Autonomie und Autokratie: Über Kants Metaphysik der Sitten 9783110876086, 311014302X, 9783110143027

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Autonomie und Autokratie: Über Kants Metaphysik der Sitten
 9783110876086, 311014302X, 9783110143027

Table of contents :
Einleitung
I. Kapitel: Vernunft und Vernunfterkenntnis
1. „Vernunfterkenntnis aus Begriffen"
2. Die Gewinnung der Idee
A. Der Vernunftbegriff
B. Die metaphysische Vollkommenheit
C. Maximum der Realität
a) Die quantitative Bestimmung der Qualität
b) Die Bestimmung eines Maximums der Realität und ihre Voraussetzungen
c) Bedingungen der Realopposition
3. Die Anwendung der Idee
II. Kapitel: Die Idee des autonomen Willens
1. Abriß der Fragestellung
2. Der Begriff des Willens
A. Verschiedene Bestimmungen des Willensbegriffs
B. Der Begriff der praktischen Regel
a) Der Begriff der Regel
b) Die Bestandstücke der praktischen Regel
aa) Die Handlung
bb) Die freie Willkür und die Gelegenheit
cc) Der Bestimmungsgrund
C. Die Arten praktischer Regeln
a) Maximen
b) Vorschrift und Gesetz
3. Die Idee des reinen Willens
A. Folgerungen für den Willensbegriff
B. Das Prinzip der Autonomie
a) Die Idee eines Maximums an Wille
b) Die Formeln des Sittengesetzes
aa) Die logischen Kriterien der Wahrheit
bb) Die einzelnen Formeln
1) Die Gesetzes-Formel
2) Die Zweck-Formel
3) Die Autonomie-Formel
cc) Die Idee des autonomen Willens
c) Selbstbestimmung und Autonomie
III. Kapitel: Die Autokratie der praktischen Vernunft
1. Die Theorie der Abweichung
A. Der reine, der heilige und der menschliche Wille
B. Irrtum und Laster
C. Der irrende und der schwache Wille
2. Subjektive und objektive Bestimmungsgründe
A. Die zwei Arten praktischer Prinzipien
B. Beweggrund und Triebfeder
3. Das Prinzip der Selbstliebe
A. Bedeutung und Stellung des Prinzips
a) Der Titel aller subjektiven Bestimmungsgründe
b) Die Bedingung von praktischer Realopposition
B. Das Ideal der Glückseligkeit
a) Die Bedeutung des Ideals
b) Die verschiedenen Ideale der Glückseligkeit
c) Die Kritik am Ideal der Glückseligkeit
C. Die Autokratie der empirisch-bedingten praktischen Vernunft
4. Die Achtung fürs Gesetz
A. Stellung und Bedeutung der Achtung
B. Die unendliche Stärke des Guten
a) Das praktische Wohlgefallen und Mißfallen
b) Die Schätzung des praktischen Werts
aa) Der Begriff des Werts
bb) Das Erhabene
cc) Das ästhetisch-größte praktische Grundmaß
c) Die Demut und der Eigendünkel
C. Die Autokratie der reinen praktischen Vernunft
Literatur
Sachregister
Personenregister

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Peter König Autonomie und Autokratie

W DE G

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Günther Patzig, Wolfgang Wieland

Band 36

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994

Autonomie und Autokratie Über Kants Metaphysik der Sitten von

Peter König

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

König, Peter: Autonomie und Autokratie : über Kants Metaphysik der Sitten / von Peter König. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 36) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-11-014302-X N R: GT

© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschlieiSlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Wenn wir alle Begriffe ins Unendliche vergrößern, so bringen wir einen Originalbegriffheraus Immanuel Kant

Vorwort Das vorliegende Buch ist die überarbeitete, im ersten Kapitel gekürzte Fassung einer Dissertation, die 1991 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen wurde und 1992 den Ruprecht-Karls-Preis der Universität erhielt. Die Arbeit wurde in der Zeit zwischen 1988 und 1990 durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes und der Universität Heidelberg gefördert, das mir u.a. 1989 einen Studienaufenthalt bei der Scuola Normale Superiore in Pisa erlaubt hat. Allen diesen Institutionen sowie den Gutachtern, der Preiskommission und der Stiftung der Universität Heidelberg, die den Preis verliehen hat, bin ich zu Dank verpflichtet. Dem Heidelberger Philosophischen Seminar, an dem die Arbeit im wesentlichen entstand, und den Freunden und Kollegen, die sie gelesen und mir mit Kritik und Rat zur Seite gestanden haben, verdanke ich viel. Ganz besonders erwähnen möchte ich Professor Bertram Kienzle, der das Zweitgutachten schrieb und dem die Endfassung des Buches nicht wenig schuldet. Mein herzlichster Dank aber geht an Professor Hans Friedrich Fulda, nicht nur für die Geduld und Urteilsfähigkeit, mit der er die Arbeit betreut und über alle Klippen hinweg sicher gesteuert hat, sondern auch für unzählige Anregungen, die ich in den ganzen Jahren meines Studiums in vielen Gesprächen von ihm erhalten habe. Schließlich möchte ich mich bei den Herausgebern der „Quellen und Studien zur Philosophie" für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe bedanken. Sabine Köberle war mir eine große Hilfe bei der Fertigstellung der Druckfassung - ihr ein freundschaftlicher Dank! Heidelberg, im Februar 1994

Peter König

Inhalt

Einleitung

l

I. Kapitel: Vernunft und Vernunfterkenntnis

7

1. „Vernunfterkenntnis aus Begriffen" 2. Die Gewinnung der Idee A. Der Vernunftbegriff

7 13 13

B. Die metaphysische Vollkommenheit C. Maximum der Realität a) Die quantitative Bestimmung der Qualität b) Die Bestimmung eines Maximums der Realität und ihre Voraussetzungen c) Bedingungen der Realopposition 3. Die Anwendung der Idee

19 23 23 29 36 42

II. Kapitel: Die Idee des autonomen Willens

49

1. Abriß der Fragestellung 2. Der Begriff des Willens A. Verschiedene Bestimmungen des Willensbegriffs B. Der Begriff der praktischen Regel a) Der Begriff der Regel

49 52 52 55 56

b) Die Bestandstücke der praktischen Regel

62

aa) Die Handlung

62

bb) Die freie Willkür und die Gelegenheit

65

cc) Der Bestimmungsgrund C. Die Arten praktischer Regeln a) Maximen

b) Vorschrift und Gesetz 3. Die Idee des reinen Willens A. Folgerungen für den Willensbegriff.

70 74 77

87 92 92

X

Inhalt

. Das Prinzip der Autonomie a) Die Idee eines Maximums an Wille b) Die Formeln des Sittengesetzes aa) Die logischen Kriterien der Wahrheit bb) Die einzelnen Formeln

1) Die Gesetzes-Formel 2) Die Zweck-Formel 3) Die Autonomie-Formel cc) Die Idee des autonomen Willens c) Selbstbestimmung und Autonomie

94 94 97 98 105

106 116 120 123 125

III. Kapitel: Die Autokratie der praktischen Vernunft

128

1. Die Theorie der Abweichung

128

A. Der reine, der heilige und der menschliche Wille B. Irrtum und Laster C. Der irrende und der schwache Wille

128 136 148

2. Subjektive und objektive Bestimmungsgründe

151

A. Die zwei Arten praktischer Prinzipien B. Beweggrund und Triebfeder 3. Das Prinzip der Selbstliebe A. Bedeutung und Stellung des Prinzips

151 159 165 165

a) Der Titel aller subjektiven Bestimmungsgründe b) Die Bedingung von praktischer Realopposition B. Das Ideal der Glückseligkeit a) Die Bedeutung des Ideals b) Die verschiedenen Ideale der Glückseligkeit c) Die Kritik am Ideal der Glückseligkeit C. Die Autokratie der empirisch-bedingten praktischen Vernunft 4. Die Achtung fürs Gesetz A. Stellung und Bedeutung der Achtung B. Die unendliche Stärke des Guten a) Das praktische Wohlgefallen und Mißfallen

b) Die Schätzung des praktischen Werts aa) Der Begriff des Werts bb) Das Erhabene cc) Das ästhetisch-größte praktische Grundmaß c) Die Demut und der Eigendünkel C. Die Autokratie der reinen praktischen Vernunft

165 169 176 176 181 186 192 198 198 202 202

209 209 213 219 223 228

Inhalt

XI

Literatur

231

Sachregister

237

Personenregister

243

Einleitung Die Frage, ob Kant als Zerstörer oder Neubegründer der Metaphysik zu behandeln ist, hat die Kant-Rezeption seit ihren Anfängen stets kontrovers beschäftigt. Schon im 19. Jahrhundert wurde diese Frage sowohl in der einen wie in der anderen Weise beantwortet. Den Deutschen Idealisten galt Kant als der metaphysische Denker schlechthin, der mit seiner Kritik an der rationalistischen Metaphysik die Aussicht auf eine neue Metaphysik erst eröffnet hatte und auf dessen Leistungen in ihren Augen folglich aufzubauen war. Dem Neukantianismus hingegen galt Kant als Totengräber der alten Metaphysik, deren Sache damit auch ein für allemal erledigt schien. Anzuknüpfen war aus der Sicht des Neukantianismus lediglich an Kants Versuch einer philosophischen Begründung der Naturwissenschaften. Auch im 20. Jahrhundert lassen sich beide Strömungen in der Kant-Rezeption mühelos unterscheiden. In einer Gegenbewegung zum Neukantianismus wurde Kant von Forschern wie Max Wundt, Gerhard Krüger und Heinz Heimsoeth wiederum als Metaphysiker herausgestellt, auch wenn der Stellenwert seiner Leistung dabei unterschiedlich bewertet wurde. Für Max Wundt suchte Kant auch in seiner kritischen Philosophie nach einer neuen Begründung für die alte Metaphysik. Gerade das, „was ursprünglich nur die alte Metaphysik neu begründen sollte", nämlich die kritische Selbstbegrenzung der Vernunft im spekulativen Gebrauch auf der einen Seite, erweist sich aber schließlich selber „als eine neue Metaphysik".1 Auch für Gerhard Krüger besteht Kants Bedeutung darin, die Metaphysik auf eine neue Grundlage gestellt zu haben. Doch in der Einschätzung dieses Vorgangs ist er wesentlich anderer Auffassung als Wundt, steht doch Kant in seinen Augen „mit der Grundabsicht seiner Philosophie nicht am Anfang des *modernen' Denkens, sondern am Ende der alten theistischen Metaphysik. Die Kantische Kritik ist der letzte Versuch sie zu retten."2

1 2

Wundt (1924), 376. Krüger (1967), 227.

2

Einleitung

Während die metaphysische Kant-Interpretation in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vorherrschte, haben sich in den letzten Jahren die Gewichte in der Kant-Rezeption wiederum verlagert. Das Interesse, auf das Kant seitdem stößt, gilt weniger seiner Metaphysik, als vielmehr seinem transzendentalphilosophischen Ansatz und dessen Weiterentwicklung. Die eigentlich originäre Leistung Kants wird in der Entdeckung und Entwicklung der transzendentalen Methode gesehen. Interessant an dieser erneut an Fragen der Erkenntnisbegründung orientierten Kant-Rezeption ist, daß auch die als notorisch sperrig geltenden Alterswerke Kants in eine neue Perspektive gestellt werden und zunehmend den Mittelpunkt von Interpretationsbemühungen bilden. In der Vorrede zur Kritik der Urteilskraft hatte Kant zwar erklärt, daß er mit diesem Werk sein „ganzes kritisches Geschäft" beenden und „ungesäumt zum Doktrinalen schreiten" werde. Und er hatte noch einmal bekräftigt, daß „die Metaphysik der Natur und die der Sitten jenes Geschäft ausmachen werden".3 Tatsächlich aber kommt es in den letzten Jahren seines Lebens nochmals zu einer tiefgreifenden Durcharbeitung von Fragen ganz grundsätzlicher Art, was nach Ansicht nicht weniger Interpreten auf den fortwirkenden Impetus des Gedankens eines transzendentalen Begründungsansatzes zurückzuführen ist. So behauptet Burkhard Tuschling, um nur ein Beispiel zu nennen, daß Kant in seinem Nachlaßwerk „den Gegenstand der Dynamik als nicht empirisch behandelt und fortan als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung zu deduzieren versucht", woraus sich eine „Erweiterung des Systems der Transzendentalphilosophie um die metaphysischen Anfangsgründe der Dynamik und der Physik" ergibt, in deren Folge Kant „vor völlig neue Probleme" gestellt wird.4 Doch auch in bezug auf die praktische Philosophie rückt der transzendentale Ansatz in den Mittelpunkt des Interesses. Vor allem Otfried Hoffe gibt zu erwägen, ob nicht die von Kant ausdrücklich auf die theoretische Philosophie eingeschränkte Transzendentalphilosophie die Formulierung eines transzendentalphilosophischen Programms auch in bezug auf die Ethik zuläßt. „Die Bestimmung des transzendentalphilosophischen Programms als Suche nach Erkenntnissen von (1) Begriffen a priori als (2) Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung schließt die Anwendung des Programms auf den Bereich des Praktischen nicht von vornherein aus - sofern man den Begriff der Erfahrung nicht auf die Naturerfahrung bzw. Gegenstandserkenntnis beschränkt."5

3 4 3

Cf.KU,BX. Cf. Tuschling (1971), 182/183. Hoffe (1981), 199.

Einleitung

3

In Analogie zur theoretischen Transzendentalphilosophie wäre der „praktischen Transzendentalphilosophie bzw. transzendentalen Ethik" nach Hoffe „die Analyse der praktischen oder der sittlichen Erfahrung" aufgegeben.6 Hoffe geht allerdings nicht soweit zu unterstellen, daß Kant selbst der Auffassung war, seine Ethik enthalte bereits einen solchen transzendentalen Ansatz. Er möchte aber auch nicht ausschließen, daß der Sache nach bei Kant ein solcher Ansatz vorliegt. Nicht zuletzt das Interpretationsprogramm, das sich aus Höffes Überlegungen zur Möglichkeit einer praktischen Transzendentalphilosophie ergibt, hat Wolfgang Kersting umzusetzen versucht, von dem eine der wichtigsten Arbeiten der letzten Jahre zur späten Rechtsphilosophie Kants stammt. Kersting sieht gerade in Kants Begründung des Privatrechts eine Anwendung des transzendentalphilosophischen Programms. Ihm zufolge gelingt Kant „mit seiner transzendentalphilosophischen Eigentumsbegründung eine letzte philosophische Großtat".7 Nun beruht zweifellos der Reiz der transzendentalphilosophischen Methode darauf, daß bei ihr einerseits der Bezug zur Erfahrung gegeben ist, andererseits eine Rechtfertigung von sehr starken Erkenntnisansprüchen im Hinblick auf das in der Erfahrung Gegebene geleistet wird. Indem die Transzendentalphilosophie an dem orientiert ist, was in der Erfahrung gegeben wird, gerät sie nicht in Gefahr, dogmatisch zu werden. Zugleich erbringt sie eine Begründungsleistung, die über das hinausgeht, was in den empirischen Wissenschaften an Begründung möglich ist. Dieses Doppelgesicht mag die Attraktivität auch eines Ansatzes der Kant-Interpretation erklären, bei der Kant ausschließlich als Transzendentalphilosoph ernst genommen wird. Ohne die Berechtigung einer solchen Kant-Interpretation in Abrede stellen zu wollen, ist dennoch darauf zu insistieren, daß Kant auch in seinen späten Arbeiten zur theoretischen und praktischen Philosophie einen Beitrag zur Metaphysik liefern wollte. Gegenüber diesen Werken, die den Begriff der Metaphysik zum Teil schon im Titel tragen, hat man, wie es scheint, nur die Wahl zwischen mehreren Übeln. Entweder man behauptet, daß es im Vergleich zu früheren Schriften zu einer Verschiebung der Bedeutung von Metaphysik im Spätwerk kommt8 - was insbesondere bei dem Verhältnis der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Metaphysik der Sitten nicht schwerfällt, weil die Anwendung der metaphysischen Erkenntnis auf die menschliche Situation

6 7 8

Cf. Hoffe (l981), 200. Kersting (l984), X. Cf. dazu: Gregor (1950), Siep (1989).

4

Einleitung

den Rahmen der reinen Moralphilosophie zu sprengen scheint und Kant selbst widersprüchliche Formulierungen dieses Verhältnisses zur Last gelegt werden können. Oder man unterstellt, daß Kant in Teilen seiner Metaphysik die kritische Wende nicht konsequent vollzogen und verarbeitet hat.9 In keinem Fall aber wird die Kontinuität eines metaphysischen Denkens bei Kant zugestanden, das positiv zu beurteilen wäre und nach wie vor Aktualität besäße. Gegen diese Tendenzen möchte ich in der vorliegenden Arbeit Kant als Metaphysiker verteidigen. Allerdings wähle ich dafür einen besonderen Ansatz. Für Kant sind philosophische und metaphysische Erkenntnis insofern gleichbedeutend, als beide von ihm als „Vernunfterkenntnis aus Begriffen" erläutert werden. Metaphysische Erkenntnis besitzt nach Kants Auffassung einen spezifischen Vernunftgehalt. Doch ist bis heute nicht geklärt, worin dieser Vernunftgehalt besteht. In der vorliegenden Arbeit wird die These vertreten, daß Kants Metaphysik ein Verfahren der Begriffsbestimmung einschließt und daß sich der Vernunftgehalt metaphysischer Erkenntnis nur im Rahmen dieses Verfahrens entwickeln läßt. Die vernünftige Bestimmung der Begriffe, die für eine philosophische Theorie der Natur und des Sittlichen von tragender Bedeutung sind, steht für Kant in der Metaphysik an vorderster Stelle. Erst im Anschluß daran stellt sich die Frage nach der Begründung von erkenntnisund handlungsleitenden Normen. In dieser Hinsicht - als ein vernünftiges Verfahren der Bestimmung von theorietragenden Begriffen - scheint mir das Potential der Metaphysik bei Kant noch keineswegs ausgeschöpft und gerade ein Ansatzpunkt für die Beschäftigung mit Kants Philosophie zu liegen, die über Fragen des Inhalts Fragen der Methode nicht aus den Augen verliert. Genauer verfolge ich in meiner Arbeit jedoch ein dreifaches Ziel. Im ersten Teil möchte ich eine tragfähige Interpretation von Kants Begriff der metaphysischen Erkenntnis geben. Die Leitfrage, an der ich mich dabei orientiere, lautet, welchen auch methodisch kontrollier- und handhabbaren Gehalt Kants Konzept einer solchen Erkenntnis besitzt. Da eine wichtige Rolle in diesem Konzept Ideen spielen, wird zu klären versucht, was eine Idee als Begriff eines Unbedingten und absolut Vollständigen bedeutet, wodurch sich eine Idee von einem Begriff unterscheidet, wie sich eine Idee aus Begriffen gewinnen läßt und was zu ihrem Inhalt gehört. Bei der Beantwortung dieser Fragen wird auch am Rand auf den einen oder anderen entwicklungsgeschichtlichen Aspekt von Kants Denken einzugehen sein. 9

So spricht beispielsweise Forschner (1974) von dem „Dilemma einer Metaphysik des Willens" bei Kant, das sich nur durch „eine Revision seiner Metaphysik" auflösen ließe (119).

Einleitung

5

Im zweiten Teil versuche ich, das erarbeitete Konzept von metaphysischer Erkenntnis für eine Interpretation von Kants praktischer Philosophie fruchtbar zu machen. Wiederum steht im Vordergrund das Interesse an der Bildung und Bestimmung der die Theorie des Sittlichen tragenden Begriffe. Im einzelnen soll untersucht werden, welche Bedeutung der Begriff des Willens und welche Bedeutung demgegenüber die Idee des reinen Willens besitzt. Beide Begriffe sind aufeinander bezogen. Doch wie muß dieser Bezug genau interpretiert werden? Und wie läßt sich der Begriff des Willens von der Idee des reinen Willens abgrenzen? Schließlich soll auch das Verhältnis von Wille und Willkür sowie der Begriff der praktischen Regel neu gedeutet und ein Vorschlag für eine systematische Interpretation der drei Formeln des Sittengesetzes gemacht werden. Im dritten und letzten Teil der Arbeit soll auf das eigentliche Projekt einer Metaphysik der Sitten bei Kant eingegangen werden. Wenn die zentrale Frage der Metaphysik lautet, in welchem Verhältnis das gegebene Endliche zum Absoluten und Unendlichen steht, dann setzt eine solche Frage voraus, daß sich das gegebene Endliche als etwas Eingeschränktes auffassen läßt. Offensichtlich läßt das, was uns in der Erfahrung gegeben ist, eine zweifache Deutung zu. Wir können es zum einen schlicht als etwas aufnehmen, was uns so und nicht anders in der Erfahrung gegeben ist, und versuchen, den Gesetzen nachzuforschen, denen es unterworfen ist. In bezug auf die Regeln des menschlichen Verhaltens wäre dies Thema der Anthropologie als einer Wissenschaft, die sich lediglich um die Beschaffung empirischen Materials und der Aufdeckung der sich darin zeigenden Gesetzmäßigkeiten zu kümmern hätte. Zum anderen kann das, was uns in der Erfahrung gegeben ist, grundsätzlich als das Ergebnis der Einschränkung eines „an sich" Uneingeschränkten interpretiert werden. In diesem Fall ist für die Metaphysik geradezu beides konsumtiv: die Metaphysik muß sowohl das Uneingeschränkte in seinem Gehalt bestimmen als auch das gegebene Eingeschränkte auf das Uneingeschränkte beziehen und vor allem den Nachweis führen, daß das in der Erfahrung gegebene Endliche überhaupt als ein Eingeschränktes gedeutet werden muß. Ein und dasselbe Material läßt sich insofern einmal im Rahmen der empirischen Anthropologie und einmal im Rahmen der Metaphysik behandeln. Dies entscheidet auch über das angeblich strittige Verhältnis, das bei Kant zwischen der Metaphysik im Sinne der reinen Moralphilosophie und der Metaphysik im Sinne einer auf Anthropologie angewandten Moralphilosophie besteht. Daß der letzte Teil der Arbeit unter dem Stichwort „Autokratie" steht, wird seine Rechtfertigung, wie ich hoffe, an Ort und Stelle finden. Doch sei fol-

6

Einleitung

gendes vorweggenommen. Kant versteht unter Autokratie das Vermögen der Selbstherrschaft, das Vermögen der reinen praktischen Vernunft, über alle widerspenstigen Neigungen Herr zu werden und sich als sittliche Vernunft durchzusetzen. Die Autokratie der reinen praktischen Vernunft ist Ausdruck ihrer exekutiven Kraft. Kant muß dazu der Vernunft das Vermögen zusprechen, einen Selbstzwang ausüben zu können. Darauf beruht die ganze Tugendlehre der Metaphysik der Sitten. Bemerkenswert ist jedoch, daß Kant das Vermögen der Autokratie mit dem moralischen Gefühl, d.i. der Achtung fürs Gesetz in Verbindung bringt. Es wird sich zeigen, daß die Gründe, die er dafür hat, mit der Schlüsselfrage der Metaphysik in Verbindung stehen, der Frage nämlich, was uns dazu veranlaßt, das in der Erfahrung Gegebene überhaupt als etwas Eingeschränktes zu interpretieren, dem etwas Uneingeschränktes zugrundeliegt.

I. Vernunft und Vernunfterkenntnis L „Vernunfterkenntnis aus Begriffen'''' Wer sich mit den methodischen Grundlagen von Kants Philosophie beschäftigt, wird mit einiger Überraschung feststellen, daß Kant zwar eine besondere Art der Erkenntnis unterscheidet, die er als „Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen"1 bezeichnet und mit philosophischer und metaphysischer Erkenntnis gleichsetzt, daß er jedoch nicht näher erläutert, worin diese Art der Erkenntnis besteht und welche Konsequenzen sich daraus in methodischer Hinsicht für die eigene Philosophie ergeben. In der Transzendentalen Methodenlehre der KrV, die sich ausdrücklich „nicht auf den Inhalt, sondern bloß auf die Methode der Erkenntnis aus reiner Vernunft" bezieht2 und von der daher noch am ehsten eine Antwort auf die Frage erwartet werden dürfte, was philosophische Erkenntnis eigentlich ist, rindet sich hierzu kaum mehr als die knappe Auskunft, daß philosophische und mathematische Erkenntnis die beiden einzigen Arten von „Vernunfterkenntnis" sind. Beide unterscheiden sich nach Kant dadurch, daß die eine „Vernunfterkenntnis aus Begriffen", die andere „aus der Konstruktion der Begriffe" ist3, wobei als zusätzliches Unterscheidungsmerkmal dient, daß philosophische Erkenntnis „das Besondere nur im Allgemeinen", mathematische Erkenntnis dagegen „das Allgemeine im Besonderen, ja Einzelnen" betrachtet.4 Weder hier noch an anderer Stelle erklärt Kant jedoch, was philosophische Erkenntnis zu einer Erkenntnis speziell der Vernunft macht, inwiefern es sich um eine Erkenntnis „aus Begriffen" handelt, welche Begriffe es sind, „aus" denen erkannt wird, und wie sich „Vernunfterkenntnis aus Begriffen" zur Einteilung der Erkenntnis in analytische und synthetische Erkenntnis verhält sowie zu den Wahrheitsbedingungen, die für sie formuliert werden. Daß es bei Kant an einer expliziten Erläuterung zu einem Thema von so grundsätzlicher Bedeutung für die eigene Philosophie 1

1 3 4

Cf. dazu KrV, B 741,752,865. Cf. KrV, B 740. Cf. KrV, B 741; cf. auch B 865. Cf.KrV,B742.

8

Vernunft und Vernunfterkenntnis

fehlt, ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil auch die KrV, aller darin geübten Metaphysik-Kritik zum Trotz, nicht auf die besonderen Ansprüche einer philosophischen Erkenntnis verzichtet, sondern an dem Ziel eines zu errichtenden „Systems der reinen Vernunft" festhält, das die eigentliche Metaphysik ausmacht und zu dem „die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft", einschließlich der Kritik, gehört.5 Die Zurückhaltung, die Kant bei der Charakterisierung des eigentümlichen Wesens philosophischer Erkenntnis an den Tag legt, erschwert zwar den Versuch, sich von dieser Erkenntnis und speziell von ihren methodischen Aspekten eine genauere Vorstellung zu machen, aber sie raubt ihm nicht jegliche Erfolgschance. Denn Kant hat sich zur Frage, was Vernunft und Vernunfterkenntnis ist, in gewisser Weise durchaus geäußert, am ausführlichsten in der Transzendentalen Dialektik der KrV. Doch liegt dabei sein Hauptaugenmerk auf dem transzendenten, alle Grenzen der Erfahrung überschreitenden Gebrauch der Vernunft, mit der Absicht, sie in ihren Erkenntnisansprüchen zu disziplinieren. Daß die Vernunft auch in einer Weise zu gebrauchen ist, die nicht der Kritik verfällt, und daß es bei diesem Gebrauch der Vernunft auch zu Erkenntnissen kommt, wird von Kant nur am Rande thematisiert. Dennoch lassen sich dem Text einige wichtige Hinweise darauf entnehmen, was unter Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen in einem positiven Sinn zu verstehen ist. Zu diesen Hinweisen gehört, daß Kant ebenso wie im Hinblick auf den Verstand auch im Hinblick auf die Vernunft zunächst zwischen einem formalen (logischen) und einem realen (transzendentalen) Gebrauch unterscheidet.6 Dem logischen Gebrauch nach ist die Vernunft das Vermögen mittelbar zu schließen, dem realen Gebrauch nach enthält „sie selbst den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze". Die Einteilung der Vernunft in ein logisches und ein transzendentales Vermögen setzt voraus, daß sich ein „höherer Begriff von dieser Erkenntnisquelle" bilden läßt, „welcher beide Begriffe unter sich befaßt". Diesem höheren Begriff zufolge ist die Vernunft „das Vermögen der Prinzipien". Die Vernunft läßt sich durch den Begriff des Prinzips in allgemeiner Weise charakterisieren, weil dieser Begriff einerseits bestimmt genug ist, um eine Beziehung auf die Vernunft auszudrücken, andererseits aber noch unbestimmt ist im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen logischem und

3

6

Cf. KrV, B 869. Cf. dazu und zum folgenden: KrV, B 355/356.

„Vemunfterkenntnis aus Begriffen"

9

realem Vernunftgebrauch. Gerade die Unbestimmtheit des Begriffs hebt Kant denn auch eigens hervor: „Der Ausdruck eines Prinzips ist zweideutig, und bedeutet gemeiniglich nur ein Erkenntnis, das als Prinzip gebraucht werden kann, ob es zwar an sich selbst und seinem eigenen Ursprünge nach kein Principium ist. Ein jeder allgemeiner Satz, er mag auch sogar aus Erfahrung (durch Induktion) hergenommen sein, kann zum Obersatz in einem Vemunftschlusse dienen; er ist darum aber nicht selbst ein Principium."

Prinzip ist demnach entweder jeder allgemeine Satz, der als Obersatz in einem Vernunftschluß verwendet wird (= Beziehung auf das logische Vermögen), oder, in eingeschränkter Bedeutung, jeder allgemeine Satz, der seinen Bestimmungsgrund allein in der Vernunft hat (= Beziehung auf das reale Vermögen). Als Prinzipien in solch engerem Sinn können jedoch weder allgemeine (auf Induktion beruhende) Erfahrungssätze noch die mathematischen Axiome noch auch, was besonders zu betonen ist, die Grundsätze des reinen Verstandes gelten.7 Denn alle diese Sätze haben ihren Bestimmungsgrund entweder gar nicht oder nicht nur in der Vernunft. Da auch alle analytischen Sätze ausscheiden, weil bei ihnen von einer Erkenntnis im Sinne einer Bestimmung unserer Begriffe von Gegenständen, sofern diese Begriffe (noch) unbestimmt sind und unter dem Grundsatz der Bestimmbarkeit stehen, nicht die Rede sein kann8, bleiben allein „synthetische Erkenntnisse aus Begriffen" übrig, „und diese sind es eigentlich", schreibt Kant, „welche ich schlechthin Prinzipien nenne".9 Soll also die Vernunft nicht „ein bloß subalternes Vermögen"10 sein, durch das ein logischer Zusammenhang der Subordination und Koordination in die Mannigfaltigkeit gegebener Erkenntnisse gebracht werden kann, dann muß sie sich als Ursprung von Prinzipien erweisen lassen, die Prinzipien schlechthin sind. Die Leitfrage, unter die Kant in der Transzendentalen Dialektik die Untersuchung des Vernunftvermögens stellt, lautet daher,

7

8

9 10

Cf. KrV, B 356/357: „Betrachten wir aber diese Grundsätze des reinen Verstandes an sich selbst ihrem Ursprünge nach, so sind sie nichts weniger als Erkenntnisse aus Begriffen. Denn sie würden auch nicht einmal a priori möglich sein, wenn wir nicht die reine Anschauung (in der Mathematik), oder Bedingungen einer möglichen Erfahrung Oberhaupt herbei zögen." Cf. auch Reflexion 5553 (1778-83). Es ist in der Kantforschung nicht immer deutlich markiert worden, daß die Grundsätze des reinen Verstandes keine Vernunfterkenntnisse sind. Cf. R 5553 (1778-83) und Kants eingeschränkten Begriff von „Bestimmen" in der Vorlesung zur Metaphysik Mrongovius, AA 29.1,2, 819. Cf. KrV, B 357/358. Cf. JCrK B 362.

10

Vernunft und Vemunfterkenntnis

„ob Vernunft an sich, d.i. die reine Vernunft a priori synthetische Grundsätze und Regeln enthalte, und worin diese Prinzipien bestehen mögen?"11

Wie fällt diese Untersuchung aus? Schon bei der Exposition des allgemeinen Begriffs der Vernunft deutet sich das Ergebnis an, wenn Kant freimütig gesteht: „Da ich jetzt von dieser obersten Erkenntniskraft eine Erklärung geben soll, so finde ich mich in einiger Verlegenheit."12

Diese Verlegenheit macht sich vor allem darin bemerkbar, daß es an Beispielen für Erkenntnisse fehlt, zu denen die Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauch fähig wäre.13 Kant verspricht zwar, solche Beispiele in der Folge zu geben, und dies scheint darauf hinzudeuten, daß es sie in der Tat gibt. Doch kann er sein Versprechen in gewisser Hinsicht nicht einlösen und am Ende keine einzige synthetische Erkenntnis aus bloßen Begriffen anführen, die objektive Gültigkeit beanspruchen könnte. Denn die kritische Untersuchung des Vernunftvennögens führt zu dem Ergebnis, daß alle Ansprüche, die die Vernunft auf eine derartige Erkenntnis erhebt, auf „transzendentalem Schein" beruhen und auf dem Altar der Kritik geopfert werden müssen. Die Transzendentale Dialektik bestätigt so noch einmal - als „Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats jener ersten Würdigung unserer Vernunfterkenntnis a priori"14 -, was bereits in der Transzendentalen Analytik über die Möglichkeit und den Umfang von synthetischer Erkenntnis a priori ganz generell festgesetzt wurde: daß sie nämlich nur objektiv gültig ist im Hinblick auf solche Gegenstände, die in einer (reinen oder sinnlichen) Anschauung gegeben werden können, und die Grenzen möglicher Erfahrung oder anschaulicher Konstruktion nicht überschreiten darf. Alle Erkenntnisse hingegen, zu denen die Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch zu gelangen beansprucht, beziehen sich auf Gegenstände, die schon ihrem Begriff nach weder in der Anschauung konstruiert noch in einer möglichen Erfahrung gegeben werden können. Somit scheint die Untersuchung der Frage, ob die Vernunft „ein eigener Quell von Begriffen und Urteilen [ist], die lediglich aus ihr entspringen, und dadurch sie sich auf Gegenstände bezieht"15, jedenfalls was objektiv gültige

11 12 13 14 13

Cf.KrV,B363. Cf. KrV,B355. Cf.A>KB359. Cf. KrV, Vorrede zur zweiten Auflage, B XX. Cf. KrV, B 362.

„Vernunfterkenntnis aus Begriffen"

11

Urteile betrifft, mit einem negativen Resultat zu enden. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn Kant am Schluß der KrV zusammenfassend feststellt: ,,Nun enthält die ganze reine Vernunft in ihrem bloß spekulativen Gebrauche nicht ein einziges direkt-synthetisches Urteil aus Begriffen."16

Wenn aber die spekulative Vernunft keine einzige direkt-synthetische Erkenntnis aus Begriffen zustandebringt, was ist dann die als Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen definierte philosophische Erkenntnis? Handelt es sich bei ihr dann doch bloß um analytische „Erkenntnis", so daß die ganze Kritik, die ganze Transzendentalphilosophie und Metaphysik schließlich auf nichts anderes als eine „Analytik" unserer Begriffe hinauslaufen? Und kann man wiederum im Ernst annehmen, daß dies Kants Meinung war? Oder heißt es, die Erwartung an Kant und die Stringenz seiner Begriffsbildung schlicht zu überspannen, wenn man ihm ein einheitliches Konzept von Erkenntnis unterstellt, das neben den von ihm selbst diskutierten Arten der Erkenntnis auch philosophische Erkenntnis umfaßt? Nun muß allerdings aus Kants Befund, daß die Vernunft „kein einziges direkt-synthetisches Urteil aus Begriffen" zustandebringt, nicht sofort der Schluß gezogen werden, daß die Vernunft zu gar keinen synthetischen Erkenntnissen aus Begriffen fähig wäre und auch philosophische Erkenntnis eben darum nicht synthetisch sein kann. Betrachtet man nämlich, wie Kant seine Feststellung begründet „Denn durch Ideen ist sie, wie wir gezeigt haben, gar keiner synthetischer Urteile, die objektive Gültigkeit hätten, fähig; durch Verstandesbegriffe aber errichtet sie zwar sichere Grundsätze, aber nicht direkt aus Begriffen, sondern immer nur indirekt durch Beziehung dieser Begriffe auf etwas ganz Zufälliges, nämlich mögliche Erfahrung,..."17-, dann scheint die Pointe dieser Feststellung gerade darin zu liegen, daß die Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch lediglich zu solchen synthetischen Erkenntnissen aus Begriffen nicht fähig ist, die objektiv gültig sind. In der Tat bestreitet Kant in der KrV nicht, daß die Vernunft eigene Begriffe und Prinzipien besitzt. Vielmehr hebt er sogar an einer Stelle, an der er die Frage dis-

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17

Cf. KrV, B 764. Cf. auch R 5924 (1783-84): „Der Allgemeine Satz ist: Synthetische Erkentnisse a priori aus bloßen Begriffen sind unmöglich, wohl aber 1. aus der construction der Begriffe, 2. aus Regeln, die die Möglichkeit der Erfahrung enthalten und wodurch Wamehmungen obiective Erkentnisse werden...". a. KrV, B 764/765.

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Vernunft und Vemunfterkenntnis

kutiert, welche Grundsätze in transzendentalen Beweisen verwendet werden können, ausdrücklich hervor: „Sind es Grundsätze des Verstandes (z.B. der Kausalität), so ist es umsonst, vermittelst ihrer zu Ideen der reinen Vernunft zu gelangen; denn jene gelten nur für Gegenstände möglicher Erfahrung. Sollten es Grundsätze aus reiner Vernunft sein, so ist wiederum alle Mühe umsonst. Denn die Vernunft hat deren zwar, aber als objektive Grundsätze sind sie insgesamt dialektisch, und können allenfalls nur wie regulative Prinzipien des systematisch zusammenhangenden Erfahrungsgebrauchs gültig sein."18

Man darf hieraus folgern, daß die reine Vernunft durchaus über Prinzipien verfügt, die an sich und ihrem Ursprung nach und nicht bloß komparativ Prinzipien genannt werden können. Kontrovers ist nicht die Annahme der Prinzipien, sondern wie man sie aufzufassen hat. Nach Kant sind sie nicht dazu da, unsere Begriffe von Objekten in objektiv gültiger Weise zu bestimmen und zu erweitern; und insofern sind sie keine objektiven Grundsätze. Das bedeutet jedoch nicht, daß ihnen damit jegliche Gültigkeit abgesprochen werden muß. Denn an der zitierten Stelle schreibt ihnen Kant als regulativen Prinzipien eines zusammenhängenden Erfahrungsgebrauchs zumindest subjektive Gültigkeit zu. Unterstellt man nun, daß Kant, wenn er von „Vernunfterkenntnissen aus bloßen Begriffen" spricht, generell solche Prinzipien (und Erkenntnisse aus solchen Prinzipien) im Auge hat, die regulativen Charakter besitzen und somit subjektive Grundsätze sind, dann kann die Synthesis, die in Vernunfterkenntnissen aus Begriffen gedacht wird (wenn denn eine gedacht wird), zwar eine von Bestimmungen in einem Objekt sein, aber keine, die durch objektive Gründe gestützt wird und somit objektive Gültigkeit besitzt. Andererseits können solche Prinzipien (und Erkenntnisse aus solchen Prinzipien) aber auch nicht bloß subjektiv gültig sein. Denn sonst gäbe es keine Möglichkeit, sie von Meinungen zu unterscheiden, d.h. von Urteilen, die lediglich subjektiv für wahr gehalten werden. Die Gründe, die zur Rechtfertigung von Vernunfterkenntnissen aus Begriffen mobilisiert werden können und die in ihnen enthaltene Synthesis stützen, müssen daher von einer besonderen Art sein und sich sowohl von objektiven wie von bloß subjektiven unterscheiden lassen. Beide Bestimmungen scheinen für das, was Vernunfterkenntnis aus Begriffen ist, wesentlich zu sein. Worin diese Gründe bestehen und wie sie mit Kants Konzeption von Vernunft in Verbindung stehen, bedarf freilich dringend der Auf18

Cf.^rK,B814. Herv. P.K..

Die Gewinnung der Idee

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klärung. Im folgenden soll versucht werden, auf einige der Fragen, die sich im Zusammenhang der Rede von einer „Vernunfterkenntnis aus Begriffen" stellen, eine Antwort zu geben. Den breitesten Raum werden Überlegungen zu der Frage einnehmen, inwiefern in Vernunfterkenntnis aus Begriffen eine Synthesis enthalten ist und welche Schlüsse sich daraus für das (technische) Verfahren einer solchen Erkenntnis ergeben. Am Ende wird auf die Frage eingegangen, wodurch die Synthesis in einer Vernunfterkenntnis aus Begriffen gestützt wird.

2. Die Gewinnung der Idee A. Der Vernunftbegriff In ihrem realen (nicht bloß logischen) Gebrauch ist die Vernunft nach Kant wesentlich dadurch charakterisiert, daß sie der Ursprung eigener Begriffe ist. Kant bezeichnet diese Begriffe einmal als Vernunftbegriffe, dann - unter Hinweis auf Platon - auch als Ideen. Platon muß zwar vorgehalten werden, daß er seinen Begriff der Idee „nicht genugsam bestimmte" und eine mystische und schwärmerische Vorstellung vom Ursprung und Gebrauch der Ideen entwikkelte. Aber er hatte nach Kant etwas ganz Richtiges und die Vernunft in ihrem eigentümlichen Wesen Erfassendes im Auge: „Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicher Weise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, jemals mit ihnen kongruieren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keineswegs bloße Hirngespinste sein."19

In der Tat übernimmt Kant von Platon in der Bestimmung des Begriffs der Idee nach seinen Angaben dreierlei20: (1) daß die Idee ein Vernunftbegriff ist und sich darin sowohl von allen empirischen Begriffen als auch von allen Verstandesbegriffen unterscheidet; 19 20

Cf.KrV, B 370/371. Für Schmucker ist Kants Hinweis auf Platon ohne tiefere sachliche Bedeutung. Die Obereinstimmung zwischen dem Platonischen und dem Kantischen Ideenbegriff ist ihm zufolge minimal. Schmucker kommt zu diesem Urteil jedoch, weil er den Kantischen Ideenbegriff auf den Begriff der transzendentalen Ideen von vornherein einschränkt. Cf. Schmucker (1990), 32-36.

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Vernunft und Vemunfterkenntnis

(2) daß sie ein Begriff ist, „dem kein korrespondierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann"21, mit dem also die Grenze aller möglichen Erfahrung überschritten wird; und (3) daß sie ein notwendiger Begriff ist und nicht willkürlich gebildet wird. An der Charakterisierung von Ideen als notwendigen Vernunftbegriffen, denen kein Gegenstand in einer möglichen Erfahrung korrespondiert, hat Kant stets festgehalten. Doch ist es insbesondere die dritte Bestimmung, die Kant immer wieder, in wohlweislicher Vorwegnahme möglicher Einwände, herausstellt und die daher auch in besonderem Maße unsere Aufmerksamkeit verdient. Kant legt großen Wert auf die Feststellung, daß Ideen notwendige Vernunftbegriffe22, „in der Vernunft hinreichend gegründet"23, „nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben"24, und keine bloße Chimären oder Hirngespinste sind. Die Notwendigkeit, die Kant den Ideen zuspricht, ist offenbar eine doppelte: zum einen sind die Ideen notwendig, weil sie unersetzlich bei der Erfüllung einer bestimmten Funktion der Vernunft sind, und zum anderen, weil es nicht beliebig ist, wie die Vernunft sie bildet und was sie in ihnen denkt. Es ist zu vermuten, daß beide Aspekte zusammengehören und Ideen ihre unersetzliche Funktion im Erkenntnisprozeß nur erfüllen können, weil die Inhalte, die die Vernunft in ihnen denkt, und die Weise, in der sie sie bildet, nicht beliebig und zufällig sind. Ideen wären demnach Begriffe, denen kein Gegenstand in der Erfahrung jemals kongruent sein kann und in die dennoch eine nicht unerhebliche und zugleich kontrollierbare Erkenntnis- und Bestimmungsleistung der Vernunft eingeht. Worin besteht diese besondere Erkenntnis und Bestimmung, die die Vernunft bei der Bildung von Ideen leistet? Die einzige Stelle, an der Kant eine mehr oder weniger ausführliche Theorie der Ideen entwickelt, - die Einleitung zur Transzendentalen Dialektik in der KrV - ist mit dem Handicap behaftet, daß alles, was dort über den Inhalt und die Ableitung der Ideen ausgeführt wird, nur mit Vorsicht und Vorbehalt als Aussage über den allgemeinen Begriff der Idee gewertet werden kann. 21

22 21 24

Cf. KrV, B 383. Ganz ähnlich R 5553 (1778-83): „Ich verstehe unter der Idee einen Begriff, der in der Vernunft hinreichend gegründet ist, dem aber kein Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann." Cf./>F,B383. Cf. R 5553 (1778-83). Cf. KrV, B 384. An der zitierten Stelle geht es um den Nachweis, daß die reinen Vemunftbegriffe, die sich auf „die absolute Totalität der Verstandesbegriffe" (B 383) beziehen, transzendentale „Ideen" sind.

Die Gewinnung der Idee

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Denn diese Ausführungen konzentrieren sich vor allem auf die transzendentalen Ideen und berücksichtigen andere Arten von Ideen nicht oder nur am Rande. Von einem solchen Vorbehalt sind auch einige der Bestimmungen Kants betroffen, die auf den ersten Blick einer allgemeineren Auslegung zugänglich zu sein scheinen. Dazu gehört insbesondere, was Kant über das Wesen der reinen Vernunftbegriffe schreibt: „Da nun das Unbedingte allein die Totalität der Bedingungen möglich macht, und umgekehrt die Totalität der Bedingungen jederzeit selbst unbedingt ist: so kann ein reiner Vemunftbegriff überhaupt durch den Begriff des Unbedingten, so fern er einen Grund der Synthesis des Bedingten enthält, erklärt werden."25

Vernunftbegriffe in ihrer allgemeinen Bedeutung scheinen demnach Begriffe des Unbedingten und der Totalität der Bedingungen zu sein und als solche Begriffe, die einen Grund der Synthesis des Bedingten enthalten. Doch gibt der Kontext, in dem Kant zu seiner allgemeinen Bestimmung der reinen Vernunftbegriffe gelangt, Anlaß zur Irritation. Abgesehen davon, daß er nur wenig zur weiteren Aufklärung des Begriffs des Unbedingten beiträgt, scheint er in seinem Argumentationsradius zu eingeschränkt zu sein, um eine derart generelle Begriffsbestimmung tragen zu können. Kant geht es in der Einleitung zur Transzendentalen Dialektik um die Frage, ob die Vernunft Ursprung eigener Begriffe ist und worin diese gegebenenfalls bestehen. Er wirft damit im Hinblick auf die Vernunft eine Frage auf, die er bereits zuvor (nämlich in der Transzendentalen Analytik) im Hinblick auf den Verstand gestellt und nach eingehender Untersuchung positiv beantwortet hatte. Wie schon bei der Aufsuchung aller reinen Verstandesbegriffe setzt er auch bei der Aufsuchung der reinen Vernunftbegriffe voraus, daß „die bloße logische Form unserer Erkenntnis" zum „Leitfaden der Entdeckung" dieser Begriffe dienen kann.26 Die logische Form, die die Vernunft unseren Erkenntnissen gibt, besteht in ihrer syllogistischen Verknüpfung. Daher ist zu erwarten, „daß die Form der Vemunftschlüsse, wenn man sie auf die synthetische Einheit der Anschauungen, nach Maßgebung der Kategorien, anwendet, den Ursprung besonderer Begriffe a priori enthalten werde, welche wir reine Vemunftbegriffe, oder transzendentale Ideen nennen können."27

25

Cf. KrV, B 379. Ergänzt wird diese Stelle durch eine andere (B 380), an der Kant die „Totalität der Bedingungen" und das „Unbedingte" als den „gemeinschaftlichen Titel aller Vernunftbegriffe" bezeichnet 2 * Cf.AT7-F,B377ff. 27 Cf.£rK,B378.Herv. Kant.

16

Vernunft und Vemunfterkenntnis

Die Irritation, zu der dieser Ansatz der Herleitung der reinen Vernunftbegriffe, wie gesagt, Anlaß gibt, besteht nun weniger in dem, was man auch gegenüber der Herleitung der reinen Verstandesbegriffe kritisch einwenden könnte und gegen Kant stets eingewandt hat, daß diese von den Ergebnissen der modernen Logik nicht gestützt wird, daß sie entgegen dem eigenen Bekunden nicht systematisch oder daß die Begründung für die von Kant gewählte Systematik nicht zu erkennen ist, usw., als vielmehr darin, daß Kant noch andere Arten von Ideen (z.B. die Idee von reinem Wasser, die Idee der Tugend, die Idee der Philosophie usw.) unterscheidet, die zum Teil von großer Bedeutung in den anderen Systemteilen und in den Wissenschaften sind (wie etwa die Idee des reinen Willens für die Metaphysik der Sitten), und daß sich jedenfalls auf Anhieb keine Möglichkeit abzeichnet, diese Ideen, die ja gleichfalls reine Vernunftbegriffe und in der Vernunft hinreichend gegründet sein sollen, mit der logischen Form der Vernunftschlüsse oder mit den genannten drei reinen Vernunftbegriffen in eine Verbindung zu bringen. Auch bleibt auf der Grundlage von Kants Ausführungen zur Ableitung der transzendentalen Ideen im Dunkeln, was Ideen wie die des reinen Wassers oder der Tugend zu Begriffen des Unbedingten und der Totalität der Bedingungen macht und in welchem Sinn sie einen Grund der Synthesis des Bedingten enthalten könnten. Daraus muß zwar nicht voreilig und überstürzt die Konsequenz gezogen werden, daß solche Zusammenhänge nicht existieren. Aber es ist doch festzustellen, und diese Feststellung ist zu unterstreichen, daß es Kant an der einzigen Stelle, an der er vorführt, wie man zur Bildung von reinen Vernunftbegriffen (der transzendentalen Ideen) kommt, gerade nicht gelingt, einen Begriff vom Vernunftbegriff zu entwickeln, der in unmittelbar überzeugender Weise alle Arten der Ideen übergreift und abdeckt (wobei dies von ihm vielleicht auch nicht beabsichtigt war). Man muß daher zunächst auf einem anderen Weg versuchen, sich verständlich zu machen, was eine Idee in ihrer allgemeinsten Bedeutung für Kant ist.28 Auf einen solchen Weg wird man durch eine Reflexion aus Kants Nachlaß beinahe von selbst gebracht.29 Kant stellt in dieser Reflexion bei dem Versuch, die Vernunft zu charakterisieren, folgende Betrachtung an: 28

29

Ich hoffe, in einer anderen Arbeit zeigen zu können, worin der Zusammenhang zwischen den Schlußformen und den Vemunftbegriffen (und nicht bloß den transzendentalen Ideen) besteht. Hier kommt es nur darauf an, einen Begriff vom Vernunftbegriff zu entwickeln, der es erlaubt, den Begriff von einer Sache von der Idee dieser Sache unterscheiden zu können. Diese Reflexion findet sich in Kants Handexemplar von Eberhards Vorbereitung zur natürlichen Theologie. Sie ist also definitiv nach 1781, dem Erscheinungsjahr des Buchs, entstanden. Überdies steht sie in einer engen inhaltlichen Verbindung zu entsprechenden Gedankengängen, die Kant in

Die Gewinnung der Idee

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„Die menschliche Vernunft hat die besondere Eigenschaft außer dem, was dazu gehört, sich für eine gewiße Absicht einen Begriff von einem Dinge zu machen, noch nicht allein diesen Begriff selbst vermittelst alles dessen, was ihn ausmacht, sondern auch den Gegenstand des Begriffes in der Art der Dinge, wozu er gehört, zu vollenden. Wir begnügen uns nicht mit dem, was zum gemeinen Gebrauche der Worte hinreichend wäre, den Begriff eines Körpers, eines Menschen, einer Pflanze deutlich zu kennen; wir suchen uns seiner in allen seinen Merkmalen bewußt zu werden, und daraus wird, wenn das Gesetz der Sparsamkeit dazu kommt, die Definition. Aber wir suchen überdem, wenn wir das Objekt zu einer gewissen Art von Dingen gezählt haben, es in Ansehung dieser Art uns vollständig zu denken ... Also dient uns die Vollständigkeit eines Dinges von einer gewissen Art nur zum Maßstab aller übrigen Begriffe, die wir uns davon machen könnten, sofern sie bloß der Größe nach voneinander unterschieden sein. Diese Größen sind veränderlich; man muß sie mit einer solchen vergleichen, die unveränderlich ist, d.i. der eines Dinges, was alles enthält, was in dem Begriffe desselben in Beziehung auf seine Art enthalten sein kann."30

Für die menschliche Vernunft ist nach Kants Auffassung also charakteristisch, daß sie in doppelter Hinsicht danach strebt, unsere Begriffe zu vollenden. Zum einen besteht das Ziel der Vernunft darin, gegebene Begriffe logisch zu vollenden. Zur logischen Vollkommenheit eines Begriffs gehört nach Kant einmal, daß man ihn deutlich kennt und zum Zweck des Gebrauchs von anderen Begriffen hinreichend unterscheiden kann (= Exposition des Begriffs), dann aber auch, daß man ihn im Hinblick auf alle seine Merkmale analysiert (Vollständigkeit) und die Zahl der Merkmale „ad minimos terminos" reduziert (Präzision) (= Definition des Begriffs).31 Vollständigkeit und Präzision machen die Definition eines Begriffs aus und in der Definition liegt dessen logische Vollkommenheit.32 Zum anderen besteht das Ziel der Vernunft jedoch darin, den Gegenstand, der „zu einer gewissen Art von Dingen gezählt", mithin unter einen Begriff (von einer Art) subsumiert worden ist, in Ansehung dieser Art als vollständig zu denken. Offenbar läuft das letztere auf die Bildung eines Begriffs hinaus (die allerdings die sorgfältige Begriffsbestimmung im Sinne der Definition des Begriffs voraussetzt). Denn man bildet sich auf der Grundlage des Begriffs von einer Art (den man folglich genau kennen muß) den Begriff von einem Gegenstand, der in Ansehung dieser Art vollständig ist und dessen

30 31 32

seinen Vorlesungen zur rationalen Theologie ausgeführt hat und die uns in Nachschriften seiner Hörer überliefert sind. Dir Aussagewert darf somit nicht zu gering veranschlagt werden. Cf. R 6206 (1783-84). Cf. R 2927 (1769-76): „Die praecision ist reduction ad minimos terminos". Cf. R 2931 (1770-76): „Die exposition wird zur definition durch die completudo u. praecision" und R 2944 (1776-89): „Die größte logische Vollkommenheit eines Begriffs ist die Definition desselben." Cf. auch: KrV, B 755-759, sowie die Logik-Vorlesung Pölitz, AA 24.2, 540.

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Vernunft und Vemunfterkenntnis

Vollständigkeit uns „zum Maßstab aller übrigen Begriffe (dient), die wir uns davon machen könnten, sofern sie bloß der Größe nach voneinander unterschieden sein." Ich möchte die These vertreten, daß es sich bei Vernunftbegriffen oder Ideen generell um solche gemachten Begriffe handelt. Ein Vernunftbegriff oder eine Idee wäre dann in der allgemeinsten Bedeutung der Begriff von einem Gegenstand, der der vollkommenste seiner Art ist. Diese These wird zunächst gestützt durch Stellen, an denen Kant Vernunftbegriffe oder Ideen ausdrücklich als Begriffe von Vollkommenheiten bezeichnet.33 Bis in die Zeit der Kritiken hinein scheint Kant daran festzuhalten, daß Ideen Begriffe von Vollkommenheiten sind oder, wie er es auch formuliert, Begriffe von dem „Vollkommensten seiner Art". Im Hinblick auf solche vollkommensten Dinge einer Art gibt es Kant zufolge Gründe für die Annahme, daß kein einziges Ding unter den empirischen Bedingungen seines Daseins mit ihm übereinstimmt. Insofern mag zurecht unterstellt werden, daß der Gegenstand einer Idee in der Erfahrung niemals anzutreffen ist. Dennoch gilt, daß die Vernunft ohne Ideen nicht auskommen kann, die im Fall der theoretischen Ideen als Maßstab des Vergleichs und im Fall der praktischen Ideen, wie Kant hervorhebt34, zur Richtschnur des Verhaltens dienen. Die Bestimmung der Idee als des Begriffs von einer Vollkommenheit erlaubt insofern ein erstes unmittelbares Verständnis der Behauptung Kants, daß die Ideen notwendige Vernunftbegriffe sind, und zwar in dem doppelten Sinn 33

34

Die prägnantesten Formulierungen zu diesem Ideenbegriff finden sich zunächst in solchen Werken, die von Kant selbst oder von vertrauten Schülern wie Jäsche oder Rink relativ spät auf der Grundlage von Vorlesungsschriften herausgegeben wurden und die Material aus ganz unterschiedlichen Zeiten zusammenführen. So erfahren wir etwa in der Pädagogik: „Eine Idee ist nichts anderes, als der Begriff von einer Vollkommenheit, die sich in der Erfahrung nicht vorfindet." (A 10). Und in der Anthropologie heißt es: „Ideen sind Vemunftbegriffe, denen kein Gegenstand in der Erfahrung adäquat gegeben werden kann. Sie sind ... Begriffe von einer Vollkommenheit, der man sich zwar immer nahem, sie aber nie vollständig erreichen kann." (BA 120). Doch auch in den kritischen Hauptschriften fehlt es nicht an entsprechenden Hinweisen. Diese können es zwar an Deutlichkeit mit den zitierten Stellen nicht aufnehmen, sind aber in ihrer Tendenz unmißverständlich. So bemerkt Kant in der KrV, wobei er sich auf Platon beruft, der in Ansehung der Natur „deutliche Beweise ihres Ursprungs aus Ideen" gesehen habe: „Ein Gewächs, ein Tier, die regelmäßige Anordnung des Wehbaues (vermutlich also auch die ganze Naturordnung) zeigen deutlich, daß sie nur nach Ideen möglich sein; daß zwar kein einzelnes Geschöpf, unter den einzelnen Bedingungen seines Daseins, mit der Idee des Vollkommensten seiner Art kongruiere (...), daß gleichwohl jene Ideen im höchsten Verstande einzeln, unveränderlich, durchgängig bestimmt, und die ursprünglichen Ursachen der Dinge sind, und nur das Ganze ihrer Verbindung im Weltall einzig und allein jener Idee völlig adäquat sei." (B 374/375). In einer Anmerkung in der KpV: „Wenn ich unter einer Idee eine Vollkommenheit verstehe, der nichts in der Erfahrung adäquat gegeben werden kann, so sind die moralischen Ideen darum nichts Überschwengliches, ..., sondern dienen, als Urbilder der praktischen Vollkommenheit, zur unentbehrlichen Richtschnur des sittlichen Verhaltens, und zugleich zum Maßstab der Vergleichung." (A 230).

Die Gewinnung der Idee

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von notwendig, auf den wir bereits aufmerksam geworden sind. Einerseits liefert der Begriff von der Vollkommenheit eines Dinges einen Maßstab, um Dinge ein und derselben Art im Hinblick auf den Grad ihrer Vollkommenheit oder Unvollkommenheit vergleichen und beurteilen zu können. Er ist also, wenn man einer solchen Vergleichung und Beurteilung aus bestimmten Gründen bedarf, in einem funktioneilen Sinn notwendig.35 Andererseits ist der Begriff, den man sich von der Vollkommenheit eines Dinges bilden kann, in Ansehung dessen, was man in ihm zu denken hat, kein beliebiger. Von allen möglichen Dingen einer Art scheint sich vielmehr nur ein einziges dadurch auszuzeichnen, daß es das vollkommenste Ding seiner Art ist, und der Begriff von diesem vollkommensten Ding muß sich daher auch genau bestimmen lassen. Damit ist aber auch zunächst die Frage aufgeworfen, in welchem Sinn ein Vernunftbegriff (oder eine Idee) der Begriff von einer Vollkommenheit ist?

B. Die metaphysische Vollkommenheit In der Einleitung zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre beklagt Kant, daß „das Wort Vollkommenheit... mancher Mißdeutung ausgesetzt" ist.36 Zur Vermeidung von Mißverständnissen und Zweideutigkeiten unterscheidet er daher auf der Grundlage der aus der Leibniz-Wolffschen Tradition stammenden Bestimmung der Vollkommenheit als Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zum Einen37 zwischen einem zur Transzendentalphiloso33

36 37

In der Vorlesung zur natürlichen Theologie Volckmann, die vermutlich aus dem Wintersemester 1783/84 stammt, hat Kant auf diese Weise begründet, warum die Vernunft sich der Idee des Vollkommenen bedienen muß: „Die menschliche Vernunft bedarf der Idee der Vollkommenheit, um den Grad anderer Dinge ganz genau bestimmen zu können nach ihrem Maß und Größe, damit die Vollkommenheit der Idee eines Dinges Maßstab ist." (AA 28.2,2, 113 Iff). Neben der bemerkenswerten Behauptung, daß sich das „in allen Wissenschaften der Vernunft" zeige, stoßen wir dort auch auf die folgende aufschlußreiche Definition der Idee: „Eine Idee ist ein ganz notwendiges Grundmaß und kein Hirngespinst, wonach man urteilt, wie nahe ein Ding der Vollkommenheit kommt, um es nach ihren Graden zu schätzen." (ibd). In der Jäsche-Logik wird die Idee als „notwendiger Grundbegriff' bezeichnet (A 142). Cf. MS/TL, A 14. Cf. hierzu: Wolff: Ontologia, § § 390, 503; Baumgarten: Metaphysica, § 94. In der Ersten Fassung der Einleitung in die KU nennt Kant diesen allgemeinsten Begriff den „ontologischen Begriff' der Vollkommenheit (WA, V, 205). Differenzierungen ergeben sich für ihn aus dem, was er im Anschluß an Baumgarten (Metaphysica §94) den focus perfectionis nennt (cf. Metaphysik Dohna-Wundlacken, AA 28.2,1, 632/633 u. 638). Dieser focus perfectionis - „gleichsam der Brennpunkt der Vollkommenheit" - ist das Eine, im Hinblick auf das wir ein Mannigfaltiges betrachten und durch das die Absicht festgelegt wird, in der diesem Mannigfaltigen eine Vollkommenheit zugesprochen wird. Cf. zu Kants Begriff der Vollkommenheit auch: Schroer (1988), 8099.

20

Vernunft und Vemunfterkenntnis

phie gehörenden „Begriff der Allheit des Mannigfaltigen, was zusammengenommen ein Ding ausmacht", und einem zur Teleologie gehörenden Begriff der „Zusammenstimmung der Beschaffenheiten eines Dinges zu einem Zwekke".38 Diese Unterscheidung findet sich auch in der KpV, allerdings in differenzierter und erweiterter Form. Kant unterscheidet dort zwischen Vollkommenheit in theoretischer und in praktischer Bedeutung, wobei er den theoretischen Begriff der Vollkommenheit wiederum einteilt in den der transzendentalen Vollkommenheit („Vollständigkeit eines jeden Dinges in seiner Art") und in den der metaphysischen Vollkommenheit (Vollständigkeit „eines Dinges bloß als Dinges überhaupt").39 Läßt man den praktischen Begriff der Vollkommenheit beiseite, so bleiben diese zwei theoretischen Begriffe als mögliche Interpretamente des Kantischen Ideenbegriffs. Ein Ding ist dann transzendental vollkommen, wenn es alle Eigenschaften aufweist, die es aufweisen muß, um ein Ding einer bestimmten Art und kein anderes zu sein.40 Interpretiert man die Vollständigkeit eines Dings von einer gewissen Art, auf die sich nach unserer Interpretation eine Idee bezieht, als transzendentale Vollkommenheit, dann besteht diese in nichts anderem als in dem vollständigen Besitz aller Merkmale, die für die Art des Dings konstitutiv sind. Es zeigt sich daran sofort, daß die Vollkommenheit, die einem Ding in der Idee zugesprochen wird, nicht seine transzendentale sein kann. Denn wenn man sich den Begriff von einem Gegenstand bildet, der in Ansehung seiner Art vollständig ist, dann denkt man sich nicht einfach einen Gegenstand, der alle Merkmale besitzt, die in dem Begriff von einer Art enthalten sind. Wäre es nur das, würde sich der von Kant beschriebene Vorgang der Begriffsbildung, bei dem man zur Idee von einem Gegenstand gelangt, nicht von der bloßen Anwendung eines Begriffs in einem assertorischen Urteil unterscheiden. Auch wenn man urteilt, daß ein Gegenstand zu einer bestimmten Art von

M 39

40

Cf. MS/TL, A 14. Cf. KpV, A 70. In einer Nachlaßreflexion wird diese Unterscheidung zwischen einem theoretischen und einem praktischen Begriff der Vollkommenheit noch weiter verfeinert: „Vollkommenheit kann entweder (in theoretischem Verstande) die bloße Vollständigkeit bedeuten, und da ist sie als dem Wesen eines jeden Dinges in Beziehung auf das Ding selbst eigene Vollkommenheit transzendental; als Vollständigkeit der Entität oder Realität aller Dinge Oberhaupt ist sie metaphysische Vollkommenheit. Die erste ist die Vollkommenheit eines Dinges, die zweite eine Vollkommenheit, deren es viel gibt. Oder sie bedeutet in praktischem Verstande das Gute, und da entweder das, was an sich selbst gut ist (guter Wille), oder was als Mittel zu allen Zwecken gut ist, die Tauglichkeit zu allen Zwecken, z.E. Verstand." (R 5753 (1785-89)). In der KU spricht Kant von dem, „was die Schule die transzendentale Vollkommenheit der Dinge (in Beziehung auf ihr eigenes Wesen) nennt, nach welcher alle Dinge alles an sich haben, was erfordert wird, um so ein Ding und kein anderes zu sein..." (B 326).

Die Gewinnung der Idee

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Dingen gehört, unterstellt man implizit, daß er alle Merkmale aufweist, durch die sich ein Ding der betreffenden Art auszeichnet und die eine vollständige Analyse unseres Begriffs (der An) ans Licht bringen könnte. In diesem Sinn wären der Begriff von Wasser und die Idee von reinem Wasser nicht voneinander unterschieden: In beiden Fällen hätte man den Begriff von einem Gegenstand, der im Hinblick auf eine gewisse Zahl von Merkmalen als bestimmt gedacht wird, wobei weder in bezug auf die Zahl noch auf die Merkmale eine Abweichung beider Begriffe voneinander stattfindet. Wasser und reines Wasser weisen alle Eigenschaften auf, die ein Ding aufweisen muß, um Wasser und nichts anderes zu sein. Bei der Vollständigkeit, die man einem Ding zuspricht, wenn man es zum Zweck der Bildung einer Idee in Ansehung seiner Art als vollständig denkt, kann es sich also nicht um seine transzendentale Vollkommenheit handeln. Mehr Erfolg versprechen Überlegungen, die den Begriff der metaphysischen Vollkommenheit ins Spiel bringen. Doch leider sind Kants Äußerungen zum Begriff der metaphysischen Vollkommenheit spärlich und verwirrend und bedürfen ihrerseits zunächst einer Interpretation. Nach einer Bestimmung besteht die metaphysische Vollkommenheit eines Dings in der Vollständigkeit der Realitäten41, was sofort ans transzendentale Ideal denken läßt. In der Tat ist das transzendentale Ideal der (singuläre) Begriff von einem Wesen, das alle Realitäten in sich vereinigt und daher die höchste Vollkommenheit besitzt.42 Es entspricht dem, was in der Schulphilosophie der Zeit das ens realissimum ist, die Bestimmung Gottes als des vollkommensten aller Wesen. Dennoch kann der Begriff der metaphysischen Vollkommenheit nicht ausschließlich für ein Wesen reserviert sein, das in dem Sinn vollkommen ist, daß ihm nichts von aller möglichen Realität fehlt. Denn wäre es so, könnte Kant nicht davon sprechen, daß ein Ding in verschiedener Hinsicht metaphysisch vollkommen sein kann.43 Dies schließt einerseits ein, daß nicht nur ein einziges Ding unter allen Dingen im Besitz metaphysischer Vollkommenheit ist (das wäre das ens realissimum), andererseits, daß sich in sinnvoller Weise zwischen verschiedenen metaphysischen Vollkommenheiten unterscheiden läßt. Das Rätsel löst sich, wenn man annimmt - worauf im übrigen verschiedene Stellen hindeuten 41

4i 43

Cf. R 5753 (1785-89): „Vollkomenheit kan entweder (in theoretischem Verstände) die bloße Vollständigkeit bedeuten, und da ist sie als dem Wesen eines jeden Dinges in Beziehung auf das Ding selbst eigne Vollkommenheit transcendental; als Vollständigkeit der entitaet oder realhaet aller Dinge Oberhaupt ist sie die metaphysische Vollkommenheit. Die erste ist die Vollkomenheit eines Dinges, die Zweyte eine Vollkommenheit, deren es viel giebt" Cf. hierzu: KrV, B 599ff. Cf. R 5753 (1785-89)

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Vernunft und Vernunfterkenntnis

-, daß Kant unter metaphysischer Vollkommenheit die Realität oder Sachheit (die wahrhaft positiven Prädikate) der Dinge versteht.44 Das ens realissimum oder transzendentale Ideal wäre dann vollkommen, weil es alle Realitäten oder metaphysischen Vollkommenheiten in sich vereinigt, mithin in jeder Hinsicht (schlechterdings) metaphysisch vollkommen ist, während alle anderen Dinge ihrem eingeschränkten Wesen nach allenfalls in einigen Hinsichten, nämlich nur insofern sie wahrhaft positive Bestimmungen aufweisen, metaphysisch vollkommen sein können.45 Die vorgeschlagene Erklärung hat den Vorteil, daß man von metaphysischer Vollkommenheit im Plural und im Hinblick auf viele Dinge sprechen und doch den besonderen Status des transzendentalen Ideals (als des vollkommensten unter allen Dingen) angemessen berücksichtigen kann.46 Schwerer wiegt vielleicht noch, daß sich Kant mit einer solchen Auffassung ohne Schwierigkeiten in eine lange Tradition der Identifikation von realitas und perfectio einfügen läßt, die von Descartes über Spinoza („per realitatem et perfectionem idem intelligo") und Leibniz bis zu Baumgarten und Meier reicht.47 Dabei ist der Umstand von besonderem Interesse, daß die für Kant in ihrem Einfluß unmittelbar bedeutsame Schulphilosophie (Baumgarten vor allem, weniger Meier) den Begriff der Vollkommenheit einmal über die Anzahl der positiven Prädikate, also quantitativ bestimmt, zum anderen über den Gegensatz zwischen den wahrhaft positiven und wahrhaft negativen Prädikaten, also qualitativ. Ein Ding ist danach einerseits umso vollkommener, je mehr positive Bestimmungen (Realitäten) es enthält, und es ist am vollkommensten, wenn es alle Realität enthält (quantitativer Aspekt). Als Vollkommenheiten gelten aber zugleich auch alle Bestimmungen, die an sich selbst positiv sind und ein Sein ausdrücken, im Unterschied zu allen Bestimmungen, die an sich selbst negativ sind und einen Mangel ausdrücken (qualitativer Aspekt). In diesem Sinne sind für Baumgarten und Meier Unwissenheit, Irrtum, Laster Beispiele von intrin-

44

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Cf. R 5752 (1780-89): „Vollkommenheiten in metaphysischem Verstande sind realilaeten"; R 3889 (1766-69): „Realitas in sensu substantive ist eine Vollkommenheit in metaphysischem Verstande." Ganz auf der Linie dieser Argumentation liegt die Bemerkung, die sich in der Metaphysik-Vorlesung Dohna-Wtindlacken findet: „Perfectio metaphysica absoluta wäre das ens realißimum positivum" (AA 28.2,1,635). Der Akzent liegt bei dieser Bestimmung auf „absolut". Cf. dazu auch eine Reflexion aus den Jahren 1788-90, in der Kant bemerkt, daß einige Worte im Singular eine andere Bedeutung haben als im Plural. Neben „Einheit" und „Wahrheit" gehört dazu auch „Vollkommenheit": cf. R 5663. Cf. hierzu: Maier (1968), 92 Arm

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sischen Unvollkominenheiten und Übeln, die an sich selbst und nicht nur relativ bestehen.48 Kant übernimmt beide Bestimmungen des Begriffs der (metaphysischen) Vollkommenheit aus der Schulphilosophie, und sie haben für ihn Relevanz bis in die KrV hinein, doch gibt er ihnen, wie sich zeigen wird, eine entscheidende und für seine Vernunfttheorie folgenreiche Akzentuierung, die mit seiner Auffassung von Realität und Negation zusammenhängt. Denn damit der Begriff der metaphysischen Vollkommenheit mit der Bestimmung der Idee als des Begriffs von dem vollkommensten Ding seiner Art in Verbindung gebracht werden kann, muß ihm noch in einem anderen als dem bislang diskutierten Sinn eine quantitative Bedeutung zukommen können. Die quantitative Interpretation des Begriffs der metaphysischen Vollkommenheit ist nicht auf das ens realissimum beschränkt, besteht also nicht nur in der Vollständigkeit aller diskreten Realitäten (dem bereits angedeuteten quantitativen Aspekt), sondern sie erstreckt sich auch auf jede einzelne Realität (den qualitativen Aspekt). Auch die einzelne Realität läßt sich nach Kant als Größe (als quantitas qualitatis) behandeln, auch im Hinblick auf sie läßt sich sinnvoll von einem Mehr oder Weniger, einem kleineren oder größeren Grad der Vollkommenheit sprechen. Im folgenden soll die These vertreten werden, daß ein Ding dann als das vollkommenste seiner Art und damit in der Idee gedacht wird, wenn begrifflich sichergestellt ist, daß die für die An konstitutiven Realitäten den höchsten Grad (das Maximum) an Realität aufweisen. In diesem Sinn kann dann allerdings gesagt werden, daß sich der Vernunftbegriff (die Idee) in seiner allgemeinsten Bedeutung auf den Begriff von einer metaphysischen Vollkommenheit bezieht.

C. Maximum der Realität a) Die quantitative Bestimmung der Qualität Es ist nun zu klären, wie eine einzelne Realität als Größe und wie sie in ihrer maximalen Größe (vollständig) gedacht werden kann. Wie also bestimmt Kant den Begriff der quantitas qualitatis? Das Material, das sich uns in seinen Reflexionen und Vorlesungen zur Metaphysik anbietet, zeigt vor allem, daß sich Kant in seiner Begriffsbestimmung 4»

Auf die Zusammenhänge zwischen beiden Auffassungen verweist Maier (1968), 86 und 99-101.

24

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eng an die Auffassungen der Schulphilosophie hält. Für Wolff wie für Baumgarten kann unter bestimmten Voraussetzungen jede Qualität zugleich als Quantität betrachtet und daher der allgemeine Begriff von einer quantitas qualitatis gebildet werden.49 Beide versuchen damit dem Sachverhalt gerecht zu werden, daß ein und dieselbe Qualität, auch wenn man sie als Einheit ansieht, immer noch im Hinblick auf etwas variieren kann, was sich in Begriffen von der Größe eines Grades beschreiben läßt. Qualitäten können sich, auch wenn sie von ein und derselben An sind und die gleiche (zeitlich oder räumlich bestimmte) Größe besitzen, durch den Grad ihrer Stärke oder Intensität voneinander unterscheiden. In diesem Sinn stellt Wolff fest: ,gradus est discrimen internum qualitatum earundem."50

Durch den Begriff der quantitas qualitatis als Grad ergibt sich nach Wolff die Möglichkeit, spezifisch gleiche Qualitäten im Hinblick auf die Größe ihrer Intensität zu messen und damit einer mathematischen Behandlung zu unterziehen.51 Auch Baumgarten definiert im § 246 seiner Metaphysica: „Quantitas qualitatis est gradus (quantitas virtutis)."

Und genau diesen Paragraphen versieht Kant in der Vorlesung zur Metaphysik Mrongovius mit einem aufschlußreichen Kommentar: „Die Größe, welche nicht unmittelbar als Größe angeschaut werden kann, wird geschätzt durch die Folge. Ich stelle sie mir vor wie qualitaet. Quantitas qualitatis ist Grad, ist definition des Autors, ganz recht, d.h. unmittelbar wird sie nicht vorgestellt als Quantitaet, aber mittelbar, nehmlich durch die Folge. Eben so kann man auch sagen: quantitas rationis (Grunds) ist Grad."52

Daß Kant Baumgartens Definition der quantitas qualitatis zustimmt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er in einem bestimmten Detail eine wesentlich radikalere Auffassung als Baumgarten vertritt. Baumgarten kann, weil für ihn 49 30 31

32

Cf. zur folgenden Darstellung insbesondere: Maier (1968), 106-109. Cf. Wolff: Ontologia, § 746. Dies ist jedoch für Wolffan eine wichtige Voraussetzung gebunden, auf die Anneliese Maier verweist: „Die Messbarkeit einer res setzt, nach den Ansichten der Schule, in allen Fallen voraus, dass in dem betreffenden Ding Teile unterschieden werden können, die das Ganze konstituieren. Wenn also die Qualitäten messbar sind, so müssen auch sie in einzelne Teile zerlegbar sein. Wir sollen uns darum die Grade gleichsam zusammengesetzt denken können aus kleineren Teilen, die allerdings nicht als Teile im eigentlichen Sinn, sondern als partes imaginariae anzusehen wären. Denn die einzelnen Teile existieren nicht im Ganzen selbständig ausser- und nebeneinander, wie die partes propriae sie dictae eines ausgedehnten Dings." (Maier (1968), 107). Cf. Metaphysik Mrongovius, AA 29.1,2,834.

Die Gewinnung der Idee

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jeder Grund zugleich als Qualität anzusehen ist, ohne Schwierigkeit auch von einer quantitas rationis sprechen und sie neben anderen Beispielen von quantitates qualitatis unter den ersten Prinzipien von der Wissenschaft der intensiven Größen aufrühren.53 Kant geht sehr viel weiter. Für ihn ist die quantitas rationis nicht bloß ein Beispiel für die allgemeinere quantitas qualitatis, sondern die quantitas qualitatis ist nichts anderes als die quantitas rationis. Eine Qualität läßt sich nach Kant nur dann als (intensive) Größe betrachten, wenn man sie zugleich als Grund betrachtet. In der Mitschrift der Metaphysik-Vorlesung des Grafen Dohna, die die Herausgeber auf das Wintersemester 1792/93 datieren, wird dieser Punkt in der Unterscheidung zwischen intensiver und extensiver Größe klar herausgestellt: „Die Größe eines quanti kann seyn die Größe einer Menge, denn heißt sie extensiv, oder die Größe der Einheit, und denn heißt sie intensiv. Die Größe des quanti als eines Aggregats betrachtet ist die extensive/ Die Größe eines quanti aber als eines Grundes ist die intensive, die Einheit; intensive Größe ist immer die Größe eines Dinges als eines Grundes."54

Gegenüber den Bestimmungen der Schulphilosophie bedeutet dies eine wichtige Verschärfung und zugleich eine Klärung. Während sich Wolff die Möglichkeit einer intensiven Größe von Qualitäten nur durch die fragwürdige Annahme von imaginären Teilen in ihnen erklären kann, ist Kant auf eine solche Erklärung nicht mehr angewiesen. Für ihn ergibt sich die Möglichkeit von unterschiedlichen Graden der Qualität allein aus der Größe der Folgen, die durch eine Qualität gesetzt werden, sofern diese zugleich als Grund bestimmt ist. Freilich, auch diese Bestimmung des Begriffs der intensiven Größe ist in einer Hinsicht noch ungenau. Wenn sich die Größe einer Realität (als absolute Einheit betrachtet) nur über die Größe ihrer Folgen messen läßt, dann stellt sich die Frage, worin diese besteht. Kants Antwort hält sich wiederum ganz an Baumgarten, der im § 166 seiner Metaphysica hinsichtlich der Größe eines Grundes zwischen seiner Fruchtbarkeit (fecunditas) und seiner Wichtigkeit (gravitas, dignitas, nobilitas) unterscheidet. Für die Fruchtbarkeit eines Grundes ist die Menge (die Zahl), für die Wichtigkeit offenbar erneut die Größe (die Wichtigkeit oder Fruchtbarkeit) der Folgen ausschlaggebend. Im einen Fall wird also die intensive Größe auf eine extensive zurückgeführt, im anderen Fall wiederum auf eine intensive. Der Unterschied zwischen extensiver 53 54

Cf. Baumgalten, Metaphysica, § 166. Cf. MetaphysikDohna-Wundlacken, AA 28.2,1,637.

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Vernunft und Vernunfterkenntnis

und intensiver Größe kann folglich nicht einfach darin bestehen, daß die extensive Größe die Größe einer Menge ist, die intensive dagegen die Größe einer Einheit. So richtig diese Formulierung ist, kann sie leicht Mißverständnissen ausgesetzt sein. Denn auch die intensive Größe ist für Kant letztlich die Größe einer Menge, die zudem als Menge auch aus Teilen besteht. Solche Mißverständnisse lassen sich vermeiden, wenn man den Unterschied zwischen extensiver und intensiver Größe auf folgende Weise angibt: „Die Quantitaet welche durch die Menge desjenigen so im Dinge enthalten ist, vorgestellt wird ist extensiv. Und die Quantitaet welche durch die Menge die durch das Ding gesetzt wird, vorgestellt wird, ist intensiv."55

Indem man einer Qualität eine intensive Größe zuschreibt, betrachtet man sie in jedem Fall sowohl als Einheit wie als Grund. Von Graden kann man nur im Hinblick auf die Vielheit der Folgen sprechen, die durch sie gesetzt werden. Es ist also nicht die Qualität selbst, die man sich aus (imaginären) Teilen zusammengesetzt denken muß. Aus Teilen zusammengesetzt ist vielmehr die Menge der Folgen, die sich aus der (einfachen) Qualität ergeben.56 Mit Hilfe des Begriffs der quantitas qualitatis läßt sich die Bestimmung des Begriffs der metaphysischen Vollkommenheit und damit des Begriffs des Vernunftbegriffs (oder der Idee) abschließen. Wenn sich dieser Begriff tatsächlich, wie zunächst vermutet, auf die Realitäten der Dinge (ihre Sachhaltigkeit) bezieht, dann muß sich auch angeben lassen, in welchem Sinn Realitäten in sich vollkommen und weniger vollkommen sein können. Genau das: die Angabe von Graden der Vollkommenheit oder Graden der Realität gelingt mit Hilfe des entwickelten Begriffs der quantitas qualitatis. Denn es läßt sich nunmehr sagen, daß eine Realität umso vollkommener ist, je größer sie ist, und daß sie umso größer ist, je größer sie als Grund ist. Metaphysisch vollkommen im absoluten Sinn ist eine Realität, wenn sie in ihrem höchsten Grad oder als größter Grund betrachtet werden kann. Da die Größe eines Grundes sich an der Größe der Folgen bemißt und diese letztlich als Menge zu beschreiben ist, ergibt es auch einen guten Sinn, eine Realität dann metaphysisch vollkommen zu nennen, wenn man sie im Hinblick auf die Menge ihrer Folgen als 35 36

Cf. Metaphysik Volckmann, AA 28. l, 424. Herv. P.K. Daraus folgt offenbar, daß sich jede intensive Größe zu guter Letzt auf eine extensive Größe reduzieren lassen muß. Kant selbst hat diese Schlußfolgerung in der Reflexion 5590 (1778-89) auch gezogen: „Alle intensive Größe muß zuletzt auf extensive gebracht werden." Cf. dazu auch: Böhme (1974), 252: „Das, was an sich keine Größe hat, kann also durch Größenbegriffe gedacht werden, indem man es auf extensive Größen projeziert, die sich damit in dieser Hinsicht als die ursprünglichen Größen erweisen."

Die Gewinnung der Idee

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vollständig ansehen kann.57 Berücksichtigt man ferner, daß Kant statt von einem höchsten Grad der Realität oder einem größten Grund häufig einfach von dem „Größten" oder dem „Maximum" spricht, könnte man die metaphysische Vollkommenheit auch kurz und bündig als das Maximum an Realität definieren, wobei sowohl an das Maximum aller Realitäten wie an das jeder einzelnen Realität zu denken ist.58 Diese Bestimmung des Begriffs der metaphysischen Vollkommenheit erweist sich als besonders fruchtbar für das Verständnis der eigentümlichen Erkenntnisleistung der Vernunft. Die Vernunft kann nach Kants Auffassung das Kleine, sei es nun der extensiven, sei es der intensiven Größe nach, aus bestimmten Gründen nur als etwas denken, das durch Begrenzung oder Einschränkung aus einem Größten (und nicht durch Zusammensetzung aus einem Kleinsten) hervorgeht. In einer Reflexion notierte sich Kant: „Das Kleine kann nur betrachtet werden als möglich und gegeben durch das Grösseste, entweder in ihm oder durch ihm. Denn erstlich: das Kleine giebt nur das Größere Vermittelst der Verbindung in demjenigen, was alles Verbunden in sich begreifen muß, d.i. in Raum und Zeit; und das Kleine kan nur zusammen existiren als eine Folge, nicht durch die Zusammensetzung der Gründe, sondern durch einen Größeren Grund, dessen Beschränkung (ideale) alles mögliche Kleinere Giebt. e.g. ein kleinerer Verstand doppelt genommen, giebt keinen doppelt größeren, sondern der Verstand heißt doppelt größer, in sofern er die Wirkungen von zwey anderen Verstanden leisten kan, ob er zwar daraus nicht kan zusammengesetzt werden. Das ist die Ursache, daß die Vernunft sich immer genothigt sieht, auf ein maximum und was omnitudinem begreift zu Gehen. Ebenso ist es mit dem Guten und der Vollkomenheit. Das höchste Gut kann nicht aus den kleineren zusammengesetzt vorgestellt werden."59

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38

59

Cf. dazu: Reflexion 5850 (1783-84): „Es giebt keinen Begrif der absoluten Größe, als wo das All durch den Begrif des Dinges schon bestirnt ist; nur die metaphysische Vollkommenheit ist absolute Größe." Der Begriff eines Maximums der Realität erhält seine quantitative Bedeutung nur über die Folgen, die durch die betreffende Realität gesetzt werden. Daß die Realität als Grund ihre maximale Größe erreicht, besagt, daß über die Anzahl der Folgen, die durch sie gesetzt sind, keine größere denkbar ist, daß wir es also mit der Allheit oder Totalität der Folgen zu tun haben. Hier wäre also der Anschluß zu suchen an die Bestimmungen der transzendentalen Ideen in der Transzendentalen Dialektik der KrV. Cf. R 662 (1769-70). Herv. Kant. Die Reflexion stammt aus der Zeit der Entstehung von Kants Dissertation. Dort heißt es im § 9: „In quolibet autem genere eorum, quorum quantitas est variabilis. Maximum est mensura communis et principium cognoscendi. Maximum perfectionis vocatur nunc temporis Ideale, Platoni Idea (quemadmodum ipsius idea reipublicae), et omnium, sub generali perfectionis alicuius notione contentorum, est principium, quatenus minores gradus non nisi limitando maximum determinari posse censentur..." (Aj 11/12). Kant hat an dieser Bestimmung der Idee stets festgehalten.

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Vernunft und Vemunfterkenntnis

Alle bestimmte Größe der Dinge geht also nach Kant, was Ausdehnung, Gestalt, Dauer und Zahl betrifft, durch Begrenzungen des Raumes und der Zeit hervor, was dagegen die Grade in einer Art betrifft, durch Einschränkungen der Realitäten, die als metaphysische Vollkommenheiten und als (einfache) Gründe gedacht werden. Da wir im Bereich der Erfahrung niemals auf Dinge treffen werden, die im metaphysischen Sinn vollkommen sind, liegt die besondere Erkenntnisleistung der Vernunft gerade darin, ausgehend von gegebenen Realitäten, jeweils dasjenige Maximum an Realität zu denken, von dem die Ausgangsrealitäten nur gleichsam schwache „Nachbilder" sind. Indem die Vernunft sich in Ansehung gegebener Dinge einer Art einen genau bestimmten Begriff vom Maximum der artspezifischen Realitäten bildet, ist sie Quelle eigener Begriffe, nämlich eben von Vernunftbegriffen oder Ideen.60 60

Die These, daß der Begriff der Idee sich auf Realitäten im Sinne von metaphysischen Vollkommenheiten bezieht und eine Idee somit nichts anderes als der Begriff von einem Maximum in der genauen Bedeutung ist, die dieser Begriff nunmehr i&r uns erlangt hat, findet ihre Bestätigung auch in aerKrV. Am deutlichsten kommt dies an einer Stelle zum Ausdruck, an der Kant ganz allgemein zum Begriff der Idee bemerkt: „Wenn man eine Idee nennt: so sagt man dem Objekte nach (...) sehr viel, dem Subjekte nach aber (...) eben darum sehr wenig, weil sie, als der Begriff eines Maximum, in concrete niemals kongruent kann gegeben werden." (B 384). Doch auch noch an anderen Stellen in der KrV gebraucht Kant den Begriff des Maximums im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Begriff der Idee. So wenn er zur Idee einer „Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen" die Erläuterung hinzufügt, daß „die Idee doch ganz richtig (ist), welche dieses Maximum zum Urbild aufstellt, um nach demselben die gesetzliche Verfassung der Menschen der möglich größten Vollkommenheit immer näher zu bringen", mag auch keine Gesetzgebung und Regierung jemals mit ihr ganz abereinstimmen. (B 373/374). Schließlich fallt der Begriff des Maximums auch im Anhang zur transzendentalen Dialektik, also in dem Teil der KrV, der sich mit dem legitimen, regulativen Gebrauch der Vernunft befaßt. Kant erklärt dort, daß die Vernunft, wenn man sie nur richtig versteht, die Einheit der Verstandeshandlungen zum eigentlichen Zweck hat. Diese Einheit aber bleibe ohne einen Begriff, der als Schema für die Verstandeshandlungen fungieren könnte, „in Ansehung der Bedingungen, unter denen, und des Grades, wie weit, der Verstand seine Begriffe systematisch verbinden soll, an sich selbst unbestimmt." (B 692/693). Schon daß von „Graden" der Verbindung die Rede ist, deutet daraufhin, daß Kant hier die Größe eines Grundes und deren genaue Bestimmung vor Augen hat. Die genau bestimmte Größe dieses Grundes aber erhält man, wenn man ihn in seinem Maximum denkt. Bei der maximalen Größe des Grundes bleibt der Grad der Verbindung aller Begriffe des Verstandes nicht mehr unbestimmt. Insofern kann das Maximum als Richtschnur und Maßstab für die Erkenntnistätigkeit des Verstandes dienen. In diesem Sinne fährt Kant fort: „Allein, obgleich für die durchgängige systematische Einheit aller Verstandesbegriffe kein Schema in der Anschauung ausfündig gemacht werden kann, so kann und muß doch ein Analogon eines solchen Schema gegeben werden, welches die Idee des Maximum der Abteilung und der Vereinigung in einem Prinzip ist. Denn das Größeste und Absolutvollständige läßt sich bestimmt gedenken, weil alle restringierenden Bedingungen, welche unbestimmte Mannigfaltigkeit geben, weggelassen werden." (B 692/693. Herv. Kant). Nun darf man sich nicht davon verwirren lassen, daß Kant auch im Hinblick auf die Einheit der Verstandeserkenntnisse und nicht nur im Hinblick auf die Realitäten der Dinge von einem Maximum spricht. Offenbar beweist die Vernunft auch im Hinblick auf die Verstandeserkenntnisse ihr eigentümliches Wesen darin, daß sie etwas zu denken versucht, das als einheitlicher Grund (in dem keine Teile unterschieden werden können) und in seiner größten Vollkommenheit betrachtet auf alle Verstandeserkenntnisse als Folgen bezogen werden kann. Die Rede von einem Maximum der Abteilung

Die Gewinnung der Idee

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b) Die Bestimmung eines Maximums der Realität und ihre Voraussetzungen Aus den bisherigen Überlegungen läßt sich der Schluß ziehen, daß sich die Einschränkung der Größe einer Realität nur über die Einschränkung ihrer Folgen denken läßt. Die Einschränkung der Menge der Folgen aber läßt sich auf zweierlei Weise erklären. Sie kann zum einen dadurch erklärt werden, daß man das Nichtgesetztsein von Folgen auf das Nichtgesetztsein eines Grundes zurückführt. Daß nicht mehr Folgen als die gegebene Menge von Folgen gesetzt sind, beruht somit auf dem Mangel eines Grundes: es sind nicht mehr Folgen als die gegebenen gesetzt, weil es keinen Grund gibt, mehr zu setzen. Schon an dieser Formulierung zeigt sich jedoch, daß es sich bei dieser Art der Größenbestimmung um eine Größenbestimmung durch Zusammensetzung handeln muß. Daß die Menge der Folgen nicht größer als die gegebene ist, weil es keinen Grund gibt, mehr Folgen zu setzen, heißt nichts anderes, als den Grund für jede Größenbestimmung von Realitäten letztlich in die Willkür des erkennenden Subjekts zu legen. Sowenig wie man bei dieser Art der Erklärung eine Antwort auf die Frage erhalten kann, warum nicht mehr Folgen gesetzt sind, sowenig erhält man auch einen genau bestimmten Begriff von der uneingeschränkten Größe aller Folgen einer Realität. Zum anderen kann die Einschränkung der Menge der Folgen einer Realität durch die Annahme einer spezifisch entgegengesetzten, einschränkenden Realität erklärt werden. Wenn Realitäten untereinander in einem Verhältnis wechselseitiger Einschränkung stehen, dann lassen sich in der Tat Bedingungen angeben, von denen die Größe und schließlich auch das Maximum ihrer jeweiligen Realität abhängen. An diesen Fall denkt Kant offensichtlich, wenn er davon spricht, daß wahrhafte Maximalbestimmungen nur da möglich sind, wo das Größeste „auf bestimmte Verhältnisse ankommt".61 Diese Verhältnisse charakterisiert er an der betreffenden Stelle genauer als solche Verhältnisse, die „die mancherlei Realitäten der Dinge gegen einander haben können, um

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und Vereinigung aller Verstandeserkenntnisse in einem Prinzip verbindet so genaugenommen die Vorstellung von einem Maximum des (einen) Prinzips als intensiver Größe mit der von einem Maximum aller Folgen dieses Prinzips als extensiver Größe. Freilich wäre im Einzelnen zu klären, worin das Prinzip besteht, auf das die Vernunft in ihrer Idee alle Verstandeshandlungen bezieht. Es würde sich dann herausstellen, daß die Vernunft sich auch darin auf etwas Reales bezieht (nämlich auf Gott als das allerrealste Wesen). Doch für unsere Aufgabe genügt es, wenn wir deutlich gemacht haben, daß die Idee auch dort, wo Kant die Vernunft in ihrem legitimen regulativen Gebrauch zu charakterisieren versucht, in Verbindung mit dem Begriff des Maximums gebracht wird Cf. hierzu: R 6596 (1764-68).

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Vernunft und Vemunfterkeimtnis

die Größe zu vermindern oder zu vermehren". Kant ist der Auffassung, daß Realitäten untereinander in einer funktionalen Abhängigkeit stehen können, die es erlaubt, die Größe einer Realität in Termini der Größe einer anderen Realität zu beschreiben. Auch hierbei ist natürlich ein Moment der Kontingenz insofern vorhanden, als die ganze Mannigfaltigkeit der Größenvariation einer Realität auf die Mannigfaltigkeit der Größenvariation der einschränkenden Realität(en) reduziert wird, für die selbst kein weiterer Grund angegeben werden kann. Aber dies ist gerade nicht entscheidend. Bei der Bestimmung der maximalen Größe einer Realität geht es um einen einzigen absoluten Wert, und dieser kann dadurch genau bestimmt werden, daß man die einschränkende^) Realität(en) = 0 setzt. Denn kann man von der Bestimmung A eines Dinges sagen, daß sie durch eine andere Bestimmung B des Dinges und nur durch diese in ihrer Größe eingeschränkt wird, dann erhält man die uneingeschränkte Größe oder das Maximum der Bestimmung A, wenn man die Bestimmung B (in Gedanken) wegläßt oder aufhebt.62 Der Grund hierfür liegt in einer auf den ersten Blick nur schwer zu durchschauenden metaphysischen Voraussetzung. Kant unterstellt nämlich, daß sich alle Realitäten in der ganzen Größe ihres Daseins zeigten, wenn alle Bedingungen wegfielen, die sie einschränken. Das besagt, daß jede Realität, an sich und isoliert betrachtet, vollständiges Dasein besitzt und als solche aller eingeschränkten Realität zugrundeliegt. Man gelangt daher von der uneingeschränkten Realität (dem vollen Sein) zur Mannigfaltigkeit der in ihrem Sein verminderten Realität, indem man Bedingungen hinzufügt, die die ursprüngliche Realität einschränken. Umgekehrt kann man von der eingeschränkten Realität zur ursprünglichen uneingeschränkten gelangen, wenn man diese Bedingungen aufhebt. Dies meint Kant offensichtlich, wenn er in der KrV bemerkt, daß sich das Größeste und Absolutvollständige bestimmt gedenken läßt, „weil alle restringierende Bedingungen, welche unbestimmte Mannigfaltigkeit geben, weggelassen werden".63 Erfolgt das Aufheben der einschränkenden Bedingungen nur in Gedanken, ist auch der Begriff, oder wie man jetzt genauer sagen kann: die Idee der uneingeschränkten Realität kein Begriff von etwas, das als solches (in der Erfahrung) gegeben werden könnte.

62

Genauer müßte man die gegenseitige Abhängigkeit der Bestimmungen A und B so angeben, daß sich die Veränderungen ihrer Größe umgekehrt proportional verhalten: je größer die Bestimmung A, umso kleiner die Bestimmung B und umgekehrt Läßt man nun eine Bestimmung gegen Null gehen, nähert sich die andere ihrem maximalen Wert. «3 Cf.A>K,B693.

Die Gewinnung der Idee

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Daß sich Realitäten gegenseitig einschränken und insofern Grund eines Mangels an Realität und damit einer Negation sein können, hat Kant frühzeitig bemerkt und auch zum Gegenstand einer eigenen Abhandlung gemacht. Wenn es einer Theorie der Realität(en) bedarf, die die Begriffe an die Hand gibt, mit der sich die Einschränkung von Realität fassen läßt, dann steht Kant eine solche Theorie mit seinem 1763 veröffentlichten Versuch, den Begriff der negativen Größe in die Philosophie einzußihren64 und der darin vorgetragenen Lehre von der Realopposition zur Verfügung. In seiner Abhandlung unterscheidet Kant zwischen zwei Arten der Entgegensetzung (Opposition). Dem allgemeinsten Begriff nach liegt eine Entgegensetzung dann vor, wenn „eines dasjenige aufhebt, was durch das andre gesetzt ist". Eine solche Entgegensetzung kann jedoch „entweder logisch durch den Widerspruch, oder real, d. i. ohne Widerspruch" sein.65 Um eine logische Entgegensetzung handelt es sich, wenn „von eben demselben Dinge etwas zugleich bejahet und verneinet wird". Die Aufhebung der einen Bestimmung durch die andere geschieht nach dem Satz vom Widerspruch.66 Dieser bezieht sich lediglich auf Begriffe und deren Verknüpfung im Urteil und besagt, daß keinem Ding ein Prädikat zukommt, welches ihm widerspricht.67 So kann von einem Körper, der sich in Ruhe befindet, nicht ohne Widerspruch behauptet werden, daß er in Bewegung ist. „Es läßt sich denken, daß eine gewisse Bewegung nicht sei, daß sie aber zugleich sei und nicht sei, läßt sich gar nicht denken."68

Die Folge der logischen Verknüpfung zweier kontradiktorischer Bestimmungen ist „gar nichts", das nihil negativum - ein irrepraesentabile, ein Unding. Um eine reale Entgegensetzung handelt es sich dagegen immer dann, wenn „zwei Prädikate eines Dinges entgegengesetzt sein, aber nicht durch den Satz des Widerspruchs."69 Charakteristisch für die reale Entgegensetzung ist also, daß zwei Bestimmungen in einem Ding zugleich gesetzt sind, ihr Ge64

45 66 67 68 69

Die Schrift ist für die Entwicklung von Kants Denken von besonderer Bedeutung. So bemerkt Wolff (1981): „Die Einfuhrung des mathematischen Negativitätsbegriffs in die Wehweisheit bereits durch den vorkritischen Kant (1763) ist für Kants spätere Philosophie sowie für die nachkantische Dialektik (insbesondere Hegels und des dialektischen Materialismus) von großer (aber bisher nur wenig beachteter) Bedeutung geblieben." Zur Bedeutung des Konzepts der Realopposition für Kants Entwicklung auch: Tasche (1981). Cf. Negative Großen, A 3. Daher bezeichnet Kant diese Art der Entgegensetzung oft auch als kontradiktorische. So die Formulierung Kants für den Satz des Widerspruchs in tetKrV, B 190. Cf. Negative Größen, A 6. Cf. Negative Größen, A3/'4.

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setztsein ohne logischen Widerspruch in einem Urteil behauptet werden kann (sie also beide bejahend sind) und es gleichwohl zu einer Aufhebung der durch die eine oder andere Bestimmung gesetzten Folgen kommt. Genauer bindet Kant die Realopposition70 an zwei Kriterien, die sich durch Umkehrung auseinander ergeben: (1) „Die Realrepugnanz findet nur statt, in so ferne zwei Dinge als positive Gründe eins die Folge des ändern aufhebt"71; (2) „Allenthalben, wo ein positiver Grund ist und die Folge ist gleichwohl Zero, da ist eine Realentgegensetzung, d.i. dieser Grund ist mit einem ändern positiven Grunde in Verknüpfung, welcher die Negative des ersteren ist."72

Anders als bei der logischen Verknüpfung zweier kontradiktorischer Bestimmungen ist die Folge bei der realen Verknüpfung zweier konträrer Bestimmungen durchaus etwas - ein cogitabile, ein repraesentabile. Um dies zu verdeutlichen, verweist Kant auf das Beispiel eines beweglichen Körpers, an den gleichstarke bewegende Kräfte in entgegengesetzter Richtung angreifen.73 Beide Kräfte widersprechen einander logisch gesehen nicht und können in einem Urteil „als Prädikate" von dem Körper ohne Widerspruch ausgesagt werden. Doch die Folge des Wirkens der Kräfte besteht darin, daß sich der Körper weder in die eine noch in die andere Richtung bewegt, also in der Ruhelage verharrt, und diese Ruhe des Körpers ist durchaus etwas im Sinne eines cogitabile.74 Dennoch liegt offenbar eine Entgegensetzung vor, denn durch die eine Bestimmung (die eine der beiden Kräfte) wird etwas aufgehoben, was durch die andere Bestimmung (die andere Kraft) gesetzt wird. Insofern ist auch das 70 71 72

73

74

Kant spricht statt von Realopposition gelegentlich auch von Realrepugnanz und in terminologischer Abgrenzung zum Widerspruch vom Widerspiel. Cf. z.B.: Metaphysik Schon, AA 28.1, 502. Cf. Negative Größen, A 13. Cf. Negative Größen, A 16. Für die erste Regel (die „Grundregel") gibt Kant einen „Beweis" in vier Schritten. Davon ist besonders wichtig der erste, der festlegt, daß die einander widerstreitenden Bestimmungen „in eben demselben Subjekte" angetroffen werden müssen (cf. A 13). Durch diesen Zusatz ist die reale von der „potentiellen Entgegensetzung" abgegrenzt. Daß Kant das Beispiel eines Schiffes wählt, das von Portugal nach Brasilien segelt, hat eine genaue Pointe. Gerade durch den Vergleich mit einem Schiff versucht Leibniz in der Theodizee (§ 30) die ursprüngliche Beschränktheit der geschöpften Wesen zu veranschaulichen: „Vergleichen wir jetzt die Kraft, die der Strom auf die Schiffe ausübt und ihnen mitteilt, mit der Tätigkeit Gottes, die alles Positive in den Kreaturen erzeugt und erhält und ihnen Vollkommenheit, Existenz und Kraft gibt, vergleichen wir, sage ich, die Trägheit der Materie mit der natürlichen Unvollkommenheit der Kreaturen, und das langsame Fahren des beladenen Schiffes mit dem Mangel, den wir in den Beschaffenheiten und der Tätigkeit der Kreaturen antreffen, so werden wir finden, daß es kaum etwas Treffenderes gibt als diesen Vergleich." Der Vergleich mit einem Schiff wird von Kant aufgegriffen, aber für eine grundsätzlich andere Deutung der Eingeschränktheit und Realität der Dinge verwendet. Cf. Negative Größen, A 4.

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Etwas, das sich als Folge der Verknüpfung beider Bestimmungen in demselben Subjekt ergibt, - die Ruhe des Körpers -, ein Nichts, „aber in einem ändern Verstande wie beim Widerspruch (nihil privativum, repraesentabile)."75 Dieses Nichts, so Kant, werde er „künftighin" Zero = 0 nennen, und fügt zur Erläuterung hinzu, daß „dessen Bedeutung mit der von einer Verneinung (negatio), Mangel, Abwesenheit, die sonsten bei Weltweisen im Gebrauch sind, einerlei" ist.16 Reale und logische Entgegensetzung unterscheiden sich also darin, daß die Prädikate A und B im Falle der realen Entgegensetzung beide bejahend (aber konträr) sind und ihre Verknüpfung in einem Ding zur Folge etwas (im Sinne eines denkbaren Mangels) hat, während sie im Falle der logischen Entgegensetzung bejahend und verneinend (kontradiktorisch) sind und ihre Verknüpfung zur Folge gar nichts (im Sinne eines undenkbaren Dings, eines Undings) hat. Der Unterschied zwischen beiden Arten der Entgegensetzung reicht jedoch noch tiefer. Gerade Weil die Folge der logischen Entgegensetzung ein nihil negativum im Sinne eines irrepraesentabile ist, ist diese Art der Entgegensetzung jederzeit eine totale. Wenn man von einem in Bewegung befindlichen Körper behauptet, er sei nicht in Bewegung, dann spielt es keine Rolle, wie groß die Bewegung ist, die man ihm einerseits zu, andererseits abspricht. Das Negationszeichen bezieht sich nicht auf die Größe der Realität, sondern auf die Realität als solche, und wenn die Realität verneint wird, wird auch die (ganze) Größe verneint. Bei der realen Entgegensetzung hingegen ist die Folge ein nihil privativum im Sinne eines repraesentabile. Und in ihrem Fall ergibt es zweifellos einen Sinn, nicht nur von einer totalen, sondern auch von einer partiellen Entgegensetzung zu sprechen. Ein Körper, auf den zwei entgegengesetzte, aber gleichstarke Kräfte wirken, bewegt sich gar nicht. Ein Körper dagegen, auf den zwei entgegengesetzte, aber verschieden starke Kräfte wirken, bewegt sich durchaus, und zwar mit einer Geschwindigkeit (und gegebenenfalls auch in einer Richtung), die sich von der unterscheidet, die er hätte, wenn nur eine der beiden Kräfte wirksam wäre. Man kann den Unterschied zwischen beiden Oppositionsformen insofern auch dadurch kenntlich machen, daß man die logische als qualitative, die reale als quantitative Opposition bezeichnet.77 73

76 77

Cf. ibd. Cf. ibd. Kant verweist auf eine „nähere Bestimmung" der Negation. Cf. z.B. R 5815 (1783-84): „ ... Realitas, negatio, limitation eine jede negatio ist entweder blos limitatio, d.i. oppositum der quantitaet, oder negatio repugnantiae und ein oppositum der qualitaet. Was von einem quanto gilt, gilt auch von dem limite quanti; denn die qualitaet bleibt" Cf. auch: R

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Kant bezog sich in seinem Versuch auch auf eine Debatte, die zu Anfang des 18. Jahrhunderts in der Mathematik aufgekommen war und bald die wichtigsten Mathematiker zu kontroversen Stellungnahmen veranlaßt hatte. Im Kern drehte es sich bei dieser Auseinandersetzung um die Frage, auf welche Weise das Minuszeichen in der Mathematik gedeutet werden sollte, ob als Bezeichnung einer rein relationalen oder aber einer intrinsischen Eigenschaft von Größen. In dem Streit schlug sich Kant auf die Seite derer, die die Bezeichnung der negativen Größen rein relational interpretiert wissen wollten. Die Benennung der negativen Größen durch das Minuszeichen, so schreibt er, zeige nicht „eine besondere An der Dinge ihrer inneren Beschaffenheit nach" an, sondern „dieses Gegenverhältnis", „mit gewissen ändern Dingen, die durch + bezeichnet werden, in einer Entgegensetzung zusammen genommen zu werden".78 Die Schlußfolgerung, daß „man also eigentlich keine Größe schlechthin negativ nennen kann"79, war insbesondere gegen Christian Wolff gerichtet, der im § 18 seiner Elementa analyseos mathematicae (Halle 1717) negative Größen als das „Nichtvorhandensein der wahren Größen, durch welche sie verstanden werden", definiert hatte und für den sie aus diesem Grund „keine wahren Größen" waren: „sunt ideo quantitates privativae verarum, per quas intelliguntur, defectus; consequenternonquantitates verae."80

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß Kant seinen Vorschlag, den Begriff der negativen Größe in der Philosophie zu verwenden, mit der warnenden Vorbemerkung versieht, daß damit nicht „negative Dinge" gemeint sein sollen.81 Ein Ding (genauer: die Bestimmung eines Dings) besitzt somit nur im Verhältnis zu einem anderen Ding (einer anderen Bestimmung) eine negative Größe, nicht aber an sich selbst und unabhängig von diesem Verhältnis. In

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81

5831 (1783-84): „Das oppositum kan qualitative oder quantitative oppositum seyn. Das erste ist der Wiederspruch, das zweyte quantum = 0 oder Einschränkung". Cf. auch: R 5816 (1783-84) und R 5817 (1783-84). Cf. Negative Größen, A 10. Cf. Negative Größen, A 9. Um es deutlicher zu sagen: für Kant sind die negativen Größen ebenso wahre Größen wie die positiven. Cf. zu diesem Thema besonders: Cantor (1880), III, 503; Tropfke (1902), I, 167. Beide Autoren berichten, daß in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Diskussion, an der sich u.a. Leibniz, Newton, d'Alembert, MacLaurin, Rolle und Euler beteiligten, über die Frage stattfand, ob die negativen Zahlen kleiner als Null seien, - was vielen Zeitgenossen als ein Widerspruch oder Paradox erschien, wurde es doch interpretiert als etwas, das weniger als nichts ist. Cf. Negative Größen, A l l : „Da nun diese ganze Benennung jederzeit nur das Verhältnis gewisser Dinge gegen einander anzeigt, ohne welches dieser Begriff sogleich aufhört, so würde es ungereimt sein, darum eine besondere Art von Dingen sich zu gedenken, und sie negative Dinge zu nennen".

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3S

diesem Sinn ist etwa das Fallen vom Steigen nicht so unterschieden wie non a von a, sondern es ist eben so positiv wie das Steigen und enthält „nur mit ihm in Verbindung allererst den Grund von einer Verneinung".82 Es ist deutlich zu erkennen, daß hinter Kants Versuch, den Begriff der negativen Größe von der Mathematik auf die Philosophie zu übertragen, das Verlangen steht, eine neue Deutung der Begriffe der Realität und der Negation zu geben, die es erlaubt, das eingeschränkte Sein der Dinge ohne die Zuhilfenahme metaphysischer und essentieller Unvollkommenheiten aus der funktionalen Beziehung von Realitäten allein zu interpretieren. Mit dem Begriff der negativen Größe verschafft sich Kant die Möglichkeit zu erklären, wie Realitäten dadurch, daß sie in eine Verbindung treten, sich gegenseitig einschränken und insofern den „Grund von einer Verneinung" enthalten können. Von entscheidender Bedeutung ist nun, daß sich das Konzept der realen Entgegensetzung, das Kant in der Schrift über die Einführung der negativen Größen entwickelt, nahtlos in die Theorie von der quantitas qualitatis und unsere Interpretation des Kantischen Ideenbegriffs einfügt. Der Begriff der negativen Größe in dem Sinn, in dem Kant ihn in die Philosophie einführen möchte, macht verständlich, wie die Größe einer Realität, die quantitas qualitatis, vermindert werden kann. Und auch die Konsequenz daraus erscheint unmittelbar einleuchtend: Um den maximalen Wert der Größe einer Realität A zu erhalten, bedarf es der Eliminierung aller Realitäten, die sich in der Verknüpfung mit A in negative Größen verwandeln. Für den Begriff der Idee, verstanden als Begriff von einem Maximum an artspezifischer Realität, und die methodisch kontrollierbare Bildung von solchen Maximalwerten bekommt der Gedanke der Realopposition damit ein herausragendes Gewicht. Denn um zu der Idee von einem Ding zu gelangen, muß man über einen bestimmten Begriff von diesem Ding das Ding so denken, daß dabei alle Realitäten weggelassen werden, die zu den für die Art des Dings konsumtiven Realitäten in Realopposition stehen und damit im Hinblick auf diese einen limitativen Charakter haben könnten. Damit fällt ein neues Licht auf Kants Bemühungen, seine Frühschrift und die darin vorgetragenen Sätze und Schlußfolgerungen wegen ihrer „äußersten Wichtigkeit" für zukünftige metaphysische Untersuchungen zu empfehlen.83 Wichtig werden sie vor allem für Kants Theorie der metaphy82 83

Cf. Negative Größen, A 12. Cf. Negative Größen, A 39,47, e.a. - eine Empfehlung, die offenbar weitgehend ungehört verhallte, wenn man einmal von Mendelssohns Anmerkungen zur zweiten Auflage seiner Philosophischen Schriften absieht, auf die schon Marcus Herz hingewiesen hat. Eine wirkliche Einsicht in die metaphysische Brisanz von Kants Schrift bewies aber auch Mendelssohn nicht 1784, in einer Arit-

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Vernunft und Vemunfterkenntnis

sischen Erkenntnis als einer auf Begriffe des Uneingeschränkten zurückgehenden (Vernunft-) Erkenntnis des Eingeschränkten.84

c) Bedingungen der Realopposition Allerdings beendete Kant seinen Essay von 1763 mit dem Eingeständnis, daß seine „mangelhafte Einsicht" eine „Lücke" habe übriglassen müssen.85 Worin diese Lücke bestand und vor allem wie sie zu schließen war, sollte Kant erst viel später seinen Zeitgenossen mitteilen, ohne dabei allerdings den Bezug zur frühen Schrift explizit herzustellen.86 Tatsächlich sah sich Kant bei der Annahme der Realopposition mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß Realitäten einerseits (logisch) betrachtet einander nicht widerstreiten können, daß anwort auf eine Frage von Johann Christoph Schwab, schrieb er in der Berlinischen Monatsschrift: das metaphysische Übel in der Schöpfung „ist bloß etwas Verneinendes, etwas Nichtseiendes, das blos eine Nichtursache haben kann." (JuA 6,1,94). 84 Doch auch die Beispiele, an denen Kant den Nutzen und die Fruchtbarkeit des Gedankens der Realopposition zu demonstrieren versucht, lassen bereits ahnen, gerade weil sie aus allen Bereichen der „Weltweisheit" entnommen sind, welche Bedeutung dieses Konzept für Kant besaß und welche Schlüsselrolle es bei der Entstehung der kritischen Philosophie zu spielen berufen war. Zudem genügt schon eine oberflächliche Betrachtung der Beispiele, um des Umstands gewahr zu werden, daß Kant bis in seine spätesten Schriften hinein und gelegentlich sogar, indem er solches ausdrücklich markiert, mit dem Begriff der Realopposition gearbeitet hat. So bezeichnet Kant in seiner frühen Schrift die „Untugend" als eine „negative Tugend", die über die bloße Verneinung hinausgeht, und merkt dazu an: „Denn Untugend kann nur Statt finden, in so ferne als in einem Wesen ein inneres Gesetz ist (...), welchem entgegengehandelt wird. Dieses innere Gesetz ist ein positiver Grund einer guten Handlung, und die Folge kann bloß darum Zero sein, weil diejenige, welche aus dem Bewußtsein des Gesetzes allein fließen würde, aufgehoben wird." (Negative Größen, A 26/27). Nicht viel anders äußert er sich fast 30 Jahre später in der Einleitung zur Tugendlehre der MS: „Der Tugend = + a ist die negative Untugend (moralische Schwäche) = 0 als logisches Gegenteil (contradictorie oppositum), das Laster aber = - a als Widerspiel (contrarie s. realiter oppositum) entgegengesetzt ..." (MS/TL, A 10). Nichts könnte besser die Kontinuität des Konzepts der Realopposition in Kants Denken belegen als die Tatsache, daß Kant bis zur MS daran festhält, daß Tugend und Laster in Realopposition zueinander stehen. 83 Cf. Negative Größen, A 67. 86 Mit der Frage, worin diese Lücke besteht, beschäftigt sich besonders Anneliese Maier, die in einer Fußnote ihrer Arbeit zu Kants Qualitätskategorie einen gewichtigen Einwand gegen die frühe Fassung der Realopposition erhebt, von dem sie unterstellt, daß er auch Kant bewußt gewesen sein mußte. Maier behauptet, daß Kant in seiner Schrift offengelassen habe, wie sich die Annahme der Realrepugnanz zwischen zwei Realitäten „mit dem Satz verträgt, dass zwischen wahren Realitäten kein Gegensatz möglich sei", und fährt dann fort: „Realitäten und Realitäten widersprechen einander niemals, weil beide wahre Bejahungen sind, sie heben einander aber eigentlich auch nicht auf. Folglich ist nach diesem Satz -... - auch keine Realpugnanz möglich: denn aus Realitäten folgen immer nur Realitäten, ein 'realer Widerstreit', der darin besteht, dass zwei Realitäten als positive Gründe gegenseitig ihre Folgen vernichten, bedeutet also doch nichts anderes als das Aufheben einer 'Realität' durch eine andere. Und eben das soll ausgeschlossen sein." (Maier (1968), 100). Zur ' Kritik an Kants dynanüstischem Verständnis der Realopposition auch: Wolff (1981), 71-77.

Die Gewinnung der Idee

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dererseits aber ein Widerstreit zwischen ihnen, wie zahlreiche Beispiele zeigen, in der Wirklichkeit stattfinden kann.87 Die Schwäche seiner frühen Schrift bestand darin, daß sie keine Theorie der Bedingungen entwickelte, unter denen in der Verknüpfung zweier Realitäten sich das Verhältnis beider in ein Gegenverhältnis verkehrt. In der KrV hat sich dagegen Kants Standpunkt hinsichtlich der Frage, wie ein wechselseitiger Abbruch von Realitäten möglich ist, auch im Hinblick auf die Bedingungen, unter denen ein solcher Abbruch stattfinden kann, geklärt. Nach wie vor besteht der Kerngedanke dieses Oppositionskonzepts darin, daß sich zwei Realitäten, die zugleich als Gründe betrachtet werden, in ihren Folgen einschränken und insofern in einen Gegensatz treten können, der nicht logischer Art ist. Im Kapitel über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe, in dem Kant diesen Standpunkt entwickelt, zielt seine Kritik auf den von Leibniz aufgestellten Grundsatz, demzufolge „Realitäten (als bloße Bejahungen) einander niemals logisch widerstreiten". Dieser Satz ist nach Kant zwar wahr, wenn man ihn lediglich auf die „Verhältnisse der Begriffe" bezieht, doch bedeutet er weder etwas in Ansehung der Natur, noch überall in Ansehung irgend eines Dinges an sich selbst. „Denn der reale Widerstreit findet allerwärts statt, wo A - B = 0 ist, d.i. wo eine Realität mit der ändern, in einem Subjekt verbunden, eine die Wirkung der ändern aufhebt, welches alle Hindemisse und Gegenwirkungen in der Natur unaufhörlich vor Augen legen, die gleichwohl, da sie auf Kräften beruhen, realitas phaenomenon genannt werden müssen."88

Im Unterschied zur frühen Schrift über die Negativen Größen geht Kant in der KrV auf die Bedingungen ein, unter denen ein realer Widerstreit zwischen Realitäten auftreten kann: „Die allgemeine Mechanik kann sogar die empirische Bedingung dieses Widerstreits in einer Regel a priori angeben, indem sie auf die Entgegensetzung der Richtungen sieht: eine Bedingung, von welcher der transzendentale Begriff der Realität gar nichts weiß."89

Im Anschluß weist Kant noch einmal darauf hin, daß die Anhänger von Leibniz1 Grundsatz zwar den Begriff des Widerspruchs kennen,

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Daß neben der logischen Opposition noch eine andere Oppositionsform angenommen werden muß, wird auch bei gewissen dreigliedrigen Einteilungen unterstellt, die allgemein geläufig sind, wie etwa bei der in Wissen, Unwissenheit und Irrtum, wo Unwissenheit und Irrtum nach Kant auf je spezifische Weise dem Wissen entgegengesetzt werden (nämlich Unwissenheit logisch, Irrtum real). Cf KrV, B 328/329. Cf. KrV, B 329.

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Vernunft und Vernunfterkenntnis

,glicht aber den des wechselseitigen Abbruchs .... da ein Realgrund die Wirkung des ändern aufhebt, und dazu wir nur in der Sinnlichkeit die Bedingungen antreffen, uns einen solchen vorzustellen."90

Allgemein gesprochen müssen die Bedingungen, unter denen eine Opposition zwischen zwei Realitäten vorgestellt werden kann, so beschaffen sein, daß ihnen zum einen die Realitäten (oder zumindest ihre Folgen) unterworfen sein können und daß zum anderen diesen Realitäten (und ihren Folgen) dadurch keine Bestimmungen zukommen, die logischer (begrifflicher) Art wären (denn sonst wäre die Opposition zwischen ihnen eine logische und keine reale). Weil die Formen der Anschauung Raum und Zeit genau diese Eigenschaften erfüllen, enthalten sie, wie Kant in der Amphibolic der Reflexionsbegriffe hervorhebt, die Bedingung der Möglichkeit von Realopposition91, und zwar dadurch, daß der Raum (und in Analogie dazu auch die Form der inneren Anschauung92) in sich die Möglichkeit entgegenstehender Richtungen enthält.93 Damit scheint eine Realopposition nur noch zwischen Realitäten stattfinden zu können, die in Raum und Zeit angetroffen werden. Zwischen noumenalen Realitäten einerseits, zwischen noumenalen und phänomenalen Realitäten andererseits wäre eine Realopposition ausgeschlossen. Indessen zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß diese Schlußfolgerung nicht zwingend ist. Der Grund, warum man sich zwischen realitates noumena keinen Widerstreit vorstellen kann, ist, daß man sich diese Realitäten nur durch den Verstand (durch Begriffe) vorstellt und daher nicht weiß, ob die Begriffe, die man von ihnen hat, sich auf etwas oder nichts beziehen. Kant be-

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Cf.A>F,B330. Noch deutlicher äußert sich Kant in der Vorlesung Schön, AA 28.1, 502/503: „Es ist meistens schwer zu begreifen, wie Realitäten einander entgegengesetzt seyn können. Aus dem Begriff der Realität läßt sich dies gar nicht einsehen. Eben so unbegreiflich ist es wie durch Negation eine Realität entstehen könne. Alle diese Schwierigkeiten fallen weg, wenn ich mir diese Realität nur als Phaenomene in Raum und Zeit denke. Der Raum und die Zeit enthalten die Bedingungen der Möglichkeit einer Real Opposition." Zur Behauptung, daß die Form der inneren Anschauung nach der Analogie zur Form der äußeren Anschauung die Möglichkeit entgegengesetzter Richtungen und damit die Bedingungen für eine Realopposition enthalten: Fortschritte, A 72/73. Dies geht auch aus einer anderen Stelle des Amphibolie-Kapitels hervor. Zu den Reflexionsbegriffen von „Einstimmung" und „Widerstreit" schreibt Kant: „Wenn Realität nur durch den reinen Verstand vorgestellt wird (realitas noumenon), so läßt sich zwischen den Realitäten kein Widerstreit denken, d.i. ein solches Verhältnis, da sie in einem Subjekt verbunden einander ihre Folgen aufheben, und 3-3=0 sei. Dagegen kann das Reale in der Erscheinung (realitas phaenomenon) unter einander allerdings im Widerstreit sein, und, vereint in demselben Subjekt eines die Folge des ändern ganz oder zum Teil vernichten, wie zwei bewegende Kräfte in derselben geraden Linie, so fern sie einen Punkt in entgegengesetzter Richtung entweder ziehen, oder drücken, oder auch ein Vergnügen, was dem Schmerze die Waage hält." (KrV, B 320/321. Herv. Kant).

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hauptet also nicht, daß zwischen realitates noumena eine Realopposition prinzipiell ausgeschlossen wäre, sondern daß keine Möglichkeit besteht, solange solche noumenalen Realitäten nicht (in der Anschauung) gegeben sind, sich eine Realopposition zwischen ihnen vorzustellen. Das zumindest läßt sich aus einer Anmerkung zum Amphibolie-Kapitel entnehmen, in der sich Kant gerade mit dieser Frage beschäftigt: „Wollte man sich hier der gewöhnlichen Ausflucht bedienen: daß wenigstens realitates noumena einander nicht entgegen wirken können: so müßte man doch ein Beispiel von dergleichen reiner und sinnenfreier Realität anführen, damit man verstände, ob eine solche überhaupt etwas oder gar nichts vorstelle."94

Für Kant ist die Frage, ob noumenale Realitäten einander real entgegengesetzt sein können, also weder strikt zu bejahen noch strikt zu verneinen, weil uns derartige Realitäten nicht gegeben sind. Das gilt jedoch nicht hinsichtlich der anderen Frage, ob noumenale und phänomenale Realitäten in einem realen Widerstreit stehen können. Wenn Kant nämlich behauptet, daß wir „nur" in der Sinnlichkeit die Bedingungen antreffen, unter denen wir uns eine Opposition zwischen zwei Realitäten vorstellen können, dann kann dies auf zwei Weisen interpretiert werden. Es kann zum einen so verstanden werden, daß die Realitäten selbst den sinnlichen Bedingungen unterworfen sein und als realitates phaenomena angesehen werden müssen. Es kann zum anderen auch so aufgefaßt werden, daß lediglich die Folgen dieser Realitäten räumlichen und zeitlichen Bestimmungen unterworfen sein müssen, daß dies jedoch nicht unbedingt von den Realgründen selbst gelten muß. Bei der ersten Interpretation ist eine Realopposition zwischen noumenalen und phänomenalen Realitäten ausgeschlossen. Bei der zweiten Interpretation ist dagegen denkbar, daß eine noumenale Realität, die ihre Wirkungen in Raum und Zeit äußert, mit einer phänomenalen Realität in Realopposition treten kann. Nun ist die Frage, ob zwischen realitates phaenomena und noumena ein realer Widerstreit möglich ist oder nicht, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, kein bloß marginaler Streitpunkt. Nach unserer Interpretation besteht zwischen Kants Begriff der Idee und seinem Konzept der Realopposition ein unmittelbarer Zusammenhang. Wenn Ideen jeweils besondere Begriffe der quantitas qualitatis sind und sich auf Realitäten in ihrer uneingeschränkten (maximalen) Größe beziehen (und damit zugleich auf die Allheit der Folgen dieser Realitäten), dann lassen sich diese Realitäten bestimmt denCf. KrV, B 338/339 Anm. Herv. P.K.

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Vernunft und Vernunfterkenntnis

ken, wenn via negationis alle Realitäten von ihnen abgesondert werden, die „in einem Subjekt verbunden"95 - in Realopposition zu ihnen stehen und damit einen im Hinblick auf sie einschränkenden Charakter besitzen.96 Da sich eine Opposition zwischen Realitäten nur dann vorstellen läßt, wenn diese den Bedingungen des Raums bzw. der Zeit unterworfen sind, kann man auch sagen, daß die Realitäten, auf die sich Ideen beziehen, nicht in den Formen der Anschauung Raum und Zeit gedacht werden können, also noumenale Realitäten sind. Wie kann man sich dann aber davon überzeugen, daß sich die Ideen tatsächlich auf etwas beziehen und nicht bloß Chimären sind? Offenbar nicht anders als dadurch, daß man noumenale und phänomenale Realitäten verknüpft und annimmt, auch noumenale Realitäten könnten in einem Gegenverhältnis zu phänomenalen Realitäten stehen, wozu man allerdings unterstellen müßte, daß zumindest die Folgen der noumenalen Realitäten räumlich und zeitlich bestimmt sind. Die Differenz zwischen noumenaler und phänomenaler Realität ergibt sich dann aus der Größe, die man beiden zusprechen muß. Dabei genügt es nicht mehr, die Größe der noumenalen Realität lediglich als eine maximale zu beschreiben. Die Größe der noumenalen Realität wäre vielmehr (im Gegenverhältnis zur Größe der phänomenalen Realität) als eine Größe zu denken, die die Größe aller phänomenalen Realitäten übersteigt. Auch deren Größe läßt sich nur über die Folgen bestimmen, die wiederum in Raum und Zeit bestimmt und somit realitates phaenomena sein müssen. Da maximale und minimale Größen in Raum und Zeit nicht vorstellbar sind97, bleibt allein das Unendliche, um eine Vorstellung von der Größe einer noumenalen Realität zu bekommen.98 Sobald man also von phänomenalen Realitäten 93

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Cf. KrV, B 329. In diesem Sinn entsteht tatsächlich durch Negation Realität - ein Vorgang, den Kant in der Vorlesung zur Metaphysik Schön, AA 28.1, 502 als „unbegreiflich" hinstellt, wenn man nicht die Bedingungen von Raum und Zeit hinzunimmt. Cf. MetaphysikMrongovius, AA 29.1.2, 835/836: „Bei den Noumenis ist ein maximum, aber bei den Phaenomenis findt weder ein maximum noch ein minimum statt." In diesem Zusammenhang wird bedeutsam, daß Kant zwischen zwei Arten der Größenbestimmung unterscheidet. In der Vorlesung zur Metaphysik Mrongovius verweist er darauf, daß wir über die Quantitätsbegriffe des Maximums, des Illimitatums und des Infinitums verfügen, die zwar „sehr nahe verwandt, aber doch von einander verschieden" sind (AA 29.1,2, 834/835). Nach Kant gehören zunächst die Begriffe des Maximums und des Illimitatums zusammen. Beide Begriffe sind Begriffe der Allheit Dieser Begriff ist im Falle des Maximums positiv, im Falle des Illimitatums dagegen negativ. „Maximum ist das, worüber kein größeres möglich ist. Das illimitatum ist die negative Vorstellung vom größesten. Beim maximo ist der Begriff einer totalitaet, der nichts fehlt, was zu einer gewissen Art von Dingen erforderlich ist. (Was alles von einer gewissen Art enthält, ist illimitatum; was nicht alles usw. usw., ist eingeschränkt, das limitatum wird also der omnitudo opponirt.) Illimitatum kann also das maximum bedeuten, in so fern es durch einen negativen Begriff

Die Gewinnung der Idee

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ausgeht und daraus Ideen gewinnt, die sich auf noumenale Realitäten beziehen, muß man diesen noumenalen Realitäten eine Größe zuschreiben, die die Größe aller Folgen der abgesonderten phänomenalen Realität unendlich übersteigt. Mit diesen Überlegungen, die die (objektive) Realität der Ideen betreffen, begibt man sich unwiderruflich auf den Boden der Metaphysik und der metaphysischen Spekulation. Man muß sich jedoch klarmachen, daß dieser Schritt unausweichlich ist, sobald man einräumt, daß bei der Betrachtung dessen, was unmittelbar gegeben ist, also der phänomenalen Realitäten, eine doppelte Option besteht. Man kann diese Realitäten zum einen als das auffassen, was sie sind, nämlich Realitäten einer bestimmten Größe, die sich durch sukzessive Addition einer Einheit ausmessen läßt. Man kann sie zum anderen jedoch

vorgestellt wird. Comperative kann etwas illimitatum seyn, aber nicht absolute; maximum ist ein positiver und illimitatum ein negativer Begriff von der totalitaet." (ibd). Von den Begriffen des Maximums und des Illimitatums muß der Begriff des Infmitums gänzlich unterschieden werden. Durch den Begriff des Infinitum wird nicht zum Ausdruck gebracht, wie groß ein Ding an sich selbst ist, sondern lediglich wie groß es im Vergleich mit einer Größe ist, die als Maßstab dient. Dieser Maßstab der Vergleichung kann entweder objektiv (ein Gegenstand der Anschauung) oder subjektiv (das Vermögen zu messen selbst) sein. „Das Verhältnis der Größe zu der Möglichkeit, sie zu messen, bestimmt entweder die Größe, oder die Unendlichkeit ... Wir schätzen Grossen sukzessive unum rei addendo. Alles Zählen ist ein progressus in der Konstruktion einer Größe. Die Größe, deren Konstruktion möglich ist durch progressus finitum, ist quantitas finita, und infinita, deren progressus infinitus ist... durch infinitum sage ich nicht, was das Wesen selbst sei, sondern nur, seine Größe kann nicht bestimmt werden in Verhältnis auf ein Maß, hiedurch weiß ich nicht, wie groß es selbst sei, ob es groß ist oder nicht, sondern nur, daß es zu groß für jeden meiner Begriffe ist, deswegen darfs aber nicht das größte unter allen Dingen sein." (AA 29.1,2, 835). Die Begriffe des Maximums und des Illimitatums gehören in den Bereich der Größenbestimmung durch Einschränkung, der Begriff des Infmitums dagegen in den Bereich der Größenbestimmung durch Zusammensetzung. Dieser Unterscheidung entspricht auch die Unterscheidung zwischen philosophischer und mathematischer Erkenntnis von Größen. So heißt es in der Reflexion 4123 (1769-76): „Die philosophische Erkenntnis von Grossen bestimmt dieselbe aus der Idee der omnitudinis (totum absolutum) limitando, folglich das omnisufficiens durch das oppositum aller Imitationen. / Die mathematische Erkenntnis fangt nicht vom absoluten Gantzen an, sondern vom respectiven und bestirnt aus den Theilen das Gantze." Auch im Bereich der Größenbestimmung durch Zusammensetzung kommt es gelegentlich zur Bildung von (scheinbar bestimmten) Begriffen maximaler Größen (notiones deceptrices). Diesen Begriffen (oder .Jdealen der Einbildungskraft") kann als negativer (und gleichfalls unbestimmter) Begriff der Begriff des Infmitums zugeordnet werden. Dazu würde passen, daß Kant das Infinitum in einer anderen Vorlesung zur Metaphysik auch einmal als einen „erhabenen Ausdruck" bezeichnet und der „ästhetischen Einbildungskraft" zugewiesen hat. „Unendlich ist", so bemerkt er dort, „kein Beiwort, was zeigt, wie groß das Ding an sich selbst ist, sondern wie es im Verhältnis auf unsere Begriffe steht. Wenn ich z.B. in Ansehung des Verstandes Gottes sage: er ist unendlich, so erkenne ich bloß, daß, wenn ich, um Gottes Verstand auszumessen, den meinen fur's Maß annehme, er gegen ihn durch keine Zahl ausgedruckt werden kann. Gott ist das All der Vollkommenheit, dies ist weh mehr gesagt; unendlich ist ein erhabener Ausdruck, er gehört zur ästhetischen Einbildungskraft... Infinitude bedeutet eine Größe, die alle unsere Kenntnisgründe zu messen übersteigt, ist also ein negativer Begriff und bloß ein Verhältnis auf das Unvermögen unseres Verstandes gegründet." (Vorlesung zur Metaphysik K.^ AA 28.2,1, 796).

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Vernunft und Vernunfterkenntnis

auch als eingeschränkte Realitäten auffassen, die aus den uneingeschränkten Realitäten, in denen ihr eigentliches Sein besteht, durch Einschränkung hervorgehen. Wenn man sie als eingeschränkte Realitäten ansieht, dann muß man sie einerseits auf uneingeschränkte Realitäten beziehen, aus denen sie hervorgehen, und andererseits Gründe für ihre Einschränkungen finden. Diese einschränkenden Gründe können nur selbst wiederum Realitäten sein. Betrachtet man nun die uneingeschränkten Realitäten, auf die sich die Ideen beziehen, als realitates noumena, die eingeschränkten als realitates phaenomena, so stellt sich die Frage, ob die uneingeschränkten Realitäten (realitates noumena) durch die (selbst eingeschränkten) realitates phaenomena oder durch andere realitates noumena eingeschränkt werden. Wenn letzteres der Fall ist, dann fehlt die Bedingung, unter der sich eine Realopposition nach Kant allein vorstellen läßt. Wenn ersteres, dann müßte das Verhältnis zwischen den realitates noumena und den realitates phaenomena selbst räumlich bzw. zeitlich bestimmt sein. Und diese Annahme erscheint zulässig, wenn man die Folgen der realitates noumena als realitates phaenomena ansieht und die Größe der realitates noumena durch die (gegebene) Unendlichkeit eben dieser Folgen bestimmt." Doch um diesen Standpunkt einnehmen zu können, braucht man, wenn schon nicht die Gewähr dafür, daß es sich bei der gegebenen Realität in der Tat um eine eingeschränkte (ursprünglich noumenale) Realität handelt, so zumindest rechtfertigende Gründe dafür, daß die gegebene Realität als eine zu betrachten ist, die aus einer uneingeschränkten durch Einschränkung hervorgeht. Diese Rechtfertigungsgründe beziehen sich nicht mehr auf die Idee und die Art, wie sie gebildet wird, sondern auf die Anwendung der Idee in Erkenntniszusammenhängen.

3. Die Anwendung der Idee

Um verständlich zu machen, was Vermmfterkenntnis aus Begriffen ist, genügen die bisherigen Elemente nicht. Zwar läßt sich nun ein guter Sinn mit der Behauptung verbinden, daß in Vernunfterkenntnis aus Begriffen eine Erkenntnis aus Begriffen stattfindet, sowie mit der weiteren, daß diese Erkenntnis nicht bloß analytischen Charakter hat, sondern, indem sie einen Ausschluß 99

Mit einem gewissen Recht könnte man dann sagen, daß alle gegebenen eingeschränkten Realitäten durch Einschränkungen des Unendlichen hervorgehen. So bemerkt Kant in der Reflexion R 4428 (Ende 1769-1776?): „Wir können das endliche in concrete uns nur durch die Einschränkung des Unendlichen vorstellen".

Die Anwendung der Idee

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von Realitäten und das Rein-Denken eines Gegenstandes beinhaltet, gerade eine Synthesisleistung einschließt.100 Aber das berechtigt noch nicht dazu, von einer Erkenntnis zu sprechen. Denn dazu müßte der Vernunftbegriff (die Idee) auf Gegenstände, die uns gegeben sind, angewandt werden können, und zwar zudem a priori.101 Es müßte also gezeigt werden, daß man sich bestimmte Gegenstände, von deren Existenz man überzeugt ist, gar nicht anders denken kann als in und durch die Idee bestimmt. Gerade dies, die Anwendbarkeit von Vernunftbegriffen (oder Ideen) auf Gegenstände, die uns gegeben sind, scheint Kant jedoch zu bestreiten. Denn Vernunftbegriffe (oder Ideen) sind ihm zufolge Begriffe von Gegenständen, die in der Erfahrung nicht gegeben sind und nicht gegeben werden können. Umgekehrt gelangt man nach Kant nur zur Erkenntnis von solchen Gegenständen, die in der Erfahrung (sei es auch nur einer möglichen) gegeben sind. Die Frage nach der Anwendbarkeit von Ideen konfrontiert die Kant-Interpretation insofern mit einem ernsthaften Dilemma. Ich möchte zum Schluß dieses ersten, propädeutischen Teils wenigstens andeutungsweise auf die Frage eingehen, wie sich dieses Dilemma möglicherweise auflösen ließe. Anzuknüpfen ist dabei an die Überlegungen zum Verhältnis von noumenaler und phänomenaler Realität. Wenn man annimmt, daß das, was empirisch gegeben ist und unter den Begriff von einer Sache fällt (etwa unter den Begriff von Wasser), auch unter die Idee von dieser Sache falle (also unter die Idee von reinem Wasser), dann muß man sowohl unterstellen, daß der betreffende Gegenstand alle Realitäten, auf die sich die Idee bezieht, in ihrem Maximum enthält, als auch daß diese Realitäten zugleich durch andere Realitäten eingeschränkt sind. Zugespitzt formuliert impliziert die Anwendung von Ideen auf Gegenstände, von deren Gegebensein man überzeugt ist, daß diese Gegenstände „im Grunde", „eigentlich" oder „in Wahrheit" uneingeschränkt sind, jedoch unter einschränkenden Bedingungen gegeben werden. Die Voraussetzung, auf die die Anwendung 100

101

Die Synthesisleistung läßt sich zunächst an dem Unterschied zwischen dem Begriff einer Sache und der Idee dieser Sache festmachen. Gegenüber dem Begriff der Sache enthält die Idee dieser Sache einen Zusatz an Bestimmungen. Die Idee ist im Verhältnis zum Begriff der bestimmtere Begriff. Insofern kann die Idee nicht analytisch im Begriff enthalten sein. Zum Begriff der Erkenntnis cf. besonders R 5923 (1783-84): „Wenn wir die Logik wegen dessen, was Erkentnis Oberhaupt heissen kan, befragen, so ist Begrif eine Vorstellung (oder Inbegrif derselben), die auf einen Gegenstand bezogen worden und ihn bezeichnet; und indem wir einen Begrif mit einem ändern in einem Urtheile verknüpfen (trennen), so denken wir etwas von dem Gegenstande, der durch einen gegebenen Begrif bezeichnet worden, d.h. wir erkennen ihn, indem wir über ihn urtheilen. Alles Erkentnis, mithin auch das der Erfahrung, besteht demnach aus Urtheilen, und selbst Begriffe sind Vorstellungen, die zu möglichen Urtheilen zubereitet sind, indem sie etwas überhaupt, was gegeben worden, als durch ein Prädicat erkennbar vorstellen."

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Vernunft und Vemunfterkenntnis

von Vernunftbegriffen oder Ideen auf gegebene Gegenstände verpflichtet, ist also, daß die gegebenen Gegenstände als solche beschrieben werden können, die durch Einschränkung aus uneingeschränkten Realitäten folgen. Wenn man jedoch das Gegebene als etwas betrachtet, das durch Einschränkung aus einer uneingeschränkten Realität hervorgeht, dann muß man wiederum voraussetzen zum einen, daß zwischen der uneingeschränkten Realität und den einschränkenden Realitäten eine dynamische Relation besteht, die durch das Konzept der Realopposition gefaßt werden kann; zum anderen, daß mit der Annahme eines „eigentlichen", „ursprünglichen" Seins der Gegenstände, d.h. der Annahme einer uneingeschränkten Realität, die der eingeschränkten zugrundeliegt, notwendig eine Annahme über den ganzen Gegenstand der Erkenntnis (das Ganze der phänomenalen Realität) verbunden ist. Es muß nämlich angenommen werden, daß im Ganzen alle einschränkenden Realitäten aufgehoben sind (und allein das Uneingeschränkte übrigbleibt) und daß dies auch letzter Inhalt aller Erkenntnis ist. Nur dann läßt sich sagen, daß in der Tat das Ganze mit dem übereinstimmt, was sich über die Gegenstände der Ideen sagen läßt, wie auch, daß die in der Idee gedachten Realitäten sich in der Tat auf etwas beziehen. Es muß also im Hinblick auf das Ganze der Realität eine Vorstellung entwickelt werden, die es erlaubt, die Unterscheidung zwischen gegebener phänomenaler Realität und „wahrhaft", „eigentlich" zugrundeliegender Realität zu treffen und zugleich die Rolle von Ideen im Erkenntnisprozeß festzulegen. Diese werden nicht in dem Sinne im Erkenntnisprozeß angewandt, daß sie in Urteilen, die sich auf unmittelbar in der Anschauung Gegebenes beziehen, prädiziert werden und behauptet wird, das solcherart Gegebene falle geradezu unter die Idee. Denn gegeben sind in diesem Sinn nur phänomenale Realitäten. Insofern können die Urteile, in denen Ideen angewandt werden, keine objektive Gültigkeit beanspruchen. Vielmehr wird das Gegebene als etwas angesehen, das unter die Idee fiele, wenn alle einschränkenden Realitäten aufgehoben wären. Daß alle einschränkenden Realitäten im Ganzen als aufgehoben vorgestellt werden müssen, ist eine für die Anwendung der Ideen unentbehrliche theoretische Annahme der Vernunft, für die eine Rechtfertigung weder aus der Erfahrung des unmittelbar Gegebenen noch aus der Theorie selbst bezogen werden kann.102 Diese Annahme läßt sich jedoch auf zweierlei Weise konkretisieren

102

Aus der Erfahrung des unmittelbar Gegebenen nicht, weil diese sich nicht auf das Ganze des Erkenntnisgegenstandes bezieht, aus der Theorie nicht, weil diese im Hinblick auf das unmittelbar Gegebene und seine Erklärung nicht attemativlos ist.

Die Anwendung der Idee

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und einholen: entweder indem man annimmt, daß sich die einschränkenden (phänomenalen) Realitäten im Ganzen wechselseitig selbst einschränken und „einander ihre Folgen aufheben"103, so daß die Summe dieser Realitäten im Ganzen = 0 ist und nur die uneingeschränkten (noumenalen) Realitäten zurückbleiben, oder, daß die uneingeschränkten (noumenalen) Realitäten im Verhältnis zu einem Ganzen von einschränkenden (phänomenalen) Realitäten (deren Summe gerade nicht = 0 ist, sondern selbst ein Maximum an Realität darstellt) dieses unendlich überwiegen. In beiden Fällen muß man, damit Ideen anwendbar werden, ein Ganzes der empirischen Wirklichkeit (der phänomenalen Realitäten) konstruieren, das über das unmittelbar (phänomenal) Gegebene hinausgeht. Insofern scheint die Parallele, die Kant zwischen den beiden Arten der Vernunfterkenntnis, der philosophischen und der mathematischen Erkenntnis, zieht, durchaus sinnvoll. Allerdings stellt sich (im Fall der philosophischen Erkenntnis) die Frage, was letztlich eine solche Konstruktion und damit die Anwendung der Idee rechtfertigt. Um annehmen zu können, daß das Gegebene das Resultat einschränkender Realgründe ist, bedarf es zumindest eines Kriteriums, und es ist zu vermuten, daß sich dieses Kriterium auf das Bestehen eines Kräfteverhältnisses bezieht und in der Erkenntnis oder im Bewußtsein eines Widerstandes, eines Hindernisses oder einer Gegenkraft besteht, durch die sich ankündigt, daß eine Einschränkung (und zwar im Hinblick auf gegebene phänomenale Realitäten) tatsächlich stattfindet. Es muß an dieser Stelle offenbleiben, ob sich diese Vermutung, was den Ansatz und die Methode der Kantischen Philosophie betrifft, grundsätzlich bestätigen läßt, und vor allen Dingen, wie sich zwischen einer für das Hervortreten der noumenalen Realitäten folgenlosen wechselseitigen Einschränkung von phänomenalen Realitäten und einer solchen Einschränkung unterscheiden läßt, die in dieser Hinsicht gerade nicht folgenlos ist, bzw. einer Einschränkung von phänomenalen und noumenalen Realitäten. Im Hinblick auf Kants praktische Philosophie aber läßt sich die These aufstellen, daß Kant ein solches Kriterium in Gestalt des Faktums der Vernunft sowie der Achtung fürs Gesetz tatsächlich vor Augen stand. Ein solches unleugbares „Faktum der Vernunft" ist nach Kant das Bewußtsein, der unbedingten Forderung des Sittengesetzes jederzeit ausgesetzt zu sein104: „Man darf nur das Urteil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmässigkeit ihrer Handlungen fällen: so wird man jederzeit finden, daß, was auch die 103

104

Cf. KrV, B 320. Ein Bewußtsein, das es erlaubt, das Sittengesetz als gegeben anzusehen (cf. KpV, A 56).

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Vernunft und Vemunfterkermtnis Neigung dazwischen sprechen mag, ihre Vernunft dennoch, unbestechlich und durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen halte, d.i. an sich selbst, indem sie sich als a priori praktisch betrachtet."105

Das „Faktum der Vernunft" ist daher sowohl ein Faktum für die Vernunft „so wird man jederzeit finden" -, das sich auf keine (andere) Weise belegen und nachweisen läßt als durch die eigenmächtige Tat (der Vernunft)106, als auch ein Faktum der Vernunft selbst, die sich durch die Tat - „durch sich selbst gezwungen" - Realität verschafft. Zugleich muß jedoch nach Kant auch fühlbar werden, daß die Vernunft ein realer Grund ist und die Kraft besitzt, alle entgegenwirkenden, einschränkenden Realitäten in ihren Folgen aufzuheben. Gerade dies fühlbar zu machen, daß die Kraft der Vernunft sich gegen ein Ganzes von einschränkenden Realitäten durchzusetzen vermag, weil sie die Größe dieser entgegenstehenden Realitäten unendlich übersteigt, leistet die Achtung fürs Gesetz. Für die mit dem Faktum der Vernunft in Anspruch genommene Realität der Idee eines reinen Willens ist insofern die Lehre von der Achtung fürs Gesetz unverzichtbar. An der Lehre von der Achtung fürs Gesetz läßt sich studieren, wie Kant in dem besonderen Fall der Idee eines reinen Willens die Rechtfertigung für deren Anwendung konzipiert.

* ** Man kann die vorangegangenen Überlegungen zum Begriff der Idee zusammenfassen, indem man angibt, welche Konsequenzen sich daraus für die Bestimmung des Verfahrens der philosophischen Erkenntnis (als Vernunfterkenntnis aus Begriffen) ergeben. Eine unmittelbare Konsequenz aus dem vorgeschlagenen Interpretationsansatz ist, daß Vernunfterkenntnis aus Begriffen als ein Verfahren der Begriffsbestimmung und -anwendung beschrieben werden kann, das zwei Schritte umfaßt. Im ersten Schritt wird aus einem vorgegebenen Begriff von einer Sache ein Vernunftbegriff (oder eine Idee) von dieser Sache gebildet. Im zweiten Schritt wird dieser Vernunftbegriff auf Gegenstände angewandt. Der erste Schritt, der vom Begriff einer Sache zur Idee dieser Sache führen soll, besteht aus zwei Teilschritten: es bedarf zunächst der Exposition und Definition des vorgegebenen Begriffs, um auf diese Weise festzusetzen und zu bestimmen, was charakteristisch für die Art des Gegenstandes ist. Es gilt also die 105

106

Cf.KpV,A56.

Ihr „sie volo, sie iubeo" (cf. KpV, A 56).

Die Anwendung der Idee

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Wesensmerkmale des Begriffs aufzusuchen und vollständig anzugeben.107 Im nachfolgenden Teil wird eine solche Exposition für den Begriff des Willens versucht. Ist der Begriff exponiert und definiert, wird er zusätzlich bestimmt, um ihn zum Begriff von einem Gegenstand zu machen, der der vollkommenste seiner Art ist, und damit zu einer Idee. Die Bestimmung des Begriffs, die ihn zu einer Idee macht, geschieht via negationis. Es werden all diejenigen Realitäten negiert, die im Verhältnis zu den artspezifischen Realitäten einschränkenden Charakter haben könnten. Auf diese Weise gelangt man am Ende zur Vorstellung von etwas, das eine Realität und nur diese Realität, also homogen ist. Als eine solche Idee, die sich auf eine als realer Grund gedachte homogene Realität bezieht, soll im folgenden die Idee des reinen Willens entwickelt werden. Die ontologische Begründung für diesen zweiten Teilschritt liefert die Lehre von der Realopposition. Ihr zufolge können sich die Realitäten (oder Qualitäten), auf die sich Begriffe beziehen, sofern sie sich auf etwas beziehen, wechselseitig einschränken. Diese Einschränkung ist dann nicht relevant, wenn es darum geht zu beurteilen, ob eine gegebene Sache unter einen bestimmten Begriff fällt oder nicht. Sie wird jedoch relevant, wenn es die Größe der Realitäten, auf die sich Begriffe beziehen, zu berücksichtigen gilt. Und dies ist dann der Fall, wenn man auch die Folgen betrachtet und nach dem Maximum der Realität eines bestimmten Begriffs sucht. In diesem Fall muß man von dem Gegenstand, auf den sich der Begriff bezieht, alle Realitäten ausschließen, die nicht begriffsspezifisch sind, um behaupten zu können, daß er der vollkommenste seiner Art ist. Beim zweiten Schritt, der die Anwendung der Idee aufzeigen soll, kommt es vor allem darauf an, sich zu vergewissern, daß sich die Idee in der Tat auf etwas bezieht und kein bloßes „Hirngespinst" ist. Um diese Gewißheit zu erlangen, muß man im Hinblick auf phänomenale Realitäten ein Ganzes dieser Realitäten konstruieren, und zwar derart, daß sich im Gegenverhältnis zu diesem Ganzen phänomenaler Realitäten die Realität, auf die sich die Idee bezieht, als gegeben behaupten läßt.108 Bezogen auf das Verfahren einer Vernunfterkenntnis aus Begriffen im Fall der praktischen Philosophie besagt das: 107 108

Wie sich die Exposition eines Begriffs in methodischer Weise handhaben läßt, hoffe ich in einer späteren Arbeit zeigen zu können. Eine solche Konstruktion eines Ganzen phänomenaler Realitäten ist, wie bereits bemerkt, auf zweierlei Weise möglich: entweder so, daß sich diese Realitäten im Ganzen aufheben und nur die noumenale Realität übrigbleibt, auf die sich die Idee bezieht, oder so, daß diese Realitäten ein Maximum an Realität bilden, das jedoch von der Realität, auf die sich die Idee bezieht, unendlich abertroffen wird.

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Vernunft und Vemunfterkenntnis

Während es bei der Bestimmung des Vernunftbegriffs eines reinen (autonomen) Willens der logischen Negation bedarf, bedarf es bei der Anwendung dieses Begriffs der realen Negation; und der Begriff, der in diesem Sinn im Hinblick auf eine reale Negation aller die Realität eines reinen (autonomen) Willens einschränkenden Realitäten gedacht wird, ist der Begriff des autokratischen Willens. Der in der Idee gedachte autonome Wille besitzt als autokratischer Wille die Kraft, sich gegenüber allen anderen Realitäten durchzusetzen. Insofern ist im Fall der praktischen Philosophie die Idee des reinen Willens nicht von ihrer Anwendung als Idee eines autokratischen Willens zu trennen.

II. Die Idee des autonomen Willens /. Abriß der Fragestellung „Die ganze Moral beruht auf Ideen, denn reine Tugend ist in keiner Erfahrung möglich"1 - wie immer es allgemein mit der Richtigkeit dieser Bemerkung bestellt sein mag, für Kants eigene Moralphilosophie trifft unzweifelhaft zu, daß Ideen wie die Idee des reinen Willens, die Idee des Sittengesetzes, die Idee der Tugend oder das Ideal der Glückseligkeit von geradezu konstitutiver Bedeutung sind. Von allen diesen Ideen besitzt die „Idee des reinen Willens" das in methodischer Hinsicht größte Gewicht, und zwar aus verschiedenen Gründen. Zunächst haben in dieser Idee, wie Kant in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten betont, „die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung".2 So wird das Sittengesetz als das Gesetz charakterisiert, das sich der reine Wille gibt und seiner Selbstbestimmung zugrundelegt; und unter dem heiligen Willen wird ein reiner Wille in individuo verstanden, also ein einzelner Wille, der der Idee eines reinen Willens völlig adäquat ist und als Urbild eines solchen Willens dienen kann. Um sittliche Begriffe und Gesetze formulieren zu können, bedarf es nach Kant notwendig des Rückgangs auf die Idee des reinen Willens. Darüber hinaus wird durch die Idee des reinen Willens die reine Moralphilosophie (die Metaphysik der Sitten) als eigenständige Disziplin überhaupt erst begründet. Gerade dadurch, daß sich die reine Moralphilosophie mit dem reinen Willen und nicht mit dem Willen überhaupt beschäftigt, unterscheidet sie sich, wie Kant in der Einleitung zur GMS betont, von der allgemeinen sittlichen Weltweisheit eines Christian Wolff.3 Nun liegt schon in der Idee eines reinen Willens, daß darin ein Wille gedacht wird, der nichts enthält, was im Vergleich zum Willen fremdartig wäre. Diese Standarderklärung des Reinen, wonach das Reine dasjenige ist, dem

1 2 3

Cf. Logik Pölitz, AA 24.2, 568. Cf.MS/RLEin\.,A.19. Cf.GMS.BAXI/XII.

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Die Idee des autonomen Willens

nichts Fremdartiges beigemischt ist4, erhält vor dem Hintergrund unserer Interpretation von Kants Ideenbegriff eine genauere Bedeutung, die sich in vier Punkten zusammenfassen läßt: (1) Wenn man die Idee eines reinen Willens bildet, so ist darin enthalten, daß man den Willen im Hinblick auf das Maximum seiner Realität und damit im Hinblick auf das Maximum der Folgen betrachtet, die er als Grund haben kann. Da sich der Begriff eines Maximums der Realität auf eine einzelne, genau bestimmte Größe bezieht, nämlich auf diejenige Größe, im Verhältnis zu der alle anderen möglichen Größen derselben Realität kleiner sind, kann die Idee eines reinen Willens als Maßstab für die Beurteilung der Größe aller möglichen Arten von Willen dienen. (2) Soll der Wille rein sein, so darf er keine Realitäten enthalten, die nicht Wille sind, er darf mithin nicht aus heterogenen Elementen zusammengesetzt sein. Insofern besitzt der Wille, der im Maximum seines Grundseins betrachtet wird, die Eigenschaft der Homogeneität und absoluten Einheit. Von dem Willen, der rein ist, läßt sich sagen, daß er Wille und nichts anderes als Wille ist. Alle Folgen, die diesem Willen zugeschrieben werden können, kommen ihm ausschließlich kraft seiner Eigenschaft zu, Wille zu sein. Der reine Wille ist mithin ein Wille, der der Qualität nach einfach ist.5 (3) Die Idee des reinen Willens ist das Ergebnis einer Begriffsbestimmung, bei der nicht der Begriff des Willens selbst (im Hinblick auf seine Wesensmerkmale), sondern der Begriff von etwas bestimmt wird, das zwar unter den Begriff Wille fällt und insofern Wille ist, das aber keine (der positiven) Eigenschaften aufweist, durch die an sich selbst eine differentia specifica von Willensarten begründet werden könnte. Um zur Idee eines reinen Willens zu gelangen, müssen aus einem Begriff, der den Begriff des Willens analytisch enthält, alle diejenigen Realitäten weggedacht werden, die zwar auch einem Willen zugesprochen werden können, aber nicht zu den für den Willensbegriff konstitutiven gehören.6 Kant löst diese Aufgabe mit Hilfe des Prinzips der Cf. dazu: „rein ist, was von allem fremdartigen abgesondert ist." (R 4728 (1772-77?)). Cf. auch die doppelte Bedeutung von „rein" im Hinblick auf Erkenntnisse: Über den Gebrauch ideologischer Prinzipien, A 135. Cf. zum Begriff des Reinen in seiner moralphilosophischen Anwendung: Beck (1960), 40/41. Anm. 20. Cf. R 5302 (1776-78): „Einfach ist etwas entweder der quantitaet nach oder der qualitaet anch [muß wohl heißen: nach;P.K.]: compositum similare; das erste ist, quod non constat partibus ullis; das zweyte, quod non constat heterogeneis." Um sich auf die Realitäten, die im reinen Willen nicht enthalten sein dürfen, beziehen zu könnet bedarf es eines Urteils der Art: „X ist ein reiner Wille, wenn X Wille ist und nichts enthält, v/t

Abriß der Fragestellung

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Selbstliebe. Das Prinzip der Selbstliebe bezieht sich auf den Inbegriff all dessen, was vom Willen spezifisch verschieden ist und doch mit dem Willen in einer Weise vermischt sein kann, daß es die reine Realität dieses Willens einschränkt. (4) Die Idee eines reinen Willens fällt zwar nicht mit dem Begriff des Willens zusammen, setzt ihn aber voraus. Um die Idee eines reinen Willens bilden zu können, muß man zunächst den Begriff des Willens logisch vollenden. Durch zusätzliche Annahmen hinsichtlich dessen, was beim bloßen Begriff des Willens unbestimmt bleibt, gelangt man zur Idee eines reinen Willens. Insofern hat Kant in gewisser Weise recht, wenn er den Unterschied zwischen der allgemeinen praktischen Weltweisheit Christian Wolffs und der Metaphysik der Sitten darein setzt, daß die erstere „keinen Willen von irgend einer besonderen Art, etwa einen solchen, der ohne alle empirische Beweggründe, völlig aus Prinzipien a priori, bestimmt werde, und den man einen reinen Willen nennen könnte, sondern das Wollen überhaupt in Betrachtung" zieht, während letztere „die Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens", d.h. eines Willens von einer besonderen Art untersuchen soll.7 Denn tatsächlich handelt es sich bei der Idee des reinen Willens um einen bestimmten Begriff des Willens.8 nicht Wille ist." Diejenigen Realitäten, die nicht für den Willensbegriff konstitutiv sind, müssen an sich positiv sein, und sie müssen dadurch charakterisiert sein, daß sie mit den für den Willensbegriff konstitutiven Realitäten verbunden sein können. Andererseits scheint es so, als könnten wir uns nur in negativer Weise auf sie beziehen (als auf dasjenige, was am Willen nicht Wille ist). Dies führt zu der Überlegung, daß für die Bildung der Idee eines reinen Willens wie für die Bildung von Ideen überhaupt unendliche Urteile eine besondere Rolle spielen könnten. Wenn wir ein (unendliches) Urteil der Art fällen: „X ist nicht-Wille", dann betrachten wir etwas = X im Hinblick auf die ganze Sphäre der Prädikate, die nicht zu den für den Willensbegriff konstitutiven gehören. Anders formuliert: wenn wir die Menge aller Prädikate (oder aller Realitäten) bilden und aus dieser Menge diejenigen Prädikate herausziehen, die ein Ding als einen Willen charakterisieren, dann können wir die Restmenge der Prädikate durch ein unendliches Urteil denken. Die Idee eines reinen Willens gewinnt man, wenn man den Begriff des Willens an die Subjektstelle eines verneinten unendlichen Urteils setzt: „Der (reine) Wille ist nicht nicht-Wille." Allerdings setzt sich ein solches Urteil leicht dem Verdacht aus, eine bloße Tautologie zu sein. Denn solange man nicht weiß, wodurch das X, das nicht-Wille ist, positiv charakterisiert wird, muß man das voraussetzen, was man durch das verneinte unendliche Urteil gerade bestimmen will: die Idee eines reinen Willens. Dennoch kann dieses Urteil eine wichtige methodische Funktion übernehmen. Es zeichnet die Aufgabe vor, die man lösen muß, wenn man die Idee des reinen Willens bilden will. Diese Aufgabe besteht darin, nach einer positiven Beschreibung des X zu suchen, das im unendlichen Urteil: "X ist nicht-Wille' gedacht wird. Cf. GMS.BAXI/XII. Dennoch ist diese Unterscheidung ein wenig irreführend, weil auch der menschliche oder der heilige Wille von Kant als reine Willen interpretiert werden und diese insofern keine der Art nach vom reinen Willen unterschiedene Willen sein können. Zum menschlichen und heiligen Wille siehe unten S. 128ff, 198.

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Die Idee des autonomen Willens

Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich für die Interpretation von Kants Moralphilosophie eine klare Richtschnur. Die Idee eines reinen Willens setzt den Begriff eines Willens (und zwar durchaus im Wölfischen Sinn eines Willens überhaupt) voraus. Die Frage ist daher zunächst, was für den Willen überhaupt charakteristisch ist. Erst wenn man über die genaue Bestimmung des Begriffs eines Willens verfügt, kann man untersuchen, durch welche zusätzlichen Annahmen sich daraus die Idee eines reinen Willens ergibt. Erst dann läßt sich auch zeigen, inwiefern sich die Idee eines reinen Willens auf ein Maximum an Willensrealität bezieht und was unter einem solchen Maximum zu verstehen ist.

2. Der Begriff des Willens A. Verschiedene Bestimmungen des Willensbegriffs Die Suche nach Definitionen hat etwas Mißliches, zumal bei einem Autor, der für sein kritisches Verhältnis zu Definitionen bekannt ist. Die Bemerkung aus der KrV, daß Definitionen nicht am Anfang, sondern allenfalls am Ende der Philosophie stehen können9, trifft auch auf Kants Definition des Willensbegriffs zu. Kant konfrontiert den Leser mit einer Reihe von Bestimmungen dieses Begriffs, die keineswegs alle gleichwertig sind und die auch nicht umstandslos als Bestimmungen des Begriffs von einem Willen überhaupt zu deuten sind.10 9 10

Cf. KrV, B 758/759. Daß Vorsicht im Umgang mit solchen Begriffsbestimmungen angebracht ist, kann man sich anhand einer Stelle aus der GMS (BA 63) vor Augen führen, an der Kant den Willen als das Vermögen definiert, sich selbst gemäß der Vorstellung von Gesetzen zum Handeln zu bestimmen. Wie Kant im Absatz vorher deutlich zu verstehen gibt, handelt er an dieser Stelle, die sich im Obergang von der allgemeinen praktischen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten befindet, ausdrücklich von einem Willen, der Allein" durch die Vernunft bestimmt wird, mithin von der Idee eines reinen Willens, die ja in der Vorrede auch als der eigentliche Untersuchungsgegenstand einer Metaphysik der Sitten angekündigt wird. In der Tat gilt für den Willen in der Idee, aber eben nur für ihn, daß er sich selbst gemäß der Vorstellung von Gesetzen zum Handeln bestimmt. Beachtet man diesen Zusammenhang nicht, gerät man leicht in Gefahr, sich in Interpretationsprobleme zu verstricken. Denn wenn man unter einem Willen generell das Vermögen versteht, sich selbst der Vorstellung von Gesetzen gemäß zum Handeln zu bestimmen, dann stellt sich die Frage, inwiefern diese Definition auch für einen unsittlichen Willen gilt, also für einen Willen, von dem feststeht, daß er sich jedenfalls nicht dem Sittengesetz gemäß zum Handeln bestimmt. Hält man an der Definition fest, muß auch für einen solchen unsittlichen Willen gelten, daß er sich gemäß der Vorstellung von einem Gesetz zum Handeln bestimmt. Da das Sittengesetz als Interpretament für das Gesetz ausscheidet, hat man nur die Alternative, dieses Gesetz entweder mit den Naturgesetzen zu identifizieren, die der

Der Begriff des Willens

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Als Bestimmungen des Begriffs von einem Willen überhaupt kommen im wesentlichen zwei in Frage. Nach der einen ist der Wille das Vermögen der Zwecke11, nach der anderen das Vermögen, seine Kausalität durch die Vorstellung von (praktischen) Regeln zu bestimmend Beide Bestimmungen zeichnen sich schon auf den ersten Blick dadurch aus, daß sie nicht auf einen besonderen Willen (etwa einen reinen Willen) eingeschränkt sind. Der Wille ist auch dann ein Vermögen der Zwecke, wenn die Zwecke unsittliche sind, und er ist auch dann ein Vermögen, nach praktischen Regeln zu handeln, wenn diese Regeln keine praktischen Gesetze sind. Beide Bestimmungen lassen auch klar erkennen, wovon der Begriff des Willens abzugrenzen ist. In beiden Fällen entspringt der Begriff dem Begriff des Begehrungsvermögens, dessen Bestimmung (als eine besondere Art der Kausalität) zugrundeliegt. Im Unterschied zum bloßen (tierischen) Begehrungsvermögen ist der Wille das Begehrungsvermögen, das durch Begriffe zum Handeln bestimmt wird. Diese Begriffe sind entweder Zwecke oder die Vorstellungen von Regeln.13 Beide BeFormulierung technisch-praktischer Imperative zugrundeliegen, oder schlichtweg zu dementieren, daß ein unsittlicher Wille ein Wille ist. Wille und Wille unter (sittlichen) Gesetzen sind entweder identisch oder die Gesetze, unter denen ein Wille steht, sind nicht bloß sittliche Gesetze. Beide Alternativen besitzen nur eine geringe Plausibilität So argumentiert auch Schmucker (1955), der zur Stelle GMS, BA 63 bemerkt: „diese Definition betrifft, falls der Begriff 'Gesetz' im eigentlichen Sinn als unbedingt für jeden Willen gültige praktische Regel verstanden wird, nur den reinen Willen (den Kant in diesem Zusammenhang allerdings im Auge hat), während der Wille im allgemeinen von ihm sonst als das Vermögen erklärt wird, 'sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung (dadurch ein Objekt wirklich werden kann) zu machen' ... " (171, Herv. Schmucker. Schmucker gibt als Beleg für die von ihm zitierte allgemeine Willensdefmition die Stelle KpV, A 105 an.). Berücksichtigt man dagegen den Zusammenhang, in dem die zitierte Stelle steht, beachtet man, daß Kant an dieser Stelle einen Willen von besonderer Art vor Augen hat, dann erkennt man auch, daß das sich abzeichnende Interpretationsdilemma nicht unvermeidlich ist und die Freiheit besteht, sich nach anderen Begriffsbestimmungen umzusehen. " Cf. z.B.: KU, B 33, B 133; Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien A 131; R 1021 (177579), R 5435 (1776-89). 12 Diese Erklärung des Willensbegriffs entnehme ich der Stelle KpV, A 57: „Dieses Prinzip der Sittlichkeit nun ... erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze für alle vernünftige Wesen, so fern sie Oberhaupt einen Willen, d.h. ein Vermögen haben, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen, mithin so fern sie der Handlungen nach Grundsätzen, folglich auch nach praktischen Prinzipien a priori (...) fähig sein." Cf. auch folgende Reflexionen: „Das Begehrungsvermögen, so fern es unter der Vorstellung einer Regel bestimmbar ist, heißt Wille." (R 7201 (1780-89)); „Das Begehrungsvermögen, dessen obiect eine Regel der willkühr ist, heißt wille." (R 1008 (1764-77)). Nach der Reflexion 5435 (1776-89) hingegen ist der Wille „ein Vermögen, nach der Vorstellung einer Regel als Gesetzes zu handeln". Hier treffen wir also auf eine Bestimmung des Willensbegriffs, die eng mit der in der GMS gegebenen verwandt ist. Unbestimmter, aber in dieselbe Richtung gehend, heißt es in der KpV: der Wille ist ein Vermögen, „sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung (dadurch ein Objekt wirklich werden kann) zu machen" (A 105). 13 Der erste Teil der Behauptung läßt sich mit folgender Erläuterung aus der KU begründen: „Das Begehrungsvermögen, sofern es nur durch Begriffe, d.i. der Vorstellung eines Zwecks gemäß zu

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Die Idee des autonomen Willens

Stimmungen scheinen sich zudem als äquivalent zu erweisen. Denn man könnte sagen, daß nach einer Regel zu handeln nichts anderes bedeutet als nach einem Begriff oder der Vorstellung eines Zwecks gemäß zu handeln. Der Begriff des Zwecks schließt die Vorstellung einer praktischen Regel ein und umgekehrt. Schließlich ist in beiden Begriffsbestimmungen auch enthalten, daß der Wille ein Vermögen ist, sich selbst, im Sinne der eigenen Kausalität, zum Handeln zu bestimmen. Man kann daher in einem ersten Anlauf den Willen als das Vermögen definieren, sich selbst gemäß der Vorstellung von einem Zweck oder einer praktischen Regel zum Handeln zu bestimmen.14 Doch können damit die im Willensbegriff gelegenen Bestimmungen noch nicht erschöpft sein. Wenn Kant den Willen gelegentlich mit der praktischen Vernunft einfach gleichsetzt15, dann deutet das darauf hin, daß im Willensbegriff eine spezifisch vernünftige Komponente enthalten ist. Worin diese spezifisch vernünftige Komponente besteht, läßt sich vorläufig an den praktischen Regeln festmachen, durch die sich der Wille zum Handeln bestimmt. Dazu muß man jedoch den Willen nicht nur als das Vermögen verstehen, sich selbst durch die Vorstellung von praktischen Regeln zum Handeln zu bestimmen, sondern auch als das Vermögen, seine praktischen Regeln zu begründen oder zumindest für begründet zu halten. Der Wille wäre dann genauer das Vermögen einer Person, sich selbst nur durch solche praktischen Regeln zum Handeln zu bestimmen, die die Person für begründet hält. Nun können praktische Regeln dadurch begründet werden, daß man sie aus praktischen Prinzipien ableitet. Die Begründung von praktischen Regeln durch Ableitung aus praktischen Prinzipien aber stellt eine Leistung der praktischen Vernunft dar, und die Aufstellung von praktischen Prinzipien, die an sich selbst oder schlechterdings Prinzipien sind, wiederum eine Leistung der reinen praktischen Vernunft. Wenn man also sagt, daß der Wille sich selbst durch praktische Regeln

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handeln, bestimmbar ist, würde der Wille sein." (B 33). Der zweite Teil der Behauptung wird im folgenden begründet. Diese Definition besitzt den Vorzug, daß sie allgemeiner als die Definition ist, die Kant in der GMS (BA 63) gibt. Sie enthält aber, wie man leicht erkennen kann, jene Definition als Sonderfall. Man muß dazu nur unterstellen, daß praktische Regeln unter bestimmten Bedingungen den Charakter von praktischen Gesetzen annehmen. Sind diese Bedingungen erfüllt, dann kann auch der Wille als das Vermögen aufgefaßt werden, sich selbst gemäß der Vorstellung von (praktischen) Gesetzen zum Handeln zu bestimmen. Darauf deutet auch die Stelle KpV, A 57 hin, wo Kant von dem Vermögen, seine Kausalität durch die Vorstellung einer Regel zu bestimmen, auf Handlungen nach Grundsätzen („mithin") und nach Prinzipien priori („folglich auch") schließt Cf z.B.: GMS, BA36.

Der Begriff des Willens

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zum Handeln bestimmt, dann bedarf dies stets der Ergänzung, daß der Wille diese Regeln auch für begründet halten muß.16

Damit stehen alle Bestandteile zur Verfügung, die bei der Definition des Begriffs von einem Willen überhaupt berücksichtigt werden müssen. Im Willensbegriff liegt demnach: (1) Der Wille ist eine Kausalität, die durch die Vorstellung von Zwecken oder von Regeln zum Handeln bestimmt wird. (2) Die Regeln, durch die sich der Wille zum Handeln bestimmt, können zwar, müssen aber nicht Grundsätze, Prinzipien a priori oder Gesetze sein; sie müssen jedoch in jedem Fall begründet sein. (3) Bei einem Willen ist die Bestimmung der Kausalität durch die Vorstellung eines Zwecks oder einer Regel stets Selbstbestimmung.

Man hat es also immer da mit einem Willen zu tun, wo diese drei Merkmale zusammen angetroffen werden, wobei es gleichgültig ist, ob dieser Wille ein menschlicher oder ein heiliger Wille ist. Gleichwohl ist der Begriff des Willens mit der bloßen Angabe der drei Merkmale noch nicht logisch vollendet. Um die Definition des Willensbegriffs abschließen zu können, muß der Zusammenhang von Zweck, Regel und Prinzip genauer analysiert und bestimmt werden.17 Ausgangspunkt für diese Präzisierung ist der Begriff der praktischen Regel.

B. Der Begriff der praktischen Regel Eine eindrucksvolle Anschauung von der Vielfalt der Aspekte, unter denen sich für Kant praktische Regeln differenzieren lassen, vermittelt die Tafel der

16

17

Die Auffassung von Beck, wonach sich aus der Erklärung des § l der KpV schließen lasse, daß Grundsätze keine praktischen Regeln sein könnten (Beck (1960), 79/80), ist daher wenig überzeugend. Der Begriff der praktischen Regel wird von Beck (wie auch von Paton) für die „Regeln der Geschicklichkeit" reserviert, die den technisch-praktischen Imperativen zugrundeliegen. Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden, zumal Kant in seinem Gebrauch der Begriffe oft zu schwanken scheint, wenn der Preis dafür nicht methodische Nachteile und die Einbuße an systematischer Einheit im Ansatz wäre. Im folgenden werden wir davon ausgehen, daß praktische Grundsätze allemal auch praktische Regeln sind, allerdings praktische Regeln, die zunächst verglichen mit anderen Regeln, aber eventuell auch an sich selbst betrachtet einen höheren Grad an Allgemeinheit beanspruchen und als Obersätze in einem praktischen Syllogismus auftreten können. Es wird sich dann auch zeigen, inwiefern dem Wille überhaupt das Vermögen der Selbstbestimmung zugesprochen werden kann. Siehe dazu unten S. 92/93.

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Die Idee des autonomen Willens

Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen.18 Die Tafel, für deren systematischen Anspruch und metaphysischen Hintergrund wir uns im Augenblick nicht interessieren, erlaubt es, praktische Regeln nach verschiedenen Gesichtspunkten einzuteilen. Wählt man den Gesichtspunkt der Quantität, so kann man zwischen Maximen, Vorschriften und Gesetzen unterscheiden.19 Unter dem Gesichtspunkt der Qualität lassen sich praktische Regeln unterscheiden, die entweder auf das Begehen oder auf das Unterlassen oder auf das Begehen einer Handlung unter besonderen restriktiven Bedingungen gerichtet sind. Diese Handlungen können sich wiederum auf eine Person oder auf den Zustand einer Person oder wechselweise auf Person und Zustand beziehen (Gesichtspunkt der Relation).20 Schließlich lassen sich praktische Regeln auch nach dem Gesichtspunkt unterscheiden, ob durch sie eine Handlung als moralisch-möglich (erlaubt), als moralisch-wirklich (geboten) oder als moralisch-notwendig (unbedingt geboten) ausgezeichnet wird (Gesichtspunkt der Modalität). Damit ist jedoch noch keine Antwort auf die Frage gegeben, was eine praktische Regel in ihrer allgemeinsten Bedeutung ist. Im folgenden ist daher zunächst der Begriff der praktischen Regel zu analysieren.

a) Der Begriff der Regel Dem Begriff der Regel kommt in Kants Philosophie eine grundlegende Bedeutung zu. Man kann dies nicht zuletzt daran sehen, daß Kant die Einteilung der Philosophie in eine theoretische und eine praktische Philosophie, die sich aus den menschlichen Grundvermögen (dem Erkenntnis- und Begehrungsvermögen) ergibt, auch gelegentlich mit dem Hinweis erläutert, die theoretische Philosophie enthalte die Regeln des Verstandes, die praktische die Regeln des Willens.21 Gleichwohl hat Kant sich nicht die Mühe gemacht, diesen Begriff näher zu bestimmen.

18 19 20

21

Cf. zu dieser Tafel: Beck (1960), 146-154; Benton (1980), Boszien (1988), Grünewald (1988), Riedel (1989), 27-50. Vergleiche aber unten S. 74. Dies kann die eigene Person und der eigene Zustand oder der einer anderen Person sein. Daß dies nicht ganz genau den Relationskategorien in der KrV entspricht, hat seinen tieferen Grund darin, daß alle Kategorien der Freiheit bereits Kategorien einer bestimmten Art der Kausalität sind. Das, was im Verhältnis von Grund und Folge steht (und was durch Handlung wirklich wird), ist nur entweder als Substanz oder als Akzidenz bestimmbar. Daher sind Person und Zustand die Aspekte, auf die es hier ankommt. Cf. Vorlesung zur Philosophischen Enzyklopädie (dat. auf SS 1775), AA 29. l, l, 10.

Der Begriff des Willens

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Zu den wenigen erläuternden Hinweisen, die sich bei Kant finden, gehört, daß der Verstand nicht nur das Vermögen der Begriffe und der Urteile, sondern auch das Vermögen der Regeln ist und daß diese Bestimmungen, „wenn man sie beim Lichten besieht, auf eins hinauslaufen".22 Gedeckt wird die Äußerung, daß Begriff, Urteil und Regel „auf eins hinauslaufen", durch andere Äußerungen, vor allem in den Vorlesungsmitschriften, in denen Kant zum einen Begriffe, zum anderen Urteile mit Regeln gleichsetzt. So heißt es in der Metaphysik-Vorlesung L}, daß der Verstand in der Bedeutung als oberes Erkenntnisvermögen „das Vermögen der Begriffe, oder auch das Vermögen der Urteile, aber auch das Vermögen der Regeln" ist. Um diese Gleichsetzung von Begriff, Urteil und Regel zu rechtfertigen, fährt Kant mit folgender Begründung fort: „Alle diese Definitionen sind einerlei; denn der Begriff ist eine Erkenntnis, die zu einem Prädikat dienen kann in einem möglichen Urteile. Ein Urteil ist aber eine Vorstellung der Vergleichung mit dem allgemeinen Merkmale, und ein Begriff ist ein allgemeines Merkmal. Ein Urteil ist aber auch immer eine Regel; denn eine Regel gibt das Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen ... Wir können auch sagen: der Verstand ist das Vermögen allgemeiner Erkenntnisse. Allgemeine Erkenntnisse als Vorstellungen sind Begriffe, und allgemeine Erkenntnisse als Vergleichung der Vorstellungen sind Urteile; jedes allgemeine Urteil ist also eine Regel."2'

Der Schlüssel zur Aufklärung der von Kant behaupteten Einerleiheit von Begriff, Urteil und Regel liegt in Kants Begriffstheorie. Begriffe zeichnen sich nach Kants Auffassung dadurch aus, daß sie erstens allgemeine Vorstellungen sind und zweitens zu möglichen Prädikaten in einem (kategorischen) Urteil dienen können. Hinsichtlich des ersten Kennzeichens ist zu bemerken, daß eine Vorstellung nur dann als eine allgemeine charakterisiert werden kann, wenn sie zugleich in einer Verknüpfung (einer „Synthesis") mit anderen, von ihr verschiedenen Vorstellungen gedacht wird.24 Jeder Begriff ist insofern seinem Wesen nach dadurch ausgezeichnet, daß er in sich den Begriff von einem Gegenstand überhaupt als demjenigen etwas = X enthält, in dem verschiedene Vorstellungen verbunden sind. Da diese verschiedenen Vorstellungen selbst wiederum allgemeiner Art, also Begriffe sein können, folgt daraus, daß jeder 22 23 24

Cf. KrV, A 126. Zu den Begriffen „Urteil" und „Regel" bei Kant sehe man auch die Ausführungen von Henrich (1976), 27-47,81,89. Cf. Metaphysik Lr AA 28. l, 240. Cf. Jäsche-Logik: „Der Begriff... ist eine allgemeine Vorstellung oder eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist, also eine Vorstellung, so fern sie in verschiedenen enthalten sein kann." (A 139/140. Herv. Kant). Cf: KrV, B 133/134 Anm.

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Die Idee des autonomen Willens

Begriff als Begriff von einem Gegenstand überhaupt zugleich als durch andere Begriffe bestimmbar vorgestellt werden kann und somit unter dem (logischen) Grundsatz der Bestimmbarkeit steht." Begriffe sind also einerseits mögliche synthetische Bestimmungen des gänzlich unbestimmten Begriffs von einem Gegenstand überhaupt, andererseits je schon graduell bestimmte Begriffe von einem solchen Gegenstand. Diese doppelte Eigenschaft von Begriffen erklärt, warum Begriffe einerseits als Prädikate, andererseits als Subjektbegriffe in möglichen (kategorischen) Urteilen dienen können. Insofern hängt mit dem Begriff des Urteils eng der Begriff der Bestimmung zusammen. Auch der Begriff der Bestimmung besitzt bei Kant eine spezifische Bedeutung. Allgemein gesprochen bezieht sich ein (kategorisches) Urteil auf das Verhältnis, in dem zwei Begriffe ihrem Inhalt und Umfang nach stehen. Man könnte stattdessen auch sagen, daß sich ein (kategorisches) Urteil auf das Verhältnis eines Begriffs zu dem bezieht, wodurch der Begriff bestimmt werden kann. Kant ist der Meinung, daß nur im Hinblick auf etwas (relativ) Unbestimmtes eine Bestimmung erfolgen kann und daß insofern alle Bestimmungen den Charakter synthetischer Prädikate haben. Daher unterscheidet er in der KrVzwischen dem „logischen Prädikat" und der „Bestimmung": „Zum logischen Prädikate kann alles dienen, was man will; denn die Logik abstrahiert von allem Inhalte. Aber die Bestimmung ist ein Prädikat, welches über den Begriff des Subjekts hinzukommt und ihn vergrößert. Sie muß also nicht in ihm schon enthalten sein."26

Wenn Kant also Begriffe als Prädikate in einem möglichen Urteil bezeichnet, dann können damit nur synthetische Prädikate, d.h. „Bestimmungen" gemeint sein, Begriffe mithin, die den Subjektbegriff um (allgemeine) Vorstellungen erweitern, die nicht schon in ihm enthalten sind. Daraus folgt, daß je" Cf. dazu: KrV, B 599/600. 24 Cf. KrV, B 626. Deutlicher noch dringt Kant in seinen Vorlesungen darauf, daß Bestimmungen nur synthetische Prädikate sein können: „Ein allgemeiner Begriff ist an sich nicht bestimmt, z.E. ein Mensch ist entweder gelehrt oder ungelehrt, ist unbestimmt Aber ein gelehrter Mensch ist bestimmt. Bestimmen kann man nur durch Synthesis, nicht durch Analysis, denn in Ansehung dessen, was darin liegt, war er gar nicht unbestimmt. Denn kann ich nur den Begriff bestimmen, wenn ich etwas hinzusetze.... Bestimmung ist ein Prädikat eines Dinges, wodurch das Gegenteil ausgeschlossen wird. Das ist die gewöhnliche Art, Bestimmung zu denken, nämlich man siehet es als ein Prädikat an, das den Dingen beigegeben wird, wodurch das Gegenteil ausgeschlossen wird. Das ist nicht genug. Bestimmung ist ein synthetisches Prädikat, z.E. ein Körper ist ausgedehnt. Dadurch ist er noch nicht bestimmt. Ein gelehrter Mensch ist bestimmt, denn Gelehrsamkeit liegt nicht im Begriff des Menschen." (Metaphysik Mrongovius, AA 29.1,2, 819). Cf. auch Metaphysik DohnaWundlacken, AA 28.2,1, 628: „ - analytische Predicate sind nicht Determinationen, immer nur synthetische ... ", und R 5701 (1776-89?): „determinatio est praedicatum syntheticum"; R 5703 (1776-89?): „Alle Bestimmung ist synthesis."

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des Urteil, in dem ein Begriff als Bestimmung fungiert, sich auf das Verhältnis eines Begriffs (d.h. des Subjektbegriffs) zu dem bezieht, was unter ihm (und nicht: in ihm) enthalten ist. Da eine Regel „das Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen" gibt27 und etwas dann eine Regel ist, „wenn das Mannigfaltige auf gleiche Art gedacht werden soll"28, erscheint die von Kant vorgenommene Gleichsetzung von Begriff, Urteil und Regel gerechtfertigt. Denn das Mannigfaltige, auf das sich in einem (allgemeinen) kategorischen Urteil der Subjektbegriff bezieht, wird durch den Prädikatbegriff „auf gleiche Art gedacht" (bestimmt). Zugleich ist das Mannigfaltige im (synthetischen) Urteil dasjenige, von dem vorgestellt wird, daß es als das Besondere unter dem Allgemeinen (dem Prädikatbegriff) enthalten ist. Nun ist in einem (allgemeinen) kategorischen Urteil der Subjektbegriff entweder der gänzlich unbestimmte Begriff oder aber ein bereits teilweise bestimmter Begriff von einem Gegenstand überhaupt. Im ersten Fall bezieht sich die allgemeine Bestimmung (durch das synthetische Prädikat des Urteils) auf ausnahmslos alle Gegenstände. Im zweiten Fall nur auf solche Gegenstände, die auch durch die im Subjektbegriff analytisch enthaltenen Merkmale bestimmt sind. So stellt das Urteil: „alle Menschen sind sterblich" ein Mannigfaltiges („alle Menschen") als etwas vor, das durch die Eigenschaft sterblich zu sein bestimmt ist. Das Urteil gilt aber nicht von allen Gegenständen überhaupt, sondern nur von solchen, die auch dadurch bestimmt sind, daß sie Menschen sind. Insofern hängt von dem Grad der Bestimmtheit des Begriffs, der an der Subjektstelle eines (allgemeinen) kategorischen Urteils steht, der Grad der Einschränkung ab, der der Umfang des Prädikatbegriffs unterworfen ist. Aus diesem Grund kann man den Subjektbegriff in einem Urteil (oder einer Regel) die Bedingung des Urteils (oder der Regel) nennen. Der Subjektbegriff gibt als (zum Teil bestimmter) Begriff von einem Gegenstand überhaupt die (einschränkenden) Bedingungen an, unter denen das in dem Urteil (oder der Regel) gesetzte Prädikat gegeben wird. Diese Bedingung ist selbst unbedingt, wenn der Subjektbegriff der gänzlich unbestimmte Begriff von einem Gegenstand überhaupt ist.29 In der Nachschrift der Metaphysik-Vorlesung Mrongovius fällt an einer Stelle auch der Begriff des Bestimmungsgrundes. Dieser Begriff wird von Kant wie folgt definiert: 27 28 29

Cf. Metaphysik Lp AA 28. l, 240. Cf. Vorlesung zur Philosophischen Enzyklopädie (\ 5\ 29.1.1, 16. Für die Schwierigkeit, wie aus bloß allgemeinen Urteilen besondere Urteile entstehen können, bietet Kant mit seinem Konzept der Realopposition eine Losung an.

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Die Idee des autonomen Willens

„Jeder Grund der Bestimmung heißt ratio determinans. Unsere Erkenntnis, wenn sie bestimmt werden soll, muß einen Grund haben, so auch mit Dingen. Wenn 2 Dinge in Ansehung 2er Prädikate unbestimmt sind, so können sie bestimmt werden durch einen bestimmenden Grund."30

Der Begriff des bestimmenden Grundes ersetzt bei Kant den Begriff des zureichenden Grundes. Kant war der Auffassung und schloß sich darin Crusius an, auf den er sich im übrigen in seiner frühen Schrift Nova Dilucidatio auch beruft, daß der Begriff des zureichenden Grundes eine Zweideutigkeit enthält, „weil nicht sofort ersichtlich ist, wie weit er zureicht". Demgegenüber heißt „bestimmen": „so zu setzen, daß jedes Gegenteil ausgeschlossen ist, und bedeutet daher das, was mit Gewißheit ausreicht, eine Sache so und nicht anders zu begreifen."31

Beim bestimmenden Grund muß also genau erkennbar sein, wie weit er zureicht. Um bestimmend zu sein, muß er soweit zureichen, daß das Gegenteil der gesetzten Bestimmung ausgeschlossen ist. Wichtiger als diese Korrektur des Begriffs des zureichenden Grundes ist jedoch schon in der frühen Schrift die Unterscheidung zwischen einem „vorgängig" und einem „nachträglich" bestimmenden Grund: „Den ersteren Grund könnte man auch den Grund warum oder den Grund des Seins oder Entstehens nennen, den letzteren den Grund daß oder des Erkennens."32

An der Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten von Gründen hat Kant stets festgehalten. So macht er in der Auseinandersetzung mit Eberhard deutlich, daß der Satz vom zureichenden Grund nicht unberührt von der Frage bleibt, ob der zureichende Grund darin als Erkenntnisgrund oder als Realgrund (Ursache) verstanden wird. Denn entsprechend muß zwischen einem logischen (formalen) und einem transzendentalen (materiellen) Prinzip des zureichenden Grundes unterschieden werden. Während das logische Prinzip von jedem Satz verlangt, daß er begründet sein muß, verlangt das transzendentale Prinzip von jedem Ding, daß es einen Grund haben muß.33 Von demjenigen 30 31 32 33

Cf. Metaphysik Mrongovius, AA 29.1,2 819. Cf. Nova Dilucidatio, WA 427. Cf. Nova Dilucidatio, WA 423. Cf. Über eine Entdeckung, BA 15/16. Bei der Formulierung des logischen Prinzips des zureichenden Grundes verwendet Kant mit Absicht den Begriff „Satz". Denn mit dem Begriff des „Satzes" verbindet sich im Unterschied zum bloßen Begriff des „Urteils" eine modale Auszeichnung. Sätze sind assertorische Urteile und stehen „unter dem allgemeinen logischen Prinzip der Sätze, nämlich ein jeder Satz muß gegründet (nicht ein bloß mögliches Urteil) sein" (cf. Über eine Entdeckung, BA 16 Anm.). Kant besteht auch sonst darauf, daß nur assertorische Urteile Sätze genannt werden können (cf. vor MemJäsche-Logik, A170). In den Vorarbeiten zur Schrift gegen Eberhard heißt

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Grund nun, den das logische Prinzip des zureichenden Grundes für jedes (assertorische) Urteil fordert, kann man sagen, daß er der „Bestimmungsgrund" des Urteils (wohlgemerkt: im Sinne eines logischen Grundes oder eines Erkenntnisgrundes) ist. Entscheidend für unsere weiteren Überlegungen ist, daß der Bestimmungsgrund direkt mit dem Wert, den die Kopula in einem Urteil besitzt, in Verbindung gebracht werden kann. Bei einem Urteil bedarf es im Hinblick auf seine modalen Bestimmungen dann eines Bestimmungsgrundes, wenn in ihm die Bejahung oder Verneinung einer Bestimmung assertorisch (oder sogar apodiktisch) erfolgt. Das Urteil muß in diesem Fall gegründet sein und einen Bestimmungsgrund haben. Im Unterschied zum problematischen Urteil, in dem lediglich behauptet wird, daß etwas A oder non A sein kann, muß es im Fall des assertorischen (und erst recht des apodiktischen) Urteils einen Grund geben, warum etwas vielmehr A und nicht non A ist. Dieser Bestimmungsgrund, der ein logischer Grund ist, kann, wie Kant in den Vorarbeiten zur Streitschrift gegen Eberhard bemerkt, entweder in einem Begriff oder in der (reinen/empirischen) Anschauung bestehen.34 Umgekehrt läßt sich schließen, daß die modalen Bestimmungen von Urteilen, sofern es sich dabei entweder um problematische oder assertorische (bzw. apodiktische) handelt, stets davon abhängig sind, ob sie mit einem Bestimmungsgrund in Verbindung gebracht sind oder nicht. Bei problematischen Urteilen fehlt die Verknüpfung mit einem Bestimmungsgrund, bei assertorischen ist eine solche Verknüpfung gegeben, bei apodiktischen Urteilen schließlich wird über die Verknüpfung hinaus der Bestimmungsgrund als vollständig betrachtet. Nimmt man nun hinzu, daß Regeln allgemeine Urteile sind und besondere Urteile jederzeit durch Hinzufügung bestimmter Bedingungen in allgemeine verwandelt werden können, dann kann man zusammenfassend feststellen, daß

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es kurz und bündig: „Nämlich ein Satz ist ein Urtheil welches als gegründet vorgestellt wird." (AA 20,364). Im Unterschied dazu ist das logische Prinzip aller problematischen Urteile das Prinzip des Widerspruchs, das logische Prinzip aller apodiktischen Urteile das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten (cf. zu dieser Zuordnung: MetaphysikDohna-Wundlacken, AA 28.2,1, 624). Cf. „Der Satz des zureichenden Grundes (logisch heißt er: ein jeder Satz hat seinen Grund sonst wäre es ein blos problematisches Urtheil. Der Grund aber ist nicht ein Grund der Sache sondern liegt blos in der Warnehmung) kann auch so verstanden werden...: alles was mit einem ändern Begriffe aber nicht durch den Satz des Wiederspruchs verbunden ist setzt etwas anders voraus als diesen Begriff, womit es verbunden ist (also nichts als die Anschauung u. zwar die a priori wenn der Satz a priori ist oder empirische Anschauung wenn der Satz empirisch ist..." (Vorarbeiten, AA 20, 363). Auch: „Der logische Grund bedeutet bey mir jederzeit den Erkentnisgrund zum Unterschiede von Sachen als Gründen. Der erste ist nun entweder discursiv durch Begriffe oder intuitiv durch construction derselben." {Vorarbeiten, AA 20,371).

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zu einer Regel wesentlich drei Stücke gehören: (1) eine Bestimmung, die gemäß der Regel allgemein gesetzt wird und im Verhältnis zum Subjektbegriff synthetischer Natur ist, (2) eine Bedingung, die angibt, was durch die Bestimmung allgemein bestimmt wird und (3) der Bestimmungsgrund, durch den die Bestimmung in Beziehung auf das Subjekt assertorisch (bzw. apodiktisch) gesetzt wird.

b) Die Bestandstücke der praktischen Regel Alle Merkmale, durch die sich der Begriff der Regel überhaupt auszeichnet, müssen sich auch am Begriff der praktischen Regel aufweisen lassen. Es muß also gezeigt werden, worin die Bestimmung, die Bedingung und der Bestimmungsgrund im Fall einer praktischen Regel besteht. Dabei muß zugleich deutlich werden, wodurch sich eine praktische Regel von einer theoretischen Regel unterscheidet.

aa) Die Handlung Nach einem naheliegenden Verständnis ist eine praktische Regel eine Regel, die allgemein angibt, ob eine bestimmte Handlung gut oder schlecht ist. Die Bestimmung, die praktische Regeln qua Regeln enthalten, bestünde nach diesem Verständnis im Prädikat „gut", die Bedingung der Regel (oder das, was in der Regel durch die Bestimmung als bestimmt vorgestellt wird) wären mehr oder weniger spezifizierte Handlungen. Der Unterschied zwischen einer theoretischen und einer praktischen Regel beruhte dann einerseits auf dem besonderen Prädikat „gut", andererseits darauf, daß an Subjektstelle Begriffe von Handlungen stehen. Alle Regeln, in denen Handlungen als gut (oder schlecht) vorgestellt werden, wären per definitionem praktische Regeln. Gegen diese Auffassung spricht jedoch folgende Überlegung. Hinge der Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Regeln einzig und allein an der besonderen Bestimmung „gut" (und daran, daß es Handlungen sein müssen, die als bestimmt vorgestellt werden), wäre er nicht besonders tief. Praktische Regeln wären eher ein Sonderfall von theoretischen Regeln; sie würden sich zwar in einem Prädikat von anderen theoretischen Regeln unterscheiden, nicht jedoch darin, daß sich auch in bezug auf sie die Wahrheitsfra-

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ge stellen läßt, mag diese Frage auch wegen des besonderen Charakters der Eigenschaft, auf die sich das Prädikat „gut" bezieht, schwer zu beantworten sein. Im folgenden möchte ich einen anderen Vorschlag dafür machen, was man unter einer praktischen Regel zu verstehen hat. Diese Erklärung, die zugleich als eine Interpretation des Prädikats „gut" dienen kann, hat auf der einen Seite den Vorteil, den Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Regeln sehr viel stärker herauszupräparieren, und auf der anderen Seite den, theoretische und praktische Regeln im Hinblick auf die Merkmale, die für Regeln überhaupt charakteristisch sind, streng symmetrisch zu konstruieren.35 Wenn man unter praktischen Regeln nicht solche Regeln versteht, in denen Handlungen als gut (oder nicht gut) ausgezeichnet werden, und dieses Prädikat die Unterscheidung von theoretischen und praktischen Regeln tragen muß, dann wäre zunächst zu überlegen, ob sich nicht aus einer besonderen Art von Bestimmungen die Differenz zwischen theoretischen und praktischen Regeln ergibt. Praktische Regeln wären dann solche Regeln, deren Bestimmungen Handlungen sind, also Regeln, die allgemein formulieren, nicht welche Eigenschaften einem Ding unter bestimmten Bedingungen zukommen oder nicht zukommen, sondern welche Handlungen unter bestimmten Bedingungen zu tun sind. Zwar genügt dies noch nicht, um einen Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Regeln behaupten zu können, der wirklich tiefgreifend wäre. Denn der Begriff der Handlung ist für Kant ein metaphysischer Grundbegriff, dessen Anwendungsbereich weit über das hinausreicht, was zur praktischen Philosophie im engeren Verstand gehört. Aber dieser Ansatz hat zunächst den Vorzug, den Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Regeln durch zwei Arten von Bestimmungen angeben zu können. Im Fall der theoretischen Regeln wird diese Art von Eigenschaften, im Fall der praktischen Regeln wird sie von Handlungen gebildet. In beiden Fällen steht eine Vielzahl von Kandidaten als mögliche Bestimmungen zur Verfugung. Den Begriff der Handlung zählt Kant in der KrV neben den Begriffen der Kraft und des Leidens zu den Prädikabilien der Kausalität. Genauer heißt Handeln: den zureichenden Grund einer Substanz oder eines Akzidenz zu enthalten36, wobei das, was den zureichenden Grund enthält, selbst eine Substanz ist. Insofern setzt jede Handlung eine Substanz voraus und bildet umgekehrt das empirische Kriterium für das Vorhandensein einer Substanz. Enthält eine 33

Siehe dazu unten S. 71-74 und 97-123. « Cf. R 3586 (1769-76) und KrV, B 249/250.

3

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Substanz den zureichenden Grund der Möglichkeit einer gewissen Handlung, so können wir ihr ein „ Vermögen" zu dieser Art der Handlung zusprechen. Da das Vermögen, eine gewisse Handlung zu begehen und eine gewisse Wirkung hervorzubringen, für sich allein noch nicht hinreichend ist, diese Handlung tatsächlich zu begehen, bedarf es eines zusätzlichen (realen) Bestimmungsgrundes des Vermögens. Diesen zusätzlichen Bestimmungsgrund des Vermögens, der den eigentlichen Grund der Wirklichkeit einer Handlung enthält, ist dasjenige, was Kant im Unterschied zur Substanz und zum Vermögen als Kraft bezeichnet. Somit verweist jede Handlung einerseits auf eine Substanz, von der sie ausgeht und die den Grund ihrer Möglichkeit enthält, andererseits auf eine Kraft, die das Vermögen der Substanz zum Handeln bestimmt und ohne die keine Handlung gesetzt würde.37 Schon diese knappe Darstellung der begrifflichen Unterscheidungen, die Kant auf der Grundlage von Baumgartens Metaphysica vornimmt38, läßt erwarten, daß der Begriff der Handlung ein breites Anwendungsfeld besitzt. Der Handlungsbegriff bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Substanz und Akzidenz oder zwischen Substanzen, sofern dieses Verhältnis zugleich als Kausalitätsverhältnis gedacht wird. Worin die Substanzen und Akzidenzen bestehen, die durch den Handlungsbegriff verknüpft werden, und wie das Kausalitätsverhältnis beschaffen ist, bleibt unbestimmt und ist für den Handlungsbegriff zunächst auch völlig irrelevant. Daher kann Kant sowohl von Handlungen des Denkens wie von Handlungen einer wirkenden Substanz in der Welt sprechen und ist damit (wie etwa die Paralogismen zeigen) noch nicht auf bestimmte metaphysische Aussagen hinsichtlich der Beschaffenheit der denken37

38

Der Begriff der Kraft ist für die weiteren Überlegungen in dieser Arbeit von besonderer Bedeutung. Wenn Kraft letztlich dasjenige ist, was macht, daß eine Handlung wirklich erfolgt, und wenn weiter, wie im folgenden gezeigt wird, im Fall willentlicher Handlungen die Vorstellung von praktischen Regeln die Ursachen der Handlungen sind, dann stellt sich die Frage, was der Vorstellung praktischer Regeln die Kraft gibt, sich in Handlungen umzusetzen. Kants Rede von einer Triebfeder der reinen praktischen Vernunft bezieht sich offenbar auf diesen Aspekt einer der praktischen Vernunft im Fall ihres Wirkens zuzusprechenden Kraft Siehe dazu: das III. Kapitel. Weitere Unterscheidungen im Hinblick auf den Begriff der Handlung ergeben sich aus der näheren Bestimmung des Verhältnisses, in dem das handelnde Subjekt zu den Wirkungen der Handlung steht sowie aus den Arten dieser Wirkungen. Liegt die Wirkung der Handlung im handelnden Subjekt, heißt die Handlung immanent, liegt sie außerhalb des handelnden Subjekts, heißt sie transient (Dieser Unterscheidung entspricht die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Handlungen in der MS. Cf. dazu: AB 6/AB 13). Als Handlung, deren Wirkung außerhalb des handelnden Subjekts liegt, kann die transiente Handlung einerseits eine andere Substanz als solche oder das Akzidenz einer anderen Substanz betreffen. Diejenige Handlung, die eine andere Substanz hervorbringt, bezeichnet Kant als Schöpfung, diejenige, die lediglich die Veränderung einer Substanz bewirkt, als Einfluß. Cf. zu diesen begrifflichen Unterscheidungen u.a. Metaphysik Dohna-Wundlacken, AA 28.2,1,639/640. Zum Begriff der Handlung bei Kant: Gerhardt (1986).

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den oder auch der in der Natur wirkenden Substanzen festgelegt. Zugleich läßt sich daraus der Schluß ziehen, daß sich über den Handlungsbegriff allein noch keine scharfe Trennungslinie zwischen theoretischen und praktischen Regeln ziehen läßt. Denn gerade weil der Handlungsbegriff als Prädikabilie zur Kategorie der Kausalität gehört, lassen sich ohne Mühe zahllose theoretische Regeln denken, die in airgemeinen Aussagen darüber bestehen, wie ein bestimmtes Ding unter bestimmten Umständen handelt und welche Wirkungen aufgrund dieser Handlungen zustande kommen. bb) Die freie Willkür und die Gelegenheit Das wahre Kriterium für die Unterscheidung von theoretischen und praktischen Regeln könnte jedoch, so ließe sich argumentieren, wenn schon nicht in unterschiedlichen Prädikaten, so in unterschiedlichen Subjektbegriffen der Regeln liegen, also in dem, was durch die Regel jeweils als bestimmt vorgestellt wird. Praktische und theoretische Regeln unterschieden sich danach durch die Art der Bedingungen, unter denen im einen und im anderen Fall Handlungen gegeben werden. Für diesen Vorschlag scheint zu sprechen, daß Kant praktische Regeln als Regeln einer freien Willkür bezeichnet; daß alle Unterscheidungen, die in der Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen getroffen werden, stets auf die freie Willkür bezogen sind; und daß sich auch nur am Subjektbegriff (d.i. eigentlich an dem, worauf sich der Subjektbegriff bezieht) die Opposition zwischen Natur- und Freiheitsbegriff festmachen läßt, die mit der Unterscheidung von theoretischen und praktischen Regeln doch zusammenzuhängen scheint. Denn allen Objekten, gleichgültig ob sie Naturkausalität oder Kausalität aus Freiheit besitzen, können, sofern sie überhaupt wirken, nach Regeln Handlungen zugesprochen werden. Zu praktischen Regeln werden Regeln nach diesem Vorschlag erst, wenn sie auf eine freie Willkür als ihre Bedingung bezogen werden. Es zeigt sich jedoch, daß auch dieser Vorschlag nicht geeignet ist, das wesentliche Merkmal einer praktischen Regel zu erfassen.39 Die freie Willkür wurde die Bedingung einer praktischen Regel genannt, weil sie dasjenige ist, dem in der Regel die Bestimmung (d.i. die Handlung) allgemein zugesprochen wird. Der Begriff der freien Willkür deckt bei Kant

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Siehe dazu auch unten S.72ff. und 122.

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einen bestimmten Aspekt des Willensbegriffs ab.40 In einer praktischen Regel muß neben einer Bestimmung (d.i. einer Handlung) auch eine Angabe darüber enthalten sein, was durch diese Bestimmung bestimmt bzw. in Beziehung worauf die Bestimmung gesetzt werden soll, und genau dies geschieht durch den Begriff der freien Willkür. Dem Begriff der freien Willkür ist daher auch der Begriff des praktischen Vermögens zugeordnet, und zwar in einer doppelten Hinsicht. Zum einen ist die freie Willkür das Vermögen (und das Bewußtsein des Vermögens), die in der praktischen Regel in Beziehung auf sie gesetzten Bestimmungen zu realisieren, also die in der Regel als für sie tunlich ausgezeichneten Handlungen tatsächlich zu begehen - in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Willkür vom Wunsch, bei dem dieses Vermögen fehlt (bzw. das Bewußtsein des Unvermögens besteht). Die freie Willkür ist zum anderen, und diese Bestimmung ist von entscheidender Bedeutung -, ein Vermögen, das durch die Vorstellung von praktischen Regeln zum Handeln bestimmt werden kann - in dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von der tierischen Willkür, die gerade nicht durch die Vorstellung von Regeln zum Handeln bestimmt wird. In der ersten Hinsicht liegt die Betonung auf der Bestimmung, in der zweiten auf dem Bestimmungsgrund. Man kann auch sagen, in der ersten Hinsicht wird die Willkür betrachtet, sofern sie zu etwas bestimmbar ist, d.h. 40

In der Literatur herrscht die Ansicht vor, daß Kant erst spät mit terminologischer Schärfe zwischen „Wille" und „Willkür" unterschied. Dabei wird auf der einen Seite die These vertreten, daß die Wille/Willkür-Unterscheidung der Unterscheidung zwischen einem noumenalen (reinen) und einem phänomenalen (empirisch-bedingten) Willen entspricht (so z.B. Lauener (1981)). Auf der anderen Seite wird unter der Willkür das Vermögen verstanden, zwischen verschiedenen Zwecken wählen zu können, während der Wille das Vermögen ist, der Willkür Gesetze zu geben (so z.B. Gram (1982), 8/9, Meerbote (1982), 70-74, Konhardt (1986), 174-179, Allison (1990), 129-136). In beiden Fällen wird die Unterscheidung jedoch als problematisch empfunden. Eine gute Darstellung des „Dilemmas", in das man gerät, wenn man zwischen einem gesetzgebenden Willen und einer zwischen Zwecken („willkürlich") wählenden Willkür unterscheidet, gibt Gram (1982), 8. Nach meiner Auffassung muß die Unterscheidung zwischen „Wille" und „Willkür" auf eine andere Weise interpretiert werden. Unter „Willkür" versteht Kant eine besondere Art der Kausalität, die man nicht nur Menschen, sondern auch Tieren zusprechen kann. Sie ist ausgezeichnet durch das Bewußtsein des Vermögens, bestimmte Handlungen begehen oder unterlassen zu können. So ist etwa die Beschleunigung oder Verlangsamung des Herzschlags für die meisten Menschen (und sicherlich für die meisten Tiere) kein Beispiel für eine Handlung, die man willkürlich ausführen kann. Dagegen sind Bewegungen der Gliedmaßen, durch die man seine räumliche Lage verändern kann, in den meisten Fällen (bei Menschen wie Tieren) Beispiele für willkürliche Handlungen. Für die menschliche Willkür ist im Unterschied zur tierischen charakteristisch, daß sie durch die Vorstellung von praktischen Regeln zum Handeln bestimmt wird. Der Wille ist demgegenüber das Vermögen, der (eigenen oder fremden) Willkür praktische Regeln zu geben. Obwohl ich im folgenden von „Willkür" vor allem im Hinblick auf äußere Handlungen spreche, muß man eine Willkür auch im Hinblick auf'innere Handlungen annehmen, d.h. im Hinblick auf Akte der Zwecksetzung - und in diesem ist die Willkür auch ein Vermögen, zwischen Zwecken zu wählen. Praktische Regeln und insbesondere Maximen richten sich sowohl auf mögliche innere wie äußere Handlungen.

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im Hinblick auf ihre Folge, in der zweiten Hinsicht, sofern sie durch etwas bestimmbar ist, d.h. im Hinblick auf ihren (realen) Bestimmungsgrund. Was den ersten Aspekt betrifft, so wird der Begriff der freien Willkür offensichtlich durch den metaphysischen Handlungsbegriff bereits abgedeckt.41 Der Begriff der Handlung setzt voraus, daß die handelnde Substanz den „Grund der Möglichkeit" der Handlung enthält, mithin das Vermögen besitzt, in einer bestimmten Weise zu handeln und kausal wirksam zu sein. Die freie Willkür, gefaßt als Grund der Möglichkeit der Handlung im handelnden Subjekt, stellt jedoch lediglich eine notwendige Bedingung der Handlung dar. Diese Bedingung ist bereits als notwendige nicht in jedem Fall vollständig (es kann also weiterer Bedingungen bedürfen, nämlich äußerer Gründe der Möglichkeit), und schon gar nicht ist sie in jedem Fall auch hinreichend, die Handlung zu tun. Ob eine Handlung möglich ist oder nicht, kann in manchen Fällen zusätzlich davon abhängen, ob andere Ursachen mitwirken und an ihrem Zustandekommen beteiligt sind. Der Inbegriff dieser (räumlich und zeitlich bestimmten) Mitursachen (concausae) ist der Begriff der Gelegenheit. Bei Kant (und bei Baumgarten, auf den sich Kant dabei bezieht) bezeichnet der Begriff der Gelegenheit den „Inbegriff aller Verhältnisse des Raums und der Zeit, die zur Begebenheit concurriren", wobei unter einer „Begebenheit" eine „einzelne Handlung sammt deren Effecten" zu verstehen ist.42 Die Gelegenheit kann wiederum eingeteilt werden in die des Ortes (= opportunitas) und die des Zeitpunktes (= tempestivitas), je nachdem, in welchem räumlichen bzw. zeitlichen Verhältnis die für die Möglichkeit einer Handlung erforderlichen Mitursachen zueinander stehen. Was die spezifische Differenz von Vermögen und Gelegenheit betrifft, so ist diese relativ leicht anzugeben: während sich der Begriff des Vermögens (im Sinne der Willkür) auf alle inneren Gründe der Möglichkeit einer Handlung bezieht, bezieht sich der Begriff der Gelegenheit auf alle äußeren Gründe ihrer Möglichkeit. Willkür und Gelegenheit zusammengenommen ergeben in manchen Fällen erst die vollständigen Gründe der Möglichkeit einer Handlung.

41 42

Zum zweiten Aspekt siehe unten S. 70ff. Cf. Metaphysik L, AA 28.2,1, 573. Auch: Metaphysik Dohna-Wundlacken, AA 28.2,1, 648/689. In aer Metaphysik Dohna-Wundlacken wird auch der Begriff der concausae erläutert: „concausae - Mitursachen, z.B. Vater und Mutter zum Kinde. Die Verknüpfung mehrerer concausatem heißt concursus. causa quae non habet concausam est causa solitaria, die alleinwirkende Ursache, sie ist nicht concursus. Mitursachen sind in Ansehung des causati entweder coordinirt oder subordinirt, z.B. der Großvater, mit dem Enkel etc. causa causae est etiam causa causati (mediate) -..." (648).

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Festzuhalten bleibt, daß in einer praktischen Regel als conditio sine qua non in jedem Fall Angaben über die inneren Gründe der Möglichkeit der in der Regel gesetzten Handlung enthalten sein müssen. Falls diese inneren Gründe för die Möglichkeit einer Handlung nicht zureichend sein sollten, bedarf es notwendig der Ergänzung durch äußere Gründe, und dies kann durch Angaben von Gelegenheiten des Handelns geschehen.43 Mit der Einfuhrung der Begriffe des inneren und des äußeren Grundes der Möglichkeit von Handlungen läßt sich auch präziser fassen, in welcher Hinsicht es in praktischen Regeln zu Quantifikationen kommen kann. Es bieten sich zwei Möglichkeiten an. Zum einen kann über die Bedingung der praktischen Regel, also über den Subjektbegriff quantifiziert werden, der sich auf den inneren Grund der Möglichkeit der Handlung bezieht. Entsprechend lassen sich praktische Regeln unterscheiden, die für die Willkür eines Subjekts, für die Willkür einiger oder für die Willkür aller Subjekte gelten. Zum anderen kann über die Gelegenheit zum Handeln quantifiziert werden. Entsprechend lassen sich praktische Regeln unterscheiden, die für eine einzige, für einige oder für alle Gelegenheiten gelten. Beide Arten der Quantifikation sind bei einer vollständig bestimmten praktischen Regel notwendig. Eine praktische Regel, die zwar Angaben über die inneren und äußeren Gründe der Möglichkeit der Handlung macht, in der aber nur über eine dieser Angaben bzw. über keine der beiden Angaben quantifiziert wird, kann nur in einem höchst unvollkommenen Sinn eine Regel genannt werden. Wenn wir daher nach einer formalen Darstellung von praktischen Regeln suchen, dann kommt als Grundgerüst am ehsten eine Formel des folgenden Typs in Frage: (PRj) „filr die Willkür eines Subjekts (das ich bin) ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a tunlich"; 43

Obwohl es naheläge, statt von „Gründen" von „Bedingungen" der Möglichkeit zu sprechen, redet Kant stets von „Gründen". Dies geschieht nicht zufällig. Unter „Gründen" scheint Kant hinreichende, unter „Bedingungen" hingegen notwendige Bedingungen zu verstehen. In diesem Sinn definiert er in den 80er Jahren: „conditio est, quo non posito non positur aliud. Es ist also nicht der Grund. Die hypothesis kan negativ seyn." (R 6371). Auch in der Vorlesung zur Metaphysik Dohna-Wundlacken heißt es: „conditio quo non posito, non positur aliud (nicht quo ponitur positio alio)" (AA 28.2,1, 625/626). Der Unterschied zwischen „Grund" und „Bedingung" der Möglichkeit besteht offenkundig darin, daß der „Grund" der Möglichkeit vollständig ist und zur Möglichkeit zureicht. Die „Bedingung" der Möglichkeit einer Sache (oder einer Handlung) bezieht sich dagegen auf dasjenige, ohne das die Sache (oder Handlung) nicht möglich ist, durch das allein aber ihre Möglichkeit noch nicht gesetzt wird. Man erkennt aus diesen Bestimmungen bereits, daß die Willkür, wenn sie nicht allein für die Möglichkeit einer Handlung zureicht, sondern dazu mitwirkender Ursachen bedarf, ganz richtig als „Bedingung" der Möglichkeit bezeichnet werden kann. Man kann sie aber auch als inneren „Grund" der Möglichkeit ansehen, weil sie als innerer Grund jederzeit vollständig ist.

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(PR2) „für die Willkür einiger Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a tunlich"; (PR3) „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a tunlich".

In allen diesen Typen von Regeln wird über die Gelegenheit generalisiert.44 Da mit dem Begriff der Gelegenheit der „Inbegriff aller Verhältnisse des Raums und der Zeit, die zur Begebenheit concurriren", gemeint ist, gibt dieser Begriff genug Freiheit für räumliche und zeitliche Spezifizierungen (z.B. „ich will einmal am Tag laufengehen" etc.).45 Freilich ist der Begriff der Gelegenheit auch dann noch reichlich unspezifisch. Weil er alle mitwirkenden Ursachen umschließt, die eine Handlung ermöglichen, können dazu ebenso bestimmte räumliche und zeitliche Konstellationen von Naturursachen gehören, wie andere mit einer Willkür ausgestattete Subjekte, die dem einzelnen bei der Ausführung solcher Handlungen helfen könnten, die er allein nicht zu begehen vermag. Genauer bleibt bei dem Begriff der Gelegenheit das Verhältnis der mitwirkenden Ursachen zueinander bzw. zur ersten wirkenden Ursache unbestimmt. Dieses Verhältnis kann eines der Koordination oder der Subordination sein, und es kann sogar in manchen Fällen durchaus offen für beide Verhältnisbestimmungen sein. Schließlich noch eine letzte Bemerkung, die jedoch erst in der Folge wichtig werden wird. Das Vermögen und die Gelegenheit zum Handeln bilden zusammengenommen die (vollständigen) Gründe der Möglichkeit der in der Regel gesetzten Handlung. Nun bestimmt Kant in der GMS das, was „bloß den Grund der Möglichkeit der Handlung enthält, deren Wirkung Zweck ist", als

44

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Rein formal könnten wir auch „Regeln" bilden der Art: „für meine Willkür ist bei einer (einzelnen) Gelegenheit O die Handlung a tunlich", oder: „für die Willkür einiger Subjekte ist bei einigen Gelegenheiten O die Handlung a tunlich". Es stellt sich jedoch die Frage, wie solche „Regeln" interpretiert werden müssen und ob es sich überhaupt um Regeln handelt, wenn für eine Regel charakteristisch ist, daß sie Allgemeingültigkeit beansprucht. Im Falle der „Regel": „Für meine Willkür ist bei einer (einzelnen) Gelegenheit O die Handlung a tunlich" haben wir es offenbar mit einer Absicht zu tun. Absichten wären dann in gewisser Weise das Minimum von praktischen Regeln, da sie sich auf die Willkür eines einzelnen Subjekts und auf eine einzelne Gelegenheit beziehen. Freilich erscheint es zweifelhaft, ob Absichten überhaupt als Regeln interpretiert werden können oder ob sie nicht lediglich Anwendungsfalle von praktischen Regeln darstellen. Der Begriff der Gelegenheit ist ein Sammelbegriff, der verschiedene Situationsbeschreibungen umfaßt. Cf. zu weiteren Differenzierungen und insbesondere zur Unterscheidung zwischen Handlungen, die als „circumstances", und Handlungen, die als „identifiers" auftreten: Castarkda (1975), 208-214. Falls eine Gelegenheit zum Handeln zu jedem Zeitpunkt besteht, also bereits allein durch die inneren Gründe der Möglichkeit oder durch beständige äußere Bedingungen gegeben ist, kann über zeitliche Bestimmungen quantifiziert werden, wie z.B. in der Regel: „ich will jeden Tag um punkt 4 Uhr meinen Freund Green besuchen und sein Haus pünktlich um 7 Uhr verlassen".

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Mittel.46 Die Art, wie Kant den Begriff des Mittels erläutert, erlaubt keinen Zweifel daran, daß sowohl das Vermögen wie die Gelegenheit zum Handeln unter diesem Begriff befaßt sind. Dennoch besteht ein Unterschied zwischen ihnen, der zwar fein, aber von großer Folgekraft ist. Sowohl das Vermögen wie die Gelegenheit zum Handeln können nur dann „bloß" als Mittel betrachtet werden, wenn sie der wirkenden Ursache vollständig subordiniert sind und eine uneingeschränkte Verfügungsgewalt über sie besteht. Es wird sich noch zeigen, daß Kants Moralprinzip Bedingungen angibt, die die Einschränkung der unbegrenzten Verfügungsgewalt über die Grunde der Möglichkeit von Handlungen zum Zweck haben. Wenn wir daher einsehen wollen, wie Kant sein Moralprinzip begründet, dann müssen wir herauszufinden versuchen, welche Gründe für eine Einschränkung der Verfügungsgewalt über die Gründe der Möglichkeit von Handlungen gegeben werden können. Ansatzpunkt dafür ist wiederum der Begriff der freien Willkür, und zwar im Hinblick auf seine bislang noch nicht näher erörterte zweite Bedeutungskomponente. Mit dem Begriff der freien Willkür ist nicht nur das Vermögen gemeint, Handlungen, die in der praktischen Regel als tunlich gesetzt werden, begehen zu können, sondern auch das Vermögen, durch die Vorstellung von praktischen Regeln zu Handlungen bestimmbar zu sein. Bei dieser zweiten Bedeutung von praktischem Vermögen betrachten wir die Willkür im Hinblick auf ihren Bestimmungsgrund.

cc) Der Bestimmungsgrund Wenn man unter der Willkür lediglich das Vermögen versteht, zu Handlungen bestimmt werden zu können, die in praktischen Regeln als tunlich gesetzt werden, dann hat man damit den Begriff des Willens, um dessen genaue Bestimmung es zunächst geht, noch in keiner Weise erreicht oder auch nur berührt. Der Begriff des Willens geht über den Begriff der Willkür insofern hinaus, als er eine Angabe über den Bestimmungsgrund der Willkür enthält. Darauf zielt auch die für die terminologische Unterscheidung von Wille und Willkür maßgebliche Stelle in der Einleitung der Metaphysik der Sitten: „Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird, heißt ein Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen. Sofern es mit dem Bewußtsein des Cf. CMS, BA 63.

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Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist, heißt es Willkür, ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Actus desselben ein Wunsch. Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjekts angetroffen wird, heißt der Wille. Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, betrachtet, und hat vor sich selbst eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst."47

Erst über den Begriff des Willens läßt sich (daher) an der praktischen Regel das vollständig erfassen, was im eigentlichen Sinn praktisch ist. Und umgekehrt, wenn man zu einer genauen Bestimmung des Willensbegriffs gelangen und damit das Fundament für die Bildung der Idee eines reinen Willens legen will, dann muß man neben den bisher betrachteten Komponenten im Begriff der praktischen Regel auch untersuchen, worauf das Gesetztsein der Bestimmung beruht, das in ihr im Hinblick auf die freie Willkür praktisch behauptet wird. Dies ist weder mit der Angabe der für eine praktische Regel als solche charakteristischen Bestimmung (= Handlung) noch mit der ihrer Bedingung (= Willkür) bereits geschehen. Um angeben zu können, worin der Bestirnmungsgrund der Willkür besteht, muß man auf die von Kant getroffene Unterscheidung zwischen einem logischen und einem realen Grund der Bestimmung zurückgreifen. Es läßt sich dann feststellen, daß die Willkür, da sie ein Vermögen der Kausalität ist, zu ihrer Bestimmung eines realen Grundes (einer Ursache) bedarf, der zugleich die Kraft besitzen muß, sie zu sollizitieren und Handlungen hervorzurufen. Wie bereits deutlich geworden ist, zeichnet sich die menschliche (freie) Willkür vor anderen Arten der Kausalität gerade dadurch aus, daß sie durch die Vorstellung einer praktischen Regel zum Handeln bestimmt wird. Der reale Grund der Bestimmung der Willkür besteht folglich in der Vorstellung einer praktischen Regel. Man kann sich jedoch praktische Regeln vorstellen, ohne daß mit dieser Vorstellung bereits eine kausale Wirkung verknüpft ist, die Vorstellung der Regel allein also schon ausreicht, der Regel zu folgen und bestimmte Handlungen zu begehen. Es stellt sich daher die Frage, von welchen Bedingungen es abhängt, ob die Vorstellung einer praktischen Regel ein die Willkür bestimmender realer Grund wird, bzw. was die Vorstellung einer praktischen Regel, die realer Grund der Bestimmung der Willkür ist, von der Vorstellung einer praktischen Regel unterscheidet, die dies nicht ist.

47

Cf.MS/RL, AB 4/5. Herv. Kant.

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Diese Frage hängt eng mit der Frage zusammen (die wir daher wieder aufgreifen müssen), wie sich theoretische und praktische Regeln voneinander unterscheiden. Praktische Regeln sind im Unterschied zu theoretischen Regeln solche, die unter bestimmten Voraussetzungen eine kausale Wirksamkeit entfalten, also eine Kraft besitzen, das Vermögen der Willkür zu bestimmen. Da ihnen diese Eigenschaft weder aufgrund der in ihnen enthaltenen Bestimmungen noch aufgrund der in ihnen enthaltenen Bedingungen zukommt, kann es nur die besondere Art der Verknüpfung von Bestimmung und Bedingung sein, die den eigentlichen Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Regeln begründet. Im Fall der theoretischen Regeln erfolgt die Verknüpfung durch die Kopula „ist". „Das Wörtchen: ist", so Kant, „ist nicht noch ein Prädikat oben ein, sondern nur das, was das Prädikat beziehungsweise aufs Subjekt setzt".48 Im Fall der praktischen Regeln erfolgt die Verknüpfung nicht durch die Kopula „ist", sondern, wie ich vorschlagen möchte, durch die Kopula „ist tunlich". Im folgenden soll die These vertreten werden, daß eine praktische Regel eine Regel ist, in der eine Handlung als tunlich für die Willkür von Subjekten vorgestellt wird.49 Dabei soll unter „Tunlichsein" ein Analogen zur Kopula in theoretischen Urteilen verstanden werden.50 Diese „praktische" Kopula bringt die Verknüpfung einer Handlung mit der Willkür zum Ausdruck. Sie beinhaltet, daß die Handlung für die Willkür möglich ist und daß sie für die Willkür wirklich zu tun ist, wenn sie in einer Regel mit ihr assertorisch verknüpft ist. Darin, daß praktische Regeln das Tunlichsein von Handlungen (bzw. von deren Unterlassung) vorstellen, unterscheiden sie sich von theoretischen Regeln, in denen nicht Handlungen als tunlich für..., sondern Bestimmungen als beziehungsweise aufs Subjekt gesetzt vorgestellt werden, und zwar, worauf es hier 48 49

50

Cf. KrV, B 626/627. Herv. Kant. Ich entnehme diese Erklärung einer praktischen Regel der eher beiläufigen Bemerkung, die Kant in der MS/TL zum Unterschied zwischen einem „Beispiel" und einem „Exempel" macht Im Unterschied zum „Beispiel", das die „bloß theoretische Darstellung eines Begriffs" meint, ist ein „Exempel" ein besonderer Fall von einer praktischen Regel, sofern diese die Tunlichkeit oder Untunlichkeit einer Handlung vorstellt." (Cf. MS/TL, AB 168 Anm. Herv. Kant). Der Begriff der „Tunlichkeit" ist jedoch in einem gewissen Sinn doppeldeutig. Zunächst meint er sicher bei Kant (und im Sprachgebrauch der Zeit), daß eine Handlung zu tun möglich ist. In diesem Sinn demonstriert ein Exempel, daß die Handlung, die in einer praktischen Regel als zu tun möglich vorgestellt wird, in der Tat ausgeführt werden kann. In der Arbeit verwende ich den Ausdruck jedoch zugleich in einem strengeren Sinn. Eine Handlung wird danach in einer praktischen Regel als tunlich vorgestellt, wenn es nicht nur in meinem Belieben steht, sie zu begehen, sondern dies von mir auch gefordert wird. Cf. hierzu: Castafteda (1975), 96, der zur Unterscheidung von „proposition" und „prescription" einen ähnlichen Ansatz wählt und dem diese Arbeit zahlreiche Anregungen verdankt.

Der Begriff des Willens

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ankommt, in dieser Beziehung als unabhängig von der Vorstellung der Regel gesetzt. Die praktische Kopula „ist tunlich" bezeichnet die Art und Weise, wie die Bestimmung (d.i. die Handlung) in Beziehung auf das Subjekt gesetzt ist, - darin gleicht sie der theoretischen Kopula -, aber in diesem Gesetztsein ist enthalten, daß es nicht unabhängig von der Vorstellung der Regel selbst ist und darin unterscheidet sie sich von der theoretischen Kopula.51 Mit der Auszeichnung einer Handlung als „tunlich für..." muß allerdings nicht notwendig bereits ein Sollen verbunden sein. Eine Handlung ist nur dann nicht allein „tunlich für...", sondern „soll" getan werden, wenn es Bestimmungsgründe der Willkür gibt, die denen, aus denen sich das Tunlichsein der betreffenden Handlung ableiten läßt, entgegenstehen. „Tunlichsein" ist als Kopula für praktische Regeln ganz allgemein charakteristisch, „sollen" nur für solche praktischen Regeln, die zugleich Imperative sind. In diesem Sinn befolgt ein heiliger Wille zwar praktische Regeln (und Gesetze), aber keine Imperative.52 Berücksichtigt man, daß es ein und dieselbe praktische Regel sein kann, deren Vorstellung im einen Fall die Kraft besitzt, die Willkür zu bestimmen, im anderen nicht, dann kommt man zu dem Schluß, daß inhaltliche Unterschiede dafür nicht relevant sein können. Ob eine praktische Regel realer Grund der Willkürbestimmung ist, scheint vielmehr allein von der modalen Auszeichnung der Regel abzuhängen, d.h. davon, ob sie als problematisch, assertorisch oder apodiktisch gültig vorgestellt wird. Da diese modale Auszeichnung ihrer Spezifikation nach wiederum davon abhängigt, ob und in welchem Grad sie mit einem Bestimmungsgrund im Sinn eines logischen Grundes verknüpft ist, läßt sich ein direkter Zusammenhang zwischen dem (logischen) Begründetsein einer praktischen Regel und ihrem (realen) Grundsein herstellen.

91

52

Im Deutschen ist die praktische Kopula nur schwer darzustellen. Der gewählte Ausdruck „ist tunlich" darf nicht so verstanden werden, auch wenn einzelne Formulierungen das nahelegen könnten, daß damit Handlungen im propositionalen Sinn die Eigenschaft „tunlich" zugesprochen werden soll. Castaneda (1975) identifiziert als den Kern von „prescriptions" sogenannte „practitions"; diese haben bei ihm die Form „Xto do A" (Cf. 43ff, 215ff). Auch dies läßt sich auf deutsch nur schwer wiedergeben. Insofern ist Schmucker (1955) recht zu geben, wenn er schreibt: „Das Sollen ist... nicht die grundlegende, sondern eine abgeleitete, sekundäre Form des Sittengesetzes, die lediglich durch die Unvollkommenheit unserer sinnlich affizierbaren Willkür bedingt ist." (164). Nicht zustimmen kann ich ihm jedoch, wenn er fortfahrt: „Primär ist es ein Seinsgesetz, das Seinsgesetz des reinen Vernunftwillens als solchen ..." (Herv. Schmucker). Die Unterscheidung zwischen einem Sollensgesetz und einem Seinsgesetz scheint mir an der Sache vorbeizugehen. Denn offenbar folgt der heilige Wille weder einem Sollens- noch einem Seinsgesetz, sondern einem praktischen Gesetz.

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Die Idee des autonomen Willens

Erst an dieser Stelle kommt der Begriff des Willens ins Spiel. Denn man kann den Willen als das Vermögen ansehen, sich selbst (d.i. die eigene Willkür) durch praktische Regeln zu bestimmen, wobei diese Regeln begründet (also Sätze) sein müssen, weil sie nur als begründete Regeln im Sinne realer Gründe kausal wirksam sein können. Umgekehrt gilt, daß die freie Willkür, also die Willkür, die im Unterschied zur tierischen Willkür nur durch die Vorstellung von Regeln zum Handeln bestimmt werden kann, jederzeit auf einen Willen bezogen sein muß, der ihr diese Regeln (im Sinne von begründeten Regeln) gibt. Die entscheidende Frage lautet nun, worin die (logischen) Bestimmungsgründe von praktischen Regeln bestehen. C. Die Arten praktischer Regeln In der Tafel der Kategorien der Freiheit unterscheidet Kant im Hinblick auf praktische Regeln unter dem Gesichtspunkt der Quantität zwischen Maximen, Vorschriften und Gesetzen. Die Zuordnung zum Titel der Quantität legt die Vermutung nahe, daß sich die Unterscheidung darauf gründet, wie in einer praktischen Regel im Hinblick auf den Subjektbegriff quantifiziert wird. Je nachdem, ob die Regel das Tunlichsein einer Handlung für die freie Willkür eines einzelnen Subjekts oder für die freie Willkür einiger oder für die aller Subjekte behauptet, wäre sie als Maxime oder als Vorschrift oder als Gesetz einzustufen. Diese Vermutung trifft zwar in gewisser Weise zu, doch wird sie der ganzen Komplexität der Unterscheidung von Maxime, Vorschrift und Gesetz bei Kant nicht gerecht. Maxime, Vorschrift und Gesetz unterscheiden sich nicht nur unter quantitativen Gesichtspunkten.53 Man kann dies schon daraus ersehen, daß Kant die Einteilung der drei Arten praktischer Regeln in der Tafel der Kategorien der Freiheit gerade nicht mit dem Hinweis auf ihren unterschiedlichen Allgemeinheitsgrad begründet. Vielmehr zeichnen sich nach seinen Worten Maximen dadurch aus, daß sie subjektiv gültig und bloße „Willensmeinungen" sind, Vorschriften dadurch, daß sie objektiv gültig sind und „für eine Gattung vernünftiger Wesen" gelten, „so fern sie in gewissen Neigungen übereinkommen", und Gesetze schließlich dadurch, daß sie subjektiv und objektiv gültig sind und für alle gelten, „unangesehen ihrer Neigungen".54 33 34

Für alle drei Arten von praktischen Regeln muß gelten, daß sie (qua Regeln) in der einen oder anderen Hinsicht allgemeingültig sein müssen. Cf.KpV, A 117-119.

Der Begriff des Willens

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Kant scheint also die Unterscheidung der verschiedenen Arten von praktischen Regeln im Hinblick darauf zu treffen, in welchem Verhältnis die Regeln zu den „Neigungen" des vernünftigen Wesens stehen und ob sie entweder subjektiv oder objektiv oder subjektiv und objektiv gültig sind. Was hat es mit diesen Kriterien auf sich? Bei der Analyse der allgemeinen Struktur von praktischen Regeln wurde bislang davon ausgegangen, daß in einer praktischen Regel eine Handlung (bzw. deren Unterlassung) als tunlich für die Willkür einer Klasse von Subjekten vorgestellt wird. Diese Voraussetzung ist jedoch in einer Hinsicht noch ungenau und bedarf einer Präzisierung. Denn es wird dabei unbestimmt gelassen, in welchem Modus das Urteil über das Tunlichsein einer Handlung bzw. ihrer Unterlassung für... jeweils erfolgt. In einem theoretischen Urteil kann die Bejahung oder Verneinung einer Bestimmung entweder als problematisch oder als assertorisch oder als apodiktisch angesehen werden, und das Urteil muß zudem in wenigstens einer dieser Weisen modal bestimmt sein. Im Unterschied zu den Verstandesranktionen der Quantität, der Qualität und der Relation hat die Funktion der Modalität das Besondere an sich, wie Kant in der ÄrFbemerkt, „daß sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt (...), sondern nur den Wert der Kopula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht. Problematische Urteile sind solche, wo man das Bejahen oder Verneinen als bloß möglich (beliebig) annimmt. Assertorische, da es als wirklich (wahr) betrachtet wird. Apodiktische, in denen man es als notwendig ansieht."55

Auch in einer praktischen Regel ist die Weise, wie über das Tunlichsein einer Handlung für die freie Willkür einer Klasse von Subjekten geurteilt wird, auf analoge Art stets modal bestimmt. Die Handlung wird entweder als möglicherweise oder als wirklich oder als notwendigerweise tunlich für die freie Willkür einer Klasse von Subjekten angesehen. Die allgemeine Formel für die praktische Regel muß daher um eine weitere Bestimmung ergänzt werden und lautet dann: (PRj*M*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a möglicherweise tunlich"; (PR, *W*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich";

53

Cf. KrV, B 100.

76

Die Idee des autonomen Willens

(PRj*N*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendigerweise tunlich".56

Allerdings darf die Analyse bei diesem Ergebnis noch nicht stehenbleiben. Zu einem wirklichen Erkenntniszuwachs kommt es erst, wenn man auch angeben kann, wovon die modale Bestimmung der praktischen Regel jeweils abhängt. Um dahin gelangen zu können, muß man über den Rahmen hinausgehen, der durch die bisher analysierte formale Struktur praktischer Regeln vorgegeben wird, und auch den Bestimmungsgrund der Regeln in die Analyse einbeziehen. Denn ob in einer praktischen Regel eine Handlung als möglicherweise oder als wirklich oder gar als notwendigerweise tunlich für die freie Willkür betrachtet wird, hängt in entscheidendem Maße davon ab, wie der Bestimmungsgrund der Regel der Willkür beschaffen ist. Ähnlich wie im Hinblick auf theoretische Urteile läßt sich auch im Hinblick auf praktische Regeln konstatieren, daß der Bestimmungsgrund keine weitere inhaltliche Bestimmung zur Regel hinzufügt, aber sehr wohl den „Wert der Kopula" (des: „ist tunlich") verändern kann. Je nachdem, wie der Bestimmungsgrund beschaffen ist, kann der Modus verschieden sein, in dem in einer praktischen Regel das Tunlichsein einer gewissen Handlung für die freie Willkür bewertet wird. Diese Abhängigkeit des Modus der Bestimmung der freien Willkür vom logischen Bestimmungsgrund der Regel wird in Kants Unterscheidung zwischen Maxime, Vorschrift und Gesetz u.a. dadurch zum Ausdruck gebracht, daß die Maxime als subjektiv, die Vorschrift als objektiv und das Gesetz als sowohl subjektiv wie objektiv gültig bezeichnet wird. Um diese abstrakten Überlegungen besser erläutern zu können, ist es ratsam, die drei Arten praktischer Regeln im einzelnen durchzugehen.

36

Es stellt sich die Frage, wodurch sich die hier diskutierten modalen Bestimmungen der praktischen Regel von den praktischen Modalitäten unterscheiden, die Kant in der Tafel der Kategorien der Freiheit aufzählt In A/S, AB 19 stellt Kant fest, daß es sich bei diesen praktischen Modalitäten um das moralisch Mögliche, das moralisch Wirkliche und das moralisch Notwendige handelt. Die von mir an dieser Stelle behandelten Modalitäten beziehen sich ganz allgemein auf den modalen Wert des Tunlichseins. Eine Maxime zeichnet sich vor anderen Arten von praktischen Regeln dadurch aus, daß ich in ihr eine Handlung als wirklich tunlich für mich (meine Willkür) ansehe, und dies ist ganz unabhängig davon, ob die Handlung selbst moralisch möglich ist oder nicht. Auch eine Handlung, die unerlaubt (moralisch unmöglich) ist, kann Bestimmung einer Maxime sein und damit von mir als wirklich (also erst recht möglicherweise) tunlich für mich beurteilt werden. Offenbar haben wir es bei den praktischen Modalitäten mit einem engeren Modalitätsbegriff zu tun als bei den hier diskutierten. Der Unterschied zwischen beiden Modalitätsbegriffen entspricht dem, der in der KrV zwischen den logischen und den realen Modalitätsbestimmungen getroffen wird, nur daß sich, wie noch zu zeigen sein wird, das Verhältnis beider umkehrt, d.h. die praktischen Modalitäten entsprechen den logischen Modalitätsbestimmungen, die von uns im Augenblick diskutierten Modalitäten den realen.

Der Begriff des Willens

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a) Maximen Obwohl Kant den Maximen von allen Arten praktischer Regeln eine besondere Stellung zugewiesen und sich die Forschung um eine genaue Bestimmung des Begriffs der Maxime bemüht hat, kann noch immer nicht als restlos aufgeklärt gelten, was unter einer Maxime zu verstehen ist. Erklärungsbedürftig erscheint v.a. der Zusammenhang von vier Aspekten im Begriff der Maxime.57 Eine Maxime ist danach (1) eine praktische Regel, die sich auf die freie Willkür eines einzelnen Subjekts bezieht; (2) eine praktische Regel, nach der das einzelne Subjekt wirklich handelt (bzw. handeln will); (3) ein praktischer Grundsatz, der mehrere praktische Regeln unter sich hat; (4) ein subjektives Prinzip, das als solches den Status einer „Willensmeinung" besitzt.

Im folgenden möchte ich eine Interpretation des Maximenbegriffs vorschlagen, bei der diese vier Bestimmungen berücksichtigt sind. Ausgehen möchte ich bei meinen Überlegungen von der zweiten Bestimmung. Alle Erläuterungen, die Kant in seinen Schriften zum Begriff der Maxime gibt, kommen darin überein, daß sie die Maxime als eine praktische Regel vorstellen, nach der der einzelne wirklich handelt. So heißt es in einer Anmerkung der QMS: ist das subjektive Prinzip zu handeln, und muß vom objektiven Prinzip, nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden. Jene enthält die praktische Regel, die die Vernunft den Bedingungen des Subjekts gemäß (öfters der Unwissenheit oder auch den Neigungen desselben) bestimmt, und ist also der Grundsatz, nach welchem das Subjekt handelt."5*

Und in der Metaphysik der Sitten definiert Kant: , /oxi'me aber ist das subjektive Prinzip zu handeln, was sich das Subjekt selbst zur Regel macht (wie es nämlich handeln will)."59

37

58 39

Cf. hierzu: Bittner (1974), 485-498, Bubner (1976), 185-200, Hoffe (1979), 86-102. Hoffe unterscheidet im Anschluß an Bittner zwischen Maximen im Sinne von selbstgesetzten Lebensregeln (Regeln „für die Bestimmungsgründe unseres Wollens" (88)) und Handlungsregeln. Cf GMS, BA 51 Anm. Herv. Kant. Cf. MS, AB 26. Herv. Kant. Cf. auch: MS, AB 25: „Die Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht, heißt seine Maxime." Cf. außerdem: GMS, BA 15 Anm.,KrV, B 94Q,MS/RL, A 178/179 Anm.,A/&TL, A 19.

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Die Idee des autonomen Willens

Auch in der Vorlesung zur Metaphysik der Sitten Vigilantius wird die Maxime durch eine modale Bestimmung charakterisiert und vom objektiven Prinzip (d.i. der Vorschrift oder dem Gesetz der Handlung) unterschieden: „Die maxime der Handlung differirt nämlich vom objectiven Princip darin, daß letzteres nur insoweit statt findet, als die Möglichkeit der Handlung nach gewissen Vemunftgründen gedacht wird, erstere aber überhaupt alle subjectiven Gründe zur Handlung in sich begreift, insofern letztere als wirklich gedacht wird."60

Nun wird an der Vigilantius-Stelle allerdings nicht nur behauptet, daß im objektiven Prinzip (der Vorschrift oder dem Gesetz) die Möglichkeit der Handlung, in der Maxime dagegen die Wirklichkeit der Handlung gedacht wird, sondern es wird auch zu einer Begründung des besonderen modalen Status angesetzt, den die Maxime im Unterschied zum objektiven Prinzip besitzt. Da die Maxime diejenige praktische Regel ist, die der einzelne seinem Handeln faktisch zugrundelegt und nach der er wirklich handelt (oder handeln will), müssen in ihr auch alle Bedingungen erfüllt sein, die erfüllt sein müssen, damit die gegebene Handlung wirklich erfolgt. Die Maxime muß also, wie es in der Vorlesung heißt, „alle subjectiven Gründe der Handlung in sich begreifen"; sie muß, wie es sich an einer anderen Stelle bei Kant formuliert findet, „das maximum in Bestimmung der Handlungsgründe" enthalten.61 Das besagt, daß diese Gründe zureichende Gründe der Wirklichkeit der Handlung sein müssen. Da die Handlungen, um die es hier geht, Handlungen einer freien Willkür sind, eine freie Willkür aber durch praktische Regeln zum Handeln bestimmt wird, muß unterstellt werden, daß im Fall einer Maxime allein die modale Auszeichnung dieser praktischen Regel ausreicht, um die Willkür zur Ausführung der Handlung zu bewegen. Wir müssen mit anderen Worten unterstellen, daß, wann immer eine freie Willkür handelt, sie durch eine praktische Regel bestimmt wird, in der die von ihr begangene Handlung als wirklich tunlich für sie gesetzt ist, und daß bei einer solchen praktischen Regel die (logischen) Bestimmungsgründe ausreichen, um ihr diese besondere Modalitätsbestimmung zu verleihen.62

*° Cf. Metaphysik der Sitten Vigilantius, AA27.2.1,495. 61 Cf. ibd. 62 Zu dieser „sehr subtilen Materie" cf. Metaphysik Dohna-Wundlacken, AA 28.2,1, 678: „Actio voluntaria in so fern sie nach Maximen entspringt (maxime - Maximen, principia practice subjectiva weil sie propositio major in practischen Syllogismen seyn würden), involuntaria - nicht mit Willen, nicht nach seiner Maxime. Dies ist eine sehr subtile Materie - als freihandelndes Wesen kann der Mensch eigentlich nichts nicht mit Willen thuen - immer handelt er nach Maximen wenn auch nicht universaliter."

Der Begriff des Willens

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Somit besteht zwischen der Charakterisierung der Maxime als einer praktischen Regel, nach der der einzelne wirklich handelt (bzw. handeln will), und den (logischen) Bestimmungsgründen der Regel ein unmittelbarer Zusammenhang. Weil die freie Willkür des einzelnen Subjekts durch die Vorstellung einer praktischen Regel, die darin realer Bestimmungsgrund der Willkür ist, tatsächlich dazu bestimmt wird, eine Handlung zu begehen (oder zu unterlassen), müssen auch die (logischen) Bestimmungsgründe der Regel für die Auszeichnung der in der Regel gesetzten Handlung als wirklich tunlich für sie zureichend sein. Wie läßt sich dies in allgemeiner Weise darstellen? Wenn wir als Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage die formale Darstellung wählen, die nach unserer Analyse des Begriffs der praktischen Regel das Grundgerüst aller praktischen Regeln bildet, dann haben wir es im Fall einer Maxime mit einer praktischen Regel zu tun, die sich auf die freie Willkür eines einzelnen Subjekts bezieht. Eine Maxime muß daher zumindest eine Regel des folgenden Typs enthalten: (PRj *W*) „flir meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich".

In dieser Regel wird das Tunlichsein der Handlung a für die Willkür des eigenen Subjekts zugleich als assertorisch vorgestellt, ohne daß bisher eine Möglichkeit besteht, die Bedingungen dafür an der Formel selbst zum Ausdruck zu bringen. Das Grundgerüst der praktischen Regel muß daher um eine Komponente erweitert werden, die es erlaubt, die Modalität des in der Regel beurteilten Tunlichseins der Handlung für die eigene Willkür in funktionaler Abhängigkeit von den (logischen) Bestimmungsgründen der Regel darzustellen. Im Fall der Maxime bezieht sich diese Komponente auf die innerlich zureichenden Gründe der Wirklichkeit der Handlung, mithin auf die Bestimmungsgründe meiner Willkür. Die ergänzte Analyseformel der Maxime lautet daher: aus einem Bestimmungsgrund P gilt: (PRj*W*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich".

Aus dieser vorläufigen Beschreibung der allgemeinen Struktur einer Maxime geht bereits hervor, warum Kant die Maxime ein praktisches Prinzip 63

63

Dies ist wohlgemerkt nur die Formel für eine Maxime. Um alle Bestimmungsaspekte einer praktischen Regel mit entsprechenden Variablen zum Ausdruck zu bringen, müßte die Analyseformel in etwa so aussehen: „aus einem Bestimmungsgrund P gilt: für die freie Willkür von X ist bei Gelegenheit O die Handlung a im Modus M tunlich1", wobei für „im Modus M" „möglicherweise" oder „wirklich" oder „notwendigerweise", für „X" „ein Subjekt" (gegebenenfalls: „das eigene Subjekt"), „einige Subjekte" oder „alle Subjekte" eingesetzt werden kann. Entsprechend wären noch Quantifizierungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Gelegenheit zu berücksichtigen. Auch diese

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Die Idee des autonomen Willens

nennt. Offenbar sind für Kant praktische Regeln nur Regeln der Art (PRi) (PR3). Sie werden zu praktischen Prinzipien, sobald sie erstens auf jede Gelegenheit zum Begehen einer bestimmten Art von Handlungen bezogen und zweitens um den (logischen) Bestimmungsgrund erweitert werden.64 Die entscheidende Frage lautet nun, wie der Bestimmungsgnmd P analysiert werden muß. Vorweg läßt sich bereits sagen, daß der Bestimmungsgrund der praktischen Regel, was immer er enthalten mag, jedenfalls so beschaffen sein muß, daß durch ihn zum einen begründet wird, warum die Handlung für die eigene Willkür bei jeder Gelegenheit O tunlich ist, und zum anderen, warum sie für die eigene Willkür bei jeder Gelegenheit O wirklich tunlich ist. Daß Maximen im Hinblick auf den ersten Punkt begründet sein müssen, bezieht sich auf die Bedingung, unter der ihnen eine zeitliche Dimension zukommt und die sie zu Lebensregeln macht. Zugleich sind sie dadurch, aber eben nur, insofern sie in dieser Hinsicht selbst begründet sind, subjektive Prinzipien, aus denen sich Absichten der Art: (Ij) „für meine Willkür ist bei dieser Gelegenheit O1 die Handlung a wirklich tunlich"

ableiten (und damit begründen) lassen. Die Forderung, daß Maximen im Hinblick auf den zweiten Punkt begründet sein müssen, bezieht sich dagegen auf die Voraussetzung, unter der sießir richtig gehalten werden. Im folgenden möchte ich die These vertreten, daß der Bestimmungsgrund der praktischen Regel wiederum drei Komponenten besitzt und die vollständig erschlossene Analyseformel einer Maxime daher lauten muß: aus einem Grund R willj ich den Zweck S und darum gilt: (PR|*W*) „ich will2 bei jeder Gelegenheit O die Handlung a (zum Zweck S) wirklich tun".

64

Formel ist allerdings noch in zwei Hinsichten ungenau. Zum einen bedarf es noch einer Analyse des Bestimmungsgrundes P; zum anderen wird sich zeigen, daß die Handlung a durch den Zusatz charakterisiert werden muß: „zu einem Zweck", wobei dies entweder ein bestimmter Zweck S oder irgendein (unbestimmt welcher) Zweck ist. Maximen erweisen sich noch in einer dritten Hinsicht als Prinzipien. Offenbar ist für diese Art von praktischen Regeb auch charakteristisch, daß sie sich auf eine ganz allgemeine Weise auf Handlungen beziehen. Wenn ich mir zur Maxime mache, keine Beleidigung ungerächt zu erdulden, dann ist damit die Handlung der Rache, die ich für den Fall der Beleidigung als tunlich für mich ansehe, noch in keiner Weise spezifiziert. Man kann dies in der Analyseformel der Maxime berücksichtigen, indem man „Handlung a" durch „Handlung a zum Zweck S" ersetzt und letzteres interpretiert als: „eine Handlung a (noch unbestimmt welche), die zur Verwirklichung des Zwecks S dient und insofern zum Wollen des Zwecks S zusammenstimmt".

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Dabei ist unter „will2" die eigene Willkür zu verstehen, sofern für sie Handlung a tunlich ist, unter „willj" der eigene Wille, sofern er der eigenen Willkür die praktische Regel (PRj*W*) gibt. Man erkennt nun leicht, daß der Bestimmungsgrund P der praktischen Regel (PRj*W*) von ähnlicher Struktur ist wie die vollständig erschlossene Analyseformel der Maxime selbst: denn auch der Bestimmungsgrund P enthält eine Regel, - nur daß diese eine Regel des Wollens eines Zwecks ist - , und auch diese Regel hängt ihrerseits von einem Bestimmungsgrund (dem „Grund R") ab, also von einem Grund, der darüber entscheidet, ob der Zweck möglicherweise, wirklich oder notwendigerweise von einer Person gewollt wird. Es ist offensichtlich, daß man damit am Ende die Differenz zwischen Maximen der Zwecke und Maximen der Handlungen erfaßt, die Kant wie selbstverständlich in der Metaphysik der Sitten verwendet, und zugleich etwas über ihren Zusammenhang ausmachen kann. Denn hinter der vorgeschlagenen Analyse steht die These, daß eine Maxime, nach der eine Person wirklich handelt, ohne eine Maxime der Zwecke der betreffenden Person gar nicht verständlich gemacht werden kann, vielmehr stets einer solchen Maxime der Zwecke bedarf, bei der ein bestimmter Zweck von der Person auch wirklich gewollt wird. Darüber hinaus wird man, wenn man den vollständigen (logischen) Bestimmungsgrund der Maxime in dieser Weise analysiert, drei wichtigen Aspekten gerecht, die mit dem Begriff der Maxime (und daher auch mit dem Begriff des Willens) untrennbar verbunden sind: (1) In der GMS stellt Kant fest, daß der „objektive Grund der Selbstbestimmung" des Willens im Zweck liegt, den sich der Wille setzt. Es erscheint daher auf jeden Fall gerechtfertigt, den Zweck in der vollständig erschlossenen Formel der Maxime auf der Seite der Bestimmungsgründe der Regel der freien Willkür anzusiedeln und dem bestimmenden Willenj zuzuordnen, der sich selbst (im Sinn der eigenen Willkür oder des Willensj) durch eine praktische Regel bestimmt. Die Erklärung des Zwecks als eines objektiven Grundes der Selbstbestimmung ist jedoch zu ungenau, um die Rolle, die diesem Grund bei der Bestimmung der freien Willkür zufällt, schon eindeutig erkennen zu können. Deutlich wird diese Rolle erst, wenn man sich an die Grundbestimmung des Zweckbegriffs hält, die Kant in der KU vorträgt. Nach dieser Definition ist ein Zweck „der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird".

Zur Erläuterung fügt Kant hinzu:

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„Wo also nicht bloß die Erkenntnis von einem Gegenstande, sondern der Gegenstand selbst (die Form oder Existenz desselben) als Wirkung nur als durch den Begriff von der letzteren möglich gedacht wird, da denkt man sich einen Zweck. Die Vorstellung der Wirkung ist hier der Bestimmungsgrund ihrer Ursache und geht vor der letztem vorher."65

Dieser Stelle lassen sich drei konstitutive Merkmale des Zweckbegriffs entnehmen. Ein Zweck ist danach erstens der Gegenstand eines Begriffs und nur in seiner begrifflichen Repräsentation Bestimmungsgrund der Regel der Willkür. Als ein solcher Begriff wird der Zweck von Kant zweitens als der reale Grund der Möglichkeit des Gegenstandes charakterisiert, er ist also gerade nicht, jedenfalls nicht für sich allein, bereits der zureichende Grund der Wirklichkeit der Bestimmung der freien Willkür. Und er wird drittens als realer Grund der Möglichkeit eines Gegenstandes (der Form/des Zustandes oder der Existenz desselben) eingerührt, also gerade nicht der Möglichkeit einer Handlung. Mit Hilfe dieser drei Merkmale des Zweckbegriffs läßt sich präziser fassen, in welcher Weise der Zweck der „objektive Grund der Selbstbestimmung" des Willens ist. Zunächst gilt offenbar, daß dieser Grund die begriffliche Vorstellung von einem Gegenstand sein und als diese Vorstellung die Bestimmung der Handlungen einschließen muß, die den vorgestellten Gegenstand der Form oder Existenz nach hervorbringen. Zu einem Grund der Selbstbestimmung wird dieser Begriff aber erst dadurch, daß die Willkür (als der innere Grund der Möglichkeit von Handlungen) durch eine vom Willen gegebene praktische Regel zu einer Handlung bestimmt wird, die dem gewollten Zweck gemäß ist. Ganz in diesem Sinn definiert Kant im Anschluß an die Grundbestimmung des Zweckbegriffs im § 10 der KU den Willen (im Sinne des bestimmbaren, unmittelbar kausal wirksamen Vermögens, also der Willkür) auch als „das Begehrungsvermögen, sofern es nur durch Begriffe, d.i. der Vorstellung eines Zwecks gemäß zu handeln, bestimmbar ist".

Zugleich wird damit der Zusammenhang erkennbar, der zwischen der Vorstellung eines Zwecks und einer praktischen Regel besteht. Kant beschreibt diesen Zusammenhang in der Vorlesung zur Metaphysik Dohna-Wundlacken auch so: „Zweck ist überhaupt: Begriff mit welchem zusammenzustimmen Regel meiner Handlung ist".66

63

Cf. KU, B 32/33. Der Begriff wird hier ganz „nach seinen transzendentalen Bestimmungen (ohne etwas Empirisches, dergleichen das Gefühl der Lust ist, vorauszusetzen)" erklärt. ** Cf. Metaphysik Dohna-Wundlacken, AA 28.2,1,677.

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Ich mache mir somit in meiner Maxime nur solche Handlungen zur Regel, die mit einem von mir gewollten Zweck übereinstimmen, d.h. seiner Verwirklichung dienen und im Hinblick auf ihn zweckmäßig sind.67 In der Analyseformel der Maxime kann man dies aufnehmen, indem man die Handlung a als eine charakterisiert, die zur Verwirklichung des begehrten Zwecks S dient. Man hat dann auf der einen Seite (der Seite des Bestimmungsgrunds P der praktischen Regel) das Wollen eines Zwecks und auf der anderen Seite (der Seite der praktischen Regel) eine Handlung, die mit dem gewollten Zweck zusammenstimmt. Entscheidend ist jedoch, daß die begriffliche Vorstellung des Gegenstandes als Bestimmungsgrund der Regel der Willkür dem Willenj, der Zweck selbst aber als Gegenstand der (freien) Willkür dem Willen2 zugeordnet werden muß. Man kann auch sagen, daß die begriffliche Vorstellung insofern die Vorstellung eines Gegenstandes der Willkür ist, als sie sich auf die Wirkung einer bestimmten Handlungsweise der Willkür bezieht, von der sie selbst Ursache ist.68 Vom Zweck hängt also ab, nach welcher Regel die eigene Willkür bestimmt und welche Handlung als tunlich für sie angesehen wird, nicht jedoch, wie sich das Tunlichsein der Handlung für sie modal auszeichnet. (2) Die Vorstellung von einem Zweck ist zwar in jedem Fall Teil des Bestimmungsgrundes der Regel der freien Willkür, aber sie ist für sich allein nicht zureichender Grund, um die in der Regel gesetzte Handlung als wirklich tunlich für die Willkür auszeichnen zu können. In der vollständig erschlosse-

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Für Singer (1975) ist eine Maxime einerseits eine Handlungsregel („eine bestimmte Art von Regel, und wenn man von der Maxime einer Handlung spricht, spricht man von der Regel, nach der jemand handelt" (282)), andererseits eine Zweckangabe („Zu sagen, jemand handele nach einer bestimmten Maxime, heißt zu implizieren (wenn nicht zu sagen), daß er zu einem bestimmten Zweck handelt oder im Hinblick auf einen bestimmten Zweck oder mit einer bestimmten Intention; und die Maxime einer bestimmten Handlung zu spezifizieren bedeutet ihren Zweck oder ihre Intention zu spezifizieren, wie auch etwas von ihren Umstanden" (283)). Daß eine Maxime sowohl als Handlungsregel wie als Zweckangabe aufzufassen ist, ergibt sich für Singer aus dem Handlungsbegriff, der seiner Auffassung nach den Zweckbegriff einschließt. Dagegen wäre einzuwenden, daß der Zweck, genauer das Wollen eines Zwecks im Fall der Maxime nicht zur Begründung einer einzelnen Handlung, sondern zur Begründung einer Handlungsregel dient Es scheint mir daher sinnvoll, beides deutlicher zu trennen und dies auch in der formalen Darstellung der Maxime zu berücksichtigen. Anders formuliert: Für den Fall, daß man von der Regel ausgeht, nach der einer wirklich handelt, muß man zwischen einer Regel des Wollens eines Zwecks und der Regel für das Tunlichsein der Handlung für einen selbst unterscheiden. Die Regel des Wollens des Zwecks und die Regel der Handlung stimmen zusammen, wenn die Handlung zum gewollten Zweck erfolgt. Cf. zu Singers Maximenbegriff auch: Aul (1983), 65-66. Auf diese Weise faßt Kant den Zusammenhang von Zweck und Willkür in der MS/TL: „Zweck ist ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt, wodurch jener hervorgebracht wird." (A 11). Fast gleichlautend A 5.

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nen Analyseformel der Maxime muß daher auf der Seite des Bestimmungsgrundes P neben der begrifflichen Vorstellung eines Zwecks noch eine weitere Komponente (= „Grund R") enthalten sein, die sich auf den innerlich zureichenden Grund der Wirklichkeit der Handlung bezieht. Für diesen innerlich zureichenden Grund ist im Fall der Maxime charakteristisch, daß durch ihn die Handlung als wirklich tunlich lediglich für die eigene Willkür begründet wird. Bei der Analyse des Bestimmungsgrundes der Willkür muß also an dieser Stelle gerade miteinbezogen werden, daß sich eine Maxime nur auf die Willkür eines einzelnen Subjekts, das ich selbst bin, d.h. auf meine eigene Willkür bezieht. Der Bestimmungsgrund der Regel der freien Willkür kann, muß aber dabei nicht so beschaffen sein, daß er auch zureichend ist, um praktische Regeln zu begründen, die sich auf die Willkür einiger oder sogar aller Subjekte beziehen. Weil der Bestimmungsgrund im Falle der Maxime zwar (subjektiv) zureichend ist, eine Handlung als wirklich tunlich für die Willkür eines einzelnen Subjekts (genauer: für die eigene Willkür) begründen, es aber unausgemacht bleibt, ob er (objektiv) zureichend ist, diese Handlung als wirklich tunlich auch für die Willkür aller Subjekte zu begründen, nennt Kant die Maxime eine „Willensmeinung".69 Den Bestimmungsgrund, der lediglich zureicht, um die Handlung als wirklich tunlich für die Willkür eines einzelnen Subjekts zu behaupten, bezeichnet Kant als Triebfeder.70 Die Triebfeder macht neben dem Zweck die zweite Komponente des vollständigen Bestimmungsgrundes P einer praktischen Regel aus (= „Grund R" in unserer allgemeinen Formel). Aus den bisherigen Überlegungen kann der Schluß gezogen werden, daß jede Maxime als solche durch eine Triebfeder bestimmt sein muß. Wenn Kant jedoch bemerkt: „Aus dem Begriffe einer Triebfeder entspringt der eines Interesse...Auf dem Begriffe eines Interesses gründet sich auch der einer Maxime",

dann deutet das darauf hin, daß der Zusammenhang zwischen Triebfeder und Maxime von komplizierterer Natur ist.71 Kant hat den Begriff der Triebfeder im Hinblick auf die Maxime stets in einem sehr genauen Sinn verwendet. Zunächst kommen zur näheren Kennzeichnung der Triebfeder alle Unterscheidungen in Betracht, die Kant in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten bezogen auf die praktische Lust trifft, die vor 69 70 71

Cf. KrV, B 850/851 zu den drei Stufen des Fürwahrhaltens: Meinen, Glauben und Wissen. Nach der GMS ist „Triebfeder" der „subjektive Grund des Begehrens". Sie muß vom „Beweggrund" als dem „objektiven) des Wollens" unterschieden werden (BA 63). Cf.A>K,A141.Herv. Kant.

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der Bestimmung des Begehrungsvermögens vorhergeht und somit ein Grund dieser Bestimmung ist. Macht man sich aber klar, daß eine praktische Regel auch dann, wenn sie (als Maxime) lediglich für die Willkür eines einzelnen Subjekts gilt, dennoch (subjektive) Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, weil sie sich anfalle Gelegenheiten zum Handeln bezieht, dann kann man sofort erkennen, daß eine praktische Begierde ganz und gar untauglich ist, als (subjektiver) Bestimmungsgrund einer Maxime zu fungieren. Vielmehr setzt diese praktische Regel als eine auf jede Gelegenheit des Handelns bezogene und insofern beständige Regel des Handelns als (subjektiven) Bestimmungsgrund ebenfalls eine beständige Regel des Wollens von Zwecken und damit auch eine beständige Begierde des Subjekts voraus. Der subjektiv zureichende Grund muß so beschaffen sein, daß durch ihn die Handlung als wirklich tunlich für die Willkür bei jeder Gelegenheit begründet wird. Solche beständigen (oder „habituellen") Begierden sind, folgt man Kants Terminologie, Neigungen, und wenn ihre Verknüpfung mit dem Begehrungsvermögen durch den Verstand nach einer allgemeinen Regel für das Subjekt als gültig beurteilt wird, Interessen der Neigung.72 Erst wenn die Verknüpfung der Begierde mit dem Begehrungsvermögen nach einer allgemeinen Regel als gültig beurteilt wird, kann in dieser Begierde selbst wiederum der (zureichende) Grund dafür liegen, die Verknüpfung von freier Willkür und Handlung in der praktischen Regel assertorisch vorzustellen.73 Insofern ist Kant durchaus konsequent, wenn er behauptet, daß der Begriff der Maxime auf dem Begriff des Interesses beruht. (3) Wenn Kant den Willen als ein Vermögen charakterisiert, sich selbst nach der Vorstellung einer Regel des Handelns zu bestimmen, so faßt er damit bereits alle Merkmale zusammen, die im Begriff des Willens liegen. Der Wille ist danach wesentlich ein Vermögen der (praktischen) Selbstbestimmung. An diesem Vermögen sind zwei Aspekte zu unterscheiden: der Wille ist zum einen ein durch praktische Regeln bestimmendes und zum anderen ein durch praktische Regeln bestimmtes (bestimmbares) Vermögen. In der allgemeinen

72

73

Cf. MS, AB 3/4. Das Interesse der Neigung fungiert genaugenommen als Bestimmungsgrund für eine Regel des Wollens eines bestimmten Zwecks; diese Regel ist einerseits bezogen auf das Ganze des eigenen Lebens, andererseits wird der Zweck wirklich gewollt Eigentlich ist es diese Regel des (wirklichen) Wollens eines Zwecks, das als Bestimmungsgrund P der praktischen Regel dient. Das Prinzip der Selbstliebe hat mit dem Bestimmungsgrund der Regel des Wollens von Zwecken zu tun, sofern dieser Grund so beschaffen ist, daß die Regel eine Lebensregel und (subjektiv) notwendig ist. Siehe hierzu das III. Kapitel.

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Die Idee des autonomen Willens

Analyseformel der Maxime wird dies dadurch zum Ausdruck gebracht, daß zwischen einem „ich will]", das als Komponente des Bestimmungsgrundes fungiert, und einem „ich wil!2" unterschieden wird, das sich auf die freie Willkür bezieht. Da der Wille (im Sinne von „ich willj") sich selbst (im Sinne von „ich will2") bestimmt, muß unterstellt werden, daß der bestimmende Wille! und der bestimmte Wille2 nicht verschiedenen Subjekten, sondern ein und demselben Subjekt angehören.74 Nun kann die freie Willkür nur durch die Vorstellung von praktischen Regeln zum Handeln bestimmt werden; und diese müssen, wenn sie kausal wirksam sein sollen, vom Subjekt für richtig gehalten werden, oder, was dasselbe besagt, die Handlungen, die in ihnen als mit der Willkür des sich selbst bestimmenden Subjekts verknüpft vorgestellt werden, müssen als wirklich und nicht bloß möglicherweise tunlich ausgezeichnet sein. Das heißt, daß der Wille sich selbst notwendig durch Maximen bestimmen muß, soweit nämlich für Maximen charakteristisch ist, daß sie eine praktische Regel des Typs (PRj*W*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich"

darstellen. Damit der bestimmende Wille sich selbst diese praktische Regel geben kann, muß er sie zugleich als begründet ansehen, also den besonderen modalen Wert der praktischen Kopula in dieser Regel („wirklich tunlichsein") als abhängig von Bestimmungsgründen darstellen können. Bei der vorgeschlagenen Analyse der allgemeinen Struktur der Maxime wurde zudem zu berücksichtigen versucht, daß Kant die Maxime als „Willensmeinung" bezeichnet. Daraus ließ sich folgern, daß die Bestimmungsgründe einer solchen praktischen Regel nicht so beschaffen sein müssen, daß sie zugleich geeignet sind zur Begründung von Regeln des Typs (PR3*W*) „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich"

bzw.: (PR3*N*) „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendigerweise tunlich".

Man muß sich aber vor Augen halten, daß für den Begriff des Willens als solchen diese Art von Bestimmungsgründen auch keineswegs konsumtiv ist.

74

Es handelt sich daher bei dem Bestimmungsgrund der Willkür im Fall der Maxime stets um einen inneren Bestimmungsgrund.

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Vielmehr ist für den Begriff des Willens einzig und allein entscheidend, daß im Hinblick auf die praktischen Regeln, durch die sich der Wille selbst bestimmt, der modale Wert der praktischen Kopula („wirklich tunlich") in Abhängigkeit von Bestimmungsgründen dargestellt wird, wobei zunächst nicht festgelegt ist, wie diese Bestimmungsgründe beschaffen sind. Erst wenn man sich fragt, wie sich aus dem Begriff des Willens die Idee eines reinen Willens gewinnen läßt, erkennt man, daß dieser Begriff durchaus eine besondere Art von Bestimmungsgründen impliziert. Kant bezeichnet diese Art von Bestimmungsgründen im Unterschied zu den Triebfedern (den subjektiven Gründen des Begehrens) als Beweggründe, worunter er objektive Gründe des Wollens versteht.75 b) Vorschrift und Gesetz Um Maximen auf der einen, Vorschriften und Gesetze auf der anderen Seite voneinander unterscheiden zu können, muß man beim ersten Teil der um ihre Bestimmungsgründe erweiterten praktischen Regel ansetzen. Eine Vorschrift läßt sich dann als eine praktische Regel charakterisieren, in der das Tunlichsein einer Handlung für die Willkür einiger, ein Gesetz als eine praktische Regel, in der das Tunlichsein einer Handlung für die Willkür ausnahmslos aller Subjekte vorgestellt wird. Wie schon bei Maximen ist auch bei Vorschriften und Gesetzen das Urteil über das Tunlichsein der Handlung für... in modaler Hinsicht spezifiziert. Bei einer Vorschrift wird von einer bestimmten Handlung behauptet, daß sie für die Willkür einiger Subjekte, bei einem Gesetz dagegen, daß sie für die Willkür aller Subjekte notwendigerweise tunlich ist. Wenn diese Beschreibung des eigentümlichen Charakters von Vorschrift und Gesetz richtig ist, dann stellt sich wiederum die Frage, wie der Bestimmungsgrund beschaffen sein muß, von dem die besondere, quantitative und modale Merkmale in sich vereinigende Auszeichnung beider Regeln abhängig ist. (1) Was die Vorschrift angeht, so muß allerdings zunächst genauer erläutert werden, in welcher Weise in ihr eine Handlung als notwendig tunlich für die Willkür einiger Subjekte angesehen wird. Eine Vorschrift ist eine praktische Regel, die das Tunlichsein einer bestimmten Handlung für die Willkür einer Gattung von Subjekten als Mittel zur Verwirklichung eines bestimmten 73

Cf.GA/S,BA63.

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Die Idee des autonomen Willens

Zwecks vorstellt. Es zeigt sich daher bei näherer Betrachtung, daß in einer Vorschrift eine Handlung zwar als notwendig tunlich für die Willkür einiger Subjekte (unbestimmt wie vieler) angenommen wird, diese Notwendigkeit aber nur den Charakter des hypothetisch Notwendigen hat. Im Hinblick auf diese hypothetische Notwendigkeit sind wiederum zwei Bedingungen zu unterscheiden. (a) Die Handlung wird nur für die freie Willkür derjenigen Subjekte als notwendig tunlich betrachtet, die auch den Zweck begehren und wollen, der durch die Handlung herbeigeführt werden kann. Über den Zweck hinaus als einer begrifflichen Vorstellung, die den Grund der Möglichkeit des Gegenstandes enthält und von der die theoretische Bestimmung der Handlung abhängt, über deren Tunlichsein für die freie Willkür einiger Subjekte in der praktischen Regel befunden wird, bedarf es auch der Voraussetzung, daß subjektiv Gründe für das Begehren des Zwecks vorliegen, damit die Handlung als notwendig tunlich für die Willkür dieser Subjekte behauptet werden kann. Die Vorschrift gilt also nur für diejenigen Subjekte, die die Bedingung erfüllen, daß sie einen bestimmten Zweck begehren. Wenn das Begehren des Zwecks von empirischen (allein subjektiv zureichenden) Gründen abhängt, dann entspricht dem vollständigen Bestimmungsgrund einer Vorschrift eine Art von empirischem Begriff (wobei sich der Zweck auf das objektive Merkmal, die praktische Begierde/Neigung auf die Bedingungen seiner Installierung beziehen). Zugleich muß aber hervorgehoben werden, daß die Vorschrift für alle gilt, die einen bestimmten Zweck begehren. Damit ist auch für die Vorschrift erfüllt, daß sie allgemein gilt und insofern eine Regel ist. Dies meint Kant, wenn er behauptet, daß die Vorschrift eine praktische Regel ist, die „für eine Gattung vernünftiger Wesen, so fern sie in gewissen Neigungen übereinkommen", gilt.76 (b) Indem eine Vorschrift eine Handlung als notwendig tunlich für all die Fälle vorstellt, in denen ein bestimmter Zweck begehrt wird, wird in ihr vorausgesetzt, daß zwischen der Handlung als Mittel und der Wirkung der Handlung als Zweck ein Verhältnis von Grund und Folge besteht. Es kann nun freilich nicht ohne Auswirkung auf den Charakter praktischer Regeln bleiben, daß Zwecke als Folgen von Handlungen zu betrachten sind, zu denen die freie Willkür durch Regeln bestimmt wird. Denn die theoretische Bestimmung der praktischen Regeln, d.i. der Handlungen, die zur Verwirklichung bestimmter 7«

Cf. KpV, A 118. Die Vorschrift gilt aber nicht notwendigerweise für alle, die einen Willen haben.

Der Begriff des Willens

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Zwecke führen, kann dann nur durch einen Schluß von der Folge auf den Grund geschehen. Diese Schlußart aber ist unsicher und führt allenfalls zur Formulierung einer Hypothese (eines hinreichenden Grundes). Praktische Regeln, die das Tunlichsein einer Handlung für die eigene Willkür als Mittel zur Erreichung eines begehrten Zwecks behaupten, können daher dieses Tunlichsein nur als komparativ notwendig vorschreiben und müssen prinzipiell die Möglichkeit offenlassen, daß derselbe Zweck auch auf anderem Weg und mit anderen Mitteln erreicht werden kann. Solange nicht definitiv gezeigt ist, daß der Zweck, dessen Verwirklichungsbedingungen Inhalt einer Vorschrift sind, unter keinen anderen Bedingungen als den angegebenen erreicht werden kann, impliziert die Annahme dieser Vorschrift immer, wie Kant in der KrV ausführt, ein theoretisch unzureichendes Fürwahrhalten (d.i. einen „pragmatischen Glauben"): „Wenn einmal ein Zweck vorgesetzt ist, so sind die Bedingungen der Erreichung desselben hypothetischnotwendig. Diese Notwendigkeit ist subjektiv, aber doch nur komparativ zureichend, wenn ich gar keine andere Bedingung weiß, unter denen der Zweck zu erreichen wäre; aber sie ist schlechthin und für jedermann zureichend, wenn ich gewiß weiß, daß niemand andere Bedingungen kennen könne, die auf den vorgesetzten Zweck führen."77

Daß in einer Vorschrift das Tunlichsein einer Handlung für die Willkür einiger Subjekte als notwendig behauptet wird, steht daher unter einem doppelten, einem theoretischen und einem praktischen Vorbehalt. Unter praktischen Gesichtspunkten hängt die Gültigkeit der Regel davon ab, daß der Zweck, auf dessen Verwirklichungsbedingungen sie sich richtet, wirklich begehrt oder gewollt wird, unter theoretischen, daß sie pragmatisch geglaubt wird.78 (2) Anders als Maximen, die bloß subjektiv gültig sind, und Vorschriften, die bloß objektiv gültig sind, erheben Gesetze den Anspruch, sowohl subjektive wie objektive Gültigkeit zu besitzen und dies a priori. Diese merkwürdige Kennzeichnung findet ihre Erklärung, sobald man sich bewußt macht, daß Gesetze praktische Regeln sind, in denen Handlungen als notwendig tunlich für 77 78

Cf.ÄTrK, B 851/852. Beide Aspekte erwähnt Kant denn auch in dem Beispiel einer Vorschrift, das er gleich zu Anfang der KpVg&A: „Saget jemand, z.B., daß er in der Jugend arbeiten und sparen müsse, um im Alter nicht zu darben: so ist dieses eine richtige und zugleich wichtige praktische Vorschrift des Willens. Man sieht aber leicht, daß der Wille hier auf etwas anderes verwiesen werde, wovon man voraussetzt, daß er es begehre, und dieses Begehren muß man ihm, dem Täter selbst, überlassen, ob er noch andere Hülfsquellen, außer seinem selbst erworbenen Vermögen, vorhersehe, oder ob er gar nicht hoffe, alt zu werden, oder sich denkt im Falle der Not dereinst schlecht behelfen zu können." (A37;Herv. Kant).

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Die Idee des autonomen Willens

die freie Willkür ausnahmslos aller Subjekte behauptet werden. Denn hieraus folgt, daß der Bestimmungsgrund der praktischen Regel so beschaffen sein muß, daß er für alle Subjekte gleich ist und alle Subjekte notwendig darin übereinkommen (objektive Gültigkeit) und daß er zugleich für jedes einzelne Subjekt zureichend ist, die in der Regel gesetzte Handlung als wirklich tunlich zu begründen (subjektive Gültigkeit). Damit ist freilich noch nichts darüber ausgemacht, wie der Bestimmungsgrund inhaltlich beschaffen ist. Doch kommt uns nun bei der Aufklärung dieser Beschaffenheit die sorgfältige Analyse der allgemeinen Struktur der Maxime zustatten. Denn wenn das praktische Gesetz lautet: (PR3*N*) „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendigerweise tunlich"

dann folgt daraus zwingend für jeden Willen^ (PRj*N*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendigerweise tunlich"

und daraus: (PR,*W*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich".

Wenn das Gesetz eine praktische Regel ist, die eine Handlung als notwendig tunlich für die Willkür eines jeden Subjekts gesetzt vorstellt, dann muß sich aus dem Gesetz allemal auch eine Maxime für jedes Subjekt ableiten lassen, und zwar eine Maxime in der Form der praktischen Regel (PRj*N*), die die praktische Regel (PRj*W*) einschließt. Das berechtigt dazu, bei der Aufklärung der Bestimmungsgründe des praktischen Gesetzes an die Analyse der allgemeinen Struktur der Maxime anzuknüpfen und den weiteren Überlegungen die Analyseformel: ich willj aus einem Grund R den Zweck S und daher gilt: (PPj*W*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich"

zugrundezulegen. Allerdings ist dabei unter methodischen Gesichtspunkten von Bedeutung, daß die Maxime, die wir in diesem Fall betrachten, jederzeit auch praktisches Gesetz werden kann. Über die allgemeine Struktur der Maxime hinaus kommt also eine besondere Spezifikation hinzu, die sich auch in einer besonderen Anforderung an den Bestimmungsgrund P der Maxime (= „ich will} aus einem Grund R den Zweck S") niederschlagen muß. Von diesem Bestimmungsgrund muß allgemein gelten, daß er für jeden Willen gleich ist, woraus sich sofort Folgerungen für die Bestimmung der drei Komponenten er-

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geben, aus denen sich nach unserer Analyse der Bestimmungsgrund einer Maxime zusammensetzt. (a) So kann man vorab erkennen, daß es sich bei dem Zweck S um einen Zweck handeln muß, der allgemeingültig ist und von jedem notwendig gewollt wird. Anders als bei der Vorschrift darf der Zweck im Fall der Maxime, die auch Gesetz sein kann, weder in praktischer noch in theoretischer Hinsicht bedingt sein. Der Grund, von dem es abhängt, ob der Zweck gewollt wird oder nicht, muß also erstens mit dem Willen des Subjekts als solchem verbunden sein und darf nicht in empirischen (subjektiven) Triebfedern bestehen, die von Subjekt zu Subjekt verschieden sein können. Und zweitens muß sich die Bestimmung des Zwecks aus einer vorausgesetzten Bestimmung der Handlungen ergeben, weil nur in dieser Weise sichergestellt ist, daß die praktische Notwendigkeit der Handlung nicht theoretisch zufällig ist. Daraus folgt, daß sich unabhängig vom Zweck bestimmen können lassen muß, welche Handlung schlechthin notwendig tunlich ist. (b) Ebenfalls vorab kann man erkennen, daß der Grund R (der subjektive Grund der Wirklichkeit der Handlung) eine Triebfeder sein muß, die bei jedem Subjekt notwendig in gleicher Weise besteht. Die Bestimmung des subjektiven Charakters der Triebfeder läßt gerade dies jedoch widersinnig erscheinen. Denn die Konsequenz daraus wäre, daß die so bestimmte Triebfeder begrifflicher Natur sein müßte - was sie ihrem Wesen nach nicht sein kann (wie wir noch genauer sehen werden). Die Bestimmung der Triebfeder, die derjenigen Maxime (der Handlungen) zuzuordnen ist, die zugleich allgemeines Gesetz sein kann, gehört zu den schwierigen Aufgaben, die sich für Kant in der Moralphilosophie stellt; sie läßt sich jedoch nur unter der Voraussetzung vornehmen, daß die Notwendigkeit der Tunlichkeit der Handlung für die eigene Willkür, die in der Maxime behauptet wird, bereits anderweitig begründet ist. Dies bringt uns dazu, der ersten Komponente des Bestimmungsgrundes die entscheidende Rolle bei der Begründung der Maxime zuzuweisen, die zugleich allgemeines Gesetz sein kann. Im bestimmenden Willent (auf den sich in der Formel das „ich willj" bezieht) kann man dasjenige erblicken, was als allgemeiner Begriff bei allen praktischen Regeln vorausgesetzt werden muß, sofern sich praktische Regeln auf eine (freie) Willkür beziehen, die durch praktische Regeln bestimmbar ist, welche sich wiederum nur der eigene Wille geben kann. Wenn es also einen Bestimmungsgrund für den eigenen Willenj geben soll, der für alle Willen! identisch sein und zugleich die Behauptung der Not-

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wendigkeit des Tunlichseins einer Handlung für die eigene Willkür tragen soll, dann kann er sich nur auf den Begriff des Willens, genauer auf die Idee dieses Willens (als eines allgemeingesetzgebenden) beziehen. Im folgenden wird zu zeigen sein, inwiefern dies der Beweggrund ist, sich selbst durch eine Maxime zu bestimmen, die allgemeines Gesetz sein kann.

3. Die Idee des reinen Willens A. Folgerungen für den Willensbegriff Als Quintessenz aus den bisherigen Überlegungen kann man zunächst festhalten, daß sich der Wille nicht bloß als das Vermögen beschreiben läßt, nach der Vorstellung einer praktischen Regel zu handeln. Eine solche Beschreibung ist zwar nicht falsch, sie bleibt aber in einem entscheidenden Punkt unzureichend, weil sie sich auf einen bestimmten Aspekt des Willens beschränkt, der besser durch den Begriff der Willkür abgedeckt werden kann. Sachlich zutreffender wird der Wille charakterisiert, wenn man ihn als das Vermögen beschreibt, sich selbst durch die Vorstellung einer praktischen Regel zum Handeln zu bestimmen. Denn darin wird aufgenommen, daß zum Begriff des Willens wesentlich das Merkmal der Selbstbestimmung gehört. Für das Vermögen der Selbstbestimmung, das dem Willen qua Willen zukommt, ist zum einen kennzeichnend, daß es auf Handlungen gerichtet ist als diejenigen Bestimmungen, zu denen sich der Wille bestimmt, und zum anderen, daß es sich zur Bestimmung stets Maximen (praktischer Regeln der Art (PRj*W*)) bedienen und daher stets ein Bewußtsein der (zumindest subjektiv) zureichenden Gründe der mit den Maximen aufgestellten Behauptung des assertorischen Tunlichseins von Handlungen in Beziehung auf die eigene Willkür enthalten muß. Man kann daher den Willen auch kurz als das Vermögen definieren, sich selbst (im Sinne der freien Willkür, d.h. von Wille2) durch Maximen zu Handlungen zu bestimmen. Das Merkmal der Selbstbestimmung - dies muß eigens hervorgehoben werden - gehört nicht aufgrund einer beliebigen, willkürlichen Begriffsbildung zum Willensbegriff. Seine Zugehörigkeit zu diesem Begriff ergibt sich vielmehr aus der Konzeption der freien Willkür und dem Begriff der praktischen Regel, die man bei dem Bemühen um eine in sich schlüssige Interpretation Kant unterstellen darf. Für die freie Willkür als einem besonderen Vermögen der Kausalität ist charakteristisch, daß sie nur durch die Vorstellung von

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praktischen Regeln zum Handeln bestimmt und dadurch kausal wirksam werden kann. Daraus folgt, daß ein Wesen, dem eine freie Willkür zugeschrieben werden soll, über Intelligenz verfügen muß als der Voraussetzung, unter der es überhaupt die Vorstellung einer Regel fassen kann.79 Darüber hinaus gilt für die Willkür, daß sie nur dann durch die Vorstellung einer praktischen Regel zum Handeln bestimmt werden kann, wenn diese Regel eine Maxime (der Handlung) ist. Denn damit die in der praktischen Regel gesetzte Handlung von der Willkür ausgeführt wird, muß sie in der Regel als wirklich tunlich für die eigene Willkür gesetzt sein. Als wirklich tunlich für die eigene Willkür kann die Handlung aber wiederum nur gesetzt sein in Abhängigkeit von Bestimmungsgründen, die das einzelne Subjekt als für sich zureichend beurteilt. Das einzelne Subjekt ist also, sofern es einen Willen besitzt, selbst die jeweils letzte Instanz, die der eigenen Willkür praktische Regeln geben kann, welche kausal bestimmend sind. Da der Wille sich selbst (im Sinn der eigenen Willkür) solche praktischen Regeln nur geben und durch diese Regeln zum Handeln bestimmen kann, wenn er sie zugleich als (wenigstens) assertorisch gültig für sich beurteilt (d.i. als „Sätze" ansieht), und da er sie als assertorisch gültig nur beurteilen kann, wenn sie auch begründet sind, ist der Wille im Kern eine Instanz der Beurteilung und Begründung von praktischen Regeln. Aus der Analyse der allgemeinen Formel der Maxime ergibt sich, daß der Willensbegriff neben dem Merkmal der Selbstbestimmung noch drei weitere Wesensmerkmale in sich vereinigt. Wenn die Maxime eine praktische Regel ist, nach der der Wille wirklich handelt, und wenn kein Wille handeln kann, ohne darin zugleich nach einer Maxime zu handeln, dann folgt daraus, daß der Wille (1) sich die Maxime des Handelns nur selbst machen (oder geben) kann und der bestimmende und der bestimmte Wille ein und derselbe sein müssen (weil nur so die Handlung in der Regel als wirklich tunlich für die eigene Willkür ausgezeichnet werden kann); daß der Wille (2) wegen des Regelcharakters der Maxime stets auf die allgemeine Bestimmung der Willkür gerichtet ist; und daß der Wille (3) sich allemal der Bestimmungsgründe der Regel bewußt sein muß, von denen die besondere modale Auszeichnung der praktischen Kopula in dieser Regel abhängt. Die Bestimmung des Willensbegriffs, die damit erreicht ist, erhebt Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Es gehört zu den konstitutiven Eigenschaften eines Willens überhaupt, sich selbst Regeln des Handelns zu geben (und sich durch diese Regeln zu bestimmen), in denen Handlungen als wirklich 79

Cf. zum Begriff der „Intelligenz": Metaphysik Mrongovius, AA 29.1,2, 875-878.

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tunlich für die eigene Willkür vorgestellt werden. Umgekehrt gilt, daß ein Wesen dann keinen Willen besitzt, wenn es unfähig ist, sich selbst praktische Regeln zu geben und sich durch diese Regeln zum Handeln zu bestimmen. Es ist jedoch wichtig zu erkennen, daß mit diesem Willensbegriff noch keine besonderen Forderungen im Hinblick auf die Art der Regeln verbunden sein müssen, die sich der Wille gibt. Es wird lediglich gefordert, daß diese Regeln Maximen sind. Darüber hinaus kann offenbleiben, ob sich die Regeln als Folgesätze aus Vorschriften oder Gesetzen ableiten lassen. Die Maximen, durch die sich der Wille selbst bestimmt, mögen sich also, wenn man sie erweitert, zu Vorschriften oder gar Gesetzen qualifizieren, - dafür, daß es ein Wille ist, der sich die Maximen gibt, ist dies (zunächst jedenfalls) nicht relevant. Daraus folgt, daß der Wille zwar stets das Vermögen einschließt, sich selbst zu bestimmen, daß damit aber noch keineswegs eine Autonomie im Kantischen Sinn von Autonomie beansprucht wird.80 Auch ein Wille, der keine Autonomie besitzt, ist, sofern er überhaupt ein Wille ist, durch das Vermögen charakterisiert, sich selbst durch Maximen zu Handlungen bestimmen zu können. Wenn es aber der Wille ist, der sich selbst durch praktische Regeln, die sich auf die eigene freie Willkür richten, zum Handeln bestimmt, dann stellt sich die Frage, wodurch sich dieser bestimmende Wille, auf den sich in der allgemeinen Analyseformel der Maxime die dritte Komponente des Bestimmungsgrundes („ich will]") bezieht, in dem auszeichnet, was an ihm Bestimmungsgrund von praktischen Regeln ist. Der Versuch, diese Frage zu beantworten, führt zur Bildung der Idee eines reinen Willens.

B. Das Prinzip der Autonomie a) Die Idee eines Maximums an Wille Mit der genauen Bestimmung des Willensbegriffs ist die Vorarbeit geleistet, die nach unserer Interpretation von Kants Konzept einer Vernunfterkenntnis 80

Das vermengt Bittner, der aus der Tatsache, daß Maximen Regeln sind, die der Wille sich selbst gibt, einen Einwand gegen Kants Autonomiebegriff zu gewinnen versucht. Dagegen wäre vorzubringen, daß der Wille sich in der Tat Maximen selbst geben muß, weil er sich nur auf diese Weise durch praktische Regeln zum Handeln bestimmen kann, daß dies aber noch nicht bedeutet, der Wille müsse auch autonom im Sinne eines allgemeingesetzgebenden Willens sein. Jedes Wesen, das einen Willen hat, bestimmt sich selbst durch Regeln, die es für begründet und insofern für richtig hält; aber daraus folgt noch keineswegs, daß diese Regeln allgemeine Gesetze sein oder sich zu solchen Gesetzen qualifizieren müßten. Cf. Bittner (1983), 120,122-125,146.

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aus Begriffen erforderlich ist, um die Idee eines reinen Willens bilden zu können. Aus den Überlegungen zum Begriff der Idee folgt zunächst, daß in der Idee eines reinen Willens das Maximum an derjenigen Realität gedacht wird, auf die sich der Begriff des Willens in seinen konstitutiven Merkmalen bezieht. Diese Realität muß als ein durch nichts eingeschränkter Grund gedacht werden. Negativ, also im Hinblick auf die möglichen Einschränkungen läßt sich dieses Ziel erreichen, indem man vom Willen als dem Subjekt, dem sich die im Willensbegriff gedachten Eigenschaften zuschreiben lassen, in Gedanken das wegnimmt, was zwar positive Realität, aber bezogen auf den Willensbegriff Nicht-Wille ist. Nicht-Wille ist alles an einem Willen, was gemessen am Begriff des Willens kontingent ist, aber zugleich diejenigen spezifischen Merkmale ausmacht, die mit den begrifflichen Merkmalen in jeder (wirklichen) Instantiierung des Begriffs des Willens verknüpft sind. Man kann auch sagen, daß diese Merkmale insgesamt die subjektiven Bedingungen der Wirklichkeit des Willensbegriffs in allen Fällen bilden, in denen etwas ein Wille ist.81 Um die Idee eines reinen Willens zu erhalten, muß man von diesen subjektiven Bedingungen der Wirklichkeit des Willensbegriffs abstrahieren. Ich möchte im folgenden die These vertreten, daß die subjektiven Bedingungen der Wirklichkeit des Willensbegriffs, auf die sich der Titel „NichtWille" bezieht, bei Kant durch das Prinzip der Selbstliebe abgedeckt werden. Das Prinzip der Selbstliebe umfaßt alle Triebfedern, die sich auf die Empfänglichkeit des Subjekts für die Empfindungen von praktischer Lust und Unlust gründen. Gerade in diesen auf Lust und Unlust gegründeten Triebfedern unterscheiden sich alle Subjekte, mögen sie auch darin alle übereinkommen, daß sie einen Willen besitzen. Es wird sich noch herausstellen, daß die Eigenschaft, einen Willen zu haben, auch bestimmte Anforderungen an diese subjektiv zureichenden Bestimmungsgründe (und an das Wollen von Zwecken) impliziert. Hier genügt der Hinweis, daß das Prinzip der Selbstliebe sich auf den Inbegriff dessen bezieht, was vom Willen (als Bestimmungsgrund) verschieden ist, sofern der Willensbegriff in irgendeiner Weise instantiiert ist. Übernimmt man einmal diese These, ohne sich vorläufig um ihre Begründung zu kümmern, dann kann man sich leicht klarmachen, wie im Ausgang von der vollständig erschlossenen Formel der Maxime zur Idee eines reinen 81

Wenn Kant von den subjektiven Bedingungen der Wirklichkeit spricht, sind damit keine „subjektiven" Bedingungen der Erkenntnis gemeint. Die Redeweise entstammt vielmehr der Urteilstheorie. Der Subjektbegriff bezieht sich auf den Gegenstand des Urteils und damit auf den Bereich, in dem die Bedingungen liegen, von dem das „Wirklichsein" des Prädikatbegriffs abhängt.

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Willens zu gelangen ist. In der Formel muß man dazu nur auf der Seite der Bestimmungsgründe von der Triebfeder als dem subjektiv zureichenden Grund für die Behauptung des Tunlichseins der Handlung a für die eigene Willkür in der praktischen Regel („Grund R") zunächst abstrahieren. Als Bestimmungsgrund der Regel bleibt dann einerseits der Zweck („Zweck S") und andererseits der bestimmende Wille („ich willj") übrig. Da von allen Bedingungen abstrahiert worden ist, die mit dem Begriff-des Willens in irgendeiner seiner Instantiierungen verknüpft sein könnten, gilt diese Struktur für ausnahmslos jeden Willen (und also für jede durch praktische Regeln bestimmbare Willkür). Damit sind auch die Bestimmungsgründe, die jeder Wille haben muß, um eine Regel des Typs (PRj) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a tunlich"

für begründet zu halten, notwendig für jeden Willen gleich, woraus sich die Folgerung ergibt, daß die Regel (PRt*W*) nur eine besondere Ableitung aus der Regel (PRj*N*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendig tunlich"

und diese wiederum eine Ableitung aus der Regel (PR3*N*) „für die Willkür (ausnahmslos) aller Subjekte ist bei (ausnahmslos) jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendig tunlich"

darstellt. Die Formel (PR3*N*) aber ist die allgemeine Formel eines praktischen Gesetzes. Somit bezieht sich die Idee eines reinen Willens auf den Bestimmungsgrund einer Maxime, die sich insofern zum allgemeinen Gesetz qualifiziert, als ich diejenige Handlung, die ich als für mich wirklich (notwendig) tunlich ansehe, zugleich als für jede Willkür notwendig tunlich ansehen muß. Jeder Wille, der sich selbst die praktische Regel (PRj*N*) gibt, muß sich jederzeit auch als allgemein gesetzgebend beurteilen. Denn der Bestimmungsgrund dieser Regel besteht einzig und allein in dem, worauf sich der Begriff des Willens bezieht und worin alle notwendig übereinstimmen, die einen Willen haben und durch die Vorstellung von praktischen Regeln bestimmt werden können. Aus der Idee eines reinen Willens läßt sich insofern sehr rasch das praktische Gesetz ableiten. Die Schwierigkeit liegt denn auch weniger in der Ableitung dieses Gesetzes als in seiner Interpretation. Diese Schwierigkeit hat verschiedene Aspekte. Es ist bisher weder deutlich geworden, warum die Idee eines reinen Willens die Idee eines autonomen Willens ist, noch auch, wie diese

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Idee mit den spezifischen Merkmalen in Verbindung gebracht werden kann, die der Begriff des Willens in sich vereinigt. Man muß also zum einen zu verstehen suchen, inwiefern mit dem praktischen Gesetz auch die Vorstellung von einem Maximum verbunden ist und inwiefern dies zugleich ein Maximum an Selbstbestimmung einschließt. Da im Begriff des Willens liegt, daß der Wille allemal ein Vermögen der Selbstbestimmung ist, läßt sich vermuten, daß in der Idee eines reinen Willens der Wille nicht nur in maximaler Weise als Grund gedacht wird, sondern genauer als Grund von Selbstbestimmung. Man muß zum anderen untersuchen, welche inhaltliche Bedeutung das praktische Gesetz hat und inwiefern sich überhaupt beurteilen läßt, ob eine Maxime zugleich ein allgemeines praktisches Gesetz sein kann. Schließlich muß auch eine Erklärung dafür gegeben werden, wie die Idee eines reinen Willens der alleinige Bestimmungsgrund des praktischen Gesetzes sein kann. Freilich ist dies nur ein Teil der allgemeineren Aufgabe, die darin besteht zu zeigen, was Bestimmungsgründe einer praktischen Regel gegenüber solchen von theoretischen Urteilen unterscheidet und auszeichnet. b) Die Formeln des Sittengesetzes In der GMS unterscheidet Kant „drei Arten, das Prinzip der Sittlichkeit vorzustellen", nämlich die Formel des Naturgesetzes, die Formel des Zwecks an sich und die Formel des Reichs der Zwecke (der Autonomie).82 Allerdings macht Kant im gleichen Atemzug darauf aufmerksam, daß diese Arten „im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes [sind], deren die eine die anderen zwei von selbst in sich vereinigt".83 Die Verschiedenheit, die gleichwohl zwischen ihnen bestehe, sei „eher subjektiv als objektiv-praktisch, nämlich, um eine Idee der Vernunft der Anschauung (nach einer gewissen Analogie) und dadurch dem Gefühle näher zu bringen."84 Wichtiger als diese Bemerkung erscheint der Hinweis, daß der Unterscheidung der drei Formeln die Kategorien der Quantität in Verbindung mit den Reflexionsbegriffen der Form und Materie zugrundegelegt werden. 91 83 84

Einen guten Überblick über die Literatur (in der u.a. die Frage diskutiert wird, wie viele Formeln eigentlich zu unterscheiden sind) gibt Wimmer (1982). Cf.GA/5,BA79. Cf. GMS, BA 79/80. Die Kant-Forschung ist bislang besonders dieser Analogie nachgegangen. Dabei wurde zum einen stets ein Zusammenhang zwischen dieser Stelle und der Lehre vom Typus des Sittengesetzes in der £pK hergestellt, andererseits nach den vermeintlich fehlenden Typisierungen der II. und III. Formel gesucht. Cf. Krüger (1967), 83ff., Aune (1979), 111-120.

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Die Idee des autonomen Willens „Der Fortgang geschieht hier, wie durch die Kategorien der Einheit der Form des Willens (der Allgemeinheit desselben), der Vielheit der Materie (der Objekte, d.i. der Zwecke), und der Allheit oder Totalität des Systems derselben."85

Kant hatte gerade für die Verwendung der Quantitätskategorien an dieser Stelle gute Gründe, auch wenn diese Gründe aus seiner eigenen Erläuterung nur ungenügend hervorgehen und durch die Verbindung mit den Reflexionsbegriffen der Form und der Materie zusätzlich verdunkelt werden. Ich möchte diese Gründe im folgenden etwas ausführlicher darstellen, weil sie geeignet sind, nicht nur das Verständnis von Kants oberstem Prinzip der Sittlichkeit zu vertiefen, sondern auch die hier vorgetragene Auffassung von dem zugrundeliegenden Konzept der Vernunfterkenntnis zu verfeinern. Dabei wird deutlich werden, worauf die drei Formeln des Sittengesetzes jeweils abzielen, warum Kant das oberste Prinzip der Sittlichkeit stets mit dem Prinzip der Autonomie identifiziert, doch der Gesetzesformel bei der „sittlichen Beurteilung" eine Art von Vorrang einräumt86 und worin schließlich das Kriterium dieser sittlichen Beurteilung besteht. Meine These lautet, daß das Sittengesetz in seinen drei Formeln die Prinzipien angibt, unter denen die praktischen Regeln eines Willens durchgängig mit sich selbst zusammenstimmen.

aa) Die logischen Kriterien der Wahrheit Daß auch in der theoretischen Philosophie Prinzipien angenommen werden müssen, unter denen die Erkenntnisse von Objekten durchgängig mit den Gesetzen des Denkens (des Verstandes und der Vernunft) zusammenstimmen, zeigt der §12 der KrV. In diesem Paragraphen unterzieht Kant den „unter Scholastikern so berufenen Satz": „quodlibet ens est unum, verum, bonum" einer kritischen Prüfung, um schließlich vorzuführen, daß die Begriffe des unum, verum und bonum keine ontologischen Grundbegriffe sind, für die sie in der Tradition gehalten wurden, sondern lediglich „zur logischen Forderung in Ansehung jeder Erkenntnis" gehören.87 Durch die genannten Begriffe wird nach Kants Auffassung 83 86

87

Cf GMS, BA80. Cf. dazu GMS, BA 80/81: „Man tut aber besser, wenn man in der sittlichen Beurteilung immer nach der strengen Methode verfahrt, und die allgemeine Formel des kategorischen Imperativs zum Grunde legt: handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetz machen kann." KrV, B 114. Cf. zur Interpretation des Paragraphen: Bärthlein (1976), 353-392 und Kopper (1981), 255-267. Zur älteren Literatur: Leisegang (1915).

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„die transzendentale Tafel der Kategorien gar nicht, als wäre sie etwa mangelhaft, ergänzt, sondern nur, indem das Verhältnis dieser Begriffe auf Objekte gänzlich bei Seite gesetzt wird, das Verfahren mit ihnen unter allgemeine logische Regeln der Übereinstimmung der Erkenntnis mit sich selbst gebracht".88

Unter den allgemeinen logischen Regeln der Übereinstimmung der Erkenntnis mit sich selbst versteht Kant, wie aus verschiedenen Reflexionen hervorgeht, Regeln der Übereinstimmung der Erkenntnis mit den allgemeinen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft.89 Kant bezeichnet diese allgemeinen Gesetze des Verstandes und der Vernunft auch als die logischen Kriterien oder Prinzipien der Wahrheit.90 Diese Prinzipien sind (1.) der Satz des Widerspruchs, (2.) der Satz des zureichenden Grundes und (3.) der Satz des ausgeschlossenen Dritten.91 Ihnen ordnet Kant gelegentlich die Urteilsformen der Relation und der Modalität zu, genauer: dem Satz des Widerspruchs das kategorische und das problematische, dem Satz des zureichenden Grundes das hypothetische und das assertorische und dem Satz des ausgeschlossenen Dritten das disjunktive und das apodiktische Urteil, so daß sich (jedenfalls im Ansatz) 88 89

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KrV, B 115/116. Cf: „Ein allgemein Criterium der Warheit kan also nur formal seyn, d.i. in den logischen Merkmalen der Übereinstimmung der Erkentnis mit den allgemeinen Gesetzen des Verstandes und Vernunft, d.i. der Obereinstimmung der Erkentnis mit sich selbst bestehen." (R 2177 (1776-89)). Und: „Wir können in der Logik nur formale Criteria der Warheit angeben, d.i. Bedingungen der Übereinstimmung der Erkentnis als Erkentnis Oberhaupt ohne Beziehung auf das obiect (als Materie) ..." (R 2162 (1776-1804)). Und: „Diese Begriffe (d.i. von unurn, verum und bonum; P.K.) sind nicht die categorien von Dingen, sondern logische Crherien der Übereinstimmung mit den Gesetzen des Verstandes." (R 5561 (1778-83)). Nach der KrV, B 84ff. trägt die allgemeine Logik die allgemeinen und notwendigen Regeln des Verstandes vor und legt in diesen Regeln „Kriterien der Wahrheit" dar. Auch sonst spricht Kant von Verstandesgesetzen (also im Plural), woraus folgt, daß damit nicht nur der Satz des Widerspruchs genteint sein kann. Zum Begriff des Verstandesgesetzes bei Kant: Hinske (1980), 20-32. Cf. dazu die Reflexion 5562 (1778-89): „Die drey Begriffe der Möglichkeit eines Dinges überhaupt: Einheit, Warheit und Vollkommenheit beziehen sich auf die drey formale Grundsatze aller Urtheile: den des Wiederspruchs, des zureichenden Grundes und der Bestimmbarkeit desselben in Ansehung aller möglichen Praedicaten (judicia categorica, hypothetica et disjunctive)." Deutlicher noch äußert sich Kant in einem Brief an Carl Leonhard Reinhold vom 19.5.1789: „Der Satz des zureichenden Grundes, so weit ihn Hr. Eberh. bewiesen hat, ist also immer nur ein logischer Grundsatz und analytisch. Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet wird es nicht zwey, sondern drey logische Principien der Erkentnis geben: 1) den Satz des Wiederspruchs, von categorischen 2) den Satz des (logischen) Grundes von hypothetischen 3) den Satz der Eintheilung (der Ausschließung des Mittleren zwischen zwey einander contradictorisch entgegengesetzten) als den Grundsatz disjunctive Urtheile. Nach dem ersten Grundsatze müssen alle Urtheile erstlich, als problematisch (als bloße Urtheile) ihrer Möglichkeit nach, mit dem Satze des Wiederspruchs, zweytens, als assertorisch (als Sätze), ihrer logischen Wirklichkeit d.i. Warheit nach, mit dem Satze des z. Grundes, drittens, als apodictische (als gewisse Erkentnis) mit dem princ: exclusi medii inter duo contrad. in Übereinstimmung stehen; weil das apodictische Fürwahrhalten nur durch die Verneinung des Gegentheils, also durch die Eintheilung der Vorstellung eines Prädicats, in zwey contradictorisch entgegengesetzte und Ausschließung des einen derselben gedacht wird." (AA 11,45).

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eine besondere interne Struktur der Urteilstafel herausschält.92 Im §12 der KrV erwähnt Kant von den Zusammenhängen, die untergründig zwischen den logischen Kriterien der Wahrheit und den Urteilsformen bestehen, jedoch nichts. Sein Ziel besteht hier lediglich darin zu demonstrieren, daß die drei logischen Kriterien der Wahrheit die Kategorien der Größe Einheit, Vielheit und Allheit, wie er etwas dunkel formuliert, „in Absicht auf die Verknüpfung auch ungleichartiger Erkenntnisstücke in einem Bewußtsein durch die Qualität eines Erkenntnisses als Prinzips verwandeln".93

Was hat es damit auf sich? Faßt man ins Auge, daß das Erkenntnis, im Hinblick auf das die Quantitätskategorien angewandt werden sollen, qualitativ, als Prinzip und somit als Grund betrachtet wird, dann wird klar, daß es sich bei den Begriffen des unum, verum und bonum um Begriffe der quantitas qualitatis handeln muß, die sich in diesem Fall jedoch nicht auf Dinge, sondern auf Erkenntnisse beziehen, also bloß logische Bedeutung besitzen. Eine Bestätigung für diese Deutung findet sich im übrigen im Text selbst, wo der Reihe nach von der qualitativen Einheit, der qualitativen Vielheit und der qualitativen Vollständigkeit (Totalität) die Rede ist.94 Die (logischen) Begriffe der quantitas qualitatis fordern von jedem Erkenntnis, sofern man es im Hinblick auf seine Qualität betrachtet, (logischer) Grund zu sein, daß es sich durch Einheit, Wahrheit und Vollkommenheit auszeichnen muß, wobei Kant unter einem Erkenntnis (im Neutrum) entweder einen Begriff oder ein Urteil versteht und im §12 auch beide Möglichkeiten im einzelnen durchgeht (wobei Wahrheit im Fall des Begriffs durch objektive Realität zu ersetzen ist). Orientiert man sich aus Gründen der Einfachheit an einem Erkenntnis im Sinne eines Urteils, kann man sich relativ rasch verständlich machen, wie die Zuordnung der Begriffe der quantitas qualitatis zu den logischen Prinzipien der Wahrheit zustandekommt und welche Folgerungen sich daraus für ein Urteil ergeben. (1) Zunächst ist von jedem Erkenntnis, das als Grund fungieren soll, zu fordern, daß es nach dem Satz des Widerspruchs (bzw. der Identität) möglich ist. Der Satz des Widerspruchs besagt in der bekannten, nicht standardmäßigen Formulierungs Kants, daß keinem Dinge ein Prädikat zukommt, welches

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Cf. zur Struktur der Urteilstafel: Brandt (1991). KrV, B 115. KrV, B 114.

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ihm widerspricht.95 Da Kant statt von dem „Ding" kurz darauf, in einer Erläuterung des Satzes vom Widerspruch, von dem spricht, „was in der Erkenntnis des Objekts schon als Begriff liegt und gedacht wird", kann man sagen, daß sich das erste logische Kriterium der Wahrheit auf das Verhältnis von Subjektbegriff und Prädikatbegriff in einem kategorischen Urteil bezieht. Wird dem Subjektbegriff im Urteil mit dem Prädikatsbegriff ein Merkmal abgesprochen, das in ihm enthalten ist, oder umgekehrt ihm eines zugesprochen, das ausdrücklich in ihm negiert ist, dann besitzt das Urteil keine Einheit und ist nicht möglich. Genauer lautet jedoch die Frage, die Kant im £72 der Kr V stellt, unter welchen Bedingungen ein Urteil, das als Prinzip fungiert, keine Einheit besitzt. Kant antwortet hierauf zwar nicht direkt. Doch ist er offensichtlich der Meinung, daß nicht nur alle Urteile, die nach dem Satz des Widerspruchs unmöglich sind, weil in ihnen dem Subjektbegriff ein Prädikat abgesprochen wird, das in ihm enthalten ist96, sondern auch alle Urteile, die nicht allgemein sind, keine Einheit besitzen können. Anders formuliert: alle besonderen Urteile können nicht die Einheit beanspruchen, die von ihnen als Prinzip zu fordern wäre, weil das Urteil: „einige A sind B", sofern es ein „bloß besonderes" Urteil ist97, auch „einige A sind nicht B" zuläßt und sich daraus wiederum ergibt, daß A nicht die einheitliche Bedingung sein kann, unter der B gegeben wird.98 Von einem Urteil, das als Prinzip fungieren soll, muß aber verlangt werden, daß es ein allgemeines Urteil ist99 und auch in dieser Hinsicht Einheit besitzt.100 95

Cf. die Formulierung £r f, B 190. ** Bzw. umgekehrt eines zugesprochen wird, das ausdrücklich nicht in ihm enthalten ist 97 Cf. zur Unterscheidung zwischen einem „nicht bloß besonderen" und einem „bloß besonderen Urteil" (iudicium non tantum particulare bzw. iudicium tantum particulare) § 301 von Meiers Auszug aus der Vernunftlehre. Halle 1752. 98 Bloß besondere Urteile lassen sich jedoch nach der Auffassung Meiers in allgemeine verwandeln, wenn man die Einschränkung, unter der der Prädikatbegriff dem Subjektbegriff zugesprochen wird, zum Subjektbegriff hinzufügt: „Alle besondere Urtheile, die nicht zu gleicher Zeit allgemein wahr sind, (können) in allgemein wahre Urtheile verwandelt werden; so bald man nemlich ihre Einschränkung erfunden hat, und dieselbe mit dem Subjecte verbindet" (Meiers Vernunftlehre. Halle 1752, 502, zit nach AA 16,649). Auch Kant notiert sich: „Ein jedes besonderes Urtheil kan durch die beygefügte Bedingung in ein allgemeines verändert werden" (R 3082). 99 Von besonderen Urteilen können wir jedenfalls sagen, daß sich ihre Wahrheit oder Falschheit nicht analytisch und durch den Satz des Widerspruchs beweisen läßt Daß ein besonderes Urteil möglich ist, scheint zu besagen, daß mit dem Subjektbegriff sowohl der Prädikatbegriff wie dessen Negation verknOpft werden können. Dies gilt for echte besondere Urteile, bei denen also der subkonträre Gegensatz auch wahr ist. Der Satz des Widerspruchs erlaubt nur zu beurteilen, ob ein Prädikatbegriff einem Subjektbegriff widerspricht oder nicht. Die Frage stellt sich hier also lediglich, ob „A ist B" nach dem Satz des Widerspruchs möglich ist oder nicht. Wenn es möglich ist, dann wäre die nächste Frage, ob auch das Urteil „A ist non B" möglich ist Nur wenn dieses Urteil unmöglich ist, folgt,

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Gleichwohl gilt die Einschränkung, daß der Satz des Widerspruchs bloß ein negatives Kriterium der Wahrheit ist (und nur für analytische Urteile ausserdem hinreichend): „Denn daß ihm gar keine Erkenntnis zuwider sein könne, ohne sich selbst zu vernichten, das macht diesen Satz wohl zur conditio sine qua non, aber nicht zum Bestimmungsgrunde der Wahrheit unserer Erkenntnis."101

Man kann also daraus, daß ein Urteil nach dem Satz des Widerspruchs als allgemeines Urteil möglich ist, folgern, daß es auch als Prinzip fungieren kann, nicht aber, daß es wirklich ein Prinzip und als allgemeines Urteil wahr ist. Der Satz des Widerspruchs dient lediglich dazu, das Urteil mit dem Verstand (und seiner Einheit) zu vergleichen, noch nicht dazu, es mit dem Verstand auch zu verknüpfen. Dies geschieht erst mit dem zweiten logischen Kriterium der Erkenntnis. (2) Das zweite logische Kriterium der Wahrheit geht sich auf den Bestimmungsgrund der Wahrheit einer Erkenntnis, die als Prinzip betrachtet wird. Nach dem Satz des zureichenden Grundes ist ein Urteil dann logisch wirklich oder wahr, wenn es gegründet ist, und als gegründet gilt es, wenn es ein Grund wahrer Folgen ist.102 Erweist sich also ein bejahtes allgemeines kategorisches Urteil nach dem Satz des Widerspruchs als möglich, dann stellt sich die Frage, ob es auch logisch wirklich und wahr ist. Damit es logisch wirklich und wahr ist, muß es in bestimmter Weise mit anderen Urteilen verknüpft sein, und dies ist dann der Fall, wenn es entweder als Vordersatz eines oder mehrerer hypothetischer Urteile oder als Obersatz eines Schlusses fungiert. In

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daß „A ist B" wahr ist, und zwar als allgemeiner Satz (unter Voraussetzung des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten). Ist es dagegen möglich, dann kann können beide entweder als besondere Urteile wahr sein oder eines ist als allgemeines Urteil wahr. Da einzelne Urteile nach Kant mit allgemeinen logisch gleichwertig sind, kann an dieser Stelle unerörtert bleiben, ob der Satz „Ich denke" ein allgemeines oder einzelnes Urteil ist. Ich erwähne dies nur, weil das „Ich denke" das prominenteste Beispiel für die Anwendung der qualitativen Einheit ist, von der der §12 spricht, und die Frage sich stellt, in welcher Hinsicht man es hier mit einem Prinzip zu tun hat. Cf. KrV, B 191. Dies ist übrigens eine der wenigen Stellen in der KrV, an der von dem Bestimmungsgrund der Wahrheit einer Erkenntnis die Rede ist. Für Poser (1981) liegt in der Bestimmung der „logischen Wirklichkeit oder Wahrheit" „die Hauptschwierigkeit einer angemessenen Deutung des Zusammenhangs nicht nur der logischen Modalitäten, sondern auch des Kantischen modalen Denkens überhaupt" (197). Eine der Schwierigkeiten!, die die Rede vom Urteil als Grund wahrer Folgen aufwirft, ist die, daß jedes Urteil alle logischen Wahrheiten impliziert und dies unendlich viele sind. Vermutlich meint Kant jedoch mit dem, was im Verhältnis von Grund und Folge stehen soll, ein allgemeines bejahtes kategorisches Urteil auf der einen, ein einzelnes bejahtes (oder verneintes) kategorisches Urteil auf der anderen Seite, die beide den gleichen Subjekt- und Prädikatbegriffhaben. Es geht dann im Kern um das Verhältnis eines Begriffs zu dem, was unter ihm enthalten ist und von dem es „Erkenntnisgrund" ist.

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beiden Fällen wird das Erkenntnis als Grund mit anderen Erkenntnissen als Folgen verknüpft. Von der Wahrheit bzw. Falschheit dieser Folgen, die insofern als Erkenntnisgründe (rationes cognoscendi) dienen, kann nun auf die Wahrheit bzw. Falschheit des Erkenntnisses geschlossen werden, und zwar über den Schluß per modus ponens von der Wahrheit der Folge auf die Wahrheit des Grundes und über den Schluß per modus tollens von der Falschheit der Folge auf die Falschheit des Grundes. Im ersten Fall gilt, daß je mehr wahre Folgen ein kategorisches Urteil (als Grund) hat, umso gegründeter (und „wahrscheinlicher") auch die Annahme seiner Wahrheit ist.103 Im zweiten Fall ergibt sich dagegen definitiv aus der Falschheit einer einzigen Folge die Falschheit des Grunds.104 (3) Schließlich gibt als letztes der drei logischen Prinzipien der Wahrheit das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten die Bedingung an, unter der ein Urteil logisch notwendig oder vollständig ist. Ein bejahtes allgemeines Urteil ist dann logisch notwendig oder vollständig, wenn alle seine Folgen ausnahmslos wahr sind. Da sich dies nach Kants Meinung jedoch niemals direkt und apodiktisch beweisen läßt105, bleibt nur der indirekte Weg, nämlich zu zeigen, daß das kontradiktorische Gegenteil des als Prinzip betrachteten allgemeinen Urteils falsch ist, und als falsch kann dieses sich wiederum nur erweisen, wenn es entweder nach dem Satz des Widerspruchs unmöglich oder nach dem Satz

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Kant nennt diese Wahrheit daher auch hypothetische Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit. Je mehr wahre Folgen eine Erkenntnis hat, umso wahrscheinlicher ist sie. Es ist offensichtlich so, daß die (wahren) Folgen einer Erkenntnis, die als deren Grund angenommen wird, hier als Gründe im Sinne von rationes cognoscendi genommen werden. Damit der Grund für das Fürwahrhalten der Erkenntnis zureichend ist, müßte erkannt werden, daß ausnahmslos alle Folgen dieser Erkenntnis wahr sind. Dies läßt sich nach Kant jedoch niemals bewerkstelligen. Nach Poser (1981) sind beide Kriterien der Wahrheit, die Kant im Zusammenhang mit dem Satz vom zureichenden Grund aufstellt, entweder „hinfallig", weil sie lediglich zu wahrscheinlichen oder hypothetisch wahren Erkenntnissen führen, oder „untauglich", weil sie die Wahrheit voraussetzen (198/199). Der Hintergrund von Kants Überlegungen scheint jedoch ein anderer zu sein, als der, den Poser unterstellt. Kant ist sich bewußt, daß ein materiales Kriterium der Wahrheit sich nicht angeben läßt und von der Logik nicht erwartet werden kann. Der Satz des zureichenden Grundes ist daher ein formales, ein inneres, gleichwohl objektives Kriterium der Wahrheit, weil es angibt, daß ein Urteil, das möglich ist, dann wahr ist, wenn es mit anderen Urteilen, die wahr sind, auf eine bestimmte Weise verknüpft ist. Daß sich die Wahrheit von einem Urteil (oder mehreren) durch eine bestimmte Verknüpfung auf ein anderes Urteil überträgt, ist in Kants Augen mithin nicht selbstverständlich, sondern impliziert ein logisches Kriterium der Wahrheit, d.i. den Satz des zureichenden Grundes in logischer Bedeutung genommen. Cf. zum Zusammenhang von formaler und materialer Wahrheit sowie zu den logischen Modalitäten auch: Stuhlmann-Laeisz (1976), 6171. Cf. z.B. R 2178: „Aus der Folge laßt sich zwar auf einen Grund schließen, aber ohne ihn zu bestimmen; aber aus dem Inbegrif aller Folgen allein auf einen bestimmten Grund, daß dieser der wahre Grund sey. Diese allheit laßt sich nicht apodictisch erkennen."

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des zureichenden Grundes ein Grund falscher Folgen ist. Im ersten Fall ist das Urteil notwendig, im zweiten Fall Kontingent wahr. Der Schluß von der Falschheit eines Urteils auf die Wahrheit seines kontradiktorischen Gegenteils aber setzt das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten voraus. Denn dieses Prinzip besagt, daß von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Urteilen eines notwendig wahr ist. Nun ist das kontradiktorische Gegenteil eines allgemeinen Urteils („alle A sind B") das besondere Urteil („einige A sind non B"). Im Vergleich zum allgemeinen Urteil enthält das besondere Urteil eine Einschränkung, weil es nur unter einer einschränkenden Bedingung dem A die Eigenschaft non B zuzusprechen scheint. Das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten muß mithin von einem allgemeinen Urteil, das als Prinzip betrachtet werden soll, fordern, daß es keiner einschränkenden Bedingung C unterworfen ist derart, daß das Urteil „Alle A sind B" nur dann gilt, wenn A nicht C ist und das Urteil „kein A ist C" falsch ist. Der Satz des Widerspruchs, des zureichenden Grundes und des ausgeschlossenen Dritten sind logische Kriterien der Wahrheit. Sie erlauben es, Urteile miteinander zu verknüpfen und in einen Ordnungszusammenhang zu bringen. Zugleich formulieren diese Sätze die logischen Anforderungen, die an ein Erkenntnis, das sich zum Prinzip qualifizieren soll, gestellt werden müssen: als Prinzip muß das Erkenntnis danach Einheit besitzen (es muß also als ein allgemeines Urteil nach dem Satz des Widerspruchs möglich sein); es muß Wahrheit besitzen (es muß also nach dem Satz des zureichenden Grundes ein Grund wahrer Folgen sein), und es muß Vollkommenheit besitzen (es müssen also nach dem Satz des ausgeschlossenen Dritten alle wahren Folgen Folgen dieses einen Grundes sein bzw. die Allgemeinheit des Prinzips darf keiner Einschränkung unterliegen). Bei diesen logischen Kriterien der Wahrheit wird jedoch lediglich die Übereinstimmung der Urteile mit dem Verstand betrachtet. Für die Beurteilung der (materiellen) Wahrheit von Urteilen sind diese Kriterien ungeeignet. Dennoch gilt auch hier, daß material wahre Urteile als Prinzipien Einheit besitzen, daß sie material wahre Folgen haben und daß sie Grund aller material wahren Folgen sein müssen. Dabei zeigt sich, daß sich der Satz vom Grund und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten auch auf die Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Objekt, in der seine materiale Wahrheit, und auf vollständige (notwendige) Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Objekt, in der seine notwendige materiale Wahrheit besteht, beziehen. Denn ein Urteil ist dann (material) wahr, wenn es mit seinem Gegen-

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stand übereinstimmt. Daß eine solche Übereinstimmung besteht, läßt sich jedoch nur in Anspruch nehmen, wenn es mit entsprechenden Erfahrungsgründen verknüpft ist. Will man zeigen, daß alle Folgen eines Urteils (material) wahr sind, muß man wiederum zeigen, daß das Urteil keinen einschränkenden Bedingungen unterworfen ist. Im folgenden möchte ich zeigen, daß diesen drei Prinzipien entsprechende Prinzipien im Bereich des praktischen Denkens zugeordnet werden können, die die Bedingungen formulieren, unter denen der Wille mit sich selbst übereinstimmt, und daß Kant mit den drei Formeln des Sittengesetzes nichts anderes versucht, als diese drei analogen Prinzipien zu formulieren. Das erste Prinzip fordert, daß eine praktische Regel als Prinzip Einheit besitzen muß. Diese Einheit ist qualitativer Art, weil die praktische Regel dabei als (logischer) Bestimmungsgrund der Maxime angesehen wird, durch die sich der Wille bestimmt. Das zweite Prinzip fordert, daß eine praktische Regel, deren Einheit als Prinzip feststeht, auch gegründet, d.i. ein Grund richtiger Folgen sein muß. Die Folgen, im Hinblick auf die eine praktische Regel als Grund betrachtet werden kann, sind die praktischen Regeln, durch die der Wille sich selbst (die eigene freie Willkür) zum Handeln bestimmt. Diese Regeln sind (material) richtig, wenn sie mit den Zwecken übereinstimmen, die vom einzelnen Subjekt gewollt werden, und sie stimmen mit den Zwecken überein, wenn diese durch die Handlungen, die in den praktischen Regeln als tunlich gesetzt sind, verwirklicht werden. Insofern hat das zweite Prinzip in jedem Fall mit Zweckbestimmungen zu tun. Die entscheidende Frage lautet jedoch, wovon das Wollen der Zwecke abhängt, mit dem Maximen, die aus einem praktischen Prinzip als Folgen abgeleitet werden können, übereinstimmen müssen, um praktisch richtig zu sein. Schließlich richtet sich das dritte Prinzip auf die Vollständigkeit der praktischen Regeln, die aus einer praktischen Regel, die als Prinzip fungiert, abgeleitet werden können und die reale Bestimmungsgründe der freien Willkür aller Subjekte sind. Eine praktische Regel erweist sich in diesem Fall als ein Bestimmungsgrund, dessen Gegenteil unmöglich oder falsch ist, und dessen Folgen (die Willen) daher eine Totalität bilden (Reich der Zwecke).

bb) Die einzelnen Formeln Im folgenden soll nicht auf alle Aspekte der Formeln eingegangen werden. Die Frage etwa, wie viele Formeln unterschieden werden können und ob und in welcher Hinsicht überhaupt ein Unterschied zwischen ihnen besteht, ist in

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den letzten Jahrzehnten ausgiebig behandelt worden.106 Dabei hat man vor allem Kants Behauptung, daß eine systematische Ordnung zwischen den Formeln besteht, entweder nicht ernstgenommen oder zurückgewiesen oder/und zugleich nach sachlichen Argumenten für eine Unterscheidung und Ableitung der Formeln gesucht. Nach meiner Auffassung liegt der Unterscheidung der Formeln ein systematisches Argument zugrunde, das sich gewinnen läßt, wenn man der von Kant stets herausgestellten Analogie zwischen der Logik und der Moral, zwischen der reinen Wissenschaft des Denkens und der reinen Wissenschaft des Wollens nachfolgt. Man kommt dann zu dem Ergebnis, daß die Dreizahl der Formeln der Dreizahl der logischen Prinzipien der Wahrheit entspricht, ja als Formulierung analoger Prinzipien interpretiert werden kann.107

1) Die Gesetzes-Formel Kant formuliert die Gesetzes-Formel zwar nicht immer in gleichlautenden Wendungen, doch muß man diesen Unterschieden nicht unbedingt ein besonderes Gewicht beimessen.108 Hält man sich an die Formulierung, die Kant selbst als den „Kanon der moralischen Beurteilung" bezeichnet, so verlangt 106 107

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Cf. dazu: Wimmer (1982). Allerdings stellt sich dabei ein besonderes Problem. Eigentlich sind vier Formeln oder Formulierungen zu unterscheiden: die allgemeine Gesetzes-Formel und die drei Formeln im engeren Sinne (Naturgesetz-Formel, Menschheits-Formel und Autonomie-Formel). Die allgemeine Gesetzes-Formel ist ein formales Kriterium, und sie enthält die drei logischen Prinzipien bzw. deren Pendant, wie ich noch genauer zeigen werde. Dagegen hebt die Naturgesetz-Formel den Aspekt der Einheit hervor. Die Naturgesetz-Formel fordert: „daß die Maximen so müssen gewählt werden, als ob sie wie allgemeine Naturgesetze gelten sollten." (GMS, BA 80). Die Naturgesetz-Formel hebt an der sittlichen Maxime den Aspekt der Form (die in der Allgemeinheit besteht) hervor und fordert von den Maximen, die einer wählt und nach denen er handelt, daß man zugleich wollen kann, sie gelten als allgemeine Gesetze und seien in ihrer Gültigkeit allgemeinen Naturgesetzen vergleichbar. Obwohl Kant zunächst darauf besteht, daß durch die Naturgesetz-Formel gerade die geforderte Allgemeingültigkeit sittlicher Maximen zum Ausdruck gebracht wird, ist es doch eher der (kategoriale) Aspekt der (qualitativen) Einheit (des Prinzips), der durch den Begriff der (einen) Natur und des Naturgesetzes „der Anschauung (nach einer gewissen Analogie) und dadurch dem Gefühle" nähergebracht werden soll (GMS, BA 79/80). Natur ist in materieller Bedeutung der „Inbegriff der Erscheinungen", in formeller Bedeutung der „Inbegriff der Regeln, unter denen alle Erscheinungen stehen müssen, wenn sie in einer Erfahrung als verknüpft gedacht werden sollen" (Prolegomena, A 110). Nach der ÄrKist sie (wiederum in formeller Bedeutung) die „synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Erscheinungen nach Regeln" (KrV, A 126/127). Ich werde auf die Naturgesetz-Formel nicht näher eingehen, sondern den Aspekt der qualitativen Einheit, der durch diese Formel der Anschauung nähergebracht werden soll, an der allgemeinen Gesetzes-Formel erläutern. Cf. im Gegensatz dazu etwa: Paton (1962), 152-156, der sogar verschiedene Gesetzes-Formeln unterscheidet.

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die Gesetzes-Formel von jedem vernünftigen, mit einem Willen begabten Wesen, daß es wollen können muß, daß die Maxime seiner Handlung ein allgemeines Gesetz werde.109 Inwiefern gilt nun, daß dieses Prinzip praktische Regeln unter die Bedingung der qualitativen Einheit stellt? Im Zusammenhang der theoretischen Philosophie impliziert die Forderung, daß ein Erkenntnis qualitative Einheit besitzen muß, zweierlei: das Erkenntnis muß zum einen als Prinzip (als Grund) bestimmt sein, und es muß als Prinzip zum anderen Einheit im Hinblick auf alle Folgen besitzen (es ist nur ein Grund für alle Folgen). Ein Erkenntnis, das als Prinzip fungieren soll, besitzt diese Einheit, wie wir gesehen haben, dann, wenn es als bejahtes allgemeines Urteil nach dem Satz des Widerspruchs möglich ist. Im Bereich des praktischen Denkens sind die Erkenntnisse, von denen eine qualitative Einheit gefordert werden muß, praktische Regeln, aus denen sich andere Regeln als (logische) Folgen und aus diesen wiederum Handlungen und Zwecke als (reale) Folgen ableiten lassen. Die Forderung, daß diese Regeln qualitative Einheit aufweisen müssen, läßt sich dann so interpretieren, daß eine und nur eine Regel als logischer Bestimmungsgrund für alle Maximen und damit zugleich als realer Bestimmungsgrundför die Willkür aller Subjekte gedacht werden muß. In dieser Forderung ist enthalten, daß die Maxime, nach der der einzelne bei einer bestimmten Gelegenheit verfährt, zugleich als Maxime angesehen werden muß, nach der jeder andere bei dieser Gelegenheit auch verfahren kann. Denn andernfalls würde nicht eine (allgemeine) Regel, sondern würden verschiedene (besondere) Regeln als Bestimmungsgrund der Willkür angenommen werden. Lautet die Maxime also: (PRj*W*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich"

dann folgt aus der Forderung der qualitativen Einheit, daß die Maxime für den Willen aller Subjekte gelten muß und wir statt (PRj*W*) auch: (PR3*W*) „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich"

schreiben können. 110 109 110

Cf.GMS,BA57. Schöndorf (1985) behauptet, daß die Allgemeinheit des Gesetzes nicht seine Geltung für alle Handlungssubjekte meint, „sondern seine uneingeschränkte Geltung für alle Fälle der betreffenden Handlung", und gibt dazu die folgende Erläuterung: „Es geht nämlich zunächst darum, daß dieselbe Maxime für die Gesamtheit der verschiedensten Situationen und Gelegenheiten gilt." (552 und 553 Anm.). Leider ist diese Unterscheidung nicht sehr klar. Die subjektive Allgemeinheit der Maxime besteht bereits darin, daß sie sich auf die Gesamtheit der Situationen und Gelegenheiten bezieht,

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Wenn diese Interpretation richtig ist und der „Kanon der moralischen Beurteilung" tatsächlich verlangt, daß von jeder Maxime geprüft werden muß, ob sie eine praktische Regel (im Sinne eines realen Bestimmungsgrundes) für die Willkür aller Subjekte und somit ein praktisches Gesetz sein kann, aus dem sich die gegebene Maxime als logische Folge ableiten läßt, dann ist für den Ausgang dieser Prüfung entscheidend, ob das praktische Gesetz auch innerlich möglich ist oder ob es sich nach dem Satz des Widerspruchs selbst „vernichtet" und damit als unmöglich (nihil negativum) erweist. Im zweiten Fall läßt sich unter der Voraussetzung, daß ein Drittes ausgeschlossen ist, (und unter der Voraussetzung der nach wie vor bestehenden Forderung der qualitativen Einheit der praktischen Regel) aus der Unmöglichkeit des Gesetzes auf die Notwendigkeit des konträr entgegengesetzten Gesetzes schließen. Im ersten Fall läßt sich der Schluß von der Möglichkeit des gegebenen Gesetzes auf seine Notwendigkeit wiederum nur dann ziehen, wenn sich zeigt, daß das konträre Gegenteil des Gesetzes innerlich unmöglich ist. In beiden Fällen dient der Satz des Widerspruchs nicht nur zur Prüfung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des praktischen Gesetzes, sondern er trägt auch bereits zur Entscheidung der praktischen Richtigkeit (ja, sogar der Notwendigkeit) des Gesetzes bei. Anders im verbleibenden dritten Fall. Denn wenn sich herausstellt, daß sowohl das betrachtete praktische Gesetz als auch sein konträres Gegenteil innerlich möglich sind, dann ist auch die Forderung der qualitativen Einheit der praktischen Regel auf der einen wie auf der anderen Seite erfüllt, ohne daß damit bereits etwas über die Richtigkeit des einen oder des anderen Gesetzes ausgemacht wäre. Um hier zu einer Entscheidung gelangen zu können, müssen nach dem Satz des zureichenden Grundes die Folgen der Regeln mit berücksichtigt werden. Ergeben sich aus dem einen Gesetz Folgen, die praktisch falsch sind, dann kann (immer unter der Voraussetzung, daß ein Mittleres ausgeschlossen ist) auf die praktische Richtigkeit des konträren Gegenteils geschlossen werden. Diese Überlegungen bedürfen freilich in einer Hinsicht der Erläuterung. Es mag Überraschung, wenn nicht sogar Widerspruch hervorrufen, wenn behauptet wird, daß die erste Formel des Sittengesetzes die Prüfung der Möglichkeit von zwei konträr entgegengesetzten praktischen Regeln, d.i. von zwei allgemeinen Gesetzen zur Aufgabe macht. Diese Forderung erscheint zu streng, da nach dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten logisch aus der Falschheit eiin denen eine bestimmte Handlung als tunlich für die eigene Willkür erkannt wird. In dieser Hinsicht bringt eine Verallgemeinerung der Maxime zu einem Gesetz nichts.

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nes allgemeinen Urteils nur auf die Richtigkeit des kontradiktorisch, nicht aber des konträr entgegengesetzten Urteils geschlossen werden kann. Das kontradiktorische Gegenteil eines bejahten allgemeinen Urteils ist das besondere verneinte Urteil mit dem gleichen Subjekt- und Prädikatbegriff. Aus der Falschheit des Urteils: „Alle A sind B" kann so zunächst allein auf die Wahrheit des kontradiktorisch entgegengesetzten Urteils: „Einige A sind non B", nicht aber auf die des konträren Urteils: „Alle A sind non B" geschlossen werden. Tatsächlich erfüllen aber nur die beiden Urteile: „Alle A sind B" bzw. „Alle A sind non B" die an ein Prinzip zu stellende Forderung der Einheit der Bedingung (unter der nämlich B bzw. non B gegeben wird). Das besondere Urteil „Einige A sind non B" erfüllt diese Forderung gerade nicht. Insofern scheiden besondere Urteile vorweg als Prinzipien aus, weil ihnen die für ein Prinzip unerläßliche Einheit eo ipso fehlt. Prinzipien können nur Urteile der Art: „Alle A sind B" oder „Alle A sind non B" sein. Zwischen ihnen ist folglich auch die Entscheidung darüber zu herbeizufuhren, welches von beiden wahr ist. All das gilt auch für den Bereich des praktischen Denkens. Auch hier kommen als Prinzipien nur die beiden praktischen Regeln: (PR3*N*) „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendig tunlich" (PR3*N*) „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Unterlassung derHandlung a notwendig tunlich"

in Frage. Zwischen diesen Prinzipien ist also, wenn eine gegebene Maxime verallgemeinert wird, am Ende anhand des Kriteriums der Widerspruchsfreiheit bzw. der Begründetheit die Wahl zu treffen. Daraus ergibt sich, daß stets versucht werden muß, gegebene Maximen auf beide Weisen zu verallgemeinern. Lautet die Maxime also: (PRj*W*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich"

so muß geprüft werden, ob das allgemeine Gesetz (PR3*N*), aus dem sich die Maxime als logische Folge ableiten läßt, oder sein konträres Gegenteil, aus dem sich die entgegengesetzte Maxime: „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Unterlassung der Handlung a wirklich tunlich"

ableiten läßt, praktisch richtig ist.

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Diesen beiden grundsätzlichen Möglichkeiten, zur Entscheidung über die Richtigkeit von praktischen Gesetzen zu gelangen, nämlich auf der einen Seite durch einen Schluß von der inneren Unmöglichkeit einer gegebenen Regel auf die notwendige Richtigkeit der konträr entgegengesetzten Regel und auf der anderen Seite durch einen Schluß von der Falschheit (äußeren Unmöglichkeit) einer gegebenen Regel auf die kontingente Richtigkeit der konträr entgegengesetzten Regel, entspricht bei Kant die bekannte Unterscheidung zwischen „Denkenkönnen" und „Wollenkönnen", die der „Kanon der moralischen Beurteilung" ihm zufolge einschließt und die auch der Einteilung in vollkommene und unvollkommene Pflichten zugrundeliegt. Diese Unterscheidung wird von Kant selbst auf folgende Weise erläutert: „Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei ändern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde."1"

Beide Kriterien gehen über die Erörterung der bloßen Möglichkeit des praktischen Gesetzes, zu dem man seine Maxime nach der Gesetzes-Formel verallgemeinern soll, hinaus und beziehen sich schon auf die Bestimmung der praktischen Richtigkeit (oder Wirklichkeit) des betreffenden Gesetzes. Im einen Fall kann diese Richtigkeit auf analytische Weise (und ohne das Gesetz selbst in Verknüpfung mit Folgen zu betrachten) entschieden werden, im anderen Fall nur unter Zuhilfenahme des Satzes vom zureichenden Grund und eines Schlusses per modus tollens. Voraussetzung ist in beiden Fällen jedoch, daß die Frage eindeutig beantwortet werden kann, ob eine gegebene Maxime, die man als allgemeines Gesetz betrachtet, innerlich möglich ist oder nicht. In der Logik entscheidet über die innere Möglichkeit eines Urteils der Satz vom Widerspruch, demzufolge keinem Subjektbegriff ein Prädikat zukommt, das ihm widerspricht. Worin aber besteht der Satz des Widerspruchs (oder ein Analogen dazu), wenn man ihn auf praktische Regeln anwendet? Erinnern wir uns daran, daß in einem praktischen Gesetz im Hinblick auf jede Gelegenheit O eine Handlung a als tunlich für die Willkür von allen Subjekten gesetzt wird. Nun könnte man zu argumentieren versuchen, daß eine

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GMS, BA 57. Cf. dazu insbesondere Kersting (1983), 408, 413-415, der die Unhaltbarkeit der Unterscheidung behauptet, und Schöndorf (1985), der sie gegen Kersting zu verteidigen versucht.

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solche Regel dann einen Widerspruch einschließt, wenn die Willkür der Subjekte, für die die Handlung a als tunlich gesetzt wird, bereits dadurch bestimmt ist, daß für sie die Unterlassung der Handlung a als tunlich gesetzt ist. In diesem Fall wird für ein und dieselbe Willkür bei jeder Gelegenheit O sowohl die Handlung a wie die Unterlassung der Handlung a als tunlich behauptet. Hierbei handelt es sich offenbar um einen Widerspruch, der sich kaum von einem Widerspruch der Art unterscheidet, wie er sich in dem Urteil: „Der gelehrte Mensch ist ungelehrt" findet. Dennoch genügt dies noch nicht. Zwar schließen sich die beiden Regeln, wonach für die Willkür aller Subjekte bei jeder Gelegenheit O sowohl die Handlung a wie die Unterlassung der Handlung a tunlich ist, wechselseitig aus. Und ein Gesetz, das sie beide vereinigt, enthält daher einen Widerspruch. Doch setzt dieser Widerspruch voraus, daß für die Willkür, für die die Handlung a als tunlich gesetzt wird, wesentlich auch die Unterlassung der Handlung a als tunlich gesetzt sein muß. Und in welchem Sinn läßt sich dies behaupten? Um tatsächlich einen Widerspruch im Gesetz zu erhalten, muß ein Zusammenhang zwischen der Behauptung der Tunlichkeit der Handlung a und der Tunlichkeit der Unterlassung der Handlung a für ein und dieselbe Willkür hergestellt werden. Ein solcher Zusammenhang besteht immer dann, wenn man die Möglichkeit des Begehens der Handlung davon abhängig machen muß, daß eine praktische Regel in Kraft ist, nach der das Unterlassen eben derselben Handlung für die Willkür aller Subjekte tunlich ist. Auf die Gründe der Möglichkeit der Handlung beziehen sich in der Maxime bzw. im praktischen Gesetz sowohl die Willkür (innerer Grund der Möglichkeit) wie auch die Gelegenheit (äußerer Grund der Möglichkeit). Die Gelegenheit läßt sich wiederum einteilen in mitwirkende Ursachen, die letztlich auf der Willkür anderer Subjekte beruhen, und in solche, bei denen dies nicht der Fall ist. Sowohl was die inneren wie die äußeren Gründe der Möglichkeit der Handlung betrifft, muß also in Betracht gezogen werden, daß die Handlung nur unter der Voraussetzung der Gültigkeit bestimmter praktischer Regeln möglich ist, die mit der Regel, nach der die Handlung selbst tunlich ist, unvereinbar ist. Muß die Willkür durch Regeln bestimmt werden, um ein Grund der Möglichkeit von Handlungen zu sein, dann stellt sich die Frage, wie diese Regeln beschaffen sind. Zeigt sich, daß eine bestimmte Handlung nur dann möglich ist,

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wenn ihr Gegenteil, also ihre Unterlassung tunlich ist, dann hebt sich die Regel, die gerade die Tunlichkeit der Handlung a behauptet, von selbst auf.112 In beiden Fällen läßt sich die Maxime nicht als allgemeines Gesetz denken (im Selbstmord-Beispiel sogar noch nicht einmal als Maxime). Welche Gründe auch immer für die Annahme der Maxime durch den einzelnen sprechen, sie können nicht auch für das allgemeine Gesetz sprechen, wenn dieses sich als unmöglich erweist. Und als unmöglich erweist es sich einzig und allein aus inneren Gründen. Die Frage, ob das allgemeine Gesetz richtig oder falsch ist, stellt sich dann nicht, wenn das Gesetz selbst unmöglich ist, und unmöglich ist es dann, wenn es für die Willkür aller Subjekte eine Handlung als tunlich vorschreibt, die zu ihrer Möglichkeit voraussetzt, daß für die Willkür aller die Unterlassung der Handlung als tunlich vorgeschrieben wird. Anders sieht es jedoch aus, wenn in einem allgemeinen Gesetz eine Handlung als tunlich ausgezeichnet wird, die um ihrer Möglichkeit willen nicht die Gültigkeit des konträr entgegengesetzten allgemeinen Gesetzes voraussetzt, 112

Dieser Zusammenhang ist besonders evident bei solchen Handlungen, deren Möglichkeit von der Mitwirkung der Willkür anderer Subjekte abhangig ist, wie etwa bei der Lüge. Welche Zwecke ich auch immer mit einer Lüge anstrebe, die Möglichkeit der Handlung (im Sinne einer erfolgreichen Zweck-Handlung) setzt voraus, daß die anderen mir Glauben schenken. Und dies ist nur unter der Bedingung erfüllt, daß die Unterlassung der Lüge als tunlich für die Willkür aller Subjekte angesehen wird. (Cf. hierzu neben Ebbinghaus (1968) und Hoffe (1979) besonders Kersting (1983), 407411. Zum Thema „Lüge" bei Kant auch: Vuillemin (1982)). Sehr viel schwieriger gestaltet sich die Analyse von Handlungen, bei der eine Abhängigkeit von der Mitwirkung anderer Subjekte nicht besteht, wie etwa beim Selbstmord. Doch auch hier könnte man zu argumentieren versuchen, daß die Möglichkeit der Handlung, die darin besteht, sich das Leben zu nehmen, davon abhängig ist, daß der Betreffende das Vermögen besitzt, sich durch ein inneres Prinzip zum Handeln zu bestimmen - eine Eigenschaft, die nach Kant wesentlich das ausmacht, was wir Leben nennen. Das Leben muß als Grund der Möglichkeit auch all der Handlungen betrachtet werden, durch die das Leben aufgehoben werden kann. Der Akt der Selbsttötung wird ja erst dadurch, daß er nach einem inneren Prinzip erfolgt, zu einer Handlung. Einer, der sich selbst tötet, muß also im Hinblick auf die eigene Willkür die praktische Regel für richtig nahen, die die Möglichkeit der Handlung der Selbsttötung sicherstellt, und diese Regel kann nur lauten: „für meine Willkür ist die Erhaltung des Lebens (und damit des Vermögens der Selbstbestimmung) tunlich." Insofern liegt schon in der Maxime der Selbsttötung ein Widerspruch, der erst recht besteht, wenn die Maxime zu einem allgemeinen Gesetz erweitert wird. Gegen diese Argumentation ließe sich allerdings einwenden, daß die Maxime der Selbsttötung eine Ausnahmeregel ist und genau genommen die einzige Regel, die nicht subjektiv allgemein ist und sich gerade nicht auf eine Mehrheit von Fällen bezieht. Man könnte aber auch einwenden, daß die Regel, sein Leben zu bewahren, unter bestimmten Bedingungen Ausnahmen zuläßt. Es ist dann zwar die Erhaltung des Lebens generell tunlich, unter bestimmten Bedingungen kann diese Regel jedoch eingeschränkt und die Unterlassung aller Handlungen, die der Lebenserhaltung dienen, tunlich sein. Wie wir noch sehen werden, können die Bedingungen, unter denen das praktische Gesetz, wonach für die freie Willkür aller Subjekte bei jeder Gelegenheit die Erhaltung des eigenen Lebens tunlich ist, eingeschränkt werden kann, nur im Wollen von Zwecken bestehen, die den Zwecken, aus denen die Richtigkeit des (eingeschränkten) praktischen Gesetzes folgt, übergeordnet sind. Diese Überordnung läßt sich aus der Idee eines reinen Willens jedoch gerade nicht begründen.

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dem zufolge die Unterlassung der Handlung tunlich ist. Betrachtet man Maximen wie: „Ich will nichts für die Entwicklung der eigenen Anlagen und Talente tun"

oder: , Jen will zu dem Glück der anderen nichts beitragen, obwohl ich es könnte"

so erkennt man rasch, daß sie zum allgemeinen Gesetz erhoben werden können, ohne einen Widerspruch zu enthalten, und daß sie somit als allgemeine Gesetze möglich sind. Daß keiner seine Anlagen und Talente entwickelt, setzt nicht um seiner Möglichkeit willen voraus, daß jeder die Entwicklung der Anlagen und Talente für tunlich ansehen muß. Daß keiner das Glück der anderen vermehrt, obwohl er es doch könnte, setzt nicht um der eigenen Möglichkeit willen voraus, daß jeder die Steigerung des Glücks von anderen als für sich tunlich betrachten muß. Insofern ist ein Gesetz, das eine solche Verhaltensweise zum Inhalt hat, durchaus denkbar, wie im übrigen auch das konträr entgegengesetzte Gesetz nach dem Satz des Widerspruchs möglich ist. Gleichwohl kann ich nach Kants Auffassung nicht wollen, daß das eine der beiden denkbaren Gesetze in Kraft ist. Offenbar sind also beide Gesetze zwar praktisch möglich, aber nur eines von beiden kann praktisch wirklich und richtig sein. Und nur diejenige Maxime, die sich aus dem praktisch richtigen allgemeinen Gesetz als Folge ableiten läßt, kann ebenfalls als praktisch richtig (und die in der Regel gesetzte Handlung als wirklich tunlich) betrachtet werden. Was hat es damit auf sich? In der Logik ist ein Erkenntnis, das als Prinzip fungiert, dann falsch, wenn eine seiner Folgen falsch ist. Allerdings stellt dies nur ein formales Kriterium der Wahrheit dar, und es setzt zudem voraus, daß sich die Wahrheit der Folgen, die selbst wiederum Erkenntnisse sind, anhand eines anderen Kriteriums beurteilen läßt. Ein solches Kriterium erhält man jedoch, wenn man die Grenze der Logik überschreitet und annimmt, daß die Folge eines Erkenntnisses, das als Prinzip fungieren soll, offensichtlich falsch ist, wenn sie nicht mit dem Objekt, auf das es sich bezieht, übereinstimmt. Es ließe sich dann (formal) von der (materialen) Falschheit der Folge des Prinzips auf die (notwendige) Falschheit des Prinzips selbst schließen, wobei die materiale Falschheit der Folge sich durchaus auf empirischem Weg erweisen könnte. Ganz ähnlich scheinen die Verhältnisse im Bereich des praktischen Denkens zu liegen. Denn offenbar können wir ein allgemeines praktisches Gesetz dann für falsch ansehen, wenn sich eine seiner Folgen als falsch erweist. Die

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Folgen eines allgemeinen praktischen Gesetzes sind die praktischen Regeln, durch die sich jeder einzelne zum Handeln bestimmt, d.i. seine Maximen. Im Hinblick auf diese praktischen Regeln (= Maximen) bedürfte es eines materialen Kriteriums der Richtigkeit, wenn sich anhand der Folgen entscheiden lassen soll, ob ein Gesetz, das praktisch richtig sein könnte, praktisch falsch ist. Nun verfugen wir aber bereits über ein solches Kriterium. Denn nach unserer Analyse der allgemeinen Formel der Maxime ist eine praktische Regel (der 1. Person) dann assertorisch gültig, wenn sie mit einem Bestimmungsgrund verknüpft ist. Dieser Bestimmungsgrund besteht näher betrachtet im Wollen eines Zwecks S. Stellt sich also heraus, daß eine Maxime, die sich als Folge aus dem einen oder anderen der beiden einander konträr gegenüberstehenden Gesetze ableiten läßt, material falsch ist und mit dem Wollen eines bestimmten Zwecks S nicht übereinstimmt, dann ist auch das entsprechende praktische Gesetz falsch, obwohl es als allgemeines Gesetz möglich wäre. Man kann sich die Anwendung dieses Gedankens an dem allgemeinen Gesetz: „für die Willkür keines Subjekts ist bei keiner Gelegenheit die Entwicklung der eigenen Anlagen tunlich"

leicht vor Augen führen. Die Maxime, die sich aus diesem Gesetz für jedes Subjekt ableiten läßt, wäre nur dann (material) richtig, wenn für jedes Subjekt zugleich gälte, daß es niemals einen Zweck will, den es verwirklichen könnte, wenn es seine Anlagen entwickelte. Gerade dies läßt sich jedoch nicht mit Gewißheit behaupten, im Gegenteil, die Erfahrung lehrt mich, daß ich auch Zwecke begehren könnte, zu deren Verwirklichung ich bloß die Anlagen habe. Insofern wäre eine Maxime, wonach ich keine meiner Anlagen zu keinem Zeitpunkt entwickeln will, (material) falsch, und entsprechend muß auch das allgemeine Gesetz, aus dem sich meine Maxime als Folge ableiten läßt, falsch, dessen konträres Gegenteil mithin richtig sein. Daraus läßt sich eine interessante Konsequenz ziehen. Wenn sowohl das allgemeine praktische Gesetz wie sein konträres Gegenteil Z praktisch möglich sind, dann kann in ihrem Fall zwischen der freien Willkür und der Tunlichkeit der Handlung für die Willkür kein analytischer Zusammenhang bestehen. Gemessen am bloßen Wollen ist beides möglich: sowohl daß es ein allgemeines Gesetz sei, daß jeder seine Anlagen entwickle, wie auch, daß es ein allgemeines Gesetz sei, daß jeder seine Anlagen brachliegen lasse. Wenn man entscheiden will, welches der beiden Gesetze das praktisch wirkliche Gesetz ist, dann müssen wir ein synthetisches Verhältnis zwischen dem Wollen und

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der Tunlichkeit der Handlung für die freie Willkür annehmen. Worin besteht diese Synthesis und was ist dann Bestimmungsgrund des Gesetzes? Kann man zum einen zeigen, daß die Folge eines allgemeinen Gesetzes darin besteht, daß bestimmte Zwecke nicht gewollt werden können, zum anderen, daß es durchaus Gründe dafür gibt, die Möglichkeit des Wollens solcher Zwecke nicht auszuschließen, dann muß man den Schluß ziehen, daß die Folgen des Gesetzes falsch, das konträr entgegengesetzte Gesetz also richtig sein muß. Die Gründe, die für die Möglichkeit des Wollens bestimmter Zwekke sprechen, sind dabei nicht aus dem Wollen selbst, sondern aus der Erfahrung eines bestimmten, nämlich des menschlichen Wollens genommen. Es sind also Argumente, die sich auf die conditio humana beziehen und empirischen Charakter haben und die doch mit zwingender Notwendigkeit auf die Falschheit eines erwägbaren praktischen Gesetzes führen. Gerade weil ich ein menschliches Wesen bin, ist es keineswegs unmöglich, daß ich auch Zwecke wollen könnte, zu deren Verwirklichung ich die Anlagen und Talente in mir trage. Allerdings ist die Möglichkeit eines solchen Wollens kontingent und liegt nicht schon in der Idee eines reinen Willens. Alle Zwecksetzungen des empirischen Willens qua empirischen Willens sind bezogen auf die Idee des reinen Willens synthetisch. Damit sind auch die Maximen, nach denen der reine Wille verfahrt, synthetischer Natur, mögen sie auch für den empirischen Willen analytisch, nämlich unter der Voraussetzung des Wollens eines bestimmten Zwecks richtig sein, aber gerade von dieser Voraussetzung ist der reine Wille ja zunächst frei. Nach unserer Interpretation kann eine Maxime dann nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden, wenn dieses Gesetz zur Folge hätte, daß bestimmte Zwecke, die gewollt werden könnten, nicht verwirklichbar sind. Diese Interpretation findet eine Stütze in gewissen Bemerkungen, die Kant in der Einleitung zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre zum obersten Prinzip der Tugendlehre macht. Kant behauptet dort, daß das Prinzip der Tugendlehre, das die Zwecke der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit zur Pflicht macht, synthetisch ist. Und als Begründung dafür führt er an: „Was im Verhältnis der Menschen, zu sich selbst und anderen, Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt; in Ansehung derselben indifferent sein, d.i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch; weil sie alsdann auch nicht die Maximen

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zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde."113

Auch hier stellt Kant also einen Zusammenhang zwischen den Zwecken her, die mögliche Zwecke der Menschen sind, und den Zwecken, die Zwecke eines reinen Willens sind. Fassen wir zusammen. In der allgemeinen Gesetzes-Formel sind alle drei logischen Prinzipien der Erkenntnis wiederum in Pendants vertreten. Der Satz des Widerspruchs, der Satz des Grundes und der Satz des ausgeschlossenen Dritten. Die Differenz zwischen Denken-Können und Wollen-Können besteht darin, daß im einen Fall von der analytischen Falschheit des einen Gesetzes auf die Richtigkeit des konträr entgegengesetzten Gesetzes geschlossen wird, während im anderen Fall aus der Falschheit einer der Folgen des Gesetzes auf die Falschheit des Gesetzes und die Richtigkeit des konträr entgegengesetzten Gesetzes geschlossen wird. In beiden Fällen wird apagogisch bewiesen und das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten unterstellt, wobei allerdings eine stärkere Fassung gebraucht wird. Denn statt kontradiktorischer Entgegensetzung haben wir es hier mit einer konträren Entgegensetzung zu tun.

2) Die Zweck-Formel Folgt man dem Leitfaden der drei logischen Erfordernisse aller Erkenntnis der Dinge überhaupt bei der Deutung der drei Formeln des Sittengesetzes weiter, dann kann man mit einem gewissen Recht vermuten, daß sich die mittlere Formel (die Zweck-Formel) auf die Bestimmung der qualitativen Vielheit von praktischen Regeln bezieht.114 Dem Begriff der qualitativen Vielheit ist in der theoretischen Philosophie das „verum" und das logische Prinzip des zureichenden Grundes zugeordnet. Das logische Prinzip des zureichenden Grundes fordert von jedem assertorischen Urteil, daß es gegründet ist und macht davon (negativ) die Wahrheit des Urteils abhängig. Ein Urteil, das nicht gegründet ist, kann nicht den Anspruch erheben, (logisch) wirklich und wahr zu sein. Nun kann ein Urteil dann als gegründet gelten, wenn es ein Grund wahrer Folgen ist. Die Wahrheit, die dem Urteil unter dieser Bedingung zugesprochen werden kann, ist hypothetischer Art, solange nur einige, nicht aber (aus-

Cf. zur Zweck-Formel u.a. Atwell (1974), Riley (1979), Ricken (1989).

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nahmslos) alle Folgen des Urteils als wahr erwiesen werden können. Das erklärt, warum dem logischen Kriterium der Wahrheit (oder Wirklichkeit) der Erkenntnis der Dinge überhaupt die Bestimmung der qualitativen Vielheit zugeordnet ist. Denn die Zahl der wahren Folgen des Urteils, das als Prinzip und als gegründet betrachtet wird, bleibt dabei wesentlich unbestimmt. Wenn man unterstellt, daß das Pendant zu diesem logischen Prinzip in Ansehung der praktischen Regeln, die man als allgemeine Gesetze ansehen kann, die zweite Formel des Sittengesetzes ist, dann steht zu erwarten, daß mit dieser Formel (1) die Folgen der praktischen Regeln, die man als Prinzipien betrachtet, ins Blickfeld rücken und (2) diese Folgen (in Analogie zur Wahrheit oder Falschheit von theoretischen Urteilen) als richtig oder falsch ausgezeichnet sein müssen, so daß sich von der Richtigkeit oder Falschheit der Folgen auf die Richtigkeit oder Falschheit der vorausgesetzten praktischen Regeln schließen läßt. Nun sind die Folgen der allgemeinen praktischen Gesetze Maximen. Man kann daher genauer sagen, daß mit der zweiten Formel des Sittengesetzes die Richtigkeit oder Falschheit von Maximen, die aus dem allgemeinen Gesetz als Folgen abgeleitet werden können, in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Ein theoretisches Erkenntnis, das wahr sein soll, muß einerseits mit den Gesetzen des Verstandes, andererseits mit dem Gegenstand übereinstimmen. In der ersten Hinsicht besitzt es formale, in der zweiten materiale Wahrheit. Auch im Hinblick auf praktische Regeln kann man zwischen formaler und materialer Richtigkeit unterscheiden. Eine praktische Regel ist dann formal richtig, wenn sie mit den Gesetzen, und sie ist material richtig, wenn sie mit den Zwecken des Willens übereinstimmt.115 Bei der Analyse der allgemeinen Form der Maxime ergab sich bereits, daß die Vorstellung des Zwecks zu den Bestimmungsgründen der Regel gehört. Die modale Auszeichnung der praktischen Regel hängt davon ab, ob der Zweck, dessen Verwirklichung durch die Befolgung der Regel möglich wäre, vom einzelnen Subjekt gewollt wird oder nicht. Somit scheint der logische Satz des zureichenden Grundes (oder ein analoger Satz für das praktische Denken) sich auch auf die einzelne Maxime und ihre Folgen (und nicht nur auf das allgemeine Gesetz) anwenden zu lassen. Eine Maxime ist dann richtig, wenn die Folge davon, daß die Willkür eines Subjekts durch sie bestimmt 113

In Analogie zur Wahrheit und Falschheit von theoretischen Urteilen läßt sich im Hinblick auf praktische Regeln von „Richtigkeit" und „Falschheit" sprechen. Cf. z.B. KpV, A 38, wo Kant den Ausdruck „praktisch richtig" in bezug auf Regeln der Art verwendet: „er soll niemals lügenhaft versprechen".

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wird, als Zweck vom Subjekt gewollt wird. Und umgekehrt ist die praktische Regel, nach der sich das Subjekt bestimmt, falsch, wenn sie nicht mit dem Zweck übereinstimmt, der vom Subjekt gewollt wird. Der Maßstab für die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Regel mit dem begehrten Zweck ist der Erfolg. Führt die Annahme und Befolgung einer Regel zur Verwirklichung eines vom Subjekt begehrten Zwecks, so ist sie für dieses Subjekt richtig, scheitert die Verwirklichung dagegen, so ist sie falsch. Bedeutet das aber nicht, daß wir die Richtigkeit des allgemeinen Gesetzes letztlich davon abhängig machen müssen, daß jedes Subjekt, das einen Willen und eine Willkür besitzt, jederzeit einen bestimmten Zweck will, wobei das Wollen dieses Zwecks S so beschaffen sein muß, daß sich daraus für jeden die Richtigkeit (das Fürrichtighalten) einer Maxime ergibt, die sich zugleich aus dem allgemeinen Gesetz als Folge ableiten läßt? Man wäre dann mit dem merkwürdigen Sachverhalt konfrontiert, daß die betreffende Maxime richtig ist, weil sie mit einem Zweck übereinstimmt, der von jedem Willen (und damit von Willen im Sinne des Willens überhaupt) gewollt wird. Nur wenn sich in bezug auf jede Maxime die Kongruenz dieser beiden Begründungsrichtungen erweisen ließe, könnte der kategorische Imperativ als gerechtfertigt gelten.116 Entscheidend ist dafür aber die zweite Begründungsrichtung. Man muß zeigen können, daß jeder Wille in der Tat einen Zweck begehrt, aufgrund dessen er nur solche Maximen für richtig halten kann, die sich auch zum allgemeinen Gesetz qualifizieren. Nur dann kann von der Richtigkeit der Folgen (d.i. der Maximen) auf die Richtigkeit des Prinzips (d.i. des allgemeinen Gesetzes) geschlossen werden. Die Frage ist zunächst, worin dieser Zweck besteht. Nach Kants Auffassung läßt er sich nicht positiv, sondern nur negativ bestimmen, nämlich als Zweck, „dem niemals zuwider gehandelt, der also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muß".117

Kant bezeichnet diesen Zweck auch als Zweck an sich, als objektiven und selbständigen Zweck118 und behauptet, daß der Mensch und jedes vernünftige Wesen als ein solcher Zweck existiere und (daher)

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117 118

Dies geschieht erst in der dritten Formel, der Autonomie-Formel, die sich insofern in der Tat auf das oberste Prinzip der Sittlichkeit bezieht. GMS.BA82. Cf.GA/S,BA65,66u.ö.

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..fiicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern ... in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden"

müsse."9 Wie ist das zu verstehen? Im Gedanken der freien Willkür liegt, wie sich zeigte, zweierlei: zum einen ist die freie Willkür ein Vermögen, bestimmte Handlungen zu begehen und damit der Verwirklichung von Zwecken zu dienen, die das Subjekt (oder auch andere Subjekte) begehren mag. In dieser Hinsicht ist die Willkür Mittel, nämlich der Verwirklichung von Zwecken, seien diese nun eigene oder fremde Zwecke. Zum anderen ist die Willkür ein Vermögen, das nur durch die Vorstellung von praktischen Regeln zum Handeln bestimmt werden kann, die das Subjekt sich selbst gibt und die es für richtig hält, sofern sie mit den Zwecken übereinstimmen, die das Subjekt begehrt. Man könnte nun argumentieren, daß in dem Verhältnis, in dem Wille und Willkür stehen, bereits enthalten ist, daß der Wille jederzeit die eigene Willkür als Mittel für die eigene Bestimmung und damit sich selbst (in der Eigenschaft selbstbestimmend zu sein) als Zweck ansehen muß. Dies schließt ein, daß das Subjekt auch von anderen Subjekten erwartet, daß sie seine Willkür niemals bloß als Mittel, sondern es selbst in seiner Eigenschaft, Wille zu sein, als (obersten) Zweck (als sein eigener Herr) betrachten, dem die eigene Willkür dient. Die Gründe, die das Subjekt hat, von anderen im Verhältnis zu seiner eigenen Willkür zu erwarten, daß sie es als Herrn über diese Willkür betrachten, sind die gleichen Gründe, die jedes andere Subjekt in bezug auf es hat, von ihm zu erwarten, sie in ihrer Eigenschaft, Willkür zu sein, niemals bloß als Mittel zu behandeln. Insofern würde in der Tat in jedem Wollen qua Wollen jederzeit der eigene Wille und der Wille anderer als Zweck, die eigene Willkür und die Willkür anderer aber niemals bloß als Mittel geschätzt werden. Und aufgrund des Wollens dieses Zwecks wiederum wären nur solche Maximen richtig, von denen zugleich gilt, daß sie aus einem allgemeinen Gesetz abgeleitet werden können. Somit ließe sich von der Richtigkeit der Folgen (d.i. der Maximen) auf die Richtigkeit des praktischen Gesetzes selbst schließen. Freilich bezieht sich die zweite Formel des Sittengesetzes lediglich auf die praktische Wirklichkeit derjenigen Regel, die als Prinzip (als allgemeines Gesetz) angenommen wird. Erst die dritte Formel erschließt die praktische Notwendigkeit dieser Regel, indem sie zeigt,

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GMS, BA 64/65. Herv. Kant.

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„daß jedes vernünftige Wesen, als Zweck an sich selbst, sich in Ansehung aller Gesetze, denen es nur immer unterworfen sein mag, zugleich als allgemein gesetzgebend müsse ansehen können, weil eben diese Schicklichkeit seiner Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung es als Zweck an sich selbst auszeichnet...".120

In der dritten Formel wird mithin deutlich, daß sich die materiale Richtigkeit der Maxime (aufgrund der Übereinstimmung mit dem Wollen eines bestimmten Zwecks) und die formale Richtigkeit (aufgrund der Ableitung aus einem allgemeinen Gesetz) wechselseitig bedingen.

3) Die Autonomie-Formel Wenn man sich wiederum am logischen Prinzip orientiert, das der Forderung der qualitativen Allheit in Ansehung der theoretischen Erkenntnisse zugrundeliegt, dann müßte erwartet werden, daß in der dritten Formel des Sittengesetzes das praktische Gesetz im Hinblick auf die Bedingung betrachtet wird, unter der es ein vollständiger, durch nichts eingeschränkter Grund ist. Diese Bedingung scheint eine praktische Regel genau dann zu erfüllen, wenn ihr Gegenteil unmöglich ist. Doch gerade dies, so könnte man einwenden, wird bereits in der ersten Formel des Sittengesetzes in Anspruch genommen und gezeigt. Denn die Pointe der ersten Formel besteht ja darin, daß aus der Unmöglichkeit (bzw. Unrichtigkeit) des praktischen Gesetzes: „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a tunlich" auf die Notwendigkeit (bzw. kontingente Richtigkeit) des praktischen Gesetzes: „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Unterlassung der Handlung a tunlich" geschlossen wurde. Was also fehlt noch zur qualitativen Vollständigkeit der Regel? Bei näherem Zusehen steht die erste Formel des Sittengesetzes unter einer Voraussetzung, die in ihr nicht eigens ausgedrückt wird und deren Berechtigung noch offen ist. Wenn man bei der Prüfung der Gesetzesförmigkeit einer Maxime die folgende konträre Einteilung von zwei allgemeinen Gesetzen zugrundelegt: „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a tunlich oder für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Unterlassung der Handlung a tunlich", dann muß, um von der Unmöglichkeit (Unrichtigkeit) des einen Glieds der Disjunktion auf die Notwendigkeit (kontingente Richtigkeit) des anderen Glieds schließen zu können, die 120

QMS, BA 83. Cf. auch: QMS, BA 76,77.

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Disjunktion vollständig sein. Die Frage nach der Vollständigkeit einer Einteilung aber hat zwei Seiten; sie betrifft zum einen den eingeteilten Begriff und zum anderen die Einteilung selbst. Was zunächst die Einteilung betrifft, so ist sie dann vollständig, wenn sie über kontradiktorisch entgegengesetzte Prädikate erfolgt. Da dies bei den betrachteten praktischen Regeln der Fall ist („entweder die Handlung a oder die Unterlassung der Handlung a ist tunlich"), kann hier im Hinblick auf die Vollständigkeit der Disjunktion kein Vorbehalt angemeldet werden. Dagegen ist ein solcher Vorbehalt sehr wohl in Ansehung des eingeteilten Begriffs angebracht. Die Frage ist, ob dieser Begriff mit dem Subjektbegriff in seiner ganzen Extension zusammenfällt. Daß dies nicht immer der Fall zu sein braucht, kann man sich leicht an einem Beispiel klarmachen, das Kant in der KrV vorträgt. Die Disjunktion: , ,Der Körper duftet gut oder der Körper duftet schlecht"

ist vollständig nur im Hinblick auf einen duftenden Körper, nicht aber im Hinblick auf alle Körper schlechthin (von denen es ja auch nichtduftende gibt).121 Die Einteilung in gutduftende und schlechtduftende Körper steht somit unter einer Bedingung (nämlich daß der Körper überhaupt duftet), die nicht mit der vollständigen Sphäre des Subjektbegriffs „Körper" zusammenfällt. Nur wenn man dies übersieht, kann der Schluß von der Falschheit des einen Glieds der Disjunktion auf die Wahrheit des anderen eine scheinbar unwiderstehliche Überzeugungskraft besitzen, obwohl er falsch ist. Ganz ähnlich läßt sich nun auch die Frage stellen, ob nicht die Disjunktion, von der die erste Formel des Sittengesetzes Gebrauch macht, unter einer Bedingung steht, deren Extension mit der Extension des Subjektbegriffs nicht deckungsgleich ist. In diesem Fall würde aus der Falschheit und Unmöglichkeit des einen Glieds keineswegs die praktische Wahrheit des anderen Glieds folgen. Um diese Frage beantworten zu können, muß man jedoch zunächst genauer bestimmen, worin der Subjektbegriff der praktischen Regel besteht. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man zu dem Schluß kommen, daß der Subjektbegriffeiner praktischen Regel der Begriff der freien Willkür ist. Denn in einer praktischen Regel wird generell die Willkür von Subjekten im Hinblick darauf bestimmt, ob gewisse Handlungen für sie tunlich sind. Nun hatje-

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Cf. KrV, B S31. Zu der Thematik und insbesondere zur Unterscheidung zwischen dialektischer und analytischer Opposition, die Kant im Anschluß daran trifft: Wolff (1981), 41-61.

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doch unsere Analyse der praktischen Regel auch ergeben, daß die Willkür eines Subjekts nur dann durch die Vorstellung einer praktischen Regel bestimmt werden kann, wenn sie sich diese Regel selbst gibt. Und es war eigentlich dieses Vermögen, das als Wille identifiziert werden konnte. Damit ist strenggenommen die Bedingung, unter der sich eine praktische Regel an die Willkür von Subjekten richten kann, die, daß sie einen Willen besitzen. Die Frage, ob die Disjunktion in zwei allgemeine Gesetze vollständig ist oder nicht, ist demnach mit der Frage gleichbedeutend, ob die allgemeinen Gesetze für den Willen schlechthin (= Willen überhaupt) oder nur für einen besonderen Willen und somit unter einer bestimmten Bedingung gelten.122 In diese Richtung zielt auch Kants Argumentation in der GMS.m Kant stellt zwar fest, daß auch die anderen Formeln des kategorischen Imperativs „von ihrem gebietenden Ansehen alle Beimischung irgend eines Interesse, als Triebfeder," ausschließen, weil sie als kategorische und nicht als hypothetische Imperative vorgestellt werden. Aber dieser Ausschluß wird ihm zufolge durch keine Bestimmung in der Formel selbst zum Ausdruck gebracht („angedeutet"). In der Autonomie-Formel wird dies nachgeholt. Nach dem Prinzip der Autonomie werden „alle Maximen ... verworfen, die mit der eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens nicht zusammen bestehen können. Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß."124

Die „Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens" bezieht sich auf die Beschaffenheit des Willens als eines solchen und legt somit die Extension des Subjektbegriffs des allgemeinen praktischen Gesetzes vollständig fest. Und genau auf diese Idee und nicht auf den Begriff eines durch besondere Interessen ausgezeichneten Willens bezieht sich denn auch die Disjunktion, von der in der ersten Formel des Sittengesetzes (stillschweigend) Gebrauch gemacht wird. So jedenfalls begründet Kant die Einführung der Idee des autonomen Willens in der dritten Formel des Sittengesetzes: ,,Denn wenn wir einen solchen denken, so kann, obgleich ein Wille, der unter Gesetzen steht, noch vermittelst eines Interesse an dieses Gesetz gebunden sein mag, dennoch ein Wille, der selbst zu oberst gesetzgebend ist, unmöglich so fern von ir112 123 124

Cf. dazu:A>K,A37. Cf. GA/5,BA 70/71. QMS, BA 70/71. Herv. Kant.

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gend einem Interesse abhängen; denn ein solcher abhängender Wille würde selbst noch eines ändern Gesetzes bedürfen, welches das Interesse seiner Selbstliebe auf die Bedingung einer Gültigkeit zum allgemeinen Gesetz einschränkte."125

Die Idee eines reinen Willens erweist sich insofern mit der Idee eines autonomen Willens identisch. cc) Die Idee des autonomen Willens Das oberste Prinzip der praktischen Vernunft muß die Bedingung erfüllen, schlechterdings und an sich selbst ein praktisches Prinzip zu sein. Es muß mithin nicht nur formal, sondern auch material richtig sein und mit dem ganzen Objekt der reinen praktischen Vernunft notwendig übereinstimmen. Auch dies muß sich auf formale Weise darstellen lassen. Bei der Analyse des Begriffs des Willens wurde von der Maxime als der für die Selbstbestimmung des Willens maßgeblichen Regel ausgegangen. Sobald man jedoch die Idee eines reinen Willens bildet, muß man die Maximen, die sich ein solcher Wille gibt, als Folgen betrachten, die aus einem allgemeinen praktischen Gesetz abgeleitet werden können. Insofern gilt für den reinen Willen die Formel: aus einem Grund R will ich den Zweck S und daher gilt: (PRj*N*) „für meine freie Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendig tunlich",

wobei zusätzlich die beiden Bedingungen erfüllt sein müssen, daß (1) die praktische Regel (PRj*N*) „für meine freie Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendig tunlich"

sich aus dem praktischen Gesetz: (PR3*N*) „für die freie Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendig tunlich"

als Folge ableiten läßt, und (2) der Zweck S ein Zweck an sich (oder objektiver Zweck) ist. Aber auch dem praktischen Gesetz muß sich ein (vollständiger) Bestimmungsgrund zuordnen lassen, zu dem ebenfalls ein Wille gehören muß. Wenn man konsequent die bisherige Analyse der Formel einer praktischen Regel GA/S,BA72.

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fortfuhrt, erhält man auf diese Weise als vollständige Beschreibung eines allgemeinen praktischen Gesetzes und seines Bestimmungsgrundes: aus einem GRUND R WILL ich den ZWECK S und daher gilt: (PGj) „für die freie Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendig tunlich".

Die Frage, die sich im Anschluß an diese Formel stellt, lautet, wie der vollständige Bestimmungsgrund von (PG]> zu interpretieren ist und wie er sich zum vollständigen Bestimmungsgrund von (PRj*N*) verhält. Zunächst läßt sich feststellen, daß der Wille „ich WILL" in (PG,) ein Wille ist und als letzter gesetzgebender Grund absolute Einheit besitzen muß. Man kann ihn als obersten gesetzgebenden (göttlichen) Willen (oder als die VERNUNFT) auffassen. Der ZWECK S hingegen ist derjenige Zweck, der vom obersten gesetzgebenden (göttlichen) Willen gewollt wird und der auch zustandekäme, wenn das Gesetz ausnahmslos befolgt würde. Wie aber kann der eine Wille „ich WILL" die Willkür (aller Subjekte) bestimmen? Offenbar nicht anders als dadurch, daß der Wille jedes Subjekts einen Grund hat, nur solche Maximen für richtig zu halten, die sich aus dem praktischen Gesetz ableiten lassen. Damit taucht der reine (menschliche) Wille, der in (PP^N*) enthalten ist, als Bestandteil des ZWECKS S auf, den der gesetzgebende (göttliche) Wille „ich WILL" als sein Objekt will. Als Teil des ZWECKS S und damit als Objekt des gesetzgebenden (göttlichen) Willens ist der reine (menschliche) Wille Zweck an sich. Er qualifiziert sich dazu, indem er sich selbst nach Maximen bestimmt, die aus dem allgemeinen praktischen Gesetz abgeleitet werden können, d.i. indem er sich selbst in die Position des gesetzgebenden Willens versetzt und damit zugleich sich selbst, aber auch den Willen aller anderen Subjekte als Zweck seines Wollens betrachtet. Bezieht man alle subjektiven Zwecke, die der reine (menschliche) Wille nur immer haben kann, mit ein und sondert all diejenigen aus, die sich nicht dem Zweck an sich subordinieren lassen, dann erhält man das höchste Gut. Näher betrachtet läßt sich der ZWECK S also auf zweifache Weise interpretieren. Man kann ihn entweder als ein Reich der Zwecke auffassen, in dem jedes vernünftige Wesen als gesetzgebendes Glied vertreten ist, oder als das höchste Gut, bei dem auch alle mit den sittlichen Zwecken zu vereinbarenden subjektiven Zwecke mit aufgenommen sind und das insofern eine genauere Bestimmung des Reichs der Zwecke ist. Damit stößt man bei der formalen Analyse des allgemeinen Gesetzes auf eine eigentümlich verschachtelte Struktur. Der ZWECK S, der Gegenstand des

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Willens „ich WILL" ist, enthält die Willen aller einzelnen Subjekte, die selbst wiederum auf den ZWECK S bezogen sein müssen, wenn sie nach Maximen handeln wollen, die allgemeines Gesetz sein können. Darin liegt zweierlei: (1) der oberste gesetzgebende Wille „ich WILL" hat den Willen aller einzelnen Subjekte zum Gegenstand, und (2) der Wille jedes einzelnen Subjekts ist ein Teil des ZWECKS S und damit selbst Zweck. Als Zweck an sich erweist er sich dabei in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist er Zweck an sich, weil er Zweck eines göttlichen (gesetzgebenden) Willens ist; in dieser Hinsicht besteht seine Ideologische Bestimmtheit: er ist Zweck). Zum anderen ist er Zweck an sich, weil er selbst gesetzgebender Wille in einem Reich der Zwecke ist; in dieser Hinsicht besteht seine teleologische Bestimmung: er muß sich auf eine bestimmte Weise zu einem Zweck an sich qualifizieren.1116 Soll der Wille jedes einzelnen Subjekts tatsächlich Teil des ZWECKS S sein, muß jedoch eine bestimmte Bedingung erfüllt sein, nämlich die Bedingung, daß der Wille sich selbst und alle anderen Willen als Zwecke an sich wollen und alle seine Zwecke diesem höchsten Zweck unterordnen muß.

c) Selbstbestimmung und Autonomie Es läßt sich nun deutlicher zeigen, inwiefern die Idee des reinen Willens die Vorstellung von einem Maximum einschließt und dieses Maximum zugleich eines der Selbstbestimmung ist. Die Vorstellung eines Maximums liegt insofern in der Idee des reinen Willens, als dieser Wille auf alle Folgen bezogen ist und diese aus einem Prinzip abgeleitet werden können (das er selbst ist als autonomer Wille). In der Tat sind ja bereits mit dem Begriff des praktischen Gesetzes unmittelbar Maximalbestimmungen verbunden. Das Gesetz bezieht sich als Gesetz auf die Willkür ausnahmslos aller Subjekte, die durch die Vorstellung von praktischen Regeln bestimmt werden können. Somit wird ein Maximum im Hinblick darauf gedacht, was durch das praktische Gesetz (und indirekt durch den Bestimmungsgrund des Gesetzes, d.i. den reinen Willen) bestimmt werden 126

Er qualifiziert sich zum Zweck an sich, indem er aus Achtung fürs Gesetz die Tugend als obersten Zweck will und sich der unendlichen Stärke dieses Wollens bewußt ist Siehe dazu das III. Kapitel.

126

Die Idee des autonomen Willens

kann. Außerdem müssen sich alle praktischen Regeln, die sich ein Wille selbst gibt, sofern er ein reiner Wille ist, auch zu allgemeinen praktischen Gesetzen eignen. Insofern wird also auch ein Maximum im Hinblick auf die praktischen Regeln und damit im Hinblick auf alle möglichen Bestimmungen der freien Willkür gedacht. Solange man jedoch nicht weiß, wie sich das Maximum genau bestimmen läßt, ist diese Auskunft noch nicht besonders zufriedenstellend. Wenn man nun allerdings berücksichtigt, daß das Gesetz sich auf die Folgen der Willensbestimmung (nämlich deren Allheit) bezieht, dann ist leicht zu erkennen, daß eine Einschränkung des Grundseins eine Einschränkung des Gesetzes nach sich ziehen muß. Formal betrachtet stellt sich die Einschränkung der Idee des reinen Willens in far Ausnahme vom Gesetz dar. Lautet das praktische Gesetz allgemein: (PR3*N*) „für die Willkür (ausnahmslos) aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendig tunlich"

dann läßt sich sagen, daß derjenige, der eine Ausnahme vom Gesetz beansprucht, sich die praktische Regel (PRj*W*)* „für meine Willkür ist nicht bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich (d.i. bei einigen Gelegenheiten ist möglicherweise die Unterlassung der Handlung a tunlich)"

gibt. Da aus (PR3*N*) die Regel (PR^W*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich"

folgt, ergibt sich ein Widerspruch zwischen (PR3*N*) und (PRj*W*)*. Dieser Widerspruch hat für Kant die Bedeutung eines praktischen Widerspruchs und betrifft das Verhältnis der Bestimmungsgründe beider Regeln. Die Frage der Ausnahme ist also die Frage, wie und warum das kontradiktorische Gegenteil des allgemeinen praktischen Gesetzes für richtig gehalten werden kann. Das kontradiktorische Gegenteil des allgemeinen praktischen Gesetzes ist eine praktische Regel, die die Untunlichkeit einer Handlung für die Willkür einiger Subjekte (nur bei einigen Gelegenheiten) vorstellt. Dadurch wird das in der Allheit der Willenssubjekte und der Gelegenheiten bestehende Maximum, auf das sich das Gesetz bezieht, auf eine unbestimmte Größe eingeschränkt. Klarerweise kann in diesem Fall die Idee eines reinen Willens nicht der Bestimmungsgrund sein, von dem die modale Auszeichnung der (besonderen) praktischen Regel abhängt.

Die Idee des reinen Willens

127

Genauer müßte man also das Gesetz als realen Bestimmungsgrund der Willkür aller Subjekte betrachten und der praktischen Regel eine intensive Größe zuschreiben, die ihr Maximum erreicht, wenn die praktische Regel als allgemeines praktisches Gesetz gedacht wird. In einer Reflexion hat Kant den Begriff der intensiven Größe tatsächlich auf das Gesetz angewandt. Zum § 182 von Baumgartens Metaphysica bemerkt er: „Die Intensive Größe der Gesetze beruht auf der nothwendigkeit, d.i. dem Mangel der ausnahmen. Nulla regula sine exceptione, sed lex est absque exceptione."127

Regel und Gesetz unterscheiden sich also dadurch, daß die Regel Ausnahmen zuläßt, das Gesetz nicht. Dennoch kommt es zu Ausnahmen im Hinblick auf das praktische Gesetz. Damit besteht der Verdacht, daß das Sittengesetz und mit ihm die Idee eines reinen (autonomen) Willens, wie Kant sich ausdrückt, nur eine „chimärische Idee" ist und für sich keine Realität besitzt. Um diesen Verdacht auszuräumen, muß man zeigen, wie es zu Ausnahmen im Hinblick auf das praktische Gesetz kommen und die Idee eines reinen Willens gleichwohl Realität beanspruchen kann. Dies soll im folgenden Teil geschehen. Die These dieses Teils lautet, daß der reine (autonome) Wille im Fall des menschlichen Willens ein autokratischer Wille ist und dadurch Realität besitzt.

127

Cf. R 3571 (1776-89).

III. Die Autokratie der praktischen Vernunft 1. Die Theorie der Abweichung A. Der reine, der heilige und der menschliche Wille Kant weist verschiedentlich darauf hin, daß zwischen den Gesetzen des reinen Willens und den Gesetzen des reinen Verstandes, zwischen der reinen Moral und der reinen Logik eine gewisse Analogie besteht. Ich möchte mich im folgenden mit dieser Analogie beschäftigen, weil sie Aufschluß darüber verspricht, wie sich Kant die philosophisch-systematische Behandlung von defizienten und privativen Formen des Wollens gedacht haben könnte. In der KrV teilt Kant die allgemeine Logik in die reine und in die angewandte Logik ein, wobei er die differentia specifica beider Disziplinen auf folgende Weise angibt: ,Jn der ersteren abstrahieren wir von allen empirischen Bedingungen, unter denen unser Verstand ausgeübet wird, z.B. vom Einfluß der Sinne, vom Spiele der Einbildung, den Gesetzen des Gedächtnisses, der Macht der Gewohnheit, der Neigung etc., mithin auch den Quellen der Vorurteile, ja gar überhaupt von allen Ursachen, daraus gewisse Erkenntnisse entspringen, oder untergeschoben werden mögen, weil sie bloß den Verstand unter gewissen Umständen seiner Anwendung betreffen, und, um diese zu kennen, Erfahrung erfordert wird."1

Die angewandte Logik enthält dagegen „wider die gemeine Bedeutung dieses Worts" nicht Übungen zu Regeln, die in der reinen Logik vorgetragen werden, sie ist keine praktische Logik, sondern „eine Vorstellung des Verstandes und der Regeln seines notwendigen Gebrauchs in concrete, nämlich unter den zufälligen Bedingungen des Subjekts, die diesen Gebrauch hindern oder befördern können, und die insgesamt nur empirisch gegeben werden."2

KrV, B 78/79.

Die Theorie der Abweichung

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Man kann auch sagen, daß die angewandte Logik den Verstand subjektiv betrachtet, d.h. unter den empirischen Bedingungen seiner Wirklichkeit, und damit als ein Phänomen. Nicht zufällig spricht Kant davon, daß die angewandte Logik die „Ursachen" zu untersuchen habe, daraus gewisse Erkenntnisse entspringen oder untergeschoben werden, und daß dazu der Rückgang auf Erfahrung erforderlich ist. Gerade weil die angewandte Logik den Verstand nur als Phänomen zum Gegenstand hat, läßt sich die Frage stellen, ob sie überhaupt noch zur Logik gehört. Kant bemerkt denn auch gelegentlich: „Die angewandte Logik sollte eigentlich nicht Logik heißen. Es ist eine Psychologie, in welcher wir betrachten, wie es bei unserm Denken zuzugehen pflegt, nicht, wie es zugehen soll."3

Im Unterschied zur angewandten Logik betrachtet die reine Logik den Verstand lediglich objektiv, sie abstrahiert somit von allen Bedingungen, unter denen der Verstand als Verstand dieses oder jenes Menschen psychologische Realität besitzt. Die reine Logik beschäftigt sich bloß mit der Idee eines reinen Verstandes und seinen Gesetzen. Insofern liegt es nahe, die reine Moral und die reine Logik miteinander zu vergleichen und als analoge Disziplinen einzustufen, denn auch die reine Moral sieht von allen Bedingungen ab, die den Willen subjektiv einschränken könnten. Wie bei der Idee eines reinen Verstandes handelt es sich bei der Idee eines reinen Willens um eine Abstraktion. In beiden Fällen bleiben die Bedingungen unberücksichtigt, unter denen ein solcher Verstand und ein solcher Wille ihre Tätigkeiten ausüben. Ebenso wie die Idee des reinen Verstandes erlaubt daher auch die Idee des reinen Willens nur eine objektive Beurteilung: Sie dient als Maßstab, um die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Willenshandlung mit dem festzustellen, was das Gesetz als Norm fordert. In der Idee eines reinen Willens wird ein objektiv vollkommener Wille gedacht, in der Idee eines reinen Verstandes ein objektiv vollkommener Verstand. Wenn man dagegen die Idee des reinen Verstandes oder die Idee des reinen Willens subjektiv betrachtet, dann muß man in diese 3

Jäsche-Logik, A 14. In der Wiener Logik heißt es anläßlich der Behandlung des Vorurteils: „Vorurtheile sind eigentlich gar nicht für die Logic. Denn sie hat mit den objectiven Gründen des Verstandes, und nicht mit den subjectiven Ursachen deßelben zu thun. Die subjectiven Ursachen sind Erklärungen der wirklichen Erscheinungen, wie es doch zugeht, daß Menschen sich das eine so, das andere so nach ihrem Verstande bilden. Es gehört also eigentlich für die anthropologie. Die Logic betrachtet nur die objectiven allgemeinen Grunde der Vernunft, ohne zu sehen, ob der Verstand corrumpirt sey, oder nicht. Vorurtheil ist eine bloße Gegebenheit Alle explication der Gegebenheit gehört zur psychologie. Man kann es aber doch hier mit nehmen, weil es möglich seyn kann, im Gebrauch der logischen Unterweisung, und man muß Acht haben auf die Ursachen, die uns ableiten können vom rechten Gebrauch derselben." (AA 24.2,879). Cf. auch: Logik Pölitz, AA 24.2, 507; Logik Busolt, AA 24.2,611; Logik Blomberg, AA 24,25.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

Betrachtung die Bedingungen mit einbeziehen, unter denen der Verstand und der Wille ihre Tätigkeit ausüben und Realität besitzen. In diesem Fall genügt es nicht, die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Verstandesoder Willenshandlung mit den Gesetzen eines reinen Verstandes, respektive Willens zu konstatieren, sondern es muß auch deutlich werden, aus welchen Gründen es zu dieser Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung kommt. Nun lassen sich die Bedingungen, unter denen die einzelne Bestimmung eines einzelnen Gegenstandes Wirklichkeit besitzt, allgemein mit den vollständigen Bestimmungen identifizieren, die den Gegenstand auszeichnen, wobei diese Bestimmungen nach der KrV nur erkannt werden können, wenn sie in einer möglichen Erfahrung gegeben sind.4 Daraus folgt, daß man den Verstand und den Willen, wenn man sie subjektiv betrachtet (also unter den Bedingungen, unter denen ihnen Realität zukommt), jederzeit als vollständig bestimmte Phänomene ansehen muß.5 Da man sich in der Idee eines reinen Verstandes bzw. eines reinen Willens bereits das jeweilige Vermögen in seinem Maximum und insofern in seiner objektiven Vollkommenheit denkt, kann der Einfluß, den andere Bestimmungen auf das Vermögen besitzen, wenn überhaupt nur von einschränkender Art sein. Es lassen sich daher bei einer subjektiven Betrachtung des Verstandes bzw. des Willens prinzipiell zwei Fälle unterscheiden, je nachdem, ob die Bedingungen, die einen einschränkenden Einfluß auf das reine Verstandes- bzw. Begehrungsvermögen haben, erfüllt sind oder nicht. In dem einen Fall ist das in der Idee gedachte Vermögen objektiv vollkommen, aber subjektiv unvollkommen, in dem anderen Fall ist es sowohl objektiv wie subjektiv vollkommen. In beiden Fällen hat man es nicht mehr bloß mit der Idee eines reinen Verstandes oder eines reinen Willens zu tun. Vielmehr handelt es sich, was den Willen betrifft, im einen Fall um einen menschlichen Willen, im anderen Fall um einen heiligen Willen. Was also im Fall des menschlichen und des heiligen Willens (und entsprechend im Fall des menschlichen und des göttlichen Verstandes) jeweils als bestimmt gedacht wird, nämlich die subjektive Vollkommenheit bzw. Unvollkommenheit, bleibt in der Idee des „reinen Willens" unbestimmt.6

4

Cf. KrV, B 609/610. Allerdings bedarf dies der Einschränkung, daß dabei nicht alle Oberhaupt möglichen, sondern nur solche Bestimmungen relevant sind, die auf die Ausübung des Vermögens einen Einfluß haben können. ' Die Idee des „reinen Willens" ist insofern im Verhältnis zur Idee des „heiligen Willens" wie im Verhältnis zum Begriff des „menschlichen Willens" der allgemeinere Begriff.

s

Die Theorie der Abweichung

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Kant spricht zwar ab und zu etwas ungenau auch von der Idee eines heiligen Willens. Weitaus genauer sind jedoch Äußerungen, in denen er die Heiligkeit (und indirekt damit auch den heiligen Willen) ein Ideal nennt.7 Der KrV zufolge ist ein Ideal die Idee eines einzelnen Dings, das durch die Idee allein vollständig bestimmbar ist.8 Da auch das Ideal eine Idee ist, nämlich die eines einzelnen Dings, steht zunächst außer Frage, daß Kant keinen Widerspruch begeht, wenn er den heiligen Willen mal als Idee und mal als Ideal bezeichnet. Darüber hinaus aber ist ein Ideal die Idee eines Dings, das durch die Idee vollständig bestimmt werden kann. Dem entspricht der Unterschied zwischen der Idee eines reinen Willens und der Idee eines heiligen Willens: Während die Idee eines reinen Willens sich auf einen objektiv vollkommenen Willen bezieht, wobei unbestimmt bleibt, ob er subjektiv vollkommen oder unvollkommen ist, d.h. ob sich unter den vollständigen Bedingungen, unter denen er gegeben ist, auch solche einschränkender Art befinden oder nicht, bezieht sich die Idee eines heiligen Willens auf einen Willen, der sowohl objektiv wie subjektiv vollkommen ist, bei dem also a priori feststeht, daß sich unter den vollständigen Bedingungen seines Gegebenseins keine einschränkende Bestimmung befinden kann. Insofern erfolgt die Bestimmung des Willens, der subjektiv vollkommen ist, allein durch die Idee des reinen Willens selbst, womit die an ein Ideal geknüpfte Forderung erfüllt ist. Denn der subjektiv vollkommene Wille ist allein dadurch charakterisiert, daß er keine Bestimmungen aufweist, durch die die Bestimmung, welche in der Idee des reinen Willens gedacht wird, eingeschränkt werden könnte. Angesichts dieser begrifflichen Verhältnisse ist klar, daß die Möglichkeit einer Abweichung des Willens von den Gesetzen eines reinen Willens nur dann erwogen werden kann, wenn man von einer objektiven Betrachtung des Willens zu einer subjektiven übergehen und den Willen als einen zwar objektiv vollkommenen (und insofern reinen), zugleich aber subjektiv unvollkommenen ansieht. Welche Form aber muß eine solche subjektive Betrachtung eines objektiv vollkommenen Willens im Fall des menschlichen Willens annehmen? Wenn man sich an der Analogie orientiert, von der Kant in der KrV behauptet, sie bestehe zwischen Logik und Moral, dann scheint die subjektive Betrachtung des Willens Aufgabe der angewandten Moral oder „eigentlichen" Tugendlehre zu sein. Denn zur angewandten Logik, schreibt Kant, 7

*

Cf.z.B.:Äe/.,B74. Cf.KrV,BS96.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

„verhält sich die allgemeine und reine Logik wie die reine Moral, welche bloß die notwendigen sittlichen Gesetze eines freien Willens Überhaupt enthält, zu der eigentlichen Tugendlehre, welche diese Gesetze unter den Hindernissen der Gefühle, Neigungen und Leidenschaften, denen die Menschen mehr oder weniger unterworfen sind, erwägt".9

Doch weist Kant zugleich daraufhin, daß diese „eigentliche" Tugendlehre „niemals eine wahre und demonstrierte Wissenschaft abgeben kann, weil sie eben sowohl als jene angewandte Logik empirische und psychologische Prinzipien bedarf'.10

Mit der Tugendlehre, die Kant auf diese Weise als das Gegenstück zur angewandten Logik entwirft, scheint auf den ersten Blick die praktische Anthropologie gemeint zu sein, die sich nach der QMS von der Metaphysik der Sitten gerade dadurch unterscheidet, daß sie auf empirischen Prinzipien beruht und lediglich beschreibt, nach welchen Regeln Menschen wirklich handeln.11 Nun setzt allerdings auch die Vorstellung von einem kategorischen Imperativ bereits voraus, daß man den reinen Willen unter subjektiven - hinderlichen oder förderlichen - Bedingungen seines Gebrauchs betrachtet. Und nicht nur die Vorstellung von einem kategorischen Imperativ. Nach der QMS sind Imperative generell „Formeln, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z.B. des menschlichen Willens, auszudrücken."12

Und in der Einleitung zur KrV erinnert Kant daran, daß die „obersten Grundsätze der Moralität", obwohl sie Erkenntnisse a priori sind, nicht zur Transzendental-Philosophie gehören, „weil sie die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen etc., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, zwar selbst nicht zum Grunde ihrer Vorschrift legen, aber doch im Begriffe der Pflicht, als Hindernis, das überwunden,

9 10 11

12

Ä>K,B79. KrY,B79. Cf. GMS, BA VII und die Einleitung zur MS/RL, wo Kant bemerkt, daß das „Gegenstück einer Metaphysik der Sitten" die „moralische Anthropologie" sein würde, „welche, aber nur die subjektive, hindernde sowohl, als begünstigende, Bedingungen der Ausführung der Gesetze der ersteren in der menschlichen Natur, die Erzeugung, Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze (...) und dergleichen andere sich auf Erfahrung gründende Lehren und Vorschriften enthalten würde" (AB 11). Zum umstrittenen Thema des Verhältnisses von reiner Moralphilosophie und Anthropologie: Pieper (1978), Firla (1981), Forschner (1983). GMS, BA39.

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133

oder als Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrund gemacht werden soll, notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen".13

Bliebe die Analogie von reiner und angewandter Logik auf der einen, von reiner und angewandter Moral auf der anderen Seite Kants letztes Wort zur Sache, hätte dies zur Konsequenz, daß der Begriff der Pflicht und damit der kategorische Imperativ wie auch das Gefühl der Achtung fürs Gesetz, die Sinn und Bedeutung nur im Hinblick auf einen subjektiv unvollkommenen Willen besitzen können, dem Gegenstandsbereich der angewandten Moral und damit der praktischen Anthropologie zugeordnet werden müßten - und diese Schlußfolgerung möchte man sich angesichts der Tatsache, daß für Kant der Begriff der Pflicht der Zentralbegriff einer von der praktischen Anthropologie unterschiedenen Metaphysik der Sitten ist, nicht zueigen machen. Die KrV bietet jedoch noch einen zweiten Ansatzpunkt für einen Vergleich von Logik und Moralphilosophie. Denn das Problem, wie der Verstand von seinen eigenen Gesetzen abweichen kann und ein Irrtum möglich ist, wird in der KrV nicht nur mit dem Hinweis auf die angewandte Logik abgefertigt, die „von der Aufmerksamkeit, deren Hindernis und Folgen, dem Ursprünge des Irrtums, dem Zustande des Zweifels, des Skrupels, der Überzeugung u.s.w."14 handelt und eine empirische Wissenschaft darstellt, sondern es wird auch in einem zentralen Teil der KrV selbst zum Thema, nämlich in der Einleitung zur Transzendentalen Dialektik. Verwirrend daran ist freilich, daß sich auf der Grundlage von Kants Ausführungen gerade im Hinblick auf die Beschäftigung mit dem Irrtum zwischen der angewandten Logik und der transzendentalen Dialektik auf den ersten Blick kein Trennungsstrich ziehen läßt. Denn betrachtet man, wie Kant im Einleitungsteil der Transzendentalen Dialektik die Möglichkeit des Irrtums und seine Entstehung erklärt, so entdeckt man eine erstaunliche Übereinstimmung mit den einschlägigen Passagen in der JäscheLogik, in den Logik-Vorlesungen sowie mit Reflexionen aus dem Logik-Handbuch, die alle in den thematischen Umkreis dessen zu gehören scheinen, was nach Kants eigener Aussage Inhalt der angewandten Logik ist. Unter der Dialektik versteht Kant denjenigen Teil der allgemeinen Logik, der die Logik nicht wie die Analytik als einen „Kanon zur Beurteilung", sondern „gleichsam wie ein Organen zur wirklichen Hervorbringung wenigstens 13

M

KrV, B 28/29. Daß Kant gleichwohl gelegentlich von transzendentalphilosophischen Überlegungen im Bereich der reinen Moral spricht, daß also keineswegs auf die Eindeutigkeit der Stelle, was den Ausschluß der „obersten Grundsätze der Moralität" aus der Transzendentalphilosophie betrifft, Verlaß ist, glaubt Bärthlein (1976) nachweisen zu können (389). Ä>K,B79.

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zum Blendwerk von objektiven Behauptungen" gebraucht.15 Die Dialektik benutzt die Logik als ein Instrument zur scheinbaren Ausbreitung und Erweiterung unserer Kenntnisse. Damit überschreitet sie die Grenzen der allgemeinen Logik, weil diese von allem Inhalt der Erkenntnis, d.i. von aller Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände abstrahiert. Die allgemeine Logik kann bloß das „logische Kriterium der Wahrheit, nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft..., mithin die negative Bedingimg aller Wahrheit" angeben: „weiter aber kann die Logik nicht gehen, und den Irrtum, der nicht die Form, sondern den Inhalt trifft, kann die Logik durch keinen Probierstein entdecken".16 Die Dialektik dagegen beansprucht, mit Hilfe der Logik Erkenntnisse hervorzubringen, die „materielle (objektive) Wahrheit" besitzen.17 Das bringt sie in einen ausdrücklichen Gegensatz zur Logik, die nur einen negativen Prüfstein der Wahrheit, nicht aber ein allgemeines Kriterium zur Prüfung der Wahrheit dem Inhalt der Erkenntnis nach zur Verfügung stellen kann.18 Als vermeintes Organon ist die Dialektik insofern kein wirklicher Teil der Logik. Sie erhält jedoch bei Kant eine andere Aufgabe, bei der sie zwar keine Logik der Wahrheit ist, aber als eine Logik des Scheins, die die Möglichkeit des Irrtums erklärt, gleichwohl einen wesentlichen Beitrag zur Bestimmung der Wahrheit leistet. Die Logik besitzt auch in der kritisch revidierten Form, die Kant ihr gibt, zwei Teile: die Analytik, die die formalen Kriterien der Wahrheit angibt, und die Dialektik, die die Merkmale und Regeln enthält, „wonach wir erkennen könnten, daß etwas mit den formalen Kriterien der Wahrheit nicht übereinstimmt, ob es gleich mit denselben übereinzustimmen scheint".19

Insofern trägt die ausdrückliche Versicherung, daß die angewandte Logik „weder ein Kanon des Verstandes überhaupt, noch ein Organon besondrer Wissenschaften, sondern lediglich ein Kathartikon des gemeinen Verstandes" sei, nichts zur Abgrenzung von angewandter Logik und Dialektik bei.20 Denn die Dialektik, die nicht der Erzeugung von Schein und Irrtum, sondern ihrer Aufdeckung dient, ist, wie sich herausstellt, kein Organon. Da die Dialektik 15 14 17

18 19 20

KrV, B 85. Zu den Begriffen Organon und Kanon: Carboncini/Finster (1982). KrV, B 84. KrV, B 85. Cf.A>K,B84. Jäsche-Logik, A 12 (eine Konjektur der AA wurde übernommen). Cf. auch: Logik Pölitz, AA 24.2, 507. Cf. KrV, B 77/78 (eine Konjektur der AA wurde übernommen). Auch die Dialektik bezeichnet Kant im übrigen als ein „Katharktikon des Verstandes" (cf. Jäsche-Logik, A 12).

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(und insbesondere die transzendentale Dialektik) auch keine empirische Wissenschaft ist, verbietet es sich von selbst, sie zur angewandten Logik zu rechnen. Es stellt sich daher die Frage, wie sich beide Disziplinen, die (transzendentale) Dialektik und die angewandte Logik, die sich beide mit dem Irrtum, also mit der möglichen Abweichung des Verstandes von seinen eigenen Gesetzen beschäftigen, voneinander unterscheiden lassen. Tatsächlich offeriert Kant eine Möglichkeit, zwischen reiner und angewandter Logik auf der einen, angewandter Logik und Dialektik auf der anderen Seite zu unterscheiden. In seinen Logik-Vorlesungen betont er, daß der Ursprung des Irrtums im Schein (der Wahrheit) besteht und daß die Thematisierung und Behandlung des Scheins nicht zur Logik, sondern TUT Metaphysik gehört. So heißt es in der Logik Pölitz: „Die Logiker haben sich nun beschäftigt die Frage von der Gewisheit der Sinne zu entscheiden. Hier ist nicht die Frage ob in dem Gegenstand den sie uns vorstellen etwas wahres sei, sondern ob sie Objecte haben, oder ob sie uns nur durch Schein hintergehen, denen kein Gegenstand korrespondirt. Diese Frage gehört nicht in die Logik, weil sie sich nicht mit Objecten beschäftigt, sondern in die Metaphysik, wo vom Schein geredt wird. Aber aus der Logik können wir doch schon einsehen, daß weder Falschheit noch Wahrheit in den Sinnen liege, weil sie gar nicht urteilen."21

Der Schein gehört demnach in die Metaphysik, weil sich die Metaphysik, nicht aber die Logik „mit Objecten beschäftigt", und also auch nur die Metaphysik eine Differenz zwischen Schein (der Wahrheit) und Wahrheit (im Sinne der Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Objekt) angeben kann. Indem die Metaphysik in ihrem dialektischen Teil auf allgemeine Weise den (materiellen) Schein behandelt, der die Entstehung von Irrtum erst ermöglicht, bildet sie in gewisser Weise eine Vorstufe zur angewandten Logik (als einer empirischen Wissenschaft). Entsprechend darf erwartet werden, daß auch in der Moralphilosophie ein dialektischer Teil der angewandten Moral als einer empirischen Wissenschaft (d.h. der eigentlichen Tugendlehre bzw. praktischen Anthropologie) vorausgehen muß und deren metaphysische Anfangsgründe bildet. Diesem dialektischen Teil kommt die Aufgabe zu, allgemein die Gründe darzustellen, aus denen ein Abweichen des Willens von den Gesetzen des reinen Willens Zustandekommen kann. Er würde zur Metaphysik gehören, wenn er diese Gründe nicht in bestimmten, bloß empirisch zu erkennenden Hindernissen der Befol21

Logik Pölitz, AA 24.2, 543. Cf. auch: Wiener Logik, AA 24.2, 856: „... diese Frage gehöret nicht in die Logic, sondern in die Metaphysic, wo von dem Ursprünge des Scheines und der Wahrhaftigkeit aus dem Sinn geredt wird."

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gung moralischer Regeln fände, sondern in einem die Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen der Willensbestimmung ermöglichenden Schein, der sich a priori thematisieren lassen müßte. Zugleich kann man sagen, daß die reine Moral erst dann zur Metaphysik wird, wenn sie sich mit den Bedingungen beschäftigt, unter denen der in der Idee gedachte reine Wille Realität besitzt.

B. Irrtum und Laster Wenn man sich verständlich machen will, wie eine Abweichung des reinen Willens von seinen eigenen Gesetzen möglich ist, dann muß man den Willen subjektiv betrachten, also unter den Bedingungen, unter denen ihm Realität zukommt. Vorbild für eine solche subjektive Betrachtung des Willens ist die Transzendentale Dialektik der KrV und insbesondere die darin entwickelte Lehre vom Irrtum.22 Der Kerngehalt von Kants Irrtumslehre, sofern sie Bestandteil der Metaphysik ist, läßt sich in sechs Punkten zusammenfassen: (1) Kant grenzt den Begriff des Irrtums nach zwei Seiten ab. Auf der einen Seite bildet der Irrtum den konträren Gegensatz zum Wissen. Anders als die Unwissenheit, die dem Wissen kontradiktorisch entgegengesetzt ist, besteht der Irrtum nicht lediglich in einem Mangel an Wissen. Derjenige, der sich irrt, beansprucht durchaus ein Wissen, nur ist dieses Wissen falsch. Im Verhältnis zum Wissen stellen Unwissenheit wie Irrtum unvollkommene Formen der Erkenntnis dar, wobei die Unwissenheit auf einer Unvollkommenheit des Mangels (defectus s. imperfectio contradictorie sic dicta) beruht, der Irrtum dagegen auf einer Unvollkommenheit der Beraubung (vitium s. privatio s. imperfectio contrarie sic dicta).23 Weil der Irrtum ein Hindernis für das Wissen bildet und seine Beseitigung zunächst zur Unwissenheit führt, sind Irrtum und Wissen einander nicht logisch, sondern real entgegengesetzt.24 Auf der n

23

24

Eine genaue Analyse der Textstelle in der KrV unter Heranziehung der Jäsche-Logik sowie der Logik-Vorlesungen und Logik-Reflexionen gibt: Guillermit (1981). Zu Kants Irrtumstheorie im übrigen: Krüger(1967), 143-156; zur Kritik an ihr: Hinske (1980), Pinder(1987). Cf. dazu: Logik Dohna-Wundlacken, AA 24.2, 710 (die Unvollkommenheit der Beraubung wird hier auch die der Übertretung („reatus, transgressio legis, er ist reus") genannt), sowie Logik Pölitz, AA 24.2, 520. Für den genannten Unterschied findet Kant in der Logik-Vorlesung Dohna-Wundlacken einen anschaulichen Vergleich: „Unwissenheit gleicht einer tabula rasa - Irrtum einer bekritzelten Tafel. Hier hat man nun noch obendrein die Mühe, das Falsche wegzulöschen, um erst wieder zur Unwissenheit zu kommen." Cf. Logik Blomberg, AA 24, 83

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anderen Seite muß der Irrtum von der falschen Erkenntnis unterschieden werden. Ein Irrtum ist nicht einfach ein falsches Urteil, sondern er ist das Fürwahrhalten eines falschen Urteils.25 Gerade die Unterscheidung zwischen Irrtum und falschem Urteil läßt sich mit der Unterscheidung zwischen einer subjektiven und einer objektiven Betrachtung von Urteilen zusammenbringen, deren Kombination verschiedene Einteilungen ermöglicht. Wird ein Urteil objektiv betrachtet, ist nur eine zweifache Einteilung möglich, nämlich in ein wahres oder ein falsches Urteil, je nachdem, ob das Urteil mit dem Gegenstand und den Gesetzen des Verstandes übereinstimmt oder nicht übereinstimmt. Wird dagegen ein Urteil subjektiv betrachtet, ist eine dreifache Einteilung möglich, nämlich in das Fürwahrhalten eines wahren Urteils (= Wissen), in den Mangel des Fürwahrhaltens eines wahren oder falschen Urteils (= Unwissenheit) und in das Fürwahrhalten eines falschen Urteils (= Irrtum). Diese Einteilung setzt voraus, daß ein Urteil nicht dann bereits (objektiv) wahr ist, wenn es (subjektiv) für wahr gehalten wird, und daß es folglich Gründe des Fürwahrhaltens gibt, die nicht mit den Gründen der Wahrheit identisch sind, aber mit solchen verwechselt werden können.26 (2) In der Einleitung zur Transzendentalen Dialektik verdeutlicht Kant, auf welcher Grundlage die „schwere Frage"27, wie ein Irrtum möglich ist, sich erst stellt und beantwortet werden kann: „In einem Erkenntnis, das mit den Verstandesgesetzen durchgängig zusammenstimmt, ist kein Irrtum. In einer Vorstellung der Sinne ist (weil sie gar kein Urteil enthält) auch kein Irrtum. Keine Kraft der Natur kann aber von selbst von ihren eigenen Gesetzen abweichen. Daher würden weder der Verstand fiir sich allein (ohne Einfluß einer anderen Ursache), noch die Sinne für sich, irren; der erstere darum nicht, weil, wenn er bloß nach seinen Gesetzen handelt, die Wirkung (das Urteil) mit diesen Gesetzen notwendig übereinstimmen muß. In der Übereinstimmung mit

25

26 27

So heißt es wiederum in einer Logik-Vorlesung: „Ein falsches Erkenntniß und Irthum sind unterschieden. Wenn ich ein falsches Urtheil proponire und examinire: so ists noch kein Irthum, die Vorwahrhahung der Falschheit ist Irthum." (Wiener Logik, AA 24.2, 832). Daß der Irrtum nicht etwa ein falsches Urteil, sondern das Fürwahrhalten eines falschen Urteils ist, stellt auch die Jäsche-Logik fest: „Das Gegenteil von der Wahrheit ist die Falschheit, welche, so fern sie für Wahrheit gehalten wird, Irrtum heißt" (A 76). Zum Begriff des Fürwahrhahens bei Kant: Centn (1981), Chandler (1981). Cf. allerdings Meerbote (1972), 55, 57, der dafür argumentiert, daß zwischen Wahrheit und objektiver Gültigkeit noch zu unterscheiden ist. Cf. Logik Busolt, AA 24.2,631. Guillermit (1981), 222.

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den Gesetzen des Verstandes besteht aber das Formale aller Wahrheit. In den Sinnen ist gar kein Urteil, weder ein wahres, noch falsches."28

Wahrheit und Irrtum sind somit „nur im Urteile, d.i. nur in dem Verhältnisse des Gegenstandes zu unserm Verstande anzutreffen".29 Weder der Verstand für sich allein noch die Sinnlichkeit für sich allein können irren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Zum Irrtum bedarf es notwendig des Urteils, und zwar eines Urteils, das in Verknüpfung mit (scheinbar objektiven) Gründen steht und daher zumindest für assertorisch gültig gehalten wird.30 Kant hat die Möglichkeit des Irrtums häufig mit dem Bild der Diagonalbewegung eines Körpers, an den zwei verschieden gerichtete Kräfte angreifen, zu fassen und den Irrtum als „effectus hybridus"31, als „cognitio hybrida"32, als gemischte Wirkung aus Sinnlichkeit und Verstand zu erklären versucht. Setzt man voraus, daß eine Erkenntnis von Gegenständen weder durch den Verstand noch durch die Sinnlichkeit allein zustandekommt, beide zusammengenommen also die „Quellen" sind, aus denen reale Erkenntnisse entspringen, so folgt, „daß der Irrtum nur durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand bewirkt werde, wodurch es geschieht, daß die subjektiven Gründe des Urteils mit den objektiven zusammenfließen, und diese von ihrer Bestimmung abweichend machen, so wie ein bewegter Körper zwar für sich jederzeit die gerade Linie in derselben Richtung halten würde, die aber, wenn eine andere Kraft nach einer ändern Richtung zugleich auf ihn einfließt, in krummlinige Bewegung ausschlägt".33

Irrtum ist demnach nur im Urteil möglich und beruht auf einer Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen des Urteils.34 28

29

30 31 31 33 34

Logik Busolt, AA 24.2, 631. Daß keine Kraft von ihren eigenen Gesetzen abweichen kann, behauptet Kant auch sonst häufig. Über die Vorgeschichte dieser Vorstellung bei Wolff und Reünarus unterrichtet: Hinske (1980), 23-31. KrV, B 350. Cf. R 2259 (1780-1804): „Warheit und Falschheit liegt nicht in Begriffen, sondern in Urtheilen, und zwar als Sätzen. - (Irrthum ist ein falsches Urtheil, sofern es für wahr gehalten wird.)" Cf. Logik Philippi,AA24,402. Cf. Wiener Logik, AA 24.2, 825. KrV, B 350/351. Herv. Kant. Der Einfluß, den die Sinnlichkeit auf den Verstand beim Irrtum ausübt, ist, wie Kant ausdrücklich hervorhebt, kein direkter. Die Sinnlichkeit fließt nicht auf den Verstand selbst und seine Regeln ein, sondern auf die Verstandeshandlung, d.i. genauer auf den Urteilsakt, in dem der Verstand seine Regeln auf ein in der sinnlichen Anschauung Gegebenes anwendet und das solcherart Gegebene durch diese Regeln (als ein Fall der Regeln) bestimmt. In einer Anmerkung zur KrV schreibt Kant: „Die Sinnlichkeit, dem Verstande untergelegt, als das Objekt, worauf dieser seine Funktion anwendet, ist der Quell realer Erkenntnisse. Eben dieselbe aber, so fern sie auf die Verstandeshandlung selbst einfließt, und ihn zum Urteilen bestimmt, ist der Grund des Irrtums." (KrV, B 351 Anm.). Da das Vermögen, die Verstandesregeln anzuwenden, die Urteilskraft ist, scheint die Urteilskraft auch der eigentliche Urheber der Handlung zu sein, die zum Irrtum rührt. In diese Richtung argumentiert auch Guillermit (1981), 229,234.

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(3) Aus der Voraussetzung, daß ein Irrtum nur im Urteil möglich ist, ergibt sich eine unmittelbare Konsequenz: Da der Verstand durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit zwar von seiner „Richtung" abgelenkt, nicht aber in seiner Wirkungskraft gänzlich aufgehoben wird, - in welchem Fall es nicht einmal mehr zu einem Urteil käme - ist ein totaler Irrtum, jedenfalls für den menschlichen Verstand, nie möglich.35 Darauf verweist Kant an verschiedenen Stellen. So etwa in der Jäsche-Logik, wo es heißt: „Aller Irrtum, in welchen der menschliche Verstand geraten kann, ist aber nur partial, und in jedem irrigen Urteile muß immer etwas Wahres liegen. Denn ein totaler Irrtum wäre ein gänzlicher Widerstreit wider die Gesetze des Verstandes und der Vernunft. Wie könnte er, als solcher, auf irgend eine Weise aus dem Verstande kommen, und, so fern er doch ein Urteil ist, für ein Produkt des Verstandes gehalten werden!"36

(4) Kant besitzt eine klare Vorstellung davon, auf welche Weise es der Sinnlichkeit gelingt, auf die Verstandeshandlung Einfluß zu nehmen. In der Jäsche-Logik bemerkt er dazu: „Der Entstehungsgrund alles Irrtums wird daher einzig und allein in dem unvermerkten Einflüsse der Sinnlichkeit auf den Verstand, oder, genauer zu reden, auf das Urteil, gesucht werden müssen. Dieser Einfluß macht, daß wir im Urteilen bloß subjektive Gründe für objektive halten und folglich den bloßen Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechseln. Denn darin besteht eben das Wesen des Scheins, der um deswillen als ein Grund anzusehen ist, eine falsche Erkenntnis für wahr zu halten."37

Wenn aber jeder Irrtum auf einer Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen des Urteils beruht, dann müssen - damit eine solche Verwechslung möglich ist - die subjektiven Gründe „gänzlich das Ansehen"38 von objektiven Gründen haben, sie müssen mit anderen Worten objektiv scheinen. Man kann daher im Schein den eigentlichen Grund der Möglichkeit allen Irrtums erblicken.39 Um den Irrtum zu vermeiden, bedarf es folglich eines Krite35 36

37 38 39

Cf hierzu Hinske (1980), 31-66, der über die Vorgeschichte von Kants Theorie der Unmöglichkeit des totalen Irrtums berichtet. Jäsche-Logik, A 78. Cf. auch Logik Blomberg: „selbst in unseren irrigen Urtheilen muß der Verstand immer etwas gethan haben, und es kann also doch darinn niemahls alles falsch, sonderen muß noch immer etwas wahres seyn. Es ist gantz unmöglich, daß ein Mensch gäntzlich irre, wenn er urtheilt" (AA 24, 84); cf. auch: Logik Philippi, AA 24, 366 u.ö. Jäsche-Logik, A 77. Herv. im Text. Cf.A>K,B353. Dies kommt auch in verschiedenen Reflexionen zum Ausdruck: „Das Vorwahrhahen des Falschen beruht auf dem Schein." (R 2254 (1776-89)); „Zum Irrthum wird ausser der falschheit noch der Schein erfodert..." (R 2251 (1776-78)); „Das, was den Irrthum möglich macht, ist der Schein, d.i. das subjective, was für obiectiv gehalten wird." (R 2158 (1776-78)).

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

riums, anhand dessen sich subjektive und objektive Gründe ungeachtet aller Ähnlichkeit, die zwischen ihnen bestehen mag, sicher voneinander unterscheiden lassen. (5) Es ist nicht unwichtig, daß Kant den Scheinbegriff nicht nur im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Irrtum verwendet, sondern auch im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Überzeugung und Überredung, die er im Methodenkapild der KrV vornimmt. Sowohl die Überzeugung wie die Überredung sind Weisen des Fürwahrhaltens, das von Kant ganz allgemein als „eine Begebenheit in unserem Verstande" erklärt wird, „die auf objektiven Gründen beruhen mag, aber auch subjektive Ursachen im Gemüte dessen, der da urteilt, erfodert."40

Wenn das Fürwahrhalten „für jedermann gültig ist, so fern er nur Vernunft hat, so ist der Grund desselben objektiv hinreichend, und das Fürwahrhalten heißt alsdenn Überzeugung. Hat es nur in der besonderen Beschaffenheit des Subjekts seinen Grund, so wird es Überredung genannt."41

Auf die Angabe dieser grundsätzlichen Differenz folgt eine weitere, genauere Erklärung der Überredung: „Überredung ist ein bloßer Schein, weil der Grund des Urteils, welcher lediglich im Subjekte liegt, für objektiv gehalten wird."42

Weil es sowohl bei der Überredung wie beim Irrtum zur Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen kommt, könnte man versucht sein, beide gleichzusetzen. Tatsächlich besteht jedoch zwischen ihnen ein Unterschied, der nicht übergangen werden darf, weil er im Bereich des praktischen Denkens eine besondere Rolle spielt. Anders als beim Irrtum wird bei der Überredung nicht erfordert, daß das Urteil, das für wahr gehalten wird, objektiv falsch ist.43 Zur Überredung genügt vielmehr, daß ein Urteil (sei dies nun objektiv wahr oder falsch) aus Gründen für wahr gehalten wird, die fälschlicherweise für objektiv gehalten werden. Insofern kann eine Überredung die Vor40

41 42

43

KrV, B 848. ibd. Herv. Kant. ibd. Cf. Jäsche-Logik: „Obgleich jede Überredung der Form nach (formaliter) falsch ist, so fern nämlich hierbei eine Ungewisse Erkenntnis gewiß zu sein scheint: so kann sie doch der Materie nach (materialiter) wahr sein." (A 112). Daraus ergeben sich folgende Begriffsbestimmungen: Irrtum ist eine Erkenntnis, die formaliter und materialiter falsch ist; Überredung eine Erkenntnis, die formaliter falsch ist, jedoch materialiter wahr oder falsch sein kann; schließlich ist Überzeugung (bzw. Wissen) eine Erkenntnis, die formaliter und materialiter wahr ist.

Die Theorie der Abweichung

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stufe sowohl zur Überzeugung (im Sinne eines Wissens) wie zum Irrtum bilden. Umgekehrt aber gilt, daß jedem Irrtum stets eine Überredung zugrundeliegt, die Verhinderung des Irrtums also nur dann gelingt, wenn auch die Überredung unmöglich gemacht wird. (6) Ein besonders wichtiger Aspekt von Kants Irrtumslehre betrifft die Frage, wie sich der Irrtum vermeiden läßt.44 Kant weist darauf hin, daß kein Irrtum unvermeidlich ist und daß sich derjenige, der sich irrt, auch die Schuld an seinem Irrtum beimessen muß.45 Doch gilt dieses Verdikt mit einer wesentlichen Einschränkung: ein Irrtum kann nur dann als vermeidbar angesehen werden, wenn es offensteht, ein problematisches Urteil zu fällen. Ist man dagegen gezwungen, assertorisch zu urteilen, - etwa unter dem Druck äußerer Umstände, die ein schnelles Handeln erfordern -, dann kann das Zustandekommen eines Irrtums in der Tat unvermeidlich sein.46 Das erste Mittel, einen Irrtum zu vermeiden, besteht denn auch in der suspensio iuducii, in der Zurückhaltung seines (assertorischen) Urteils. Da der Irrtum ein (falsches) Urteil ist, das für wahr gehalten wird, erlaubt die Zurückhaltung der Urteilstätigkeit, d.i. des Fürwahrhaltens, die Vermeidung des (falschen) Urteils. Dazu kommt ein zweites Mittel. Wenn der Irrtum das Resultat eines „unbemerkten Einflusses" der Sinnlichkeit auf die Verstandestätigkeit ist und auf der Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen des Urteils beruht, dann bedarf es einer verschärften Aufmerksamkeit des Verstandes und in Verbindung damit einer besonderen Überlegung, die die subjektiven und die objektiven Gründe des Urteils zu unterscheiden und jedem dieser Gründe seine Stelle zuzuweisen vermag. Im Einleitungsteil der Transzendentalen Dialektik zieht Kant genau diese methodische Konsequenz: „Um die eigentümliche Handlung des Verstandes von der Kraft, die sich mit einmengt, zu unterscheiden, wird es daher nötig sein, das irrige Urteil als die Diagonale zwischen zwei Kräften anzusehen, die das Urteil nach zwei verschiedenen Richtungen bestimmen, die gleichsam einen Winkel einschließen, und jene zusam44 45

44

Cf. dazu Hinske (1980), 57-63, der vier Verhaltensregeln zur Vermeidung von Irrtum unterscheidet. So heißt es in einer Logik-Vorlesung: „Kein Irthum ist an sich selbst unvermeidlich, weil man nur Ober Dinge nicht urtheilen darf, von denen man nichts versteht. Eine Unwissenheit kann wohl unvermeidlich seyn. Denn diese beruhet nicht immer auf unserm Willen, sondern oft auf den Schranken unserer Natur. Aber beym Irthum sind wir selbst immer Schuld, indem wir nicht behutsam sind bey Wagung eines Unheiles, wozu wir nicht Kenntniß genug haben." (Wiener Logik, AA 24.2, 832). Cf. auch: Logik Dohna-Wundlacken, AA 24.2, 721: „Porismata: Alle Irrtümer sind verschuldet - denn alle Urteile sind willkürlich und nur durch Urteile sind Irrtümer möglich." Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die Jäsche-Logik, A 78 und A 81. Cf. dazu: Logik Dohna-Wundlacken, AA 24.2,724; Wiener Logik, AA 24.2, 832.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

mengesetzte Wirkung in die einfache des Verstandes und der Sinnlichkeit aufzulösen, welches in reinen Urteilen a priori durch transzendentale Überlegung geschehen muß, wodurch (wie schon angezeigt worden) jeder Vorstellung ihre Stelle in der ihr angemessenen Erkenntniskraft angewiesen, mithin auch der Einfluß der letzteren auf jene unterschieden wird."47

Die transzendentale Überlegung, die „in reinen Urteilen a priori" den Vorstellungen ihre Stelle in der ihr angemessenen Erkenntniskraft bestimmt, gehört in die Transzendentale Analytik, die insofern zum Kernstück der ganzen Kritik wird. Eben dieses Mittel der Überlegung empfiehlt Kant auch im Hinblick auf die Überredung. Auch hier muß durch Überlegung sichergestellt werden, ob die Gründe des Fürwahrhaltens subjektiver oder objektiver Art sind.48 Die bisherigen Überlegungen laufen darauf hinaus, die Möglichkeit einer Abweichung des menschlichen Willens von den Gesetzen des reinen Willens in Analogie zur Möglichkeit einer Abweichung des menschlichen Verstandes von den Gesetzen des reinen Verstandes zu erklären. Wie sich gezeigt hat, lassen sich gegenüber dem wahren Wissen zwei Oppositionsbegriffe bilden: zum einen der kontradiktorisch entgegengesetzte Begriff der Unwissenheit, der sich auf einen Mangel an Wissen bezieht und den Grund dafür in die Schranken des menschlichen Verstandes setzt; zum anderen der konträr entgegengesetzte Begriff des Irrtums, der sich auf das Fürwahrhalten eines falschen Urteils bezieht und den Grund dafür nicht in die Schranken des menschlichen Verstandes, sondern in den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand setzt.49 Die Unwissenheit beruht auf dem Mangel eines Grundes zum Urteilen, der Irrtum hingegen auf dem Gegebensein eines vom Verstand unterschiedenen, positiven Grundes, der die Folgen, die der Verstand für sich allein hätte, (die wahren Urteile, aus denen das Wissen besteht) zum Teil aufhebt.50

41 48 49

50

A>K,B351.Herv. P.K. Cf. Jauche-Logik, A I I I . Insofern scheint der Grund, der den Irrtum ermöglicht, eigentlich in der Unaufmerksamkeit zu bestehen. So argumentiert auch Guillermit (1981). Wenn dem so ist, läßt sich eine interessante Verbindung zu Kants Achtungslehre herstellen. Der Begriff der Achtung vorm Gesetz bezieht sich nicht nur auf einen Respekt oder eine Ehrfurcht, die dem Gesetz entgegenzubringen ist, sondern auch auf eine Aufmerksamkeit, auf ein Achthaben darauf, daß die Willensbestimmung aus den richtigen Gründen erfolgt. Aus einem bestimmten Grund diskutiert Kant einen dritten Fall nicht, der gleichwohl in Betrachtung kommt und dem entspricht, was in der Metaphysik der Sitten durch die Idee des teuflischen Willens bezeichnet wird: daß der Verstand, ohne irgendeinem Einfluß der Sinnlichkeit ausgesetzt und ohne durch einen Schein dazu verleitet zu sein, alle seine Gesetze bestandig Obertritt und damit einen totalen Irrtum begeht. An den Urteilen eines solchen verderbten, gleichsam in sich falschen Verstandes wäre, ganz im Unterschied zu denen eines menschlich irrenden Verstandes, nichts Wahres. Sie wären grundlos falsch und würden doch als wahr ausgegeben werden. Ein solcher Verstand

Die Theorie der Abweichung

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Ein erster summarischer Vergleich zeigt nun, daß Kant entsprechende Theoriestücke und Begriffsbestimmungen auch im Bereich der praktischen Philosophie zur Verfügung stehen. Den aufgezählten sechs Thesen von Kants Irrtumslehre lassen sich sechs analoge Thesen an die Seite stellen, die sich auf die Möglichkeit einer Abweichung des Willens vom Sittengesetz beziehen. (1) So wie der Irrtum als das Fürwahrhalten eines falschen Urteils verstanden und auf der einen Seite dem Wissen und auf der anderen Seite dem falschen Urteil entgegengesetzt werden kann, so läßt sich das Laster als das Fürrichtighalten51 einer illegitimen praktischen Regel verstehen52 und auf der einen Seite der Tugend und auf der anderen Seite der illegitimen praktischen Regel gegenüberstellen. Laster und Tugend stehen in konträrem Gegensatz („contrarie s. realiter oppositum"), Tugend und „negative Untugend", verstanden als „moralische Schwäche"53, in kontradiktorischem Gegensatz. Der tugendhafte Wille zeichnet sich durch das Fürrichtighalten (objektiv) richtiger praktischer Regeln aus, der lasterhafte Wille dagegen durch das Fürrichtighalten (objektiv) falscher praktischer Regeln. Damit wäre festgehalten, daß auch der (menschlich) Böse nicht aus reiner Bosheit handeln kann, sondern nur aufgrund einer Vorstellung dessen, was ihm richtig scheint. Vom tugendhaften wie vom lasterhaften Willen gleichermaßen ist der Wille zu unterscheiden, der um die Legitimität oder Illegitimität einer praktischen Regel aus einem Mangel an praktischer Vernunft nicht weiß.54

51

52 53 54

kann daher unmöglich in concrete gedacht werden, obwohl es möglich sein muß, seine Idee (als Spiegelbild des wahren Verstandes) zu bilden. Man könnte versuchen, von dem Fürrichtighalten einer falschen praktischen Regel noch ein Fürrichtignehmen zu unterscheiden. Einer, der eine falsche praktische Regel für richtig nimmt, hält die Regel zwar für falsch, aber er kann nicht umhin, nach ihr zu handeln. Er weiß also, daß die Regel falsch ist, und handelt doch nach ihr. Der entscheidende Punkt scheint mir allerdings zu sein, daß sich in diesem Fall nicht mehr sagen läßt, der Betreffende bestimme sich selbst durch eine praktische Regel zum Handeln. Die Schwäche des Willens scheint gerade darin zu bestehen, daß das Vermögen schwindet, nach der Vorstellung von praktischen Regeln, die man für richtig hält, zu handeln. Ich verdanke den Einwand Hans Friedrich Fulda. In der MS/TL bestimmt Kant das Laster („vitium") als die vorsätzliche, zum Grundsatz gewordene pflichtwidrige Handlung (cf. A 21). Cf.A/ÄTL,A10,A21. Die dreifache Einteilung in Tugend, Untugend und Laster kommt, wie aus den vorangegangenen Überlegungen deutlich geworden sein sollte, dadurch zustande, daß praktische Regeln subjektiv betrachtet werden. Nur in diesem Fall kann zwischen dem Fürrichtighalten einer legitimen praktischen Regel, dem Mangel eines Fürrichtighaltens und dem Furrichtighahen einer illegitimen praktischen Regel unterschieden werden. Werden dagegen praktische Regeln objektiv betrachtet, dann ergibt sich nur eine zweifache Einteilung, nämlich in legitime und illegitime Regeln.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

(2) Auch beim Laster stellt sich die Frage, wie eine Abweichung des Willens von seinen eigenen Gesetzen möglich ist. In der Logik Philippi werden Irrtum und Laster im Hinblick auf die Notwendigkeit, aber auch die Schwierigkeit ihrer Erklärung auf eine Stufe gestellt und geradezu als Paradoxa (des Verstandes bzw. des Willens) charakterisiert: „Jeder Irrthum ist ein Phänomen, und zwar ist der grobe Irrthum, da man alsdenn von den gewöhnlichen Verstandesgesetzen gar abweicht als ein Paradoxon anzusehen. Es ist etwas unnatürliches, so wie alles unnatürlich ist, was von den gewöhnlichen Gesetzen des Verstandes abweicht. Und also muß man aufmerksam untersuchen woher der Irrthum hat entstehen können; so wie man in der Moral forschen muß wie das Laster welches eben ein solches Paradoxon des Willens ist, hat entstehen können."55

Bei der Erklärung der Möglichkeit des Lasters hält sich Kant ganz an die Vorgaben seiner Irrtumslehre. In der Religionsschriß lesen wir, daß der Grund des Moralisch-Bösen weder „in der Sinnlichkeit des Menschen, und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen" noch „in einer Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft" gesetzt werden kann.56 Eine Abweichung des Willens von seinem Gesetz ist nur dadurch möglich, daß die Sinnlichkeit auf den Willen selbst Einfluß nimmt und ihn von seiner Bestimmung abweichen läßt: „Wenn nun das Gesetz jemandes Willkür, in Ansehung einer auf dasselbe sich beziehenden Handlung, doch nicht bestimmt: so muß eine ihm entgegengesetzte Triebfeder auf die Willkür desselben Einfluß haben; und, da dieses vermöge der Voraussetzung nur dadurch geschehen kann, daß der Mensch diese (mithin die Abweichung vom moralischen Gesetze) in seine Maxime aufnimmt (in welchem Fall er ein böser Mensch ist): so ist seine Gesinnung in Ansehung des moralischen Gesetzes niemals indifferent (niemals keines von beiden, weder gut, noch böse)."57

Der Einfluß, den die Sinnlichkeit auf den Willen ausübt, ist freilich kein direkter. In einer Anmerkung zur Einleitung der KU schreibt Kant: „Einer von den verschiedenen vermeinten Widersprüchen in dieser gänzlichen Unterscheidung der Naturkausalität von der durch Freiheit ist der, da man ihr den Vorwurf macht: daß, wenn ich von Hindernissen, die die Natur der Kausalität nach Freiheitsgesetzen (den moralischen) legt, oder ihrer Beförderung durch dieselbe rede, ich doch der ersteren auf die letztere einen Einfluß einräume. Aber, wenn man das Gesagte nur verstehen will, so ist die Mißdeutung sehr leicht zu verhüten. Der Widerstand, oder die Beförderung, ist nicht zwischen der Natur und der Freiheit,

55 56

37

Logik Philippi, AA 24,406. Cf.Äe/.,B31/32. Rel, B 12/13.

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sondern der ersteren als Erscheinung und den Wirkungen der letzteren als Erscheinungen in der Sinnenwelt ,.."58

Der Einfluß der Sinnlichkeit auf den reinen (autonomen) Willen erstreckt sich also nur auf die Wirkungen des reinen Willens. Diese sind die Maximen, die sich der Wille unter dem Einfluß der Sinnlichkeit bildet und von denen wiederum abhängt, welche Handlungen begangen werden. Der lasterhafte oder moralisch-böse Wille handelt nach Maximen, die er subjektiv für richtig hält, obwohl sie objektiv falsch sind. Gerade weil er die Maximen subjektiv für richtig hält, sind sie willkürbestimmend und damit Grund von Handlungen, die nicht mit dem Sittengesetz zusammenstimmen. (3) Sowenig wie dem menschlichen Verstand der totale Irrtum, sowenig ist dem menschlichen Willen das totale Laster möglich. Daß sich die „Idee des Äußerst-bösen" zwar fassen läßt, ihr aber im Hinblick auf die Menschen jegliche Realität abgesprochen werden kann, erläutert und begründet Kant in einer Anmerkung zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre. Genauer muß danach zwischen zwei Arten unterschieden werden, wie die Maxime dem moralischen Gesetz entgegenstehen kann. Sie kann dem Gesetz nämlich entweder ermanglungsweise (negative, d.h. contradictorie) oder abbruchsweise (contrarie) entgegenstehen. Ist die Maxime dem Gesetz ermanglungsweise (kontradiktorisch) entgegengesetzt, so begeht der Verbrecher seine Untat „nur als Ausnahme von der Regel (sich davon gelegentlich zu dispensieren)". Er weicht in diesem Fall bloß, „ob zwar vorsätzlich", vom Gesetz ab; „er kann seine eigene Übertretung zugleich verabscheuen, und, ohne dem Gesetz förmlich den Gehorsam aufzukündigen, es nur umgehen wollen".59

Die Maxime, die dem Gesetz ermanglungsweise entgegengesetzt ist, befindet sich in einigen Fällen in Übereinstimmung mit dem Gesetz, in einigen Fällen im Widerstreit mit ihm. Ob die Maxime jeweils in Übereinstimmung oder Widerstreit mit dem Gesetz steht, hängt von dem Nutzen ab, den die Gesetzeskonformität bzw. der Gesetzesbruch dem einzelnen bringt. Derjenige, der sich vorbehält, mit seinen Handlungen in einigen Fällen vom Gesetz abzuweichen, macht die Befolgung des Gesetzes ganz davon abhängig, ob sie ihm nützt oder schadet. Ist dagegen die Maxime dem Gesetz abbruchsweise (konträr) entgegengesetzt, so begeht der Verbrecher seine Untat Kant zufolge „nach der

58

59

KU, B LIV/LV Anm.; cf. auch: Rel, B 259 Anm.

Cf.A/S«L,A179Anm.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

Maxime einer angenommenen objektiven Regel (als allgemein geltend)". In diesem Fall „verwirft er die Autorität des Gesetzes selbst, dessen Gültigkeit er sich doch vor seiner Vernunft nicht ableugnen kann, und macht es sich zur Regel, wider dasselbe zu handeln".

Die Maxime des (absolut-bösen) Verbrechers besteht darin, nicht bloß in einigen Fällen, in denen ihm dies nützlich erscheint, vom Gesetz abzuweichen, sondern in ausnahmslos allen Fällen, in denen das Gesetz gültig ist. Insofern ist sie „diametraliter, als Widerspruch (gleichsam feindselig) dem Gesetz entgegen".60

Der entscheidende Unterschied zwischen der Maxime, die dem Gesetz bloß ermanglungsweise, und derjenigen, die ihm abbruchsweise entgegengesetzt ist, liegt letztlich darin, daß im zweiten Fall die Abweichung vom Gesetz selbst zur Triebfeder erhoben wird, während im ersten Fall etwas anderes als das Gesetz, nämlich der eigene Nutzen, als Triebfeder dient und die Abweichung vom Gesetz nicht um ihrer selbst willen geschieht, sondern als (in einigen Fällen unvermeidliche) Folge der Unterordnung des Gesetzes unter die eigennützigen Beweggründe in Kauf genommen wird. Kant ist der Auffassung, daß die Übertretung des Gesetzes und die Bosheit, zu der Menschen fähig sind, seinen Grund stets im Eigennutz hat und daß daher nach unserer Einsicht „ein dergleichen Verbrechen einer förmlichen (ganz nutzlosen) Bosheit zu begehen Menschen unmöglich" ist, auch wenn sie als „bloße Idee des Äußerst-bösen in einem System der Moral nicht übergangen werden kann".61 Das Vermögen, eine förmliche, auf keinen Nutzen gerichtete Bosheit zu begehen, läßt sich nur einem teuflischen Wesen zusprechen. Ein solches Wesen besitzt einen schlechthin bösen Willen (den man sich nur in der Idee denken kann, weil er die Vorstellung von einem Maximum einschließt), eine „vom moralischen Gesetze ... freisprechende, gleichsam boshafte Vernunft", die den „Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder (denn ohne alle Triebfeder kann die Willkür nicht bestimmt werden) erhoben" hat.62 Der Grund des Bösen liegt bei diesem Wesen insofern einzig und allein in der Vernunft selbst, genauer, „in einer Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft", die „das Ansehen des Gesetzes selbst in sich vertilgen, und diese Verbindlichkeit aus demselben

60 61 62

Cf.MS-KL,A179Anm. Cf.A/ÄKL,A179Anm. Cf.Rel.,B32.

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ableugnen" will und kann, was jedoch in Kants Augen „schlechterdings unmöglich" ist.63 „Sich als ein frei handelndes Wesen, und doch von dem, einem solchen angemessenen, Gesetze (dem moralischen) entbunden denken, wäre so viel als eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache denken (denn die Bestimmung nach Naturgesetzen fällt der Freiheit halber weg): welches sich widerspricht."64

(4) Um die Abweichung des Willens von seinen Gesetzen erklären zu können, bedarf es wie beim Irrtum auch beim Laster der Annahme eines Scheins, als desjenigen, das die Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen des Urteils erst ermöglicht. Im Fall des Lasters müssen (bloß) subjektive Gründe des Fürrichtighaltens von Maximen mit objektiven Gründen der Richtigkeit verwechselt werden können. Insofern ist es konsequent, wenn Kant in Analogie zum Schein im theoretischen Denken auch von einem Schein im praktischen Denken spricht. Dieser spezifisch praktische Schein ist der Wahn, unter dem Kant die „innere praktische Täuschung" versteht, „das Subjektive in der Bewegursache für objektiv zu halten."65 (5) Als Beleg für die Bedeutung des praktischen Scheinbegriffs kann dienen, daß Kant auch ein Gegenstück zur Überredung annimmt, und zwar in Gestalt des Eigendünkels, und daß dieser Eigendünkel, gegen den sich die Achtung vorm Gesetz eigentlich richtet, durch den Wahn charakterisiert ist, daß die eigenen Maximen mit dem Gesetz übereinstimmen. So heißt es in der KpV, daß „die Vorstellung des moralischen Gesetzes der Selbstliebe den Einfluß und dem Eigendünkel den Wahn benimmt" und daß dadurch „das Hindernis der reinen praktischen Vernunft vermindert wird".66 Auch in der Reiigionsschrift analysiert Kant die „Verkehrtheit des Herzens" als den eigentlichen Grund des Moralisch-Bösen in der Weise, daß er nicht erst das Laster, sondern bereits

63 64

63 66

Cf.Äe/.,B31/32. Cf. Rel, B 32. Kurz darauf vertritt Kant nochmals die Auffassung, daß es Menschen unmöglich ist, eine förmliche Bosheit zu begehen und ohne irgendwelche eigennützigen Motive nach einer Maxime zu handeln, die dem Gesetz konträr entgegengesetzt ist. „Der Mensch (selbst der ärgste) tut, in welchen Maximen es auch sei, auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht. Dieses dringt sich ihm vielmehr, kraft seiner moralischen Anlage, unwiderstehlich auf; und wenn keine andere Triebfeder dagegen wirkte, so würde er es auch als hinreichenden Bestimmungsgrund der Willkür in seine oberste Maxime aufnehmen, d.i. er würde moralisch gut sein." (Rel, B 33). Anthropologie, A 240. Dieser Wahn wird zum „moralischen Schein", „wenn uns das aus Pflicht zu entspringen scheint, was zu unserm Beßten dienet." (Cf. Wiener Logik, AA 24.2, 832). KpV, A 134.

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„die Denkungsart, sich die Abwesenheit desselben schon für Angemessenheit der Gesinnung zum Gesetze der Pflicht (für Tugend) auszulegen (da hiebei auf die Triebfeder in der Maxime gar nicht, sondern nur auf die Befolgung des Gesetzes dem Buchstaben nach, gesehen wird)"

als „eine radikale Verkehrtheit im menschlichen Herzen" bestimmt.67 Daraus folgt, daß die Bekämpfung des Lasters bei der Bekämpfung der praktischen Überredung anzusetzen hat. (6) Wenn die eigentliche Quelle der moralischen Verfehlung in der Selbsttäuschung besteht, dann ist die oberste Maxime zur Vermeidung dieser Verfehlung die Maxime der Selbstprüfung und Selbsterkenntnis. Nur wer sich selbst belügt, ist auch fähig zur moralischen Verfehlung und zur Pflichtverletzung.68 Bei der Selbstprüfung handelt es sich um das Pendant zur Überlegung: sie unterscheidet subjektive und objektive Gründe des Fürrichtighaltens von Maximen und weist jedem dieser Gründe seine Stelle im praktischen Erkenntnisvermögen zu.

C. Der irrende und der schwache Wille Doch läßt sich tatsächlich das Begehen einer unsittlichen Handlung mit dem Auftreten eines Irrtums vergleichen? Ist eine Beschreibung der Übertretung des Sittengesetzes, die sich der Analogie zum irrenden Verstand bedient, wirklich angemessen? Und bezieht sie sich auf den gleichsam paradigmatischen Fall einer solchen Übertretung? Es scheint, als müsse man in bezug auf den von seinen Gesetzen abweichenden Willen neben dem Fall des irrenden Willens noch einen weiteren Fall, nämlich den des schwachen Willens unterscheiden. Der Fall des irrenden Willens ist der Fall eines Willens, der eine praktische Regel für legitim hält, die objektiv gesehen illegitim ist, und der nach dieser Regel handelt, weil er der Meinung ist, daß sie legitim ist. Der Fall des schwachen Willens scheint dagegen anders gelagert zu sein. Denn hier hat man es allem Anschein nach mit einem Willen zu tun, der weiß, daß die praktische Regel, nach der er handelt, illegitim ist, und der dennoch nach dieser Maxime handelt, weil er zu schwach ist, den Sirenengesängen seiner Neigungen Widerstand zu leisten. Wollte man es zugespitzt formulieren, so folgt im Fall des irrenden Willens 67

68

Rel, B 36. Cf. dazu: Stevens (1981), 81-84; Broadie/Pybus (1982).

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der Wille einer (illegitimen) praktischen Regel, weil er sie für legitim hält; im Fall des schwachen Willens hingegen folgt er ihr, obwohl er sie für illegitim hält. Ich glaube, daß der Unterschied zwischen beiden Fällen nur ein scheinbarer ist und daß beide Fälle zudem nur unzureichende Beschreibungen der paradoxen Bewußtseinslage sind, die man einem Menschen zusprechen muß, der seine Pflicht verletzt und dem Sittengesetz zuwiderhandelt. Mit dem irrenden Verstand hat der vom Gesetz abweichende Wille gemein, daß diese Abweichung nach einer Maxime (einem praktischen Urteil) erfolgen und die Maxime dabei zugleich für legitim gehalten werden muß. Nur durch die Annahme, daß der Wille nach einer Maxime handelt, die er für richtig hält, kann die Freiheit der Willkür bewahrt werden. Denn wie Kant in der Religionsschrift argumentiert: „die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen".69

Der Moralisch-Böse muß die dem Sittengesetz entgegengesetzte Triebfeder und damit die Abweichung vom Gesetz in seine Maxime aufgenommen haben. Darauf weist Kant auch an einer anderen Stelle hin: „Eine jede Übertretung des Gesetzes kann und muß nicht anders, als so erklärt werden, daß sie aus einer Maxime des Verbrechers (sich eine solche Untat zur Regel zu machen) entspringe; denn, wenn man sie von einem sinnlichen Antriebe ableitete, so wäre sie nicht von ihm, als einem freien Wesen, begangen, und könnte ihm nicht zugerechnet werden."70

Man muß diesen Hinweis Kants ernst nehmen. Die menschliche Willkür zeichnet sich vor der tierischen dadurch aus, daß sie nur durch die Vorstellung von Regeln, genauer von Maximen zum Handeln bestimmt werden kann. Gerade darin, daß die Bestimmung der Willkür durch die Vorstellungen von Regeln und nicht durch sinnliche Reize geschieht, besteht ihre Freiheit. Auch beim schwachen Willen muß daher, wenn dieser Wille zurechnungsfähig sein soll, stets unterstellt werden, daß seine Pflichtübertretung nach einer Maxime 69 70

Äe/.,Bll.Heiv.Kant MS/RL, A 178/179 Anm. Kant gesteht jedoch auch: „wie es aber dem Subjekt möglich ist, eine solche Maxime wider das klare Verbot der gesetzgebenden Vernunft zu fassen, läßt sich schlechterdings nicht erklären" (ibd.).

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

erfolgt. Dies unterscheidet den schwachen Willen von einem Willen, der im Affekt handelt und darin zeitweise seine Qualität, Wille zu sein, gerade einbüßt.71 Soll aber die Pflichtübertretung nach einer Maxime erfolgen, dann muß diese Maxime vom Willen auch für richtig gehalten werden. Denn eine Maxime ist diejenige praktische Regel, nach der ein vernünftiges Wesen wirklich handelt; und ein vernünftiges Wesen kann sich nur dann durch die Vorstellung einer praktischen Regel zum Handeln bestimmen und nach dieser Regel handeln, wenn es sie für richtig hält. Andererseits unterscheidet sich der vom Gesetz abweichende Wille vom irrenden Verstand darin, daß er sich in gewisser Weise seiner Verfehlung unmittelbar bewußt ist und die Übertretung des Gesetzes im selben Augenblick verabscheuen kann. Darin scheint in der Tat eine wichtige Differenz zwischen Irrtum und Laster zu bestehen. In einer frühen Reflexion hebt Kant hervor, daß anders als beim Irrtum die praktische Verfehlung unmittelbar von einem Mißfallen und einer Mißbilligung begleitet sein kann: ,3ey dem sittlichen der Handlungen ist es eben so [wie beim Irrtum, P.K.] bewandt. Wir thun, was wir inisbilligen. Nur ist hiebey dieser Unterschied, das die Misbilligung mit der Handlung hier zugleich seyn kan, dort aber nur auf das verkehrte Urtheil folgen kan."72

Dieses die unsittliche Handlung begleitende Mißfallen bezieht sich u.a. darauf, daß sich der solcherart irrende Wille als zu schwach erweist, den Gründen zu widerstehen, die ihn zur Annahme einer eigentlich illegitimen Maxime und damit zum Irrtum verleiten. Daß ineins mit dem Fürrichtighalten einer illegitimen Maxime das Bewußtsein besteht, daß diese Maxime wider allen Anschein doch illegitim ist und daß der Wille sich gleichwohl als zu schwach erweist, sich dem Fürrichtighalten dieser Maxime zu entziehen, deutet darauf hin, daß die sittliche Verfehlung nicht angemessen erklärt und beschrieben wird, wenn man sie entweder bloß auf einen Irrtum oder bloß auf eine Schwäche des Willens zurückführt. Eine Lösung könnte jedoch darin bestehen, daß man annimmt, der Wille überrede sich selbst im Fall der sittlichen Verfehlung von der Richtigkeit einer dem Sittengesetz widerstreitenden Maxime. Das Bewußtsein der sittlichen 71

72

Man könnte auch sagen, daß derjenige, der im Affekt handelt, die Freiheit der Willkür verliert, d.i. die Eigenschaft dieser Willkür, nur durch Regeln bestimmt zu werden und nicht wie die tierische durch Stimuli. Siehe dazu unten S. 194ff. Cf. R 2244 (1760-69?). Was Kant eher beiläufig in einer frühen Reflexion zur Logik als Unterschied zwischen Laster und Irrtum registriert, bildet am Ende die Grundlage für seine Lehre von der Achtung fürs Gesetz. In der Achtung fürs Gesetz wird die Differenz zwischen subjektiven und objektiven Gründen bewußt, ohne die der Scheinbegriffseine Bedeutung einbüßte.

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Verfehlung und Mißbilligung bezöge sich dann nicht in erster Linie auf die angenommene, dem Gesetz widerstreitende Maxime, sondern darauf, daß der Wille bei der Annahme der Maxime Gründe des Fürrichtighaltens akzeptiert und z.T. mobilisiert, die keine wahrhaft objektiven Gründe sind und daß er (durch bewußte Ausblendung, Nachlässigkeit, Verdrängung etc.) den Schein erzeugt, daß diese Gründe ausreichen, um die Maxime für richtig zu halten. Insofern richtet sich das von Kant festgestellte Mißfallen, das die Verfehlung begleiten kann, gegen die Anstrengung des Willens, sich selbst zu überreden und zu täuschen, und darin liegt dann allerdings auch das Bewußtsein einer Verfehlung. Im folgenden soll versucht werden, die Möglichkeit einer Abweichung des Willens von seinen eigenen Gesetzen mit Hilfe dieses Ansatzes verständlich zu machen. Für den Fortgang unserer Überlegungen ergibt sich daraus eine dreifache Aufgabe. Es muß gezeigt werden, 1.) worin sich subjektive und objektive Gründe des Fürrichtighaltens bei Kant unterscheiden; 2.) aufgrund wovon die Überredung für den sich selbst überredenden Willen eigentlich plausibel ist bzw. worin der Schein besteht, der die Verwechslung und Vertauschung von subjektiven und objektiven Gründen des Fürrichtighaltens und damit am Ende den (praktischen) Irrtum erlaubt; 3.) inwiefern das Bewußtsein des Sittengesetzes in einem Mißfallen am Fürrichtighalten praktisch falscher Maximen gegenwärtig bleiben kann und welche Folgen sich daraus für die Frage der Realität einer reinen praktischen Vernunft bzw. der Idee eines reinen Willens ergeben.

2. Subjektive und objektive Bestimmungsgründe des Willens A. Die zwei Arten von praktischen Prinzipien Es gehört zu den Grundthesen von Kants Moralphilosophie, daß alle praktischen Prinzipien auf zwei Prinzipien reduziert werden können, die spezifisch verschieden sind: auf das Prinzip der eigenen Glückseligkeit (oder der Selbstliebe) und auf das Prinzip der Sittlichkeit. Die sorgfältige Scheidung dieser beiden Prinzipien, der Erweis ihrer Heterogeneität bildet die wichtigste Aufga-

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be, die der Moralphilosophie in ihrem analytischen Teil zufällt.73 Die „Ungleichartigkeit" der beiden Grundprinzipien, auf die sich alle Bestimmungsgründe des Willens (in seinen Maximen) in der einen oder anderen Weise zurückfuhren lassen, sieht Kant nicht zuletzt durch den Streit der antiken moralphilosophischen Schulen der Stoiker und der Epikureer bestätigt, die (fälschlich) die Identität der Prinzipien behauptet hatten, doch mit der Wahl eines jeweils verschiedenen Grundbegriffs zu entgegengesetzten Bestimmungen der Inhalte eines tugendhaften und glückseligen Lebens gelangten und aus Kants Sicht notwendig gelangen mußten.74 In der Tat steht und fällt Kants Moralphilosophie mit der Annahme zweier praktischer Grundprinzipien und der Behauptung ihrer spezifischen Verschiedenheit. Ließe sich zeigen, daß die behauptete Dualität der praktischen Grundprinzipien nicht bestünde, sei es, weil ihnen die Eigenschaft der Heterogeneität fehlte, sei es, weil mit ihnen nicht alle praktischen Prinzipien erfaßt würden, dann geriete die innere Konstruktion von Kants System der Moralphilosophie ins Wanken. Bevor man sich jedoch an eine solche kritisch-destruktive Prüfung der Grundlagen des Kantischen Systems begibt, sollte man der Dualitätsthese Kants eine Chance geben. Wollte man es provokant formulieren, so müßte man sagen, daß der tiefere Grund für Kants Unterscheidung zweier praktischer Grundprinzipien weniger in sachlichen, als in methodischen und systematischen Erwägungen liegt. Auf der einen Seite entspricht der Unterscheidung zwischen diesen beiden Grundprinzipien die Unterscheidung zwischen (bloß) subjektiven und objektiven Gründen des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln. Es ist möglich, daß wir eine praktische Regel dann für richtig halten, wenn sie mit dem Prinzip der Sittlichkeit übereinstimmt (= objektiver Grund der Richtigkeit). Es ist aber auch möglich, daß wir eine praktische Regel für richtig halten, wenn sie mit dem Prinzip unserer eigenen Glückseligkeit übereinstimmt (= subjektiver Grund des Fürrichtighaltens). Nur die Annahme einer Dualität von heterogenen Prinzipien erlaubt es Kant auf der anderen Seite, den Gedanken der Realopposition ins Spiel zu bringen und durch seine Anwendung wesentiiche Koordinaten seines moralphilosophischen Systems festzulegen.75 Daß der Gedan73

74 75

Cf. KpV, A 165: „Die Unterscheidung der Glückseligkeitslehre von der Sittenlehre ... ist nun in der Analytik der reinen praktischen Vernunft die erste und wichtigste ihr obliegende Beschäftigung, in der sie so pünktlichja, wenn es auch hieße, peinlich, verfahren muß, als je der Geometer in seinem Geschäfte." Zur „Ungleichartigkeit" beider Prinzipien auch: KpV, A 164,201,202 u.ö. Cf.A5pK.A201. Cf dazu auch: Reboul (1971), der den Gedanken der Realopposition mit Kants Theorie des Bösen in Verbindung bringt.

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ke der Realopposition in irgendeiner Weise ins Spiel gebracht werden muß, ergibt sich aus der vorausgesetzten Möglichkeit einer Abweichung des Willens von seinem eigenen Gesetz. Denn gemessen an der Idee eines reinen Willens schließt eine solche Abweichung eine Einschränkung des Willens ein, die auf einer Einschränkung der objektiven Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln durch subjektive Gründe des Fürrichtighaltens beruht und nur durch eine Realopposition erklärt werden kann. Es sind vor allem fünf Elemente im Gedanken der Realopposition, die dabei wichtig werden: (1) Der Gedanke der Realopposition schließt wesentlich den Gedanken von Grund und Folge ein. Denn eine Opposition zwischen zwei Realitäten läßt sich nur denken, wenn man diese als Realgründe ansieht. Hat man es umgekehrt mit einem Realgrund zu Um, so sind stets zwei Arten von Opposition möglich: der Defekt, der im Mangel an gesetzter Realität besteht (die logische Opposition), und die Privation, die auf einer im Verhältnis zur gegebenen Realität negativen Realität beruht (die reale Opposition). (2) Eine Realopposition tritt nur dann auf, wenn die konfligierenden Realitäten im selben Subjekt gesetzt sind. Die Identität des Subjekts, dem die Realitäten zugesprochen werden, ist somit eine weitere Voraussetzung, um überhaupt von einer Realopposition sprechen zu können. Wo eine Opposition zwischen zwei Realitäten behauptet wird, muß immer auch unterstellt werden, daß diese Realitäten ein und demselben Subjekt zukommen. (3) Anders als bei der logischen Opposition können bei der Realopposition die einander opponierten Realitäten in einem Subjekt beisammenstehen, ohne daß es dadurch zu einem „Unding" würde. Daraus folgt umgekehrt, daß die opponierten Realitäten nicht immer, sondern nur unter bestimmten Bedingungen (die z.B. in der Anschauung liegen) in ein Oppositionsverhältnis treten. Da die Bedingungen, unter denen Realitäten in einer Opposition stehen, nicht in den Realitäten selbst liegen, ist das Verhältnis der Realopposition immer ein synthetisches Verhältnis. Im Unterschied zur logischen oder analytischen Opposition bezeichnet Kant diese Art der Opposition daher auch als synthetische.76 76

Im opus postumum wird die synthetische Einteilung in Gott und Weh mit der Realopposition gleichgesetzt (cf. AA 21,22). Cf. auch die folgende Stelle in der Vorlesung zur Metaphysik Schön, AA 28.1, 502: „Es fragt sich nun ob Realitaeten jederzeit abereinstimmen, oder ob sie sich auch bisweilen widersprechen? - Vor sich selbst ist schon einzusehen, daß der Widerstreit niemahls logisch oder analytisch seyn kann; er müßte denn synthetisch seyn. Realitaeten können nie einander

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(4) Zwei Realitäten, die in einer Opposition stehen und sich wechselseitig einschränken, hören damit nicht auf zu bestehen. Es muß vielmehr vorausgesetzt werden, daß jede der beiden Realitäten als solche existiert, nur nicht immer ihre ganze Wirkung entfaltet. Dies ist ein wichtiger ontologischer Aspekt, der für die Frage, ob und wie noumenale Realitäten ein Dasein besitzen, von besonderer Bedeutung ist. (5) Mit der Anwendung des Gedankens der Realopposition gelangen auch bestimmte Prinzipien zur Anwendung, durch die der metaphysische Hintergrund der Theorie abgesichert wird. Dazu zählen insbesondere die lex isonomiae77 und die lex aequilibrii rationum78. Allen diesen Elementen im Gedanken der Realopposition lassen sich unschwer entsprechende Gegenstücke aus Kants praktischer Philosophie zur Seite stellen. Ich will dies zunächst in der Form von Thesen tun. (1) Der Begriff des Willens (und der Begriff der Willkür) ist bereits der Begriff von einer besonderen Art der Kausalität, schließt also eo ipso das für die Annahme einer Realopposition unabdingbare Verhältnis von Grund und Folge ein. Als Realopposition interpretiert Kant insbesondere das Nötigungs- oder Zwangsmoment im kategorischen Imperativ, das Pflichtbewußtsein, das einen Widerstand der Neigungen gegen die gesetzgebende Vernunft impliziert. Er kann dies freilich nur unter der Voraussetzung tun, daß sich zwei spezifisch verschiedene Grundprinzipien der Willensbestimmung in Anschlag bringen lassen. Dies zugestanden wird nach seinen Worten die „Ungleichartigkeit der Bestimmungsgründe (der empirischen und rationalen) ... durch diese Widerstrebung einer praktisch-gesetzgebenden Vernunft, wider alle sich einmengende Neigung, durch eine eigentümliche Art von Empfindung, ..., nämlich durch das Gefühl einer Achtung ... so kenntlich gemacht und so gehoben und hervorstechend",

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contradictorisch entgegengesetzt seyn. Allein wir haben noch außer dem Gegentheil, noch einen Gegensatz des Widerspiels, welches in der Philosophie noch wenig untersucht ist." (Herv. im Text). Cf. zu dieser Bezeichnung. R 4309, R 4706, R 6206 u.ö. Dieses Gesetz formuliert Kant wie folgt: „hl allen natürlichen Veränderungen der Welt wird die Summe des Positiven, in so feme sie dadurch geschätzt wird, daß einstimmige (nicht entgegengesetzte) Positionen addiert und real entgegengesetzte von einander abgezogen werden, weder vermehrt noch vermindert." (Negative Großen, A 50). Dieses Gesetz lautet: „Alle Realgründe des Universums, wenn man diejenige summiert, welche einstimmig sein und die von einander abzieht die einander entgegengesetzt sein, geben ein Fazit, das dem Zero gleich ist." (Negative Grüßen, A 56). Die Benennung des Gesetzes stammt von mir (P.K.).

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daß sich jeder der Verbindlichkeit eines reinen praktischen Vernunftgesetzes bewußt werde.79 Es gehört zu den zentralen Annahmen Kants, daß sich das Verhältnis der beiden praktischen Grundprinzipien und damit von subjektiven und objektiven Gründen des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln (die Maximen sind) unter bestimmten Bedingungen in ein Zwangsverhältnis verkehren kann. Das kommt auch in den späten Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre noch zur Sprache, wo sogar die Rede von einem wechselseitig entgegengesetzten Selbstzwang ist.80 Doch gilt es auch für die äußerliche Nötigung in Rechtsverhältnissen, deren Rechtfertigung Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre zu geben versucht. Wenn sich im Bewußtsein der Pflicht und im Gefühl der Achtung vorm Gesetz (bzw. im Bewußtsein eines moralischen Zwangs, sei dieser nun der Selbstzwang oder der Rechtszwang) die Realopposition zwischen den praktischen Grundprinzipien artikuliert, dann ist leicht zu verstehen, warum die Lehre vom Faktum der Vernunft und die Achtungslehre für Kant schon früh eine besondere systematische Bedeutung besaßen. Ohne ein Bewußtsein der Pflicht und damit ohne Achtungsbewußtsein könnten wir uns des Sittengesetzes, d.i. des Gesetzes einer reinen noumenalen Realität, gar nicht bewußt werden. (2) Wenn eine Realopposition nur unter der Voraussetzung auftreten kann, daß die einander entgegengesetzten Realitäten in einem Subjekt vereinigt sind, dann hat das einschneidende Konsequenzen für die angedeutete Interpretation des Pflichtbewußtseins. Ist das Pflichtbewußtsein nämlich das Bewußtsein einer Realopposition zwischen zwei Bestimmungsgründen des Willens, dann muß geradezu vorausgesetzt werden, daß es Bestimmungsgründe des Willens jedenfalls eines Subjekts sind. Die Dualität der beiden praktischen Grundprinzipien fuhrt auf diese Weise keineswegs dazu, den Menschen, indem man ihn als „Bürger zweier Welten" betrachtet, zwischen verschiedenen Welten zu zerreißen, sondern umgekehrt: die Verschiedenheit der Welten kann überhaupt nur unter der Voraussetzung der Einheit des Subjekts zum Ausdruck kommen.81 (3) Ebenso wichtig wie der Umstand, daß die beiden praktischen Grundprinzipien in bestimmten Fällen in eine Realopposition treten (die als Zwang 79

80 81

KpV, A 165. Cf.A/ÄTL,A3Anm. In Teilen der Literatur wird das Moment der Differenz zwischen noumenaler und phänomenaler Welt zuungunsten des Einheitsmoments betont. Cf. z.B.: Moritz (1965), 412-429, aber auch: Lauener (1981), 243-264.

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bewußt wird), ist der Umstand, daß beide Prinzipien nicht eo ipso in Opposition stehen.82 Da beide Prinzipien nicht „so fort" einander entgegengesetzt sind, wird auch für Kants Moralphilosophie die Frage entscheidend, die sich ganz allgemein im Hinblick auf das Auftreten eines Oppositionsverhältnisses zwischen Realitäten stellt, nämlich unter welchen Bedingungen eine solche Realopposition überhaupt Zustandekommen kann. Auch hierauf gibt Kant eine klare Antwort: „Das gerade Widerspiel des Prinzips der Sittlichkeit ist: wenn das der eigenen Glückseligkeit zum Bestimmungsgrunde des Willens gemacht wird, wozu, wie ich oben gezeigt habe, alles überhaupt gezählt werden muß, was den Bestimmungsgrund, der zum Gesetz dienen soll, irgend worin anders, als in der gesetzgebenden Form der Maxime setzt."

Dieser Widerstreit, so fährt Kant fort, „ist aber nicht bloß logisch, wie der zwischen empirischbedingten Regem, die man doch zu notwendigen Erkenntnisprinzipien erheben wollte, sondern praktisch"

und, wie man hinzuzufügen hätte, einer zwischen Gut und Böse.83 (4) Auch der mit dem Gedanken der Realopposition verbundene ontologische Aspekt wird in Kants Moralphilosophie ausreichend berücksichtigt. Eine Realopposition im Praktischen liegt dann vor, wenn der reine Wille seine Wirkungen nicht voll ausüben und zeigen kann, weil Gegenkräfte ihn daran hindern. Aber daß die Wirkungen ausbleiben, bedeutet nicht, daß auch die (noumenale) Realität des Willens mehr oder weniger zu bestehen aufhört. Der reinen (noumenalen) Realität nach bleibt der Wille stets in seiner ganzen Existenz und Kraft erhalten, auch wenn er nicht in allen Fällen seine Tätigkeit, wie Kant es einmal ausgedrückt hat, „exseriert".84

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„Aber diese Unterscheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht so fort Entgegensetzung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, so bald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen." (KpV, A 166). Cf. KpV, A 61/62. (Cf. auch: Rel, B 50/51, wo Kant die Behauptung aufstellt, daß das Prinzip der Selbstliebe, als Prinzip aller unserer Maximen angenommen, die Quelle des Bösen und damit der Realopposition zum sittlich guten Willen ist) Man konnte auch argumentieren, daß der Widerstreit im Sinne der Realopposition synthetisch sein muß und hätte damit zugleich eine Erklärung für Kants Behauptung, daß der kategorische Imperativ, der sich auf das Verhältnis zwischen subjektiven und objektiven Gründen des Wollens bezieht, ein synthetisch-praktischer Satz a priori ist Cf. R 3856 (1760-68?): ,,(...) Kan man auch in Ansehung des (moralisch) Bösen eben so aus freyem Vorsatz bestimmt seyn, weil der reine Wille doch immer bleibt und also gar nicht gebunden werden kan, aber seine Thatigkeit nicht immer exserirt" - „Exserieren" von lat: exsero: losmachen, erlösen, befreien; offenbaren, zeigen, fühlen lassen.

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(5) Die lex isonomiae und die lex aequilibrii rationum sichern in der theoretischen Philosophie die Auszeichnung des Noumenalen vor dem Phänomenalen. Auch in der praktischen Philosophie fällt ihnen zum Teil eine vergleichbare Funktion zu. Mit Hilfe des Begriffs des reinen Willens konstruiert Kant ein ideales System (die moralische Welt), das sich erst dann in ein Rechts- und Ethiksystem spezifiziert, wenn Störungen berücksichtigt werden müssen, die (gemessen am idealen System) zu Abweichungen und Veränderungen fuhren (und genau unter diesem Programm steht die Metaphysik). Um den Status des idealen Systems (als Fond maximaler Realität) zu erhalten, muß (in der Theorie) unterstellt werden, daß (erstens) jede Abweichung und Veränderung jederzeit eine gleich große entgegengesetzte Abweichung und Veränderung hervorruft (lex isonomiae), so daß (zweitens) die Summe aller einander entgegengesetzten Realitäten am Ende = 0 ist (lex aequilibrii rationum). Dies setzt voraus, daß nicht nur die Abweichung vom idealen System beurteilt wird, sondern auch die Gründe der Abweichung einbezogen werden. Theoretische Motive dieser Art stehen hinter Kants Triebfederlehre. Dies tritt ganz unverhüllt in der Rechtslehre zutage, wo es zu einer direkten Anwendung der beiden metaphysischen Prinzipien kommt und Kant selbst von der „Analogie mit dem Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung" bei der „Gemeinschaft der Glieder eines gemeinen Wesens nach Regeln des Rechts" spricht.85 Zu jedem Grund der Abweichung vom Gesetz, die auf die Freiheit anderer störend einwirken könnte, wird ein Gegengrund hinzugesetzt, der geeignet ist, den ersten Grund zu neutralisieren. Bei der Rechtslehre geht es darum, einen Weltzustand zu konstruieren, in dem alle (im Hinblick auf den reinen Willen) einschränkenden Gründe durch Gegengründe (äußere Zwänge) neutralisiert werden und dadurch reine praktische Vernunft uneingeschränkt hervortreten kann.86 Wenn man unter A die Sittlichkeit als Grund versteht und unter B einschränkende Gegengründe (die dazu führen, daß der Effekt, den die Sittlichkeit allein hätte, verhindert wird), dann stehen A und B in Realopposition: ( -B). Die Aufgabe der Rechtslehre besteht darin, einen zu B entgegengesetzten Grund B' zu setzen, der wiederum die Wirkung von B aufhebt, also einen Zustand herzustellen, in dem gilt: (A-(B-B')), was gleichbedeutend ist mit A-0 = A. Dieses A kann nun entweder die Sittlichkeit selbst 83 86

Cf.AT(/,B450undA/&R£,,AB37. Cf. dazu: Renting (1984), der Rechtspflichten mit Kant als Schuldigkeitspflichten interpretiert und dazu erklärt: „Schuldigkeiten sind "negative Größen', sind Defizite, die durch entsprechende Ausgleichsleistungen auf Null zu bringen sind, Gleichgewichtsstörungen vergleichbar, die nach einer Restabilisierung verlangen." (79).

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als Grund oder irgendein anderer Grund sein, der exakt die gleichen Wirkungen hat wie der reine sittliche Grund. Davon unterschieden ist die ethische Triebfederlehre. Die Achtung fürs Gesetz beruht nicht auf der Idee einer Gleichheit von Grund und Gegengrund, sondern auf der Unendlichkeit des reinen Willens. Zu einem gegebenen (im Hinblick auf den reinen Willen und seine Folgen) einschränkenden Grund wird nicht ein Gegengrund hinzugesetzt, der so bestimmt ist, daß er den gegebenen Grund (im Hinblick auf seine Folgen) neutralisiert. Vielmehr muß die Sittlichkeit selbst als Grund so stark sein, daß sie alle Gegengründe überwiegt. Für die Bestimmung der Größe des sittlichen Grundes hat dies eine schwerwiegende Folge. Während die Rechtslehre die neutralisierenden Gegengründe in genauer Weise bestimmen kann (als die negative Größe der Größe des gegebenen Grundes) und dabei endliche Größen erhält, muß in der Tugendlehre die Größe des sittlichen Willens im Verhältnis zu den Gegengründen anders bestimmt werden. Ist der reine Wille A und der einschränkende Gegengrund B, so muß die Größe von A im Verhältnis zu B aus der Gleichung ( -B) = A abgeleitet werden. Diese Gleichung gilt nur, wenn der Quotient aus B und A = 0 ist, und dies ist unter der Voraussetzung, daß B größer als 0 ist, nur dann der Fall, wenn A unendlich groß ist. (Ist B dagegen = 0, dann kann A durchaus eine bestimmte endliche Größe haben.) Die Achtung fürs Gesetz richtet sich auf die Vorstellung von der Größe eines Grundes, im Verhältnis zu dem alle anderen Gründe klein sind. Damit sind die Perspektiven einer Interpretation von Kants Dualitätsthese aufgezeigt worden, die sie ernst zu nehmen und ihr in ihrem theoretischen Potential gerecht zu werden versucht. Diese Perspektiven müssen nun ausgearbeitet werden. Allerdings stellt sich dabei eine zusätzliche Aufgabe. Alle bisherigen Überlegungen zum Konzept der Realopposition orientierten sich am dynamischen Modell von Kräften und Gegenkräften, die im Raum wirken und sich wechselseitig einschränken können. Die Orientierung an diesem Modell ist insofern berechtigt, als Kant selbst darauf verweist, daß der Raum mit seinen verschiedenen Richtungen den Gedanken der Realopposition am anschaulichsten repräsentiert und darin zugleich die Grundlage von Analogien für alle anderen Bereiche bildet, in denen dieser Gedanke Anwendung findet. Doch kann das auf Dauer nicht von der Aufgabe entlasten, das vorgestellte Konzept der Realopposition in die Theorie der Abweichung einzubetten, deren Grundzüge entwickelt worden sind. Es muß also der Versuch gemacht werden, auf die Gründe, von denen das Fürrichtighalten von praktischen Regeln abhängt, das Konzept der Realopposition anzuwenden und dabei insbesondere die ver-

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schiedenen Aspekte aufzunehmen, auf die sich die zuletzt genannten fünf Thesen beziehen. In der Tat wird sich zeigen, daß Kant zwischen zwei verschiedenen Arten von Gründen des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln unterscheidet, daß auf der Differenz zwischen diesen beiden Arten von Gründen auch die Differenz zwischen dem Prinzip der Selbstliebe und dem Prinzip der Sittlichkeit87 beruht und daß zwischen beiden Prinzipien unter bestimmten Bedingungen ein Verhältnis der Realopposition besteht. Umgekehrt ergibt sich aus der Anwendung des Konzepts der Realopposition, daß bei der subjektiven Betrachtung des Willens, die die eigentliche Aufgabe einer Metaphysik der Sitten ist, die Frage nach der Kraß des reinen (autonomen) Willens im Vordergrund steht, sich gegenüber allen einschränkenden Gründen durchzusetzen. Nur wenn sich am Ende zeigen läßt, daß dem in der Idee gedachten, reinen Willen diese Kraft zukommt, d.h. daß dieser Wille nicht nur die Eigenschaft der Autonomie, sondern auch die der Autokratie besitzt, läßt sich überhaupt sinnvoll von einer Metaphysik der Sitten sprechen. B. Beweggrund und Triebfeder Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir noch einmal zur Analyse des Maximenbegriffs zurückkehren. Die vollständige Analyseformel der Maxime lautete: aus einem Grund R will ich den Zweck S und daher gilt: (PRj*W*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich".

Die Formel setzt sich aus zwei Teilen zusammen, wobei der zweite Teil eine praktische Regel des Typs (PR!*W*) „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich"

darstellt, der erste Teil hingegen die Bestimmungsgründe enthält, mit denen die praktische Regel insofern verknüpft sein muß, als sie beansprucht, (wenigstens) assertorisch gültig zu sein. Was nun die Bestimmungsgründe betrifft, mit denen die praktische Regel im Fall der Maxime verknüpft sein muß, so unterscheidet Kant in der QMS ei87

Beide stehen sich als Prinzipien der obersten subjektiven Zwecksetzung gegenüber: das Prinzip der Selbstliebe erhebt die eigene Glückseligkeit zum obersten Zweck bei der Nehmung von Maximen der Zwecke, das Prinzip der Sittlichkeit die Tugend und vermittelt über die Tugend das höchste Gut.

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nerseits zwischen Triebfedern und Beweggründen, andererseits zwischen subjektiven und objektiven Zwecken, wobei die zweite Unterscheidung auf der ersten beruht: „Der subjektive Grund des Begehrens ist die Triebfeder, der objektive des Wollens der Bewegungsgrund; daher der Unterschied zwischen subjektiven Zwecken, die auf Triebfedern beruhen, und objektiven, die auf Bewegungsgründen ankommen, welche für jedes vernünftige Wesen gelten."88

Für Kant stehen Triebfedern und subjektive Zwecke zwar in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis, sie sind aber nicht identisch. Unter einer Triebfeder versteht Kant den subjektiven Grund, von dem abhängt, ob ein Zweck gewollt wird oder nicht. Ein Zweck ist dann subjektiv, wenn sein Gewolltwerden einzig und allein auf einer Triebfeder beruht. Demgegenüber sind objektive Zwecke Zwecke, die aus Gründen gewollt werden, „welche für jedes vernünftige Wesen gelten", und solche (objektiven) Gründe nennt Kant im Unterschied zu Triebfedern Beweggründe. Triebfedern und Beweggründe sind also Bestimmungsgründe für Regeln des Wollens von Zwecken. Ganz unabhängig davon, aus welchen Gründen Zwecke gewollt werden und ob sie dementsprechend subjektiv oder objektiv sind, sind Zwecke (qua Zwecke) objektive Gründe der Selbstbestimmung.89 Die Unterscheidung zwischen Triebfedern und Beweggründen gilt in der Kantforschung als heikles Kapitel.90 Denn allzu unklar ist Kants eigener Kommentar zu ihr und allzu schwach sind die psychologischen und anthropologischen Voraussetzungen, die mit ihr verknüpft sind. Dennoch läßt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen mit der Unterscheidung ein guter M 89

90

GMS,BA 63/64. Für Kant ist mit der Unterscheidung zwischen Triebfeder und Beweggrund, sowie zwischen subjektivem und objektivem Zweck noch eine weitere Unterscheidung verbunden, nämlich die zwischen formalen und material«! praktischen Prinzipien. Wiederum in der GA/S heißt es dazu: „Praktische Prinzipien sind formal, wenn sie von allen subjektiven Zwecken abstrahieren; sie sind aber material, wenn sie diese, mithin gewisse Triebfedern, zum Grunde legen." (GMS, BA 64). Formale Prinzipien zeichnen sich vor materialen Prinzipien somit einzig und allein dadurch aus, daß in ihnen von allen subjektiven Zwecken, nicht aber von allen Zwecken schlechthin abstrahiert wird. Auch formale Prinzipien können somit Zwecke enthalten. Allerdings müssen diese Zwecke objektiv sein, d.i. sie dürfen nicht auf Triebfedern beruhen. Die Frage ist jedoch, in welchem Verhältnis solche formalen Prinzipien zu Maximen stehen. Denn folgt man einem Hinweis, den Kant in der Religionsschrift gibt, so scheint für Maximen geradezu charakteristisch zu sein, daß sie auf Triebfedern gegründet sind und insofern allemal subjektive Zwecke enthalten. Anders als in der GMS wird dort die Triebfeder selbst sogar als „Materie der Maximen" bezeichnet. (Cf. Rel, B 34). Verhielte es sich tatsächlich so, dann hätte das zur Folge, daß formale praktische Prinzipien nicht zu Maximen werden können, ohne daß dadurch zugleich Triebfedern aufgenommen werden müßten. Cf. Paton (1962), 66-69.

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Sinn verbinden. Maximen sind praktische Regeln, die subjektiv für richtig gehalten werden und daher stets mit Gründen verknüpft sein müssen. Nur unter der Bedingung, daß praktische Regeln subjektiv für richtig gehalten werden und assertorisch gültig sind, können sie reale Bestimmungsgründe der freien Willkür, damit Ursachen von Handlungen in der Sinnenwelt und insofern eigentlich allererst praktisch sein. Zugleich besteht jedoch eine kategoriale Differenz zwischen der (objektiven) Richtigkeit oder Falschheit von praktischen Regeln und dem (subjektiven) Fürrichtighalten oder Fürfalschhalten dieser Regeln. Nur aufgrund dieser Differenz ist es möglich, daß praktische Regeln, die (objektiv) richtig sind, (subjektiv) für falsch gehalten werden können und umgekehrt.91 Da sowohl für die (objektive) Richtigkeit wie für das (subjektive) Fürrichtighalten einer praktischen Regel erforderlich ist, daß die Regel mit Gründen verknüpft ist, folgt aus der angenommenen kategorialen Differenz zwischen der Richtigkeit und dem Fürrichtighalten von praktischen Regeln, daß wir imstande sein müssen, zwischen objektiven Gründen (der Richtigkeit) und subjektiven Gründen (des Fürrichtighaltens) zu unterscheiden.92 Läßt sich 91

92

Cf. Logik Dohna-Wundlacken, AA 24.2, 738: „Eine Regel, die das Subjekt sich zum Prinzip macht, heißt Maxime. So machen sich viele Menschen eine Regel, die objektiv falsch ist, subjektiv zur Maxime." Mit der Unterscheidung zwischen der (objektiven) Richtigkeit und dem (subjektiven) Fürrichtighalten von praktischen Regeln ist bei Kant auch die Unterscheidung zwischen der Legalität und der Moralität von Handlungen verbunden. Eine Handlung ist legal, wenn sie lediglich dem Gesetz gemäß, nicht jedoch auch um des Gesetzes willen geschieht. Geschieht sie hingegen um des Gesetzes willen, so ist sie nicht bloß legal, sondern besitzt zugleich einen moralischen Wert: „Das Wesentliche alles sittlichen Werts der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme. Geschieht die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines Gefühls, welcher Art es auch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde, mithin nicht um des Gesetzes willen: so wird die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten." (Cf. KpV, A 126/ 127. Herv. Kant. Cf. auch: Rel, B 23/24 u.ö.). Kant hat den Unterschied zwischen Legalität und Moralität gelegentlich auch damit erklärt, daß eine Handlung legal ist, wenn sie nur nach dem Buchstaben des Gesetzes, dagegen moralisch, wenn sie auch nach dessen Geist erfolgt Für die Differenz zwischen Legalität und Moralität liefert der Zweckbegriff den entscheidenden Schlüssel. Eine Handlung (eine Absicht oder Maxime) besitzt dann keinen Wert, wenn sie aus einem anderen Grund als dem für richtig gehalten wird, der in dem Wollen eines objektiven Zwecks besteht. In diesem Fall kann die Handlung (die Absicht oder Maxime) durchaus mit dem Gesetz übereinstimmen. Die Gründe, aus denen die Handlung (die Absicht oder Maxime) für richtig gehalten wird, sind jedoch nicht so beschaffen, daß durch sie auch das Gesetz, mit dem die Handlung (die Absicht oder Maxime) übereinstimmt, für richtig gehalten werden kann. Zwischen der Richtigkeit einer praktischen Regel und den Gründen ihres Fürrichtighahens kann sich also eine Diskrepanz auftun, auf die sich das Begriffspaar von Legalität und Moralität bezieht. Diese Diskrepanz besteht nicht so sehr darin, daß eine richtige praktische Regel für falsch gehalten wird, sondern darin, daß eine richtige praktische Regel aus Gründen für richtig gehalten wird, die nicht vollständig und objektiv, die also gleichsam nicht die „wahren" sind. Es ist dann der (extreme) Fall denkbar, daß eine richtige praktische Regel, die zugleich subjektiv für richtig gehalten wird, gleichwohl unmoralisch ist Kant hat diesen Unterschied als einen des (moralischen) Werts angesehen. Eine praktische Regel, die ob-

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eine solche Unterscheidung erst einmal treffen, dann kann man auch den Fall in Erwägung ziehen, der es erlaubt, Kants Irrtumslehre auszubeuten, daß nämlich eine objektiv richtige praktische Regel aus Gründen für richtig gehalten wird, die nicht mit den objektiven Gründen übereinstimmen (was der „Überredung" entspricht). Dies wirft zwei Fragen auf. Man muß (1) aufzeigen, wie die subjektiven Gründe des Fürrichtighaltens beschaffen sein müssen, so daß die Gewißheit besteht, daß die für richtig gehaltene praktische Regel auch (objektiv) richtig ist, und man muß (2) klären, auf welche Weise sich überhaupt subjektive und objektive Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln unterscheiden lassen. Nun scheint die Antwort auf die erste Frage trivial zu sein. Denn es besteht genau dann die Gewißheit, daß eine praktische Regel, die subjektiv für richtig gehalten wird, auch objektiv richtig ist, wenn die Gründe, aus denen sie für richtig gehalten wird, die Gründe sind, auf denen ihre objektive Richtigkeit beruht. Diesen Zusammenhang hat Kant denn vermutlich auch im Sinn, wenn er betont, daß im Urteil der Vernunft das Gesetz jederzeit als der alleinige Grund der Willensbestimmung angesehen werden muß.93 Eine solche Antwort setzt aber voraus, daß sich subjektive und objektive Gründe des Fürrichtighaltens sicher voneinander unterscheiden lassen und das Kriterium für diese Unterscheidung jederzeit bei der Hand ist. Tatsächlich läßt sich jedoch nur schwer angeben, worin dieser Unterschied besteht. Nach unserer These versucht Kant, den Unterschied zwischen subjektiven Gründen des Fürrichtighaltens und objektiven Gründen der Richtigkeit von praktischen Regeln dadurch zu erfassen, daß er zwischen Triebfedern und subjektiven Zwekken auf der einen, Beweggründen und objektiven Zwecken auf der anderen Seite unterscheidet. Dieser Unterschied aber läßt sich nicht als ein intrinsischer interpretieren. Denn die Unterscheidung muß so zu treffen sein, daß prinzipiell auch der Fall möglich ist, in dem die subjektiven Gründe des Fürrichtighaltens mit den objektiven Gründen der Richtigkeit der praktischen Regel zusammenfallen. Nicht dadurch also unterscheiden sich subjektive Zwecke von objektiven, daß die subjektiven sich etwa auf das eigene Wohlbefinden, die objektiven hingegen auf die Idee des autonomen Willens beziehen. Der Unterschied könnte jedoch in einer quantitativen Bestimmung bestehen, näm-

93

jektiv richtig (legitim) ist und zugleich subjektiv für richtig gehalten wird, besitzt dann keinen moralischen Wert, wenn die subjektiven Gründe des Fürrichtighaltens selbst nicht objektiv sind. Cf. Rel, B 12: „Allein das moralische Gesetz ist für sich selbst, im Urteile der Vernunft, Triebfeder...".

Subjektive und objektive Bestimmungsgründe des Willens

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lieh darin, daß die subjektiven Gründe des Fürrichtighaltens und damit die auf Triebfedern beruhenden subjektiven Zwecke, wenn sie lediglich subjektiv sind, unvollständige Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln sind, dagegen vollständige, wenn sie mit den objektiven Gründen der Richtigkeit der Regeln zusammenfallen. Eine Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen des Fürrichtighaltens könnte bei diesem Interpretationsansatz dadurch Zustandekommen, daß subjektive Gründe des Fürrichtighaltens, die unvollständig sind, gleichwohl vollständig scheinen und als solche beurteilt werden. Die Möglichkeit einer Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen wäre dann letztlich in quantitativen Begriffen zu erfassen und zu erklären. Was aber ist der Maßstab dafür, daß subjektive Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln vollständig oder unvollständig sind? Offenbar kein anderer als der des Maximums. Denn ein Grund ist vollständig, wenn er das Maximum seiner Größe erreicht, und dieses Maximum ist erreicht, wenn durch den Grund eine Allheit von Folgen gesetzt wird. Ausdruck für dieses Maximum ist wiederum das Gesetz. Man kann Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln folglich nur dann als vollständige Gründe ansehen, wenn durch sie Regeln der Art: (PR3*N*) „für die freie Willkür (ausnahmslos) aller Subjekte ist bei (ausnahmslos) jeder Gelegenheit O die Handlung a notwendig tunlich",

d.h. praktische Gesetze begründet werden können. Als vollständige und damit zugleich objektive Gründe der Richtigkeit der Regel können sie in diesem Fall aufgefaßt werden, weil die Regel, die durch sie begründet wird, sich auf die freie Willkür schlechthin (ausnahmslos) aller Subjekte und auf schlechthin (ausnahmslos) jede Gelegenheit O bezieht, in der es möglich ist, die Handlung a zu tun. Gegen diese Interpretation ließe sich jedoch einwenden, daß es bislang nur um die Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln zu tun war, die Maximen sind, nicht um die des Fürrichtighaltens von praktischen Gesetzen. Für das Fürrichtighalten von Maximen aber mag das Wollen eines subjektiven Zwecks als Grund allemal ausreichend sein. Daraufwäre zu erwidern, daß die Frage, ob der Zweck, von dessen Gewolltwerden das Fürrichtighalten einer Maxime abhängt, ein subjektiver oder ein objektiver Zweck ist, sich sinnvoll erst stellen läßt, wenn man versucht, die Maxime zu einem praktischen Gesetz der Art (PR3*N*) zu verallgemeinern. Denn erst dann besitzt man einen Begriff von Vollständigkeit, der nicht mehr zu überbieten ist. Läßt sich die Maxi-

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

me nicht verallgemeinern, dann ist auch das Wollen des Zwecks, aufgrund dessen die Maxime für richtig gehalten wird, kein vollständiger Grund des Fürrichtighaltens und somit auch kein objektiver Grund der Richtigkeit der praktischen Regel. Läßt sich die Maxime dagegen zum Gesetz verallgemeinern, dann stellt sich wiederum die Frage, ob der subjektive Zweck, von dessen Gewolltwerden das Fürrichtighalten der Maxime abhängt, jederzeit einem objektiven Zweck (dem Bestimmungsgrund des Gesetzes) subordinierbar ist. Nur wenn dies der Fall ist, kann als sichergestellt gelten, daß die Maxime aus einem objektiven Grund für richtig gehalten wird. Die Möglichkeit, vom Gesetz des reinen Willens abzuweichen, beruht nach Kants Auffassung im Fall des menschlichen Willens darauf, daß sinnliche Triebfedern und subjektive Zwecke in die Maximen eines solchen Willens aufgenommen werden. Wenn die bisher angestellten Überlegungen zum Zusammenhang von Triebfeder und Zweck einerseits und subjektiven Gründen des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln andererseits richtig sind und wenn weiter gilt, daß - jedenfalls im Urteil der Vernunft - das Gesetz jederzeit und ganz allein Triebfeder ist, dann läßt sich der Schluß ziehen, daß nur dann die Gewißheit besteht, eine subjektiv für richtig gehaltene Maxime sei auch objektiv richtig, wenn gewiß ist, daß der in die Maxime aufgenommene subjektive (relative) Zweck einem gleichfalls in die Maxime aufgenommenen objektiven Zweck untergeordnet ist. Dieser objektive Zweck kann nur in Verbindung mit dem Gesetz bestimmt werden, das durch ihn begründet wird und mit ihm übereinstimmt.94 Ähnlich wie bei der Überredung und beim Irrtum, wo die Möglichkeit einer Abweichung des urteilenden Verstandes von seinen eigenen Gesetzen mit einer Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen des Urteils erklärt wird, läßt sich auch in der Metaphysik der Sitten die Abweichung des Willens von seinen eigenen Gesetzen damit begründen, daß subjektive und objektive Bestimmungsgrunde verwechselt und unvollständige Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln für vollständige Gründe (und damit für objektive Gründe der Richtigkeit) genommen werden. Als Ergebnis unserer Überlegungen kann festgehalten werden, daß die Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln im Wollen von Zwecken, genauer: in Regeln des Wol-

94

Kants Bezeichnung für diese Unterordnung aller subjektiven Zwecke unter den Zweck, der durch das Gesetz vorgegeben wird, lautet, daß der Mensch stets nach der Maxime handeln soll, durch die er sich der Glückseligkeit würdig erweist, d.i. nach der Maxime der Tugend.

Das Prinzip der Selbstliebe

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lens von Zwecken bestehen und daß daher der Zweckbegriffbei der Erklärung der Möglichkeit von unsittlichem Verhalten eine zentrale Rolle spielt.

3. Das Prinzip der Selbstliebe

A. Bedeutung und Stellung des Prinzips a) Der Titel aller subjektiven Bestimmungsgründe Nach Kant besteht das Prinzip der Selbstliebe darin, sich die eigene Glückseligkeit zum höchsten Bestimmungsgrund der Willkür zu machen.95 Jemand, der nach diesem Prinzip die Auswahl seiner Maximen trifft, wählt nur solche praktischen Regeln zu seinen Maximen, die dem gemeinsamen Zweck dienen, das eigene Glück zu befördern. Abgesehen von dem Begriff der Glückseligkeit, der einen besonderen Status besitzt und einer eigenen Betrachtung bedarf, beinhaltet das Prinzip der Selbstliebe zunächst zweierlei: (1) Das Prinzip setzt den Bestimmungsgrund einer Maxime nicht in eine objektive Vorstellung von einem Gegenstand des Willens, sondern in eine Empfindung von der „Annehmlichkeit, die das Subjekt von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet".96 Das Subjekt, das sich nach dem Prinzip der Selbstliebe zur Annahme von gewissen Maximen des Wollens von Zwecken entscheidet, verspricht sich von der Befolgung der aufgrund dieser Maximen der Zwecke für richtig gehaltenen praktischen Regeln in erster Linie nicht die Verwirklichung von objektiven Sachverhalten, sondern die Herbeiführung bestimmter subjektiver Zustände, und nur insoweit die begehrten subjektiven Zustände von der Existenz bestimmter Gegenstände oder objektiver Gegebenheiten abhängen, wird auch deren Verwirklichung zu einem Zweck des Handelns. (2) Der Bestimmungsgrund einer nach dem Prinzip der Selbstliebe angenommenen Regel des Wollens von Zwecken beruht insofern, genauer gesprochen, auf einer Relation zwischen Gegenstand und begehrendem Subjekt, die Kant in folgender Weise charakterisiert: die

93 96

Cf.Kpy,A40. Cf. ibd

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

„Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, so fern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts, weil sie von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt".97

Bestimmungsgrund ist also einerseits die Vorstellung eines Gegenstandes, weil von dessen Existenz die Lust des Subjekts abhängig ist, andererseits das Subjekt selbst, weil ohne dessen besondere Empfänglichkeit für bestimmte Gegenstände Lust nicht aufträte. Diese Empfänglichkeit kann nach Kant Jederzeit nur empirisch erkannt, und nicht für alle vernünftige Wesen in gleicher Art gültig sein".98

Maximen, die aufgrund von Regeln des Wollens von Zwecken für richtig gehalten werden, welche nach dem Prinzip der Selbstliebe gewählt werden, sind daher stets empirisch. Eine gewisse radikale Gestalt erhält das Prinzip der Selbstliebe jedoch erst dadurch, daß Kant noch zwei weitere Punkte hinzufügt. Er behauptet nämlich, daß (3) alle praktischen Prinzipien, die den Bestimmungsgrund des Willens in die Lust oder Unlust aus der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes setzen, „gänzlich von einerlei Art" sind und unter das Prinzip der Selbstliebe fallen99, und daß (4) alle Prinzipien, die den Bestimmungsgrund des Willens irgendworein anders setzen als in die gesetzgebende Form der Maxime, ihn in die Vorstellung eines Gegenstands des Willens und damit in die Lust oder Unlust aus der Vorstellung seiner Existenz setzen.100 Damit werden alle möglichen praktischen Prinzipien mit Ausnahme des formalen Prinzips der Sittlichkeit auf ein einziges Prinzip reduziert, eben das der Selbstliebe. Nun lassen sich Einwände gegen das Prinzip der Selbstliebe v.a. unter empirischen Gesichtspunkten vorbringen. Diese Einwände, die die empirische Adäquatheit des Prinzips betreffen, müssen Kants Fassung des Prinzips jedoch in spezifischer Weise verfehlen.101 Denn mit dem Prinzip der Selbstliebe for97

98 99 100 101

Cf. ibd. Cf.KpV.A39. Cf.KpV,A4l. Cf.KpV,A6l/62. Man denke nur an den Einwand von Hume (1962): „Der nächstliegende Einwand gegen die Hypothese der Selbstliebe geht dahin, daß, da sie dem landläufigen Empfinden und einem ganz unbefangenen Denken zuwiderläuft, die größte Kraftanstrengung der Philosophie erforderlich ist, um ein so

Das Prinzip der Selbstliebe

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muliert Kant bewußt ein extremes Prinzip, wobei für ihn methodische und theoretische Überlegungen im Vordergrund stehen, während die phänomenalen Gehalte der Selbstliebe, die Selbstliebe als psychologische Realität, zurücktreten. In Kants Theorie ist Selbstliebe der Titel für die subjektiven Gründe des Fürrichtighaltens von Maximen (der Zwecke). Kant hätte also ohne weiteres seinem Zeitgenossen Feder (oder einem anderen Empiristen) zustimmen können, der die Auffassung vertrat, daß die Aufgabe der allgemeinen praktischen Weltweisheit darin bestehe, die Prinzipien, nach denen Menschen handeln, die Triebe und Affekte, die sie bewegen, genau zu studieren und dabei soweit wie möglich Differenzierungen in der Beschreibung und Erfassung der Phänomene zu erzielen.102 Die Reduktion aller praktischen Prinzipien auf ein einziges Prinzip hätte gemessen an diesem Forschungsziel nur dann Sinn, wenn dieses Prinzip eine erklärende Kraft im Hinblick auf die Mannigfaltigkeit differenzierter Prinzipien entfalten könnte. Aber Kant teilt mit den Empiristen nicht die Voraussetzung: es geht ihm nicht ausschließlich um diejenigen Prinzipien, nach denen Menschen wirklich handeln, sondern um die, nach denen sie handeln sollen, und um die Frage, wie sich beide zueinander verhalten. Gemessen an diesem Ziel ist das Prinzip der Selbstliebe insofern eine theoretische Vereinfachung, als es (a) von Maximen ausgeht als den Prinzipien, nach denen der einzelne wirklich handelt, und (b) die subjektive Gültigkeit der Maximen letztlich von Gründen abhängig macht, die allein mit dem einzelnen und in seiner empirischen Einzelheit bestimmbaren Subjekt zu tun haben. Dabei unterstellt Kant lediglich, daß in jedem einzelnen Subjekt eine letzte Instanz für die Annahme oder Ablehnung eines Zwecks des Willens und damit für die Annahme oder Ablehnung von Regeln des Handelns angesetzt werden kann, die mit diesem Zweck übereinstimmen. Das Urteil über den positiven oder negativen Wert und damit über die Annahme oder Ablehnung von Zwecken richtet sich danach, ob die Wirklichkeit des Objekts für die Tätigkeit (das Lebensgefühl) des einzelnen förderlich ist oder nicht, und das Maß für diese Förderlichkeit oder Hinderlichkeit ist das Gefühl der Lust oder Unlust. Entscheidend ist also, daß Kant mit dem

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ungewöhnliches Paradoxon glaubhaft zu machen. Auch dem oberflächlichsten Beobachter ist klar, daß es Neigungen gibt wie Wohlwollen und Edelmut, Affekte wie Liebe, Freundschaft, Mitleid und Dankbarkeit. Diese Gefühle haben ihre eigenen Ursachen, Wirkungen, Objekte und Ablaufsformen, die durch gemeinsame Sprache und Beobachtung gekennzeichnet werden und von denen der egoistischen Affekte deutlich verschieden sind." (150/151). Einwände dieser Art wurden immer wieder gegen Kants Prinzip der Selbstliebe formuliert, so z.B. von Simmel (1905), 114-124 und von Moritz (1965), 420. Cf. Feder (1779), 188-193.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

Prinzip der Selbstliebe einen Grund der Annahme oder Ablehnung von Maximen identifizieren möchte, der mit dem Subjektiven schlechthin verbunden ist, also mit dem einzelnen Subjekt, das über einen Willen verfugt, sich Maximen der Zwecke und des Handelns bilden und insofern als letzter Adressat aller moralischen Forderungen angesehen werden kann.103 Dabei ist unter „subjektiv" hier zunächst nur zu verstehen: „auf die Bedingungen der Wirklichkeit bezogen", bezieht sich also auf eine modale Qualität. Welche psychologische oder anthropologische Realität ein solches Prinzip besitzt, welche Formen der Selbstliebe sich unterscheiden lassen, ob verschiedene Subjekte im Hinblick auf gleiche Gegenstände gleich oder verschieden empfinden, ob sie in ihrer Empfänglichkeit für bestimmte Vergnügungen durch die Erziehung beeinflußt sind, usf., sind Probleme der Spezifikation und für Kant von zweitrangiger Bedeutung. Auch bei dem Versuch, verschiedene oberste praktische Prinzipien nach der Art der Objekte des Wollens zu unterscheiden, handelt es sich nach Kants Auffassung lediglich um einen Aspekt einer solchen Spezifikation. Für Kant erklären sich die „Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Prinzips der Moral" gerade daraus, nicht gesehen zu haben, daß die Annahme von obersten praktischen Prinzipien, die sich auf Objekte des Wollens beziehen, letztlich von dem Prinzip der Selbstliebe abhängig ist. Diese Philosophen, so bemerkt er kritisch, „suchten einen Gegenstand des Willens auf, um ihn zur Materie und dem Grunde eines Gesetzes zu machen (welches alsdenn nicht unmittelbar, sondern vermittelst jenes an das Gefühl der Lust oder Unlust gebrachten Gegenstandes, der Bestimmungsgrund des Willens sein sollte) ... Nun mochten sie diesen Gegenstand der Lust, der den obersten Begriff des Guten abgeben sollte, in der Glückseligkeit, in der Vollkommenheit, im moralischen Gefühle, oder im Willen Gottes setzen, so war ihr Grundsatz allemal Heteronomie, sie mußten unvermeidlich auf empirische Bedingungen zu einem moralischen Gesetze stoßen: weil sie ihren Gegenstand, als unmittelbaren Bestimmungsgrund des Willens, nur nach seinem unmittelbaren Verhalten zum Gefühl, welches allemal empirisch ist, gut oder böse nennen konnten."104

Die Differenz zwischen Kant und dem Empiriker reicht jedoch noch tiefer und berührt eine Kernfrage der Moralphilosophie. Der Empiriker muß, wenn er die Prinzipien untersucht, nach denen Menschen faktisch handeln, entweder 103

104

In der Einleitung zur MS schreibt Kant über das Gefühl der Lust und Unlust: „Man nennt aber die Fähigkeit, Lust und Unlust bei einer Vorstellung zu haben, darum Gefühl, weil beides das bloß Subjektive im Verhältnisse unserer Vorstellung... enthält." (AB 2). KpV, A 112/113. Zwei Textverbesserungen der AA wurden übernommen.

Das Prinzip der Selbstliebe

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unterstellen, daß das Fürrichtighalten von praktischen Prinzipien jederzeit impliziert, daß sie auch richtig sind, die Unterscheidung zwischen (subjektivem) Fürrichtighalten und (objektiver) Richtigkeit von praktischen Regeln sich also sinnvoll gar nicht treffen läßt, oder eingestehen, daß er zu Aussagen über die Richtigkeit von praktischen Regeln rein aufgrund der Tatsache, daß sie von einigen oder vielleicht auch allen Menschen für richtig gehalten werden, nicht gelangen kann. Damit setzt er voraus, daß zwei grundsätzlich differente Prinzipien unterschieden werden können, von denen nur das eine - das subjektive Prinzip, das allem Fürrichtighalten zugrundeliegt - Gegenstand seiner Untersuchung bildet. Weil Kant demgegenüber an der Unterscheidung zwischen (subjektivem) Fürrichtighalten und (objektiver) Richtigkeit von praktischen Regeln festhält, ist es ihm möglich, praktische Prinzipien auch dann als falsch auszuzeichnen, wenn sie für richtig, und als richtig, wenn sie für falsch gehalten werden. Zugleich kann er gegenüber dem Empiriker nicht nur die Berechtigung einer eigenen Untersuchungsaufgabe, die sich mit den Prinzipien der (objektiven) Richtigkeit von praktischen Regeln beschäftigt, geltend machen, sondern auch darauf verweisen, wie wichtig es ist, die Verbindung von Gründen des Fürrichtighaltens und Gründen der Richtigkeit von praktischen Regeln aufzuklären. Diese Aufklärung aber ist auf empirischem Weg nicht zu leisten, sondern fällt in den Aufgabenbereich der Metaphysik. Die Metaphysik hat zu untersuchen, wie sich das Prinzip der Selbstliebe, das Titel aller bloß subjektiven Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln ist, zum Prinzip der Sittlichkeit verhält, das sich auf die objektiven Gründe der Richtigkeit solcher Regeln bezieht, und sie hat insbesondere aufzuzeigen, wie diejenigen subjektiven Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln beschaffen sind, die mit den objektiven Gründen wesentlich übereinstimmen.

b) Die Bedingung von praktischer Realopposition Kant hebt immer wieder hervor, daß das Prinzip der Selbstliebe unter bestimmten Voraussetzungen im realen Gegensatz zum Prinzip der Sittlichkeit steht. Man kann jedoch noch weiter gehen und sagen, daß das Prinzip der Selbstliebe bei näherem Zusehen auch die empirischen Bedingungen der Realopposition im Praktischen enthält. Gerade diese Eigenschaft erlaubt es Kant, das Prinzip der Selbstliebe als ein ästhetisches Prinzip (ein Prinzip der Sinnlichkeit) zu klassifizieren. Es ist dasjenige Prinzip, durch das, jedenfalls für

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

Menschen, praktische Prinzipien (epistemische) Wirklichkeit annehmen, und zwar vermittels der subjektiven Zwecke, auf die es sich bezieht. Nicht nur im theoretischen Bereich, auch im Bereich des Praktischen bedarf es einer empirischen Bedingung, um sich vorstellen zu können, daß eine Opposition zwischen Realitäten besteht, die als Gründe betrachtet werden. Um welche Bedingung es sich dabei handelt, deutet Kant in seiner Schrift über die Fortschritte der Metaphysik an. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist eine Kritik an Leibniz, und zwar in diesem Fall an dessen Interpretation des Satzes vom zureichenden Grund. Diese Interpretation erlaubt es nach Kants Ansicht gerade nicht, reale Gründe von Negationen zu denken. Nach Leibniz „würde der Schmerz nur den Mangel an Lust, das Laster nur den Mangel an Tugendantrieben, und die Ruhe eines bewegten Körpers nur den Mangel an bewegender Kraft zum Grunde haben, weil nach bloßen Begriffen Realität = a nicht der Realität = b, sondern nur dem Mangel = 0 entgegen gesetzt sein kann, ohne in Betrachtung zu ziehen, daß in der Anschauung, z.B. der äußern, a priori, nämlich im Räume, eine Entgegensetzung des Realen (der bewegenden Kraft) gegen ein andres Reale, nämlich einer bewegenden Kraft in entgegengesetzter Richtung [stattfinden kann], und so auch nach der Analogie, in der innem Anschauung, einander entgegengesetzte reale Triebfedern in einem Subjekt verbunden werden können, und die a priori erkennbare Folge von diesem Konflikt der Realitäten Negation sein könne; aber freilich hätte er zu diesem Behuf einander entgegenstehende Richtungen, die sich nur in der Anschauung, nicht in bloßen Begriffen vorstellen lassen, annehmen müssen..."105

Kant macht also erneut wie schon im Amphibolie-Kapitel der KrV darauf aufmerksam, daß eine Opposition zwischen Realitäten dann vorstellbar ist, wenn sie räumlichen Bestimmungen unterworfen sind, weil im Raum die Möglichkeit von entgegengesetzten Wirkungsrichtungen enthalten ist. Von besonderer Bedeutung ist nun, daß er diese Überlegung an der zitierten Stelle „nach der Analogie" auch auf die innere Anschauung überträgt. Auch in der inneren Anschauung können somit Triebfedern verbunden sein, deren Wirkungsrichtungen entgegengesetzt sind und deren Folge im Extremfall die totale, in anderen Fällen eine partiale Negation sein kann. Freilich läßt Kant im Dunkeln, worin die einander entgegengesetzten realen Triebfedern bestehen, die in der inneren Anschauung nach der Analogie mit den in entgegengesetzte Richtungen wirkenden Kräften in der äußeren Anschauung angenommen werden müssen. Doch besteht Anlaß zur Vermutung, daß diese realen Triebfedern mit (praktischer) Lust und Unlust gleichgeCf

portschritte, A 72/73. Bei dem in eckige Klammem gesetzten Teil des Zitats handelt es sich um einen Verbessenmgsvorschlag der AA.

Das Prinzip der Selbstliebe

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setzt werden können. In Analogie zum Raum würden damit Lust und Unlust unter zeitlichen Bestimmungen die Bedingung von praktischer Realopposition enthalten. Dies entspräche durchaus der Charakterisierung von Lust und Unlust (Vergnügen und Schmerz), die Kant bereits in der Schrift über die Negativen Größen, aber auch in späteren Schriften gegeben hat. Danach zeichnet sich Unlust nicht einfach durch einen Mangel an Lust aus. Vielmehr besitzt Unlust eine eigene Realität, in der sie als Grund (von Handlungen) wirksam und im Verhältnis zu (einer gleichzeitigen) Lust und deren praktischen Folgen einschränkend wirken kann. Das Verhältnis von (praktischer) Lust und Unlust ist dadurch bestimmt, daß sich beide wechselseitig Abbruch tun, und dieser Gegensatz läßt sich gerade nicht durch eine Reduzierung auf Vorstellungen begrifflicher Art erklären, sowenig wie sich der Unterschied der verschiedenen Gegenden im Raum allein durch Begriffe erfassen läßt.106 Zu empirischen Bedingungen der Möglichkeit von Realopposition aber werden (praktische) Lust und Unlust erst durch die zusätzliche Voraussetzung, daß alle Gegenstände des Wollens Lust- und Unlustvorstellungen unterworfen sein können. Ist diese Voraussetzung erfüllt, dann können auch alle Gegenstände des Wollens in eine praktische Realopposition treten. Daß (die jeweils zeitlich bestimmte) Lust und Unlust die empirischen Bedingungen der Möglichkeit von praktischer Realopposition enthalten, scheint schließlich Kants eigentliche These zu sein, wenn er behauptet, daß das Prinzip der Selbstliebe allen Prinzipien der Heteronomie übergeordnet ist. Das Prinzip der Selbstliebe stellt in dieser Hinsicht das (praktische) Gegenstück zur sinnlichen Anschauung vom Raum dar. Daß zwischen Gründen ein Verhältnis der Realopposition bestehen kann, bei dem sie sich in ihren Folgen wechselseitig einschränken, läßt sich damit auch auf das Fürrichtighalten von praktischen Regeln und dessen Gründe übertragen. Denn entscheidend für diese Übertragung ist, daß eine Möglichkeit besteht, Gründe, die für sich allein genommen zureichend sind, bestimmte Regeln für richtig zu halten, als solche auszuzeichnen, die durch andere Gründe teilweise oder ganz eingeschränkt werden können. Eine solche Möglichkeit ist gegeben, wenn die Gründe des Fürrichtighaltens, wie das Prinzip der Selbstliebe fordert, im Wollen von subjektiven Zwecken liegen und dieses Wollen sich zuletzt auf (jeweils zeitlich bestimmte praktische) Lust und Unlust zurückführen läßt. Insofern läßt sich durchaus verstehen, wie zwischen den 10

* Tiefer liegt dem noch die Behinderung oder Beförderung von Tätigkeit zugrunde. Das, was eine Tätigkeit behindert, muß selbst einen Grund haben. Also sind Lust und Unlust nur Indikatoren einer bestehenden Realopposition.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

(subjektiven) Triebfedern ein Verhältnis der Realopposition bestehen kann. Doch wenn sich das Prinzip der Selbstliebe auf die empirischen Bedingungen der Möglichkeit von praktischer Realopposition bezieht, dann stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis es zum Prinzip der Sittlichkeit steht. In der KpV wie in der Religionsschrift betont Kant, daß das Prinzip der Selbstliebe, wenn es zum obersten Prinzip der Willensbestimmung (d.i. zum obersten Bestimmungsgrund für Regeln des Wollens von Zwecken) gemacht wird, das gerade Widerspiel zum Prinzip der Sittlichkeit bildet.107 Auch spricht er immer wieder davon, daß die praktischen Regeln, die aus dem Prinzip der Sittlichkeit abgeleitet werden können, den Charakter von Imperativen annehmen, sobald ihnen in Gestalt der subjektiven Gründe, auf die sich das Prinzip der Selbstliebe bezieht, ein Hindernis (ein Widerstand) entgegentritt. Man muß also annehmen, daß Kant behaupten wollte, auch zwischen dem Prinzip der Sittlichkeit und dem Prinzip der Selbstliebe bestehe unter bestimmten Voraussetzungen eine Realopposition. Diese Annahme findet eine Stütze in einer Reflexion, in der Kant ausdrücklich formuliert, was man sich unter einer Realopposition im Praktischen vorzustellen hat: „Die reale opposition im practischen ist, wenn ich entweder den Zwecken oder blos der Gesetzgebenden Vernunft entgegen handle, folglich den effect, den sie als Bestimmungsgrund leisten würde, verhindere, d.i. ihr entgegen wirke."108

Somit liegt für Kant eine praktische Realopposition offenbar immer dann vor, wenn die Wirkung, die die gesetzgebende Vernunft (und gerade nicht bloß Lust oder Unlust) als (alleiniger) Bestimmungsgrund hätte, in irgendeiner Weise eingeschränkt oder verhindert wird, und dies ist dann der Fall, wenn man entweder den Zwecken der gesetzgebenden Vernunft oder auch bloß ihr selbst entgegenhandelt. Daß das Prinzip der Sittlichkeit und das Prinzip der Selbstliebe in der Tat unter bestimmten Voraussetzungen in Realopposition zueinander stehen, läßt sich daran erkennen, daß der Wille mit seinen Maximen nicht immer dem Gesetz folgt. Im Gesetz wird insofern ein Maximum gedacht, als durch die Regel eine gewisse Handlung a für (ausnahmslos) alle Willkür und für (ausnahmslos) jede Gelegenheit für tunlich erklärt wird. Eine Einschränkung dieses Maximums findet statt, sobald Ausnahmen im Hinblick auf die Subjekte der Willkür und/oder die Gelegenheit zugelassen werden. Die Maxime des einzelnen Subjekts kann dann nicht mehr aus dem Gesetz selbst abgeleitet werden, son107 108

Cf. KpV, A 61/62; Rel., B 50/51. Cf. R 6959 (l770-78?).

Das Prinzip der Selbstliebe

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dem nur noch aus dessen kontradiktorischem Gegenteil, d.i. aus einer gleichsam besonderen „Regel".109 Lautet die Maxime etwa: „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Unterlassung der Handlung a tunlich"

so kann diese Maxime, wenn überhaupt, nicht aus dem Gesetz: „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a tunlich"

sondern nur noch aus der Regel: „für die Willkür einiger (fast aller) Subjekte ist bei einigen (fast allen) Gelegenheiten die Unterlassung der Handlung a tunlich"

abgeleitet werden. Eine Realopposition liegt in diesem Fall vor, weil angenommen werden muß, daß der Grund des Fürrichtighaltens des Gesetzes durch einen anderen Grund teilweise eingeschränkt wird, beide Gründe also jeweils nur geeignet sind, das kontradiktorische Gegenteil des Gesetzes, d.i. eine besondere Regel für richtig zu halten. Wie man sich erinnert, ist dies zugleich der Fall des dem Menschen möglichen Bösen, bei dem die Maxime dem Gesetz nur „ermanglungsweise" entgegengesetzt ist.110 Da die Gründe des Fürrichtighaltens in Regeln des Wollens von Zwecken bestehen, ließe sich auch sagen, daß im Fall des Menschlich-Bösen das Wollen des (objektiven) Zwecks, aufgrund dessen das Gesetz für richtig gehalten wird, durch das Wollen eines anderen (subjektiven) Zwecks eingeschränkt wird. In Realopposition steht insofern das Wollen von Zwecken (bzw. die Zwecke selbst), und die Frage scheint nur zu sein, unter welchen Voraussetzungen eine solche Realopposition möglich ist. Gerade diese Frage stellt uns jedoch vor ein Dilemma. Denn auf der einen Seite zeichnet sich das Prinzip der Sittlichkeit gerade dadurch aus, daß es die 109

110

Das Konzept der Realopposition wird also gebraucht, um von allgemeinen zu besonderen Urteilen zu kommen und eine Erklärung für sie zu finden. Die Rede von einer besonderen „Regel" (im Sinne eines besonderen Urteils) ist etwas gezwungen; gemeint ist eine Regel unter einer besonderen Bedingung. Wird diese Bedingung (die im Wollen besonderer Zwecke besteht) nicht genannt, dann hat die „Regel", die eigentlich lauten müßte: „für die Willkür aller Subjekte, die den besonderen Zweck A wollen, ist die Handlung a tunlich" (und es gibt einige Subjekte, die den Zweck A wollen), die Form: „für die Willkür einiger Subjekte ist die Handlung a wirklich tunlich". Es läßt sich aber auch der Fall denken, in dem das Gesetz nicht nur teilweise, sondern ganz eingeschränkt wird und in sein konträres Gegenteil verwandelt wird. Die Maxime eines solchen teuflisch-bösen Wesens wird dann nicht aus der Regel: „für die Willkür einiger Subjekte ist bei einigen Gelegenheiten O die Unterlassung der Handlung a tunlich" abgeleitet, sondern aus dem „Gesetz": „für die Willkür aller Subjekte ist bei jeder Gelegenheit O die Unterlassung der Handlung a tunlich" - ein Gesetz, das nach Kant ganz und gar unmöglich ist, weil es sich selbst aufhebt, und das doch paradoxerweise in der Idee gedacht werden muß.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

Bedingung angibt, unter der eine Realopposition im Praktischen nicht auftreten kann. Die Idee eines reinen Willens ist, auch in seiner Vielheit gedacht, die Idee eines Willens, der sich selbst (und bei gedachter Vielheit: untereinander) niemals widerstreiten kann. Indem er die einheitliche Bedingung enthält, aus der sich alle Maximen ableiten lassen, ist die Idee eines solchen Willens zugleich die Idee eines Willens, der in uneingeschränkter oder, wie man auch sagen kann, in maximaler Weise Wille ist. Auf der anderen Seite muß man die Idee eines reinen Willens in Beziehung setzen zu derjenigen Sphäre, in der das Prinzip der Selbstliebe herrscht und intern wie extern betrachtet im Willen Realopposition auftreten kann. Diese Beziehung scheint auf den ersten Blick selbst wiederum durch das Auftreten einer Realopposition geprägt zu sein, was jedoch unvereinbar mit Kants Auffassung wäre, daß eine Realopposition nur unter Bedingungen auftreten kann, die in der Sinnlichkeit liegen.111 Zur Lösung dieses Dilemmas könnte man folgenden Weg einschlagen. Zunächst wäre zu untersuchen, ob sich die Schwierigkeit nicht im Grundsatz dadurch beheben ließe, daß man die Anforderungen, die Kant an das Auftreten von Realopposition knüpft, auf eine andere Weise bestimmt, als es die Darstellung des Amphibolie-Kapitels in der KrV nahelegt. Danach sollte eine Realopposition auch zwischen noumenalen und phänomenalen Realitäten auftreten können, wenn nur sichergestellt ist, daß deren Wirkungen allemal in der Sinnenwelt geschehen. Genau dies scheint Kant in der praktischen Philosophie auch anzunehmen. Nicht unbedingt die Gründe der Willensbestimmung, aber doch deren Folgen, d.i. in letzter Instanz die Handlungen, müssen den Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen sein und allemal in Raum und Zeit erfolgen. Im Hinblick auf die in der Sinnenwelt erfolgenden Handlungen kann ein Abbruch stattfinden, die realen Folgen des einen (noumenalen) Grundes können also durch einen anderen (phänomenalen) Grund aufgehoben werden.112 Solange nur die Folgen in der Sinnenwelt anzutreffen sind, muß nicht auch verlangt werden, daß

111 112

Es sei denn, man würde das Verhältnis zwischen beiden Prinzipien selbst wiederum durch das Prinzip der Selbstliebe bestimmt sehen. Die Handlungen in der Sinnenweh können entweder begangen oder unterlassen werden. Eine Realopposition darf allerdings nur dann angenommen werden, wenn das Unterlassen der Handlung (deren Negation) selbst auf einen realen Grund bezogen werden kann. Insofern ist Seels Hinweis, daß das oberste Prinzip aller hypothetischen Imperative, aber auch der kategorische Imperativ „als Regel der Vermeidung von Realpugnanz zwischen den Willensintentionen eines praktischen Subjekts" (165) bzw. der „Vermeidung der intersubjektiven Realpugnanz der Willensintentionen" aufzufassen ist, zutreffend. Cf. Seel (1989).

Das Prinzip der Selbstliebe

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beide Gründe der Sinnenwelt angehören müssen. Es genügt, daß einer der beiden Gründe unter die Bedingungen der Sinnlichkeit fallt. Dieser Ansatz zur Auflösung des Dilemmas hat jedoch unmittelbare Konsequenzen für die Schätzung der Größe des noumenalen Grundes. Denn dieser erreicht sein Maximum, wenn der ihm real entgegengesetzte sinnliche Grund wegfällt. Dazu muß man diesen (sinnlichen) Grund aber entweder selbst als ein Maximum vorstellen, im Verhältnis zu dem der noumenale (sittliche) Grund sich als unendlich groß darstellt. Oder man setzt voraus, daß auf der Ebene, auf der nach den Voraussetzungen eine Realopposition im Praktischen auftreten kann, selbst wiederum eine Realopposition auftritt, die all diejenigen Gründe neutralisiert, die das Wirksamwerden des Prinzips der Sittlichkeit in irgendeiner Weise behindern könnten. Es muß sich dann zu jedem Bestimmungsgrund des Willens, der (im Urteil) dem Bestimmungsgrund eines reinen Willens entgegengesetzt ist, ein Gegengrund hinzudenken lassen, so daß zwischen diesen Gründen ein Gleichgewichtsverhältnis besteht und der reine Wille seine Tätigkeit voll exserieren kann. Kant beschreitet beide Wege. Der eine Weg führt zur Tugendlehre und damit zur Theorie der Achtung fürs Gesetz als der Lehre von einer ästhetischpraktischen Größenschätzung des obersten Zwecks des reinen Willens. Der andere Weg führt zur Rechtslehre und damit zur Theorie eines Gleichgewichtszustandes unter den sich wechselseitig einschränkenden Partikularwillen.113 Im folgenden werde ich mich auf den ersten Weg konzentrieren, der zur Tugendlehre führt, und den anderen, zur Rechtslehre führenden Weg nicht weiter untersuchen. Für den ersten Weg ist charakteristisch, daß der Zweck, der aus einem sinnlichen Bestimmungsgrund gewollt wird, im Verhältnis zur Größe des Zwecks, der aus einem noumenalen Bestimmungsgrund gewollt wird, als verschwindend klein gedacht werden muß. Diese Bedingung ist dann erfüllt, wenn die maximale Größe des Zwecks, der aus einem sinnlichen Bestimmungsgrund gewollt werden kann, endlich ist und der Zweck, der aus einem noumenalen Grund gewollt wird, eine unendliche Größe besitzt. Die maximale Größe des Zwecks, der aus einem sinnlichen Grund gewollt werden kann, wird im Ideal der Glückseligkeit gedacht, mit dem wir uns daher zunächst beschäftigen müssen.

113

Bei der Betrachtung dieser Theoriestücke muß man sich bewußt halten, wo ihr Ursprung liegt, und man muß sich zudem der Hypothek erinnern, die auf ihnen in Gestalt bestimmter, noch kaum richtig durchschauter metaphysischer Voraussetzungen lastet.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

B. Das Ideal der Glückseligkeit a) Die Bedeutung des Ideals Die empirisch-bedingte praktische Vernunft findet ihren höchsten Ausdruck im Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit.114 Die Vernünftigkeit dieses Prinzips beruht indessen nicht nur darauf, daß es zum obersten Grundsatz in praktischen Syllogismen dient, mit deren Hilfe am Ende, nämlich vermittelt über Regeln des Wollens von Zwecken auf die Tunlichkeit oder Untunlichkeit bestimmter Handlungen für die eigene Willkür geschlossen werden kann. Vielmehr besitzt das Prinzip selbst, genauer der darin enthaltene Zweck der Glückseligkeit eine besondere Vernünftigkeit. Worin diese Vernünftigkeit besteht, verdeutlicht Kant in einer Anmerkung seiner Religionsschriß: „Wie Liebe überhaupt, so kann auch Selbstliebe in die des Wohlwollens und des Wohlgefallens (benevolentiae und complacentiae) eingeteilt werden, auch beide müssen (wie sich von selbst versteht) vernünftig sein. Die erste in seine Maxime aufnehmen, ist natürlich (denn wer wird nicht wollen, daß es ihm jederzeit wohl ergehe?). Sie ist aber sofern vernünftig, als teils in Ansehung des Zwecks nur dasjenige, was mit dem größten und dauerhaftesten Wohlergehen zusammen bestehen kann, teils zu jedem dieser Bestandstücke der Glückseligkeit die tauglichsten Mittel gewählt werden."115

Die Selbstliebe im Sinne des Wohlwollens gegen sich selbst ist also dann vernünftig, wenn einerseits der Zweck, auf den sie gerichtet ist, vernünftig konzipiert ist (als das größte und dauerhafteste eigene Wohlergehen), andererseits die Wahl der Mittel zur Erreichung dieses Zwecks (und seiner Bestandstücke) in vernünftiger Weise erfolgt (die tauglichsten Mittel gewählt werden). Daß die Wahl der Mittel zur Erreichung eines gewollten Zwecks auf vernünftige Weise zu erfolgen hat, bereitet dem Verständnis keine Schwierigkeiten. Wie aber steht es mit der vernünftigen Konzeption des Zwecks? Nach Kant schiebt sich vor jede Antwort auf die Frage, was dazu gehört, um glücklich zu sein, die Beobachtung, daß niemand glücklich ist, der sich nicht als glücklich beurteilt. Glücklich zu sein ist nicht allein eine Sache der 114

115

Cf. zur folgenden Interpretation des Glückseligkeitsbegriffs bei Kant: Schwemmer (1980), 78-105. Ich weiche jedoch von Schwemmer in entscheidenden Punkten ab. Insbesondere die von Schwemmer getroffene Unterscheidung zwischen einem allgemeinen Begriff der Glückseligkeit, der hinsichtlich der Art, wie Glückseligkeit hergestellt wird, unbestimmt bleibt, und zwei besonderen Begriffen der Glückseligkeit, die hinsichtlich dieser Art bestimmt sind, halte ich für verfehlt (cf. 78/79). Die Unbestimmtheit des Glückseligkeitsbegriffs beruht nach meinem Kantverständnis auf konzeptuellen Gründen, der Begriff läßt sich daher niemals realisieren. Rel., B 50 Anm.

Das Prinzip der Selbstliebe

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Empfindung, sondern ebenso eine Sache der Reflexion und bedarf als Maßstab eines Begriffs von Glück. „Man kann", schreibt Kant in einer Reflexion aus den 80er Jahren, „nicht glücklich sein, ohne nach seinem Begriffe von Glückseligkeit; man kann nicht elend sein, ohne nach dem Begriffe, den man sich vom Elend macht, d.i. Glückseligkeit und Elend sind nicht empfundene, sondern auf bloßer Reflexion beruhende Zustände. Vergnügen und Schmerz werden empfunden, ohne daß man den mindesten Begriff sich von ihnen machen könnte, denn sie sind unmittelbare Einflüsse auf das Bewußtsein des Lebens. Aber nur dadurch, daß ich die Summe meiner Vergnügen und Schmerzen in einem Ganzen zusammenfasse und das Leben nach der Schätzung derselben wünschenswert oder unerwünscht halte, dadurch, daß ich mich über diese Vergnügen selbst freue oder über den Schmerz betrübe, halte ich mich für glücklich oder unglücklich und bin es auch."116

Der Maßstab der Glückseligkeit liegt demnach nicht in dem Genuß aus der Befriedigung dieser oder jener Neigung, sondern in einem Begriff von der Summe aller eigenen Vergnügen und Schmerzen (Mißvergnügen). Nur ein solcher Begriff erlaubt es, einzelne Zustände im Hinblick auf ihre Zusammenstimmung mit einem Ganzen zu beurteilen und zum Gegenstand eines Wohlgefallens oder eines Mißfallens zu machen. Somit kann sich der einzelne nicht schon dann für glücklich halten, wenn es ihm gelingt, eine bestimmte Neigung zu befriedigen. Denn dieser Genuß kann - wie im Falle von Leidenschaften mit dem Preis erkauft sein, daß er mehr zum Unglück als zum Glück im Ganzen des eigenen Lebens beitragen könnte. Das Vergnügen aus der Befriedigung der Neigung muß vielmehr selbst gefallen, und dies kann es wiederum nur, wenn es mit der Summe aller Vergnügen und Mißvergnügen zusammenstimmt und die Balance zur Befriedigung anderer Neigungen hält."7 Der Begriff der Glückseligkeit ist der Begriff von der Summe aller Vergnügen und Mißvergnügen im Ganzen des eigenen Lebens. Als solcher ist er nicht aus der Erfahrung abgezogen, „nicht ein solcher, den der Mensch etwa von seinen Instinkten abstrahiert, und so aus der Tierheit in ihm selbst hernimmt". Vielmehr ist er die „bloße Idee eines Zustandes, welcher er den letzteren [den Zustand; P.K.] unter bloß empirischen Bedingungen ... adäquat machen will".118 Der Umstand, daß der Begriff der Glückseligkeit eine Jdee" ist und "* Cf. R 610 (1780-89). 117 An dieser Stelle kommt offenbar die reflektierende Urteilskraft ins Spiel. Das Wohlgefallen oder Mißfallen an einem bestimmten Vergnügen oder Mißvergnügen (daß dieses selbst vergnügt oder mißvergnügt) beruht auf einem Urteil darüber, ob es mit einem Ganzen des Vergnügens zusammenstimmt bzw. nicht zusammenstimmt. Auf dieses Ganze (einem Zustand im Ganzen des eigenen Lebens) kann man sich nur durch einen Begriff beziehen, eben den der eigenen Glückseligkeit. 118 ATt/, B 388.

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nicht ein empirischer Begriff oder eine einzelne sinnliche Vorstellung, begründet seinen Vernunftcharakter und erklärt die besonderen Eigenschaften, die Kant ihm zuschreibt. Wie sich gezeigt hat, sind Ideen Begriffe von einem Maximum, und genau dies scheint zunächst auch auf den Begriff der Glückseligkeit zuzutreffen. Zur „Idee der Glückseligkeit" gehört „ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande"119, sie ist das „Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet"120, sie ist das „Wohlbefinden aus der dauerhaften Befriedigung aller unserer Neigungen"121 oder einfach „das größte und immerwährende Wohlbefinden"122. Mag aus diesen Beispielen noch nicht hinreichend deutlich werden, in welcher Hinsicht der Begriff der Glückseligkeit Maximalbestimmungen enthält, so läßt Kant es in der KrV an der erwünschten Präzision in dieser Frage nicht fehlen: „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (so wohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauernach)."123

Die Größe des Wohlbefindens hängt somit von drei Faktoren ab: der Zahl der zu befriedigenden Begierden, dem Grad der Befriedigung und der Dauer dieses Zustande. Der Begriff der Glückseligkeit scheint der genau bestimmte Begriff von einem Maximum des Wohlbefindens im Hinblick auf alle drei Dimensionen zu sein, von denen die Größe des Wohlbefindens abhängig ist. Obwohl Kant nicht näher beschreibt, wie dieser Maximalbegriff gebildet wird, kann man sich durch eine genauere Analyse des Begriffs des Wohlbefindens doch erschließen, worauf es dabei besonders ankommt. Wohlbefinden ist ein Begriff, der sich auf das Verhältnis von Genuß (Befriedigung) und Begierde bezieht124, wobei die Größe des Wohlbefindens von dem Grad abhängt, 119

Cf.GA/S,BA46. Cf.ÄpF,A40. 121 Cf. R 6610 (1764-70?). 122 Cf. R 6206 (1783-84). 123 KrV, B 834. 124 Zu diesen Überlegungen: R 6584 (1764-68). Kant beschäftigt sich in dieser Reflexion mit den verschiedenen Idealen des höchsten Guts bei den „Alten". Wichtig in unserem Zusammenhang ist v.a. die folgende Stelle: „Das Wohlbefinden besteht aus der Verhältnis (sie) des Genusses zu den Begierden; wenn jener diesen gleich ist, so heißt es Zufriedenheit Die Zufriedenheit macht gerade ein Ganzes aus, und es ist einerlei, ob viel Genuß in solchem Verhältnis zu viel Begierden oder wenig Genuß zu wenig Begierden stehen. Das Übel besteht darin, daß der Zahler kleiner ist, und das Gute, daß er größer ist. Das Gute ist in seinem Minimum, wenn die Begierden die kleinsten und der Genuß ihnen gleich ist." 120

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in dem der Genuß der Begierde entspricht. Wenn man sich das Wohlbefinden durch den Quotienten aus Genuß und Begierde ausgedrückt denkt, - und die Reflexion 6584 deutet darauf hin, daß Kant es sich zu einer bestimmten Zeit so gedacht hat -, dann gilt offenbar, daß das Maximum des Wohlbefindens erreicht ist, wenn der Genuß der Begierde gleich ist, der Quotient also den Wert l annimmt. Diesen Zustand nennt Kant Zufriedenheit. Allerdings ist die Zufriedenheit noch nicht das Maximum an Wohlbefinden, auf das in der Idee der Glückseligkeit Bezug genommen wird. Der Quotient aus Genuß und Begierde drückt das Wohlbefinden nur in Hinsicht auf seine intensive Größe aus. In Hinsicht auf seine extensive Größe ist das Wohlbefinden offenbar die Summe aller Quotienten, die sich aus den verschiedenen Begierden eines Menschen und ihrer Befriedigung bilden lassen. Bezeichnet man diese Summe mit S, die Begierde mit bn, den Genuß mit gn, wobei gilt gn < bn, dann kann man für das Wohlbefinden folgende Summen-Formel angeben: S = tei/b, -i- g2/b2 + g3/b3 + ... + grt/b,,}. Der maximale Wert, den das Wohlbefinden erreichen kann, ist demnach n. Damit wäre ein Zustand beschrieben, in dem die Begierden (ihre Zahl) am größten sind und der Genuß ihnen gleichkommt. In der Formel bleiben freilich zwei Dinge noch unberücksichtigt. Zum einen spielt für das Wohlbefinden auch die Dauer des Genusses eine Rolle. Es bedürfte also genau genommen noch einer weiteren Variablen, durch die die protensive Größe des Genusses zum Ausdruck gebracht werden kann. Diese protensive Größe erreicht ihr Maximum, wenn der Genuß das ganze Leben andauert. Für unsere Zwecke genügt es jedoch, schon aufgrund der bisher erreichten Formel feststellen zu können, daß das Maximum an Wohlbefinden dann erreicht ist, wenn die größte Menge der Begierden auf Dauer vollständig befriedigt wird. Der entscheidende Ansatzpunkt für die Bildung eines Maximalbegriffs des Wohlbefindens ist die extensive Größe, also die Zahl der Begierden. Denn von der Gesamtzahl der befriedigten Begierden hängt die Gesamtgröße des Wohlbefindens ab. In der Formel bleibt zum anderen unberücksichtigt, daß eine Begierde, die nicht befriedigt wird, Unlust erzeugt, Unlust aber im Verhältnis zur Lust des Genusses eine negative Größe darstellt. Bei der bisherigen Fassung der Formel kann deren Summenwert zwischen 0 und n schwanken, nie jedoch in den negativen Bereich geraten. Gebraucht wird dagegen eine Formel, bei der die Summe aller Quotienten einen Wert zwischen den beiden Extremen -n und +n annehmen könnte. Das negative Extrem würde erreicht, wenn alle Begierden

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unbefriedigt blieben, das positive, wenn alle Begierden befriedigt wären. Eine solche Formel erhält man nun, wenn man in der alten Formel den Wert des Quotienten gn/bn = 1/2 als Indifferenzpunkt interpretiert, bei dem sich der Genuß aus der (graduellen) Befriedigung der Begierde und die Unlust aus der (verbleibenden) Entbehrung die Waage halten. Die neue Formel könnte dann so aussehen: S' = (2 (8 >! + g2/b2 + ..... gjbn) - n)

Das Wohlbefinden erreicht sein Maximum = n, wenn alle Begierden befriedigt werden, und sein Minimum = -n, wenn keine einzige der Begierden befriedigt wird. Nun fehlt es nicht an Stellen, an denen Kant dem Begriff der Glückseligkeit auch eine einheitsstißende Funktion im Hinblick auf die subjektiven Zwecke des Willens (und damit auf die bloß subjektiven Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln) zuweist. Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit erhebt den Anspruch, in Form eines einzelnen Zwecks (des Maximums an eigenem Wohlbefinden) die Bedingung zu benennen, unter der sich die aus Neigungen gewollten Zwecke und die auf dem Wollen dieser Zwecke (genauer: auf den für richtig gehaltenen Regeln des Wollens dieser Zwecke) gegründeten Maximen vereinigen lassen.125 Die Notwendigkeit, ein solches System von subjektiven Zwecken zu errichten, ergibt sich daraus, daß die Verwirklichung einiger Zwecke unter Umständen mit der (gleichzeitigen oder prinzipiellen) Verwirklichung anderer Zwecke unvereinbar ist und daher eine Rangordnung zwischen ihnen hergestellt werden muß, die für jeden Fall eine Entscheidung darüber zuläßt, welche Zwecke vorrangig vor anderen zu verwirklichen und welche Handlung damit zu begehen oder zu unterlassen jeweils tunlich ist. Die Frage, wie sich eine solche Rangordnung aufstellen läßt, ist für Kant leicht zu beantworten. Er ist der Auffassung, daß sich alle subjektiven Zwecke im Hinblick auf das Vergnügen, das man von ihnen erwartet, miteinander vergleichen lassen und die Größe der zu erwartenden Vergnügen die Grundlage für eine am Maximum des jeweiligen Gesamtvergnügens ausgerichtete Prä125

Gregor (1963) sieht bei Kant zwei verschiedene Begriffe der Glückseligkeit am Werk: „Kant's writings seem to contain two concepts of happiness: that of a maximum of pleasure accompanying our whole existence and that of an integration of our subjective ends, among which pleasure is only one." (78). In beiden Fällen habe die Vernunft jedoch den Inhalt des Zwecks zu bestimmen. Im Unterschied zu Gregor vertrete ich die Auffassung, daß es sich nicht um zwei Begriffe von Glückseligkeit handelt, sondern die Vorstellung des größten und dauerhaftesten Wohlbefindens als Maßstab dafür dient, ein System von subjektiven Zwecken zu errichten.

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ferenzordnung unter diesen Zwecken abgibt. „Wie würde man sonsten", so fragt er in der KpV, „zwischen zwei der Vorstellungsart nach gänzlich verschiedenen Bestimmungsgründen eine Vergleichung der Größe nach anstellen können, um den, der am meisten das Begehrungsvermögen affiziert, vorzuziehen?"

Und in einer berühmt gewordenen Bemerkung fugt er hinzu: „So wie demjenigen, der Gold zur Ausgabe braucht, gänzlich einerlei ist, ob die Materie desselben, das Gold, aus dem Gebirge gegraben, oder aus dem Sande gewaschen ist, wenn es nur allenthalben für denselben Wert angenommen wird, so fragt kein Mensch, wenn es ihm bloß an der Annehmlichkeit des Lebens gelegen ist, ob Verstandes- oder Sinnesvorstellungen, sondern nur, wie viel und großes Vergnügen sie ihm auf die längste Zeit verschaffen."126

Für die Bildung des Begriffs von einem Maximum an Wohlbefinden ist daher nicht nur die Zahl der zu befriedigenden Begierden ausschlaggebend, sondern auch eine komplizierte Kalkulation der Gewinn- und Verlustchancen, die mit der Verwirklichung eines bestimmten Teils aus der Menge aller möglichen subjektiven Zwecke jeweils verbunden sein können. Daraus folgt, daß der Begriff der Glückseligkeit in concrete, d.h. im Hinblick auf das, was für einen Menschen jeweils dazugehören mag, um glücklich zu sein, auf ganz unterschiedliche Weise bestimmt sein kann. Abgesehen davon läßt die vollständige Bestimmung des Begriffs der Glückseligkeit nach Kant jedoch auch prinzipielle Alternativen zu. Es ist dieser Aspekt am Begriff eines Maximums des Wohlbefindens, der zur Unterscheidung verschiedener Ideale der Glückseligkeit führt.

b) Die verschiedenen Ideale der Glückseligkeit Wenn man unter dem Wohlbefinden, etwas vereinfacht, die Summe der Quotienten aus Genuß und Begierde versteht, dann ergeben sich zwei grundsätzliche Möglichkeiten, zu einem bestimmteren Begriff von der Größe dieser Summe zu gelangen. Man kann auf der einen Seite versuchen, sich einen bestimmten Begriff von der Größe des (eigenen) Wohlbefindens zu bilden, indem man ein Minimum an Begierden zugrundelegt. In diesem Fall bedarf es wenig, um zu einem Wohlbefinden zu kommen, d.i. zu einem Zustand, in dem Begierde und Genuß einander völlig entsprechen, weil die Differenz zwischen Ä>F,A42/43.

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dem erwarteten und dem tatsächlichen Genuß aus der Befriedigung der Begierden durch die Begrenzung der Zahl der Begierden gering gehalten wird. Man kann auf der anderen Seite versuchen, zu einem bestimmten Begriff von der Größe des eigenen Wohlbefindens zu gelangen, indem man von einem Maximum an Begierden ausgeht. In diesem Fall bedarf es zwar viel, um zu einem Wohlbefinden zu kommen, aber der Genuß ist insgesamt größer. Diesen beiden Weisen, den Begriff der Glückseligkeit zu bestimmen, entsprechen nach Kant zwei Ideale der Glückseligkeit: das Ideal des Diogenes entspricht dem Maximum des Genusses bei einem Minimum der Begierden, das Ideal des Epikur dem Maximum des Genusses bei einem Maximum der Begierden.127 Beide Ideale unterscheidet Kant schon sehr früh, und er bringt beide auch schon sehr früh mit einem bestimmten Lebensideal in Verbindung. Das Ideal des Diogenes ist das Ideal des Naturmenschen, der sich auf die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse beschränkt und in asketischer Genügsamkeit sein Lebensglück findet. Das Ideal des Epikur hingegen ist das Ideal des Weltmenschen, der den Genuß seines Lebens durch die Befriedigung immer neuer und raffinierterer Begierden zu steigern sucht und für sein Lebensglück hält, im Luxus zu schwelgen. Daß Kant bis ins Alter hinein an der Unterscheidung zwischen beiden Idealen festhält, zeigt u.a. die Vorlesung zur Metaphysik der Sitten Vigilantius aus dem Jahr 1793/94. Da heißt es an einer Stelle: „Diogenes und Antisthenes gingen gleichfalls auf das Princip der Glückseligkeit aus, nur in einem ganz entgegengesetzten Wege: das größte Gut setzten sie in dem abstine, d.i. dem Vergnügen, entbehren zu können, mithin in dem Genuß des Lebens unter den möglichst wenigen Bedürfhissen, die Epicur dagegen nicht genug häufen konnte, um Genuß zu fühlen."128

Spuren dieser Betrachtungsweise und einer Unterscheidung verschiedener Glückseligkeitsideale finden sich jedoch auch in der KpV.™ Kant hatte also durchaus präzise Vorstellungen hinsichtlich der Frage, wie die Idee der eigenen Glückseligkeit zu konkretisieren ist, auch wenn er sich hierzu in seinen veröffentlichten Schriften aus verständlichen Gründen nur zurückhaltend äußert. Es ist interessant zu sehen, daß Kant nicht nur zwischen dem Ideal des Diogenes und dem des Epikur, des Naturmenschen und des Weltmenschen als zweier Weisen der Konkretisierung der Idee der Glückse117 128

129

Zum Verhältnis von Kant und Epikur: Düsing (1976). Cf. Metaphysik der Sitten Vigilantius, AA 27.2,1, 484. An der betreffenden Stelle bringt Kant das Ideal des Diogenes auch mit Rousseau in Verbindung („Rousseau nähert sich diesem Princip in neuerer Zeit am meisten"). Cf vor allem KpV, A 229/230 Anm.

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ligkeit unterscheidet, sondern sich gelegentlich auch dazu äußert, welches dieser Ideale vorzuziehen sei. In der Vorlesung zur Metaphysik der Sitten Vigilantius ist die Bemerkung festgehalten: „H. Kant meint, daß das Princip, wenn es sonst erreichbar wäre, nach dem System des Diogenes Vorzug für den Epicur verdiene, da im Entbehren mehr Vergnügen enthalten sey, als in der Last aller dazu erworbener Mittel."130

Das Argument, dessen sich Kant an dieser Stelle bedient, scheint alle Vorurteile derer zu bestätigen, die in ihm nur den sinnenfeindlichen Rigoristen sehen. In Wirklichkeit aber geht es Kant um eine Antwort auf die Frage, wie ein Ideal der Glückseligkeit beschaffen sein muß, das sich tatsächlich auf eine genau bestimmte Größe bezieht und seiner Funktion, ein Prinzip für ein System subjektiver Zwecke zu sein, gerecht wird. Das Ideal des Diogenes verdient den Vorzug vor dem des Epikur, weil bei ihm diese genaue Bestimmung und damit auch die Realisierung der Glückseligkeit eher als bei dem anderen möglich zu sein scheint. Denn je weniger Begierden einer hat, umso leichter sollte es ihm fallen, sie zu befriedigen und damit sich selbst glücklich zu schätzen. Kant versteht dabei unter dem Entbehren (von Begierden) offenbar nicht dasselbe wie unter dem Mangel des Genusses. Das Entbehren kommt dem Nichthaben von Begierden gleich, der Mangel des Genusses dagegen dem Haben, aber Unbefriedigtbleiben von Begierden. Einer der Ursprünge der Betrachtungsweise, die Kant bei der Abwägung der Vor- und Nachteile der verschiedenen Glückseligkeitsideale anstellt, ist ohne Zweifel der Essai de Philosophie Morale von Maupertuis.131 Kant übernimmt von Maupertuis zweierlei. Zum einen den Kalkül, der zur Bestimmung der Glückseligkeit fuhrt und die Aufrechnung von Lust und Unlust einschließt. So heißt es schon in der Schrift über die Negativen Größen: „Nach dergleichen Begriffen suchte der Herr v. Maupertuis in seinem Versuche der moralischen Weltweisheit die Summe der Glückseligkeit des menschlichen Lebens zu schätzen, und sie kann auch nicht anders geschätzt werden, nur daß diese Aufgabe für Menschen unauflöslich ist, weil nur gleichartige Empfindungen können in Summen gezogen werden, das Gefühl aber in dem sehr verwickelten Zustande des Lebens nach der Mannigfaltigkeit der Rührungen sehr verschieden scheint. Der

1JO 131

Cf. ibd. Der „Essai" wird sowohl in der Schrift über die Negativen Größen wie auch in den Vorarbeiten zur Tugendlehre der Metaphysik der Sitten zitiert und ist bis zuletzt in Kants Bibliothek geblieben (Cf Warda(1922), 52).

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Kalkül gab diesem gelehrten Manne ein negatives Fazit, worin ich ihm gleichwohl nicht beistimme."132

In der KpV hat Kant seine Kritik an Maupertuis in diesem Punkt scheinbar abgeschwächt. Denn „das Gefühl in dem sehr verwickelten Zustande des Lebens" läßt sich nun doch im Hinblick auf das damit verbundene Vergnügen vergleichen und „in Summen" ziehen.133 Dennoch bleibt Kant auch in der KpV dabei, daß die (nicht nur nachträglich erfolgende) Bestimmung der genauen Summe der Glückseligkeit im Ganzen des menschlichen Lebens eine Aufgabe ist, die die Fähigkeiten des Menschen überfordert, daß Maupertius also int, wenn er die Möglichkeit eines solchen Kalküls annimmt. Maupertuis unterscheidet in seinem Essai zum anderen auch zwischen einem positiven und einem negativen Prinzip bei der Bestimmung der Glückseligkeit, und es ist diese Unterscheidung, die bei Kant in etwa der zwischen den beiden erwähnten Idealen des Diogenes und des Epikur entspricht. Bei Maupertuis sind die Schulen, in denen sich der Unterschied zwischen einem positiven und einem negativen Prinzip in der Bestimmung der Glückseligkeit manifestiert, die der Epikureer und der Stoiker. Die Epikureer trachten nach der Maximierung von Glück, die Stoiker nach der Minimierung von Unglück.134 Maupertius ist nun der Auffassung, daß das System, das auf die Minimierung von Unglück abzielt, das „vernünftigere" ist und daher den Vorzug vorm epikureischen verdient135, - eine Auffassung, die freilich zur Voraussetzung hat, daß im Leben das Unglück das Glück überwiegt. Unter dieser Voraussetzung ist es in der Tat das vernünftigere Ziel im Leben, das eigene Unglück möglichst gering zu halten, und man kann sagen, daß derjenige sich am glücklichsten schätzen darf, der am wenigsten unglücklich ist. Kant teilt, wie das Zitat aus der Schrift über die Negativen Größen gezeigt hat, die Voraussetzung vom Übergewicht des Unglücks im Leben mit Maupertuis nicht, er stimmt ihm aber gleichwohl hinsichtlich der Präferenz für das System der Stoiker (bzw. des Diogenes) zu. Daß Kant in diesem Punkt mit Maupertius übereinstimmt, läßt sich vor allem damit erklären, daß im System der Stoiker die Unabhängigkeit des eigenen Wohlbefindens von äußeren Faktoren am höchsten ist und das erreichte Glück damit dem Ideal der Seligkeit am nächsten kommt, ein Vor132

Cf. Negative Größen, A 23. Der letzte Satz belegt im übrigen, daß Kant keineswegs der Meinung war, die Summe von Glück und Unglück im Leben sei kleiner als 0, d.h. negativ. Tatsächlich schreibt Maupertuis: „la proposition sera encore plus vraie: Que dans la vie ordinaire la somme des maux surpasse la somme des biens." (Maupertuis (1768), 1,203). '" Cf.A/>K,A42/43. 134 Cf. Maupertuis (1768), I, 218. 133 Cf. Maupertuis (1768), 1,220.

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zug, den im übrigen auch Maupertuis bereits am System der Stoiker (Seneca, Epiktet, Marc Aurel) hervorgehoben hatte: „cette philosophic, qui prouvet un bonheur que ne dopend que de nous."136

In den Vorarbeiten zur Tugendlehre findet sich eine Notiz, die zeigt, daß sich Kant offenbar bis zuletzt mit der Unterscheidung verschiedener Prinzipien der Glückseligkeit (genauer: der Identifizierung des höchsten Guts mit der Glückseligkeit) beschäftigte: „Von der Weisheit Als dem Inbegrif und dem Ziel aller Tugend / Maupertuis Negatives oder positives Princip der Glückseligkeit Stoicism - guter Epicureism ist zu hoch".137

Auch hier scheint Kant dem Stoizismus zuzuneigen und zwar aus den genannten Gründen.138 Zugleich klingt jedoch an, daß die Differenz zwischen beiden Idealen für Kant sekundär ist. Betrachtet man nur die Glückseligkeit, ohne auf die Weisheit als dem Inbegriff und Ziel aller Tugend zu achten, dann mag einiges dafür sprechen, sich eine bestimmte Vorstellung vom Lebensglück auf die eine oder die andere Weise zu bilden, also entweder durch die Verringerung des Unglücks (aus dem Mangel an Befriedigung der Begierden) oder durch die Steigerung des Glücks (aus der Zahl der zu befriedigenden Begierden). Wirklich wichtig wird diese Unterscheidung aber erst, wenn zusätzliche Überlegungen ins Spiel kommen. Es zeigt sich dann, daß Kant dem ersten Verfahren, das Ideal der Glückseligkeit zu bestimmen, d.i. dem stoischen, den Vorzug geben konnte, weil bei dieser Bestimmung auch die Versuchung, vom Sittengesetz abzuweichen, wesentlich geringer ist. Die Präferenz für das Ideal der Stoiker beruht somit nicht allein darauf, daß sich die Größe der Glückseligkeit hierin am genausten bestimmen läßt, sondern auch darauf, daß nach ihm zu verfahren unter moralischem Gesichtspunkt am weisesten ist.

136 137 138

Cf. Maupertuis (l768), I, 223. Cf. AA23.402. Allerdings steht dies im Kontrast zu anderen Stellen (v.a. in den Reflexionen), in denen Kant das Prinzip des Epikur als das einzige dem Menschen angemessene bezeichnet und gerade vom Stoizismus behauptet, daß er den Menschen überfordere. Aber wenn man sich das Ideal des Stoizismus über Diogenes verständlich macht, dann ist die Genügsamkeit das, was für Kant zum Glück führt

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c) Die Kritik am Ideal der Glückseligkeit Ungeachtet der Überlegungen, die Kant zur Frage anstellt, wie das Ideal der Glückseligkeit beschaffen sein muß, das die größten Chancen auf Verwirklichung besitzt, ist das Ideal als solches bei ihm jedoch Gegenstand einer in die Tiefe zielenden Kritik. Nicht nur spricht Kant davon, daß ein System der subjektiven Zwecke und damit eine Einheit der Maximen, die unter dem Namen der Glückseligkeit von dem einzelnen erstrebt werden mag, ohne die moralischen Gesetze gar nicht zustandegebracht werden kann.139 Auch für die Charakterisierung der Idee der Glückseligkeit wählt er in den weitaus meisten Fällen den Begriff einer größten Summe und nicht den eines absoluten Ganzen. So ist Glückseligkeit mal „die größte Summe (der Menge sowohl als der Dauer nach) der Annehmlichkeiten des Lebens"140, mal die „Summe aller Neigungen"141, mal auch „die größte Summe der Lust"142. Die Verwendung des Begriffs der Summe deutet darauf hin, daß dem Aspekt der extensiven Größe, d.i. der Zahl der Begierden (von der die absolute Größe des Genusses abhängt), bei der Bestimmung der Glückseligkeit als der Idee von einem Maximum des Wohlbefindens eine entscheidende Bedeutung zufällt. Da ein Maximalwert im Sinne einer genau bestimmten und fixen Größe sich, wie Kant hervorhebt, bei einer Größenbestimmung durch (willkürliche) Addition niemals erreichen läßt, ist jedoch zu erwarten, daß auch die Idee der Glückseligkeit aus eben denselben Gründen niemals der genau bestimmte Begriff von einer maximalen Größe sein kann, den sie zu sein vorgibt, und daß sie daher als conceptus deceptrix behandelt werden muß, also als täuschender Begriff von einer maximalen (absoluten) Größe. Nach Kants Auffassung zeichnet sich von allen Größen, die eine Realität annehmen kann, allein die maximale Größe dadurch aus, daß sie bestimmt gedacht werden kann. Die Bestimmung des Maximums kann jedoch auf direkte oder indirekte Weise erfolgen: bei der direkten Bestimmung wird die Größe einer Realität (als Grund) durch die Allheit ihrer Folgen definiert, bei der indirekten durch eine (qualitative) Charakterisierung der Realität, die sicherstellt, daß sie die größte ist und tatsächlich in einer Beziehung zur Allheit ihrer Folgen steht. Im ersten Fall bedarf es einer Möglichkeit, bestimmte Begriffe von einer Allheit unabhängig davon zu bilden, daß man die Elemente, 139 140 141 142

Cf. Rel, B 34/35. Cf.ATi/,B12. Cf. KU, B 395/396 Anm. Ähnlich auch: QMS, BA 12. Cf. Fortschritte, A 104.

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aus denen sich die Allheit zusammensetzt, im Verhältnis zu einem Grund betrachtet. Im zweiten Fall kann man unterstellen, daß auch eine Allheit von Folgen gegeben ist, wenn nur die Bedingungen erfüllt sind, unter denen ein Grund seine größte Größe erreicht. Während im ersten Fall die methodische Schlüsselfrage lautet, wie sich Maximalbestimmungen von extensiven Größen bilden lassen, lautet die Frage im zweiten Fall, wie die Bedingungen beschaffen sind, von denen die Größe eines Grundes abhängt, und wie diese Bedingungen sicher bestimmt werden können. Beide Möglichkeiten der Bildung von Maximalbestimmungen hat Kant durchdacht. In einer Reflexion schreibt er: „Der Mensch ist geneigt, in jeder Größe das Extrem zu sehen, das maximum und minimum, teils weil er nicht aufhört ohne diesen terminum in der Addition und Subtraktion, teils weil er ein Maß bedarf: Das Größeste wird entweder unbestimmt gedacht, in so fern man die bloße Hinzuziehung gedankt, als (Zahl) Raum, Zeit (alles), oder bestimmt: wenn das Größeste auf bestimmte Verhältnisse ankommt. Das Größeste aller Wesen kann auf vielerlei Weise bestimmt gedacht werden nach den Verhältnissen, welche die mancherlei Realitäten der Dinge gegen einander haben können, um die Größe zu vermindern oder zu vermehren. // Dieses Größeste wird entweder durch gewisse Bestimmungen eines Dinges, die gegen einander in veränderlichen Verhältnissen sein, selbst gegeben, oder es besteht bloß in der willkürlichen Vergrößerung. Das letztere ist ein Ideal der Erdichtung, das erste ein Ideal der Vernunft, welches sich ins bloß mathematische und philosophische Ideal unterscheidet."143

Die Alternative, die Kant im Hinblick auf die Gewinnung von Maximalbestimmungen aufstellt, korrespondiert einer grundsätzlichen Alternative bei jedweder Größenbestimmung. Größen können entweder dadurch bestimmt werden, daß man sie aus homogenen Teilen zusammensetzt, oder dadurch, daß man sie durch Einschränkung aus einer vorgegebenen absoluten Größe gewinnt. Die willkürliche Bildung von Größen durch Zusammensetzung bezeichnet Kant als Richten" und die Begriffe selbst als „erdichtete Begriffe".144 Demgegenüber sind Größen, die durch Einschränkung aus einer absoluten Größe bestimmt werden, nicht erdichtet, sondern gegeben". Was die Bildung von maximalen Größen betrifft, so besteht zwischen beiden Möglichkeiten der Größenbestimmung eine grundsätzliche Differenz. Bei der Größenbestimmung durch Zusammensetzung (oder „Erdichtung") us Cf. R 6596 (l764-68). 144 Cf. R 3940 (1769): „In allem Erkenntnisse der Vernunft sind nur Verhaltnisse zu betrachten, und diese sind entweder gegeben (...) oder gedichtet. Dichten aber können wir keine Verhältnisse, (von) deren Möglichkeit wir überzeugt seyn können, als der große nach durch Wiederholung in der Zahlwissenschaft." Cf. auch R 3973 (1769-78).

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könnte das „Größeste", wenn es denn möglich wäre, nur durch „willkürliche Vergrößerung" erreicht werden. Tatsächlich ist aber ausgeschlossen, daß sich durch die bloße Wiederholung und Zusammenfassung von homogenen Teilen eine maximale Menge dieser Teile und insofern ein in seiner Größe genau bestimmtes Ganzes zustandebringen läßt. Denn es gibt keinen Grund, den einmal erreichten Wert einer Größe schon für ihren maximalen Wert zu halten. Wenn dennoch erdichtete Begriffe von maximalen Größen im Umlauf sind, müssen sie als conceptus deceptores, als trügerische Begriffe beurteilt werden. Die Einschätzung gewisser Größenbegriffe als conceptus deceptores übernimmt Kant zusammen mit der Bezeichnung von Leibniz. In der frühen Schrift Über den Optimismus gibt Kant eine Darstellung des verfänglichen Charakters solcher Begriffe: „Es gibt Größen, von denen sich keine denken läßt, daß nicht eine noch größere könnte gedacht werden. Die größeste unter allen Zahlen, die geschwindeste unter allen Bewegungen sind von dieser Art. Selbst der göttliche Verstand denkt sie nicht, denn sie sind wie Leibniz anmerkt betrügliche Begriffe (notiones deceptrices), von denen es scheint, daß man etwas durch sie denket, die aber in der Tat nichts vorstellen."145

Verfänglich sind die Begriffe der größten Zahl oder der geschwindesten Bewegung, weil sie den Schein erwecken, genau bestimmt zu sein. Daß ihnen diese genaue Bestimmung gerade fehlt, kann man jedoch daran erkennen, daß sich zu ihnen stets eine andere Größe hinzudenken läßt, die größer ist. In der Tat geht die Kritik, die Kant am Begriff der Glückseligkeit übt, ihrem entscheidenden Argument nach in diese Richtung.146 Der Mensch kann 143 Qf Versuch einiger Betrachtungen, A 5/6. Der Hinweis auf Leibniz ist interessant. Leibniz hat das Beispiel der größten Zahl, der schnellsten Bewegung verschiedentlich gebraucht, doch stets im Kontext seiner Kritik am ontologischen Gottesbeweis in der von Descartes emeuterten Form. Der Ausdruck „ideae deceptrices" fallt in den 1684 veröffentlichten Meditationes de Cognitions, Veritate et Ideis (Philosophische Schriften, Gerh., IV, 424). Die Aufgabe, die sich Leibniz in dieser kurzen Betrachtung stellte, war keine geringe. Sie bestand darin, einen Weg zu finden, auf dem sich sicherstellen ließe, daß wir keine Ideen von Gott (und somit keine Begriffe von Maxima) verwenden, die einen Widerspruch enthalten, und zwar in der Weise, daß dieser Widerspruch nicht sofort erkennbar ist, die also den trügerischen Schein besitzen, als würde in ihnen tatsächlich etwas gedacht. Dieses Problem kehrt bei Kant wieder, und zwar in einer Konstellation, die bis in einzelne Formulierungen hinein an das Leibnizsche Vorbild erinnert. In der Dialektik der KrV kämpft Kant gegen die Blendwerke und den täuschenden Schein der Vernunft im Gebrauch ihrer Ideen. Cf. dazu auch Kaulbach (1967), 79. 146 Kant bringt noch einen zweiten Einwand vor. Wenn man unter Glückseligkeit die Idee eines Zustandes versteht, dem man sich unter empirischen Bedingungen anzunähern versucht, dann muß man nach Kants Auffassung zugleich einsehen, daß eine vollständige Annäherung unmöglich, das Glück also unerreichbar ist. Kant begründet diese Behauptung vor allem mit dem Argument, daß in der Idee eines dauerhaften Wohlbefindens schon die Abhängigkeit des Zustandes von äußeren Faktoren (d.i. die Naturabhängigkeit) mitgedacht ist Im Unterschied zur „Seligkeit", die „aus uns

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sich, so schreibt Kant in der GMS, von der Summe der Befriedigung aller seiner Neigungen „keinen sicheren und bestimmten Begriff" machen, die Glückseligkeit ist daher eine „schwankende Idee".147 Auch in der KU kritisiert Kant am Begriff der Glückseligkeit, daß er ein schwankender Begriff" ist148, und bedient sich damit eines Ausdrucks, der terminologische Qualität besitzt. Der Gegenbegriff zu ihm ist der genaue, in seinen Grenzen sicher bestimmte oder auch festgesetzte Begriff, ein Begriff mithin, bei dem gewiß ist, daß er weder zuviel noch zuwenig enthält und der Sache angemessen ist.149 Die Vernunftbegriffe (oder Ideen) zeichnen sich nach Kant gerade dadurch aus, daß sie als Begriffe von einem Maximum genau bestimmt sind. Wenn Kant daher den Begriff der Glückseligkeit eine Idee nennt und ihn doch zugleich als einen schwankenden Begriff charakterisiert, der sich nicht sicher und genau bestimmen läßt, dann muß man daraus den Schluß ziehen, daß die Glückseligkeit jedenfalls keine Idee im Sinne eines Vernunßbegriffs von einem Maximum ist. Tatsächlich zieht Kant diese Konsequenz auch ausdrücklich. Das Ideal der Glückseligkeit (d.i. ihre Idee in concreto) ist nach der GMS kein Ideal der Vernunft, sondern ein Ideal der Einbildungskraft™, die, wie bei allen „ästhetischen Ideen", „dem Vernunft-Vorspiele in Erreichung eines Größten nacheifert"151, ohne es allerdings, wie zu ergänzen wäre, jemals zu erreichen. Was sind die Gründe dafür, daß der Begriff der Glückseligkeit zwar auf eine Maximalvorstellung („größte Summe") ausgerichtet ist, ihm aber eine erschöpfende Bestimmung dieses Maximums versagt bleiben muß? Kant hat auf diese Frage unterschiedlich geantwortet. Eine seiner Antworten stützt sich auf die Beobachtung, daß alle Menschen zwar dem Begriff der Glückseligkeit nachhängen, aber keiner genau anzugeben vermag, was er denn eigentlich wünsche und wolle, d.i. die empirischen Elemente unbestimmt bleiben, aus denen sich der Begriff zusammensetzt. Weil keiner weiß, was zur Glückseligkeit

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selbst entspringt", hängt die „Glückseligkeit" „von zufälligen äußeren Ursachen" ab (cf. R 6206 (1783-84)). Sagt man von der Glückseligkeit, daß sie „in der Befriedigung des Ganzen aller Neigungen" besteht, so gibt man bloß eine „Nominalerklärung", „hingegen die Realerklärung, wie solche Glückseligkeit möglich ist und entstehen kann, wissen wir nicht." (Cf. Dorniger Rationaltheologie, AA 28.2,2, 1273). Wichtiger als dieser Einwand, der kategorisch bestreitet („welches unmöglich ist"), daß die Glückseligkeit „unter den empirischen Bedingungen" erreichbar ist, obwohl dies in der Idee in Anspruch genommen werden muß, ist jedoch der Einwand, der sich gegen die Art des Begriffs selbst richtet Cf. GMS, BA 12. Cf. ATC/, B 389. Cf. z.B. Logik Pölitz, AA 24.2, 540. Cf.GA/5,BA47. Cf. KU, B 194.

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„eigentlich" gehört und weil diese Elemente von Mensch zu Mensch und von Lebensalter zu Lebensalter wechseln können, läßt sich die Glückseligkeit „nie bestimmt denken".152 Neben diesem Argument findet sich bei Kant jedoch noch ein weiteres Argument, das sich darauf bezieht, daß die menschliche Natur, wie Kant sagt, nicht von der Art ist, „irgendwo im Besitze und Genuße aufzuhören und befriedigt zu werden"153, daß wir „keine Zufriedenheit als Fortschritt zur Zufriedenheit" kennen.154 Der Begriff eines Maximums des Wohlbefindens läßt sich danach deshalb nicht bestimmt denken, weil das menschliche Glücksverlangen unstillbar ist. Nun beruft sich dieses Argument zwar auf die menschliche Natur, doch ist es nicht nur ein in der Erfahrung fundiertes Argument. Dahinter steht vielmehr ein prinzipieller Einwand, der sich gegen die besondere Art der Begriffsbildung im Fall des Begriffs der Glückseligkeit richtet. Diese tiefere Kritik hat Kant nirgends deutlich ausgesprochen, doch man darf mit einem gewissen Recht vermuten, daß sie das bewegende Motiv bei der negativen Beurteilung des Glückseligkeitsbegriffs war. Einzig in der Dorniger Rationaltheologie läßt sich an einer Stelle ein Hinweis darauf entdecken, wenn es heißt, daß der Mensch „Glückseligkeit durch Teile zusammenzusetzen" sucht, während er in der Moral „vom Ganzen auf die Teile" geht.155 Auch hier stößt man auf einen Gegensatz, der sich letztlich als der zwischen zwei verschiedenen Arten der Größenbestimmung erweist. So hat Kant ja bereits in der Reflexion 6596 zwischen einem Ideal der Erdichtung und einem Ideal der Vernunft unterschieden, wobei im ersten Fall das Größte „bloß in der willkürlichen Vergrößerung" besteht, im zweiten Fall dagegen „durch gewisse Bestimmungen eines Dinges, die gegen einander in veränderlichen Verhältnissen stehen, selbst gegeben" wird. Es bedarf keiner ausfuhrlichen Erklärung, daß Kant im Fall des Ideals der Erdichtung nur in einem prekären Sinn von einem „Größten" spricht. Denn ein solches Größtes läßt sich als einzelne, feste und bestimmte Größe durch willkürliche Vergrößerung niemals erzielen, da jede erreichte Größe (und damit auch jede vermeintlich „größte" Größe) sich im Hinblick auf eine noch größere Größe überschreiten läßt. Die Unstillbarkeit des menschlichen Glücksverlangens, die Kant als Grund für die Unverwirklichbarkeit des Glücks anführt, scheint daher eher auf einem konzeptuellen Defekt im Ideal

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Cf. hierzu: GMS, BA 47 und R 6206 (1783-84). Cf.*I/,B389. Cf. Danziger Rationaltheologie, AA. 28.2,2,1289. Cf. Danziger Rationaltheologie, AA 28.2,2,1273.

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der Glückseligkeit zu beruhen als auf der physischen Natur des Menschen.156 Wie sich gezeigt hat, besteht das Ideal der Glückseligkeit in der größten Summe des Wohlbefindens, wobei der Wert dieser Summe wesentlich davon abhängt, welche Begierden und Neigungen die Elemente im (inhaltlich bestimmten) Begriff der Glückseligkeit ausmachen. Je mehr Neigungen umso vollständiger und umso dauerhafter befriedigt werden, desto größer ist die Summe des Wohlbefindens. Die größte Summe des Wohlbefindens aber ist ein Ideal der Erdichtung und kann nie erlangt werden, weil jede Vorstellung von einem noch so großen Wohlbefinden durch die Vorstellung von einem noch größeren Wohlbefinden übertroffen werden kann. Die einzige Grenze, die der Glückseligkeit gesetzt ist, liegt in der Einbildungskraft als demjenigen („bildenden") Vermögen, das die einzelnen Neigungen zur bestimmten Vorstellung von einem Maximum des Wohlbefindens zusammenzufassen versucht, ohne dies jedoch dauerhaft zu erreichen, sowie in der Natur, die die Mittel zur Verwirklichung der Neigungen zur Verfügung stellt und gerade dies nicht immer und schon gar nicht unter a priori bestimmbaren Bedingungen tut. Mehr noch, gerade die empirische Abhängigkeit des Wohlbefindens von der Natur, der kontingente Charakter seiner Bedingungen, schlägt sich auch in einem Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Neigungen und den jeweiligen Mitteln ihrer Befriedigung nieder. Wenn der Einsatz derjenigen Mittel, die zur Befriedigung einer Neigung führen, zugleich zur Folge hat, daß andere Neigungen unbefriedigt bleiben müssen, dann wird die Bestimmung der Elemente im Glückseligkeitsbegriff zum Gegenstand einer Gewinn- und Verlust-Kalkulation, die wegen der Kontingenz der Variablen und der Unwägbarkeit der Abhängigkeitsverhältnisse zu keiner endgültigen und bestimmten Lösung kommen kann.157 Dennoch hat der Begriff der Glückseligkeit auch als Ideal der Einbildungskraft mit einem Vernunftbegriff gemein, daß er die Vorstellung von einem Maximum zu sein scheint, sich also auf etwas bezieht, das weder vermehrt noch vermindert werden kann und daher dem Anspruch nach ein (vollständiges) Ganzes (von Zwecken, die dem eigenen Wohlbefinden dienen) bildet. 136 137

Schwemmer (1980), p. 86-102, insb. 90ff, glaubt einen sechsfachen Sinn von Kants Behauptung der Unmöglichkeit der Glückseligkeit unterscheiden zu können. Darauf bezieht sich Kant, wenn er in der GMS das Dilemma des Glückssuchers beschreibt: „Will er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur umso schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben ..." (BA 46/47).

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Auch wenn sich dieses Ganze nie sicher bestimmen läßt, wird es doch im Begriff der Glückseligkeit stets mitgedacht und mitbeansprucht. Daß es so scheint, als ließe sich mit dem Ideal der Glückseligkeit ein Maximum des Wohlbefindens, das zugleich ein Ganzes von Zwecken einzuschließen erlaubt, erfassen, hat sein Fundament aber nicht in objektiven Gründen, sondern in den Grenzen der Einbildungskraft als einem subjektiven Vermögen und darin, daß diese Grenzen als objektive beurteilt werden.158 Aus der Kritik am Begriff der Glückseligkeit zieht Kant die Konsequenz, daß dieser Begriff nicht geeignet sein kann, genau bestimmte praktische Regeln zu begründen. Denn wegen der essentiellen Unbestimmtheit des Begriffs läßt sich nicht mit Gewißheit angeben, welche Zwecke einer in seinem Leben zu erstreben hat und welche Handlungen daher für ihn tunlich sind, wenn er in seinem Leben glücklich werden will. Wenn man unter pragmatischen Regeln solche Regeln versteht, die eine Antwort auf die Frage versuchen, welche Handlungen für Personen tunlich sind, die glücklich werden wollen159, dann ist für sie charakteristisch, daß sie nicht nur mehr oder weniger bestimmte Handlungen empfehlen, „von denen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern"160, sondern daß sie mit dieser Empfehlung zugleich den Begriff der Glückseligkeit selbst näher bestimmen, also auch angeben, welche Zwecke noch am ehsten als Bestandteile von einem glücklichen Leben angestrebt werden sollten (und nicht nur, welche Mittel geeignet sind, einen bereits bestimmten Zweck zu verwirklichen).161 C. Die Autokratie der empirisch-bedingten praktischen Vernunft Wenn man unter Autokratie die Kraß der Vernunft versteht, sich gegen innere Widerstände durchzusetzen und eine als tunlich erkannte Handlung zu tun, dann muß nicht nur der reinen praktischen Vernunft, sondern zunächst auch der empirisch-bedingten praktischen Vernunft Autokratie zugesprochen wer-

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Darin liegt der „Eigendünkel", den die .Achtung vorm Gesetz" niederschlägt Siehe unten S. 223ff Zu den „Klugheitsregeln": Hinske (1989). 160 Cf.GMS,BA47. 161 Pragmatische Regeln sind daher in erster Linie Regeln, in denen das Sichsetzen von Zwecken als tunlich für den eigenen Willen angesehen wird Der Wille, der sich durch Maximen der Zwecke bestimmen können soll, muß die Freiheit haben, sich Zwecke entweder setzen oder nicht setzen zu können. Diese Freiheit ist im Unterschied zur (äußeren) Freiheit der Willkür die innere Freiheit 1>9

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den.162 Daß die Vernunft das Vermögen besitzt, die ihr widerstrebenden Kräfte der Sinnlichkeit zu überwältigen und Selbstherrschaft auszuüben, ist von ihr nicht abzutrennen, wenn ihr überhaupt Realität zukommen soll. Im Fall der empirisch-bedingten praktischen Vernunft ist die für die Realität der Vernunft unerläßliche Selbstherrschaft eng mit dem Ideal der Glückseligkeit verbunden. Denn an diesem Ideal hängt unmittelbar die Vernünftigkeit dieser Art von praktischer Vernunft. Das Ideal der Glückseligkeit bezieht sich auf ein System von Zwecken, bei dem im Hinblick auf alle Zwecke, die eine Person wollen könnte, eine Bestimmung ihrer Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit möglich zu sein scheint. Gebildet wird das Ideal über die Vorstellung von einem Maximum des eigenen Wohlbefindens, wobei dieser Verfahrensweise zwei Annahmen zugrundeliegen. Die erste Annahme besteht darin, daß sich alle Zwecke, die eine Person wollen könnte, im Hinblick darauf vergleichen lassen, ob ihre Verwirklichung angenehm ist und insofern zum angestrebten Maximum des Wohlbefindens beiträgt. Der zweiten Annahme zufolge stehen Zwecke in funktionaler Abhängigkeit verschiedener Art163, so daß sich für jede Person die Aufgabe stellt, eine Auswahl der Zwecke treffen zu müssen, deren Verwirklichung sie am Ende will. Die Idee von einem Maximum des Wohlbefindens bietet sich als Kriterium für eine solche Auswahl der Zwecke an, weil es, jedenfalls dem Anschein nach, im Hinblick auf jede mögliche Kombination von Zwecken mit Bestimmtheit zu urteilen erlaubt, ob durch sie insgesamt ein Maximum des Wohlbefindens erreicht wird oder nicht. Da das Ideal der Glückseligkeit verspricht, eine definitive Entscheidung darüber zu ermöglichen, welche Zwecke gewollt werden sollten und welche nicht, ist dieses Ideal vernünftig, wenn auch nur in einem empirisch-bedingten Sinn. Denn dem Anspruch nach läßt sich aus ihm als Prinzip, und zwar als oberstem Prinzip, bestimmen, was zu einem größten Ganzen des eigenen Wohlbefindens gehört und welchen Maximen der Zwecke daher einer folgen sollte. Im Hinblick auf die empirisch-

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Von Autokratie als dem Vermögen des freien Selbstzwangs, der Selbstherrschaft, als der sich selbst „zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt" konstituierenden Vernunft (MS/TL, A 46), spricht Kant an verschiedenen Stellen seiner Schriften und Vorlesungen, und zwar fast stets in enger Verbindung mit dem Begriff der Autonomie (cf: MS/TL, A 9; Fortschritte, A 106; Vorlesung zur Moral Mrongovius, AA 27.2,2, 1496-1500; u.ö.). Cf. zum Thema Autokratie bei Kant vor allem: Kaulbach (1976) und (1986). 163 Die Verwirklichung eines Zwecks kann bedeuten, daß die Verwirklichung eines anderen Zwecks unmöglich wird, die Verwirklichung eines Zwecks kann Folgen haben, die unangenehm und unerwünscht sind, etc.

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bedingte praktische Vernunft streicht Kant deren Vernunftcharakter denn auch auf folgende Weise heraus: „Die Vernunft geht auch im Sinnlichpraktischen vom Allgemeinen zum Besonderen nach dem Grundsatze: nicht Einer Neigung zu Gefallen die übrigen in Schatten oder in den Winkel zu stellen, sondern darauf zu sehen, daß jene mit der Summe aller Neigungen zusammen bestehen könne."164

Wenn beim Ideal der Glückseligkeit durch die Vergleichung aller Neigungen untereinander ein System von subjektiven Zwecken zustandegebracht wird, das ein Maximum der Befriedigung von Neigungen einschließt, dann muß man jedoch zugleich hinzufügen, daß eine solche Vergleichung nicht immer möglich ist bzw. nicht immer zustandekommt. Die Bildung des Ideals der Glückseligkeit und die Orientierung an ihm setzt vielmehr einen Gemütszustand voraus, in dem das Subjekt seine Neigungen im Hinblick auf die Summe aller Neigungen vergleichen und überlegen kann, die Befriedigung welcher Neigungen es sich zum Zweck setzen soll, um das Maximum des Wohlbefindens in seinem Leben zu erreichen. Dieser Gemütszustand kann aufgehoben werden, wenn eine einzelne Neigung sich über alle anderen stellt und dadurch eine Vergleichung und ein auf dieser Vergleichung beruhendes „richtiges" Urteil über die zu nehmenden Maximen der Zwecke unmöglich macht. In diesem Fall widerstrebt eine einzelne Neigung dem Ganzen und zerstört gleichsam die Wirkungskraft der Glückseligkeit. Kant bezeichnet Neigungen dieser Art, die sich in den Vordergrund schieben, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und den Verstand zu falschen Urteilen über das für einen selbst an Zwecksetzungen Tunliche verleiten, als Leidenschaften. Eine Leidenschaft ist eine Neigung, die den Vergleich mit anderen Neigungen ausschließt, bei der also ein Teil (der zu befriedigenden Neigungen) sich an die Stelle des Ganzen setzt.165 Indem Leidenschaften den Vergleich mit anderen Neigungen und damit die Überlegung verhindern, welche von ihnen am besten zu einem von der prakti-

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Cf. Anthropologie, B 226/227. Herv. Kant. Eine Textverbesserung der AA wurde übernommen. Kant hat dies in seiner Anthropologie am Beispiel der Ehrbegierde erläutert: „Die Ehrbegierde eines Menschen mag immer eine durch die Vernunft gebilligte Richtung seiner Neigung sein; aber der Ehrbegierige will doch auch von ändern geliebt sein, er bedarf gefalligen Umgang mit anderen, Erhaltung seines Vermögenzustandes u.d.g. mehr. Ist er nun aber leidenschqftlich-ehibegieng, so ist er blind für diese Zwecke, dazu ihn doch seine Neigungen gleichfalls einladen, und daß er von ändern gehaßt, oder im Umgange geflohen zu werden, oder durch Aufwand zu verarmen Gefahr läuft - das übersieht er alles. Es ist Torheit (den Teil seines Zwecks zum Ganzen zu machen), die der Vernunft, selbst in ihrem formalen Prinzip, gerade widerspricht." (Anthropologie, B 227. Herv. Kant).

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sehen Vernunft gedachten Ganzen zusammenstimmen und darum verwirklicht werden sollten, sind sie der Vernunft selbst entgegengesetzt. Von der Leidenschaft, die eine Neigung ist, muß der Affekt unterschieden werden. Anders als die Leidenschaft ist der Affekt ein Geföhl, und zwar eines im gegenwärtigen Zustand, - wie etwa der Zorn oder die Trauer -, das einen überwältigt und die Überlegung unmöglich macht, ob man sich ihm überlassen soll, damit aber gleichfalls das Vermögen der Vernunft beeinträchtigt, sich „richtige", nämlich am Ganzen des gegenwärtigen Zustands orientierte Regeln der Zwecke zu geben: „Die durch die Vernunft des Subjekts schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung ist Leidenschaft. Dagegen ist das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande, welches im Subjekt die Überlegung (die Vemunftvorstellung, ob man sich ihm Überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen laßt, der Affekt."166

Durch den Affekt wird die „Fassung des Gemüts (animus sui compos)", die in dem Vermögen besteht, seine gegenwärtigen Gefühle in einem Zustand zu vergleichen, aufgehoben.167 Der Mangel an Überlegung, durch die das einzelne Gefühl mit allen anderen Gefühlen und die einzelne Neigung mit allen anderen Neigungen verglichen werden, führt dazu, daß das einzelne Gefühl im Fall des Affekts und die einzelne Neigung im Fall der Leidenschaft so beurteilt werden können, nicht als seien sie größer als andere Gefühle oder Neigungen, sondern als seien sie größer als alle anderen, und damit selbst das Ganze und für sich selbst vollständig. In der Vorlesung zur Metaphysik Mrongovius hebt Kant bei der Charakterisierung von Affekt und Leidenschaft gerade den Aspekt der Größe des einzelnen Gefühls bzw. der einzelnen Neigung hervor: „beim Affect ist ein Gefühl größer als alle übrigen, und so auch bei der Leidenschaft eine Neigung."168

Der Schein besteht nicht darin, daß das einzelne Gefühl oder die einzelne Neigung stärker als andere Gefühle und Neigungen sind, sondern darin, daß sie, weil eine Vergleichung mit anderen und damit eine „realistische" Größenschätzung nicht zustandekommt, für vollständige Gründe des Fürrichtighaltens von Maximen der Zwecke gehalten werden, die ihrer Befriedigung die166 167 168

Cf. Anthropologie, B 203. Herv. Kant. Cf. auch: KU, A 119/120 Anm.;MS/TL, A 50/51. Cf. Anthropologie, B 203. Cf. Metaphysik Mrongovius, AA 29.1,2, 895. Cf. auch: „Überhaupt ist es nicht die Stärke eines gewissen Gefühls, welche den Zustand des Affekts ausmacht, sondern der Mangel der Überlegung, dieses Gefühl mit der Summe aller Gefühle (der Lust oder Unlust) in seinem Zustande zu vergleichen." (Anthropologie, B 207).

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nen, aber bezogen auf das Ganze der eigenen Gefühle und Neigungen falsch sind. Sowohl im Fall des Affekts wie im Fall der Leidenschaft hat man es also mit einer durch bewußte (willentliche oder unwillentliche) Einschränkung des Vergleichsmaßstabes bedingten Unfähigkeit zur Größenvergleichung und Größenschätzung zu tun. Es ist aber zugleich erkennbar, daß dieses Versagen nicht der Triebfeder, der Neigung oder dem Affekt als solcher zur Last gelegt werden kann, sondern dem Urteil, in dem sie als vollständige Gründe für das Annehmen einer (so einseitigen und unrichtigen) Maxime der Zwecke beurteilt und eingeschätzt werden. Es ist der praktische Verstand, der die Neigungen (und Gefühle) vergleicht, und es ist die praktische Vernunft, die mit der Idee eines Ganzen der Zwecke den Vergleichsmaßstab für die Annehmung von einzelnen Zwecken (und Maximen der Zwecke) gibt. Sowohl der Verstand wie die Vernunft versagen in gewisser Weise, wenn eine Person aufgrund eines Mangels der Vergleichung und aufgrund einer vorschnellen Gleichsetzung des gegebenen Begehrens oder Fühlens mit dem Ganzen, eine Maxime der Zwecke für richtig hält, die sie selbst für falsch halten müßte, wenn sie die einzelne Neigung (und das einzelne Gefühl) mit dem Ganzen der Neigungen im eigenen Leben (und dem Ganzen der Gefühle im gegenwärtigen Zustand) verglichen hätte. Beide - sowohl die Leidenschaft wie der Affekt - stehen der Autokratie, der Selbstherrschaft der Vernunft (im Sinne der Klugheit) gegenüber. Der Affekt, weil er eine ruhige und besonnene Überlegung ausschließt und blind macht gegenüber anderen Gefühlen; die Leidenschaft, weil sie die Vergleichung mit anderen Neigungen verhindert und der Vergleich wiederum erlaubt, die „wahre" Größe der Gründe des Fürrichtighaltens von Maximen der Zwekke einzuschätzen. In einer Reflexion hat Kant diesen Gegensatz zwischen Affekt und Leidenschaft auf der einen und der Selbstherrschaft der Vernunft auf der anderen Seite festzuhalten versucht: „Leidenschaft bringt in affect, ist aber nicht wie dieser ein Zustand sondern Gemüthsdisposition. Leidenschaft ist schädlicher als affect. Impressio sensus mentis (quoad intellectum) tollens est affectus. Stimulus mentis (voluntatis) imp: toll, est passio. Es gehöret zum imperio mentis (fac:sup:) zuerst das aequilibrium animi. Was das aequil: unmöglich macht, d.i. das Vermögen, einen Theil der Sinnlichkeit mit dem Ganzen proportionirlich zu vergleichen, hebt das Imperium mentis auf."169

Die Herrschaft der Vernunft setzt somit das „aequilibrium animi", das Gleichgewicht der Seele voraus, weil dadurch erst ein Vergleich zwischen verschieCf. R 7197 (1773-1804?).

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denen Gefühlen und Neigungen im Hinblick auf ein Ganzes (der Gefühle bzw. der Befriedigung der Neigungen) möglich ist. Es liegt daher im wohlverstandenen Interesse der Vernunft, ein solches Gleichgewicht zu bewahren, wo es gegeben ist, und herzustellen, wo es fehlt.170 Es ist nun wichtig zu erkennen, daß die Leidenschaften (und auch die Affekte) sowohl der Glückseligkeit wie der Sittlichkeit widerstreiten. Die Aufgabe, die Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit, d.h. die Selbstbeherrschung zu wahren, gehört im gleichen Maße zur Klugheits- wie zur Sittlichkeitslehre. Derjenige, der seinen Leidenschaften nachgibt und sich nicht beherrschen kann, handelt wie ein Tor, der sein Glück verspielt, nämlich unklug, und er handelt unsittlich, wenn er dadurch (zugleich) gegen das Sittengesetz verstößt. Die Selbstbemeisterung und die Herrschaft über sich selbst sind Voraussetzungen, um sittlich handeln zu können, aber auch, um das zu tun, was glücklich macht und zu einer dauerhaften Befriedigung aller Neigungen führt. In einer anderen Reflexion notierte sich Kant: „Neigungen, vereinigt durch die Vernunft, stimmen zur Glückseligkeit, d.i. zum Wohlbefinden aus der dauerhaften Befriedigung aller unserer Neigungen. Neigungen einzeln, wenn sie auf die Befriedigung der übrigen die Aufmerksamkeit verhindern, widerstreiten der Glückseligkeit. Leidenschaften also widerstreiten natürlicherweise sowohl der Glückseligkeit als der Sittlichkeit."171

Man kann daraus die Schlußfolgerung ziehen, daß bei der Autokratie der reinen praktischen Vernunft die eigentliche, die spezifische Opposition nicht zwischen der Sittlichkeit und der Sinnlichkeit im Sinne der Leidenschaft oder des Affekts besteht (als der einzelnen Neigung oder dem einzelnen Affekt, die sich der vernünftigen Überlegung entgegenstellen und damit die Verwirklichung eines Ganzen des Wohlbefindens unmöglich machen), sondern zwischen der Sittlichkeit und der Glückseligkeit. Wenn man also der sittlichen

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Die Fähigkeit, sich Zwecke zu setzen, die im Ganzen begründet sind (im Sinne von Regeln der Zwecke, die zu haben man als tunlich für den eigenen Willen ansieht), ist die innere Freiheit. Die Freiheit der Willkür ist auch die Freiheit, sich im Sinne eines ins Belieben gestellten inneren Handelns Zwecke setzen zu können oder auch es zu lassen. Maximen der Zwecke waren dann solche Regeln, in denen das Haben von Zwecken als tunlich für einen selbst betrachtet wird Diese Fähigkeit hängt unmittelbar damit zusammen, daß man die Fähigkeit besitzt, ein Ganzes von Bestimmungsgründen für diese Regeln zu fassen, und dazu gehört die Meisterschaft über die Affekte („daß man sich jederzeit bemeistern kann") und die Herrschaft über die einzelnen Leidenschaften. Cf. MS/TL A 50: „Zur inneren Freiheit aber werden zwei Stücke erfordert: seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister (animus sui compos) und über sich selbst Herr zu sein (Imperium in semetipsum), d.i. seine Affekte zu zähmen und seine Leidenschaften zu beherrschen." (Herv. Kant). Cf. R 6610 (1769-70?).

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(der reinen praktischen) Vernunft gleichfalls die Kraft der Autokratie zusprechen will, - und man muß es, wenn der reinen praktischen Vernunft bzw. der Idee des reinen Willens irgendeine Realität zukommen soll - , dann muß sich diese Kraft nicht gegen die Leidenschaft oder den Affekt richten, sondern gegen das Verlangen nach Glückseligkeit und damit gegen die Vorstellung eines Maximums des Wohlbefindens, sofern diese Vorstellung zum alleinigen Maßstab der Richtigkeit von Maximen der Zwecke erhoben wird, der zu folgen eine Person für richtig hält. Die Autokratie der reinen praktischen Vernunft besteht für Kant in dem Vermögen, sich gegen die Zwecksetzungen der empirisch-bedingten Vernunft durchzusetzen und aus Achtung fürs Gesetz nur solche Maximen für richtig zu halten, die mit dem Gesetz übereinstimmen, d.h. aus Achtung fürs Gesetz die Tugend zum höchsten Zweck zu machen.

4. Die Achtung förs Gesetz A. Stellung und Bedeutung der Achtung Im Urteil der Vernunft steht zwar fest, daß das Gesetz die alleinige Triebfeder des Willens ist. Dies entlastet aber nicht von der Aufgabe, wie Kant in der KpV formuliert, „sorgfältig zu bestimmen, aufweiche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen, als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe."172

Kants These lautet bekanntlich, daß die Wirkung des Gesetzes auf das menschliche Begehrungsvermögen im Gefühl der Achtung besteht und daß die Achtung fürs Gesetz die einzige wahrhaft sittliche Triebfeder der Willensbestimmung ist. Das Verständnis dieser These hängt entscheidend davon ab, daß man versteht, „auf welche Art" das moralische Gesetz Triebfeder wird. Zunächst steht außer Frage, daß die Achtung fürs Gesetz auf das menschliche Begehrungsvermögen beschränkt ist. Das Gefühl der Achtung fürs Gesetz setzt voraus, daß der reinen praktischen Vernunft Hindernisse in Gestalt der Sinnlichkeit bei der Bestimmung des Willens entgegenstehen, über die sie sich insgesamt als mächtiger und stärker beurteilen muß. Sobald diese Hindernisse wegfallen, fällt auch die Achtung fürs Gesetz weg. Insofern ist der heilige Wil-

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le nicht fähig, ein Gefühl der Achtung zu empfinden. Dieser Unterschied ist wichtig. Denn sowohl beim menschlichen wie beim heiligen Willen handelt es sich nicht mehr um einen Willen, der bloß objektiv betrachtet und dabei als reiner Wille bestimmt wird. Vielmehr wird in beiden Fällen der reine Wille auch subjektiv betrachtet, also unter den Bedingungen seiner Wirklichkeit und damit unter Einbeziehung aller Bestimmungen, die zu seiner Existenz gehören oder doch gehören könnten. Im Unterschied zum menschlichen Willen sind diese zusätzlichen Bestimmungen beim heiligen Willen nicht von der Art, daß sie als Hindernisse aufträten, durch die die Realität des reinen Willens eingeschränkt würde. Beim heiligen Willen ist das Gesetz der alleinige (reale) Grund der Verwirklichung von Handlungen, ohne daß das Gesetz selbst darin in einem Verhältnis zu einschränkenden Gegengründen gedacht werden müßte. Beim menschlichen Willen hingegen ist das Gesetz zwar auch als (realer) Grund der Verwirklichung von Handlungen bestimmt, doch wird es darin in einem dynamischen Verhältnis zu einschränkenden Gegengründen gedacht. Nur unter der Voraussetzung, daß das Gesetz (oder genauer: der objektive Grund dafür, esför richtig zu halten) in einem dynamischen Gegenverhältnis steht, kann seine Stärke im Gefühl der Achtung ästhetisch kenntlich werden.173 Es steht auch außer Frage, daß das Gefühl der Achtung fürs Gesetz in Kants Moralphilosophie eine besondere Funktion erfüllt. Das wird u.a. daran deutlich, daß die Beschreibung, die Kant von diesem Gefühl gibt, nicht selten ambivalente, ja paradoxe Züge anzunehmen scheint. So ist die Achtung einerseits das einzige Gefühl, das a priori erkannt werden kann174, andererseits ist es ein Gefühl, das weder mit Lust noch mit Unlust so recht übereinkommen will und dessen Gefühlscharakter damit selbst fraglich wird.175 Die Achtung fürs Gesetz soll Triebfeder des menschlichen Willens sein und doch wird zugleich ausgeschlossen, daß beim sittlichen Handeln jemals etwas anderes als das Gesetz selbst diese Triebfeder sein kann.176 In anderen Formulierungen

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Cf. dazu: KpV, A 134/135. Cf. KpV, A 130: „Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können." Cf. KU, B 36: „Zwar haben wir in der Kritik der praktischen Vernunft wirklich das Gefühl der Achtung (als eine besondere und eigentümliche Modifikation dieses Gefühls, welches weder mit der Lust noch Unlust, die wir von empirischen Gegenständen bekommen, recht übereintreffen will) von allgemeinen sittlichen Begriffen a priori abgeleitet." Kant betont in der KpV, daß „die Triebfeder des menschlichen Willens aber (...) niemals etwas anderes, als das moralische Gesetz sein könne, mithin der objektive Bestimmungsgrund jederzeit

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tritt gerade diese Zwiespältigkeit noch deutlicher zutage, so wenn Kant hervorhebt, daß die Achtung „die Sittlichkeit selbst [ist], subjektiv als Triebfeder betrachtet, indem die reine praktische Vernunft dadurch, daß sie der Selbstliebe, im Gegensatze mit ihr, alle Ansprüche abschlägt, dem Gesetze, das jetzt allein Einfluß hat, Ansehen verschafft."177

Schließlich soll die Achtung fürs Gesetz auf der einen Seite eine Wirkung des Gesetzes sein, auf der anderen Seite wird von Kant ausdrücklich zurückgewiesen, daß die Idee des Sittlichen „Ursache" der Achtung ist.178 Gerade die Anstrengungen, die Kant unternimmt, um zu einer angemessenen theoretischen Beschreibung für das Gefühl der Achtung zu gelangen, deuten darauf hin, daß einer einfachen Behandlung dies Gefühls Schwierigkeiten in der Sache entgegenstehen.179 Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß die Lehre von der Achtung fürs Gesetz in der Kant-Forschung umstritten ist. Während einige Interpreten die Auffassung vertreten, daß die Achtungslehre in der reinen Moralphilosophie am falschen Platz ist und eigentlich in die angewandte Moralphilosophie und in die Psychologie gehört180, sind andere der Ansicht, daß Kant mit der Achtungslehre eine Lösung für (systematische) Probleme seiner Moralphilosophie suchte, die er auf andere Weise, etwa über eine Deduktion des Sittengesetzes, nicht finden konnte181, wobei in der Regel Über-

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und ganz allein zugleich der subjektiv-hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse, ..."(A 127). KpV, A 134. Cf. dazu: KU, B 36: „Allein selbst da leiteten wir eigentlich nicht dieses Gefühl von der Idee des Sittlichen als Ursache her, sondern bloß die Willensbestimmung wurde davon abgeleitet. Der Gemütszustand aber eines irgend wodurch bestimmten Willens ist an sich schon ein Gefühl der Lust und mit ihm identisch, folgt also nicht als Wirkung daraus: welches letztere nur angenommen werden müßte, wenn der Begriff des Sittlichen als eines Guts vor der Willensbestimmung durch das Gesetz vorherginge; da alsdann die Lust, die mit dem Begriffe verbunden wäre, aus diesem als einer bloßen Erkenntnis vergeblich würde abgeleitet werden." Die Pointe in der letzten Bemerkung scheint darin zu liegen, daß der Wille bereits als bestimmt gedacht werden muß, um zu einem Gefühl der Achtung zu gelangen. Das Gute, sofern es noch nicht als für sich allein den Willen bestimmend gedacht wird, kann nicht Grund eines Gefühls sein, durch das dann die Willensbestimmung erfolgt. Das Gesetz kann nicht die Ursache eines Gefühls der Achtung sein, weil man dazu begreifen müßte, wie Freiheit möglich ist. Das Problem der Deduktion würde sich also auf einer anderen Ebene wiederholen, statt auf der der Handlungen, nun auf der der Gefühle. Also kann das Verhältnis zwischen Gesetz und Achtungsgefühl schon allein aus theoretischen Gründen keines zwischen Ursache und Wirkung sein. Zur Entwicklung der Lehre vom moralischen Gefühl bei Kant: Lee (1983). Cf. z.B. Paton (1962), 65; Beck (1960), 210-212. Cf. z.B. Moritz (1965), 424-426; Lauener (1981), 249-262; Henrich (1982), 33-39.

Die Achtung fürs Gesetz

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einstimmung darin besteht, daß der Beitrag, den die Achtungslehre zur Lösung dieser Probleme leistet, unzureichend ist.182 Im Gegensatz dazu möchte ich argumentieren, daß die Lehre von der Achtung fürs Gesetz eine besonders bedeutsame Funktion in Kants System der reinen Moralphilosophie besitzt und daß sie diese Funktion auch erfüllt, ja mehr noch, daß erst durch die Lehre von der Achtung als einer Lehre von der moralischen Triebfeder die reine Moralphilosophie zur Metaphysik wird. Um die Funktion erkennen zu können, die die Lehre von der Achtung fürs Gesetz in Kants Moralphilosophie besitzt, muß man sich klarmachen, daß Kant mit der Achtungslehre nicht in erster Linie eine Lösung für das Problem anstrebt, wie sich eine Übertretung des Sittengesetzes vermeiden läßt. Eine solche Übertretung ist nach der vorgetragenen Analyse nur dann möglich, wenn subjektive und objektive Gründe des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln verwechselt werden und die subjektiven Gründe die Stelle der objektiven einnehmen. Für das Auftreten der Achtung fürs Gesetz ist jedoch nach Kants Auffassung irrelevant, ob die Vertauschung von subjektiven und objektiven Gründen des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln (d.i. von Maximen) im Einzelfall zu einer Übertretung des Gesetzes führt oder nicht. Vielmehr ist das Auftreten der Achtung lediglich an die Art der Gründe gebunden, aus denen praktische Regeln im Einzelfall für richtig gehalten werden. Insofern richtet sich die Achtung fürs Gesetz im Kern gegen die Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen des Fürrichtighaltens von Maximen (des Handdelns) und damit gegen etwas, das man als Überredung im praktischen Denken bezeichnen könnte.183 Da die Gründe des Fürrichtighaltens von Maximen im Wollen bestimmter Zwecke bestehen, kann man auch sagen, daß die Achtung fürs Gesetz sich gegen das Wollen von Zwecken richtet, die nicht vollständig und daher ungeeignet sind, praktische Gesetze zu begründen, und die doch aus bestimmten Gründen für vollständige Zwecke gehalten werden können. Wenn die These stimmt, daß mit der Achtung fürs Gesetz die Unterscheidung zwischen Überzeugung und Überredung im praktischen Denken zur Debatte steht, dann stellt sich freilich die Frage, wie sich eine Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen des Fürrichtighaltens von Maximen verhindern läßt und warum ausgerechnet dem Gefühl der Achtung die Aufgabe zufallen kann, eine solche Verwechslung zu verhindern. 182 183

Cf. demgegenüber Kant-Interpreten, die die Lehre von der Achtung fürs Gesetz zu verteidigen suchen. Hier sind v.a. Broadie/Pybus (1975) zu nennen. Darauf bezieht sich bei Kant die Rede von der „Unlauterkeit" der Gesinnung bzw. des menschlichen Herzens. Cf. Rel., B 22.

202

Die Autokratie der praktischen Vernunft

Nun muß man sehen, daß schon der Begriff der Achtung fürs Gesetz eine Außnerksamkeit (im Sinne eines Achthabens) einschließt, und es liegt daher nahe anzunehmen, daß diese Aufmerksamkeit den eigentlich richtigen Gründen der Willensbestimmung gilt und damit ein Bewußtsein des Unterschieds zwischen subjektiv und objektiv im Hinblick auf diese Gründe impliziert. Zugleich ist für die Achtung fürs Gesetz jedoch charakteristisch, daß sie eine Gefühlskomponente enthält. Die Achtung fürs Gesetz beinhaltet ein Wohlgefallen und gehört in den Bereich der reflektierenden Urteilskraft.184 Insofern gilt, was Kant in der Ersten Fassung der Einleitung zur KU schreibt, daß man nämlich, wenn man den Vernunftbegriff der Freiheit mit dem Begehrungsvermögen verknüpft, „in dieser objektiven Bestimmung zugleich subjektiv ein in der Willensbestimmung enthaltenes Gefühl" antrifft. Allerdings ist dabei „das Erkenntnisvermögen nicht vermittelst der Lust oder Unlust mit dem Begehrungsvermögen verbunden; denn sie geht vor diesem nicht vorher, sondern folgt entweder allererst auf die Bestimmung des letzteren, oder ist vielleicht nichts anders, als die Empfindung dieser Bestimmbarkeit des Willens durch Vernunft selbst, also gar kein besonderes Gefühl und eigentümliche Empfänglichkeit, die unter den Gemütseigenschaften eine besondere Abteilung erforderte."185

Beide Aspekte - daß die Achtung fürs Gesetz sich auf der einen Seite durch eine intellektuelle Komponente (= Aufmerksamkeit auf den objektiven Grund der Willensbestimmung), auf der anderen Seite durch eine emotionale Komponente (= Empfindung der Bestimmbarkeit des Willens durch die Vernunft selbst) auszeichnet - scheinen sich verbinden zu lassen, wenn man die Achtung im Kern als ein Wohlgefallen an der Zweckmäßigkeit des menschlichen Willens für eine Bestimmung durch objektive Gründe (und letztlich durch einen reinen Willen) interpretiert. B. Die unendliche Stärke des Guten a) Das praktische Wohlgefallen und Mißfallen In der Religionsschrift teilt Kant die Selbstliebe in die des Wohlwollens und die des Wohlgefallens (benevolentiae et complacentiae) ein, wobei er hervor-

184 183

Zur Rolle und Bedeutung der Urteilskraft in Kants praktischer Philosophie: Forschner (1974), 272; Riedel (1989). Erste Fassung der Einleitung zur KU, WA, V, 183/184.

Die Achtung fürs Gesetz

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hebt, daß beide vernünftig sein müssen. Die vernünftige Selbstliebe des Wohlwollens gegen sich selbst besteht darin, daß „teils in Ansehung des Zwecks nur dasjenige, was mit dem größten und dauerhaftesten Wohlergehen zusammen bestehen kann, teils zu jedem dieser Bestandstücke der Glückseligkeit die tauglichsten Mittel gewählt werden. Die Vernunft vertritt hier nur die Stelle einer Dienerin der natürlichen Neigung; die Maxime aber, die man deshalb annimmt, hat gar keine Beziehung auf Moralität."186

Die vernünftige Liebe des Wohlwollens gegen sich selbst ist mit dem bereits diskutierten Prinzip der Selbstliebe identisch, das in einen direkten Widerstreit zum Prinzip der Sittlichkeit gerät, sobald es zum unbedingten Prinzip der Willkürbestimmung gemacht wird. Anders verhält es sich mit der vernünftigen Selbstliebe des Wohlgefallens an sich selbst. Hinsichtlich ihrer läßt sich ebenso wie bei der Selbstliebe des Wohlwollens gegen sich selbst zwischen einer bedingten und einer unbedingten Variante unterscheiden. Das bedingte Wohlgefallen an sich selbst ist daran gebunden, daß der Handelnde nach einer praktischen Regel verfährt, deren Befolgung zur Verwirklichung eines gesetzten Ziels fuhrt. In der Religionsschrift bemerkt Kant zur Selbstliebe des bedingten Wohlgefallens: „Eine vernünftige Liebe des Wohlgefallens an sich selbst kann nun entweder so verstanden werden, daß wir uns in jenen schon genannten auf Befriedigung der Naturneigung abzweckenden Maximen (so fern jener Zweck durch Befolgung derselben erreicht wird) Wohlgefallen; und da ist sie mit der Liebe des Wohlgefallens [muß wohl heißen: Wohlwollens, wie in den Erstdrucken, P.K.] gegen sich selbst einerlei; man gefallt sich selbst, wie ein Kaufmann, dem seine Handlungsspekulationen gut einschlagen, und der sich wegen der dabei genommenen Maximen seiner guten Einsicht erfreut."187

Von diesem bedingten (weil vom Erfolg der angenommenen Maximen und begangenen Handlungen abhängigen) Wohlgefallen an sich selbst muß das unbedingte Wohlgefallen an sich selbst unterschieden werden. Beim unbedingten Wohlgefallen an sich selbst besteht der Maßstab nicht im Erfolg oder Mißerfolg der begangenen Handlungen und befolgten Maximen. Vielmehr scheint es sich nach einer Bemerkung Kants darauf zu beziehen, daß die Achtung fürs Gesetz (und nichts anderes) höchste Triebfeder der Willensbestimmung ist: ,AHein die Maxime der Selbstliebe des unbedingten (nicht von Gewinn oder Verlust als den Folgen der Handlung abhängenden) Wohlgefallens an sich selbst würde das innere Prinzip einer, allein unter der Bedingung der Unterordnung unserer Ma186 187

Cf.Äe/.,B50/51 Anm. Cf. ibd.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

ximen unter das moralische Gesetz, uns möglichen Zufriedenheit sein. Kein Mensch, dem die Moralität nicht gleichgültig ist, kann an sich ein Wohlgefallen haben, ja gar ohne ein bitteres Mißfallen, an sich selbst, sein, der sich solcher Maximen bewußt ist, die mit dem moralischen Gesetze in ihm nicht übereinstimmen. Man könnte diese die Vernunftliebe seiner selbst nennen, welche alle Vermischung anderer Ursachen der Zufriedenheit aus den Folgen seiner Handlungen (unter dem Namen einer dadurch sich zu verschaffenden Glückseligkeit) mit den Triebfedern der Willkür verhindert. Da nun das letztere die unbedingte Achtung fürs Gesetz bezeichnet, warum will man durch den Ausdruck einer vernünftigen, aber nur unter der letzteren Bedingung moralischen Selbstliebe sich das deutliche Verstehen des Prinzips unnötigerweise erschweren, indem man sich im Zirkel herumdreht (denn man kann sich nur auf moralische Art selbst lieben; soferne man sich seiner Maxime bewußt ist, die Achtung fürs Gesetz zur höchsten Triebfeder seiner Willkür zu machen)?"188

Das unbedingte Wohlgefallen an sich setzt also zum einen voraus, daß die Maximen, nach denen man handelt, mit dem Gesetz übereinstimmen, zum anderen, daß man sie „aus Achtung fürs Gesetz" und aus keinem anderen Grund für richtig hält, sich zu eigen macht und befolgt. Dies schließt nicht nur ein, daß die praktischen Regeln, denen der Handelnde folgt, oder gar die Handlungen, die er begeht, mit dem Sittengesetz übereinstimmen müssen, sondern auch, daß die Gründe, die er hat, nach diesen praktischen Regeln zu verfahren oder diese Handlungen zu begehen, mit den Gründen identisch sind, auf denen auch die (objektive) Richtigkeit der praktischen Regel beruht. Wenn dem aber so ist, dann wird man umgekehrt annehmen müssen, daß der Handelnde an solchen praktischen Regeln und Handlungen ein Mißfallen empfinden müßte, die er, selbst wenn sie richtig sind und aus dem allgemeinen Gesetz abgeleitet werden können, aus Gründen für gerechtfertigt hält, die nicht mit den objektiven (und eigentlich moralischen) Gründen übereinstimmen. Nun bemerkt Kant an der zitierten Stelle aber auch, daß man sich das Verständnis des moralischen Prinzips unnötig erschwere, wenn man neben der Achtung fürs Gesetz noch eine moralische Selbstliebe (oder Selbstzufriedenheit) annehme. Man kann dies so verstehen, daß die Achtung fürs Gesetz vom unbedingten Wohlgefallen an sich selbst nicht zu trennen ist und in gewisser Weise ein Wohlgefallen an sich selbst bereits enthält. Worauf bezieht sich dieses in der Achtung enthaltene Wohlgefallen? Um hierauf eine Antwort geben zu können, muß man etwas weiter ausholen und zunächst näher bestimmen, worauf das Wohlgefallen an sich selbst, von dem Kant spricht, seinem Wesen nach beruht. 188

Cf. ibd. Herv. Kant

Die Achtung fürs Gesetz

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In der KU definiert Kant das praktische Wohlgefallen im Unterschied zum ästhetischen Wohlgefallen am Schönen und zum pathologisch-bedingten Wohlgefallen am Angenehmen als ein Wohlgefallen am Guten und bestimmt dieses genauer auf folgende Weise: „Gut ist das, was vermittelst der Vernunft, durch den bloßen Begriff, gefällt. Wir nennen einiges wozu gut (das Nützliche), was nur als Mittel gefallt; ein anderes aber an sich gut, was für sich selbst gefallt. In beiden ist immer der Begriff des Zwecks, mithin das Verhältnis der Vernunft zum (wenigstens möglichen) Wollen, folglich ein Wohlgefallen am Dasein eines Objekts oder einer Handlung, d.i. irgend ein Interesse, enthalten."189

Kant unterscheidet also im Hinblick auf das Gute zwischen dem, was nur als Mittel, und dem, was nicht nur als Mittel, sondern auch als Zweck gut ist, und entsprechend zwischen einem Wohlgefallen am bloßen Mittel und einem Wohlgefallen an etwas, das nicht bloß Mittel (und mittelbar gut), sondern (immer) auch Zweck (und unmittelbar gut) ist. In beiden Fällen (und nicht nur im zweiten Fall) ist die Beziehung auf einen Zweck (und zwar den Zweck eines möglichen oder wirklichen Wollens) für das Zustandekommen eines praktischen Wohlgefallens entscheidend.190 Im Sinne eines Wohlgefallens am mittelbar Guten (oder eines bedingten Wohlgefallens an sich selbst) hat man nach Kant ein Wohlgefallen an derjenigen Handlung, die zum Erfolg, mithin zur Verwirklichung eines gewollten Zwecks führt. Umgekehrt empfindet man ein Mißfallen an derjenigen Handlung, die untauglich ist, einen begehrten Zweck zu verwirklichen. Damit eine Handlung, die man begeht oder begehen könnte, das eigene Wohlgefallen erregt, muß sie sich als zweckmäßig für die Herbeiführung eines begehrten Zwecks erweisen. Wenn man jedoch das Wohlgefallen am mittelbar Guten von einem (durch den Erfolg begründeten) Urteil über die Zweckmäßigkeit dessen abhängig macht, was notwendig ist, um einen gewollten Zweck zu verwirklichen, dann gibt es keinen Grund, das Wohlgefallen auf die Handlung zu beschränken, die zur Verwirklichung des Zwecks führt. Vielmehr muß man annehmen, daß es sich auf das zweckmäßige und als zweckmäßig beurteilte Zu189 190

KU, B 10. Herv. Kant Zum Begriff des Nützlichen auch: KpV, A 102/103. Kants Behauptung, wonach das Wohlgefallen am Guten stets ein Wohlgefallen an etwas ist, was durch den bloßen Begriff gefallt, stimmt, wie man leicht erkennen kann, mit seiner Erklärung des Zweckbegriffs zusammen. Nach dieser Erklärung ist ein Zweck der objektive Grund der Selbstbestimmung des Willens. Ein solcher Grund kann die Vorstellung eines Zwecks nur sein, wenn sie eine begriffliche Vorstellung ist, nämlich der Begriff von einer Wirkung der Bestimmung der eigenen Willkür. Nur als begriffliche Vorstellung kann die Zweckvorstellung auch praktische Regeln begründen.

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sammenwirken all der Elemente und Faktoren bezieht, die wesentlich zur Struktur des praktischen Denkens gehören. Das Wohlgefallen am mittelbar Guten erstreckt sich auf alles, was dazu dient, einen begehrten Zweck zu realisieren. Das heißt im einzelnen, daß nur dann ein Wohlgefallen an der Handlung zustande kommen und dieses Wohlgefallen zugleich eines an sich selbst sein kann, wenn die praktische Regel, nach der die Handlung erfolgt, mit dem gewollten Zweck übereinstimmt und sowohl die durch die Regel bestimmbare Willkür als auch der regelgebende Wille als solcher zweckmäßig für die Realisierung dieses Zwecks sind. Man kann also nur dann ein (bedingtes) Wohlgefallen an sich selbst empfinden, wenn sich die begangene oder zu begehende Handlung, die praktische Regel, nach der sie erfolgt, sowie das Vermögen der Willkür und des Willens als zweckmäßig für die Verwirklichung eines begehrten Zwecks erweisen. Es ist außerdem leicht einzusehen, daß man nur dann ein uneingeschränktes Wohlgefallen an sich selbst und seinen Handlungen empfinden kann, wenn kein Widerstreit zwischen den eigenen Zwecken auftritt. Kommt es dagegen zu einem Widerstreit zwischen den eigenen Zwecken (derart, daß die Verwirklichung des einen Zwecks notwendigerweise die Verwirklichung anderer gleichfalls begehrter Zwecke verhindert), dann mischt sich in das Wohlgefallen an der Verwirklichung des einen Zwecks notwendigerweise das Mißfallen an der dadurch verhinderten Verwirklichung der anderen Zwecke. Zugleich gelangt man, je nachdem, welchen der begehrten Zwecke man als Maßstab zugrundelegt, zu widerstreitenden Urteilen über die Zweckmäßigkeit des eigenen Begehrungsvermögens. Können also zwei (oder mehr) begehrte Zwecke nicht zugleich realisiert werden, so muß man, um zu einer Entscheidung darüber gelangen zu können, welche der widerstreitenden Zwecke man vorrangig verwirklichen möchte, diese Zwecke insgesamt bewerten und in einem gegliederten Ganzen zusammenfassen. In einer solchen hierarchischen Ordnung sind die Zwecke entweder koordiniert (wenn sie sich nicht widerstreiten) oder (als Mittel) einander subordiniert (wenn sie sich widerstreiten). Das Zustandekommen einer hierarchischen Zweckordnung hängt wiederum davon ab, daß man imstande ist, die eigenen Zwecke untereinander zu vergleichen und im Hinblick auf einen den Vergleich ermöglichenden gemeinsamen Maßstab zu bewerten. Die Zusammenfassung von Zwecken zu einem geordneten Ganzen setzt also voraus, daß die Person über ein Vermögen der Vergleichung und Bewertung (Größenschätzung) von Zwecken verfügt und daß dieses Vermögen im Hinblick auf das Ziel der Errichtung einer Zweckordnung zweckmäßig ist. Das

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Wohlgefallen an sich selbst besteht dann in einem Wohlgefallen an der eigenen Zweckmäßigkeit (seiner Handlungen, seiner Zwecksetzungen und seiner praktischen Vermögen), die sich an einem übergeordneten Zweck bemißt. Ist die Errichtung einer solchen Zweckordnung erfolgt, dann erscheint in jedem Fall, in dem ein einzelner (untergeordneter) Zweck aus der Ordnung der Zwecke herausgenommen und an die Stelle des Ganzen gesetzt wird, ein Mißfallen an sich selbst unvermeidlich, und zwar auch dann, wenn die Verwirklichung des einzelnen Zwecks gelingen sollte. Denn daß es zur Überordnung eines eigentlich untergeordneten Zwecks kommt, sei es auch nur aus einem Mangel der Vergleichung mit anderen Zwecken, ist gemessen an dem, was vernünftigerweise erforderlich wäre, d.h. bezogen auf das übergeordnete Zweckganze unzweckmäßig und insofern Gegenstand eines Mißfallens.191 Man kann also zusammenfassend sagen, daß das Wohlgefallen am mittelbar Guten jederzeit von Zweckbestimmungen abhängig ist, wobei diese Zwekke wiederum im Verhältnis zu anderen Zwecken bestimmt und ihrer Größe gemäß geordnet sein müssen. Zum Wohlgefallen an sich selbst gehört dabei nicht nur, daß man das richtige Mittel zur Verwirklichung eines begehrten Zwecks wählt und die eigene Willkür und der eigene Wille faktisch jeweils so organisiert sind, daß sie mit dem begehrten Zweck übereinstimmen, sondern auch, daß man in der Lage ist, seine verschiedenen Zwecke insgesamt zu vergleichen, zu bewerten und eine darauf fußende Rangordnung aufzustellen. Das Wohlgefallen am mittelbar Guten ist von einem Urteil darüber abhängig, was zweckmäßig ist. Als praktisches Wohlgefallen schließt dies jedoch ein, daß der oberste Zweck, der als Maßstab für das Urteil über die Zweckmäßigkeit des menschlichen Begehrungsvermögens dient, auch wirklich gewollt und begehrt wird, daß mithin ein Interesse an der Zweckmäßigkeit des menschlichen Begehrungsvermögens für die Verwirklichung eines im empirisch-bedingten Sinn vernünftigen obersten Zwecks (d.h. den in ein Ganzes zusammengefaß191

Man kann sich dies am Verhältnis von Glückseligkeit und Leidenschaft verdeutlichen. Im Ideal der Glückseligkeit wird eine Zusammenfassung aller subjektiven Zwecke in ein Ganzes gedacht, während sich die Leidenschaft auf einen einzelnen Zweck richtet. Zunächst steht fest, daß auch derjenige, der einer Leidenschaft folgt, dabei auf durchaus vernünftige (zweckrationale) Weise vorgehen kann. Auch trifft zu, daß seine Handlungen für ihn Gegenstand eines Wohlgefallens sein werden, wenn durch sie der leidenschaftlich begehrte Zweck erreicht wird. Dieses Wohlgefallen wird aber dann durch ein Mißfallen an sich selbst getrübt sein, das keineswegs moralischer Art zu sein braucht, wenn die Befriedigung der Leidenschaft auf Kosten der Verwirklichung anderer Zwecke geht, die als zur eigenen Glückseligkeit gehörig beurteilt werden. Und dieses Mißfallen bezieht sich nicht bloß darauf, daß einer die Handlungen nicht begeht, die nützlich für die Verwirklichung seines Lebensglücks wären, sondern v.a. darauf, daß er nicht fähig ist, seine einzelnen Zwecke untereinander zu vergleichen und in ihrem wahren Wert (der sich an ihrem Beitrag zur Glückseligkeit bemißt) einzuschätzen.

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ten subjektiven Zwecken) nur dann angenommen werden kann, wenn zugleich angenommen wird, daß dieser Zweck tatsächlich gewollt werden und somit die empirisch-bedingte Vernunft einen Einfluß auf das menschliche Begehrungsvermögen und insofern Realität besitzt. Das Wohlgefallen am unmittelbar Guten, wenn es denn gleichfalls ein Wohlgefallen an der Zweckmäßigkeit von etwas ist, kann nicht ein Wohlgefallen an etwas sein, das das Mittel zur Verwirklichung eines Zwecks ist, der seinerseits relativiert werden kann. Der Zweck, an dem sich die eigene Zweckmäßigkeit bemißt, muß vielmehr einer sein, der allen nur möglichen (und nicht bloß den eigenen subjektiven) Zwecken übergeordnet ist. Könnte man sich als zweckmäßig (in allen seinen Handlungen, in allen seinen Zwecksetzungen und in allen seinen praktischen Vermögen) beurteilen, wäre das Wohlgefallen an sich selbst nicht mehr einschränkbar. Insofern könnte man sagen, daß das unbedingte Wohlgefallen an sich selbst, das, wie sich zeigen wird, in der Achtung fürs Gesetz enthalten ist, als ein Wohlgefallen am unmittelbar Guten sich auf die Zweckmäßigkeit seiner selbst zur Verwirklichung des Zwecks der Menschheit richtet. Zugleich bezieht es sich darauf, daß man sich ein Vermögen der Größenschätzung von Zwecken zusprechen kann, das sich als zweckmäßig für die Schätzung eines Zwecks erweist, der den Wert aller anderen Zwecke und besonders der Glückseligkeit übersteigt. Auch beim Wohlgefallen am unmittelbar Guten wird sowohl ein Urteil über die Zweckmäßigkeit des menschlichen Begehrungsvermögens wie ein Urteil über das vorausgesetzt, was (nun allerdings in einem unbedingten Sinn) vernünftige Zwecke sind. Das Auftreten dieses Wohlgefallens ist notwendig daran gebunden, daß der Zweck, der den Wert (die Größe) aller anderen Zwecke unendlich übersteigt, auch tatsächlich gewollt wird. Will man zeigen, daß die Achtung fürs Gesetz im Kern ein unbedingtes Wohlgefallen an sich selbst einschließt, dann muß man zeigen, zum einen, daß man ein Vermögen besitzt, den Wert eines im unbedingten Sinn vernünftigen Zwecks zu schätzen, und zum anderen, daß dieser Zweck auch tatsächlich gewollt wird.

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b) Die Schätzung des praktischen Werts aa) Der Begriff des Werts In welchem Sinn läßt sich Zwecken eine Größe zusprechen und welche Konsequenzen hat eine solche Größenbestimmung für die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Gründen des Fürrichtighaltens von Maximen? In seiner Metaphysica definiert Baumgarten: „Gradus utilitatis valor et iudicium de valore pretium (aestimatio) dicitur",

wobei er „valor" mit „Wert", „pretium" (bzw. „iudicium de valore") mit „Preis, Achtung, Schätzung, Würdigung" übersetzt.192 Für Baumgarten ist folglich die Achtung oder Schätzung eines Dings ein Urteil über seinen Wert, und der Wert eines Dings besteht im Grad seiner Nützlichkeit. In der Vorlesung zur Metaphysik Mrongovius versieht Kant diese Definition Baumgartens mit einem Kommentar und führt dabei zusätzliche Unterscheidungen ein: „Was Mittel zum Guten ist, ist nützlich. Der Grad der Nützlichkeit ist Werth oder pretium; der äußere Werth ist Preis, der innere dignitas, Würde, und der Mensch allein so fern er moralisch gut ist, hat Würde. ... (Gut ist das, was als Grund zu etwas anderm consentirt. Dinge sind absolut oder respectiv gut, bonum absolutum ist dignitas - bonum respective utilitas...)"193

Nach Kant bezeichnet also der Wert eines Dings die Art und den Grad seiner Güte. Die Güte eines Dings kann respektiv sein, wenn man sie lediglich im Hinblick auf etwas anderes bestimmt, und von solcher Art ist die Güte eines Mittels, seine utilitas oder Nützlichkeit. Der Wert von dem, was als Mittel gut ist, kann nur relativ zu dem Zweck, für dessen Verwirklichung es gedacht ist, beurteilt werden und ist daher nur ein äußerer. Die Güte eines Dings kann aber auch absolut sein, wie im Fall der Güte des moralisch handelnden Menschen, seiner dignitas oder Würde. Für diese Art der Güte ist charakteristisch, daß sie ganz unabhängig von anderem besteht. Daher kann ihr Wert für sich festgestellt werden, er ist also nicht ein äußerer, sondern ein innerer. Man kann sich leicht klarmachen, daß im Fall der relativen Güte eines Dings der Wert, den man ihm zusprechen kann, der Ausdruck für die Größe eines Grundes ist (nämlich eines Grundes der Verwirklichung von Zwecken)

192 193

Cf. Baumgarten, Metaphysica § 337. Cf Metaphysik Mrongovius, AA 29.1,2, 846.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

und insofern unter die Bestimmung der quantitas qualitatis fällt.194 Den Wert eines Dings zu schätzen bedeutet, die Größe zu bestimmen, die das Ding als Grund besitzt. Da ihre Größe von der Größe der Folgen abhängt, die Folgen aber in Zwecken bestehen, bedarf es zu ihrer Schätzung der Bestimmung, sei's der Größe, sei's der Vielheit von Zwecken. Diese Folgen müssen zugleich gewollt werden, also als Zwecke im Hinblick auf ein Wollen bestimmt sein. Ein Urteil über den äußeren Wert eines Dings (seine Nützlichkeit oder Brauchbarkeit) läßt sich daher nur fällen, wenn eine Urteilshinsicht durch die Vorgabe eines Zwecks festgelegt ist. Es kann sich dann herausstellen, daß etwas, das im Hinblick auf einen bestimmten Zweck einen größeren Wert besitzt als etwas anderes, im Hinblick auf einen anderen Zweck seinen Wert gänzlich verliert. Zugleich hängt von der Größe der Zwecke auch der Wert des Dings ab, das als Mittel zu ihrer Verwirklichung dient. Daher stößt man zwangsläufig auf die Frage, auf welche Weise sich einem Zweck als solchem ein Wert zusprechen läßt? Sieht man davon ab, daß man einem Zweck dann einen Wert zusprechen kann, wenn er im Verhältnis zu einem anderen (begehrten) Zweck als Mittel zu dessen Verwirklichung dient, weil in diesem Fall der Wert des Zwecks eigentlich der eines Mittels und somit relativ zu einem anderen Zweck ist, dessen Wert seinerseits bestimmt werden muß, dann bleibt als Alternative nur übrig, daß einem Zweck als solchem dann ein Wert zuzusprechen ist, wenn er nicht bloß im Hinblick auf einen anderen Zweck, d.h. unter der Bedingung eines bereits bestehenden Begehrens begehrt wird, sondern schlechthin und unbedingt und wenn er im Hinblick auf jeden anderen Zweck einen Vergleich und damit eine Bewertung (eine Bestimmung seiner Größe) erlaubt. Es ist nun interessant zu sehen, daß das Ideal der Glückseligkeit nach Kant ein solcher Zweck zu sein scheint, der jedenfalls für Menschen einen unbedingten Wert zu besitzen scheint und der als Maßstab für alle anderen Zwecke dient, sofern diese Mittel sind, die Glückseligkeit herbeizuführen. In der Tat lassen sich alle Zwecke unter dem Gesichtspunkt vergleichen und bewerten, 194

Entsprechend kann man im Hinblick auf den Wert, den ein Ding besitzt, noch genauer zwischen seiner Nützlichkeit und seiner Brauchbarkeit unterscheiden, wobei man von Nützlichkeit spricht, wenn das Ding Grund (Mittel) der Verwirklichung eines bestimmten Zwecks (und darin mehr oder weniger vollkommen) ist, und von Brauchbarkeit, wenn es der Grund der Verwirklichung einer Vielheit von Zwecken ist. Ein Mittel ist umso nützlicher, je vollkommener durch seine Anwendung ein begehrter Zweck realisiert werden kann; es ist umso brauchbarer, je mehr Zwecke dadurch realisiert werden können. So ist Geld „ein Mittel, was unter allen Sachen von der höchsten Brauchbarkeit ist" (MS/RL, AB 123); denn es dient dazu, uns die Mittel zur Verwirklichung aller möglichen Zwecke zu verschaffen, es kann also als Äquivalent an die Stelle aller Mittel gesetzt werden - doch kann es zugleich ganz und gar unnützlich sein.

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wieviel an Annehmlichkeit sie bewirken und zu dem Maximum des Wohlbefindens beitragen, auf das sich das Ideal der Glückseligkeit bezieht. In einer Anmerkung zur Religionsschrift schreibt Kant: „Glückseligkeit ist, unserer Natur nach, für uns, als von Gegenständen der Sinnlichkeit abhängige Wesen, das erste und das, was wir unbedingt begehren."195

Insofern mögen die Menschen sich die Glückseligkeit „immer zu ihrem letzten subjektiven Zwecke machen".196 Als letzter subjektiver Zweck läßt sich sein Wert nicht mehr relativ (als Mittel) zu einem anderen subjektiven Zweck bestimmen. Gleichwohl ist Kant der Auffassung, daß das Ideal der Glückseligkeit, mag es auch immer der letzte subjektive Zweck der Menschen sein mag, keine absolute Größe, keinen Wert an sich besitzt. Offenbar genügt es nicht, von einem Zweck festzustellen, daß er letzter Zweck und tatsächlich von jedem Menschen gewollt wird, um ihm einen unbedingten Wert zusprechen zu können. Die Frage stellt sich daher, unter welchen Bedingungen ein Ding einen absoluten Wert besitzt und welchem Zweck ein solcher Wert zukommt? In welcher Richtung ein solcher Zweck zu suchen ist, der einen absoluten Wert besitzt, läßt sich durch eine kurze Überlegung andeuten. Man muß dazu einen Zweck denken, der der schlechthinnige Grund der Verwirklichung eines Ganzen aller nur möglichen Zwecke (also nicht nur der eigenen wirklich gewollten Zwecke eines Subjekts) ist. Von diesem Zweck müßte man sagen können, daß man ihn immer dann begehren muß, wenn man überhaupt irgendeinen Zweck begehrt, und daß das, was man darin begehrt, etwas ist, das nicht bloß einen Wert besitzt als Mittel relativ auf andere begehrte (subjektive) Zwecke, sondern etwas, das einen absoluten Wert hat, sofern man überhaupt Zwecke begehrt. Ließe sich ein solcher Zweck finden und angeben, dann hätte man einen einheitlichen Maßstab zur Beurteilung des Werts aller anderen überhaupt nur möglichen Zwecke. Es ist leicht einzusehen, daß dieser Zweck auch vorausgesetzt werden muß, wenn man seine eigene Glückseligkeit begehrt. Diese Überlegungen werden durch Ausführungen bestätigt, die Kant in der GMS im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen einem äußerlichen und einem innerlichen, einem relativen und einem absoluten Wert macht. Kant bezeichnet den relativen Wert eines Dings als Preis, den absoluten als Würde.

195 194

Rel., B 52 Anm. Herv. Kant. Cf. KU, B 399 Anm.

212

Die Autokratie der praktischen Vernunft

Der Unterschied liegt ihm zufolge darin, daß sich für dasjenige, das einen äusseren Wert (einen Preis) besitzt, ein Äquivalent angeben läßt, für dasjenige, das eine Würde besitzt, hingegen nicht. Einen solchen Wert, der kein Äquivalent verstattet und über allen Preis erhaben ist, spricht Kant der Menschheit zu, sofern sie zur Moralität fähig ist und damit die Bedingung erfüllt, „unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann".197 Die Glückseligkeit scheint dagegen gerade nicht ein Zweck an sich zu sein, d.h. keine Würde zu besitzen und insofern keine Größe zu haben, die bloß sich selbst gleich wäre und kein Äquivalent verstattet. Als Zweck an sich kommt der Menschheit ein Wert zu, der unvergleichlich ist, weil er nur sich selbst gleich ist. Um der Menschheit aber einen solchen Wert zuschreiben zu können, muß sie allemal auch als ein Mittel gedacht werden, d.i. als ein Grund der Verwirklichung eines Zwecks, nur daß dieser Grund eine Größe erreicht, die ihn über alle Vergleichung hinwegsetzt, weil der Zweck einer ist, der alle anderen übertrifft. Das Wohlgefallen am mittelbar Guten ist ein Wohlgefallen an der Zweckmäßigkeit des menschlichen Begehrungsvermögens im Hinblick auf einen mittelbar guten Zweck. Das Wohlgefallen am unmittelbar Guten bezieht sich darauf, daß das menschliche Begehrungsvermögen zweckmäßig ist im Hinblick auf die Verwirklichung eines Zwecks an sich, den es selbst ist, eines Zwecks, der keinen Preis, sondern nur eine Würde hat. Während Baumgarten unter Achtung ganz allgemein und unterschiedslos das Urteil über den Wert eines Dings versteht, verfügt Kant über einen spezielleren Begriff. Das Gefühl der Achtung schließt ein, daß man imstande ist, die Größe (den Wert) eines Zwecks zu bestimmen, der bloß sich selbst gleich ist, und ein Wohlgefallen an der menschlichen Natur zu empfinden, die sich als zweckmäßig für die Verwirklichung eines solchen Zwecks erweist. Zugleich schließt aber das Auftreten der Achtung fürs Gesetz ein, daß ein solcher Zweck an sich auch tatsächlich gewollt wird und insofern Realität besitzt.

197

Cf. GMS, BA 77. Dort heißt es auch: der Wert von Handlungen, die einen inneren Wert besitzen, „besteht nicht in den Wirkungen, die daraus entspringen, im Vorteil und Nutzen, den sie schaffen, sondern in den Gesinnungen, d.i. den Maximen des Willens." Zur Unterscheidung von „innerlich" und „äußerlich": „An einem Gegenstande des reinen Verstandes ist nur dasjenige innerlich, welches gar keine Beziehung (dem Dasein nach) auf irgend etwas von ihm Verschiedenes hat." (KrV, B 321). Zur Unterscheidung von Preis und Würde bei Kant: Massey (1983), 58-60.

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bb) Das Erhabene Mit der Frage, wie die Schätzung einer Größe erfolgen kann, die bloß sich selbst gleich ist, hat sich Kant ausführlich nur in der KU beschäftigt, und zwar im Zusammenhang seiner Lehre vom Erhabenen. Die Überlegungen, die Kant zum Erhabenen anstellt, lassen sich weitgehend auch auf die Achtung fürs Gesetz übertragen. Sie erlauben es zudem, die bisherigen Betrachtungen zum praktischen Wohlgefallen und zum praktischen Wert zusammenzufassen. Kant unterscheidet im Hinblick auf das Erhabene zwischen zwei Arten der Größenschätzung.198 „Erhaben" wird das genannt, „was schlechthin groß ist"199, und „schlechthin groß" ist wiederum das, „was über alle Vergleichung groß ist" („absolute non comperative magnum").200 Daraus ergibt sich als eine unmittelbare Konsequenz: „Wenn wir aber etwas nicht allein groß, sondern schlechthin-, absolut-, in aller Absicht- (über alle Vergleichung) groß, d.i. erhaben, nennen, so sieht man bald ein: daß wir für dasselbe keinen ihm angemessenen Maßstab außer ihm, sondern bloß in ihm zu suchen verstatten. Es ist eine Größe, die bloß sich selber gleich ist."201

Die eigenartige Bestimmung des Erhabenen als einer Größe, die bloß sich selbst gleich ist, gilt für beide Arten des Erhabenen, die Kant unterscheidet, nämlich sowohl für das Mathematisch- wie für das Dynamisch-Erhabene. In beiden Fällen hat man es mit einer Größe zu tun, „mit welchem in Vergleichung alles andre klein ist."202 Im Fall des Mathematisch-Erhabenen ist diese Größe extensiv, im Fall des Dynamisch-Erhabenen intensiv, also die Größe eines Grundes. Wenn das schlechthin Große eine Größe besitzt, die bloß sich selbst gleich ist, dann verstattet es zwar einen Vergleich, aber kein Äquivalent. Daß ihm keine andere Größe gleichkommen kann, bedeutet, daß es eine Größe ist, mit der verglichen alle anderen Größen klein sind; und darin liegt bereits eine Antwort auf die Frage, wie sich die Vorstellung von einer Größe gewinnen läßt, die bloß sich selbst gleich ist. Eine solche absolute Größe ist zwar als eine positive Größe zu denken, nämlich als eine durch nichts zu vermehrende Einheit (ein Maximum), aber sie läßt sich für uns offenbar nur negativ dadurch schätzen, daß sich im Vergleich zu ihr alle anderen Größen als wesentlich 198 199

200 101 202

Zum Erhabenen bei Kant: Nahm (1956/57), Lazaroff (1980), Guyer (1982), Crowther (1989). Cf. KU, B 80. Cf.ATi/,B81. Cf./Ti/,B84. Cf. ibd.

214

Die Autokratie der praktischen Vernunft

klein erweisen. Die Schwierigkeit bei der Bestimmung einer absoluten Größe besteht darin, die Gewißheit zu erlangen, daß in der Tat alle anderen Größen kleiner sind. Für Kant ergibt sich diese Gewißheit aus einer jeweils charakteristischen Beschränkung unserer verschiedenen Vermögen der Größenschätzung und der Tatsache, daß, sowie der Art und Weise, wie wir uns dieser Beschränkung bewußt werden. In der KU unterscheidet Kant zunächst zwischen dem Vermögen der logisch-mathematischen und dem der ästhetischen Größenschätzung. Das Vermögen der logisch-mathematischen Größenschätzung besteht in der Fähigkeit, jede nur denkbare Größe mit Hilfe eines Progressionsprinzips der Einbildungskraft auszumessen, das in sich unbegrenzt ist. „Die Einbildungskraft schreitet in der Zusammensetzung, die zur Größenvorstellung erforderlich ist, von selbst, ohne daß ihr etwas hinderlich wäre, ins Unendliche fort."203

Bei der logisch-mathematischen Größenschätzung sind alle Größen einschließlich des Unendlichen erfaßbar, aber diese Größen und auch das Unendliche können dabei nicht in einer Anschauung zusammengefaßt und als ein Ganzes dargestellt werden. Insofern ist in ihrem Fall zwar eine comprehensio logica (im Zahlbegriff) möglich, nicht aber eine comprehensio aesthetica.204 Anders beim Vermögen der ästhetischen Größenschätzung. In der Ausmessung von Größen ist dieses Vermögen zwar begrenzt, doch kann es Größen in einer in der Anschauung gegebenen Einheit zusammenfassen und darstellen. Der Unterschied zwischen logisch-mathematischer und ästhetischer Größenschätzung besteht also darin, daß man bei der logisch-mathematischen Grössenschätzung zwar das Unendliche denken kann, aber nicht als ein gegebenes und Einheit besitzendes Ganzes, während man umgekehrt bei der ästhetischen Größenschätzung zwar eine Größe als ein gegebenes und Einheit besitzendes Ganzes darstellen kann, aber nur eine solche, die nicht unendlich ist. Beide Vermögen der Größenschätzung sind also in charakteristischer Weise beschränkt. Sowohl von dem Vermögen der logisch-mathematischen wie von dem der ästhetischen Größenschätzung ist das Vermögen zu unterscheiden, das das Unendliche als ein gegebenes Ganzes zu denken erlaubt: „Das Unendliche aber ist schlechthin (nicht bloß komparativ) groß. Mit diesem verglichen ist alles andere (von derselben Art Größen) klein. Aber, was das Vor20}

204

Cf. KU, B 90. Cf. KU, B 90/91.

Die Achtung fürs Gesetz

215

nehmste ist, es als ein Ganzes auch nur denken zu können, zeigt ein Vermögen des Gemüts an, welches allen Maßstab der Sinne übertrifft. Denn dazu würde eine Zusammenfassung erfordert werden, welche einen Maßstab als Einheit lieferte, der zum Unendlichen ein bestimmtes, in Zahlen angebliches Verhältnis hätte: welches unmöglich ist. Das gegebene Unendliche aber dennoch ohne Widerspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüte erfordert."205

Dieses übersinnliche Vermögen, das es erlaubt, das Unendliche als ein gegebenes Ganzes denken zu können, ist nach Kant die Vernunft. Die Vernunft verbindet in gewisser Weise die spezifischen (komplementären) Leistungen der logisch-mathematischen und der ästhetischen Größenschätzung, weil in dem von ihr gefaßten Gedanken eines gegebenen Unendlichen einerseits die Vorstellung einer unendlichen Größe liegt, zu deren Ausmessung das unbegrenzte Vermögen der logisch-mathematischen Größenschätzung fähig ist, andererseits die Vorstellung einer gegebenen, Einheit besitzenden Größe, deren anschauliche Darstellung in begrenztem Maße durch das (ganz und gar subjektiv bedingte) Vermögen der ästhetischen Größenschätzung gelingt.206 Allerdings ist für den Vernunftgedanken eines gegebenen Unendlichen (oder eines unendlichen gegebenen Ganzen) charakteristisch, daß er sich nicht in der Anschauung darstellen läßt.207 Vermittels des Vermögens der ästhetischen Größenschätzung, das auf die Darstellung der Größen in der Anschauung geht, läßt sich daher das absolut Große nicht fassen. Im Verhältnis zu jeder noch so großen Größe, die sich dank der ästhetischen Einbildungskraft in der Anschauung als Einheit darstellen läßt, ist das absolut Große größer. Da das absolut Große nicht begrenzt und auch nicht Teil eines größeren Ganzen sein kann, ist es gegenüber der endlichen Größe, zu deren anschaulicher Darstellung das begrenzte Vermögen der Einbildungskraft allein zureicht, als das Unendliche bestimmt, dessen Vorstellung das in der fortschreitenden Größenausmessung unbegrenzte Vermögen der logisch-mathematischen Größenschätzung fassen kann. Aber das Unendliche ist ein bloß negativer Begriff, der unbestimmt läßt, wie groß die absolute Größe an sich ist.208 Einen positiven 205 206

207 208

Cf. KU, B 92. Herv. Kant. Alle Betrachtungen zum Erhabenen setzen voraus, daß das Unendliche, an dessen ästhetischer Größenschätzung wir scheitern, gegeben ist. Die Idee eines gegebenen Unendlichen setzt die Vernunft über das logisch-mathematische und über das ästhetische Vermögen der Größenschätzung hinweg. Zum Gedanken des „gegebenen Unendlichen": Wohlfahrt (1980). „Unendlich ist kein Beiwort, was zeigt, wie groß das Ding an sich selbst ist, sondern wie es im Verhältnis auf unsere Begriffe steht. Wenn ich z.B. in Ansehung des Verstandes Gottes sage: er ist unendlich, so erkenne ich bloß, daß, wenn ich, um Gottes Verstand auszumessen, den meinen für's

216

Die Autokratie der praktischen Vernunft

Begriff dieser Größe, der anschauliche Realität hätte, kann man nicht gewinnen, denn dazu bedürfte es eines anschauenden Verstandes. Gleichwohl kann man sich nach Kants Auffassung eine Vorstellung von der Größe der absoluten Größe eines gegebenen und Einheit besitzenden Unendlichen machen, wenn man sie in einen Vergleich mit dem ästhetischen Vermögen der Größenschätzung stellt und dem Maximum an Größe, zu dessen Darstellung man kraß dieses Vermögens imstande ist. Dabei ist entscheidend, daß die Begrenzung, die diesem Vermögen anhaftet, lediglich subjektiver Art ist. Sobald man sich bewußt wird, daß etwas Gegebenes größer ist als das Maximum an Größe, zu dessen anschaulicher Darstellung man fähig ist, wird man sich auch bewußt, daß eine Differenz zwischen dem besteht, was man subjektiv schätzen kann, und dem, was an objektiver Größe möglich ist. Nun bringt Kant im Fall des Erhabenen die verschiedenen Vermögen der Größenschätzung auch in Zusammenhang mit einem Wohlgefallen, und gerade dies ist aufschlußreich für das Verständnis des Wohlgefallens am Guten, das in der Achtung fürs Gesetz enthalten ist. Wenn der Zweck, dem die Vermögen der Größenschätzung dienen, in der Darstellung von Größen besteht, dann muß das ästhetische Vermögen der Größenschätzung (nämlich das der Anschauung) als ein untaugliches Mittel zur Darstellung einer Größe beurteilt werden, die über alle Vergleichung groß ist, und damit letztlich als unzweckmäßig für die Darstellung der Ideen, die sich auf ein solches absolutes Maximum der Größe beziehen. Denn die Darstellung einer solchen Größe gelingt mit diesem Vermögen gerade nicht. Die Unangemessenheit des ästhetischen Vermögens zur Darstellung des schlechthin Großen muß, weil es mit einem Gefühl der Behinderung verbunden ist, ein Gefühl der Unlust, ein Mißfallen an der Unzweckmäßigkeit dieses Vermögens hervorrufen. Andererseits besteht gerade in dem Urteil über die Unangemessenheit des ästhetischen Vermögens eine Zusammenstimmung zum schlechthin Großen, die als zweckmäßig im Hinblick auf die Vernunft und damit wiederum als Grund eines Wohlgefallens beurteilt werden kann. Denn im Urteil über die Unangemessenheit des

Maß annehme, er gegen ihn durch keine Zahl ausgedrückt werden kann. Gott ist das All der Vollkommenheit, dies ist weit mehr gesagt; unendlich ist ein erhabener Ausdruck, er gehört zur ästhetischen Einbildungskraft... Infinitudo bedeutet eine Größe, die alle unsere Kenntnisgründe zu messen übersteigt, ist also ein negativer Begriff und bloß ein Verhältnis auf das Unvermögen unseres Verstandes gegründet." (Vorlesung über Metaphysik Kr AA 28.2,1, 796). Cf. auch folgende Stelle aus der KrV: „Denn die Prädikate von sehr großer, von erstaunlicher, von unermeßlicher Macht und Trefflichkeit geben gar keinen bestimmten Begriff, und sagen eigentlich nicht, was das Ding an sich selbst sei, sondern sind nur Verhältnisvorstellungen von der Größe des Gegenstandes, den der Beobachter (der Weh) mit sich selbst und seiner Fassungskraft vergleicht." (B 656).

Die Achtung fürs Gesetz

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Vermögens und dem damit verbundenen Unlustgefiihl liegt zugleich das Bewußtsein einer Einschränkung des Vermögens im Hinblick auf die Schätzung bestimmter gegebener Größen. Kant schreibt dazu: „Das Gefühl des Erhabenen ist also ein Gefühl der Unlust, aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung, zu der Schätzung durch die Vernunft, und eine dabei zugleich erweckte Lust, aus der Übereinstimmung eben dieses Urteils der Unangemessenheit des größten sinnlichen Vermögens mit Vemunftideen, sofern die Bestrebung zu denselben doch für uns Gesetz ist."209

Das Gesetz der Vernunft besagt, daß alles, was die Natur an Gegenständen der Sinne Großes enthält, für klein zu schätzen ist und damit grundsätzlich überschritten werden kann. Das Wohlgefallen, das im Gefühl des Erhabenen enthalten ist, richtet sich nicht direkt auf das schlechthin Große oder auf die Vernunft, sondern auf das Mißfallen, durch das die Unzweckmäßigkeit der ästhetischen Einbildungskraft zur Schätzung und anschaulichen Darstellung gewisser (gegebener) Größen bewußt wird. Von diesen Größen und ihrer Gegebenheit oder Realität muß in irgendeiner Weise eine Kenntnis bestehen, weil sonst das Vermögen der Einbildungskraft nicht als eingeschränkt erfahren werden könnte. Das Mißfallen an der Unzweckmäßigkeit des ästhetischen Vermögens der Größenschätzung liefert damit einen Beweis ßr die subjektive Realität der Vernunft, ist also seinerseits zweckmäßig und Grund eines Wohlgefallens. Das Wohlgefallen am Erhabenen enthält ein Bewußtsein davon, daß die Bestrebung zu Ideen, die sich in der Anschauung nicht darstellen lassen, ein Gesetz ist und einen Zweck vorgibt, an dem gemessen sich das ästhetische Vermögen der Größenschätzung als unzweckmäßig erweist. Damit gibt Kant eine überaus subtile Antwort auf die Frage, wie sich die Größe von etwas schätzen läßt, das über alle Vergleichung groß ist. Denn von allen Größen, die sich im ästhetischen Vermögen der Größenschätzung darstellen lassen, kann gesagt werden, daß sie aus Gründen, die mit dem Vermögen (und seiner Fassungskraft) zusammenhängen, also aus lediglich subjektiven Gründen wesentlich begrenzt sind. Alle Größen, die die maximale Größe übersteigen, welche mit dem ästhetischen Vermögen darstellbar ist, müssen als solche beurteilt werden, die über alle Vergleichung groß sind. Kant hat die Frage, wie sich eine absolute Größe schätzen läßt, ausführlich im Hinblick auf das Mathematisch-Erhabene erörtert, weniger ausführlich im Hinblick auf das Dynamisch-Erhabene. Doch lassen sich die Ausführungen KU,B97.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

zum Mathematisch-Erhabenen auch auf das Dynamisch-Erhabene übertragen. Denn auch das Dynamisch-Erhabene beruht auf einem Urteil über die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit des sinnlich-anschaulichen Vermögens zur Schätzung einer Größe, die über allen Vergleich erhaben ist. Im Unterschied zum Mathematisch-Erhabenen handelt es sich bei dieser Größe allerdings um die Größe eines gegebenen, wirkenden (realen) Grundes und damit um die Größe der Kraft, die diesem Grund zukommt. Die Größe eines (realen) Grundes (und damit seiner Kraft) läßt sich an der Größe der Folgen messen, die durch ihn gesetzt werden. Wie beim Mathematisch-Erhabenen können in Ansehung der Größe der Folgen wiederum zwei Weisen der Größenschätzung unterschieden werden. Die logische Größenschätzung geht auf die progressive Auffassung der Folgen (durch Zusammensetzung) und ist unbegrenzt; die ästhetische Größenschätzung geht auf die Zusammenfassung der Folgen in ein Ganzes und ist begrenzt. Auf diese Weise gelangt man zu einer doppelten Größenbestimmung: bei der logischen zu einer unendlichen Größe, die allerdings unbestimmt bleibt, bei der ästhetischen zu einer maximalen, die allerdings nur endlich ist und daher immer wieder überboten werden kann. Die Pointe von Kants Überlegungen besteht darin, daß sich die absolute Größe eines Grundes „anschaulich" darstellen läßt, wenn man diesen Grund in einem dynamischen Gegenverhältnis zu einem Grund betrachtet, der das Maximum dessen bildet, was man an Größe durch das ästhetische Vermögen der Größenschätzung bestimmen kann. Dieser in seiner Größe subjektiv schätzbare und als Maßstab für die Größe anderer Gründe dienende Grund besteht in dem eigenen Vermögen, physisch Widerstand zu leisten.210 Zeigt sich, daß etwas diesen Widerstand in jedem Fall zu überwinden und zu überwiegen vermag, dann muß man ihm eine Stärke und Kraft zuschreiben, die es über jede Vergleichung „unendlich" hinwegsetzt, die also nach eigenem Maßstab unwiderstehlich ist. Voraussetzung für die Zuschreibung einer absoluten Größe zu einem gegebenen (realen) Grund ist aber, daß dieser Grund in einem dynamischen Gegenverhältnis zu einem anderen Grund steht, dessen Größe ästhetisch zu schätzen, - nämlich als ein in der Anschauung gegebenes und Einheit besitzendes Ganzes -, uns gerade noch möglich ist. Daß zwei Gründe in einem dynamischen Gegenverhältnis stehen, heißt nach dem Konzept der Realopposition, daß sie sich in ihren Folgen wechselseitig einschränken. Soll also ein Grund im Verhältnis zu einem anderen, ästhetisch gerade noch schätzbaren Grund (dem eigenen physischen VermöCf.ÄTi/,B104.

Die Achtung fürs Gesetz

219

gen zu widerstehen) als über alle Vergleichung groß erscheinen, dann müssen alle Folgen des in seiner Größe schätzbaren Grundes aufgehoben sein, ohne daß gleiches in erkennbarer Weise für den entgegengesetzten Grund gilt.211 Gleichwohl setzt das Urteil über die Erhabenheit in der Natur auch ein Wohlgefallen voraus. Die Betrachtung des Dynamisch-Erhabenen macht uns nach Kant bewußt, daß wir in uns ein Vermögen haben, das die Kraft besitzt, der Natur (nicht nur in uns) Widerstand zu leisten: „Auf solche Weise wird die Natur in unserm ästhetischen Urteile nicht, sofern sie furchterregend ist, als erhaben beurteilt, sondern, weil sie unsere Kraft (die nicht Natur ist) in uns aufruft, um das, wofür wir besorgt sind (Güter, Gesundheit und Leben), als klein, und daher ihre Macht (der wir in Ansehung dieser Stücke allerdings unterworfen sind) für uns und unsere Persönlichkeit demungeachtet doch für keine solche Gewalt anzusehen, unter die wir uns zu beugen hätten, wenn es auf unsre höchste Grundsätze und deren Behauptung oder Verlassung ankäme."212

Wir werden uns also der Kraft bewußt, all das, was in unserem Leben von der äußeren Natur abhängt und unsere Glückseligkeit ausmacht, für gering zu achten, und können uns daher (indirekt) bei der Behauptung und Befolgung höchster moralischer Grundsätze eine Kraft zusprechen, von der wir selbst glauben, daß sie von nichts in der Welt eingeschränkt werden könnte. Insofern ist das Erhabene in der Natur nicht ohne das Bewußtsein einer moralischen Kraft in uns möglich, die auch gegen die stärkste Naturgewalt noch standhält. cc) Das ästhetisch-größte praktische Grundmaß Für das Verständnis der Achtung fürs Gesetz ist das Dynamisch-Erhabene insofern von entscheidender Bedeutung. Obgleich sich die Achtung fürs Gesetz direkt auf die Vorstellung des Gesetzes als einer Triebfeder, als einer Kraft der Willensbestimmung bezieht, die alle anderen möglichen Gründe überwiegt213, ist es (darin dem Urteil über das Erhabene vergleichbar) ein Mißfallen an dem (ästhetischen) Vermögen der Größenschätzung von Zwecken, das ein Wohlge211

212

213

Als Beispiele für eine Macht, eine dynamische Größe der Natur, im Vergleich zu der unser physisches Vermögen, Widerstand zu leisten, verschwindend gering ist, nennt Kant: „Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses" (KU, B 104). Cf. KU, B 105. Im Unterschied zum Urteil über das Dynamisch-Erhabene wird bei der Achtung fürs Gesetz also nicht die äußere Natur ins Spiel gebracht.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

fallen wachruft, weil damit die Größe eines Zwecks (im Sinn eines dynamischen Grundes, also eines wirklich gewollten Zwecks) zum Bewußtsein kommt, der die Größe aller im Ideal der eigenen Glückseligkeit ästhetisch zusammengefaßten, sinnlich bestimmten, subjektiven Zwecke überwiegt. Gerade indem man sich der Unangemessenheit des eigenen Vermögens zur ästhetischen Erfassung eines absoluten Zwecks (eines Ganzen aller nur möglichen Zwecke) bewußt wird, wird man fähig, das Überschreiten der eigenen Grenzen zu denken, und dies ist der Grund des Wohlgefallens an sich selbst, das in der Achtung fürs Gesetz enthalten ist. Kant hat das Ideal der Glückseligkeit ein Ideal der Einbildungskraft genannt und hinsichtlich der ästhetischen Ideale behauptet, daß in ihnen die Einbildungskraft der Vernunft in Erreichung eines Größten nachstrebe, ohne dieses aber jemals zu erreichen.214 Im Ideal der Glückseligkeit drückt sich das Maximum der Größe aus, zu dessen Schätzung man bei einer ästhetisch-praktischen Beurteilung von Zwecken fähig ist. Wenn jeder Wert, den man einer Handlung (oder einem Mittel) zuschreibt, relativ zu einem Zweck ist, dann ist der Zweck der Glückseligkeit als letzter Zweck das ästhetische Grundmaß für allen Wert, und man kann sich subjektiv keinen größeren Wen vorstellen als denjenigen, der der eigenen Glückseligkeit als höchstem Zweck des eigenen Wollens zukommt. Insofern verliert das Leben, wie es scheint, jeglichen Wert, wenn es als Mittel zur Erreichung der Glückseligkeit untauglich wird. Die Pointe von Kants Theorie der eigenen Glückseligkeit und damit seiner Lehre von der Achtung fürs Gesetz liegt offenbar in der These, daß man den Wert eines Zwecks (oder einer Handlung) letztlich nur ästhetisch schätzen und am Nutzen messen kann, den dieser Zweck (oder diese Handlung) für einen selbst hat, und zwar im Hinblick auf die eigenen Begehrungen, die man im Unterschied zu den Begehrungen der anderen, empfinden kann. Zwar kann man sich abstrakt (dank gleichsam eines logisch-mathematischen Vermögens der Größenschätzung im Bereich des Praktischen) unbegrenzt viele mögliche Zwecke auch von anderen Personen denken. Aber als letzter Maßstab im Sinne der Zusammenfassung von Zwecken zu einem Ganzen ist man immer auf den höchsten subjektiven Zweck angewiesen, und das Maximum der Größe dieses Zwecks, zu dessen Schätzung man ästhetisch imstande ist, ist die eigene Glückseligkeit.215 Dasjenige aber, dessen Wert den Wert der eigenen Glückse-

214

219

Cf. QMS, BA 47 und /, 194. Bei der Glückseligkeit kommt es zu einer Zusammenfassung der Größe von Zwecken. Wir stellen uns ein Ganzes an Zwecken vor.

Die Achtung fürs Gesetz

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ligkeit übersteigt, muß als schlechthin und über alle Maße groß im Vergleich zu allem für einen selbst Nützlichen erscheinen. Man kann den Wert, den Handlungen haben, die aus sittlichen Gründen (Zwecken) begangen werden, nicht im Nutzen ausdrücken, den sie für uns haben, und doch ist gerade dies, wie es scheint, die einzige Weise, den Wert einer Handlung subjektiv einzuschätzen. Im Gefühl der Achtung fürs Gesetz wird man sich sowohl der Unangemessenheit des sinnlichen Vermögens zur Darstellung des Werts eines Zwecks bewußt, der in der Idee eines reinen Willens selbst liegt216, wie auch der subjektiven Realität dieser Idee im Sinne des Fürrichtighaltens einer Maxime der Zwecke, in der die Befolgung des Sittengesetzes selbst als der oberste Zweck beurteilt wird, den sich zu setzen und zu haben tunlich für unser Wollen ist. Denn nur dann, wenn man annimmt, daß ein Interesse an der Verwirklichung dieses Zwecks besteht, der den Wert der eigenen Glückseligkeit unendlich übersteigt, kann dem unbedingten Wohlgefallen an sich selbst ein Mißfallen vorausgehen, das sich auf das Maximum dessen bezieht, was uns an Größenschätzung sinnlich möglich ist. Das Mißfallen an der Unzweckmäßigkeit des eigenen Vermögens (letztlich des empirisch-bedingten Willens) ist der Grund eines Wohlgefallens, weil man sich darin zugleich der Eingeschränktheit des eigenen Vermögens bewußt wird und dies wiederum voraussetzt, daß man die Grenzen dieses Vermögens überschreiten und sich des Scheincharakters der Glückseligkeit (als eines Zwecks von scheinbar absoluter Größe) bewußt werden kann. Nun ist das Gefühl des praktischen Mißfallens an sich selbst die Demut. Das Mißfallen an sich selbst setzt ein Urteil darüber voraus, daß die Glückseligkeit unangemessen zur Darstellung allen sittlichen Werts ist. Dieses Urteil und die darauffolgende Demut sind ihrerseits der Grund eines Wohlgefallens. Denn an ihnen zeigt sich, daß man Handlungen einen Wert zusprechen kann, der den Wert der Glückseligkeit (d.i. des ästhetisch-praktischen Maximums) „unendlich" übersteigt. Wenn aber Handlungen begangen werden nach dem Wen, den sie haben, dann kann man sich auch Handlungen vorstellen, die nicht dem Zweck unserer Glückseligkeit dienen. Bei der Achtung fürs Gesetz handelt es sich insofern um eine ästhetische Größenschätzung des Gesetzes (bzw. des Willens) ex negativo. Man kann den Wert, den das Sittengesetz besitzt, nicht anders als dadurch subjektiv ermessen, daß man sich der Unange216

Cf. ATI/, B 96: „Das Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, die für uns Gesetz ist, ist Achtung." (Herv. Kant).

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

messenheit der ästhetisch-praktischen Größenschätzung zu seiner Erfassung bewußt ist.217 Kant will keineswegs behaupten, daß man Handlungen, die der Realisierung des absoluten Zwecks um des absoluten Zwecks willen, auch tatsächlich begeht, sondern lediglich zum Ausdruck bringen, daß man sich solche Handlungen vorstellen kann, die begangen werden rein deshalb, weil man das Sittengesetz für richtig hält, und daß sie insofern jedenfalls möglich sind. Schon dies, daß man sich solche Handlungen vorzustellen vermag, gibt ihm zufolge die Grundlage dafür ab, daß man sein Vermögen der ästhetisch-praktischen Größenschätzung (den empirisch-bedingten Willen) mit Mißfallen betrachten kann. Die Opposition, die zwischen Glückseligkeit und Sittlichkeit besteht, muß also im Zusammenhang mit dem (eingeschränkten) Vermögen gesehen werden, den Wert (die Größe) von Zwecken zu schätzen und ihnen aufgrund dieser Größenschätzung einen Rang zuzuweisen. Dieses Vermögen ist der empirisch-bedingte Wille, d.i. der Wille, der auf die sinnlichen Empfindungen und Begierden für seine eigenen Zwecksetzungen angewiesen und daher ganz ausschließlich auf die eigene Glückseligkeit als höchsten Zweck gerichtet ist. Im Mißfallen an diesem Vermögen wird man sich seiner Eingeschränktheit bewußt - man hat damit aber auch einen Begriff von dem, was man ist oder sein 217

Schätzung der Achtung, so schreibt Kant in der GMS, „gibt also den Wert einer solchen Denkungsart als Würde zu erkennen, und setzt sie über allen Preis unendlich weg, mit dem sie gar nicht in Anschlag und Vergleichung gebracht werden kann". (Cf. GMS, BA 78). Es ist wichtig, daß die Würde im Verhältnis zu allem Preis „unendlich" größer ist; denn dies ist das Kennzeichen dafür, daß es sich um eine ästhetische Größenschätzung handeln muß. Auch sonst hat Kant in seinen moralphilosophischen Schriften die Unvergleichbarkeit des höchsten Zwecks herausgehoben und auf drastische Weise beschrieben, daß man sich der Unvergleichbarkeit der eigenen Würde auch bewußt ist: „Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgibt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdenn nicht seine Neigung bezwingen würde. Man darf nicht lange raten, was er antworten würde. Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm, unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe, zumutete, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu fiberwinden für möglich halte. Ob er es tun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen." (KpV, A 54). Ganz ähnlich lautet eine Stelle in Rel, B 58 Anm.. „ Daß der Begriff der Freiheit der Willkür nicht vor dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes in uns vorhergehe, sondern nur aus der Bestimmbarkeit unserer Willkür durch dieses, als ein unbedingtes Gebot, geschlossen werde: davon kann man sich bald überzeugen, wenn man sich fragt: ob man auch gewiß unmittelbar sich eines Vermögens bewußt sei, jede noch so große Triebfeder zur Übertretung (Phalaris licet imperet ut sis falsus, et admoto dictet periuria tauro) durch festen Vorsatz überwältigen zu können. Jedermann wird gestehen müssen: er wisse nicht, ob, wenn ein solcher Fall einträte, er nicht in seinem Vorsatz wanken würde. Gleichwohl gebietet ihm die Pflicht unbedingt: er solle ihm treu bleiben;..." (Herv. Kant).

Die Achtung furs Gesetz

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könnte, wenn man nicht eingeschränkt wäre. Ausgehend von dem ästhetischpraktischen Vermögen der Größenschätzung kann man sich dieses reinen Willens in sich selbst nur negativ als eines „unendlichen", aber eben eines gegebenen, im Fürrichtighalten einer obersten moralischen Maxime Realität besitzenden Willens bewußt werden.218 c) Die Demut und der Eigendünkel Für die Lehre von der Achtung fürs Gesetz rückt damit etwas anderes in den Vordergrund. Wenn nämlich bei der Achtung für das Gesetz das Mißfallen an sich selbst in Gestalt der Demut die notwendige Voraussetzung dafür ist, ein Wohlgefallen an sich selbst zu empfinden, dann muß das gerade Gegenteil der Achtung ein Wohlgefallen an sich selbst sein, das das Mißfallen an sich selbst nicht voraussetzt. Ein solches Wohlgefallen kann nur auf dem Schein beruhen, daß diejenigen Zwecke, deren Größe sich ästhetisch-praktisch ausmessen läßt, also die subjektiven Zwecke eine maximale Größe annehmen können, über die hinaus keine größere vorstellbar ist. Es muß daher zum Abschluß noch einmal auf die Frage eingegangen werden, wie dieser Schein Zustandekommen kann. Nicht nur in der Religionsschriß, sondern auch im Triebfeder-Kapitel der KpV unterscheidet Kant zwischen der Selbstliebe „eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst (philautia)" und der Selbstliebe eines „Wohlge218

Noch eine andere Stelle zeigt, daß Kant in diese Richtung gedacht hat Die absolute Größe des Gesetzes als eines Realgrundes denken wir uns im Ideal eines heiligen Willens. Das Ideal des heiligen Willens ist der positive intellektuelle Begriff des absoluten Werts des Sittengesetzes. Demgegenüber ist der Begriff der Tugend die Sittlichkeit, wie sie sich einer ästhetischen Größenschätzung darstellt. In der A/S/TL macht Kant die aufschlußreiche Bemerkung, daß die Tugend als Ideal „so glänzt, daß sie nach menschlichem Augenmaß die Heiligkeit selbst, die zur Übertretung nie versucht wird, zu verdunkeln scheint; welches gleichwohl eine Täuschung ist, da, weil wir kein Maß für den Grad einer Starke, als die Größe der Hindemisse haben, die da haben überwunden werden können (welche in uns die Neigungen sind), wir die subjektive Bedingungen der Schätzung einer Größe für die objektive der Größe an sich selbst zu halten verleitet werden.)... Aber mit menschlichen Zwecken, die insgesamt ihre zu bekämpfenden Hindernisse haben, verglichen, hat es seine Richtigkeit, daß der Wert der Tugend selbst, als ihres eigenen Zwecks, den Wert alles Nutzens und aller empirischen Zwecke und Vorteile weit überwiege, die sie zu ihrer Folge immerhin haben mag." (MS/TL, A 32/33. Herv. Kant). Auch in der Religionsschrift bemerkt Kant, daß der Mensch sich ästhetisch keinen Begriff von der Stärke einer Kraft machen kann, als durch die Hindemisse, die er zu überwinden imstande ist: „Denn der Mensch kann sich keinen Begriff von dem Grade und der Stärke einer Kraft, dergleichen die einer moralischen Gesinnung ist, machen, als wenn er sie mit Hindernissen ringend, und unter den größtmöglichen Anfechtungen, dennoch überwindend sich vorstellt." (Rel, B 75). Erst durch das Gegenverhältnis zu allen sinnlichen Gründen wird der sittliche Grund ästhetisch faßbar. Dies allein, nämlich das Bedürfnis, die Größe des sittlichen Zwecks ästhetisch kenntlich zu machen, steht hinter Kants angeblichem Rigorismus.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

fallens an sich selbst (arrogantia)".219 Beide Formen werden auch terminologisch unterschieden: die Selbstliebe eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst nennt Kant Eigenliebe, die des Wohlgefallens an sich selbst Eigendünkel. Im Unterschied zur Religionsschrift hat Kant im Triebfeder-Kapitel der KpV stets die Selbstliebe im Sinne eines unbedingten Wohlwollens gegen sich selbst im Auge, die sich zum Eigendünkel erweitert, sobald sie vom Wohlgefallen an sich selbst begleitet wird. Man hat es also dort mit derjenigen Form der Selbstliebe zu tun, die zum höchsten Bestimmungsgrund des Willens bei der Annahme von Maximen der Zwecke erhoben und dadurch zum geraden Widerspiel des Sittlichen gemacht wird. Im Triebfeder-Kapitel der KpV macht Kant deutlich, daß sich die Achtung fürs Gesetz im Kern gegen den Eigendünkel richtet. Die Unterscheidung zwischen Eigenliebe und Eigendünkel geht auf die Differenz zwischen dem subjektiven Grund des Fürrichtighaltens von praktischen Regeln und dem Schein, kraft dessen der subjektive Grund zugleich für einen objektiven Grund der Richtigkeit praktischer Regeln gehalten werden kann. Während die Eigenliebe darin besteht, das Wohlwollen gegen sich selbst über alles zu stellen, besteht der Eigendünkel in dem Wahn, seine bloß subjektiven im Ideal der eigenen Glückseligkeit zusammengefaßten Zwecke für objektiv, d.h. für ein absolutes, nicht weiter überschreitbares Ganzes zu halten.220 Entsprechend der Unterscheidung zwischen der Eigenliebe und dem Eigendünkel ist hinsichtlich dessen, was vom Sittengesetz gefordert wird, zwischen der bloßen Einschränkung (gegenüber der Eigenliebe) und der gänzlichen Niederschlagung (gegenüber dem Eigendünkel) zu unterscheiden: „Die reine praktische Vernunft tut der Eigenliebe bloß Abbruch, indem sie solche, als natürlich, und noch vor dem moralischen Gesetze, in uns rege, nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze einschränkt; da sie alsdenn vernünftige Selbstliebe genannt wird. Aber den Eigendünkel schlägt sie gar nieder, indem sie alle Ansprüche der Selbstschätzung, die vor der Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen, nichtig und ohne alle Befugnis sind, indem eben die Gewißheit einer Gesinnung, die mit diesem Gesetz übereinstimmt, die erste

219

220

Cf. KpV, A 129. Die Stelle ist nicht ganz eindeutig. Gemeint könnte zum einen eine Einteilung der Selbstsucht in die Selbstliebe und das Wohlgefallen an sich selbst sein, zum anderen der Selbstliebe in eine des unbedingten Wohlwollens gegen sich selbst oder des Wohlgefallens an sich selbst Letztere Lesart paßt besser zur Religionsschrift. Es müßte dann jedoch ein Komma im Text weggelassen werden: - „die der Selbstliebe^ eines Ober".. „Man kann diesen Hang, sich selbst nach den subjektiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objektiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen, die Selbstliebe nennen, welche, wenn sie sich gesetzgebend und zum unbedingten praktischen Prinzip macht, Eigendünkel heißen kann." (KpV, A 131. Herv. Kant).

Die Achtung An Gesetz

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Bedingung alles Werts der Person ist (...) und alle Anmaßung vor derselben falsch und gesetzwidrig ist."221

Der Niederschlagung des Eigendünkels bedarf es jedoch nicht nur im Hinblick auf die Vorstellung, daß es nichts gibt, das mehr anzustreben wäre, als die eigene Glückseligkeit, sondern es bedarf seiner auch in dem Fall, in dem man sich die Tugend zum Zweck macht und sich wähnt, das Sittengesetz immer um seiner selbst willen zu befolgen. Kant behauptet, daß diese Gewißheit der Angemessenheit der eigenen Gesinnung ans Gesetz nie zu erreichen ist. So weist er in der KpV darauf hin, daß die Tugend „wenigstens als natürlich erworbenes Vermögen nie vollendet sein kann, weil die Sicherheit in solchem Falle niemals apodiktische Gewißheit wird, und als Überredung sehr gefahrlich ist".222

Auch in der Religionsschrift macht er darauf aufmerksam, daß sich „das Innere der Gesinnung" nicht aufdecken lasse, sondern daß man darauf, „obzwar nicht mit strenger Gewißheit", nur schließen könne, wobei er ergänzt: , ja selbst die innere Erfahrung des Menschen an ihm selbst laßt ihn die Tiefen seines Herzens nicht so durchschauen, daß er von dem Grunde seiner Maximen, zu denen er sich bekennt, und von ihrer Lauterkeit und Festigkeit durch Selbstbeobachtung ganz sichere Kenntnis erlangen könnte".223

Gerade weil die Gewißheit der Angemessenheit zum Gesetz nicht erlangt werden kann, ist das „Bewußtsein und Gefühl der Geringfähigkeit seines moralischen Werts in Vergleichung mit dem Gesetz"224, d.i. Demut, die einzige dem Gesetz angemessene Haltung. Beim Eigendünkel hingegen wird die Gewißheit der Angemessenheit zum Gesetz gerade in Anspruch genommen. Demut und Eigendünkel stehen insofern im Gegensatz.225 Die eigentliche Gefahr für die Sittlichkeit besteht daher im Eigendünkel, der auf die Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen des Fürrichtighaltens von Maximen hinausläuft und auf Überredung beruht. Das Willenssubjekt überredet sich von seiner Angemessenheit zum Gesetz, obwohl 221

222 223 224 223

KpV, A 129/130. Cf. auch KpV, A 131, wo von „unendlichem Abbruch" statt von „Niederschlagung" die Rede ist: „Nun schließt das moralische Gesetz, welches allein wahrhaftig (nämlich in aller Absicht) objektiv ist, den Einfluß der Selbstliebe auf das oberste praktische Prinzip gänzlich aus, und tut dem Eigendünkel, der die subjektiven Bedingungen der enteren als Gesetze vorschreibt, unendlichen Abbruch." Cf.ATpf.ASS. Cf.Äe/.,B78. Cf. M&TL, A 94. Herv. Kant. Cf. auch MS/TL, A 97 zur Behauptung, daß der Eigendünkel (arrogantia) der „wahren Demut" (humilitas moral is) gerade entgegengesetzt ist.

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

nicht genug Gründe bestehen, diese Angemessenheit mit Gewißheit zu behaupten.226 Auch der Begriff der „ Überredung" besitzt bei Kant eine terminologische Qualität. In der KrV unterscheidet Kant zwischen zwei Weisen des Fürwahrhaltens: der Überzeugung, die auf objektiv zureichenden Gründen beruht und für jeden gültig ist, und der Überredung, die „nur in der besonderen Beschaffenheit des Subjekts seinen Grund" hat. Die Überredung ist nach Kant „ein bloßer Schein, weil der Grund des Urteils, welcher lediglich im Subjekt liegt, für objektiv gehalten wird. Daher hat ein solches Urteil auch nur Privatgültigkeit, und das Fürwahrhalten läßt sich nicht mitteilen. Wahrheit aber beruht auf der Übereinstimmung mit dem Objekte, in Ansehung dessen folglich die Urteile eines jeden Verstandes einstimmig sein müssen (consentientia uni tertio, consentiunt inter se)."227

Anders bei der Überzeugung, dem Gegenbegriff zur Überredung: hier sind die subjektiven Gründe des Fürwahrhaltens mit den objektiven Gründen der Wahrheit gerade identisch. Die Überredung im praktischen Denken führt am Ende zur Selbsttäuschung und insbesondere zum Selbstbetrug. Gegen sie ist das Gebot der Selbsterkenntnis und der Selbstprüfung gerichtet. An diesem Punkt kann man erneut die Überlegungen zu Kants Irrtumstheorie aufgreifen. Denn ebenso wie zur Überredung gehört auch zum Irrtum neben der Vertauschung von subjektiven und objektiven Gründen des Urteils jederzeit ein Schein als derjenige Grund, der die Vertauschung beider Arten von Gründen und damit die Überredung und den Irrtum sowohl erst möglich macht wie auch dazu verleitet.228 Auch die Art des Umgangs, die Kant der Überredung gegenüber empfiehlt, entspricht den Verhaltensmaßregeln, die ihm zufolge gegen den Irrtum ergriffen werden 224

Ganz in diesem Sinn bestimmt Kant den Eigendünkel (oder „Tugendstolz") in der MS/TL: „Die Überredung von einer Größe dieses seinen Werts, aber nur aus Mangel der Vergleichung mit dem Gesetz, kann der Tugendstolz (arrogantia moralis) genannt werden." (MS/TL, A 94/95). 227 KrV, B 848. 228 Der Schein im Praktischen ist der „Wahn". So heißt es in der Anthropologie: „Unter dem Wahne, als einer Triebfeder der Begierden, verstehe ich die innere praktische Täuschung, das Subjektive in der Bewegursache für objektiv zu halten." (B 239). In der Religionsschrifl streitet Kant gegen den kriechenden „Religionswahn", der in der Absicht besteht, sich durch Selbstkasteiung und Selbstgeißelung das Wohlwollen Gottes zu erwerben, und der „in die allgemeine Klasse der Selbsttäuschungen" gezählt werden muß (cf. B 266). Zum Begriff des Wahns bei Kant: Krüger (1967), 143147. Daß sowohl der Überredung wie dem Irrtum ein Schein zugrundeliegt, geht aus einer Stelle in der KU hervor. Kant bemerkt dort, daß von einem Beweis zu fordern sei, daß er nicht bloß überrede, sondern auch überzeuge, „d.i. daß der Beweisgrund, oder der Schluß, nicht bloß ein subjektiver (ästhetischer) Bestimmungsgrund des Beifalls (bloßer Schein), sondern objektivgültig und ein logischer Grund der Erkenntnis sei: denn sonst wird der Verstand berückt, aber nicht überfuhrt." (Cf. KU, B 443/444). Cf. auch KU, B 446: Überredung und Überzeugung sind „beide nicht bloß dem Grade, sondern selbst der Art nach, unterschiedene Bestimmungen des Beifalls."

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müssen. Es kommt darauf an, demjenigen, der sich selbst von der Wahrheit eines falschen Urteils überredet, den Schein bewußt zu machen, dem er erliegt. „Kann man überdem die subjektiven Ursachen des Urteils, welche wir für objektive Gründe desselben nehmen, entwickeln, und mithin das trügliche Fürwahrhalten als eine Begebenheit in unserem Gemüte erklären, ohne dazu die Beschaffenheit des Objekts nötig zu haben, so entblößen wir den Schein und werden dadurch nicht mehr hintergangen, obgleich immer noch in gewissem Grade versucht, wenn die subjektive Ursache des Scheins unserer Natur anhängt."229

Worin besteht nun der Überredung und Eigendünkel ermöglichende Schein im Bereich des Praktischen und inwiefern hängt die Ursache dieses Scheins unserer Natur an? Wie zu zeigen versucht wurde, liegt jeder einzelnen Handlung einer Person, die sich eines Willens bewußt ist, ein praktisches Urteil der Art zugrunde: „für meine Willkür ist jetzt (bei dieser Gelegenheit O') die Handlung a wirklich tunlich". Damit dieses Urteil Ausdruck eines Willens ist, muß es aus Maximen abgeleitet sein der Art: „für meine Willkür ist bei jeder Gelegenheit O die Handlung a wirklich tunlich", und diese müssen sich wiederum, falls sie Ausdruck eines reinen Willens sein sollen, aus einem Gesetz ableiten lassen. Jeder der drei Stufen entspricht das Wollen eines Zwecks (als dem Grund des Fürrichtighaltens der praktischen Regel). Soll das einzelne praktische Urteil aus dem Gesetz abgeleitet sein, dann muß der Grund des Fürrichtighaltens des einzelnen Urteils durch den Grund des Fürrichtighaltens des Gesetzes zumindest determiniert sein: man hält das einzelne Urteil für richtig, weil man das Gesetz für richtig hält. Somit müssen auch die Gründe, aus denen man das einzelne Urteil für richtig hält, mit den Gründen identisch sein, aus denen man das Gesetz für richtig hält. Der Schein im Praktischen entsteht nun daraus, daß man die Gründe, die man hat, um ein einzelnes praktisches Urteil der Art: „für meine Willkür ist jetzt bei dieser Gelegenheit O die Handlung a tunlich" für richtig zu halten, zugleich für die Gründe hält, aus denen man auch das Gesetz für richtig halten kann. Und darin liegt die Möglichkeit der Täuschung. Damit man das Gesetz für richtig halten kann, muß der Grund des Fürrichtighaltens einer sein, der für alle Gelegenheiten und für alle Subjekte gilt - und dies wäre der ZWECK S, der ein Ganzes aller nur möglichen Zwecke in sich einschließt und das

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KrV, B 849. Herv. Kant. Wie beim Irrtum geht es auch bei der Überredung um die Erklärung einer „Begebenheit" als eines Phänomens; daher Kants Betonung des Unterschieds von Ursache und Grund. Wir halten offenbar, wenn wir uns zu etwas überreden, „subjektive Ursachen des Urteils" für „objektive Gründe".

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Die Autokratie der praktischen Vernunft

höchste Gut ist.230 Aber dieser Grund ist dem einzelnen Subjekt, das lediglich aufgrund von Maximen sich selbst zum Handeln bestimmen kann, in seiner Größe sozusagen „anschaulich" nicht faßbar.231 Stattdessen springt derjenige Grund ein, den der einzelne aufgrund seines beschränkten ästhetischen Vermögens der Größenschätzung von Zwecken für den größten Grund des Fürrichtighaltens von Maximen der Zwecke halten muß, d.i. die eigene Glückseligkeit. Nur in der Demut wird bewußt, daß dieser Grund seinen Schein von maximaler Größe dem eigenen Unvermögen verdankt. In der Demut kommt mithin die Differenz zwischen bloß subjektiven Gründen des Fürrichtighaltens und objektiven Gründen der Richtigkeit von Maximen zu Bewußtsein - ein Bewußtsein, das im Eigendünkel verschüttet geht. Insofern ist die Demut als das Bewußtsein von der Geringfähigkeit des eigenen Werts zugleich der Grund von einem positiven Gefühl. Im Fall des Erhabenen wird das Urteil über die Zweckwidrigkeit des ästhetischen Vermögens der Größenschätzung als zweckmäßig für die Vernunftidee beurteilt. Ähnlich liegen die Verhältnisse auch im Bereich des Praktischen. Gerade die Demut gibt ein Bewußtsein davon zu erkennen, worin der eigentliche Wert des Menschen besteht, und zwar gerade in der Verfehlung seines Werts. Indem man den eigenen Wert ganz unangemessen zu dem Wert hält, den das Dasein bekäme, wenn man dem absoluten Zweck der Tugend nachstrebte und durchgängig dem Sittengesetz gemäß (aus Pflicht) handelte, bekommen die reinen Bestimmungsgründe des Sittlichen Auftrieb. Und dies muß man als zweckmäßig für das Sittliche beurteilen.

C. Die Autokratie der reinen praktischen Vernunft In der Achtung fürs Gesetz erweist sich die Vernunft als ein realer Grund, dessen Größe die Größe aller Gegengründe (unendlich) übersteigt. Wie wir gesehen haben, läßt sich diese Größe in zweifacher Weise beurteilen. Im Urteil der Vernunft besitzt die Größe der Vernunft einen absoluten Wert, der sich an der Vollständigkeit der Folgen bemißt. Derjenige Grund, der auf eine Allheit der Folgen bezogen ist und durch den eine solche Allheit möglich ist, muß das 230 Siehe dazu oben S. 123-125. 231 In der GMS bemerkt Kant, daß es unmöglich sei, „ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne ...; und gleichwohl nimmt er wirklich daran ein Interesse, wozu wir die Grundlage in uns das moralische Gefühl nennen ...." (BA 121/122).

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Maximum an Größe besitzen, wobei dieses Maximum zugleich genau bestimmt ist, weil sicher geurteilt werden kann, was zu diesen Folgen gehört und was nicht. Auf der anderen Seite läßt sich die Größe der Vernunft auch ästhetisch schätzen. Dazu bedarf es des Vergleichs mit Gegengründen. Die Vernunft muß als ein solcher Grund beurteilt werden, der alle möglichen Gegengründe zu überwiegen imstande ist. Die Fähigkeit, die sinnlichen Bestimmungsgründe zu überwiegen und sich das absolute Ganze aller möglichen Zwecke (das höchste Gut) in dem Streben nach der Tugend zum Zweck zu setzen, macht die Autokratie der reinen praktischen Vernunft aus. In ihrer vollendeten Form ist sie das, was Kant Weisheit nennt. Die Weisheit ist, weil sie „in der Zusammenstimmung des Willens eines Wesens zum Endzweck" besteht232 und dieser Endzweck das höchste Gut darstellt233, daher Inbegriff und Ziel aller Tugend.234 Die Fähigkeit der Autokratie ist nach Kants Auffassung sowenig zu erklären wie das Vermögen der Freiheit überhaupt. Aber es lassen sich doch einige Elemente nennen, durch die sie sich auszeichnet. Mit der Autokratie der empirisch-bedingten Vernunft hat sie alles gemein, was die Herrschaft der Leidenschaften und den Sturm der Affekte ausschließt, also das äquilibrium der Seele, die Selbstherrschaft und die Selbstbemeisterung. All das sind Züge, die zur Tugend erfordert werden, aber ebenso wichtig sind für denjenigen, der all sein Dichten und Trachten auf die Glückseligkeit gestellt hat. Die wesentliche Differenz zwischen der Autokratie der empirisch-bedingten und der der reinen praktischen Vernunft besteht darin, daß die letztere durch die Reinheit der Tugendvorstellung selbst geweckt werden muß. Nur dann, wenn das Gesetz rein vorgestellt wird, ohne irgendwelche sinnlichen Bestimmungsgründe beizumischen, die seine Befolgung als nützlich vorstellen, kann die Stärke der Tugend hervorleuchten, die gerade darauf beruht, sich aus Achtung fürs Gesetz das Gesetz selbst zum obersten Zweck seines Handelns zu machen. In der Vorlesung zur Moral Mrongovius hat sich Kant dazu einmal in folgender Weise geäußert: „Wenn die Vernunft durch das Moral Gesetz den Willen bestimmt, so hat sie die Kraft einer Triebfeder, sie hat alsdenn nicht bloß Autonomie sondern auch Auto232

Cf. MS/71, A 104. 233 CE: „Die moralischen Eigenschaften Gottes können wir alle in dem Begriff von der Weisheit zusammenfassen. Weisheit ist die Beschaffenheit des Willens, alle seine Objecte dem Endzweck angemessen zu machen. Der Endzweck des Daseins aller Dinge ist das höchste Gut." (Metaphysik AA28.2,1,805). 234 Cf. Vorarbeiten zur Tugendlehre, AA 23, 402: „von der Weisheit Als dem Inbegrif und dem Ziel aller Tugend".

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cratie. Sie hat denn gesetzgebende und executive Gewalt. Die autocratic der Vernunft den Moral Gesetzen gemäß den Willen zu bestimmen, wäre dann das moralische Gefühl. Der Mensch hat wirklich die Kraft dazu, wenn man ihn nur die Starke und Notwendigkeit der Tugend einsehen lernt. Er hat in sich den Quell alles zu überwinden ... Das moralische Gefühl ist die innre Achtung fürs Gesetz."235

Um ein Gefühl der Achtung fürs Gesetz zu empfinden, ist nicht wichtig, daß man sich selbst zutraut, allemal dem Sittengesetz Folge zu leisten. Wichtig ist allein, daß man sich der Möglichkeit eines Handelns zu einem solchen Zweck bewußt ist. In der Tat halten wir Handlungen für möglich und glauben, Beispiele eines solchen Verhaltens vor unseren Augen zu sehen, die allein um des Gesetzes willen und unter Inkaufnahme aller nur denkbaren Nachteile begangen werden. Und gerade dies versetzt uns auf einen Standpunkt, von dem aus wir uns der Eingeschränktheit unserer Existenz und damit unserer Subjektivität bewußt werden. Metaphysische Erkenntnis, so hatten wir eingangs formuliert, ist eine auf Begriffe des Uneingeschränkten zurückgehende Erkenntnis des Eingeschränkten. Unsere Interpretation von Kants Moralphilosophie sollte deutlich gemacht haben, welche komplexen Folgen sich aus dieser einfachen Formel für eine Theorie des guten Willens ergeben. Die größte Schwierigkeit für eine solche metaphysische Theorie, aber auch für die Metaphysik allgemein, besteht darin, das Eingeschränkte auf das Uneingeschränkte zu beziehen. Wie wir gesehen haben, hat Kant mit dem Konzept der Realopposition schon sehr früh einen Ansatz gefunden, Einschränkung denken zu können. Aber es hat sich auch gezeigt, daß dieser Ansatz in Schwierigkeiten gerät, sobald es darum geht, das Verhältnis des Eingeschränkten zum Uneingeschränkten vom Standpunkt des Eingeschränkten aus genau zu bestimmen. Kants Lösung für dieses Problem ist am Ende die Lehre vom unbedingten Wohlgefallen. Beim Gefühl des Erhabenen wie beim Gefühl der Achtung fürs Gesetz werden wir uns der Grenzen unserer Subjektivität allererst bewußt und haben sie dadurch doch schon immer ein wenig zum Ganzen hin überschritten.

Cf. Moral Mrongovius II, AA 29.1,1,626.

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Sachregister Absicht 69n., 80 Achtung 6,45f., 142n., 175,198ff, 209 aequilibrium animi -» Gleichgewicht der Seele Affekt 195f. Anthropologie 5, 132,138f. Aufmerksamkeit 98,133,141,194,197, 202 Autokratie 6,48 - der empirisch-bedingten Vernunft 192ff. - der reinen Vernunft 6,159,197ff. Autonomie 48,94,159,229 Bedingung 68n. - der Regel 59 - des Urteils 59,95η. Begehrungsverm gen 53 Begierde 85,132,178ff Begriff 57-62 - erdichteter B. 187 -* Ideal der Erdichtung - festgesetztere. 46,187 -» Definition - gegebenere. 187 - schwankender B. 189 Beispiel 72η. Beraubung 153 Bestimmung 9, S8f, 62 Bestimmungsgrund 59f. - innererB. 86η. - logischerB. 71,73f.,78 - realer B. 66,71,73,79 ~» F rwahrhalten -» F rrichtighahen - der praktischen Regel 70-74,76,79ff. - eines Urteils 102α Betrachtung - objektive B. 129f., 198

- subjektive B. 95α, 129f, 198ff. Beweggrund 84α, 87,92,159ff. - vollst ndiger Grund 163 B se 145-147, 149 - GrunddesB. 146 bonum 22α, 26,99-106 Brauchbarkeit 210α completudo -> Definition comprehensio -> Zusammenfassung - aesthetica 214 -» GlQckseligkeit - logic« 214 conceptus deceptrix 41α, 186,188 -> Gl ckseligkeit -> erdichteter Begriff Definition 17,46f, 52ff. Demut 221,228 Dialektik 133-136 Dichten 187 -> Zusammensetzung -> quantitas rationis Ehrbegierde 194α Eigend nkel 147,224f. Eigenliebe 224 Eigenschaft 63 Einflu 64α, 139,142 Einheit 24-26,50 Einschr nkung 5,28f, 34α, 35f., 42-48 -» Realit t -> Realopposition enscoghabile 32 ens realissimum 21,29α Entbehren 183

238 Entgegensetzung - kontradiktorische E. 31 f., 36 , lOSff, 172f. - kontrire E. 3 If., 36 ., 108 ff. - potentielle E. 32 . -» Opposition Epikureismus 182-185 Erhabene 41n.,213ff. - dynamisches E. 217ff. - mathematisches E. 213 Erkenntnis - Verfahren der philosophischen E. 46f. Erkenntnisgrund 102 ., 103 Exempel 72n. Exposition -» Definition Faktum der Vernunft 45f, 155 Folge 24f., 39 - logischeF. 102 . - Menge der F. -» quantitas rationis Freiheit - innere F. 196/197n. - Kategorien der F. 74 - der Willkür 149f., 197 . Fruchtbarkeit (fecunditas) 25 -t quantitas rationis Fürrichtighalten 161-164 - objektiver Grund des F., 152,161ffi, 169 -> Beweggrund - subjektiver Grund des F. 152,16Iff., 169 -> Triebfeder Fürrichtignehmen 143n. Fürwahrhalten 136ff. Ganze 214f.,218,220 - unendliches gegebenes G. 214-218 - der Zwecke 190-197, 206f, 211, 224, 229f. Gefühl 194 - moralisches G. 198ff, 229 Geld 210n. Gelegenheit (concausa) 67 - Arten der G. 67 Genuß 178ff.

Register Gesetz 56,74,89-92,127 - lex aequilibrii rationum 154, 157 - lex isonomiae 154,157 - Abweichung vom G. 127,142 Gleichgewicht - der Seele 196 - des Rechtszustands 175 Glückseligkeit - Analyseformel der G. 179f. - Größe der G. 186 - Idee der G. 178,186ff. - MaßstabderG. 177 - Nominaldefinition der G. 188n. - Realdefinition der G. 188 Grad 24 -» quantitas rationis -» intensive Größe Größe - des Grundes -» quantitas rationis - extensive G. 24ff. - intensive G. 24ff, 127 - maximale G. -> Maximum - negative G. 34ff. - protensiveG. 178f. - uneingeschränkte G. 30 -» Illimitatum - unendliche G. 175,215,218 -» Infinitum Größenschätzung - ästhetische G. 214,216 - ästhetisch-praktische G. 175,219ff. - logisch-mathematische G. 187f., 214ff. - durch Einschränkung 27,41 n. - durch Zusammensetzung 27,41n. Grund 60,68n., 102 - der Verneinung 35 - dynamischere. 220 - zureichender G. -> Bestimmungsgrund - Größe des Grundes -» quantitas rationis Gut 205 - höchstes G. 27,123-125,159 ., 178 ., 228f. -> bonum

239

Register Handlung - Bestandstock der praktischen Regel 62ff. - immanente (innere) H. 64 ., 196 . - transiente (äußere) H. 64n. - metaphysischer Begriff der H. 63/64 Heterogeneität 50,151 f. Hirngespinst 14,47 Homogeneität 26,47 Ideal 131 - der Einbildungskraft 41 n., 189-192, 220f. - der Erdichtung 189-192 - der Glückseligkeit 49, 193,219,220 - der Heiligkeit 131,222 - der Vernunft 190 - des Diogenes -» Stoizismus - des Epikur -» Epikureismus Idee 13f. - als Begriff der Vollkommenheit 18,28n.,

35 - der Philosophie 16 - der Tugend 16,49 - des Äußerst-bösen 146 - des reinen Wassers 16,43 - des reinen Willens 95-97 - notwendiger Grundbegriff 19 - transzendentale I. 16 - Arten der I. 15f. Illimitatum 36,40 Imperativ 132 Infinitum 40n., 42n. Intelligenz 93n. Interesse 84-85 Irrtum 37n., 134, 137 -» Schein -> Überredung - partialerl. 139 - totaler I. 139 - Vermeidung des I. 141f. Kausalität 63 Klugheit 196 Kopula 72 - praktische K. 72-73,86,93 Kraft 45f.,64n., 159.217

Laster 36n., 143 - totales L. 145 Leben -» protensive Größe Legalität 160 Leidenschaft 194f.,207n. Logik 106,128f. - angewandte L. 128-135 - reine L. 128-135 Lust 132f, 170f. Mangel 29ffi, 153 -» Negation Maxime 56,74,76-87,92-94 - der Handlung 66 , 81, 83 -> äußere Handlung - der Zwecke 66 , 81, 83n. -> innere Handlung - Analyseformel der M. 79/80 Maximum 27-30,35,40 , 186 - totalitas 44,98,100,105 - des Grundes -> Illimitatum -» quantitas rationis Metaphysik 5f, 135,201 Mißfallen 150,207,217,221 Mittel 69f, 119,205 - Zweck als Mittel 205-208 Modalität - praktische M. 75f. - theoretische M. 75 Moralität 160,161 Moralphilosophie 106,128-135 - angewandte M. 131f.,200 - reine M. 106,13 Iff. Negation 29,31,48 -> Beraubung -> Mangel Neigung 85, 193ff. nihil negativum 31,108 nihil privativum 33 Nützlichkeit 209 -» Brauchbarkeit -> quantitas rationis Opposition - logische O. 31 f., 37n.

240 -> ->

qualitative . 33 logische O. quantitative O. 33 Realopposition

Prädikat S7fif

- synthetisches P. -t Bestimmung Präzision -> Definition Prinzip 8-10,100 - der Selbstliebe 7, 51,95£, 159,165f. 171 - der Sittlichkeit 151,159 - praktisches P. 77f., 107ff. quantitas qualitatis 23ff.,35,40,186ff, 209f. quantitas rationis 25,158 -» quantitas qualitatis Realität 26-32 -> Lust - noumenaleR. 37flf.,43f. - phaenomenale R. 37ff.,43f. - Größe der R. -> quantitas qualitatis Realopposition 29fT.,37n.,59a, 153-154, 218f - Bedingungen der R. 37-38,169-170 - praktische R. 154-158,169-175 Realrepugnanz -» Realopposition Reflexionsbegriff 37f. Regel 56-62,127 - pragmatische R. 192n. - praktische R. 5 5f, 71-74,92-94 - Analyseformel 79n. Reinheit 49f. -> Homogeneität Richtigkeit 117n., 152,161-164 Rigorismus 183 Satz 60 . - des ausgeschlossenen Dritten 99, 104,120-123 - des Widerspruchs 3 In., 99,101-102, 107-116

Register -

des zureichenden Grundes 60,99,102107,113-120 Schein 135,139,188 , 228 - der Wahrheit 135 - des Guten 147, 224ff.,227 -> Glückseligkeit Schöpfung 64n. Schwäche - moralische S. 36 , 143 Selbstbemeisterung 197 -+ Affekt Selbstbestimmung 55,82, 85,92f., 97,125127 -+ innerer Bestimmungsgrund Selbstherrschaft 6,192-198 -> Autokratie -» Leidenschaft Selbstliebe 167,202f. Selbstmord 112 Selbstprüfung 148,226 Selbstzwang 6,46, 155,192n. Seligkeit 184 Stoizismus 182-185 Summe - der Lust 186ff. suspensio iudicii 141 Synthesis 12f.,57,115 Triebfeder 84,87,159ff. - unvollständiger Grund 162 Tugend 36 , 143,229 Tugendlehre 131f. Tunlichkeit/Tunlichsein -> praktische Kopula

Überlegung 141f, 148 - Mangel der U. 195f. Überredung 140,226 - im praktischen Denken 162, 226f. -> Irrtum

-» Laster Oberzeugung 140,226 Untugend 36 , 143 -» moralische Schwäche unum 22 , 26,99-106 Unwissenheit 37 , 136f. Urteil 57-62 - allgemeines U. 61, lOlf, 107-116

241

Register -

besonderes U. 59n., lOlf, 104 unendliches U. Sin.

Vergleichung 195f.,211ff.,217,225f. Vermögen 64 Vernunft - V.erkeimtius 7ff.,42ff. - V.begriffe 13ff. - boshafte V. 146 - subjektive Realität der V. 217,221 f. Verstand 57,196 verum 22n., 26, 99-106 Verwechslung 140, 147,151,201,227f. Vielheit -» verum vitium -> Laster Vollkommenheit 19f. -> bonum - logische V. 17 - metaphysische V. 20f, 26f. - objektive V. 131 - subjektive V. 131 - transzendentale V. 20 Vollständigkeit 17,23, 100 Vorschrift 56,72,87-89 Wahn 147,226 Weisheit 185.228 . Wert 208ff Widerspiel 32n., 36n. -» Realopposition Widerspruch 32 . -> Satz vom W. Wille 66, 70, 80, 82, 85-87,92-94 - heiliger W. 50, 55,130f, 198 - menschlicher W. 50,55,130f, 198 - reiner W. 49-52,97,120-123,198 - objektiv vollkommener W. 131 -> reiner W. - subjektiv unvollkommener W. 131 -> menschlicher W. - subjektiv vollkommener W. -» heiliger W. - W. überhaupt 53-55,118,122 - BegriffdesW. 52f. - Idee des W. 95-97,120-125 Willkür 53f, 66,70f, 80, 82, 85-87

- menschliche W. 66 - tierische W. 66 - Bestimmungsgrund der W. 70ff. - Regeln der W. -» praktische Regel Wissen 37n., 136f. Wohlbefinden 178f. - Maximum des W. 186, 193f. Wohlgefallen 202ff. - ästhetisches W. 204 - bedingtes W. 203 - pathologisch-bedingtes W. 204 - praktisches W. 204ff. - unbedingtes W. 203 Wohlwollen gegen sich selbst 202ff. Würde (dignitas) 25, 209, 21 If, 222n. Wunsch 66,71 Zufriedenheit 179 Zusammensetzung 187fF. -» logisch-mathematisches Vermögen der Größenschätzung Zwang 132 Zweck 53-55,82f, 113-120 - höchster Zweck -> höchstes Gut -> Tugend - objektiver Z. 123,159 . - subjektiver Z. 159 . - vollständiger Zweck -> höchstes Gut Zweckmäßigkeit - Grund des Wohlgefallens 205ff, 228

Personenregister d'Alembert, Jean 34η. Allison, Henry 66n. Atwell, John 116n. Aul, Joachim 83n. Aune, Bruce 98n. Barthlein, Karl 99n., 133n. Baumgarten, Alexander 19n., 22, 24, 25, 64, 209 Beck, Lewis White 55n., 56n., 200n. Benton, Robert J. 56n. Bittner, R diger 77η., 94α Bobzien, Susanne 56η. B hme, Gemot 26η. Brandt, Reinhard 100η. Broadie, Alexander 148n., 200n Bubner, R diger 77n. Cantor, Moritz 34n. Carboncini, Sonia 134n. Castaneda, Hector-Neri 69n., 72n., 73n. Centn, Beatrice 137n. Chandler, David H. 137n. Crowther, Paul 213n. Crusius, Christian August 60 Descartes, Rene 22, 188n. Diogenes 185n. D sing, Klaus 182n. Ebbinghaus, Julius 112n. Eberhard, Johann August 16n., 99n. Epiktet 185 Epikur 185n. Euler, Leonard 34n. Feder, Johann Georg Heinrich 167n. Finster, Reinhard 134n.

Firla, Monika 132n. Forschner, Maximilian 4n., 132n., 20 In. Fulda, Hans Friedrich 143n. Gerhardt, Volker 64n. Gram, Moltke S. 66n. Gregor, Mary 3,180n. Gr newald, Bernhard 56n. Guillermit, Louis 136α, 137η, 138η., 142α Guyer, Paul 213n. Heimsoeth, Heinz l Henrich, Dieter 200n. Herz, Marcus 35n. Hinske, Norbert 99n., 136n., 138n., 139n., 141α, 192η. Hoffe, Otfried 2,77n., 112n. Hume, David 166n. J sche, Gottlieb B. 18n. Kaulbach, Friedrich 188n., 192n. Kersting, Wolfgang 3, 110η, 112η, 157n. Konhardt, Klaus 66n. Kopper, Joachim 99n. Kr ger, Gerhard l, 98n., 136n., 226n. Lauener, Henri 66η., 155α, 200α Lazaroff, Allan 213n. Lee, Ming Huei 200n. Leibniz, Gottfried W. 22,32n., 34n., 170, 188 Leisegang, Hans 99α MacLaurin, Colin 34n. Maier, Anneliese 22α, 23η, 36n. Marc Aurel 185 Massey, Stephen J. 212n.

Register Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 183185. Meerbote, Ralf 66n., 137n. Meier, Georg Friedrich 22,101η. Mendelssohn, Moses 3 Sa Moritz, Manfred 155n., 167n., 200n. Nahm, Milton C. 213n. Newton, Sir Isaac 34n. Paton, Herbert J. 55n., 107n„ 160n.,200n. Pieper, Annemarie 132n. Finder, Tillmann 136n. Platon 13, 18n. Poser, Hans 102n., 103n. Pybus, Elizabeth M. 148η., 200α Reboul, Olivier 152 Reimarus, Hermann S. 138n. Reinhold, Carl Leonhard 99n. Ricken, Friedo 116n. Riedel, Manfred 56n., 20 In. Riley, Patrick 116n. Rink, Friedrich Th. 18n. Rolle, Michel 34n. Rousseau, Jean Jacques 182n. Schmucker, Josef 13α, 53η., 73η. Sch ndorf, Harald 108η., 110η. Schroer, Christian 19n. Schwab, Johann Christoph 36n. Schwemmer, Oskar 176n., 190n. Seel, Gerhard 174n. Seneca 185 Siep, Ludwig 3 Simmel, Georg 167n. Singer, Marcus G. 83n. Spinoza, Baruch 22 Stevens, Rex P. 148n. Stuhlmann-Laeisz, Rainer 103n. Tasche, Frank 31 n. Tropfke, Johannes 34n. Tuschling, Burkhard 2 Vuillemin, Jules 112n. Warda, Arthur 183n.

243 Wimmer, Reiner 97α, 106η. Wohlfahrt, G nter 215n. W lff, Christian 19n., 24,34,49 Wolflf, Michael 36n., 121n. Wundt, Max l

Grundlagen der Kommunikation und Kognition Foundations of Communication and Cognition

Emergence and Reduction? Essays on the Prospects on Nonreductive Physicalism Edited by Ansgar Beckermann, Hans Flohr, Jaegvon Kim Groß-Oktav. VIII, 315 Seiten. Mit 8 Abbildungen. Ganzleinen. 1992. ISBN 3-11-012880-2 In den Aufsätzen dieses Bandes werden drei Themen behandelt: l. die Rekonstruktion und Bewertung der zentralen Thesen der Theorie der Emergenz und der Versuch, die Ergebnisse auf die gegenwärtige Debatte um reduktiven und nichtreduktiven Physikalismus anzuwenden, 2. die Frage, ob mentale Phänomene und besonders „phänomenale Qualitäten" auf neuronale Eigenschaften reduzierbar sind oder ob sie als emergent und irreduzibel gelten müssen, 3. die generelle Rolle des Begriffs der Emergenz in den heutigen Wissenschaften.

Reflecting Davidson Donald Davidson Responding to an International Forum of Philosophers Edited by Ralf Stoecker Groß-Oktav. X, 393 Seiten. Ganzleinen. 1993. ISBN 3-11-013180-3 Das Buch vereint Artikel zum philosophischen Werk Donald Davidsons, einem der führenden amerikanischen Philosophen, aus den Bereichen Handlungstheorie, Philosophie des Geistes, Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie. Davidson kommentiert jeden Beitrag.

Pretending to Communicate Edited by Herman Parret Groß-Oktav. XV, 304 Seiten. Ganzleinen. 1994. ISBN 3-11-011832-7 Achtzehn Beiträge zu Manipulation, Suggestion und Überrumpelung in der Kommunikation.

Walter de Gruyter

W DE

G

Berlin · New York