autorität durch die Zuschreibung von Ansehen ist vom Altphilologen R. Heinze eine psychologische Erklärung gegeben worden: »auctoritas« bezeichne »die Eignung, maßgeblichen Einfluss auf die Entschließungen der anderen kraft überlegener Einsicht auszuüben« (Heinze 1972, 48; H. v. m.). Zwar präzisiert diese Erklärung nicht, was unter »überlegener Einsicht« zu verstehen sei; es dürfte aber nicht falsch sein, wenn wir für das Gemeinte den Ausdruck der »epistemischen« oder »deontischen Autorität« (Bochenski 1974, 53 ff.) verwenden. In diesem Sinne sei bei Rechtsgeschäften der auctor deshalb erforderlich gewesen, weil »nur er weiß [H. v. m.], dass er bisher Eigentümer der Sache gewesen ist, nunmehr also sie wirklich dem Käufer gehört: dafür übernimmt er als auctor die Gewähr.« (Heinze 1972, 45). Und dem entsprechend wird die besondere Wirksamkeit der Autorität des römischen Senats dadurch erklärt, dass in diesem die »verhältnismäßig wenigen (waren), denen man politische Einsicht [H. v. m.] und Verantwortungsgefühl zutraut« (ebd., 51); die also, so können wir folgern, ihren politisch maßgeblichen Einfluss nicht mittels Gewalt, sondern aufgrund ihrer epistemischen Qualität ausübten. Diese Art des Einflusses habe, so Heinze, über das Politische hinaus für »die gesamte Lebensführung des römischen Volkes« (ebd.) gegolten. – Dieser Erklärung der Autorität durch die »überlegene Einsicht« korrespondiert nun die Erklärung ihrer freiwilligen Anerkennung durch andere. R. Heinze führt sie – mit Hinweis auf A. Vierkandt – auf einen »Instinkt der Unterordnung« 19 zurück: Es habe den Charakter des römischen Volkes die Neigung ausgezeichnet, »keine wichtige Entscheidung (zu treffen), ohne vorher den Rat derer eingeholt zu haben, die ihm dazu berufen erscheinen.« (ebd.) Dieses Gefühl einer, wie wir es nennen wollen, »epistemischen Abhängigkeit« ist also nach dieser Erklärung der Grund gewesen, warum die Römer im pridie Autorität »in der Mitte« sieht »zwischen bloßem Ansehen, das als solches noch keine Ansprüche erhebt, und einer Macht, die ihre Ansprüche notfalls auch gegen den Willen der Angesprochenen durchsetzt« (Kuhn 1971, 299). Sie ist, so verstanden, ein soziologischer ›Zwitter‹ zwischen ›Ansehen‹ und ›Gewalt‹. 19 Ebd., 57. – Diesen Instinkt nennt R. Heinze »das Gefühl, dass nicht jeder alles, und besonders nicht alles allein versteht«, sowie den »Respekt vor einer Persönlichkeit, in der überlegene Erfahrung, Sachkunde und Verantwortungsgefühl verkörpert sind, verbunden mit dem Wunsche, immer möglichst sicher zu gehen« (ebd.).
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vaten und öffentlichen Leben die Autoritäten freiwillig anerkannten und ihrem Rat folgten. Fragen wir nach der Begründung für diese Korrespondenz zwischen der »epistemischen Autorität« einerseits und der »epistemischer Abhängigkeit« andererseits, so liegt ihr offenbar die Annahme eines wechselseitigen Verhältnis von »Geist« und »Seele« zugrunde. Während die römischen Autoritäten den Geist repräsentierten, durch den ihre Träger die zur Einsicht fähigen waren, repräsentierte das römische Volk hingegen das Seelische, das zur Einsicht unfähig, aber ihrer bedürftig war. Dieses Verhältnis wäre nun näher so zu bestimmen, dass, so wie die Seele nach Einsicht begehrt und sich dem Geist zuwendet, auch das römische Volk nach der Führung durch die Einsichtigen verlangte. – In diesem Erklärungsmodell wird also die Art der Anerkennung der römischen Autoritäten nicht soziologisch durch die Macht des sozialen Ansehens erklärt oder auf ein verstecktes Gewaltverhältnis zurückgeführt, sondern sie wird psychologisch in einem Gefühl und Bedürfnis des römischen Volks nach geistig-politischer Führung verankert. Diese Entsprechung von Autorität und Anerkennung wird von R. Heinze der »Geist des Römertums« genannt, der geendet habe, als die Gracchen das römische Volk zur Auflehnung gegen die auctoritas senatus reizten, und die Verfassungskämpfe begannen (ebd., 51). So materialreich und in philologischer Hinsicht umsichtig R. Heinzes Studie zur »auctoritas« auch ist, so muss gegen die psycho-logische Erklärungsweise doch eingewandt werden, dass sie, um die römische auctoritas zu erklären, ein nicht-römisches Prinzip zugrunde legt, und dass sie daher auch keine hinreichende Begründung für die Wirkungsweise der auctoritas anzuführen vermag. Denn das Prinzip, dass der Geist das Herrschende sei, die Seele aber sich in der Hinwendung zu ihm erfülle, ist keinesfalls römischen, sondern griechischen, näher platonischen, Ursprungs. Sie überträgt das Verhältnis von nou@ und vuch auf die römischen sozialen und politischen Beziehungen, so dass es so erscheint, als hätte im römischen Staat der Senat – im Unterschied zum Magistrat – »kraft überlegener Einsicht« geherrscht und das römische Volk aus diesem Grund die Herrschaft des Senats erstrebt. Zwar können wir solche Übertragungen des griechisch-philosophischen Verfassungsverständnisses auf die römische Verfassungswirklichkeit schon in Rom selbst, etwa bei dem griechischen Historiker Polybios, finden; unseres Erachtens führen sie jedoch von der Suche nach dem Geltungsgrund der römischen A
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auctoritas ab 20. Denn für die Annahme, dass die Römer, die auctoritas besaßen, diesen Besitz selbst auf ihre »überlegene Einsicht« zurückgeführt hätten, lässt sich kein Beleg anführen. Im Gegenteil; wir wollen zeigen, dass diese Begründungsart geradezu ausgeschlossen war. Dass aber diese Einsicht ihnen von den anderen zugesprochen wurde, erklärt nichts, weil wir dafür ja nach einer Erklärung suchen. Wenn folglich die Macht des Senats durch einen »Instinkt« des römischen Volks erklärt wird, der es zur Anerkennung der Einsichtsvollen befähigt habe, so wird das schwer zu Erklärende, die freiwillige Anerkennung dieser Macht, mit Unerklärlicherem, einem okkulten Gefühl der Abhängigkeit, erklärt. 21 Auf diese Weise aber bleibt das Problem der Geltung von Autorität im römischen Denken ungelöst.
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Zur Etymologie von »Auctoritas«
Bevor wir unsere Erklärung der römischen auctoritas vorstellen, soll zuerst, in einem hinführenden Exkurs, der Etymologie des Wortes nachgegangen werden. Auch wenn im Allgemeinen die Herkunft des Wortes wenig mit seinem tatsächlichen Gebrauch zu tun haben muss, so wäre es doch befremdlich, wenn die zugestandermaßen zentrale Rolle, die der Begriff der Autorität im Rahmen der politischen und sozialen Verfassung Roms eingenommen hat, sich von der ursprünglichen Wortbedeutung abgelöst hätte. Die Annahme eines solchen Zusammenhanges von Herkunft und Gebrauch gilt umso mehr, wenn zugestanden wird, dass den Römern ein ›semantischer Realismus‹ und ein konservativer Umgang mit dem Bedeutungsfeld von Wörtern eignete. Diesem Zusammenhang entsprechen die angeführDas von dem griechischen Philosophen Kineas geprägte Bild des römischen Senats als einer »Versammlung von Königen« (vgl. Mommsen 1856, 292) deuten wir als ein romanophiles Missverständnis. 21 Bei seinen Annahmen über den »Geist des Römertums« scheut R. Heinze keine Widersprüche: um das Phänomen der freiwilligen Anerkennung von Autoritäten zu erklären, nimmt er ein »inneres Abhängigkeitsgefühl« an; um hingegen den römischen Imperialismus zu erklären, nimmt er das »gerade Gegenteil« (Heinze 1972, 58) an: den »Drang nach Macht« (ebd.). Wie aber beide ›Instinkte‹, das Abhängigkeitsgefühl und der Machttrieb, in der Brust ein und desselben Römers zusammen bestehen konnten, bleibt unerklärt. – Im übrigen lässt sich der Eindruck kaum abweisen, dass solche volkspsychologischen Erklärungen weniger der Sachlage als der Interessenslage ihrer Erklärer entspringen. Es scheint, als sollte die römische auctoritas – just in Zeiten geistigpolitischer Führungskrisen (1925) – beschworen werden. 20
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ten Erklärungen nicht: das soziologische Modell, das die Autorität durch das Ansehen der Person erklärt, kann ebenso wenig wie das psychologische Modell, das sie durch die Fähigkeit zur Einsicht erklärt, einen Zusammenhang mit der ursprünglichen Wortbedeutung herstellen. In beiden Fällen bleibt ungeklärt, für was denn die Autoritäten auctores gewesen waren 22 . Daher erscheint es sinnvoll, als Hinführung zur nachfolgenden Rekonstruktion zunächst der Herkunft und Abstammung des Wortes nachzugehen. »Auctoritas« ist grammatisch eine Suffixbildung des Substantivs »auctor«. Es gehört zu der kleinen Gruppe lateinischer Wörter, die, wie civitas oder hereditas, von Substantiven abgeleitet sind und zum ältesten Sprachgut der Römer zählen (Heinze 1972, 44). »Auctoritas« bezeichnet die Eigenschaft des »auctor«-Seins oder, besser und umständlicher, den Zustand, der dem auctor als auctor eignet. Das Wort »auctor« selbst ist, wie etwa lector oder factor, die Substantivierung des Perfektpartizips von »augeo«. Dieses lateinische Verb »augeo« enthält die indogermanische Wurzel »[a]ueg-« bzw. »aug-«, die sich im altindischen Wort »ugráh« wie im altnorwegischen »auka« nachweisen lässt. Als s-Erweiterung ist diese Wurzel ins deutsche Wort »wachsen« (engl. »to wax«, schwed. »växa«), das gotische »wahsjan«, das griechische »auxein« sowie das altindische »vaksayati« eingegangen. Diese Wörter der indogermanischen Sprachen haben alle dieselbe Bedeutung: »wachsen, wachsen lassen; mehren, (sich) vermehren« (Walde 1972, Bd. 1, 82). Gleichfalls verweisen die lateinischen Wörter »augeo«, »auctor«, »auctoritas«; »augur«, »augustus« und »auxilium« auf die gemeinsame Wurzel »aug-«: »augeo« = ich lasse wachsen, mehre, vermehre; »auctor« = der wachsen lässt, mehrt; »auctoritas« = die Mehrerschaft; »augur« = (urspr.) der das Vermehrungsritual vollzieht; »augustus« = der Mehrer; »auxilium« = die mehrende Hilfe. Ziehen wir aus dem grammatischen und sprachhistorischen Befund die Schlussfolgerung, so deutet die gemeinsame Semantik der »aug-«-Ableitungen der lateinischen wie anderer indogermanischen Sprachen offenbar auf eine alte, diesen Kulturen gemeinsame TätigR. Heinze räumt dies ein: »… so fragt es sich doch, ob auctor und auctoritas in den für uns ältesten Anwendungen noch engen Zusammenhang mit augere bewahrt haben.« (Heinze 1972, 44). Dies hindert ihn freilich nicht, festzustellen: auctoritas sei »ein spezifisch römischer Begriff, vom römischen Wesen unzertrennlich, und mag so alt sein wie das Römertum.« (ebd., 46)
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keit des »Wachsenlassens« und »Mehrens« hin. Der weitere Schritt, diese Tätigkeit mit einem Fruchtbarkeitsritus der frühen agrarischen Kulturen in Verbindung zu bringen, ist ungesichert; zumindest besteht die begründete Vermutung, dass die Tätigkeit des römischen Augurs in frühester Zeit in dem Vollzug eines uns unbekannten Fruchtbarkeitsrituals bestand 23 . Auch wenn wir im Folgenden von diesem ungesicherten Schritt in den Kultus der italisch-römischen Frühgeschichte keinen Gebrauch machen werden, so ist es doch der Erwägung wert, ob nicht noch in den späteren Verwendungsweisen des Worts »auctoritas« eine solch magisch-rituelle Bedeutung haften geblieben ist. 24 – Für unseren Rekonstruktionskontext ist allerdings die Annahme wichtig, dass im römischen Sprachgebrauch die ursprüngliche Wortbedeutung des »Mehrens« nicht zugunsten anderer Bedeutungen verschwunden ist, und dass es daher Sinn macht, nach einer Erklärung der »auctoritas« zu suchen, die der Etymologie des Wortes Rechnung trägt. Wenngleich wir im Folgenden andere Begriffe zur Explikation des Autoritätsbegriffs verwenden werden, so soll diese Bedeutung des »Mehrens« und »Wachsenlassens« doch, als Verständnishorizont wie als Erklärungsmaßstab, beibehalten bleiben.
Vgl. Walde 1972, Bd. 1, 83: »da das auspicium nur ein Teil der Obliegenheiten der Auguren war (s. z. B. Serv. auct. Aen. 2, 703), diese vielmehr urspr. Vermehrungsritualisten waren (vgl. u. a. die altröm., noch heute in Sardinien übliche Auguralformel largus annus; s. Flinck a. O., Wissowa BPhW. 1921, 916 ff. gegen PW. II 2313 ff.), ist die Anknüpfung der Alten (Ov., Val. Max.) an augeo, auctor auch sachlich gerechtfertigt«. 24 »In seinen frühesten Verwendungsweisen bezeichnet augeo nicht die Tatsache, etwas bereits Vorhandenes zu vergrößern, sondern den Akt, etwas aus sich selbst heraus zu erzeugen. Es geht also um den schöpferischen Akt, der etwas aus einem Nährboden hervorwachsen lässt und ein Privileg der Götter oder der großen Naturkräfte, aber nicht der Menschen darstellt … Mittels des Begriffs auctor findet sich die ursprüngliche Bedeutung von augeo auch in auctoritas wieder. Jede mit auctoritas verkündete Rede bedingt eine Veränderung in der Welt bzw. bringt etwas hervor. Diese geheimnisvolle Eigenschaft kommt in augeo zum Ausdruck, der Macht, die die Pflanzen hervorsprießen lässt oder einem Gesetz Existenz verleiht. Allein der auctor, derjenige, der etwas ins Leben ruft, besitzt diese Eigenschaft, die im Altindischen ojas- heißt. Man sieht, dass ›vermehren‹ nur eine abgeschwächte Nebenbedeutung von augeo ist. Dunkle und mächtige Werte liegen weiterhin in dieser auctoritas, der nur wenigen Menschen vorbehaltene Gabe, etwas entstehen zu lassen und – buchstäblich – ins Dasein zu bringen.« (Benveniste 1993, 412 f.) 23
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Die Auctoritas maiorum
III. Die Auctoritas maiorum Formulieren wir einleitend das, was sich uns bislang ergeben hat, als Frage: Wie ist die Wirkung von auctoritas und näher der auctoritas patrum als eine dauerhafte Macht durch die zwanglose Anerkennung anderer auf der Grundlage der Wortbedeutung des »Mehrens« erklärbar? Als Zugang zur Beantwortung dieser Frage soll uns ein Gebrauch des Ausdrucks »auctoritas« dienen, den wir bisher außer Acht gelassen haben: die auctoritas maiorum. Zwar wird uns von Historikern versichert, dass diese es gewesen sei, die im Denken der Römer die Rolle der höchsten Autorität, der summa auctoritas, eingenommen hat, 25 ; was jedoch fehlt, ist, aus dieser Annahme die Schlüsse für das Verständnis der auctoritas, ihrer Trägerschaft, Wirkungsweise und ihres Inhalts, zu ziehen. Für die folgende Rekonstruktion bildet daher die Annahme, dass im römischen Denken der auctoritas maiorum die höchste Autorität zukam, den Schlüssel zum Verständnis des Unverständlichen: sowohl der dauerhaften Machtausübung ihrer Träger durch die zwangslose Anerkennung anderer als auch der Zusammenhang dieser Art von Macht mit dem »Mehren«.
A. Die Quellenlage und ihre Interpretation Zitate, die unsere Annahme belegen, sind spärlich und entstammen zudem erst späterer Zeit. Zwar finden sich frühere Zitate, die sie nahelegen (Roloff 1967, 296, Anm. 3), doch erst mit Cicero bekommt der Ausdruck »auctoritas maiorum« offenbar einen feststehenden, begrifflichen Charakter (Plumpe 1936). Eine der Schlussfolgerungen, die wir aus dieser spärlichen Quellenlage ziehen können, wäre nun, »Dass alle staatlichen, religiösen und privaten Einrichtungen von den maiores stammen, ist bei den Römern eine natürliche und allgemeine Vorstellung. Damit verbindet sich bei ihnen stets das Bewusstsein, dass diese Einrichtungen der maiores gut und verehrungswürdig sind und dass man an ihnen nichts ändern darf. Zugrunde liegt die Anschauung, dass die maiores unbedingte auctoritas besitzen: ihre Einrichtungen und Handlungen sind ›quasirechtlich verpflichtend‹, d. h. ihre Anerkennung beruht zwar nur auf freiwilliger Unterordnung, ist aber praktisch unbedingt.« (Roloff 1967, 295 ff.) – »… die auctoritas maiorum ist identisch mit maßgebenden Modellen für tatsächliches Verhalten, sie ist der moralisch-politische Maßstab schlechthin.« (Arendt 1957, 156) – »… die auctoritas maiorum galt als letztgültiger Maßstab des politischen Lebens.« (Rabe 1972, 9)
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unserer These, im römischen Denken sei die summa auctoritas den maiores zugekommen, einen nur hypothetischen Charakter zuzuschreiben. Da sie am Textmaterial nicht hinreichend verifizierbar ist, und da die Aussagen Ciceros, auf die wir uns im Folgenden stützen werden, als spätere – noch dazu ideologisch motivierte – Behauptungen über die römische Vergangenheit zu deuten sind, muss die Annahme zweifelhaft bleiben. Diese Folgerung, so berechtigt sie in philologischer Hinsicht ist, hätte jedoch das unbefriedigende Resultat, dass wir uns der günstigen Quellenlage wegen zwar über zweit- und drittrangige Verwendungsweisen von »auctoritas«, insbesondere im spätrömischen Alltagsleben, verbreiten können, dass uns aber die zugegebenermaßen interessanteste Dimension verschlossen bliebe. Daher erscheint ein anderer Weg als sinnvoll und weiterführend. Dieser geht von der Gültigkeit jener Annahme aus und erklärt aus ihr die schlechte Quellenlage. Nach diesem Verfahren wird aus der gerade unbestrittenen Geltung der auctoritas maiorum geschlossen, dass für die Römer kein Anlass bestand, diesen Sachverhalt zu thematisieren. Da er zunächst sine litteris, in anderen Texturen, den politischen Institutionen und sozialen Verhaltenscodices, präsent war, begann der Vorgang der Verschriftlichung erst, als diese non-literalen Arten ihre Wirksamkeit einbüßten. Historisch bezeichnet den Einschnitt etwa Cato der Ältere, der sich gezwungen sah, das bislang Unthematisierte zu thematisieren: er schreibt in den »Origines« über den mos maiorum – und verachtet doch die Schreibkunst als unrömisch. 26 Cicero dann gebraucht den Ausdruck »auctoritas maiorum«, um damit eine Situation zu beschreiben und zu reflektieren, die ohne deren schriftliche Fixierung ausgekommen war. 27 Auf dieser Interpretationsgrundlage gilt uns also die spärliche Verwendung dieses Ausdrucks als Indiz für die grundlegende Bedeutung, die die auctoritas maiorum für die Ausprägung der römischen Denkweise hatte. Methodisch bleibt allerdings das Problem, diesen Wortgebrauch auf einer schmalen Quellenbasis rekonstruieren zu müssen. Diesen Mangel werden wir durch systematische Überlegungen ergänzen, die die »auctoritas maiorum« in einer solchen Weise Vgl. dazu: Fuhrmann 1989, 72–92. Dieser Deutung entspricht, dass Cicero in allem die auctoritas maiorum anerkannte – außer in der Kunst der Rede und der Philosophie (siehe: Roloff 1967, 307, Anm. 37). – Vgl. auch Scaevolas rhetorische Frage in Cicero, de oratore I, 37, ob denn die Könige, Romulus, Numa oder Servius Tullius, eine »Spur der Redekunst« (eloquentiae vestigium) gezeigt hätten.
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Die Auctoritas maiorum
explizieren, dass aus ihr sowohl die »auctoritas patrum« als auch der Wortsinn des »Mehrens« erklärbar wird.
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Die Maiores als »Gründer und Erbauer Roms«
Gehen wir also von der These aus, dass im römischen Denken die maiores die summa auctoritas innehatten, und fragen nach dem Grund, so erhalten wir eine zunächst eigenartig anmutende Antwort: weil sie Rom gegründet haben. Die maiores besaßen demnach für die Römer die höchste Autorität, nicht weil sie das höchste Ansehen oder die überlegenste Einsicht hatten, sondern weil sie – nach einer Formulierung des Plinius – die »auctores imperii Romani conditoresque« 28 waren. – Um uns diese Begründung der auctoritas verständlich zu machen, wollen wir zunächst die folgende semantische Unterscheidung treffen: einerseits bezieht sich die Aussage über die maiores auf gewisse Subjekte, denen die historische Tatsache der Gründung und Erbauung Roms, sei es der Stadt oder des Imperiums, zugesprochen wird; auf der anderen Seite enthält diese Aussage über die maiores als Gründer und Erbauer Roms zugleich die Begründung dafür, dass ihnen die höchsten Autorität zukommt. Das historische Faktum der Gründung und Erbauung Roms begründet hier offenbar dieses besondere, auf zwangloser Anerkennung beruhende Machtverhältnis. Für uns, als Außenstehende und Nicht-Römer, lassen sich diese beiden Aspekte unterscheiden und voneinander trennen; für die Römer offenbar nicht. Um nun diese Begründung nachzuvollziehen, wollen wir dennoch erst dem einen Aspekt, der historischen Tatsache, getrennt von dem anderen nachgehen, und dann nach dem Begründungszusammenhang suchen. Betrachten wir die Aussage über die maiores als eine Aussage über historische Subjekte, so wurden als »maiores« offenbar diejenigen Menschen bezeichnet, die Rom errichtet hatten. Mit Cicero können wir auch hier wiederum zwei Aspekte unterscheiden: die Gründung Roms als eines politischen Gemeinwesens, einer rechtlich verfassten civitas, sowie die Erbauung Roms als eines physischen Gebilde, als urbs oder Territorium 29 . In »de re publica« nennt Cicero »maiores« diejenigen, die die römischen Institutionen, die staatli28 29
Plinius, Naturalis historia, XXII, 3, § 5. In de re publica II, 5 unterscheidet Cicero zwischen urbs und res publica: »Qua gloria A
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chen und religiösen Gesetze, die sozialen Regeln und ethischen Normen, geschaffen haben, die er daher als die »maiorum instituta« (V, 1, 1) bezeichnet. Dabei richtet sich Ciceros Interesse nicht allein auf die einzelnen altrömischen Institutionen, sondern insbesondere auf die Konstitution von Rom 30 , so dass für ihn die maiores deshalb von herausragender Bedeutung sind, weil sie durch ihre Einrichtungen Rom als ein Ganzes verfasst und zur civitas romana zusammengefügt und dadurch Rom gegründet haben. Als Erbauer der Stadt Rom hebt Cicero insbesondere die Wahl des Platzes durch Romulus – in der Nähe des Meeres und am Fluss – sowie die Führung der Stadtmauern und die Wahl des Burgortes hervor (de re publica II, 3–6). Schwierig ist allerdings zu entscheiden, ob Cicero den maiores über dies Planmäßige der Erbauung hinaus auch den Aspekt der manuellen Tätigkeit hinzufügt, ob sie ihm also auch als diejenigen Männer gelten, die (noch) mit eigener Hand die Grenzen gezogen, die Mauern errichtet und die Schlachten geschlagen haben, und von ihm daher als die ›Architekten‹ und ›Baumeister‹ der Stadt angesehen werden. 31 Wie dem auch sei, – Cicero bezeichnet als »maiores« diejenigen Männer, die in beiderlei Hinsicht sowohl durch die Schaffung der Institutionen als auch durch die Errichtung der Stadt Rom gegründet und erbaut haben. Was die Anzahl der Personen betrifft, die unter dem Begriff »maiores« zusammengefasst wurden, so lassen sich zu ihrer Bestimparta urbem auspicato condere et firmare dicitur primum cogitavisse rem publicam.« (H. v. m.) 30 ebd. II, 1, 1–2. – Cicero, de legibus III, 12: »Quae res cum sapientissime moderatissimeque constituta esset a maioribus nostris, nihil habui sane aut non multum, quod putarem novandum in legibus.« 31 Auf die Handarbeit der Gründer Roms legen jedenfalls die etwas späteren Epen Vergils, die »Äneis« und die »Georgica«, wert. – In seiner Analyse des Autoritätsbegriffs hebt A. Baruzzi den Unterschied zwischen Herstellen und Stiften zu sehr hervor. »Der artifex«, schreibt er, »stellt etwas her, zu was ein auctor angeregt hat. Er und nicht der artifex bestimmt die Wirklichkeit. Sein Tun ist Stiftung. Eine Stiftung soll dauern, ist nur Stiftung, wenn sie Tradition hat. Tradition kann nicht willkürlich erfunden werden; ihre Erfindung ruht auf einem ursprünglichen Fund. Beim Römer ist dies die Gründung der Stadt, des politischen Gemeinwesens. Dieses ist als solches der Raum aller Stiftungen, weil sie als erste, ursprüngliche Stiftung zeigt, was Stiftung bedeutet. Stiftung des politischen Raumes ist und bleibt die vornehmliche Tat des Menschen und in diesem Sinne ist er auctor und wird Autorität.« (Baruzzi 1973 f., 176). So treffend Baruzzis Begriff des Stiftens ist; im römischen Denken selbst lassen sich die beiden Aspekte, das Stiften und das Herstellen, nicht so deutlich unterscheiden, da es den Römern eben nicht nur um die Stiftung des Gemeinwesens, sondern auch um die Erbauung der Stadt ging.
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mung zwei verschiedene Verfahren anführen. Da in früher Zeit wohl nur die Gründungsväter der alten römischen Familien bzw. die Oberhäupter der gentes, die zusammen die Stadt Rom gegründet haben sollen, als »maiores« galten, kann ihre Zahl mit 100 oder 300 angegeben werden. Cicero jedoch und wohl auch schon Cato fassen darunter nicht nur die Stadtgründer, sondern die Männer, die Rom groß gemacht, die also das Imperium Romanum erbaut haben (Roloff 1967, 297 f.). Beide gehen schon vom römischen Reich als einer geschichtlichen Tatsache aus, und der Ausdruck »maiores« bezeichnet diejenigen, denen dieses Reich als Werk zugeschrieben wird: die entsprechenden Gesetzgeber, Staatsmänner und Feldherren. Dabei betrachten sie es als die Eigenart und den Vorzug des römischen Staates, dass er weder von einem einzigen noch auf einmal erbaut worden ist, sondern von mehreren und in der Folge von Generationen 32 . Wie die Anzahl der maiores auch bestimmt werden mag; sie umfasst die Männer, denen die Errichtung Roms – als Stadt und als Reich – zugeschrieben wird. In unserem Erklärungskontext ist es nun nicht von Bedeutung, ob die jeweiligen Personen, Handlungen und Zeitpunkte von Cicero und anderen Geschichtsschreibern historisch korrekt angeführt werden, sondern dass die Gründung und Erbauung sowie die Entstehung Roms von ihnen überhaupt als ein geschichtliches Ereignis bzw. ein geschichtlicher Vorgang dargestellt wird. Zwar lässt sich mit den römischen Geschichtsschreibern trefflich streiten, von wem, wann und wie Rom tatsächlich als Stadt und Imperium erbaut wurde; aber dieser Streit macht nur Sinn, weil für die Römer selbst die Gründung Roms und die Entstehung des römischen Imperiums als historischempirische Ereignisse in Raum und Zeit gegolten haben. Sie erzählen kein mythisches Geschehen von Göttern und Heroen und berichten auch nicht von einem erfahrungstranszendenten Heilsplan, der der römischen Geschichte zugrundeliege, sondern von Ereignissen, die allgemein vorstellbar und in ihren Auswirkungen sinnlich erfahrbar sind 33 . Die Geschichte Roms wird von ihnen als das Werk einer Cicero, De re publica, II, 1, 2: »Dieser [Cato] pflegte zu sagen, dass der Zustand unseres Gemeinwesens die übrigen deshalb übertrifft, weil in jenen meist einzelne es waren, die jeder sein Gemeinwesen durch seine Gesetze und seine Einrichtungen gründeten, … unser Gemeinwesen aber nicht durch den Geist eines einzelnen, sondern vieler, und nicht in einem Menschenleben, sondern in mehreren Generationen und Zeitaltern gegründet worden ist.« 33 Wenn Th. Mommsen uns darüber aufklärt, dass »das Geschichtchen von der Anlage 32
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Gruppe oder Reihe von Menschen dargestellt, die sie als ihre Vorfahren, als die »maiores« bezeichnen. 34 1.
Die Gründung Roms als Konstitutionsakt von auctoritas
Betrachten wir diese Aussagen über die maiores als die Erbauer Roms, so wird nicht einsichtig, warum diese Leistungen der Grund sein sollten, ihnen auch die höchste Autorität zuzusprechen. Auch wenn wir nach dem Studium der römischen Geschichte und dem Vergleich mit anderen Staaten mit den römischen Geschichtsschreibern darin übereinstimmen mögen, den Aufbau des Imperium Romanum als eine große historische Leistung zu beurteilen, so können wir darauf allenfalls Aussagen über die verfassungsrechtliche Klugheit, das diplomatische Verhandlungsgeschick oder die militärische Tapferkeit der maiores gründen. Der Schluss jedoch, dass ihnen aus demselben Grunde auch die summa auctoritas zukommt, so dass ihre Taten als schlechterdings maßgebend anzuerkennen seien, erscheint uns als unzulässig. Denn diese Verknüpfung von historisch-theoretischem Urteil und moralisch-praktischer Normgebung folgt nicht logischen Regeln. Wie aber geschieht sie dann? Um diese Zuordnung der verschiedenartigen Begriffe: »maiores«, »Gründer Roms« und »summa auctoritas« erklären zu können, wollen wir auf den Begriff von Autorität zurückgreifen, den wir einleitend angeführt und expliziert haben. Er soll die Grundlage für die folgende Rekonstruktion dieses Zusammenhangs bilden. Wir haben Roms … nichts als ein naiver Versuch der ältesten Quasihistorie (ist,) die seltsame Entstehung des Ortes an so ungünstiger Stätte zu erklären und zugleich den Ursprung Roms an die allgemeine Metropole Latium anzuknüpfen«, und er fordert, die Geschichte habe vor allem sich von »solchen Mährchen, die Geschichte sein wollen und nichts sind als nicht gerade geistreiche Autoschediasmen« zu befreien (Mommsen 1856, 45), so muss er doch zugestehen, dass diese »Geschichtchen« Geschichte und keine Mythen oder Märchen sein wollen. 34 Dieser Bezug zur eigenen Geschichte ist wohl der Grund für den »Realismus« der römischen Geschichtsschreibung. Die ersten Aufzeichnungen, die von den pontifices maximi aufgezeichneten »Annales maximi«, vermeldeten, kurz und trocken, Datum, Ort, Namen und Faktum. Cicero, dem Geschichte Teil der Redekunst war, bemängelte an den griechischen Geschichtsschreibern wie Herodot und Theopompus, dass sie »innumerabiles fabulae« (de legibus I, 5) erzählten und nicht klar zwischen historischem Ereignis und Märchen unterschieden, an den altrömischen ›Protokollsätzen‹ jedoch, dass sie auf jeden sinnstiftenden Zusammenhang verzichteten. – Siehe: Fleck 1993.
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dort mit dem Begriff »Autorität« die Art eines personalen Verhältnisses bezeichnet, in dem als Autorität diejenige Person gilt, die von der anderen Person als ihr Urheber anerkannt wird. Diesem Anerkennungsverhältnis liegt, so sagten wir, ein dem Eltern-KindVerhältnis analoger Konstitutionsakt zugrunde. Sowie durch die Zeugung sowohl das Kind erzeugt wird als auch das Eltern-Kind-Verhältnis entsteht, so geht auch dem Autoritätsverhältnis ein Akt voraus, der mit der anerkennenden Person zugleich auch das Autoritätsverhältnis konstituiert. Das konstituierende Subjekt nannten wir die ›selbständige Person‹, das konstituierte Subjekt die ›unselbständige Person‹. Wenden wir diesen Begriff von Autorität nun auf den zu erklärenden Zusammenhang an, so ist demnach von den Römern den »maiores« die »summa auctoritas« deshalb zugeschrieben worden, weil für sie die Gründung Roms nicht nur den Status eines historischen, raum-zeitlichen Ereignisses hatte, sondern weil sie von ihnen als derjenige ursprüngliche Akt verstanden worden ist, der ihre Existenz als Römer konstitutierte. Das Faktum der Gründung Roms stiftet in diesem Fall zugleich ein solches Verhältnis zwischen den Gründern und dem Gegründeten, worin das Gegründete nicht ›durch sich selbst‹, sondern nur in der Beziehung auf seine Gründer existiert. Rom, als das Gegründete, ist in diesem Verhältnis als die ›unselbständige Person‹ anzusehen, die nur ist, was sie ist, weil und indem sie die maiores, die Gründer Roms, als ihre auctores, ihre Urheber, anerkennt. Zwischen Rom als dem Gegründeten und den maiores als den Gründern besteht demnach ein ›inneres Band‹, durch das Rom je schon an seine Gründer gebunden ist, und es außerhalb oder ohne diese Bindung nicht ist, was es ist. Es gibt, so wollen wir sagen, zwischen Rom und seinen Gründern eine »gemeinsame Sache«, die Gründung Roms, um deretwillen die Römer die maiores als die höchste Autorität anerkennen. Diese Anwendung des Autoritätsbegriffs und die Interpretation der Gründung Roms als desjenigen Aktes, der das Autoritätsverhältnis zwischen den maiores und Rom konstituiert, gibt einen Erklärungsrahmen für die auctoritas maiorum. Sie erklärt zum einen, dass den maiores die summa auctoritas zukommt, weil sie Rom gegründet haben; und sie erklärt zum anderen, dass diese Zuordnung weder allgemein erfahrbar noch logisch begründbar und daher für den Nicht-Römer nicht nachvollziehbar ist. Denn nach dieser Interpretation basiert die Anerkennung der summa auctoritas maiorum weder A
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auf ›rationalen Gründen‹ noch auf gewonnenen Erfahrungen, sondern auf jenem ›inneren Band‹, das allem Denken und Erfahren vorhergeht, und das allein den Römer als Römer betrifft. 2.
Die Maiores als Gründer der »Res Romana«
Gehen wir von diesem Erklärungsrahmen aus und erläutern zunächst, was unter dem Ausdruck ›Rom als unselbständige Person‹ zu verstehen ist. Zunächst einmal bezeichnet der Name »Rom« eine bestimmte Stadt, eine geographisch lokalisierbare Ansammlung von Menschen, die zum Zwecke der Lebenserhaltung bestimmte wirtschaftliche Beziehungen eingegangen sind und ausgebildet haben (vgl. Mommsen 1856, 48). Verstehen wir unter »Rom« desweiteren mit Cicero eine politische Einheit, einen »coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus« (de re publica I, 39), so bezeichnet es eine gewisse Rechts- und Lebensgemeinschaft, die auf Regelungen beruht, die von den maiores geschaffen wurden und verschieden von anderen Gemeinschaften sind. In diesem Sinne bezeichnet »Rom« die civitas romana: eine bestimmte, geschichtlich entstandene rechtlich verfasste Gemeinschaft. Fassen wir jedoch über diese Arten der sozialen und politischen Vergemeinschaftung hinaus »Rom« in einem personalen Sinne, so beziehen wir uns auf das Verhältnis dieser Gemeinschaft, der civitas romana, zu sich selbst. Wenn wir zur Bestimmung dieses Selbstverhältnisses nun jene beschriebene Beziehung der Römer zu den maiores als den Gründern Roms anwenden, so folgt daraus, dass diese civitas sich in ihrem Selbstverständnis weder irgendeiner fremden Gesetzgebung unterworfen weiß 35 , dass sie aber auch nicht sich selbst als Urheberin ihrer Gesetze weiß und daher nicht autonom ist, sondern dass sie als Gesetzgeber allein die maiores hat, die durch ihre Institutionen diese Rechts- und Lebensgemeinschaft gegründet haben. Dies aber bedeutet, dass die civitas romana sich als Person nicht sich selbst verdankt Dieses Selbstverständnis belegt die Episode der Verbrennung der »Bücher Numas«: Im Jahre 181 v. Chr. seien Schriften entdeckt worden, in denen Numa Pompilius die Gründe für seine Einführung der religiösen Institutionen aufgezeichnet habe, und die belegten, er sei ein Schüler des Pythagoras gewesen. Um den zersetzenden Gedanken einer Schülerschaft des Staatsgründers aus der Welt zu schaffen, habe der Senat entschieden, die Bücher zu verbrennen. (siehe: Livius 1980, XXXX, 29; Cicero, de re publica II, 15, 28 f.; Augustinus, de civitate Dei, VII, 34)
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und nicht autonom ist, sondern dass sie sich ihren Gründern und Erbauern verdankt, die sie durch ihre Taten konstituiert haben. In diesem Sinne wollen wir ›Rom als unselbständige Person‹ verstehen: diese bestimmte Rechts- und Lebensgemeinschaft, die zugleich nicht durch sich selbst konstituiert ist, sondern die andere, die maiores, als ihre auctores anerkennt und ihnen deshalb die summa auctoritas zuschreibt. 36 Das Besondere, worin sich dieses Verhältnis der civitas romana zu ihren Gründern darstellt, wollen wir als die »res romana« bezeichnen. Diese ist zum einen nichts anderes als jene geschichtlich entstandene und allgemein erfahrbare Rechts- und Lebensgemeinschaft, deren wesentliche Institutionen von den »Erbauern Roms« zu gewissen Zeiten geschaffen worden sind. Insofern ist die res romana die civitas romana. Zum anderen aber gilt sie dem römischen Denken als die gleichsam »heilige Sache«, der der Römer seine Existenz als römischer Bürger, als civis romanus, verdankt. In diesem Sinne deuten wir die res romana als die gemeinsame und öffentliche Sache, als die res publica, durch die der Römer Römer ist; und die er nicht als durch sich, sondern durch die maiores gegründet weiß. Indem daher der Römer als Bürger an dieser öffentlichen und gemeinsamen Sache teilnimmt und ihr gemäß handelt, anerkennt er sie zugleich als die Sache an, die nicht durch ihn gemacht, sondern durch die maiores gegründet ist. Daher bilden die Teilnahme des römischen Bürgers an der res publica und die Anerkennung ihrer Gründer als
J. Fueyo, Schüler C. Schmitts, verfehlt unseres Erachtens dieses Besondere, da er den Autoritätsbegriff als Ausprägung der Idee von Gemeinschaft versteht: »So wird in der auctoritas das Pathos der grundlegenden Idee des Zusammenlebens sichtbar, eines Zusammenlebens, das notwendigerweise in der ursprünglichen Vorstellung von der Gemeinschaft impliziert ist, und in diesem Sinne wird eine tiefe Verehrung dem Ursprung gegenüber offenbar … Diese Begriffsstruktur ist … der große politische Mythos, mit dem jede Ordnung des Zusammenlebens gefühlsmäßig verbunden ist.« (Fueyo 1968, 217 f.) – Nach unserer Erklärung bezeichnet »auctoritas« keine Idee, sondern ein personales Verhältnis. Den Grund von auctoritas sehen wir daher auch nicht in der tiefen Verehrung des Ursprungs überhaupt, sondern in der Gründung dieser Gemeinschaft. Diesen Sinn von auctoritas hat H. Arendt treffend und anschaulich beschrieben: »Im Zentrum römischer Politik … stand die Überzeugung von der Heiligkeit der Gründung, und zwar in dem Sinne, dass das, was einmal gegründet ist, bindend bleibt für alle künftigen Generationen. Politik treiben hieß immer vorerst die Gründung der Stadt bewahren und vermehren. Dies ist auch der Grund, warum die Römer, in auffallendem Unterschied zu den Griechen, unfähig waren, die Gründung dieser einzigen Stadt in der Niederlassung von Kolonien zu wiederholen« (Arendt 1957, 152).
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der höchsten Autorität die zwei Seiten ein und derselben Sache. Diese Sache, die res romana, ist in Hinblick auf das römische Denken das ›Dritte‹, das die civitas romana mit ihren Gründern unauflöslich verbindet, und worin das Handeln des Römers als Bürger und die Anerkennung der maiores als höchster Autorität zusammenfallen 37 . a.
Die Freiwilligkeit der Anerkennung
Diese Interpretation der römischen auctoritas erlaubt uns eine zwanglose Erklärung des Phänomens der dauerhaften Macht durch ihre freiwillige Anerkennung, die zudem mit der Wortbedeutung von »auctor« als »Urheber« übereinstimmt. Wir brauchen dazu nicht mehr auf die unklaren Begriffe einer »Ansehensmacht« oder »höheren Einsicht« zurückgreifen, die ihren Trägern eigneten, und auch auf keinen dunklen »Instinkt der Unterordnung« im Römer, sondern können dieses Phänomen aus dem römischen Denken selbst erklären. Denn da wir annehmen, dass für den Römer die civitas romana keine bloß historisch kontingente Art der Vergemeinschaftung war – etwa gegenüber der ›Idee der Gemeinschaft‹ oder einer ›besten Gemeinschaft‹ –, sondern sie ihm zugleich als die »heilige Sache« galt, bestand in diesem Denken kein Gegensatz zwischen der Freiheit des Bürgers und der Anerkennung der maiores als der höchsten Autorität; diese Anerkennung galt vielmehr die Bedingung seiner Freiheit. Die Einrichtungen und Gesetze der maiores, durch die sie die civitas romana gegründet haben, hatten für ihn daher nicht die Form von heteronomen Vorgaben oder Begrenzungen, welche seine Autonomie einschränkten, sondern bildeten das Fundament und die Bedingungen, die seine freie Existenz in der res publica ermöglichten; und die maiores selbst repräsentierten dementsprechend keine ›Last der Vergangenheit‹, sondern galten dem Römer als die auctores, als die Urheber seiner Existenz als freier Bürger Roms. Dieser Zusammenhang von Freiheit und Anerkennung aber bedeutet, dass in der Freiwilligkeit, die maiores als die höchste Autorität anzuerkennen,
So verstanden steht der römische Republikanismus in Gegensatz zum griechischen Demokratieverständnis. Während hier die Gesetze als »nomoi« verstanden wurden, die auf der Übereinkunft der Bürger beruhen und als solche Ausdruck der politischen Autonomie sind, wurden sie dort als schon vorhandene »leges« gedeutet, denen die Autorität ihrer Urheber zukommt, und die daher nicht ›gemacht‹ oder ›gesetzt‹ werden, sondern zu ›lesen‹, d. h. zu bewahren und auszulegen, sind.
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sich zugleich das Selbstverständnis des Römers als freier Bürger der civitas romana ausdrückt. 38 Diese Art der Übereinstimmung der Freiheit des römischen Bürgers und der Anerkennung der maiores erklärt uns das Dauerhafte der Macht, die die maiores in Rom hatten. Denn mit ihr ist für den Römer eine andere Art der Existenz denn als Römer ausgeschlossen; sie ist mit einer Denkungsart unvereinbar, worin der einzelne sich selbst an die Stelle der maiores setzt, um eine andere, neue oder bessere, civitas zu gründen. Einerseits die maiores als die Urheber der eigenen Existenz anzuerkennen, sich andererseits aber selbst zu deren Urheber zu machen, ist ausgeschlossen. 3.
Die Maiores als epistemische Autorität
Unsere bisherige Darstellung der auctoritas maiorum legt nahe, diese habe sich nur auf das Politische erstreckt und keinen Bezug zum Epistemischen gehabt. Die Annahme einer solchen Beschränkung der auctoritas impliziert jedoch, dass es im römischen Denken – so wie im griechischen – einen Bereich des Wissens ›außerhalb‹ oder ›jenseits‹ des Politischen gegeben habe, der nach eigenen, von der res romana unabhängigen Gesetzen und Regeln organisiert gewesen sei. Ihr widerspricht allerdings, was wir schon als eine Eigentümlichkeit der auctoritas patrum angeführt haben, dass ihre Wirkung sich auf alle Gebiete des römischen Lebens erstreckte. Im Folgenden soll daher das sogenannte ›römische Denken‹ in der Weise rekonstruiert werden, dass in ihm die Art zu wissen mit dem politischen Bewusstsein untrennbar verbunden war. Wir nehmen also an, dass die Anerkennung der Gründer und Erbauer Roms als der summa auctoritas sich auch auf das epistemische Gebiet, d. h. auf die Art der Transformation und Organisation der Wahrnehmungen und Erfahrungen in Wissen, erstreckt hat. Zum römischen Begriff der Freiheit siehe: Wirszubski 1967, 9–21. – Diesen Zusammenhang von Autorität und Freiheit verfehlt Hegel, wenn er zwar zu Recht in der »Stiftung des Staates … die wesentliche Grundlage für die Eigentümlichkeit Roms« erkennt, daraus aber schließt: »Es ist da nicht ein sittlicher, liberaler Zusammenhang, sondern ein gezwungener Zustand der Subordination, der sich aus solchem Ursprunge herleitet.« (Hegel 1969 ff., Bd. 12, 345 f.) Dieser Schluss setzt jedoch einen Begriff von Sittlichkeit und Freiheit voraus, der erklärtermaßen nicht römisch ist und die »Eigentümlichkeit Roms« verfehlt. 38
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Diese spezifisch römische Art des Wissens soll im ersten Teil anhand von Aussagen Ciceros über die sapientia maiorum und der Art ihrer Begründung nachvollzogen werden. Diese Bezugnahme auf Cicero liegt nahe, weil er der einzige Römer war, der sich – relativ – systematisch mit epistemologischen Fragen befasst hat, und seine Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie uns einen Einblick in die Wissensstruktur des römischen Denkens geben kann. Der zweite Teil wird dann, skizzenhaft und unvollständig, die institutionalisierte Art der epistemischen Organisation von Erfahrung im römischen Denken zu rekonstruieren versuchen und dabei dem Verhältnis von Politik und Kultus nachgehen. a.
Die Sapientia maiorum
1. Beginnen wir mit der Feststellung, dass Ciceros Beschreibung der römischen Geschichte, die er in »de re publica« gibt, kein bloß historischer Bericht der vergangenen Ereignisse, sondern eine durch und durch wertende Darstellung ist, und dass er sie selbst auch als eine solche versteht 39 . Unsere These ist nun, dass diese Bewertung der römischen Geschichte nicht aus vorausgehenden Überlegungen über das, was die »res publica« überhaupt oder an sich sei, resultiert, die den Maßstab für eine – zustimmende oder ablehnende – Bewertung der Geschichte Roms bilden; dass Ciceros Geschichtsdarstellung also nicht wertend in einem solchen kritischen Sinne ist. Vielmehr gibt ihm umgekehrt die Geschichte Roms selbst den Maßstab für das, was eine res publica sein kann; sie gilt als das Exemplum schlechthin. Dieses Maßgebende der Geschichte Roms drückt Cicero nun dadurch aus, dass die von den maiores errichtete res publica romana sich nicht nur in einem guten und dauerhaften Zustand befunden habe, sondern dass sie der beste Zustand (optimum status) sei 40 , und dass die Vgl. dazu Ciceros Unterscheidung der Geschichtsschreibungen: »Ista studia, si ad imitandos summos viros spectant, ingeniosorum sunt; sin tantum modo ad indicia veteris memoriae cognoscenda, curiosorum.« (de finibus bonorum et malorum V, 2, 6) 40 Siehe Scipios eindringliches Bekenntnis am Schluss der Unterredung über den ›besten Staat‹«: »So nämlich entscheide ich, so bin ich gesinnt, so versichere ich: keines von allen Gemeinwesen ist nach der Konstitution, der Ordnung, der Lebensweise zu vergleichen mit dem, was unsere Väter, schon von den Vorfahren übernommen, uns überlassen haben. Wenn es recht ist, werde ich, weil ihr das, was ihr selbst begriffen habt, auch von mir hören wolltet, zeigen: zugleich wie es beschaffen ist und dass es das beste ist, und, nachdem ich als das Beispiel unser Gemeinwesen dargelegt habe, werde ich 39
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maiores die Gesetze und Institutionen Roms nicht nur geschaffen, sondern dass sie diese weisest (sapientissime) geschaffen haben. 41 In diesem Bestzustand der instituta maiorum, so wollen wir diese Bewertung zusammenfassen, drückt sich die Weisheit der Gründer Roms aus. In ihm fallen das ideale Gemeinwesen, wie es als das beste gedacht ist, und das reale Gemeinwesen, wie es die Geschichte zeigt, zusammen. Diese Bewertung der römischen Geschichte durch Cicero enthält nun einen ganz offensichtlichen Begründungszirkel: der von den maiores erbaute Zustand der res publica romana ist der beste, weil er von ihnen weisest eingerichtet wurde; und er ist umgekehrt weisest eingerichtet worden, weil dieser Zustand der beste ist. Die Weisheit der maiores erklärt Cicero durch die Güte ihres Werkes und dessen Güte durch deren Weisheit. Cicero lässt offenbar bewusst keine Differenz zwischen der sapientia maiorum und dem optimus status der von ihnen erbauten res publica zu. 42 Wie aber können wir diese Zirkularität der Begründung seiner Bewertung erklären? 2. Zur Erklärung dieses Zirkels können wir zunächst annehmen, er resultiere aus Ciceros politischer Absicht: Der Optimat Cicero zie-
diesem meine ganze Rede, die ich über den besten Zustand der Gemeinschaft zu halten habe, angleichen.« (de re publica I, 46, 70) – Vgl. auch: de re publica I, 21, 34. 41 In de re publica II, 16, 30 lässt Cicero Scipio sagen, dass gerade die geschichtliche Darstellung des römischen Staates die Weisheit der maiores zeigt: »Du wirst das aber noch viel leichter erkennen, … wenn du das Gemeinwesen fortschreitend und in den besten Zustand auf einem gewissen natürlichen Wege und Laufe kommend siehst. Gerade deshalb wirst du feststellen, dass die Weisheit der Vorfahren zu loben ist, weil du erkennen wirst, dass vieles auch von anderswoher Übernommene bei uns viel besser gemacht worden ist, als es dort gewesen war, woher es hierher übertragen wurde und wo es zuerst entstanden war, und wirst erkennen, dass das römische Volk nicht zufällig, sondern durch Überlegung und Disziplin befestigt wurde, freilich nicht gegen das Schicksal.« – Siehe auch de legibus III, 12: »Quae res cum sapientissime moderatissimeque constituta esset a maioribus nostris, nihil habui sane aut non multum, quod putarem novandum in legibus.« 42 Cicero führt die Güte der res publica romana daher nicht, wie Polybios, auf eine ›innere Gesetzmäßigkeit‹ der Staatenentwicklung zurück, sondern auf die Weisheit der Gründer Roms. Zu dieser Differenz zwischen dem griechischen Geschichtsschreiber und dem römischen Staatsmann bemerkt Pöschl 1974, 79 f.: »… während Polybios die Tyche als alleiniges Erklärungsprinzip vor allem darum ablehnt, weil damit die Aufgabe des Historikers, ta@ aitia@ zhtein, verfehlt würde, … setzt Cicero seiner epideiktischen Tendenz entsprechend den Hauptakzent auf die große Leistung der Römer, die durch die Tyche entwertet würde: Polybios lehnt die Tyche aus sachlichen, Cicero aus nationalen Gründen ab.« A
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le darauf ab, die aus Monarchischem, Aristokratischem und Demokratischem »gemischte Verfassung« der alten römischen Republik, die er aktuell bedroht sieht, als vorbildlich darzustellen, und idealisiere daher die altrömische Vergangenheit 43 . Und sicher ist die Annahme einer solchen Absicht Ciceros historisch belegbar und begründbar. Aber sie erklärt uns nicht die besondere Art seiner Argumentation. Denn wenn es nur seine Absicht war, als Optimat die Güte der gemischten Verfassung der römischen Republik darzulegen, so hätte er sie auch auf andere Weise begründen können: aristotelisch etwa durch Rekurs auf das »Maßvolle«, das sie verwirkliche, oder platonisch in Bezug auf die Idee der »Gerechtigkeit«, der sie am meisten entspreche, oder auch durch Hinweis auf die Vorteile und den Nutzen, den diese Art der Verfassung befördere. Cicero führt jedoch als Begründung für ihre Güte an, dass sie von den maiores eingerichtet worden sei, und dass sie deshalb die beste sei. Er nimmt damit offenbar bewusst jenen Begründungszirkel von sapientia maiorum und optimum status in Kauf. Auch wenn wir also annehmen, Ciceros positive Darstellung der römischen Geschichte sei durch politische Interessen motiviert gewesen, so erklärt uns dies nicht die besondere Art seiner Begründung. Als eine weitere Erklärung können wir annehmen, es sei eben ›typisch römisch‹, eine nationale Eigenheit der Römer, gewesen, gewisse Aussagen über das römische Gemeinwesen mit dem Urteil über die epistemische Kompetenz seiner Gründer und Erbauer zu verbinden, die sich daher auch bei anderen römischen Autoren findet. Ciceros Leistung sei es darüber hinaus gewesen, diese Kompetenz nicht nur behauptet, sondern durch das Studium der Geschichte und den Vergleich mit anderen Staaten gezeigt zu haben, dass von allen Einrichtungen die der maiores die besten gewesen seien, und dass deshalb die maiores im Vergleich sowohl mit den Theoretikern des Staates als auch mit anderen Staatsgründern weiser und unter den Weisen die Weisesten gewesen seien. – Wenn wir diese ›typisch römische‹ Aussage über die sapientia maiorum jedoch im Sinne eines Urteils interpretieren, das aus dem Studium der Geschichte und der Staatsverfassungen resultierte, dann enthält dieses Urteil einen performativen Widerspruch. Denn als ein so begründetes Urteil über die Weisheit der maiores käme Cicero die episte-
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Vgl. Dornseiff 1927, 218 ff.; auch: Heinze 1972, 141–159, Fuhrmann 1991, 161 f.
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mische Kompetenz zu, die er in der Aussage doch den maiores zuspricht. Er schriebe als Geschichtsforscher sich die Kompetenz des Urteils zu, die er als Römer den maiores zuschreibt. Als Urteil widerspricht es der Aussage. Denn wenn das Urteil über die Weisheit der maiores ein Wissen repräsentiert, dann kommt dem urteilenden Cicero die Weisheit zu, die er doch von den maiores aussagt. Würden wir jedoch annehmen, die Aussage über die Weisheit der maiores repräsentiere kein Wissen, sondern formuliere etwa nur eine, aus dem Studium gewonnene, Vermutung Ciceros über die sapientia maiorum, so widerspräche sie dem, was wir doch als ›typisch römisch‹ angenommen haben. Wie man es dreht und wendet, Ciceros Aussage über die sapientia maiorum kann nicht als ein begründetes Urteil, weder als ein wahres noch als ein wahrscheinliches, verstanden werden. 3. Da also jener Begründungszirkel von sapientia maiorum und optimum status rei publicae weder mit Ciceros politischer Intention noch als ein ›typisch römisches‹ Urteil über die maiores erklärt werden kann, er aber doch in Ciceros Geschichtsdarstellung das zentrale Argument darstellt, wollen wir diesen Begründungszirkel als Formulierung des epistemischen Gesetzes im römischen Denken interpretieren. Er trifft kein Urteil über die Weisheit der maiores oder die Güte des römischen Staats, sondern nennt die Bedingung, unter der im römischen Denken Wissen überhaupt möglich ist. So verstanden geht die Zirkularität der Aussagen Ciceros über das beste Gemeinwesen und die Weisheit der Vorfahren weder aus einem Studium der Geschichte hervor noch beruht sie auf vergleichenden Überlegungen über die Güte anderer Gemeinwesen und die Weisheit anderer, sondern formuliert das epistemologische Fundament der römischen Denkweise. Die Aussagen behaupten keine vergleichbare Überlegenheit der maiores an Weisheit und Güte gegenüber anderen; sie drücken vielmehr die Weisheit und die Güte als deren unvergleichbare Eigenschaften aus, die ihnen als den Gründern der res romana schlechterdings zukommen. Als epistemologische Aussagen ordnen sie den maiores a priori die höchste epistemische Autorität zu, so dass für den Römer allein diese als der Grund des Wissens gelten, und folglich nur denjenigen Vorstellungen eine epistemische Verbindlichkeit zukommt, die die maiores als Bezugspunkt und Maßstab haben. Ohne diese Beziehung auf die auctoritas maiorum ist, so wollen wir unsere These zusammenfassen, im römischen Denken verbindliches Wissen nicht möglich; sie ist die epistemische Macht, A
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die allein in den mannigfachen Vorstellungen Verbindlichkeit bewirkt. 44 Diese Erklärung des Begründungszirkels als des epistemischen Gesetzes im römischen Denken können wir ihn nun so deuten, dass er die Art und Weise beschreibt, wie die auctoritas maiorum von den Römern auf dem epistemischen Gebiet anerkannt wurde. Einerseits wird in den Aussagen über die Güte des römischen Staates und seiner Einrichtungen zugleich die Weisheit der maiores anerkannt; und andererseits zeigt sich deren Weisheit in der Güte des von ihnen gegründeten und erbauten Staates. In der zirkelhaften Zuschreibung von sapientia maiorum und optimum status rei publicae werden die maiores als die höchste epistemische Autorität anerkannt. Sie stellen vor, was Wissen überhaupt ist: Weisheit und praktisches Können, sapientia et prudentia. – So verstanden ist Ciceros Aussage über die sapientia maiorum widerspruchsfrei; denn er urteilt nicht über die Weisheit der maiores, wenn er sagt, sie seien weisest und ihre Einrichtungen die besten, sondern, indem er dies von ihnen schlechthin aussagt, erkennt er sie als die höchste Autorität an. 45 Und wenn Cicero die Geschichte des römischen Staates als das Exemplum darstellt, so drückt diese Bewertung weder seine besondere Sicht auf die römische Geschichte aus, noch enthält sie das Urteil des Historikers über Geschichte, sondern drückt die Art aus, in der der Römer als Römer weiß 46 . Ciceros wertende Darstellung des römischen StaaMontesquieu schreibt, dass »es bei den Römern noch die Besonderheit (gab), dass sie in die Liebe, die sie für ihr Vaterland hegten, ein gewisses religiöses Gefühl mischten (mêlaient quelque sentiment religieux).« (Montesquieu o. J., 80). Nach unserer Deutung richtet sich dieses »religiöse Gefühl« jedoch nicht auf das Vaterland, sondern – durch das Vaterland hindurch – auf die Väter. 45 In den Tusculanae Disputationes I, 1 erklärt Cicero: »Es war immer mein Urteil, dass die Unsern alles von sich aus weiser erfunden haben als die Griechen oder besser gemacht haben, was sie von ihnen übernommen haben, soweit sie es für wert hielten, sich darum zu bemühen.« Diesem Urteil liegt unserer Interpretation nach weder eine Deduktion aus Grundsätzen noch der Erwerb historischer Kenntnisse zugrunde; es drückt vielmehr die Anerkennung der maiores als summa auctoritas aus. 46 Diese römische Art zu wissen beschreibt H. Roloff treffend anhand der Differenz zwischen griechischer und römischer Geschichtsschreibung. Während die Griechen Polybios und Panaitios die mikth politeia des römischen Staates der Theorie des Verfassungskreislaufs unterordnen, ordnet Cicero umgekehrt »die Kreislauftheorie der großen Schau des römischen Staates als des besten unter.« Entscheidend dafür ist: »Der Grieche Panaitios konnte nicht von den instituta – mores m a i o r u m sprechen, kaum im römischen Sinne von der patrio@ politeia. Für Cicero dagegen ist der ideale Staat nicht ›der römische‹, sondern ›der den unsere Vorfahren schufen‹. Das bedeutet: In Ciceros Schrif44
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tes ist also, nach dieser Erklärung, weder (nur) eine absichtsvolle Verklärung der Vergangenheit noch das Resultat seiner historischen Studien und begrifflichen Überlegungen, sondern die Darstellung einer schlichten Tatsache. Sie drückt die zwanglose Anerkennung der Gründer der res romana als der höchsten Autorität aus. 47 Diese Deutung der Aussagen über die sapientia maiorum erlaubt uns den Schluss, dass sich die auctoritas maiorum im römischen Denken nicht nur auf das Politische, sondern auch auf das Epistemische erstreckt hat. Denn nach dieser Erklärung fallen beide Gebiete zusammen: Das, was Wissen ist, wird weder mythisch in Bezug auf ein ›Ur-Geschehen‹ bestimmt noch – wie in der griechischen Epistemologie – auf das Eine gesetzgebende Subjekt, sondern in Bezug auf die res romana, auf die ›heilige Sache‹ der Römer, die in ihr zugleich ihre Gründer als allein maßgebend anerkennen. b.
Die Gründung Roms: »ad naturam accommodare«
Cicero hat nicht nur durch die Art seiner Geschichtsschreibung die römische Art zu wissen kenntlich gemacht, sondern diese auch mit der griechischen konfrontiert. Während diese das Wissen auf das autonome, von allem abgetrenntes Subjekt, den Logos oder den Nous, gründet, und Wissen daher einer allgemeinen Gesetzgebung unterliegt, ist es das Eigentümliche des römischen Denkens, Wissen auf die auctoritas maiorum, der Gründer der res publica romana, zu gründen. Im griechischen Denken gilt daher das Politische als Teilgebiet ten erst wird die Theorie griechischer Denker zur römischen Geschichtsanschauung.« (Roloff 1967, 311) 47 »Cicero«, schreibt A. Karlovich, »philosophiert immer mit einem Vorurteil, er geht immer von einer These, von einer Definition aus, die für ihn unzweifelbar feststeht. Überspitzt und böse könnte man sagen, Cicero ›philosophiere‹ nur, um sich die eigenen Vorurteile zu bestätigen … Ciceros Denken als unkritisch-affirmatives Interessedenken, reine Ideologie, ›Fortsetzung der Senatspolitik mit anderen Mitteln‹ ? Gewiss ist das nicht einfach von der Hand zu weisen … Aber ich glaube, dass bei solcher Kritik eben nicht mit der von Cicero gemachten Voraussetzung gerechnet wird, nämlich mit der Autonomie und Priorität der Praxis gegenüber der Theorie. Das ›Vorurteil‹ erweist sich so als eine in der Praxis gewonnene Erkenntnis, die nun bloss noch ins Theoretische übersetzt werden muss.« (Karlovich 1982, 133) – So sehr wir dem zustimmen können, dass Cicero »immer mit einem Vorurteil« philosophiert, dies aber nicht »reine Ideologie« ist, – sein Vor-Urteil gründet unseres Erachtens nicht schlicht im Primat der Praxis, sondern in der Unabdingbarkeit römischen Denkens, vor aller Theorie und Praxis die auctoritas maiorum anzuerkennen. A
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des Wissens, das sein Fundament in dem Einen und allgemeinen Logos hat; im römischen Denken hingegen ist umgekehrt das Epistemische im Politischen, der res romana, verankert. Wenn daher Cicero diese Auseinandersetzung führt, dann sieht er sich auf der einen Seite gezwungen, ›nach Art der Griechen‹ über das Gemeinwesen im Allgemeinen zu reden und in Bezug auf dessen Ordnung nichts als das ›gute Argument‹ gelten zu lassen; auf der anderen Seite aber ist er gezwungen, ›nach Art der Römer‹ auf das Gemeinwesen und auf die Gesetze und Einrichtungen zu rekurrieren, die statt des Logos die maiores als Urheber haben 48 . – Die Auflösung dieses Konflikts zwischen den beiden Wissensbegründungsprinzipien, der griechischen Autonomie und der römischen Autorität, wollen wir mit Cicero in Hinblick auf eine ›römische Lösung‹ in drei Schritten rekonstruieren: Der erste stellt die Frage nach dem Begriff der res publica; der zweite gibt die Bestimmung des Begriffs; und der dritte Schritt schließlich wendet diesen Begriff auf ›Rom‹ an. 49 Cicero hat diese epistemische Konfliktsituation in de natura deorum III, 5–6 beschrieben. Dort sagt der pontifex maximus, Aurelius Cotta: »Wenn es sich aber um die Religion handelt, dann folge ich den Oberpriestern Ti. Coruncanius, P. Scipio und P. Scaevola, nicht dem Zenon oder Kleanthes oder Chrysipp … und ich war stets überzeugt, dass Romulus durch die Auspizien und Numa durch die Opferordnung unserem Staat ein (solides) Fundament gelegt haben, der es ohne tiefste Verehrung der unsterblichen Götter niemals zu solchem Erfolg hätte bringen können. Damit, lieber Balbus, kennst Du die Ansicht des Cotta, des Oberpriesters. Laß mich nun wissen, wie du denkst; als Philosoph hast du mir die Religion ja mit Vernunftgründen klarzumachen, unseren Vorfahren aber muss ich auch ohne gegebene Begründung glauben (a te enim philosopho rationem accipere debeo religionis, maioribus autem nostris etiam nulla ratione reddita credere).« – Vgl. auch: de natura deorum I, 61 f. 49 Unsere Darstellung ist Rekonstruktion. Cicero selbst schwankt in »de re publica« zwischen der griechischen »Idee des Staates« und dem römischen »unser Staat«. Er umgeht die gestellte Frage nach dem »besten Staat«, um sie dann doch wieder aufzunehmen. So lässt er im ersten Buch den Scipio auf die Frage von Laelius nach dem »besten Zustand des Staates« (optimum status civitatis, 20, 33) nicht antworten, was dieser sei, sondern dass er mit der Behandlung dieser Frage durch die Griechen (summi ex Graecia sapientissimique homines; 22, 36) nicht zufrieden ist. Es bedürfe dazu nicht der theoretischen Zergliederung bis zu den letzten Bausteinen (elementa; 24, 38) und nicht der Abgrenzung, was ein jedes sei, und auf wieviele Arten es ausgedrückt werde; denn da er vor klugen Leuten (prudentes homines) spreche, wolle er nicht, dass die Sache selbst (res ipsa) klarer als seine Rede sei. Doch auch daraufhin beantwortet Scipio nicht die Frage nach dem »besten Staat«, sondern stellt nur dar, was ein Gemeinwesen überhaupt sei. (25, 39 ff.) – Nachdem er seine Ausführung über die drei Arten von Staaten schließlich damit beendet, dass die gemischte Verfassung (iuncta moderateque permixta confirmatio; 45, 69) wegen ihrer Gleichgewichtigkeit (aequabilitas) und Beständigkeit (firmitudo) gegenüber den anderen zu bevorzugen sei, und man erwarten könnte, dass er jetzt 48
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1. Gegenüber der griechischen Philosophie räumt der Römer Cicero zunächst ein, dass es zur Begründung von Aussagen über die Güte von Gemeinwesen und ihrer Gesetze in der Tat eines Begriffs, eines allgemeinen Kriteriums, bedarf, in Bezug auf das gegebene Verfassungen als »gut« zu beurteilen sind. Diesem Zugeständnis entspricht sowohl die Definition des Staates als »res populi«, die er in de re publica I, 25, 39 gibt, als auch seine Erklärung, dass sich das, was der beste Zustand des Staates sei, auch ohne ein Beispiel bestimmen lässt (II, 39, 66). Cicero stimmt damit den griechischen Philosophen zu, dass zur Klärung der Frage nach dem »optimum status civitatis« nicht der einfache Verweis auf die instituta maiorum genügen kann, sondern dass es dazu erst einer allgemeinen Idee des Gemeinwesens bedarf, also dessen, was mit der Art des römischen Denkens unvereinbar zu sein scheint. Im zweiten Schritt bestimmt Cicero diese Idee des Gemeinwesens als die »Natur des Staates« (natura civitatis). Er hält sie also nicht, wie Platon, als solche, als ein unveränderliches nohton, fest, sondern bezieht sie sofort auf die ›Wirklichkeit‹, und tadelt die griechischen Philosophen, dass sie, indem sie von dem Staat ›an sich‹ oder von den möglichen guten und schlechten Staatsformen reden, bloße Fiktionen ersinnen, aber nicht zur ›Wirklichkeit‹ dieser Idee gelangen 50 . Diese Wirklichkeit der Idee nennt Cicero die Natur, mit der er die Frage nach dem »besten Staat« beantwortet, bricht er erneut mit dem Hinweis ab, er wolle seine Zuhörer nicht mit abstrakten Erörterungen langweilen, und legt nun sein Bekenntnis ab, dass der römische Staat es sei, der der beste ist (46, 70). – Am Ende seiner Darstellung der Geschichte Roms im zweiten Buch (II, 39, 64 ff.) revidiert Scipio diese Auffassung offenbar wieder, wenn er feststellt, dies sei nur ein Beispiel gewesen. Es sollte nicht der beste Staat definiert werden (non ad definiendum optimum statum valuit; 9, 66) – da dies auch ohne Beispiel möglich sei –, sondern nur an dem größten Staat (civitas maxima) in der Wirklichkeit (reapse) gezeigt werden, wie das beschaffen sei, was die Theorie beschreibt. Erst dann führt er, auf Umwegen, ein, dass ohne die Gerechtigkeit kein Staat sein könne (42, 69), um daraufhin im III. Buch die Bedeutung der Gerechtigkeit im Staate zu erörtern. – Diesem Verhältnis von »Römischem Staat und griechischem Staatsdenken bei Cicero« ist V. Pöschl nachgegangen. Er verbleibt jedoch zu sehr beim Vergleich und arbeitet zu wenig diese konsequente Inkonsequenz der Gedanken- und Gesprächsführung Ciceros heraus. 50 Vgl. de re publica II, 11, 21 f.: »Denn jener erste [Platon], den niemand im Schreiben übertraf, nahm sich einen Ort, um auf ihm einen Staat nach seinem Gutdünken (arbitratu suo) errichten, der für ihn vielleicht vorzüglich ist, aber dem Leben der Menschen und ihren Sitten gänzlich entrückt ist; die übrigen haben sich ohne ein sicheres Beispiel und die Form des Gemeinwesens über die Arten und die Begriffe von Staaten verbreitet.« A
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offenbar den stoischen Begriff der yusi@ übernimmt, welcher Idee und Wirklichkeit in dem Einen, ewigen und allgemeinen ›Weltlogos‹ zusammenfasst, um ihn aber sogleich auf die Natur des Staates zu beziehen 51 . Diese Bestimmung der Idee des Staates als die Natur des Staates dient Cicero nun als der Maßstab und das Kriterium, an dem wirkliche Gemeinwesen gemessen werden können, und dem sie entsprechen müssen, um als »gut« bewertet werden zu können. Gemeinwesen müssen in diesem Sinne der Natur des Gemeinwesens entsprechen. Da es für Cicero als Römer jedoch unverzichtbar ist, die res publica romana, das von den maiores gegründete Gemeinwesen, als den besten Zustand zu wissen, geht er nun nicht dazu über – wie es dem griechischen Verfahren entspricht – nach jenem allgemeinen Prinzip der Natur des Staates das diesem angemessene Gemeinwesen fragend und suchend »in schweifender Rede« (de re publica II, 11, 22) 51 Diese Transformation des griechischen »eido@« ins lateinische »natura« ist ideengeschichtlich von zentraler Bedeutung, da sich in ihr widerspiegelt, was Cicero wiederholt anführt: dass die Römer, was sie anderswoher übernommen haben, besser gemacht haben. Bedauerlich ist, dass das dritte Buch von »de re publica« nur fragmentarisch überliefert ist und die ›Laelius-Rede‹, die offenbar die Verbindung von Vernunft und Natur zum Thema hatte, fast ganz fehlt, so dass sich jene Transformation nur unvollkommen rekonstruieren lässt (zur möglichen Anordnung der Rede siehe: K. Büchner in: Cicero 1979, 361 f.). Erhalten ist jedoch das von Lactanz (divinae institutiones 6, 8, 6–9) überlieferte Fragment (III, 22, 33), das die Idee des ewigen ›Vernunftgesetzes‹ mit dem Begriff der ›Natur‹ verbindet und zudem die ethisch-politische Dimension dieser Verbindung verdeutlicht. – Vgl. auch Philippica XI, 28; de legibus I, 15, 18; 23, 33; de finibus bonorum et malorum IV, 11. Bei dieser Transformation sind vor allem zwei Gesichtspunkte von Bedeutung: Hatte die ›klassisch-griechische‹ Philosophie die Idee eines Lebens nach der Vernunft (kata logon) an die Polis gebunden, universalisierte die stoisch-hellenistische Philosophie diesen Ort der Vernunft zur Natur. Die Vernunft ›ergieße‹ sich in alles, und alles enthalte in sich den Logos. Für die Stoa wird daher vernunftgemäßes Handeln als ein Handeln gemäß der Natur (kata thn yusin) aufgefasst. Mit dieser Universalisierung aber tritt an die Stelle des Polisbürgers das Individuum, der in Übereinstimmung mit der Vernunftnatur handelnde Weise (soyo@). – Dieses stoische Konzept eines Handelns gemäß der Natur übernimmt Cicero, wendet es aber wieder ins Politische: der Ort der Vernunft ist nicht die, hellenistisch gedachte, Natur, sondern die, römisch gedachte, res publica; und das handelnde Subjekt ist nicht der soyo@, sondern der römische Staatsmann, der sich in seinem Handeln der ›Natur des Staates‹ verpflichtet weiß. Diese Verbindung von stoischer Natur und politischem Handeln drückt Ciceros Begriff der Gerechtigkeit (iustitia) aus: sie wird weder als Idee gedacht noch als Weltgesetz vorgestellt, sondern gilt als das natürliche, ewige Band der menschlichen Gemeinschaft, das dem Staatsmann verpflichtendes Gesetz ist. – Zu Ciceros Gerechtigkeitsbegriff siehe insbesondere: de officiis I, 20; de finibus bonorum et malorum V, 65.
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zu konstruieren; vielmehr verschmilzt er im dritten Schritt die allgemeine und ewige Natur des Staates mit der historisch-konkreten, von den maiores gegründeten res publica romana. 52 Diese Verknüpfung der allgemeinen Natur des Staates mit der historischen Gründung Roms, die Cicero vollzieht, wollen wir in die Formel fassen: ad naturam accommodare 53. Die römische res publica gilt als das beste Gemeinwesen, weil die maiores als ihre Gründer sie durch ihre Institutionen der ewigen und allgemeinen Natur des Staates angeglichen haben, und daher der römische Staat mit dem, was die Natur des Gemeinwesens ist, übereinstimmt 54 . 2. Akzeptiert man diesen ›Dreischritt‹ als Rekonstruktionsmodell einer ›römischen Lösung‹, so erlaubt es die Formel des »ad naturam accommodare« dem römischen Denken, das Reflexionsund Begriffspotential der griechischen Philosophie einzubeziehen, um es zugleich zur Bestätigung der summa auctoritas maiorum zu verwenden 55 . Zwar räumt Cicero ein, dass den Gründern und ErbauSiehe: Pöschl 1974, 45; Pohlenz 1931, 87. – Dieser Verschmelzung entspricht Ciceros Kritik, die griechischen Philosophen haben es nur dahin gebracht, den Begriff vom besten Staat zu bilden, während es Vorzug des Römers sei, den besten Staat anhand des von den maiores geschaffenen Staats auch in der erfahrbaren Wirklichkeit zeigen zu können. Dieses Staatsmännisch-Praktische fehle – bei aller Gelehrsamkeit und Beredsamkeit – den Griechen. Für Cicero folgt aus dem Fiktiven der griechischen Staatstheorien, dass sie hinsichtlich der Institutionen, insbesondere der Familie und des Eigentums, abstrakt bleiben und mit dem Leben und den Sitten der Menschen nicht in Einklang stehen (siehe: de re publica II, 11, 21 f.; IV, 5, 5; Tusculanae disputationes I, 1–8). Cicero versteht also seinen Verweis auf den römischen Staat weder als das nur den Römer verpflichtende exemplum noch als anschauliches Beispiel des ›besten Staates‹, sondern als Demonstration des ›wirklichen Idealstaats‹, der mit der Natur des Staates übereinstimmt und das verwirklicht, was die griechischen Philosophen nur gedacht haben. Für ihn ist der römische Staat daher die »Vollendung der Natur« (Pöschl 1974, 131). 53 Cicero, de legibus 2, 62: »gaudeo nostra iura ad naturam accommodari maiorumque sapientia admodum delector.« 54 »Das Ganze ist eine konsequente und in sich geschlossene Vorstellung: die maiores haben durch das ad naturam accomodare der Institutionen den römischen Staat zu dem besten gemacht.« (Roloff 1967, 303) 55 M. Fuhrmann kommentiert diese Verwendung aus Sicht des Historikers: »Die Schrift [de legibus] beginnt mit einer allgemeinen naturrechtlichen Betrachtung, die wohl einer stoischen Quelle folgt, und befasst sich sodann mit dem römischen Sakral- und Staatsrecht. Die römischen Bestimmungen, von Cicero allerdings nicht unerheblich modifiziert, werden mit den Normen des Naturrechts verglichen und für identisch erklärt. Cicero sucht also einmal mehr griechische Theorie und römische Faktizität miteinander zu verschmelzen, hier freilich nicht ohne petitio principii: die römische Komponente wurde ja von ihm auf das Demonstrationsziel hin zurechtgestutzt.« (Fuhrmann 1991, 165). – Nach unserer Deutung geht es Cicero jedoch nicht, wie dem Historiker, um die 52
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ern Roms diejenige Bildung fehlte, die die Griechen in der Rede-, Schreib- und Dichtkunst hervorgebracht haben, sowie das Wissen über die unveränderliche ›Natur der Dinge‹, – Fähigkeiten, die nicht zuletzt Cicero selbst in Rom heimisch machen wollte 56. Gegenüber dieser Bildung der Griechen hebt er jedoch hervor, dass die Gründer Roms durch die Schaffung ausgewogener und dauerhafter Institutionen in concreto die politische Klugheit bewiesen haben, die den Griechen fehlte. Er zeichnet sie daher als die ›wahrhaft Wissenden‹ aus, die, weil sie durch ihre Gründung das Wissen um die Natur des Gemeinwesens mit der praktischen Klugheit vereinigt haben, sapientia prudentia besitzen 57 . Was, so können wir aus dieser Lösung folgern, der Römer schlechthin als den besten Staat weiß, das kann auch auf dem Weg der Einsicht in die »Natur des Staates« erkannt werden. Die entscheidende Schlussfolgerung, die sich aus der Formel des »ad naturam accommodare« ergibt, ist jedoch, dass die maiores, indem sie durch ihre Institutionen die res publica romana der ewigen Natur des Staates gemäß verwirklicht haben, nicht nur ein geschichtlich dauerhaftes Gemeinwesen, sondern Unvergängliches geschaffen haben. Denn aus der Verschmelzung der römischen res publica mit der griechischen Idee einer ewigen Natur des Staates, die Cicero vornimmt, folgt die ›Verewigung Roms‹. Die maiores werden daher nicht mehr nur als die Gründer der res publica anerkannt, denen der römische Bürger sich in seinem Denken und Handeln schlechterdings verpflichtet weiß; sie gelten nach dieser Transformation darüber hinaus als die Vollender der ewigen Natur. Cicero, indem er das Werk der maiores, die res publica romana, als die Angleichung an die Natur des Staates fasst, überträgt damit zugleich jene in der griechischen Philosophie gedachte Idee einer ewigen Vernunftordnung auf den historisch-zeitlichen Erfahrungsraum des römischen Reiches 58. Der römische Staat gilt dem römischen Staatsmann daher »römische Faktizität« – so dass man ihm vorhalten kann, er habe sie »zurechtgestutzt« –, sondern um die Anerkennung der auctoritas maiorum, d. h. um die Darstellung der von ihnen gegründeten Gemeinschaft als der besten. Für den Römer Cicero sind nicht die Fakten, sondern die maiores verpflichtend; daher die petitio principii. 56 siehe: Tusculanae disputationes I, 1–8. 57 de oratore I, 195: »Mögen auch alle protestieren, ich werde aussprechen, was ich denke: die Bibliotheken bei Gott aller Philosophen miteinander übertrifft meiner Meinung nach das kleine Büchelchen der 12 Tafeln …, übertrifft sie an Gewicht der Autorität und an der Fülle des Nutzens.« Auch: de re publica I, 2, 2–3. – Vgl. Roloff 1967, 304. 58 Der Gedanke der Ewigkeit des Geschichtlichen, stellt V. Pöschl fest, sei »ursprünglich
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nicht nur als der optimum status civitatis und auch nicht nur als das dauerhafte Werk der maiores, sondern als das Gemeinwesen, das – wie die Natur – unvergänglich und ewig ist 59 . Dieser Angleichung des römischen Staates an die ewige Natur entspricht, dass der Untergang des römischen Staates nicht mehr nur als Verlust der Existenz als Römer erfahren würde, sondern als das Chaos, als der Untergang der Welt. 60
C. Die Wissensorganisation Diese Rückbindung des Denkens und Vorstellens an die sapientia maiorum, als die wir die römische Art der Wissensbegründung beschrieben haben, kann uns auch das Dauerhafte dieser Denkweise sowie den offenkundigen Mangel einer Eigenständigkeit der epistemischen Tätigkeit erklären; – sowie das Desinteresse sowohl der Philosophie als auch der Wissenschafts- und Kunstgeschichte am römischen Denken, das übereinstimmend als epigonal, eklektisch und pragmatisch beurteilt wird. Abgesehen von den republikanischen Turömisch« und »die Übertragung auf eine historische Wirklichkeit … für griechisches Denken unerhört« (Pöschl 1974, 101). 59 Cicero, de natura deorum III, 21: »Nihil est mundo melius in rerum natura; ne in terris quidem urbe nostra«. – In dieser Gleichstellung von mundus und Rom sieht V. Pöschl den Grund für die Überlegenheit der maiores vor den griechischen Philosophen, die Cicero ihnen zuspricht: »Die Schöpfung des römischen Staates und die Schöpfung des römischen Rechtes ist für die Verwirklichung der Weltordnung, die Kräftigung der in der Natur angelegten Möglichkeiten wichtiger als die griechische Philosophie. Die ist immer nur partiell wirksam; eine vollkommene Erfüllung ihrer Erkenntnisse ist ihr immer versagt geblieben. In Buch III [de re publica] wird das römische Reich als das Reich der iustitia erwiesen, das eben durch sie groß geworden ist und sie in der Welt zur Geltung gebracht hat: Rom hat die Welt nicht nur unterworfen, sondern geordnet und gesittigt, beglückt und befriedet. Hier enthüllt sich die ganze Größe römischer Leistung, die auch die höchste griechische Philosophie in den Schatten stellt.« (Pöschl 1974, 153). – Zur Wirkungsgeschichte des Gedankens vom »ewigen Rom« siehe: Kytzler 1993. 60 »… es muss nämlich der Staat so eingerichtet sein, dass er ewig ist. Deshalb gibt es keinen natürlichen Untergang eines Gemeinwesens wie den des Menschen, für den der Tod nicht nur notwendig, sondern oft auch wünschenswert ist. Wenn aber der Staat beseitigt, zerstört, ausgelöscht wird, so ist es, um Kleines mit Großem zu vergleichen, in gewisser Weise dem gleich, wie wenn diese ganze Weltordnung unterginge und zusammenstürzte (ac si omnis hic mundus intereat et concidat; de re publica III, 34).« – Vgl. auch: Hieronymus, Brief 123, 16: »Wenn Rom untergehen kann, was mag da sicher sein?« (zit. nach Brown 2000, 253) A
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genden der Römer, ihren juristischen Kompetenzen und einer ihr folgenden stupenden Gelehrsamkeit scheinen die epistemischen Leistungen ohne Belang gewesen zu sein. Dem römischen Denken fehlte zweifelsohne die Ausbildung einer freien epistemischen Tätigkeit, die sich in einer auf Phantasie gegründeten Erzähl- und Dichtkunst 61 oder einer aufs autonome Denken gegründeten Philosophie dargestellt hätte 62. Man hat daher wohl zu Recht vom »juristisch-institutionellen Charakter« (Wendorff 1985, 70) der römischen Wissensart gesprochen, die sich im Kern auf die gewissenhafte und pünktliche Repräsentation der von den maiores institutionalisierten Regeln beschränkte. 63 Uns soll es im Folgenden weder um die Diskussion der Ursachen eines solchen institutionalisierten Wissens noch um die Beschreibung der Folgen solcher ›Disziplinierung des Geistes‹ oder deren Bewertung gehen 64 . Wir wollen nur der Frage nachgehen, auf welche Weise sich der wissensbegründende Bezug auf die auctoritas maiorum in der epistemischen Tätigkeit ausgedrückt hat. Dabei sind für »Die Dichtkunst«, berichtet A. Gellius, »stand nicht in Ehren. Wenn sich jemand damit beschäftigte oder wenn er Gelage besuchte, dann nannte man ihn einen Bummler.« (Carmen de moribus 11, 2, 5; zit. nach: Fuhrmann 1989, 84) 62 Diese Distanz des Römers zur Philosophie formuliert der Dichters Ennius treffend: »Philosophari est mihi necesse, at paucis: nam omnino haut placet.« (Q. Ennius, Fr. 340. In: Ribbeck 1897). – Auch Cato: »vos philosophi mera estis mortualia« (nach A. Gellius, Noctes Atticae XVIII, 7, 3). Hierzu gehört der Beschluss des römischen Senats von 161 v. Chr., sämtliche griechische Philosophen und Rhetoren auszuweisen. 63 Für diese Wissensart erscheint die Dreiteilung der Theologie des griechischen Philosophen und Freundes Scipios, Panaitios, wie geschaffen: »Es gibt drei Klassen von Götterlehren: die erste ist die der Dichter, die zweite die der Philosophen, die dritte die der Staatsmänner. Die erste Gattung ist läppisch, weil dabei viele unwürdige Erdichtungen mit unterlaufen … Die zweite Gattung passt nicht für den Staat: denn sie umfasst einerseits manches Überflüssige und andererseits auch manches, was zu wissen dem Volke schädlich ist: z. B. … dass der Staat von seinen Göttern keine wirklichen Bilder habe, dass der wahre Gott kein Geschlecht, kein Alter und keine begrenzte körperliche Gestalt habe … Die dritte Gattung von Theologie ist diejenige, welche die Bürger in den Städten und besonders die Priester kennen und ausüben müssen. Sie schreibt vor, welche Götter öffentlich zu verehren seien und welche heiligen Handlungen und Opfer zu vollziehen einem jedem gezieme. Die Theologie der ersten Art passt sich am meisten dem Theater an, die zweite der Welt, die dritte dem Staat.« (Panaitios, Aus unbestimmten Schriften; zit. nach: Seidel 1984, 156) 64 z. B. Mommsen 1856 148 f.: »Rom ist groß geworden wie kein anderer Staat des Altertums; aber es hat seine Größe teuer bezahlt mit der Aufopferung der anmutigen Mannigfaltigkeit, der bequemen Lässlichkeit, der inneren Freiheit des hellenischen Lebens.« – Vgl. auch: ebd., 159 f. 61
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uns nicht die Inhalte von Interesse, die den Römern als unhintergehbar ›wahr‹ erschienen, sondern die Etablierung dauerhafter epistemischer Regeln, die statt eines kontroversen und kritischen Diskurses – wie in der griechischen Philosophie – einen institutionalisierten und konsensuellen Diskurs ermöglichten. Dies wollen wir versuchsweise und exemplarisch an der Raum- und der Zeitstruktur nachvollziehen, in denen sich im römischen Denken verbindliches Wissen repräsentierte. 1.
Rom als epistemisches Zentrum
Wenn im römischen Denken den Gründern und Erbauern Roms die epistemische Autorität zukommt, dann können in diesem Denken nur diejenige Vorstellungen Wissen repräsentieren, die die instituta maiorum als Maßstab und zum Vorbild haben, die also die Gründung der res publica romana nachahmend aktualisieren. In diesem Fall ist das aktuelle Wissen keine Vergegenwärtigung eines mythischen ›UrGeschehens‹ und auch keine im Logos begründete Vorstellung, sondern die wiederholende Vergegenwärtigung der constitutio rei publicae romanae. Und dieses Wissen wird nach Regeln erzeugt, die von den maiores institutionalisiert wurden. Unter dieser Bedingung wäre nun aber der Besitz von Wissen nur dann gewährleistet, wenn Rom, das von den maiores Gegründete, das Zentrum der epistemischen Tätigkeit bildete; wenn also das, was Wissen codiert, kein vorzeitliches ›Götterreich‹ und kein von allem getrenntes ›Eines‹, sondern ›Rom‹ der Ort aller Örter wäre, von dem aus die kontingenten Wahrnehmungen und Überlegungen epistemisch geordnet werden. Der epistemischen Tätigkeit läge in diesem Fall eine räumliche Ordnung zugrunde, aufgrund derer sie nicht überall stattfinden kann, sondern an ›Rom‹ als das selbst unveränderliche Zentrum gebunden ist. Diese Art des Wissens hätte als epistemischen Bezugspunkt keinen Ort jenseits der Erfahrung, weder eine mythische Welt noch das autonome Eine, sondern organisierte sich im Bereich der Erfahrung durch die Auszeichnung von Rom als bleibendem Zentrum. Hier fehlte die epistemische Differenz zwischen einem unvergänglichen Jenseits des Gedachten und einem vergänglichen Diesseits der Erfahrung. Wenden wir uns mit dieser Vorüberlegung zur Wissensstruktur den Organisationsformen des römischen Wissens zu, so finden wir, dass dort erstens die Repräsentanten des Wissens weder Sänger oder A
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Dichter noch Weise, sondern eingesetzte oder gewählte Priester waren, und dass zweitens zumindest vom collegium augurum in der Tat der Gründungsort der res romana als epistemisches Zentrum ausgezeichnet wurde. Soweit sich das Verfahren der Auguren rekonstruieren lässt, ist offenbar vom Capitol als dem Zentrum aus 65 zunächst der Himmel durch Achsenziehung in die vier Himmelsrichtungen geteilt worden, auf der Grundlage dieses Koordinatensystems dann der Vogelflug beobachtet und das Beobachtete nach feststehenden Regeln gedeutet worden. Dieses Beobachtungsverfahren der Auguren, das auspicium, erfolgte nach Abschluss einer verfassungsmäßigen Beschlussfassung der civitas romana und ging der Durchführung des Beschlusses voraus. Es diente offenbar der sanktionierenden Verifizierung bzw. der Unheil abwendenden Falsifizierung des gemeinsam gefassten Beschlusses, so dass es keine Handlung der civitas romana (wie Kriegserklärung, Militäraktion, Friedensschluss) gegeben hat, die nicht durch dieses Beobachtungsverfahren des Augurenkollegiums verifiziert worden war 66. Auch wenn wir die Regeln nicht mehr genau kennen, so ist es doch recht sicher, dass dieses Vorgehen erstens dazu diente, die Zustimmung oder Ablehnung der Schutzgötter Roms zu erkunden 67 , dass zweitens die Regeln, nach denen die Beobachtung des Vogelflugs und dessen Interpretation sich vollzogen, als Einrichtung der maiores, in diesem Falle von Romulus, galten 68 , und dass drittens das Auspicium zu gegebenem Anlass von den Auguren gewissenhaft befolgt und vollzogen wurde. Verstehen wir diese ortsgebundene Tätigkeit der Auguren als Transformation einer kollektiven Meinung in verbindliches Wissen, so bleibt allerdings die uns hier vor allem interessierende Frage ungeklärt, worin die epistemische Qualität dieser Tätigkeit bestand. Diente die beschriebene Beobachtungsmethode der Erkenntnis des Willens der Schutzgötter Roms, die ihren Sitz im Zentrum hatten, Das von Tarquinius Priscus errichtete Templum Capitolinum wurde auch »auguraculum« genannt, weil von dort aus die Auguren den Vogelflug beobachteten. Siehe: Georges 1988, 726. 66 siehe: Cicero, de legibus II, 31. Er nennt die Auspizien und den Senat die »zwei herausragenden Stützen des Staates« (egregia duo firmamentum rei publicae; de re publica, 2, 17). 67 Vgl. Müller 1961, 43. 68 Mommsen 1889, Bd. 1, 87: »… alle Auspizien werden zurückgeführt auf jenes große Zeichen, wodurch die Götter dem Romulus die Ermächtigung gaben, die Stadt zu gründen, das römische Volk zu stiften, und ihm das Königtum desselben übertrugen.« 65
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und bestand Wissen daher in der Übereinstimmung des Beschlusses der civitas romana mit dem Willen der Götter; oder bestand die epistemische Qualität dieses Verfahrens in der Wiederholung der Gründungstat des Romulus, der durch die Einrichtung des Auspiciums die res romana gegründet hatte? Im einen Fall wäre die Instanz, die Wissen begründet, der Götterwille, und die Gewissenhaftigkeit der Augurentätigkeit hätte sich auf die Erkenntnis dieses Willens gerichtet; im anderen Fall wären diese Instanz die maiores, die die Institution des Auspiciums errichtet hatten, und die Gewissenhaftigkeit des Vollzugs hätte die Funktion der Nachahmung dieser Gründungstat 69 . Im einen Fall wäre das Wissen ›religiös‹, im anderen ›politisch-institutionell‹ begründet. Diese Frage wollen wir später wieder aufnehmen. 2.
Zeit als Geschichte
Wenn die maiores als summa auctoritas anzuerkennen heißt, das von ihnen Gegründete, die res romana, als die ›heilige Sache‹ zu wissen, so bildet Rom nicht nur räumlich das sakrale Zentrum der Wissensorganisation, sondern muss auch als diejenige ›Sache‹ vorgestellt werden, die in allem zeitlich Veränderlichen gleichbleibt und dauert. Denn würde, so lässt sich argumentieren, die res romana nicht als die dauerhafte und unvergängliche Sache, sondern als ein kontingentes und vergängliches Gebilde vorgestellt, so läge dieser Vorstellung die sinnliche Erfahrung zugrunde, die zeigt, dass alles Entstandene auch vergeht. Damit aber würde die Erfahrung zur epistemischen Instanz erhoben, nicht aber die maiores als epistemische Autorität anerkannt. Einerseits also die Gründer der res romana als höchste Auto-
Dieser Doppelsinn der Tätigkeit der Auguren, durch Beobachtung Wissen zu erzeugen, und das von den maiores vorgeschriebene Ritual zu vollziehen, kommt in der Etymologiediskussion des Wortes »augur« zum Ausdruck. Einmal wird das Wort von »avis« und »gerere« hergeleitet und damit auf die Art der Tätigkeit, die Beobachtung des Verhaltens der Vögel, abgehoben; das andere Mal wird es mit »auctor« zusammengestellt und damit auf die politische Funktion der Mehrung des Staatswohls durch den Vollzug des Rituals hingewiesen (siehe: Georges 1988, 726; Walde 1972, 83). Diese Kontroverse lässt sich zur Frage zuspitzen: Bedeutet »re-ligio« im römischen Denken die Verbindung mit den Göttern oder die Rückbindung an die Gründer? Wenn das eine das andere auch bedingte, – was aber war das Unbedingte?
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rität anzuerkennen, andererseits jedoch das von ihnen Gegründete als eine zeitlich vergängliche Sache zu beurteilen, ist nicht möglich. Der Ort nun, wo diese Vorstellung von Rom als der zeitlich dauerhaften Sache ihren Platz hat, kann unter dieser Bedingung weder ein empirisches Bewusstsein sein, dem alle Vorstellungen als veränderlich erscheinen, noch die Vorstellungswelt des Sängers oder Dichters, der durch seine Tätigkeit einen vorzeitlichen Code vergegenwärtigt; er kann aber auch nicht die ›Seele‹ des Philosophen sein, der sich des zeitlos-ewigen Logos als Grund seiner Vorstellungen vergewissert. Denn die Vorstellung Roms als der dauerhaften Sache ist weder empirischen noch mythischen noch logischen Ursprungs. Wir nehmen daher an, dass dieser der Ort dieser Vorstellung das Denken des »Römers« ist, d. h. desjenigen Subjekts, das mit der Vorstellung der res romana als der zeitlich dauerhaften Sache zugleich deren Gründer als die höchste Autorität anerkennt. Dieser Vorstellung entspricht nun aber, dass der Anfang von allem nicht in eine mythische, vor-zeitliche Ur-Geschichte gelegt oder als zeitlose Ur-Sache gedacht wird, sondern dass in diesem Denken der Ursprung und der Anfang von allem in der Gründung und Erbauung der res romana erkannt wird 70 . In der Vorstellung dieser Sache vergegenwärtigt der Römer diesen Anfang und wieder-holt darin ihre Gründung, so dass sein Handeln auf den Fortbestand der res romana gerichtet ist. Wissen hat daher im römischen Denken weder die Struktur der Vergegenwärtigung eines vorzeitlichen Geschehens noch die der Repräsentation des zeitlos-unveränderlichen Seienden, sondern eines Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergreifenden Denkens, das in der Einheit von Aneignung des Vergangenen, gegenwärtiger Handlung und antizipierender Sorge auf die res romana als der dauerhaften Sache bezogen ist 71 . Jedenfalls kann uns die Annahme eines solcher Art an die res Siehe: Wendorff 1985, 71. Einen passenden Ausdruck für diese Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt das Wort »traditio« bzw. »tradere«. Ursprünglich bedeutet »tradere« »eine Sache von Hand zu Hand zu übergeben«. Versteht man unter dieser ›Sache‹ die res romana, dann bedeutet »traditio«, dass der Empfänger dieser Sache damit die Verpflichtung übernimmt, sie erstens zu bewahren, von ihr zweitens einen sachgemäßen Gebrauch zu machen und sie drittens weiterzugeben. Hier ist der durchgehende Handlungszweck der Fortbestand dieser Sache. – Plumpe 1935, 69: »Man steht nicht einer rein geschichtlichen Vergangenheit gegenüber, die nur im historischen Bewusstsein existiert, sondern lebt eine von den Vorfahren gelebte Vergangenheit weiter.«
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romana ›gebundenen‹ Wissens die Ausbildung einer spezifisch römischen Art des historischen Wissens erklären, das schließlich in die Konstruktion einer Geschichte mündete, die weder in die Vergangenheit phantastische Fabeln projiziert noch die Geschichte nur als eine Sammlung vergangener, vormaliger Ereignisse vorstellt, sondern die an der res romana das zeitübergreifende und dauernde Kontinuum, den ›roten Faden‹, hat, an dem einerseits die vergangenen Ereignisse chronologisch und sachgemäß geordnet werden, und dem andererseits diese Darstellung der Geschichte selbst dient. Daher ist, so die Schlussfolgerung, nicht die Mythologie oder Philosophie, sondern diese Art der Geschichtsschreibung die Form, in der das römische, an die res romana gebundene Denken den angemessensten Ausdruck findet. 72 3.
Die Res Romana als »heilige Sache«
Die Annahme eines solch räumlich wie zeitlich ›gebundenen Denkens‹, das »Rom« als den Ort aller Örter und die »res romana« als die dauerhafte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindende Sache auszeichnet, kann nun die Tatsache erklären, dass die römische Kultur nicht nur keinen verbindlichen Mythos hatte und auch keine Philosophie hervorbrachte, sondern sich diesen gegenüber auch als resistent verhielt. Wir benötigen zur Erklärung dieses Tatbestands keine Hypothesen über einen ›Realitäts-‹ oder ›Wirklichkeitssinn‹, der den Römern eignete, oder einen ›nüchternen Verstand‹, der die Vorstellungswelt der Römer beherrschte73, sondern können diesen Mangel durch die Organisationsart des Wissens im römischen Denken selbst, durch die Bindung der Vorstellungswelt an die von den maiores gegründeten res romana, erklären. Denn unter dieser BedinFreilich sind auch hier nicht die Römer, sondern die Griechen die Begründer der Geschichtsschreibung. Doch während Herodot, Thukydides oder Polybios große historische Ereignisse, die Perserkriege, den Peloponnesischen Krieg oder die Punischen Kriege, zum Gegenstand haben und nach deren Ursachen suchen, lässt T. Livius die Geschichte Roms »ab urbe condita« gleichsam selbst sprechen. Sein Interesse an der Geschichte ist nicht darauf gerichtet, über die treibenden Kräfte aufzuklären, sondern – wie schon Cato in seinen »Origines« – durch die Darstellung der Ereignisse und handelnden Personen das Vergangene in der Gegenwart zu erinnern und zu bewahren. 73 Nichtssagend sind jedenfalls ›Erklärungen‹, die die Tatsache der Armut an Phantasie in der römischen Kunst aus der ›Phantasiearmut‹ der Römer erklären. Vgl. dazu Wissowa 1971, 238; auch: Latte 1967, 100. 72
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gung bestand die epistemische Tätigkeit nicht in der Erzählung und Darstellung des Wirkens von Göttern und Heroen und auch nicht in der Anwendung allgemeiner Grundsätze, sondern hatte ihren verbindlichen Inhalt an der res romana, d. h. an den Einrichtungen, Verhaltensmustern und Taten der maiores, die der Römer in seinem Handeln wieder-holend vergegenwärtigte. Über diesen Mangel hinaus kann die Annahme einer solchen Organisation des Wissens auch eine Erklärung für die Tatsachen der Entstehung und der Dauer des Imperii Romani, der römischen ›Weltherrschaft‹, geben. Denn wenn im römischen Denken das unwandelbar ›Heilige‹ die von den maiores gegründete res romana war, und die Bindung an diese Sache das consilium der civitas romana, ihren Diskurs, ihre Beschlüsse und Handlungen, bestimmte, dann bedarf es zur Erklärung des Imperiums keiner volkspsychologischen Hypothese über einen »grenzenlosen Machtwillen«, der die Römer getrieben habe 74, es muss auch keine geschichtsphilosophische ›Vorsehung‹ angenommen, die den römischen Staat zur Weltherrschaft bestimmt habe 75, und keine politisch-normative Theorie über die ›Güte‹ einer gemischten Verfassung, die das Fundament für die ›Größe Roms‹ abgegeben habe 76. Wir können das Imperium aus der Struktur des von uns rekonstruierten ›römischen Denkens‹ selbst erklären: da diesem Denken die Fortdauer der res romana, ihre Bewahrung und Erweiterung, das ›höchste Gute‹ und der Endzweck war, auf den hin die Energien der civitas romana gebündelt und konzentriert waren, und der die partikularen Interessen und die sozialen Konflikte überwölbte, stieg die Stadt Rom – allmählich – zum Zentrum eines Weltreichs auf 77 . vgl. Heinze 1972, 9 ff. – Auch schon Augustinus, de civitate Dei, V, 12. Diesen stoischen Grundsatz von der Macht der »eimarmenh« bzw. des »fatums« verwandte wohl erstmals Polybios zur Erklärung des Aufstiegs Roms. – Vgl. auch Machiavelli 2000, 24. 76 vgl. Montesquieu: »Die Regierungsform Roms war darum so bewunderungswürdig, weil die Verfassung seit der Entstehung Roms entweder durch die besondere Gesinnung des Volkes, das Übergewicht des Senats oder die Autorität bestimmter Magistrate so beschaffen war, dass jeder Missbrauch der Macht immer korrigiert werden konnte.« (o. J., VIII, 71) 77 Diese Struktur römischen Denkens drückt der von Cicero in de re publica (V, 1, 1) zitierte Satz von Q. Ennius treffend aus: »Moribus antiquis res stat Romana virisque.« In diesem Satz sieht Cicero in Kürze ›die Wahrheit‹ zusammengefasst: weder hätten Männer »ein so großes und so weit und breit herrschendes Gemeinwesen« (tanta et tam fuse lateque imperans res publica) gründen und dauerhaft erhalten können, wenn der Staat nicht diese Gesinnung besessen hätte; und er hätte diese Gesinnung nicht 74 75
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Akzeptieren wir diese Erklärung für die Entstehung und Dauer des Imperii Romani, so kann nun umgekehrt diese historische Tatsache den ›Beweis‹ erbringen, dass im römischen Denken die ›heilige Sache‹, das epistemische Fundament der civitas romana, nicht die Religion, d. h. die Bindung des Denkens und Handelns an den Willen der Götter, war – und daher nicht den Göttern die höchste Autorität zukam –, sondern dass dieses Fundament der Staat, die res romana, war, in der die maiores, deren Urheber und Gründer, als die höchste Autorität anerkannt wurden, so dass die Religion diesem höchsten Zweck diente 78. Nicht der – noch so pünktliche – Glaube an seine besessen, wenn diese hervorragenden Männer (excellentes viri) nicht an »den alten Sitten und den Einrichtungen der Gründer« (veterem mores ac maiorum instituta) festgehalten hätten. Gegenüber einer politologischen lässt sich unsere epistemologische Erklärung so beschreiben: Rom wurde groß, nicht weil es eine gute Verfassung hatte, sondern weil die Römer wussten, dass ihre Verfassung die beste ist. Wird die Erklärung der ›Größe Roms‹ einseitig auf das Institutionelle, die republikanische Staatsform, gelegt, so gerät sie mit der Chronologie in Konflikt: das Imperium Romanum zerfällt dann schon ein Viertel Jahrtausend vor seiner größten Machtfülle und geht schon ein halbes Jahrtausend vor seinem Untergang unter. Zudem steht diese Erklärung im Verdacht, ihr gehe es weniger um die Erklärung der Größe Roms als um die Verklärung der Republik: Der römische Staat zerfiel, weil und als die Republik beseitigt wurde. – Unsere Erklärung ist ›flexibler‹ ; sie erklärt die Größe Roms nicht durch die Struktur einer bestimmten Verfassung, sondern eines bestimmten Denkens: die Bindung an die von den maiores gegründete res romana. Ein solches, auf deren Erhalt und Fortdauer gerichtetes Denken schließt unter Umständen Verfassungsänderungen ein. Caesar, Augustus, Tiberius und die römischen Kaiser gelten nicht als ›Zerstörer der res publica‹, sondern als die ›Bewahrer und Restauratoren der res romana‹. Und der Niedergang des römischen Imperiums setzte ein, als die res romana nicht mehr als die »heilige Sache« gewusst wurde, d. h. als für die Römer andere Existenzweisen denkbar wurden. Dieser Wandel aber war kein einmaliges verfassungsänderndes Ereignis, schon geschah allmählich. 78 Für das Verhältnis der Römer zu den Göttern einerseits und den maiores andererseits sind zwei etwa zeitgleiche Episoden bezeichnend: die Einführung des orientalischen Kybele-Kults in Rom und die schon genannte Verbrennung der Bücher Numas. 204 v. Chr., während des Streits über die Frage, wie der Krieg gegen Hannibal zu beenden sei, empfahlen die Sybillinischen Bücher, zur Befreiung Italiens den Kultstein Kybeles, der kleinasiatischen Göttin, nach Rom zu bringen, was noch im selben Jahr mit großem Pomp vollzogen und mit einem Göttermahl und Spielen gefeiert wurde. 191 erhielt sie auf dem Palatin ihr Heiligtum. (siehe: Livius 1980, XXIX, 14; Seibert 1993, 415 f., 426 f.) Diese staatspolitisch motivierte Toleranz in Religionsfragen kontrastiert mit der Entschiedenheit, mit der der Senat die 181 entdeckten »Bücher Numas« behandelte, die belegten, er sei Schüler Pythagoras’ gewesen. Um diesen ›zersetzenden‹ Gedanken zu beseitigen, ließ der Senat, die Bücher verbrennen. (siehe Livius 1980, XL, 29; Cicero, de re publica II, 15, 28 f.; Augustinus, de civitate Dei, VII, 34) – In »de civitate Dei« II, 12 hält Augustinus den Römern vor, sie hätten es bei Todesstrafe verboten, Menschen den A
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Götter hat Rom groß gemacht, sondern die Anerkennung der maiores als summa auctoritas und damit die unbedingte Bindung des Römers an den römischen Staat. So verstanden, gilt das historische Faktum des kontinuierlichen Aufstiegs und der Dauer der Herrschaft Roms als Beleg der Annahme, dass im römischen Denken die summa auctoritas nicht den Göttern oder den Vätern zukam, sondern den maiores als den »auctores imperii Romani conditoresque«, und dass dieser auctoritas wegen die sakralen und öffentlichen Regeln von den Römern durch Generationen gewissenhaft beachtet und vollzogen wurden. 79
Schmähungen der Dichter preiszugeben, aber ihr Vergnügen gehabt, wenn über die Götter gelästert wurde. 79 Der Althistoriker J. Vogt kam in seiner Arbeit über »Römischer Glaube und Römisches Weltreich« zu dem Schluss, dass zwar für alle Gemeinwesen des Altertums gegolten habe, »dass sie ihr Leben mit den Göttern führen«, dass es aber »keine Polis in der antiken Welt (gab), in der die Verehrung des Göttlichen in so umfassender Weise verstaatlicht war« (120) wie in Rom. Er lässt es jedoch offen, wie diese Verstaatlichung der Religion zu verstehen ist. Diente sie der Verehrung des Göttlichen, oder diente umgekehrt diese durch ihre Verrechtlichung dem Staat? Was war Zweck, und was Mittel? Die Philosophen Hegel und Schelling stellen, in seltener Einmütigkeit, fest, dass im römischen Denken der Staat der Zweck war. Hegel fasst den römischen Geist als »Religion der Zweckmäßigkeit«, die die individuelle Vorstellungswelt und ihre sittliche Anordnung ausgerichtet habe für den einen Zweck: den römischen Staat. Nicht um Vernunft, Freiheit oder Glück sei es gegangen – »Der Zweck in dieser Religion der Zweckmäßigkeit ist kein anderer als der römische Staat gewesen, so dass dieser die abstrakte Macht über die anderen Volksgeister ist« (Hegel 1969 ff., Bd. 17, 183). Daher »verehren (die Römer) die Götter, weil und wann sie sie brauchen, besonders in der Not des Kriegs.« (ebd., 175) Und für Schelling ist es »ein erhebendes Schauspiel zu sehen, wie Rom seine Bestimmung erfüllt, die ganze Majestät des Staates zur Erscheinung zu bringen. Denn nie ist der Staat mehr um seiner selbst willen gewollt worden, als in Rom, wo … alles ihm untergeordnet war, selbst das Priesterthum eine Staatswürde, Augur und pontifex maximum obrigkeitliche Personen, die mit diesen Würden Bekleideten Mitglieder des Senats waren« (Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 543). – Beide stimmen nicht nur in der Beschreibung des Zwecks römischen Denkens überein, sondern auch in der geschichtsphilosophischen Deutung: Für Hegel wurde durch die Macht des ›kalten Verstandes‹ zwar die lebendige Vielfalt der antike Götterwelt vernichtet, zugleich aber auch der Boden bereitet für die »wahrhafte, geistige Religion« (Hegel 1969 ff., Bd. 17, 184). Gleichfalls sieht Schelling diese Staatsvergottung über sich hinaus treiben: der römische Staat sei republikanisch nur der Form nach gewesen, monarchisch aber war »im höchsten Sinne der Geist des Staates selbst«; der Staat konnte nicht »Zweck seyn, ohne vom Gedanken der absoluten Ein-, d. h. der Weltherrschaft erfüllt und getrieben zu seyn«. Dieser Gedanke aber konnte nicht der Staat sein: »Wie die Welt ein Reich geworden war, musste der Beherrscher auch Einer, ja er konnte nur ein Gott, ein Princip seyn, das nicht von dieser, d. h. der römischen Welt war. Durch das dunkle
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Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum
IV. Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum Kommen wir nach dem ›Umweg‹ über die auctoritas maiorum wieder zur auctoritas patrum zurück. Wir hatten von jener angenommen, dass sie den »Schlüssel« zum Verständnis dieser bietet und erklärt, warum Menschen den Beschlüssen anderer Menschen freiwillig und dauerhaft folgen. Die Antwort, die wir jetzt darauf geben können, ist einfach: die auctoritas patrum galt als Repräsentant der auctoritas maiorum. Wer auctoritas besaß, vertrat in der Gegenwart diejenige auctoritas, die authentisch den maiores, den Gründern Roms, zukam. Die auctoritas patrum war daher immer eine ›abgeleitete Autorität‹. Die Römer, so unsere Deutung, folgten den Willensbekundungen, den Beschlüssen oder Ratschlägen der patres nicht, weil diese Ansehen oder Einsicht besaßen, sondern weil sie in ihrer Person die auctoritas maiorum repräsentierten. Aus der Annahme des Repräsentationscharakters der auctoritas patrum folgt, dass die jeweiligen Träger die Autorität nicht, wie die maiores, schlechthin besaßen, sondern dass sie zum einen erworben wurde und zum anderen die höchste Autorität vertrat. Daher gehen wir zuerst den Regeln nach, nach denen in Rom die auctoritas patrum erworben wurde, dann der Art und Weise, in der diese repräsentative Autorität der Väter wirkte.
Suchen und Tasten nach diesem Nothwendigen und doch ihr Unmöglichen wurde die römische Welt außer sich gesetzt.« (Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 544). Diesen Erklärungen des »höchsten Zwecks« entspricht auch unsere Rekonstruktion, die im römischen Denken die »res romana« als die »heilige Sache« annimmt. Ihnen fehlt jedoch die Dimension der auctoritas maiorum. Lässt man diese außer Acht, dann muss das Faktum, dass der Staat um seiner selbst willen gewollt wurde, in der Tat als merkwürdig erscheinen und lässt sich nur erklären, wenn ihm ein anderes, tieferes oder höheres, Motiv zugrundegelegt wird. Dies ist für Hegel und Schelling die – christlicheuropäisch verstandene – heilsgeschichtliche Mission des römischen Reiches. Für uns hingegen ist der Staat zwar ebenfalls der höchste Zweck römischen Denkens, aber das Motiv ist die Anerkennung der maiores als Gründer der res romana. Um dieser Gründung willen ordnete der Römer sein Denken und Handeln dem Staat unter. Was daher für Götter galt, dass sie verehrt wurden, wenn die Römer sie brauchten, galt nicht für die maiores; diese wurden nicht dann und wann, sondern schlechthin verehrt. Wir interpretieren den »römischen Geist« nicht aus späterer Perspektive in Hinblick auf seine ›Aufhebung‹ in eine andere, ›höhere‹ Formation, sondern in Hinblick auf das immanent Dauerhafte dieser Formation. Dieses Dauerhafte erklären wir durch das Autoritätsverhältnis, durch das personale Verhältnis der civitas romana zu ihren Gründern. A
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A. Der Erwerb von Auctoritas So weit wir die römische Geschichte überblicken, finden sich insgesamt zwei Kriterien, die den Besitz von auctoritas regeln und die ihrerseits der Ordnung der civitas romana entstammen: die Familie 80 und die virtus. Der ersten Regel gemäß war die auctoritas im Besitz der alten Familienhäuser, die ihre Anfänge auf die Gründung Roms zurückführten 81 . Die Repräsentation war hiernach durch die streng geordnete Tradition der Familie vermittelt, so dass dem jeweiligen Haupt der Familie, dem pater familias, neben der potestas in der Familie, die auctoritas im zivilen und politischen Leben, als Beistand bei Rechtsgeschäften und als Mitglied des Senats, zukam. Dieser Anspruch der alten Familien auf die Trägerschaft und den Besitz von auctoritas wurde in aufwendigen Selbstdarstellungsfeiern, den pompa funebris, öffentlich zelebriert. Zum Begräbnis des Familienoberhaupts wurden die bewahrten Totenmasken der maiores, die imagines, zur Schau gestellt und vom Nachfolger, dem filius, wurde in der Totenrede der Ämter und der Taten der Vorfahren erinnert und dadurch der Anspruch auf den Besitz der auctoritas demonstriert. 82 Auch wenn diese Regel der Repräsentation qua Familientradition, die in der frühen Zeit so dominierte, dass keiner auctoritas besitzen Die Bewertung der Familie zeigt wohl am schlagendsten die Differenz zwischen griechischer Philosophie und römischem Denken. Während das griechische Logos-Denken die Institution der Familie als ein Hindernis, ja eine Gefahr für das auf die Vernunft gegründete Leben beurteilt und ihr gegenüber die Polis-Gemeinschaft oder die Freundschaft vorzieht, bildet sie im römischen Denken das Fundament des Staates und den primären Ort der Erziehung. Diese Differenz veranlasste Cicero wiederholt zur scharfen Kritik: Platon sei im »Staat« gestrauchelt, wie sonst niemand geirrt habe, weil er wollte, dass allen alles gehört und auch die Frauen und Kinder gemeinsam seien (de re publica IV, 5, 5). Dies aber sei dem Leben der Menschen und ihren Sitten völlig entrückt (II, 11, 21 f.). Ihm gilt als entscheidender Vorzug der Römer, dass die maiores, neben der Ordnung der res publicae, die »res domesticae et familiares« vorbildlich und besser als die Griechen eingerichtet haben (Tusculanae Disputationes 1, 2). – Vgl. auch: Pöschl 1974, 142 ff. 81 Siehe: Mommsen 1864, 9; Engels 1974, 135 ff. 82 »Für die großen Familien steht im Zentrum der Ahnenverehrung die pompa funebris, Selbstdarstellung des Geschlechts bei der Bestattung eines seiner Mitglieder. Alle großen Amtsträger in der Ahnenreihe des Verstorbenen treten im Trauerzuge auf, durch Sklaven oder Schauspieler vorgestellt, die ihre Masken (imagines) und ihre Amtsinsignien tragen. Die biologische, soziale und politische Tradition der Familie wird bei der Bestattung demonstriert; zusammen mit der laudatio funebris ein Politikum ersten Ranges«. (Gladigow 1980, 128 f.) 80
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Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum
konnte, der nicht einer der altrömischen Familien entstammte, im Laufe der Zeit relativiert wurde, so hat sich zumindest der Anspruch der altrömischen Familien auf den Besitz von auctoritas andauernd erhalten. – Die zweite Regelung verknüpfte den Erwerb der auctoritas mit der »virtus«. Hier begründete das persönliche Verdienst, das der einzelne in den öffentlichen Ämtern durch seinen Gebrauch der Amtsgewalt für die Erhaltung und die Erweiterung der res romana erbracht hatte, den Anspruch auf den Besitz der auctoritas. Ursprünglich auf die alten Familien beschränkt, wurde dieses Erwerbskriterium verselbständigt und damit die soziale Trägerschaft erweitert. 83 Dementsprechend erfuhr auch der Ausdruck »auctoritas patrum« eine Veränderung: hatte »pater« anfangs die enge biologisch-familiale Bedeutung, wurde er später zu einem Titel, der durch die Verdienste um den römischen Staat erworben und vom Senat verliehen wurde. Interpretieren wir nun diese beiden Erwerbsregeln als Arten der Repräsentation der auctoritas maiorum, so ist diese zum einen an die institutionalisierte Struktur der familialen Sukzession und zum anderen an die ethisch-praktische Norm der Nachahmung der maiores (imitari maiorum) geknüpft. Wer, so lässt sich diese Regelung paraphrasieren, durch seine familiäre Herkunft und/oder durch sein politisch-praktisches Handeln sich als würdig erwies, die auctoritas maiorum zu repräsentieren, dem wurde die auctoritas patrum öffentlich zuerkannt. In dieser Funktion vergegenwärtigte er in der civitas romana die Autorität der Gründer Roms. 84 Zum sozialpolitischen Problem der Erweiterung siehe: Vogt 1926; Hill 1952. – Zum historischen Anlass siehe: Seibert 1993, 211. 84 Die Tragfähigkeit dieses Erklärungsmodells der auctoritas lässt sich an der Person Oktavians, dem Gründer des römischen Prinzipats, prüfen. Lange Zeit dominierte in der Geschichtswissenschaft die Auffassung, Oktavian habe die republikanische Verfassung zugunsten einer monarchisch verfassten Militärdiktatur abgeschafft (so schon Montesquieu, o. J., Kap. XIII). Es wurde kontrovers debattiert, ob dieser Vorgang als Beseitigung der elementaren Freiheitsrechte des römischen Bürgers oder als notwendiger, den Bedingungen des Imperiums angemessener Schritt zu beurteilen sei. Diese Diskussionslage änderte sich, als man näher darauf einging, dass Oktavian in den »res gestae« seine Machtstellung explizit auf seine auctoritas gestützt hatte (»… auctoritate omnibus praestiti«; Heinze 1972, 43 f.). Diese Begründung zwang, die Herrschaftsform des Prinzipats differenzierter zu betrachten, und hat seither zu einer Neubewertung des römischen Prinzipats geführt. Es wird gefragt, ob es als »ein verdecktes Machtsystem« (Christ 1993, 464) zu verstehen sei, oder ob mit Oktavians auctoritas »eine der wesentlichen Grundlagen des Prinzipats« (Rabe 1972, 10) beschrieben wird. Nach unserem Repräsentationsmodell jedenfalls vereinigte Oktavian in seiner Person die Kriterien 83
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Die Funktion der Stellvertretung
Um die Wirkungsweise dieser repräsentativen und abgeleiteten Autorität näher beschreiben zu können, wollen wir auf unsere anfängliche Definition der auctoritas patrum zurückkommen, ihre Fähigkeit, ohne Zwang Verbindlichkeit zu bewirken. Diese Definition können wir jetzt konkretisieren. Gehen wir vom repräsentativen Charakter der auctoritas patrum aus, so kann die Verbindlichkeit, die sie bewirkt, nur auf die res romana bezogen sein und daher nur für den Römer gelten. Denn wenn sie die summa auctoritas repräsentiert, diese aber den maiores als den Gründern der res romana zukommt, dann vertritt sie gegenüber der civitas romana, der römischen Bürgerschaft, dieses Gründungswerk der maiores. In dieser Funktion der Stellvertretung vermittelt die auctoritas patrum gleichsam zwischen den je aktuellen Beschlüssen und Handlungen der civitas romana einerseits und der dauerhaften res romana andererseits, indem durch ihr Wirken die je aktuellen Angelegenheiten der res romana eingegliedert und damit deren Fortbestand gesichert wird. Die auctoritas patrum, so können wir unsere Definition einschränkend konkretisieren, bewirkt Verbindlichkeit nicht schlechthin, sondern vertritt in der civitas romana die gemeinsame, von den maiores gegründete Sache, und stellt in Bezug auf diese Sache Verbindlichkeit her. Ihrer Wirksamkeit liegt das gemeinschaftliche Interesse der civitas romana an der Fortdauer der res romana zugrunde, die durch ihr Wirken garantiert wird. Sie der auctoritas in idealer Weise: er gehörte durch Adoption Caesars der altrömischen Familie der Julier an und erfüllte damit eines der Kriterien, auctoritas zu besitzen; und er erwarb sich durch die umsichtige Art der Beendigung des Bürgerkriegs das Verdienst, auctoritas zu besitzen. Wenn Oktavian in seinen »res gestae« nun schreibt, er habe andere nicht an potestas, aber an auctoritas übertroffen, so lässt sich diese Aussage in unserem Erklärungskontext problemlos deuten: er verweist damit auf die erfolgreiche Durchführung seines Programms der restitutio rei publicae romanae. Demnach war sein politisches Handeln nicht auf die Neuverfassung des römischen Staates gerichtet, sondern auf die Wieder-holung und Wiederherstellung derjenigen res romana, die die maiores gegründet hatten und im Bürgerkrieg verlorenzugehen drohte. Er konnte daher sagen, dass er die auctoritas im höchsten Maß besaß, weil sein Handeln das Gründungswerk der maiores repräsentierte. (Vgl. auch: Fueyo 1968, 219 ff.; Ottmann 2002, 156 ff.) Diese Deutung des Prinzipats stellt nicht das Neue dieser Herrschaftsform in Abrede; sie richtet sich jedoch nicht primär auf die staatsrechtlichen Unterschiede zwischen Republik und Prinzipat, sondern auf die Kontinuität des römischen Imperiums, das durch ein auf die Erhaltung der res romana gerichtetes Handeln erklärt wird.
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Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum
wirkt, weil sie von den Römern zwanglos anerkannt wird; und sie wird zwanglos anerkannt, weil der gemeinsame Zweck, die Erhaltung der res romana, als die Bedingung der eigenen Existenz gilt. Auf der Grundlage dieser Deutung der auctoritas patrum als Funktion der Stellvertretung lassen sich nun auch ihre eingangs beschriebenen Wirkungsweisen zwanglos erklären: Auf dem Gebiet des zivilen Rechts war die Zustimmung einer Person eigenen Rechts bei der Besitzübertragung nicht deshalb erforderlich, weil nur sie wusste, dass sie Eigentümer ist; denn dies begründet keine auctoritas. Vielmehr war ihre Zustimmung erforderlich, um die privaten Rechtsgeschäfte als in Einklang mit der öffentlichen Sache, der res publica, stehend gutzuheißen und sie dadurch verbindlich zu machen 85 . Diesen Akt der Integration der privaten Geschäfte in die gemeinsam-öffentliche Sache aber konnte nur vollziehen, wer in seiner Person die auctoritas maiorum repräsentierte. Zu diesem Akt genügte unter Umständen die bloße Anwesenheit, und die auctoritas wirkte hier allein durch die Person, d. h. durch die bloße Gegenwart ihres Trägers. Der Begriff der Stellvertretung vermag auch jene ›okkulte Qualität‹ der gewaltfreien Macht erklären, die der römische Senat ausübte. Denn danach basierte seine Macht weder auf versteckten noch offenen Sanktionsmitteln, sondern auf jener repräsentativen Funktion. Im Rahmen der römischen Verfassung hatte das Volk bzw. die Volksversammlung das Legislativrecht (nicht jedoch das Recht der Gesetzesvorlage) und konnte durch die Volksbeschlüsse dem Magistrat Vorschriften erteilen bzw. dessen Macht beschränken; der Magistrat hingegen hatte das Exekutivrecht und konnte daher in Ausübung dieses Rechts die Bürger mittels Gewalt zum Gehorsam und zur Folgeleistung zwingen. Die libertas des römischen Bürgers und potestas des Magistrats waren gegeneinander gerichtet und schränkten sich gegenseitig ein. Im Gegensatz zu diesen beiden politischen Instanzen hatte der Senat keine solch einschränkende Gewalt, sondern die Funktion, gegenüber diesen Instanzen die res romana als die gemeinsame Sache zu repräsentieren. Die Handlungen des Senats hatten Zum Verhältnis von privatem Eigentum und öffentlicher Sache in Rom bemerkt K. Marx: »Das Individuum ist placed in such conditions of gaining his life as to make not the acquiring of wealth his object, but self-sustainance, its own reproduction as a member of the community; the reproduction of himself as proprietor of the parcel of ground and, in that quality, as a member of the commune … Das Eigentum ist quiritorium, römisches, der Privateigentümer ist solcher nur als Römer, aber als Römer ist er Privateigentümer.« (Marx o. J., 380; H. v. m.)
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daher einen anderen Gegenstand. Er war selbst nicht initiativ, weder gesetzgebend wie das Volk noch befehlend wie der Magistrat, sondern stellte die Verbindlichkeit her, indem, nach Beratung, durch seine Beschlüsse die je gegenwärtigen Initiativen der beiden Gewalten zur öffentlichen und gemeinsamen Sache der civitas romana wurden. Die »auctoritas senatus« verlieh diesen Initiativen gleichsam stellvertretend die Zustimmung der maiores, durch die erst die jeweilige Sache zum Bestandteil der gemeinsamen Sache, der res romana, wurde und dieser dadurch Dauer und Beständigkeit verlieh 86 . – Dieser Repräsentativfunktion wegen mussten, nach unserer Erklärung, die Beschlüsse des Senats, die consulta senatus, die Form des bloßen Ratschlags haben; denn durch sie wurde nicht – wie durch die Magistrats- oder Volksbeschlüsse – die Freiheit anderer beschränkt, sondern im Gegenteil die gemeinschaftsbildende ›Kraft‹, die den maiores zuerkannt wurde, vergegenwärtigt. Der Senatsbeschluss spaltete nicht, sondern einte. Ihm nicht zu folgen, hätte daher für den Magistrat und für das Volk keine strafrechtliche Folgen gehabt; aber der Handelnde, dessen Handlung nicht »in auctoritate patrum« gestanden hätte, hätte sich außerhalb der gemeinsamen römischen Sache gestellt. Wenn es also eine historische Tatsache ist, dass die auctoritas patrum nicht versagt hat, dann ist diese Tatsache ein Beweis für die Erklärung, dass im römischen Denken dem Römer eine Existenz außerhalb der res romana nicht vorstellbar war, oder, was dasselbe ist, dass die maiores als die Gründer dieser Sache schlicht als die höchste Autorität anerkannt wurden. Diese Funktion des Senats, in den politischen Aktionen die gemeinsame Sache der Römer zu vergegenwärtigen, erklärt, warum es zur Befolgung der Beschlüsse des Senats keiner Sanktionen bedurfte, der Senat also ohne Zwang Verbindlichkeit bewirkte. Schließlich erklärt dieser Repräsentationscharakter der auctoritas patrum auch die individuelle auctoritas. Ihr Besitz ist weder als Folge einer höheren Einsicht noch eines hohen sozialen Ansehens zu verstehen; diese mögen zum Erwerb beigetragen haben, begründen aber keine auctoritas. Vielmehr wurde umgekehrt dem Träger von auctoritas höhere Einsicht und Ansehen zugeschrieben, weil er geVgl. Meyer 1975, 250: »… So war der Senat gegenüber den jährlich wechselnden Magistraten der feste und dauernde Kern des Staates, der Hort der Regierungserfahrung und der Staatsgrundsätze, das Element, das der Politik Roms ihre Stetigkeit und Festigkeit verlieh.«
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genüber anderen die gemeinsame Sache der Römer repräsentierte. Den Rat einer solchen Person begehrten daher die römischen Bürgern nicht aufgrund eines vermeintlichen »Instinkts der Unterordnung«, sondern weil durch ihre Zustimmung garantiert war, dass die jeweiligen res domesticae et familiaris in Übereinstimmung mit der res publica standen. – Die oben zitierten Berichte Ciceros über Paulus, Scipio und Maximus, deren auctoritas sich nicht nur in der Rede, sondern auch im Nicken geäußert habe, und über M. Aemilius Scaurus, der den Erdkreis mit einem ›Wink‹ regiert habe, weisen darauf hin, dass die Wirkungsweise der auctoritas nicht wesentlich diskursiv war, sondern auf den Träger bezogen war, der in seiner Person und durch seine Person die gemeinsame Sache repräsentierte. Sie gründete weder auf der Macht des ›guten Arguments‹ noch auf der Kunst der Überredung, sondern äußerte sich durch die bloße Zustimmung oder Ablehnung 87 . – Und wenn schließlich dem Römer, wie H. Arendt hat, gestützt auf Th. Mommsens Untersuchungen des römischen Staatsrechts, eine überzeugende Parallele zwischen der Wirksamkeit von Autorität und dem römischen Götterglauben hergestellt: So wie im Politischen die Autorität nicht befiehlt oder anleitet, sondern billigt oder missbilligt, so entspricht der »bindenden Kraft dieser Autorität im Politischen … die bindende Kraft der Auspizien, die sich von den griechischen Orakeln dadurch unterscheidet, dass sie nicht den Gang zukünftiger Ereignisse andeuten, sondern nur enthüllen, ob die von den Menschen getroffenen Entscheidungen auf göttliche Billigung oder Missbilligung, auf das zustimmende Nicken der Götter, rechnen können … (Diese) bestätigen menschliches Handeln, sie leiten es nicht.« (Arendt 1957, 155). Dem »Nicken« der Autorität entspricht das »Nicken« der Götter. Von beidem, der bindenden Kraft der Autorität und dem römischen Götterglauben, schreibt Arendt, »dass sie der gleichen Quelle entspringen, dass sie beide durch die Gründung der Stadt gestiftet wurden … Dies ist das Fundament aller, der politischen wie der religiösen Autorität« (ebd.). In dieser Engführung von Politik und Religion liegt die Möglichkeit der ›Vergottung‹. Zunächst auf die römische Familie beschränkt, die ihre maiores als »göttliche Manen« verehrte (vgl. Gladigow 1980, 119–133), wurde dieser Kult mit der Umwandlung des römischen Staates zum Prinzipat auch auf das Oberhaupt des Staates übertragen. Vorgedacht von Cicero in »Scipios Traum«, der dem römischen Staatsmann als schönsten Lohn einen Platz »im Himmel« zuweist (de re publica VI, 13, 13), erhob als erster Oktavian Caesar in die Reihe der Staatsgötter, erlaubte für sich selbst aber nur die öffentliche Verehrung seines ›Genius‹, ließ sich jedoch von Vergil als »Gott unter Göttern« (Georgica I, 24/25) und verheißener »Sproß des Göttlichen« (Divi genus; Aeneis VI, 791–793) feiern. Auch wenn im spätrömischen Kaiserkult dann verschiedene Götter- und Herrschervorstellungen zusammenflossen, so blieb der Autoritätsbegriff doch die spezifisch römische Legitimationsbasis des Kaisertums: der »Augustus divus« vergegenwärtigte in seiner Person die dem römischen Denken ›heilige Sache‹. – Zur möglichen Übernahme von Ciceros Idee durch Oktavian siehe: Reitzenstein 1917, 398–436, 481–498.
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Cicero sagt, der Besitz von auctoritas als der »apex senectutis« galt, dann findet dies Ziel in unserem Kontext seine Erklärung ebenfalls nicht darin, dass mit dem Alter eben Erfahrung und Weisheit oder Ansehen und Würde verbunden sind, sondern dass, wie H. Arendt treffend schreibt, die Alten »den Ahnen näher gerückt waren und in der Gegenwart die Vergangenheit lebendig darstellten« (Arendt 1957, 156).
C. Die Auctoritas als »Mehrung« Unsere Erklärung der auctoritas patrum als Repräsentation der auctoritas maiorum gestattet schließlich auch eine plausible Erklärung der Etymologie des Wortes »auctoritas« und, damit verbunden, eine Ergänzung unserer bisherigen Ausführungen. »auctoritas« enthält als Wortstamm die Silbe »aug-«, die eine Tätigkeit des »Mehrens« oder des »Wachsenlassens« bezeichnet; und das Wort bedeutet in diesem etymologischen Sinne die Fähigkeit oder das Vermögen von Personen, durch das eine Mehrung oder ein Wachstum bewirkt wird. Deuten wir nun als den Gegenstand, der dadurch gemehrt wird, das »zu Mehrende« oder »Gemehrte«, nicht als die Natur, wie in einem vielleicht vormaligen Fruchtbarkeitsritual, sondern, nach dem römischen Wortgebrauch, als die res romana, die »römische Sache«, dann bezeichnet das Wort »auctoritas« offenbar die Fähigkeit von Personen, die res romana zu mehren. Aufgrund dieser Wortbedeutung können wir dann eine Reihe anderer Deutungen ausschließen: »auctoritas« bezeichnet dann weder eine soziale Eigenschaft, wie die Würde oder das Ansehen, noch ein epistemisches Vermögen, wie die Kenntnis oder Einsicht, da in beiden Fällen nichts gemehrt wird. Weiterhin lässt sich aufgrund dieser Wortbedeutung ausschließen, dass »auctoritas« im römischen Wortgebrauch die Fähigkeit zur Stiftung eines Gemeinwesens bezeichnet; denn auch in diesem Falle würde nichts gemehrt, sondern eine nicht vorhandene Sache neu gegründet. Insofern entspricht es also der Wortbedeutung, die Fähigkeit auf die schon vorhandene Sache zu beziehen, die res romana, die durch sie gemehrt wird. Und schließlich können wir ausschließen, dass durch den Gebrauch dieser Fähigkeit eine Verbesserung der vorhandenen Sache bewirkt wird; denn einer solchen Wortbedeutung läge die Vorstellung zugrunde, dass die zu mehrende Sache unvollkommen wäre und durch das Wirken der 322
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auctoritas in einen vollkommeneren Zustand gebracht würde. Auf einen solchen Gebrauch aber passt das Wort »mehren« nicht. Nach seiner etymologischen Bedeutung bezeichnet also »auctoritas« das Vermögen, die res romana zu mehren; und der Ausdruck »auctoritas patrum« das Vermögen der Väter, diese vorhandene Sache zu mehren. Vergleichen wir nun diese etymologische Wortbedeutung mit unseren bisherigen Ausführungen zur auctoritas patrum, so müssen wir sie offensichtlich in einem wesentlichen Punkt ergänzen. Denn bislang haben wir ihre Wirksamkeit nur damit beschrieben, dass sie in den aktuellen, öffentlichen und privaten, Angelegenheiten die Übereinstimmung mit der res romana herstellt und dadurch die Kontinuität und Fortdauer der vorhandenen res romana bewirkt. So aber wäre nur die Bewahrung und Erhaltung der res romana, nicht aber ihre Mehrung das, was Autorität bewirkt. Um also der Wortbedeutung des Mehrens zu entsprechen, müssen wir den Begriff der Repräsentation offenbar erweitern: zum einen die Bewahrung der res romana als der vorhandenen, von den maiores gegründeten Sache; zum anderen aber auch die schöpferische Nachahmung der maiores. Dem Wortsinn des Mehrens nach schließt es offenbar die Funktion der auctoritas patrum, die je aktuellen Angelegenheiten an die instituta maiorum zurückzubinden und damit deren Fortdauer zu garantieren, nicht aus, die Institutionen und Sitten, am Vorbild der maiores, den je neuen Umständen erneuernd anzupassen. Verstehen wir also unter auctoritas diesen doppelten Aspekt des Bewahrens der res romana und ihres Erneuerns, so ist sie die den römischen patres zugesprochene Fähigkeit, durch die Eingliederung der je aktuellen Angelegenheiten in die res publica die gemeinsame Sache, die res romana, nicht nur zu bewahren, sondern diese auch durch ihre Erneuerung den sich ändernden Umständen anzupassen 88 . Die auctoritas patrum wirkt, so können wir zusammenfassend sagen, als ›bewahrende Erneuerung‹ der von den maiores gegründeten res romana. Dieser Doppelaspekt des Mehrens, des Bewahrens und ErneuDieser Doppelaspekt des Bewahrens und Erneuerns entspricht den zwei Erklärungen, die Cicero für die Überlegenheit »unseres Gemeinwesens« gibt: es sei zum einen nicht durch das Ingenium eines einzelnen oder in einer Generation, sondern in einer Reihe von Generationen erbaut worden (de re publica II, 1, 2); zum anderen aber resultiere diese Überlegenheit daraus, dass vieles, was anderswoher genommen wurde, in Rom besser gemacht worden sei (ebd. II, 16, 30; auch Tusculanae disputationes I, 1).
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erns, macht in historischer Sicht nicht nur die Tatsache der sukzessiven und allmählichen Erweiterung der res romana von der urbs zum Imperium Romanum verständlich, sondern gibt auch einen Erklärungsrahmen für die verfassungspolitischen Krisen des römischen Staates. Diese lassen sich so als Autoritätskrisen rekonstruieren, in denen diese beiden Aspekte der Repräsentation der auctoritas maiorum zu gegensätzlichen Parteien (partes) wurden: Auf der einen Seite bildete sich im römischen Staatswesen das politische Lager heraus, das in der auctoritas patrum die Fähigkeit zur Bewahrung der instituta maiorum sah; auf der anderen Seite entstand das Lager, das unter der auctoritas patrum die Fähigkeit der Erneuerung der res publica verstand. Die Gewaltsamkeit der inneren Konflikte des römischen Staates lassen sich so in ihrem Kern auf die wechselseitige Monopolisierung des einen der beiden Aspekte zurückführen: Da jedes Lager sich selbst als Repräsentant der auctoritas maiorum und als Garant der res romana verstand, galten die Handlungen der anderen Partei als Ausdruck partikularer Interessen, die die res romana, die gemeinsame Sache, gefährdeten oder zerstörten. 89 Durch diese Gegensätzlichkeit der Autorität aber verschwand die Autorität selbst; sie verlor dadurch das Vermögen, gegenüber den gegensätzlichen Lagern die gemeinsame Sache zu repräsentieren. Das schließlich errichtete Prinzipat lässt sich so als Überwindung der Staatskrise durch die Wiederherstellung der Autorität beschreiben: Octavian gründete nicht nur die neue Herrschaftsform explizit auf seine auctoritas, sondern vereinte in seiner Person auch die beiden Aspekte wieder: er repräsentierte die auctoritas maiorum, weil er durch die Erneuerung der Institutionen zugleich die gemeinsame Sache bewahrte. 90 Für diese restitutio res romanae erhielt er Seit den Gracchen war es der Standardvorwurf der Popularen, dass die gegnerische Partei sich den notwendigen Reformen, insbesondere der Agrargesetze, widersetze und durch ihre Standesinteressen das Wohl des Staates zerstöre. Umgekehrt lautete der Standardvorwurf der Optimaten, die gegnerische Partei strebe, vom Ruhm getrieben, nach der Alleinherrschaft und zerstöre die res publica. – Vgl. dazu: Meyer 1975, 247 ff.; Fuhrmann 1991, 186–307. 90 Siehe dazu die erhellenden Ausführungen E. Meyers: »Augustus selber hat seine Stellung im neuen römischen Staat in autoritativer Weise in dem berühmten Satz des 34. Kapitels seines Tatenberichts umschrieben, in dem er sagt, er habe an auctoritas alle anderen überragt, aber an Amtsbefugnis nicht mehr besessen als auch seine Kollegen im Amt. An diesen Satz haben auch wir uns zu halten. Es ist unmöglich, dass der Kaiser an so hervorragender Stelle in einem Dokument, in dem jedes einzelne Wort aufs sorgfältigste überlegt ist, eine Behauptung aufstellen konnte, die von den Zeitgenossen als 89
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vom Senat den Titel des »augustus«, des »Mehrer des Reiches«, – den der römische Kaiser bis 1453 bzw. 1806 bzw. 1917 innehatte.
krasser Widerspruch zu den Tatsachen oder schamlose Heuchelei empfunden werden musste. Was heißt es also, wenn Augustus selber den altrömischen Begriff der auctoritas als das einzig wesentliche Fundament seiner gesamten Stellung hinstellt? … In seinem Zurückgreifen auf diesen eminent römischen Begriff der auctoritas erklärte Augustus zugleich, dass die Freiheit des römischen Staates und Volkes durch die neue Institution des Kaisertums nicht berührt sein sollte. Das war die römische Lösung der unvermeidlich gewordenen Monarchie, dass sie nicht als Aufhebung, sondern als Ergänzung der römischen Freiheit proklamiert wurde, als ›Principat‹, als die Führung des Staates durch seinen ersten Bürger. So wurde römische Tradition und römisches Staatsgefühl so weitgehend geschont und berücksichtigt, dass der augusteischen Lösung dieser Frage im Gegensatz zu der rücksichtslosen Caesars eine wirkliche Dauer beschieden war. So wurde erst Augustus und nicht bereits Caesar der wahre Begründer des römischen Kaiserreiches.« (Meyer 1975, 361, 365 f.) A
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III Der dreieinige Gott
Einleitung Nach unserer Rekonstruktion der griechischen Philosophie anhand der Idee der Autonomie und des römischen Denkens anhand des Begriffs der Autorität behandelt der folgende Teil die Formierung der Grundlagen des europäischen Denkens. Diese Formierung geschah durch das Christentum, so dass in epistemischer Hinsicht der Glaube an Jesus Christus bzw. das christliche Glaubensbekenntnis gleichsam das ›Nadelöhr‹ war, das das Denken auf dem Weg von der mediterranen Antike zum europäischen Mittelalter passierte. Der christlich bekannte dreieinige Gott wurde zum verbindlichen Code, der der Formierung des europäisch-abendländischen Diskurses zugrundelag und der die Ausgestaltung des Wissens in den Wissenschaften leitete. 1 Unsere Rekonstruktion dieser Grundlagen geht von zwei Thesen aus. Die erste These ist, dass das europäisch-abendländische Denken aus einer eigentümlichen Verbindung des christlichen Glaubens mit dem griechischen Prinzip der Autonomie und dem römischen Prinzip der Autorität entstanden ist. Der Glaube an Jesus Christus als den Sohn Gottes hat in der Konfrontation mit dem griechischen Autonomieprinzip seine Epistemologie gefunden: die Begrifflichkeit, in der der Glaube ausgedrückt wird, die Begründungsstruktur des Glaubens und des Geglaubten sowie den Wahrheitsanspruch des Glaubensinhaltes. Dieser Annahme entspricht, was – ablehnend oder zustimmend – als »Hellenisierung des Christentums« bezeichnet worden ist. In der Auseinandersetzung und mit der Aneignung des römischen Autoritätsprinzips hingegen hat der christliche Glaube seine praktische Verbindlichkeit gefunden: die Katholizität und die Vgl. Schulze 2000, 4: »Europa, das ist jener Teil des zerfallenden Römischen Reichs, der christlich geworden ist und sich dem römischen Papst als geistlichem Haupt unterstellt hat, in erster Linie Italien und Gallien. So kommt die Idee von Europa als christlichem Abendland ins Spiel.«
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Dauerhaftigkeit des Glaubens sowie die zeitüberdauernde Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Institutionen. Dem entspricht, was man als »Romanisierung des Christentums« bezeichnen kann. Diese These lässt sich in der Form des Satzes ausdrücken: »Jesus Christus est veritas et auctoritas«. In diesem Satz sind die drei genannten Elemente verbunden: der Glaube, dass ein gewisser Mensch, Jesus von Nazareth, zugleich die ›Wahrheit‹ ist, die im Sinne des griechischen Logos-Wissens, und die Autorität, die im Sinne des römischen Denkens als Urheberschaft der christlichen Sache gedeutet wurde. Der Satz verbindet in epistemischer Hinsicht drei Prinzipien: das christliche Prinzip des Glaubens, das griechische Prinzip des Logos-Wissens und das römische Prinzip der Anerkennung von Autoritäten. Dem gemäß stellt sich uns die Aufgabe, wie diese drei heterogenen Prinzipien überhaupt als verbunden gedacht werden können. Dazu soll zuerst auf die »regula fidei« eingegangen werden, nach der der christliche Glaube rechtmäßig bekannt wird; daraufhin wird die Diskussion um die Trinität und damit um die kategoriale Beschreibung des Geglaubten dargestellt, die mit der sogenannten Homousieformel endete; und schließlich wird der Übertragung des Autoritätsbegriffs ins Selbstverständnis des römisch-lateinischen Christentums nachgegangen. Die zweite These, der im Anschluss nachgegangen wird, ist, dass die Vereinigung dieser drei Elemente zu einem verbindlichen Code durch Aurelius Augustinus geschah. Augustin stand nicht nur aus historischer Sicht an der Schwelle zwischen antiker Tradition und christlichem Mittelalter und wurde nicht nur zu dem Kirchenlehrer des Abendlandes, sondern trug auch biographisch die Konflikte zwischen christlichem Glauben, griechischer Bildung und römischer Tradition aus und verarbeitete diese Gegensätze und Widersprüche wie kein anderer. Im Zentrum seines Nachdenkens stand zeitlebens das Verhältnis zwischen griechischer Vernunft und römischer Autorität, zwischen der Begründung des christlichen Glaubens mit den Mitteln der rationalen Einsicht und der Anerkennung der Autoritäten, der Kirche, der biblischen Schriften und Gottes. Dementsprechend werden wir erst darstellen, wie Augustin Vernunft und Autorität in erkenntnistheoretischer Hinsicht als die beiden ›Kräfte‹ konzipiert hat, die zur Erkenntnis des Göttlichen führen. Für unsere Rekonstruktionsabsicht wesentlich ist jedoch, dass Augustin in seiner Lehre vom Göttlichen die Vereinigung der beiden Prinzipien, der ratio und der auctoritas, vollzogen hat. Das untrennbare »Zusammen« von Vater 328
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Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
und Sohn, das Augustin begründete, bildete den Ausgangspunkt, der das lateinisch-westliche Denken vom griechisch-östlichen Denken trennen sollte. Dessen Rekonstruktion geschieht anhand der Formel »una essentia – tres personae«, die zunächst hinsichtlich des Verhältnisses von Vater und Sohn, dann des Heiligen Geists dargestellt wird.
I.
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
Der folgende Abschnitt vollzieht die epistemische Grundstruktur des christlichen Glaubens anhand eines Drei-Stufen-Modells nach. Dieser Zugang bedeutet, dass es nicht um die historischen Gehalte, den Sinn oder die Erkenntnisqualität des christlichen Glaubens gehen wird. Dies sind Themen der Geschichtswissenschaften, der Geschichtsphilosophie oder -theologie bzw. der Erkenntnistheorie. Auch wird nicht versucht, die Vielfalt der Glaubensauslegungen, der Diskussionen und Kontroversen nachzuzeichnen, die mit der Verbreitung des Christentums bis zur Zeit Augustins stattfanden. Dies sind Aufgaben der Religions- bzw. Kirchengeschichte. Stattdessen werden wir uns auf die Grundstruktur des christlichen Glaubens konzentrieren und deren wesentliche Änderungen anhand des Anfangs, der Glaubensregel und der Trinitätsdiskussion nachzeichnen.
A. Die Glaubensgewissheit Was »christlicher Glaube« genannt wird, lässt sich so definieren: Christ ist, wer weiß, dass Jesus Christus ist. 2 In diesem Wissen sind zwei heterogene Vorstellungen vereinigt: die des historischen Menschen Jesus von Nazareth und die des Christus, des erhofften und erwarteten Sohns Gottes. Im Wissen vom Einssein von Jesus und Christus drückt sich der christliche Glaube aus 3. Fragt man nach der Ursache dieses Glaubens, nach dem also, was Paulus, 1. Korinther 1, 23: »Wir aber verkünden Christus den Gekreuzigten; den Juden Lästerung, den Heiden Unsinn.« (hmei@ de khrussomen Criston estaurwmenon, Ioudaioi@ men skandalon ejnesin de mwrian.) 3 Vgl. H. Gollwitzer 1960, 110: »Der christliche Glaube ist wirklicher Glaube an einen wirklichen, historischen Menschen: Jesus Christus. a) Er ist wirklicher Glaube; d. h., er stellt die ganze Existenz auf Jesus Christus als auf 2
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das Wissen vom Einssein von Jesus und Christus anfänglich bewirkt hat, so wird im Neuen Testament die sinnliche Wahrnehmung des auferstandenen Jesu genannt. Im Markus-Evangelium wird das Sehen des Jesus durch Maria Magdalena und die Jünger als diejenige Instanz angeführt, die bewirkt hat, dass sie wissen, dass Jesus Christus ist. 4 Sie gelten als die unmittelbaren Zeugen der Wiederauferstehung Jesu 5 und insofern als die »ersten Christen« 6 . – Analysiert man diese neue Art des Wissens, so wird darin auf der einen Seite die Erfahrung der leiblichen Wiederauferstehung Jesu durch die Annahme erklärt, dass dieser Jesus der Christus, der Sohn Gottes, sei; und auf der anderen Seite findet die Annahme vom Einssein von Jesus und Christus in der Wahrnehmung des wiederauferstandenen Jesus ihre Bestätigung. Der Gedanke des Einsseins von Jesus und Christus und die Wahrnehmung des auferstandenen Jesus bedingen und ergänzen einander und konstituieren das Wissen, dass Jesus der Christus ist. 7 den Weg, die Wahrheit und das Leben; er steht zu Jesus Christus so, wie man nur zu Gott stehen kann. b) Er meint damit aber den wirklichen historischen Menschen Jesus von Nazareth.« 4 Siehe: Markus 16, 9–14. (In Nestle-Aland 1986 sind die Verse 9–20 in Klammern gesetzt; sie werden als möglicherweise unecht angesehen.); Matthäus 28; Lukas 24; Johannes 20, 11–18. – Die Geschichte vom »ungläubigen Thomas« (Johannes 20, 24–29) ergänzt das Sehen um das Tasten als Verifikationsinstanz. 5 Lukas 24, 48: »… und seid des alles Zeugen«. – Auch Lukas 21, 13; Johannes 15, 27. 6 Auf diesen Anfang des christlichen Glaubens ist ein mangelndes Interesse der frühen Christen am Leben und an der Lehre Jesu zurückgeführt worden: »Den Anfang der Christentümer bilden die österlichen Erscheinungen Jesu … Dabei wurden die Erscheinungen des Auferstandenen als Deutung seines Todes interpretiert, nicht etwa als Deutung der Worte und seiner Lehre. Von der Osterbotschaft her wird der Tod Jesu als Heilsereignis verstanden: Jesus ist für uns bzw. für unsere Sünden gestorben.« (Vouga 1994, 24). Siehe auch: Schweitzer 1933, 34; Heitsch 1960, 72. – Im Gegensatz dazu H. J. Schoeps: man kann »ziemlich exakt die Umformung des historischen Jesus in den kerygmatischen Christus aus einem zwingenden Bedürfnis der nachapostolischen Gemeinde beschreiben, die mit der Verzögerung seiner Parusie fertig werden musste« (In: Ristow 1960, 88). Zur Kritik an Schoeps’: Schmidthals 1962, 151 f. 7 Dieses Neue verfehlten die Deutungen, die im Christentum nur einen der vielen Kulte erkannt haben. Exemplarisch zeigt dies Missverständnis die Kritik des Philosophen Kelsos von Alexandrien: ihm fiel es nicht schwer, Jesus in die Menge der damaligen Tugendlehrer, Wundertäter und Weltuntergangspropheten und den christlichen Glauben unter die Vielzahl der sich ausbreitenden orientalischen Kulte einzureihen. Anstößig, weil unbegreiflich, war für Kelsos jedoch die Geschichte von der leiblichen Auferstehung Jesu. Er schloss es als unmöglich aus, der gestorbene Jesus sei seinen Anhängern »im Fleische«, d. h. lebendig-körperlich, gegenwärtig gewesen und von ihnen sinnlich wahrgenommen worden; denn dies sei ›wider die Natur‹ (para yusin)
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Dieser epistemischen Struktur liegt ein anderes und neues Wissenssubjekt zugrunde. Es ist nicht der Logos, der Wissen begründet, und auch nicht die Autorität, der gefolgt wird, sondern der einzelne Mensch ist hier Träger des Wissens. Der Mensch, dem die Erfahrung des wiederauferstandenen Jesus als seine Wahrnehmung zukommt, ist in diesem Fall die Instanz, die jene Annahme als Wissen begründet: er weiß und bezeugt daher, dass Jesus Christus ist, weil und insofern er diese Wahrnehmung gemacht hat. Daraus aber folgt, dass der christliche Glaube nicht nur aufgrund seines Gehalts, dass Jesus Christus ist, sondern auch aufgrund der Instanziierung eines neuen Wissenssubjektes eine geschichtlich neue Art des Wissens darstellt. Die wissensbegründende Instanz ist hier kein vorhandener epistemischer Code, den der Wissende nur vergegenwärtigt, sondern der einzelne Mensch, der aufgrund seiner Auferstehungserfahrung weiß, dass der historische Jesus der erhoffte Christus ist. 8 und daher unmöglich. Kelsos deutete auf Grundlage des griechischen Logos-Prinzips die Auferstehungsgeschichte folgerichtig nicht als historischen Bericht, sondern als Erzählung einer epistemisch irrelevanten Vision eines exaltierten Weibes (gunh paroistro@) oder eines Traums eines der Jesus-Anhänger (siehe: Nestle 1990, 33 f., 58 ff.). Im christlichen Glauben jedoch galt gerade dieses ›Widernatürliche‹ als die wissensbegründende Instanz; es markiert die Grenze zwischen antikem und christlichem Wissen und den Beginn eines neuen epistemischen Diskurses. – Nach dem ›Sieg‹ des christlichen Glaubens wird Augustin (de civitate Dei XXII, 5) an die Philosophen die Frage richten, was denn unglaublicher sei: die Tatsache, dass Jesus im Fleisch auferstanden und zum Himmel fuhr, oder die Tatsache, dass wenige unbekannte, ärmliche und ungebildete Menschen die Welt und sogar die Gelehrten von diesem Unglaublichen überzeugen konnten? Ist die Tatsache der leiblichen Auferstehung Christi unglaublich, dann mehr noch die Tatsache, dass alle Welt dies Unglaubliche glaubt. Wie man es dreht und wendet, – das Unglaubliche wird geglaubt. 8 Die Instanziierung dieses neuen Wissenssubjekts ist nicht nur in der – vor allem durch Paulus bezeugten – Verachtung der »Weisheit dieser Welt« durch die ersten Christen ausgedrückt (1. Kor. 3, 19), sondern ebenso in deren Verachtung durch die nichtchristliche Umwelt. Es war ein ›Standard-Argument‹ von Juden, Griechen und Römern, dass ›einfache Menschen‹, Huren, Fischer oder Zöllner, keine Träger von Wissen und zur Zeugenschaft unfähig, und die ersten Christen daher Schwindler und Lügner, und ihre Anhänger leichtgläubig Verführte seien. In der ersten bekannten Polemik des Rhetors und Lehrers Mark Aurels, M. Cornelius Fronto aus Cirta, heißt es: »Aus der untersten Hefe des Volkes sammeln sie da die Ungebildeten und leichtgläubigen Weiber, die der ihrem Geschlecht eigenen Beeinflussbarkeit wegen [ohnehin] auf alles hereinfallen, bieten ein gemeines Verschwörerpack auf, das sich in nächtlichen Zusammenkünften, bei feierlichem Fasten und menschenunwürdiger Speise nicht etwa durch einen Kult, sondern ein Verbrechen verbrüdert: eine obskure, lichtscheue Gesellschaft, stumm in der Öffentlichkeit, dafür [aber] geschwätzig in den Winkeln … ; selbst halbnackt, verachten sie Ämter und Würden« (Zit. nach: Ritter 1977, 33). A
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Die Glaubensregel
Die Reflexion auf diese unmittelbare Gewissheit sowie die diskursive Auslegung des Geglaubten erzeugte hinsichtlich der Begründung dieses Glaubens wie des Geglaubten Konflikte und Unsicherheiten. Ist der Glaube an Jesus Christus allein durch die sinnliche Wahrnehmung des wiederauferstandenen Jesus verbürgt, oder ist er nicht viel mehr als eine Einwirkung des göttlichen Geistes zu verstehen, so dass in der Glaubensgewissheit des einzelnen sich zugleich ein geistiges Geschehen offenbart? Was ist demnach das Subjekt des Wissens: der Mensch, der aufgrund seiner sinnlichen Wahrnehmung weiß, dass Jesus Christus ist, oder der Geist, der in dem Menschen diese Gewissheit bewirkt? Und wie verhalten sich diese beiden Ursachen des christlichen Glaubens zueinander: die sinnliche Erfahrung des wiederauferstandenen Jesus und die übersinnliche Einwirkung des Geistes? 9 Und wie schließlich ist dieser Geist und sein Wirken zu deuten? Weiterhin: Wird im Rahmen einer diskursiven Auslegung der Glaubensgewissheit 10 , Jesus, der jüdischen Tradition gemäß, als der im Alten Testament (Jesaia 11) vorhergesagte Messias ausgesagt, als Künder und Herrscher des kommenden Gottesreichs; gilt Jesus, orientalisch-hellenistische Traditionen aufnehmend, als der gekommene Erlöser, der durch seinen Opfertod die Menschen aus Sünde, Angst und Tod befreit hat; oder ist er, der griechisch-philosophischen Dieser Differenz der Wissensbegründung entspricht ein ›konservatives‹, österlichapostolisches Glaubensverständnis, für das der wiederauferstandene Jesus und dessen Bezeugung durch die Jünger im Zentrum steht, sowie ein ›dynamisches‹, pfingstlichpneumatisches Glaubensverständnis, das die eigene Glaubensgewissheit als Ausdruck göttlicher Liebe und Gnade deutet. Dieser epistemologische Unterschied lässt sich exemplarisch an den Aposteln Petrus und Paulus festmachen. Petrus erhielt – nach Matthäus 16, 18 f. – den Verkündigungsauftrag durch den irdischen Jesus, Paulus – nach der Apostelgeschichte 9, 3–6 – durch die Audition und/oder Vision des himmlischen Christus. Paulus erkannte zwar die apostolische Priorität von Petrus, als Jünger Jesu, an (1. Korinther 15, 5–8), wusste sich gleichwohl von ihm unabhängig und selbständig (Galater 2, 6 ff.; 2. Korinther 10, 8; 12, 11), wenn nicht gar überlegen (Galater 2, 11 ff.). Im zweiten Petrus-Brief (3, 16) hingegen – der freilich als nachapostolisch gilt – heißt es, Gott habe Paulus viel Weisheit gegeben, gleichsam väterlich wird aber darauf hingewiesen, Paulus’ Ergüsse seien nicht frei von Missverständlichem. 10 Erste Äußerungen dieser neuen Gewissheit geschahen offenbar in der Art unverständlichen ›Zungenredens‹. Siehe: 1. Korinther 14, 2–4. W. Koehler schließt daraus: »Die älteste Christenheit hat … nicht gedacht. Sie hat nicht einmal logisch geredet, sondern in ekstatischen Lauten gelallt.« (Koehler 1938, 49). Vgl. auch Schneider 1954, 224 ff. 9
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Denkweise entsprechend, der menschgewordene Logos, durch den als das »Licht der Welt« die Wahrheit erkannt wird? Die Konflikte zwischen der, später so genannten, messianisch-eschatologischen, soteriologisch-sakramentalen und philosophisch-theologischen Auslegung des Glaubensinhaltes ist offenbar schon früh entstanden. 11 Dieser Umgang mit der einfachen Gewissheit, dass Jesus Christus ist, brachte, so wollen wir diesen Schritt zusammenfassen, verschiedene Begründungs- und Deutungsmuster hervor 12. In der Reflexion auf diese unterschiedlichen Ausdeutungen ist ein neuer Typ von Glaubensaussagen geschaffen worden: der »kanwn th@ pistew@« oder die »regula fidei«. Durch ihn wurden auf der ›Metaebene‹ verbindliche Regeln festgelegt, nach denen die Auslegung und das Bekenntnis des christlichen Glaubens nicht mehr allein durch den einzelnen, sondern durch die Glaubensgemeinschaft geschieht. 13 Die Differenz zwischen der jüdisch-messianischen und der hellenistisch-soteriologischen Glaubensauslegung reicht aus Sicht der historischen Forschung in die früheste Zeit des Christentums zurück. Während die jüdische Gruppe in der Erwartung der baldigen Wiederkehr des Messias lebte, drängte die hellenistische Gruppe auf die Verkündigung des Heilsereignisses. »Die Urgemeinde bot also kein einheitliches Bild, auch wenn sie oft von späteren Reformbewegungen idealisiert wurde. Soziologisch von unterschiedlicher Herkunft, nahmen die ersten Gläubigen Jesu Botschaft entsprechend ihrer religiösen Anschauungen auf, wobei sich frühzeitig Konflikte abzeichneten, vor allem in der Wertung des Tempels und des Gesetzes.« (Lenzenweger 1986, 26). – Zu diesem Komplex vgl.: die programmatischen Schriften von Baur 1831; Wellhausen 1914; Wetter 1922; Grundmann 1939. Auch: Lietzmann 1953, 63 ff.; Lüdemann 1987, 79–85. Anders verhält es sich mit der Logos-Auslegung. Das sog. »Johannes-Evangelium«, das Jesus als menschgewordenen Logos deutet, war das zeitlich letzte der vier Evangelien, das um 100 n. Chr., vielleicht in Ephesus, entstanden und aus Gemeinden des »Lieblingsjüngers« hervorgegangen ist (vgl.: Becker 2004, 46–67; Vouga 1994, 144–149; 215– 224). Der philosophisch-theologische Charakter dieses Traktats und das Zurücktreten des Legendarischen zugunsten des Lehrhaften weisen darauf hin, dass diese Deutung von Jesus Christus eine reflektierte Auslegung des christlichen Glaubens war, die lange Zeit umstritten war und von den ›Gebildeten‹ rezipiert wurde. Vgl.: Becker 2004, 126– 135; auch: Lietzmann 1953, 246 ff. 12 Mit der Ausbreitung des Christentums entstand eine Vielzahl von Auslegungen. Irenäus nennt Ende des 2. Jahrhunderts 20 christliche Gruppen, Hippolyt zu Anfang des 3. Jahrhunderts 32, und Ende des 4. Jahrhundert führt Philaster von Brescia schließlich 131 Gruppen an. – Vgl.: Bauer 1934, 196 ff.; Deschner 1980, 275. 13 »… die Glaubensbekenntnisse der Christenheit sind niemals staubtrockene Dokumente gewesen … Sie waren theologische Manifeste, durchwirkt mit dogmatischer Bedeutung und manchmal auch tief gezeichnet mit den Spuren der Kontroverse.« (Kelly 1972, 133). Die Bekenntnisbildung ging »offensichtlich … von christologischen Kurzformeln aus, die im Laufe der theologischen Auseinandersetzung zu dreigliedrigen Be11
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Das sogenannte »Symbolum Romanum« 14 , das als eines der frühesten kanonisierten Bekenntnisse gilt und wohl Ende des zweiten Jahrhunderts entstand, formulierte drei Regeln, nach denen gewisse Aussagen als authentische und daher rechtmäßige und gemeinschaftlich gültige Glaubensauslegungen beurteilt werden, und die als solche das Wissen von Jesus Christus repräsentieren, während andere Aussagen als unrechtmäßig und irrig gelten. Die erste Regel legte die Rechtmäßigkeit des Glaubens an Gott den Vater fest, der als der Allmächtige (omnipotens) zu bekennen sei; sie richtete sich gegen die christliche Gnosis und die Kirche Markions, die als Ursache ›dieser Welt‹ den neidischen und bösen Schöpfergott des Alten Testaments und in Jesus Christus den Sohn des guten Gottes des Geistes und der Liebe erkannten (Harnack 1921). Die zweite Regel legte den Glauben an Jesus Christus als »seinen einzigen Sohn, unsern Herrn« (filium eius unicum, dominum nostrum), der geboren wurde, am Kreuz gestorben und wiederauferstanden sei, als rechtmäßig fest; sie diente dazu, gnostische Auslegungen, die Christus als körperlos-geistige Erscheinung gedeutet hatten, als häretisch auszuschließen. 15 Die dritte Regel schließlich bezog sich auf die Festlegung der Regeln selbst, so dass dieser gemeinschaftlich ausgelegte und bekannte Glaube als Wirkung des »Heiligen Geistes« festgeschrieben wurde 16 und andere Glaubensrichtungen, wie die der Montanisten, als uninspiriert und häretisch ausgeschlossen wurden 17 . Mit der Festlegung und Anwenkenntnissen erweitert wurden. Das Bekenntnis zum Vater-Gott und Schöpfer wehrte das gnostische Gottesbild ab, die Christusformel schloss jegliche doketische Entleerung aus, und der Artikel über den Heiligen Geist richtete sich gegen den Anspruch des Pneumas außerhalb der Kirche.« (Lenzenweger 1986, 55) – Eine ausführliche Darstellung der »Umprägung des Taufbekenntnisses zur apostolischen Glaubensregel« gibt Harnack 1931, 1. Bd., 354–372. 14 siehe: Kelly 1972, 105. 15 »Die gnostische Tradition verwirft den historischen Jesus, weil sie den Menschen Jesus überhaupt zugunsten des Pneuma-Christus verwirft. Sie bestreitet die Identität von Jesus und Christus.« (Schmidthals 1962, 152) 16 Vgl. Irenaeus von Lyon: »Diese Gabe Gottes wurde der Kirche anvertraut, damit alle Glieder derselben am Heiligen Geist Anteil haben und lebendig gemacht werden können; und niemand kann Anteil an ihm haben, der sich nicht mit der Kirche versammelt, sondern sich selbst um sein Leben betrügt. Denn wo die Kirche ist, da ist der Geist Gottes; und wo der Geist Gottes ist, da ist die Kirche und die Gnade.« (adversus haereses 3, 24, 1; zit. nach: Kelly 1972, 156). 17 Das Symbolum Romanum spricht nur von der »heiligen Kirche«, noch nicht von der »apostolischen Kirche«. Zu deren Begründung führt Tertullian den Begriff der »auctoritas apostolorum« an, den wir eigens im Weiteren behandeln.
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dung dieser drei Regeln trat an die Stelle des einzelnen Menschen als Träger des christlichen Glaubens die Glaubensgemeinschaft, die sich als die »heilige Kirche« verstand und die Glaubensgewissheit der ersten Christen bewahrte und authentisch auslegte 18 .
C. Das Problem der Trinität Im dritten Schritt, nach dem Anfang des Glaubens und der Festlegung seiner Regel, wurden die Aussagen über die drei verschiedenen ›Subjekte‹, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, unter die Bedingung der Einheit gebracht. Der christliche Glaube sollte nicht nur als Gewissheit erfahren und rechtmäßig bekannt, sondern auch als ein einheitliches Ganzes begriffen werden. 19 Mit dieser Suche nach der Einheit der Verschiedenen setzte im Christentum die produktive Auseinandersetzung mit der griechischen Epistemologie ein, und wurde der Versuch unternommen, das bislang Unvereinbare zu vereinbaren. War der Glaube an Jesus Christus bislang durch die, sinnliche wie übersinnliche, Erfahrung bezeugt und in Bekenntnissätzen festgelegt worden, so übernahm das Christentum nun den Grundsatz der griechischen Epistemologie, dass bleibendes Wissen nicht auf der Erfahrung beruhe oder in lehrbaren Sätzen bestehe, sondern im Logos und damit im Gedachtsein begründet sei. Dieses Programm, die Trias von Vater, Sohn und Heiligem Geist durch ihre begriffliche Fassung unter die Bedingung der Einheit zu bringen, brachte schließlich eine neuartige Verbindung von griechischer und christlicher Wissensart hervor. Um das epistemisch Neue dieser Programmatik zu verdeutliAngesichts dieses Wandels des Wissenssubjekts schlug bei dem Kirchenhistoriker A. v. Harnack der Protestant durch: »Unverbrüchlich für jeden Christen soll die ›apostolische lex et doctrina‹ sein. Die Zustimmung zu ihr entscheidet über den christlichen Charakter des Einzelnen. Die christliche Gesinnung und das christliche Leben ist dann ein zweites, das besonderen Bedingungen unterliegt (damit ist das Wesen der Religion gespalten – die verhängnisvollste Wendung in der Geschichte des Christentums!)« (Harnack 1931, 1. Bd., 365). 19 Als Initiator der Bestrebungen, die christliche pisti@ mit der griechischen episthmh zu vereinbaren, gilt Titus Flavius Clemens, der Leiter der Katechetenschule in Alexandria. In den Stromateis 28, 1 gibt er die Begründung: »Nun war vor der Ankunft des Herrn die Philosophie für die Griechen zur Rechtfertigung notwendig; jetzt aber wird sie nützlich für die Gottesfurcht, in dem sie eine Art Vorbildung für die ist, die den Glauben durch Beweise gewinnen wollen.« (Clemens von Alexandria 1936 ff., 31) 18
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chen, sei zunächst die Perspektive sowohl der griechischen als auch der christlichen Epistemologie eingenommen. Von jenem Standpunkt aus musste das christliche Trinitätsproblem als unlösbar erscheinen; denn da der Zusammenhang der Vorstellungen von »Gott Vater«, dem »Sohn Gottes« und dem »Heiligen Geist« nur in der Übereinkunft derer besteht, die glauben, dass Jesus Christus sei, fehlt diesen Vorstellungen der Einheitsgrund, der die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit ihres Zusammenhangs begründen könnte. Aus dieser Perspektive repräsentieren die Aussagen über die Trias daher kein Wissen (episthmh), sondern nur, wie Porphyrios urteilte, einen »unbegründeten und unbewiesenen Glauben« (alogo@ kai anexetasto@ pisti@) 20 . Vom Standpunkt des christlichen Glaubens hingegen stellte die Suche nach der Einheit einen überflüssigen Zusatz zum Glauben dar; denn da die Aussagen über die drei in der Glaubensgewissheit begründet sind, die durch sie bekannt wird, hängt deren epistemische Geltung nicht vom Gedachtsein ab. Ja, der Einwand lässt sich verschärfen: die Forderung, die in der Glaubensregel ausgesagte Trias als Einheit zu denken, beruht auf dem Zweifel, den der christliche Glaube gerade überwindet; sie widerspricht der Art des christlichen Wissens als einer Gewissheit des Glaubens 21. Wenn nun trotz der Einwände der Unmöglichkeit einerseits und der Unnötigkeit andererseits die Anstrengung unternommen wurde, das Problem der Trinität mit logischen Mitteln zu lösen – und damit den christlichen Glauben auch als ein allgemein einsichtiges Wissen zu begründen –, dann muss es als gerechtfertigt erscheinen, die Lösungen dieses unlösbar scheinenden Problems als Grundlegungen einer neuen Wissensart aufzufassen, die das christlich Geglaubte und das griechisch Gedachte in sich verbindet 22 . Statt die unterschiedlichen Beiträge und die komplexe Diskussion um die Trinität zu referieren, soll zunächst anhand des Methodenproblems nur das
Porphyrios, Fr. 1, 73. Zit. nach: Nestle 1990, 44 f. – Zu den Haupteinwänden der griechischen Philosophen siehe: Nestle 1990. 21 Diese ›antiphilosophische‹ Apologetik ist von Tertullian in »de praescriptione haereticorum« am beredtesten formuliert worden. Er beteuerte die fraglose Gültigkeit der von Christus (!) aufgestellten Glaubensregel (13, 6) und machte die Philosophie für die Häresien verantwortlich (7, 3). »So wir glauben, verlangen wir über den Glauben hinaus nichts mehr. Denn das ist unser oberster Glaubensartikel: dass da nichts sei, was wir über den Glauben hinaus noch zu glauben hätten. (7, 5–13; zit. nach: Ritter 1977, 67). 22 Vgl. dazu: Geyer 1986. 20
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Aporetische der Lösungen nachgezeichnet werden, um dann auf das Ende der Diskussion einzugehen. Für die Suche nach der Einheit der Trias lassen sich zwei gegenläufige Methoden anführen: das Verfahren der Deduktion und das der Subsumtion. Das erste geht vom Prinzip des Einen aus und unternimmt es, die Trias von Vater, Sohn und Heiligem Geist, die der christliche Glauben bekennt, als eine Folge aus dem Einen abzuleiten; das zweite geht von der Unterschiedlichkeit der drei Subjekte aus und sucht, ob und wie das Eine als Prinzip in ihnen enthalten ist. 1.
Die Deduktion
Der deduktiven Methode ist die Religionsphilosophie des Origenes von Alexandrien gefolgt, der, für die christliche Theologie exemplarisch 23 , das erste Modell der Trinität ausformuliert hat. Zwar müsse der christliche Denker, wie Origenes im Vorwort zu »Von den Prinzipien« erklärte, vom Glaubensgut der Kirche ausgehen, die Antwort auf offene Fragen jedoch auf die logische Folgerichtigkeit (akoloujia) stützen 24 . Seine systematische Darstellung der Dreiheit beginnt mit Gott Vater, der als das unwandelbare und selbst körperlose Eine der Urgrund aller Dinge sei; ihm folgt der Sohn, den Origenes als den Logos und als die Weisheit des Vaters deutet, die aus ihm ewig hervorgehe; und schließlich der Heilige Geist als der höchste und vollkommenste der vom Logos geschaffenen Geister. – Statt dieser Deutung der Trias näher nachzugehen und den Folgerungen, die Origenes daraus gezogen hat, soll hier nur nach dem Begriff gefragt werden, der in diesem Modell den Zusammenhang der drei Subjekte stiftet. Origenes selbst verwendet dafür die Ausdrücke des »Hervorgehens« oder »Hervorbringens«, des »Entstehens« oder »Zeugens«, die er jedoch noch nicht klar voneinander unterscheidet; in Hinblick auf die weitere Trinitätsdiskussion lässt sich jedoch sagen, dass für sein Modell der Begriff des »ewigen Hervorgehens« der angemessenste sein dürfte. Nach ihm ist das Dasein des Sohnes und des Geis»Die Apologeten hatten bisher Alles im Christentum klar gefunden; die antignostischen Väter hatten den kirchlichen Glauben und die Glaubenswissenschaft in Eins gesetzt. Origenes hat das Problem und die Probleme erkannt und den Betrieb der christlichen Theologie zu einer selbständigen Aufgabe erhoben, indem er ihn von der polemischen Abzweckung befreit hat.« (Harnack 1931, 1. Bd., 650). 24 Siehe: Origenes 1976, §§ 3 und 10. 23
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tes im Sinne der platonischen Philosophie als Folge und unmittelbarer Ausfluss der Güte Gottes zu verstehen. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind die drei Hypostasen (upostasei@) des Grundes, des Logos und des Geistes, die zwar als drei verschiedene Substanzen in unterschiedlicher Weise wirken, jedoch ewigerweise aus dem Einen hervorgehen. Origenes hat so das Prinzip der Deduktion, der notwendigen Folge theo-logisch zur Erklärung der christlichen Trias als eines zeitlos-ewigen Hervorgehens aus dem Einen angewandt. Dieses Unternehmen, die christlich bekannte Trias von Vater, Sohn und Heiligem Geist durch das Modell der Hypostasen zu erklären, konnte zwar ihre innertrinitarische Einheit verdeutlichen; es warf freilich neue Probleme auf, die zum Teil Origenes selbst formuliert hat: das Problem des unwandelbar Einen einerseits und des ›ewig zeugenden‹ Vaters andererseits, an dem sich dann der arianische Konflikt entzündete 25 ; die Frage nach dem Verhältnis des christlichen Bekenntnisses der »Zeugung« des Sohnes durch den Vater zum (neu)platonischen Begriff des »Hervorgehens« des Logos aus dem Guten 26 ; das aus dem Deduktionsverfahren resultierende Problem Für Origenes selbst konnte das Eine nicht ohne das Andere, der Vater nicht ohne den Sohn, gedacht werden: »Wie kann man … meinen oder glauben, dass Gott Vater jemals auch nur den geringsten Augenblick ohne die Zeugung dieser Weisheit existiert habe, wenn man auch nur ein wenig fromm von Gott zu denken gelernt hat? … Daher wissen wir, dass Gott beständig Vater seines eingeborenen Sohnes ist, der zwar aus ihm geboren ist und, was er ist, von ihm erhält, doch ohne jeden Anfang …« (Origenes 1976, I, 2, 2, 125). 26 Der Nachvollzug dieses Problems ist durch zwei Umstände erschwert. Erstens liegt Origenes’ Werk »Von den Prinzipien« fast nur in der lateinischen Übersetzung von T. Rufinus vor, der als Origenes-Anhänger jedoch bemüht war, Textstellen, die er für nicht rechtgläubig hielt, zu übergehen oder zu verändern, und an dunklen Stellen andere Origenes-Texte einfügte (siehe dazu: Origines 1976, 42). Zweitens unterscheiden sich die Begriffe des Entstandenseins und Geborenseins im Griechischen nur durch ein zusätzliches »n«: egenhjh (»ist entstanden«) bzw. egennhjh (»ist geboren«); sie werden ins Lateinische aber mit »generatus« oder »factus est« bzw. mit »natus est« übersetzt. »Diese Wörter«, kommentieren H. Görgemanns und H. Karpf, »werden in den Hss. häufig verwechselt, aber in vornizäischer Zeit auch inhaltlich nicht scharf unterschieden … Nachdem die Unterscheidung durch den arianischen Streit wesentlich geworden war, geriet der Gebrauch von genhto@ bei Or(igenes) in Verdacht …« (ebd., 89, Anm. 9) Was die unterschiedliche Bedeutung von »Zeugen« und »Hervorgehen« betrifft, so ging Origenes zwar von der christlichen Vorstellung der Zeugung des Sohnes durch den Vater aus, schränkte deren Bedeutung jedoch sogleich ein: es sei »unaussprechbar und unerlaubt«, sie mit »irgendeinem Menschen oder sonstigen Lebewesen bei seiner Zeugung zu vergleichen … Es muss sich hier um etwas Besonderes handeln, das Gottes Würde entspricht und wofür sich überhaupt kein Vergleich finden lässt, nicht nur in 25
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der Subordination der Hypostasen des Sohnes und des Heiligen Geistes unter die des Vaters 27, das dann zum Thema des nikaianischen Konzils wurde; sowie schließlich die unzureichende Einordnung des Heiligen Geistes in dieses Schema 28 . Seitens der christlichen Orthodoxie wurde gegen Origenes jedoch vor allem eingewandt, dass das Verfahren selbst – und damit verbunden die philosophisch-allegorische Auslegung der biblischen Schriften – dem christlichen Glaubensinhalt widerspreche. Denn Origenes’ innertrinitarisches Modell konnte zwar das Göttliche der ›Christus-Natur‹ als »ewig gezeugter Logos« erklären, nicht aber die ›Jesus-Natur‹, nach der der Gottessohn als Mensch gelebt und gelitten habe und für die Menschen geder Wirklichkeit, sondern nicht einmal im Denken und in der Vorstellung« (ebd., I, 2, 4; 129 ff.). Er verglich das Undenkbare dann doch: einerseits mit dem platonischen Bild vom »Glanz, der aus dem Licht hervorgeht« (ebd.; auch: I, 2, 7; 137); andererseits mit dem philonischen Begriff des Geistes: »… wie der Wille aus dem Geist hervorgeht, ohne einen Teil des Geistes abzuschneiden und ohne von ihm geschieden oder getrennt zu werden, so habe der Vater den Sohn gezeugt« (ebd., I, 2, 6; 135; auch: IV, 4, 1; 783 ff.). Origenes ließ jedoch offen, ob der Sohn der aus dem Licht hervorgehende Glanz bzw. der aus dem Geist hervorgehende Wille ist, oder ob die Zeugung des Sohnes auf diese Weisen nur gedacht bzw. vorgestellt wird. 27 Am eindeutigsten in Origenes 1976, I, 3, 5, 169 ff.: »Ich glaube, dass Gott Vater, der das All zusammenhält, zu jedem Seienden hindurchdringt (yjanei) und einem jeden aus seinem eigenen (Sein) verleiht zu sein, was es ist. Weniger weit (elattonw@) als der Vater (wirkt) der Sohn, der nur zu den vernunftbegabten Geschöpfen (ta logika) hindurchdringt, denn er steht an zweiter Stelle nach dem Vater; noch weniger weit der heilige Geist, der nur bis zu den Heiligen hindurchdringt. Insofern ist also die Macht des Vaters (dunami@ tou patro@) größer als die des Sohnes und des heiligen Geistes; größer sodann die des Sohnes als die des heiligen Geistes; und die Wirksamkeit des heiligen Geistes ihrerseits übertrifft die von allem, was sonst heilig ist«. 28 Im Vorwort zu »Von den Prinzipien« beschreibt Origenes die Problemlage: »Bei ihm [dem heiligen Geist] wird nicht mehr deutlich unterschieden, ob auch er als Sohn Gottes anzusehen sei oder nicht, sondern dies muss man nach Kräften aus der heiligen Schrift erforschen und durch scharfsinnige Untersuchungen aufspüren.« (Origenes 1976, 91) Er habe jedoch »bis heute keine Stelle in den heiligen Schriften finden können, an der der heilige Geist als Geschöpf des Vaters bezeichnet würde«. Dies müsse daher »auf Grund logischer Folgerungen« angenommen werden, dergemäß alles, außer dem Vater, geworden ist. (ebd., 163) Im später verfassten Johannes-Kommentar (II, 6) formuliert Origenes dann, dass der Heilige Geist das Erste sei, was vom Vater durch den Sohn entstanden sei: »Wir sind daher überzeugt, dass da drei Hypostasen sind, der Vater, der Sohn und der heilige Geist, und glauben, dass nichts anderes ungeboren/ungeworden ist als der Vater. So nehmen wir es denn als das Frömmere und Wahre an, dass alles durch den Logos entsteht, dass der heilige Geist von allem das Wertvollste ist und der Ordnung nach alles vom Vater durch Christus (twn upo tou patro@ dia Xristou) entstanden ist.« A
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storben sei 29 . Die Folge dieses Drei-Hypostasen-Modells sei es, dass die Erlösungsfunktion Christi, die an seine menschliche Natur gebunden ist, zugunsten der Erkenntnisfunktion als der Weisheit Gottes vernachlässigt werde. Für Origenes sei daher letztlich nicht der Glaubende, sondern der Wissende der vollendete Christ 30 . 2.
Die Subsumtion
Das Verfahren der Subsumtion lag zwei verschiedenen Modellen zugrunde: dem »Modalismus« und dem »Adoptianismus«. Beide gingen einerseits vom christlichen Glaubensbekenntnis an Vater, Sohn und Heiligem Geist aus, andererseits von der logischen Annahme, dass das unwandelbare Einssein nur dem Einen zukommen könne. Sie sind daher »monarchianisch« genannt worden. Der Modalismus schließt daraus nun, dass die drei verschiedenen Vorstellungen vom Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist in Wahrheit nicht als drei selbständig Seiende oder Hypostasen zu verstehen seien, sondern als die drei Erscheinungsweisen, die Modi, des Einen 31 . Auf dieser Grundlage wurde die Trinität vom Theologen Noet von Smyrna und So hat der Sohn Gottes für Origenes nichts Körperliches: »Wenn wir nun ein für allemal die richtige Lehre angenommen haben, dass der eingeborene Sohn Gottes dessen Weisheit ist, die ein selbständiges Dasein als Substanz besitzt, dann sollte unser Denken sich nicht weiter versteigen zu der Vermutung, dass vielleicht eben dieses sein selbständiges Sein [upostasi@] irgend etwas Körperliches habe. Denn alles Körperliche ist durch Gestalt, Farbe und Größe gekennzeichnet; welcher Mensch aber mit gesundem Verstand hätte jemals Gestalt, Farbe oder meßbare Größe bei der Weisheit gesucht, insofern sie Weisheit ist.« (Origenes 1976, I, 2, 1–2, 123 ff.) 30 Diese Kritik wurde am entschiedensten von Epiphanius, dem Urheber des sog. »origenistischen Streits«, in seinem »Arzneikasten« (Panarion haereticorum) vorgetragen. Er sah im Origenismus »die gefährlichste aller Häresien« (Hörmann 1919, V), weil Origenes mit seiner Lehre der Subordination des Sohnes unter den Vater zum »geistigen Vater des Arianismus« (ebd.) geworden sei. Der Origenismus verunsichere nicht nur die Gläubigen, weil er »es verbiete, sich im Gebet an den Sohn zu wenden« (Jedin 1972, 132), sondern spalte auch die Kirche, weil er in ihr zwei Gruppen unterscheide: die »einfältigen« (aplousteroi) und die »vollendeten« (teleioi). – Vgl. dazu auch: Görgemanns 1988, 71 ff. 31 Für die Erscheinungsweisen des Einen ist wohl von Noet der Ausdruck »proswpon« in die Trinitätsdiskussion eingeführt worden. (Siehe: Andresen 1961; auch im Weiteren: III. B. 1. b.) Dieser Begriff ist von der »upostasi@« des Origenes zu unterscheiden; er bezeichnete in der stoischen Philosophie das in die Gemeinschaft eingefügte Individuum und übersetzte das hebräische ›panim‹ (Antlitz) ins Griechische. – Vgl.: Greshake 1997, 78 f. 29
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seinem Anhänger Sabellius als die drei heilsgeschichtlichen Phasen der Offenbarung Gottes gedeutet: als Vater in der Schöpfung und Gesetzgebung, als Sohn im Erscheinen Christi, des Erlösers, und als Heiliger Geist in der Gnade spendenden Kirche 32. Da nach diesem Modell Vater und Sohn ein und derselbe Gott sind, schloss Sabellius, dass im Sohn der Vater selbst gelitten habe und gestorben sei 33 . – Der Adoptianismus hingegen schloss aus der monarchianischen Annahme, dass das Einssein allein dem Vater zukomme und er daher Gott sei, – nicht aber der Sohn und der Heilige Geist. Theodotos von Byzanz und dann der Bischof Paul von Samosata vertraten die Auffassung, Jesus sei als gewöhnlicher Mensch (koino@ anjrwpo@) geboren; er sei jedoch seiner Gesinnung und seines Lebenswandels wegen von Gott als Sohn durch Adoption aufgenommen, d. h. durch den göttlichen Logos als einer »von außen« (exwjen) kommenden und unpersönlichen Kraft (anupostato@ dunami@) zum Christus erhoben, worden 34 . Diese Theorie der Adoption ist von dem alexandrinischen Presbyter Arius schließlich christologisch modifiziert worden: auch er ging vom monarchianischen Grundsatz aus, wonach nur dem Vater, als dem Einen, das Gottsein zukomme; er nahm allerdings an, dass der Sohn nicht seines Lebenswandels wegen, sondern ›vor den Zeiten‹ vom Vater gezeugt wurde und sein Gottsein erhalten habe. Er blieb jedoch bei der Auffassung, dass der Sohn nicht in der gleichen Weise Gott sei wie der Vater: während dieser Gott ist, sei der Sohn erst Gott durch den Willen des Vaters geworden 35 . Diesen Versuchen, die christlichen Vorstellungen von Vater, Siehe: Jedin 1962, 294 ff. Nach A. v. Harnack hat Sabellius argumentiert: »Ist Christus Gott, so ist er gewiss der Vater, oder er wäre nicht Gott. Hat Christus also wahrhaft gelitten, so hat der Gott, der alleine ist, gelitten.« (Harnack 1931, Bd. 1, 744) 34 Siehe: Andresen 1999, 58. 35 Aus Arius’ Glaubensbekenntnis, das er seinem theologischen Gegner Alexander übersandte: »Und zwar ist Gott, sofern er Grund alles Seins ist, absolut allein (monwtato@) ursprungslos. Der Sohn, erzeugt vom Vater außerhalb der Zeit (acronw@), geschaffen und konstituiert vor allen Äonen, war nicht, bevor er erzeugt ward; aber er allein ist, als außerhalb der Zeit [und] vor allen [anderen Geschöpfen] erzeugt, vom Vater [selbst] ins Dasein gebracht. Er ist weder ewig noch gleichewig mit dem Vater, noch teilt er mit ihm das Ungezeugtsein; auch hat er nicht mit dem Vater zusammen das Sein, wie einige mit Blick auf die [aristotelische] Kategorie der Relation (ta pro@ ti) behaupten, womit sie zwei unerzeugte Prinzipien einführen. Vielmehr ist Gott als Einheit (mona@) und Ursprungs allen Seins vor den Dingen …« (Zit. nach: Ritter 1977, 132). 32 33
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Sohn und Heiligem Geist dem logischen Prinzip des Einen unterzuordnen, wurde von Seiten der Orthodoxie entgegengehalten, dass durch dieses Verfahren, statt die Einheit der christlichen Glaubenslehre zu bezeugen, die in der Glaubensregel bekannte Dreiheit in eine Ein-Gott-Lehre aufgelöst und so durch das Mittel der Logik der christliche Glaubensinhalt: die Gewissheit, dass Jesus der Christus ist, ausgehöhlt werde. 36 3.
Die Homousie-Formel
Beide Methoden blieben aporetisch: sie begründeten nicht diejenige innere Einheit der drei Subjekte, die der christliche Glaube bekennt. Die Lehre von den drei Hypostasen musste eine solche Einheit ablehnen, weil das Gezeugte bzw. Gewordene doch als verschieden vom Zeugenden bzw. Ungewordenen zu denken ist. Der Monarchianismus hingegen musste sie ablehnen, weil das Eine doch nur einer sein kann. In keinem Fall stimmte also das Verfahren, die Trinität begrifflich zu erfassen, mit dem Glaubensinhalt überein. Diese Aporie deuten wir als Ausdruck des Konflikts zwischen der christlichen Epistemologie, das Wissen auf den Glauben zu gründen, und der griechischen Epistemologie, das Wissen durch das Denken zu begründen. Sein Ende fand der Streit um die Trinität mit der Synode in Nikaia im Jahre 325 37 . Ihr Beschluss sollte für die griechische Ostwie die lateinische Westkirche verbindlich werden. Auf dieser ersten Reichssynode wurde die Homousie-Formel angenommen, in das Glaubensbekenntnis eingefügt und die bisherigen Trinitätsmodelle verworfen. Diesem Beschluss gemäß seien der Vater und der Sohn als zwei zu bekennen, die eines/gleichen Wesens (omoousioi) sind: Die Kritik am, insbesondere in Rom verbreiteten, Modalismus, formulierte Hippolytos in seinem Hauptwerk »Refutatio omnium haeresium«; die Auseinandersetzung mit dem Arianismus, der überwiegend im Ostteil des römischen Reiches Anhänger hatte, führte der Athanasius in den »Orationes contra Arianos« (Athanasius 1913). 37 Aus historischer Sicht ist dies nicht richtig; denn der Streit wurde nach dem Konzil erbitterter geführt als zuvor. Doch die Synode von Nikaia beschloss die Glaubensregel, die 381 dann, unter Einbeziehung des Heiligen Geistes, durch die Synode von Konstantinopel zum Glaubenssymbol der Ost-, 451 auf der Synode in Chalkedon auch der Westkirche und damit zum Glaubensbekenntnis der ›rechtgläubigen‹ Christen erklärt wurde. – Siehe: Jacobs 1987, 30–63. 36
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ungeschaffen und allmächtig. Das Merkwürdige dieses Endes der Trinitätsdiskussion war jedoch die Tatsache, dass die Formel weder als authentischer Ausdruck des christlichen Glaubens betrachtet wurde – sie war vielmehr zuvor als »häretisch« verurteilt worden 38 – noch das konsensuelle Ergebnis des theologischen Gelehrtendisputs war, sondern dass sie der Synode von Kaiser Konstantin gleichsam als ›Kompromissformel‹ vorgelegt und von der Synode beschlossen wurde. Betrachtet man diese Formel in Hinblick auf den christlichen Glauben, so konnte sie wohl geeignet sein, die Beziehung von Vater und Sohn, wie sie nach der Glaubensregel bekannt wurde, angemessen zu bezeichnen. Denn die Funktionen, die der Glaube Jesus Christus zuweist, die Weisheit Gottes, der Erlöser der Menschen und der Herrscher des kommenden Gottesreichs zu sein, können nur dann erfüllt sein, wenn auch dem Sohn die Vollkommenheitsattribute des Vaters zukommen: seine Unwandelbarkeit und Allmacht. Diese Zuordnung vollzieht der Begriff der Homousie von Vater und Sohn 39 ; und sie hatten die Trinitätsmodelle verfehlt, weil sie den Sohn dem Vater entweder untergeordnet oder beide nur als Modi des Einen verstanden hatten. Hinsichtlich der Gewissheit des Glaubens selbst jedoch bedurfte es dieser Formel gar nicht 40 ; denn gerade weil sie um nichts mehr darstellt, als was nach der Glaubensregel bekannt wird, musste sie als ein für den Glauben selbst fremder, unbiblischer und überflüssiger Zusatz erscheinen. In entgegengesetzter Weise wirkte sich die Formel jedoch auf die christliche Theologie und ihre Bemühungen aus, den Glauben durch die vernünftige Einsicht zu begründen. Denn mit ihrer Annahme durch die Synode wurde der denkenden Vernunft ein ihr fremder Grundsatz vorgegeben. Dass das volle Gottsein nach dem Begriff der Homousie nicht einem, sondern zwei Subjekten, dem Vater und dem Sohn, in derselben Weise zukommt, – diese Aussage widerspricht dem Gesetz des Denkens, nach dem das ›volle Einessein‹ nur Siehe: Jacobs 1987, 25; Uthemann 1994, Sp. 66–89. In diesem Sinn ist sie dann von Athanasius, dem »Vater der Orthodoxie«, gebraucht worden. Siehe: Harnack 1931, 2. Bd., 24 ff.; Ricken 1970, 90 ff. 40 Dies war wohl der Grund, warum der lateinische Westen, der sich an der Trinitätsdebatte weitgehend uninteressiert gezeigt hatte und geneigt war, die Theologen des Ostens – in der Tradition Tertullians – unter Häresieverdacht zu stellen, keine Schwierigkeiten hatte, die Homousieformel anzunehmen. Die weitgehende Akzeptanz der Formel im lateinischen Westen hat zur Vermutung Anlass gegeben, dass sie aus dem Westen stamme. Siehe: Jacobs 1987, 28 f. 38 39
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Einem, nicht aber Zweien zukommen kann. Der Beschluss von Nikaia löste denn auch im griechischen Osten »große Verlegenheit und Entrüstung« (Kelly 1972, 216) aus: das nach dieser Formel Bekannte kann nicht gedacht werden – und sollte doch für das theologische Denken verbindlich sein. Ihrer Annahme durch die Synode entsprach denn auch die Verurteilung der Theologie sowohl des Origenes, die vom Sohn sagte, er sei von einer anderen Hypostase oder Substanz als der Vater, als auch des Arius, die von ihm sagte, es habe eine Zeit gegeben, »da er nicht war«. Soweit die Berichte eine historische Rekonstruktion dieser ersten Reichssynode zulassen, wurde die Homousie-Formel von keiner theologischen Partei, sondern vom römischen Kaiser Konstantin eingebracht. Dieser drängte, um angesichts der drohenden Kirchenspaltung die Einheit des römischen Reiches und seine eben erworbene Macht zu erhalten und zu festigen, erfolgreich auf ihre Annahme durch die Reichssynode. 41 Aus diesem geschichtlichem Faktum aber Der genaue Verlauf dieser weichenstellenden Reichssynode ist in Dunkel gehüllt, weil entweder keine Protokolle angefertigt oder sie verschollen sind. Ihre Rekonstruktion muss sich daher auf die tendenziösen Berichte der Beteiligten oder auf spätere Erzählungen stützen. So viel dürfte jedoch als gesichert erscheinen: die Homousieformel wurde nicht von einer der theologischen Parteien, sondern vom römischen Kaiser eingebracht; und sie wurde auf dessen Druck hin von der Synode angenommen. Wie die Quellen übereinstimmend berichten, ging die Initiative zur ersten Reichssynode von Kaiser Konstantin aus (Jedin 1972, 1. Bd., 24). Er trug mit ihr seiner Rolle als »Friedensbringer« Rechnung, die er in seinem Brief an die Kontrahenten, Arius und Alexander, beschrieben hatte (Ritter 1977, 133). In der »Vita Constantini« berichtet Eusebius, er habe in Schreiben die Bischöfe des Ostens und Westens als seine persönlichen Gäste in seine Sommerresidenz in Nikaia eingeladen; zur Anreise durften sie sich kostenlos der Staatspost bedienen (Jedin 1972, 24). Bei ihrer Ankunft soll er die Bischöfe umschmeichelt, sie als seine »Freunde« und »geliebten Brüder« tituliert und die Narben der Glaubensmärtyrer geküßt haben (Kraft 1955, 100). – Noch vor der Eröffnung der Synode, schreibt Sozomenos in seiner »Historia Ecclesiastica«, wurden dem Kaiser Bittund Klagebriefe überreicht, in denen anwesende Bischöfe sich gegenseitig auch persönlicher Verfehlungen beschuldigten. All diese Briefe habe der Kaiser zu Beginn der Synode ungeöffnet vor ihren Augen verbrennen lassen (Jedin 1972, 26), »damit keinem Menschen der Streit der Priester bekannt würde« (Deschner 1980, 431). In seiner »mit Sorgfalt formulierte(n) Eröffnungsrede« (Kelly 1972, 211) habe er in lateinischer Sprache ernste und deutliche Worte über die Gefahren des inneren Streits in der Kirche, über die Eintracht der Bischöfe gesprochen und sie zur eigentlichen Aufgabe der Synode ermahnt, Wege zu Versöhnung und Frieden zu finden. Was den Verlauf der anschließenden Beratung der Bischöfe betrifft, sind wir auf drei Quellen angewiesen: Eustathius von Antiochia, der möglicherweise die Debatten als Vorsitzender leitete, berichtet in einem nur bruchstückhaft überlieferten Text, dass zu Beginn die »Formel des Eusebius [d. h. höchstwahrscheinlich von Nikomedien]« (ebd.,
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folgt in epistemologischer Hinsicht, dass der Geltungsgrund dieses Bekenntnisses, das Fundament seiner allgemeinen Gültigkeit und Verbindlichkeit, weder die Gewissheit des Glaubens war, die diese 212) vorgelegt wurde, deren Verlesung in der Versammlung ihrer Blasphemie wegen großes Bedauern auslöste. Nachdem man diese »eusebianische Rotte«, wie Eustathius sie nannte, überführt hatte und ihre Schriften zerrissen worden waren, wurde all denen Schweigen auferlegt, die gewöhnt waren, am geschicktesten zu sprechen. – Athanasius aus Alexandrien berichtet – allerdings erst Jahrzehnte später – in seiner Schrift »De decretis Nicaenae synodi«, die Versammlung habe gemeinsam beschlossen, das, was sie als die Wahrheit betrachtete, in der Sprache der Bibel auszudrücken. Da dies jedoch nicht gelang, weil die Partei der Arianer die Wendungen jedes Mal so lange drehte, bis sie mit ihren eigenen Vorstellungen in Einklang waren, habe es keine andere Möglichkeit gegeben, als die, wie er meinte, »präzisen, völlig unzweideutigen, aber nicht biblischen Klauseln ›Vom Wesen des Vaters‹ und ›eines Wesens mit dem Vater‹ einzufügen« (ebd., 213). – Nach dem Bericht des Eusebius, des Bischofs von Caesarea, schließlich, der als Verteidigungsbrief an seine Gemeinde erhalten blieb, hat Eusebius selbst mit seinem Vorschlag in die Debatte eingegriffen, indem er der Versammlung dasjenige Bekenntnis vorlegte, nach dem er selbst getauft und unterwiesen worden sei, und das er als Priester und Bischof gelehrt habe. Dieses Bekenntnis sei von den Bischöfen als durchaus orthodox anerkannt worden. Eusebius fährt nun fort: Nach der Einigung der Versammlung auf diese Glaubenserklärung bezeugte »unser gottgeliebtester Kaiser …, bevor irgend jemand sonst das Wort nahm, dass er [der erklärte Glaube] vollkommen orthodox sei. Er bekannte überdies, dass ihm sein eigenes Empfinden entspräche, und befahl allen Anwesenden an, ihm zuzustimmen …, nur, dass ein einziges Wort, nämlich wesenseins (omoousio@), eingefügt werden müsse.« Nachdem der Kaiser erklärt hatte, wie dieses Wort nicht zu interpretieren sei: »der Sohn sei wesenseins nicht im Sinne körperlichen Erleidens (kata twn swmatwn pajh) und sei aus dem Vater ins Dasein getreten weder zufolge einer Teilung noch einer Trennung«, habe er erklärt: »vielmehr sei es an uns, von solchen Dingen uns einen Begriff zu machen in einer göttlichen und unaussprechlichen Weise.« Die der kaiserlichen Erklärung anschließende Diskussion ging nun dem Sinn dieser Wendungen auf den Grund. Und die Anwesenden »bekannten, dass die Wendung ›aus dem Wesen [des Vaters]‹ anzeige, dass der Sohn sein Sein [tatsächlich] vom Vater habe, ohne ein Teil vom Vater zu sein. Unter der Voraussetzung eines solchen Verständnisses aber hielten wir es für richtig, unsere Zustimmung zu erklären …« (Ritter 1977, 137). – Über das Ende der Synode, die noch andere Punkte behandelt hatte, berichtet Eusebios in seiner »Vita Constantini«, dass der Kaiser ein »glanzvolles Festbankett« gegeben habe (Jedin 1972, 28). Er ließ jedem der Bischöfe zum Abschluss Geschenke überreichen, die sie erfreut entgegennahmen, und ermahnte sie abschließend noch einmal eindringlich, »den Frieden untereinander zu wahren und eifersüchtige Streitereien zu meiden« (ebd., 29). Nach der Synode richtete er an Kirchen im römischen Reich einen ausführlichen Brief, in dem er seine friedensbringende Rolle hervorhob und erklärte: »Was die dreihundert Bischöfe beschlossen haben, ist nichts anderes als Spruch Gottes, da ja der in diesen Männern gegenwärtige Heilige Geist den Willen Gottes sichtbar machte.« (ebd., 30) Betrachtet man diesen Verlauf der ersten Reichssynode, so stellt sie uns keine frei beschließende Versammlung von Kirchenvätern vor, wie Konstantins Erklärung Glauben A
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Formel nicht braucht und nicht kennt, noch die Gesetze des (logischen) Denkens, denen sie widerspricht, sondern die politische Einigungsmacht des römischen Kaisers. Sie erlangte Verbindlichkeit nicht durch die ›Kraft des Glaubens‹ oder durch ›die Macht der Vernunft‹, sondern durch die ›Gewalt des Staates‹. Mit ihrer Annahme durch die Reichssynode als verbindliches Glaubenssymbol wurden beide, der christliche Glaube und die griechische Vernunft, in eine ›Ehe‹ gezwungen, die von der römischen Staatsmacht bewirkt wurde. macht. Folgen wir Eusebius’ Bericht, so hätte sie sich eventuell auf ein Glaubensbekenntnis einigen können, das die Homousieformel nicht enthielt; Athanasius jedoch bezweifelt dies. Die tatsächliche Beschlussfassung der Synode demonstriert vielmehr das umsichtige und alle überragende Geschick des römischen Kaisers, der die Synode zum ausführenden Organ seines Willens zu machen verstand. Kraft seines Imperiums, seiner diplomatischen Kunst und seines persönlichen Charmes vermochte er die Bischöfe dazu zu bewegen, dass sie, wie Eusebius sagte, »über alle Punkte eines Sinnes und einer Meinung waren« (ebd., 28). Denn abgesehen von zwei Bischöfen der arianischen Partei, die das Bekenntnis nicht unterschrieben, stimmten zwar alle anwesenden Bischöfe der Aufnahme der Homousieformel ins Glaubensbekenntnis zu, viele jedoch nicht aus Überzeugung, sondern um des Friedens willen – mancher, wie Eusebius selbst, vielleicht aus Furcht vor der Verbannung (siehe: ebd.). Nur der Druck des Kaisers macht die Zustimmung erklärbar, weil schon bald nach der synodalen Einigung der Streit der Parteien heftiger denn je entbrannte. In Hinblick auf diese Beschlussfassung erscheinen sowohl die Frage als zweitrangig, woher die vom Kaiser eingebrachte Homousieormel kam – vermutlich von Ossius von Cordoba, dem damaligen Berater Konstantins in Kirchenfragen (Kelly 1972, 248) –, als auch die spätere Debatte, ob diese theologisch umstrittene Formel doch geeignet gewesen wäre, den Sinn und die Meinungen der Bischöfe zu einigen. Der rekonstruierbare Verlauf der Synode zeigt, dass nicht diese Formel selbst die Einigung herstellte, sondern dass sie durch den Willen des Kaisers bewirkt wurde. Dieser Wille aber war, wie Konstantin genügend oft bekannte, nicht auf die Klärung der Frage nach der ›Rechtmäßigkeit‹ des Glaubensbekenntnisses gerichtet – sie erschien ihm als »belanglos«, »banal« und »geringfügig« (Ritter 1972, 133 f.) –, sondern auf die kirchenpolitische Einheit; und die Homousieformel erschien ihm dafür als das geeignete Mittel. Diese Funktion konnte sie jedoch nur aufgrund ihrer Unbestimmtheit, ihrer »überaus großen Vieldeutigkeit« (Kelly 1972, 247), erfüllen, deretwegen der Kaiser in seiner Rede auch forderte, sie »in einer göttlichen und unaussprechlichen Weise« zu gebrauchen, so dass sie keiner der theologischen Parteien als »Erkennungszeichen« dienen konnte (ebd.). Daher lässt sich die Tatsache, dass die Synode beschloss, die Formel als rechtmäßig ins Glaubensbekenntnis aufzunehmen, nur so verstehen, dass die bekundete Übereinstimmung des Willens der Bischöfe – entgegen der Erklärung des Kaisers – nicht durch den Heiligen Geist, sondern durch das Imperium des römischen Kaisers bewirkt wurde. – Es bedurfte erst einer neuen, nachnikaianischen Generation von christlichen Theologen, Basilius von Caesarea, Gregor von Nyssa, Gregor von Nazianz und Augustin von Hippo, für die die Homousie-Formel kein kaiserliches Diktat mehr war, sondern die fehllose Glaubenslehre der Väter.
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Der Beschluss von Nikaia stellt so das Paradox dar, dass die Verbindung von christlichem Glauben und griechischem Denken nicht durch sie selbst, sondern durch die potestas bzw. auctoritas des römischen Imperators geschaffen wurde. Der theologische ›Rang‹ des Heiligen Geistes ist im Jahre 381 dann auf der Synode von Konstantinopel festgelegt und beschlossen worden. Nach ihrem Beschluss ist der Heilige Geist »der Herr und Lebensspender« (to kurion kai zwopoion), der weder gezeugt noch geschaffen ist, sondern der aus dem Vater hervorgeht (ek tou patro@ ekporeuomenon) und mit Vater und Sohn zusammen angebetet und gepriesen wird (sun patri kai uiw sumproskunoumenon kai sundoxazomenon). Zwar wird der Heilige Geist nach diesem Bekenntnis wie der Vater und der Sohn verehrt; aber die Synode verwendete für ihn nicht die Formel der Homousie und ließ offen, wie das »Hervorgehen aus dem Vater« und das »Zusammen« der Anbetung zu verstehen seien 42 . Mit der Erhebung dieses Glaubenssymbols zum Gesetz des römischen Staates wurde es schließlich auch staatlich sanktioniert. 43 Es sollte in der Folgezeit zum bestimmenden Code für das europäische Denken im Westen wie im Osten werden, der für das lateinische
Kelly 1972, 337 f.: »Nach den uns vorliegenden Berichten stellte sich das Konzil von Konstantinopel auf den Standpunkt der völligen Wesenseinheit des Heiligen Geistes mit der Gottheit … Dennoch vermeidet diese Klausel sorgfältig den Begriff homoousios und begnügt sich, abgesehen von der Erwähnung der dem Geist geschuldeten Verehrung und Verherrlichung, mit biblischen Wendungen …« Kelly erklärt diese »maßvolle Pneumatologie« mit dem »ernstlichen Versöhnungsversuch« des Kaisers Theodosius gegenüber den Makedonianern (ebd., 338). 43 Durch das Reichsgesetz »cunctos populos« des Kaisers Theodosius erlangte das »nikaia-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis« im Jahre 380, sechs Jahre vor der Bekehrung Augustins, juristische Verbindlichkeit: »Alle Völker, über die wir ein mildes, gnädiges Regiment führen, sollen, das ist unser Wille, die Religion annehmen, die der göttliche Apostel Petrus den Römern gepredigt hat, und der, wie wir sehen, auch Bischof Damasius sich anschließt, sowie Petrus, der Bischof von Alexandrien, ein Mann von apostolischer Heiligkeit; wir meinen damit, dass wir nach der apostolischen Predigt und der evangelischen Lehre eine Gottheit des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes in gleicher Majestät und gütiger Dreieinigkeit im Glauben annehmen. Wer dieses Gesetz befolgt, der soll den Namen eines katholischen Christen führen, die anderen aber, die wir für kopflos und verkehrt erklären, sollen die Schmach ketzerischer Lehre tragen; ihre Versammlungshäuser dürfen nicht Kirchen genannt werden, sie selbst unterliegen der göttlichen Strafe, dann aber auch der, die wir nach dem Willen Gottes zu verhängen uns entschließen.« (zit. nach: Jakobs 1987, 48). 42
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Christentum bald darauf von Augustin in maßgebender Weise ausgelegt wurde.
II. Die Übertragung der »auctoritas« in das Christentum Die Trinitätsdebatte hatte die Frage zum Inhalt, wie die Trias des christlichen Glaubens nach Art der griechischen Philosophie gedacht, d. h. durch welche Kategorien sie angemessen erfasst werden kann. Mit der Übernahme des römischen und nicht-biblischen Begriffs der auctoritas 44 hingegen gliederte die Kirche sich in die römische Tradition ein. Da es unbestritten ist, dass dieser Begriff bei der Institutionalisierung der römisch-katholischen Kirche eine zentrale Rolle eingenommen hat und zum festen Bestandteil ihrer Sprache wurde 45, können wir auf die Literatur verweisen, die den kirchenrechtlichen Aspekten nachgeht 46 . Im Folgenden werden wir daher nur den epistemologisch relevanten Aspekten dieser Übertragung, der Formierung des christlichen Glaubens durch den Autoritätsbegriff, nachgehen. »Auctoritas«, haben wir im vorhergehenden Teil gesagt, bezeichnete im römischen Denken das Vermögen, Verbindlichkeit zwanglos zu bewirken. Diese Eigenschaft kam im höchsten Maße den maiores zu, die darin von den Römern als die Urheber der »heiligen Sache«, der res romana, anerkannt wurden, und wurde in der Gegenwart von den patres repräsentiert, die aufgrund ihrer familiären Herkunft und/oder virtus das Gründungswerk der maiores vergegenwärtigten. Betrachtet man die Übernahme der römischen auctoritas ins Christliche zunächst nur hinsichtlich ihrer Struktur, so erscheint diese Übertragung zunächst als problemlos. Es bedarf dazu nur der Substitution der ›res romana‹ durch die ›res christiana‹. Dieser Substitution gemäß kommt die summa auctoritas nicht mehr – wie für die »Weder im Hebräischen noch in der Septuaginta steht ein der auctoritas entsprechendes Wort.« (Lütcke 1968, 52) 45 »Anders … als die Griechen, die kein entsprechendes Wort für auctoritas besassen, wenden bereits die lateinischen Vorgänger des Augustinus diesen typisch römischen Ausdruck auf Gott, die Kirche und die Bibel an.« (Studer 1998, 236) 46 Siehe: Gmelin 1937; Campenhausen 1953; Miethke 1980, 20 ff.; auch: Fueyo 1968, 214–235; Rabe 1972, 11 ff. 44
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Die Übertragung der »auctoritas« in das Christentum
Römer – den maiores als den Gründern Roms, sondern – nun für die Christen – den Gründern der Kirche, Jesus und den Aposteln, zu. Nach diesem Übertragungsmodell wären diese also die ›christlichen maiores‹, denen zum einen als historischen Subjekten die Errichtung und die Einrichtungen der Kirche, der civitas christiana, als Werk zugeschrieben werden, und die zum anderen durch die Gründung dieser civitas zugleich als die Urheber der »heiligen Sache«, der res christiana, gelten. Ihnen käme die summa auctoritas zu und besäßen die epistemisch verbindliche Autorität; und – analog der römischen »auctoritas patrum« – hätten in dieser civitas diejenigen aktuell die auctoritas, die durch ihre Herkunft und/oder Taten das Werk der Gründer unverfälscht repräsentieren. – Da wir davon ausgehen, dass das römisch-lateinische Christentum diese Übertragung tatsächlich vollzogen hat, und die civitas christiana nach diesem Begriff in wesentlichen Elementen strukturiert wurde, soll im Folgenden untersucht werden, ob und inwiefern dadurch auch der Inhalt, der christliche Glaube, geformt und geprägt worden ist.
A. Auctoritas apostolorum 1. »Durch den juristisch gebildeten Kirchenvater Tertullian wurde der Autoritätsbegriff in die Kirchensprache eingeführt.« 47 Dieser römische und nicht-biblische Begriff diente Tertullian, um in der Auseinandersetzung mit den »häretischen Kirchen« die Rechtmäßigkeit derjenigen Christus-Lehre zu begründen, die in der regula fidei festgelegt worden war. Hierzu modellierte er diese Rechtmäßigkeit nach der zivilrechtlichen Bedeutung der römischen auctoritas: so wie nach altrömischem Recht der rechtmäßige Erwerb eines Gutes der Zustimmung des auctors bedurfte, der auctoritas mancipationis, so bedurfte nach Tertullian auch der Besitz der christlichen Glaubenslehre der Auctorschaft 48 . Als die auctores nennt er die Apostel, die die K. Röttgers, Autorität. In: Ritter 1971 ff., Bd. 1, 729. Siehe auch: Gmelin 1937, 81–91; Eschenburg 1965, 32 ff.; Lütcke 1968, 51 ff. 48 Tertullian, de praescriptione haereticorum, 37, 3–5: »Wer seid ihr? Wann und woher kamt ihr? Was habt ihr im Meinigen zu schaffen, da ihr die Meinigen nicht seid? In der Tat, Marcion, mit welchem Recht schlägst du in meinem Wald? Mit welcher Erlaubnis, Valentinus, leitest du meine Quellen um? Mit welcher Ermächtigung, Apelles, versetzt du meine Grenzsteine? Was sät und weidet ihr, die übrigen, nach eurem Gutdünken? Das ist mein Besitz. Ich besitze längst, ich besitze früher; ich habe das Eigentumsrecht 47
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Glaubenslehre von Jesus Christus selbst erhalten 49 , bewahrt und unverfälscht den von ihnen gegründeten christlichen Gemeinden (ecclesiae) weitergegeben haben. 50 Für Tertullian folgt daraus, dass allein diejenigen Gemeinden im Besitz der rechtmäßigen Lehre (doctrina) sind, die ihre Existenz nicht auf eigenes Gutdünken (ex suo arbitrio), sondern auf ihre Gründung durch die Apostel Christi zurückführen können. Alle anderen Gemeinschaften, denen diese apostolische Auctorschaft fehlt, sind demnach keine Kirchen. Nun muss diese Übertragung des Begriffs aus dem römischen Handelsrecht auf Fragen des christlichen Glaubens auf den ersten Blick als reichlich derb erscheinen. Es scheint, als habe Tertullian ein geistiges Gut, die christliche Lehre, mit materiellen Gütern, Tieren oder Äckern, gleichgesetzt und die apostolische Sukzession dem Kuhhandel nachmodelliert. Doch diese Sichtweise verfehlt den Sinn der Übertragung. Denn nach der Erklärung, die wir von der auctoritas mancipationis gegeben haben, war die Auctorschaft nicht erforderlich, weil etwa der Eigentümer dem Verkauf einer veräußerbaren Sache zustimmen musste, sondern weil durch die Zustimmung des auctors das private Geschäft zum Bestandteil der öffentlichen und gemeinsamen Sache wurde. Der auctor garantierte mit seiner Zustimmung, dass dieses Geschäft mit der res publica übereinstimmt. Seine auctoritas war daher nicht auf die Veräußerung einer veräußerbaren Sache gerichtet, sondern auf die Bewahrung und Erhaltung der (dem Römer) unveräußerlichen Sache. So verstanden, hat Tertullian jedoch den römischen Autoritätsbegriff nur auf eine andere unvervon eben den Gründern, deren die Sache ist (habeo origines firmas ab ipsis auctoribus quorum fuit res). Ich bin Erbe der Apostel.« (Zit. nach: Ritter 1977, 62 ff.) 49 ebd. 6, 3: »Wir haben die Apostel des Herrn als Auctoren (Apostolos Domini habemus auctores), die nichts nach eigenem Gutdünken wählten, was sie einführten, sondern die die von Christus erhaltene Lehre (acceptam a Christo disciplinam) getreulich den Völkern überbrachten.« – Vgl. auch: Tertullian, adversus Marcionem IV, 2, 1 ff. 50 ebd. 20, 4 ff.: »Die Apostel sind ausgezogen in alle Welt und haben ein und dieselbe Glaubenslehre [wie zuvor den Juden] den Heidenvölkern verkündet. Und so gründeten sie in einer jeden Stadt Gemeinden, von denen sich in der Folge die übrigen einen Ableger (tradux) des Glaubens und Samenkörner der Lehre entlehnten und noch täglich entlehnen, um die Gemeinden (ecclesiae) zu werden. Auf diese Weise dürfen sie selbst als apostolisch gelten, Abkömmlinge (suboles) [jener] apostolischen Kirchen … Ihre Einheit [aber] erweist sich in der wechselseitigen Gewährung der Kirchengemeinschaft (communicatio pacis), im Brudernamen (appellatio fraternitatis) und im Freundschaftszeichen der Gastlichkeit (contesseratio hospitalitatis), drei Vorrechten (iura), welche keinen anderen Grund und kein anderes Richtmaß haben als die eine Überlieferung ein und derselben Glaubensregel (eiusdem sacramenti una traditio).«
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Die Übertragung der »auctoritas« in das Christentum
äußerliche Sache angewandt: die res christiana. Durch die Einführung des Begriffs der auctoritas apostolorum ins kirchliche Recht sollte verhindert werden, dass durch den unautorisierten Gebrauch der christlichen Lehre, durch ihre Auslegung nach eigenem Gutdünken (ex suo arbitrio), die Authentizität des Glaubensgutes beschädigt, entstellt und dadurch verloren geht. Durch die Rückbindung des Gebrauchs dieses Gutes an die auctores sollte der Glaube als die (den Christen) unveräußerliche Sache authentisch und dauerhaft bewahrt werden. Mit dieser Übertragung des Autoritätsbegriffs zeigt schon die erste Artikulation einer spezifisch »lateinischen Patristik« durch Tertullian das eigentümlich römische Interesse an der zeitübergreifenden und dauerhaften Institutionalisierung der gemeinsamen Sache, das sich sowohl vom Enthusiasmus charismatischer Bewegungen als auch von den theologischen Problemstellungen der griechischen Theologie unterschieden hat. 51 So wie es im römischen Denken ausgeschlossen war, dass der Einzelne sich als Urheber der gemeinsamen Sache versteht, oder dass deren Wahrheit durch das Denken zu begründen wäre, so schloss der lateinische Jurist Tertullian als Rechtsgrund der christlichen Glaubensauslegung sowohl die innere Glaubensgewissheit als auch das Gedachtsein, die Vernünftigkeit des Geglaubten, aus; diese Instanzen galten ihm vielmehr als stete Quellen der Häresie. Nach ihm bildete allein die auctoritas apostolorum den rechtsetzenden Maßstab, so dass nur die Auslegung des Glaubens rechtmäßig war, die die Apostel als auctores hatte. Dies, so Tertullian, sei die Weise, in der die christlichen Kirchen ihren Besitzanspruch auf die authentische Lehre belegen 52 . A limine, d. h. ohne Diskussion der Lehren, könne daher über die Rechtmäßigkeit entschieden werden: hat die Gemeinde einen der apostolischen Männer zum Gründer, oder nicht? Hat sie keinen, ist sie keine Kirche 53. Mit dieser Einführung des unbiblischen Autoritätsbegriffs hat Tertullian also nicht Unvergleichbares gleichgesetzt, sondern vielmehr die Bestand, Dauer und Einheit garantierende Funktion der römischen auctoritas auf die civitas christiana übertragen. 2. Sehen wir auf die Form, die der christliche Glaube durch diese »Die Funktion der apostolischen auctoritas ist vor allem die Sicherung der unverfälschten Tradition der Glaubenslehre.« (Ring 1975, 64 f.) 52 Tertullian, de praescriptione haereticorum 32, 1–2. 53 ebd. 37, 1. 51
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Begründung erhält, so nimmt er dadurch die Gestalt einer Sache (res) an, die als solche erworben, besessen, bewahrt und übertragen wird. Das Wissen, dass und wie Jesus der Christus ist, gewinnt eine gleichsam objektive Existenz. Es entspringt keiner äußeren oder inneren Erfahrung und ist auch nicht durch die Bindung an die Vernunft begründet, sondern existiert für sich, unabhängig von inneren Überzeugungen oder rationalen Überlegungen. So wie im Römischen die res romana die gemeinsame und unveräußerliche Sache war, als deren Urheber die maiores anerkannt wurden, so gewinnt der christliche Glaube unter dem Autoritätsbegriff die Gestalt eines gemeinsamen und unveräußerlichen Glaubensguts (depositum fidei), als dessen Gründer Christus und die Apostel, die christlichen maiores, anerkannt werden. Der Begriff der auctoritas apostolorum drückt so aus, dass der Christ sich zu derjenigen gemeinsamen und heiligen Sache bekennt, die in Christus ihren Stifter und in den Aposteln ihre Gründer hat, und auf deren Bewahrung und Unversehrtheit das Denken und Handeln der civitas christiana gerichtet ist. Als apostolische Kirche gliederte sich das Christentum auf diese Weise institutionell in die römische Tradition ein 54 . Auch wenn mit dieser Übertragung der römischen auctoritas der christliche Glaube in ein Gut verwandelt wurde, so ist dadurch freilich die Sache der Christen nicht zur Sache der Römer geworden. Was den Inhalt betrifft, mag hier der einfache Hinweis genügen, dass die Sache nicht ›Rom‹, sondern ›das Evangelium‹ war. Und diese Sache existierte nicht in der örtlich gebundenen Stadttextur und in tradierten Handlungsmustern und Institutionen, sondern in der Gestalt der Schrift, in der sie eine allgemeine, übertragbare und reproduzierbare und dennoch dauerhafte Existenz erhielt. Als »Heilige Schrift« (scriptura sancta) codierte der Text das, was den Christen, unverfügbar, Wissen ist 55 ; und seine Aktualisierung vollzog sich durch und im Diese Umwandlung des christlichen Glaubens in ein Gut war ein wesentlicher Grund, dass die westlich-lateinischen Kirchen sich gegenüber charismatischen Bewegungen wie gelehrten Trinitätsdiskussionen als recht resistent erwiesen. Statt einer Bekenntnisoder theologischen Literatur entstand in den lateinischen Kirchen vor allem die aus der römischen Rhetoriktradition übernommene sog. Exempla-Literatur, die anhand biblischer Gestalten oder christlicher Märtyrer das christlich-tugendhafte Leben beispielhaft vorstellte. Ambrosius wird dann einerseits den ›heidnischen‹ maiores die christlichen Vorbilder, andererseits den bloßen verba philosophorum die ›res gestae‹ der christlichen Glaubensväter gegenüberstellen. – Zur Übernahme und Umformung der altrömischen Exempla siehe: Geerlings 1978, 158–168; Consolino 1990, 351–369. 55 Es ist allerdings unklar, welche Schriften Tertullian mit den »scriptura sancta« (etwa 54
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Die Übertragung der »auctoritas« in das Christentum
gemeinsamen Leben der civitas christiana, die darin Christus als den Urheber dieses Wissens anerkannte.
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Auctoritas episcopalis
Der weitere – und im Sinne der römischen auctoritas folgerichtige – Schritt war es, auch die aktuelle Repräsentation der apostolischen Autorität kirchenrechtlich zu institutionalisieren. Da die Authentizität der Lehre, zumindest dauerhaft, nicht nur auf der Auctorschaft der Apostel beruhen konnte, musste sie auch durch lebende Personen vergegenwärtigt werden. Diesen Schritt hat Cyprian, der Bischof von Karthago, vollzogen, der den Bischöfen über die Funktion der Bewahrung des gemeinsamen Glaubensgutes auch die Repräsentation der apostolischen Vollmacht zuschrieb. Dabei wurde allerdings der Gehalt des Autoritätsbegriffs vieldeutig und vage. Denn die auctoritas episcopalis bedeutete für Cyprian nicht die fraglose Anerkennung des Bischofs durch die kirchliche Gemeinde, sondern das von der Person unabhängige und an die cathedra gebundene Amt, dem er sowohl die durch den Heiligen Geist bewirkte Vollmacht der Leitungs- und Lehrbefugnis als auch das uneingeschränkte Recht der priesterlichen Löse- und Bindegewalt zuschrieb. Er übertrug so nicht das altrömische Verständnis der auctoritas ins Christliche, sondern den spätrömischen Begriff des Imperiums, in dem die spezifische Bedeutung der auctoritas patrum mit dem staatsrechtlichen Begriff der potestas magistratum und dem kultischen Begriff der divinitas imperatoris 56 eine neuartige Verbindung eingegangen war 57. Hatte Tertullian die auctoApologeticum XXXIX, 18; de ieiunio adversus psychicos VI, 2) meinte. K.-H. Lütcke ist der Auffassung, er habe die »divina auctoritas der Bibel … streng auf die kanonischen Schriften begrenzt« (Lütcke 1968, 55); C. Schneider hingegen, es habe zu dieser Zeit keinen Kanon gegeben: »Überall sind Gegensätze und Widersprüche … Die einen sagen: Gültig ist, ›was in allen Kirchen gelesen wird‹. die anderen: ›was von den Aposteln stammt‹, die dritten unterscheiden sympathischen und unsympathischen Lehrgehalt.« (Schneider 1954, 329 f.). Siehe auch: Zahn 1901, 15 f. – Folgt man dieser Auffassung, dann bestand der Text, der das christliche Glaubensgut codierte, zunächst aus der regula fidei. »Die regula fidei als die Quintessenz des ius divinum ist fraglos anzuerkennen, da sie sich von der göttlichen auctoritas herleitet. Sie heißt principalis auctoritas« (Lütcke 1968, 55). 56 Vgl.: Clauss 1999. 57 Gmelin 1937, 94: »Die Sprache Cyprians verrät deutlich den kirchlichen Praktiker, der in einer politischen Tradition groß wurde. Potestas, honor, dignitas, maiestas, fas, ius, A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
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Der dreieinige Gott
ritas noch im Sinne des römischen Zivilrechts gebraucht, entnahm Cyprian sie dem römischen Staatsrecht. Im Ausdruck »auctoritas episcopalis« verschmolzen daher die verschiedenen Vorstellungen der frei anerkannten Urheberschaft, der rechtlich höchsten Befugnis und der geistlichen Vollmacht zu einem ununterscheidbaren Knäuel; und der Ausdruck »auctoritas et potestas sacerdotalis« wurde bei Cyprian zu einer »fast stereotypen Formel« (Ring 1975, 97). Bis zu seiner Neubestimmung durch Augustin verlor der Autoritätsbegriff mit der Eingliederung der Kirche in das Imperium Romanum seinen eigentümlichen Bedeutungsgehalt; potestas und auctoritas wurden »im Grunde austauschbare Begriffe« (Mietke 1980, 23).
C. Auctoritas patris Über diesen kirchenrechtlichen Gebrauch hinaus ist der Begriff der auctoritas von Tertullian auch schon theologisch verwendet worden. Neben der Verwendung des Ausdrucks »auctoritas divina«, mit dem er das Wirken der Allmacht Gottes beschreibt 58 , diente er ihm auch, um das innergöttliche Verhältnis zu bezeichnen. In der Auseinandersetzung mit Praxeas, der an der Idee der Monarchie Gottes festgehalten hatte, und dem Vater und Sohn folglich nur Modi des Einen waren 59 , gebrauchte Tertullian den Autoritätsbegriff, um das rechtmäßige Bekenntnis zum Vater und dem Sohn zu verteidigen, ohne darum die Monarchie Gottes preiszugeben. Beide, so Tertullian, seien weder identisch noch verschieden, sondern so, dass das, was der Sohn tut und leidet, aus der Autorität des Vaters (ex auctoritate patris) geschieht, und das Handeln des Sohnes zugleich der Wille des Vaters ist: »Es war nämlich«, schreibt er gegen Praxeas (15, 9), »immer der Sohn, den man sah und mit dem man verkehrte, der aber das, was er tat, aus der Autorität und dem Willen des Vaters tat, weil der Sohn nichts von sich selber tun kann, sondern nur was er den Vater tun sieht.« In dieser Auseinandersetzung hat es Tertullian erstmals unternommen, das innertrinitarische Vater-Sohn-Verhältnis nicht grauitas – derartige Epitheta aus dem Staatsleben werden nun in der Kirche zu lebendigen Begriffen des bischöflichen Amts.« Campenhausen 1953, 330: »Cyprian formuliert das Prinzip der einseitigen Autorität der Bischöfe zu