Autographen, Dokumente und Berichte: Zu Edition, Amtsgeschäften und Werk Immanuel Kants 9783787333189, 9783787311347

Die neun Beiträge dieses Bandes sind auf je verschiedene Bereiche des Kantischen Werkes gerichtet: Arbeiten von Reinhard

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Autographen, Dokumente und Berichte: Zu Edition, Amtsgeschäften und Werk Immanuel Kants
 9783787333189, 9783787311347

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KANT-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Reinhard Brandt und Werner Stark

Band 5

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Reinhard Brandt I Werner Stark (Hg.)

Autographen, Dokumente und Berichte. Zu Edition, Amtsgeschäften und Werk Immanuel Kants

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprüng lichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für un­ vermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung ­geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1134-7 ISBN eBook: 978-3-7873-3318-9

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1994. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, herge­ stellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.

VORBEMERKUNG

Der vorliegende fünfte Band der Kant- Forschungen bietet eine Sammlung von Aufsätzen und Kommentaren, die sich aus Recherchen im Umkreis des Marburger Kant-Archivs ergeben haben. Er enthält weder die 1987 als Band V angekündig­ ten Untersuchungen zu Kants Vorlesungen noch die von uns in Aufsätzen der bei­ den letzten Jahre vorab zitierten oder erwähnten Nachforschungen zu Briefen und Handschriften lmmanuel Kants. Während die erste Arbeit noch nicht abgeschlos­ sen werden konnte, ist die zweite aus verschiedenen Gründen soeben an anderer Stelle erschienen. Die gleichfalls im ersten Jahr der Kant-Forschungen angezeigte Edition von neu oder wieder aufgefundenen Nachschriften des Kantischen Kollegs über die Logik wird gegenwärtig zum Druck vorbereitet.

Marburg, im September 1 993

Reinhard Brandt, We me r Stark

INHALT

Reinhard Brandt (Marburg ) Rousseau und Kants »Ich denke« . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Brandt Die Schönheit der Kristalle und das Spiel der Erkenntniskräfte. Zum Gegenstand und zur Logik des ästhetischen Urteils bei Kant

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Wemer Euler (Marburg) Immanuel Kants Amtstätigkeit Aufgaben und Probleme einer Gesamtdokumentation I. Der Stand der historisch-biographischen Kant-Forschung . I I . Arbeitsbericht zur Erforschung von Kants Amtstätigkeit .. III. Das Rätsel um Kants erste Rektoratsbesetzung . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . .. IV. Kants Amtsführung als Rektor der Universität während der Huldigungsfeier in Königsberg . . . . .. .. ....... .. . . . . . . . . . .... . . V. Skizze eines neuen Forschungsansatzes . . . .. .. . . .. A . Materialerhebung .. .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. .. . . .. .. .. .. .. .. . . . . .. .. .. . . . . .. .. B. Materialauswertung .. . . . . . C. Kommentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .......... . . . . . . . . . . . . .... VI. Zusammenfassung . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... .

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Werner Euter I Steffen Dietzsch (Berlin ) Prüfungspraxis und Universitätsreform in Königsberg. Ein neu aufgefundener Prüfungsbericht Kants aus dem Jahre 1 779 . . . . . . . . . . . . . .. .... .... Kantiana in Olsztyn (Allenstein) . . . . Die Universität Königsberg und ihre Geschichte . . . . . .. . . Kant in der Prüfungskommission .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . Kants Brief und Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . Aufnahmeprüfung oder Schulexamen? . . . . .

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91 91 92 96 99 101

Anja Victorine Hartmann (Marburg) Der Platz des Rechtlichen Postulats in der Besitzlehre .. .. ...... .. .. .. .. . . .. . . . . .. .... . .

1 09

Reiner F. Klemme (Marburg ) Subjektive und objektive Deduktion. Ü berlegungen zu Wolfgang Carls Interpretation von Kants »Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« in der Fassung von 178 1 ............ ...... . . . . . . . . . . . . . . .............................. ..............

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VIII

Inhalt

Ralf Se ibach (Hannover) Die Vase der Kritiker. Ein klassizistisches Potpourri en Vase verbindet Kant und Ramler .... . . . . . . . .. . . . . .. . . . . .. . . . ..

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Hans-Joachim Waschkies (Kiel) Ein Entwurf zu Kants Dissertation De igne (Loses Blatt Dorpat I Tartu) Vorbemerkung . . . . .. I. Text II. Datierung . . .. . . . .. .. .. III. Problemgeschichtliche Einordnung des Losen Blattes Dorpat und der Dissertation De igne . .... .... ........ ................................ ........ IV. Kurze Vorstellung der im LBD angesprochenen Fragen und Probleme ................................ ........ ...................................... V. Kommentar . .. . . .. .. . . . . . .... . . ... . . . . . .. VI. Abschließende Bemerkungen ................ ...... ............ ........ .......... ..

173 175 190

Hans-Joachim Waschkies Das Lose Blatt Leipzig 1. Text, Datierung und Erläuterungen ...... .................. I. Der Text . . . ..... . . . ..... . . . . . . . . . . . . . . .. .. . II. Datierung .................... .... ... ... .............. ...................... ...... .............. III. Emendierte Fassung des Losen Blattes Leipzig 1 .......................... IV. Problemgeschichtliche Einordnung ................... ...... ............ .. ........

197 197 200 201 204

Personenregister . . . . . . . . . . .. . .. .

228

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REINHARD BRANDT Rousseau und Kants

»Ich denke«

»Der synthetische S atz: daß alles verschiedene empirische Bewußtsein in einem einigen Selbstbewußtsein verbunden sein müsse, ist der schlechthin erste und syn­ thetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt. Es ist aber nicht aus der Acht zu lassen, daß die bloße Vorstellung Ich in Beziehung auf alle anderen (deren kollek­ tive Einheit sie möglich macht) das transzendentale Bewußtsein sei«. So lautet einer der zentralen Sätze in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (A 118).1 Es ist »das Ich als Subject des Denkens (in der Logik) , welches die reine Apperzeption bedeutet (das blas reflectirende Ich) , und von welchem gar nichts weiter zu sagen, sondern das eine ganz einfache Vorstellung ist«, paraphrasiert die Anthropologie von 1798 (VII 134). Wie immer der Gedanke im einzelnen zu in­ terpretieren ist, er m arkiert einen Grundgedanken der Kritik überhaupt: daß das Denken und Erkennen ermöglicht wird durch das Ichbewußtsein. Die transzenden­ tale Apperzeption ist, wie die erste Auflage sagt, das »Radikalvermögen aller un­ serer Erkenntnis« (A 114), durch das allererst Erfahrung und mit ihr die Gegen­ stände der Erfahrung möglich sind. Dieses Vermögen der Apperzeption, das von dem die Vorstellungen bloß begleitenden Bewußtsein vorausgesetzt wird,2 ist in der traditionellen Vermögenslehre unbekannt - es gibt die »facultates« des Erken­ nens und des Begehrens, bei der ersteren das Vermögen des Verstandes und der Vernunft, der Apprehension und der Einbildungskraft, aber nicht das Radikalver­ mögen einer transzendentalen Apperzeption. Zum andern: Das Selbstbewußtsein bildet ein altes Thema der Philosophie; an­ tike und mittelalterliche Philosophen, Descartes, Locke und Leibniz, Wolff, B aumgarten sprechen über das Selbstbewußtsein; 1728 erscheint die erste neuzeit­ liche Monographie zu diesem Thema. Verfolgt man jedoch die unterschiedlichen Aspekte, mit denen sich die antiken und neuzeitlichen Autoren befassen, so findet man bei ihnen kein dem Kantischen »Radikalvermögen« korrespondierendes Mo­ tiv; sie erörtern die reflexive Struktur und die Selbsterzeugung der je eigenen Identität; es wird jedoch bis hin zu Pseudo-Mayne, zu Wolff und Baumgarten kein Versuch gemacht, Denken und Erkennen in ihrer Möglichkeit im Selbst-Bewußt­ sein zu begründen. Die Kritik der reinen Vernunft wird nach der A- oder B-Auflage (in der Edition von R. S chmidt, Harnburg 1930 u. ö.) zitiert, die übrigen Schriften Kants nach der Akademie-Ausgabe der Gesam�Mlten Schriften Kants, Berlin 1900 ff. mit bloßer Band- und Seitenangabe. Die hier benutzten Nachschriften der Kantischen Anthropologie-Vorlesung erscheinen in Kürze in Band XXV der Akademie-Ausgabe. 2 Das begleitende Bewußtsein wird unter dieser Bezeichnung schon in antiken Traktaten registriert und findet von dort Eingang in die einschlägige neuzeitliche Philosophie, vgl. Brandt, in: Pseudo-Mayne 1 983, XX VIII-XXIX .

2

R. Brandt

Auch Kant nimmt noch in der Dissertation von 1770 kein Interesse an einem Ich, das den Rahmen der rationalen Psychologie sprengte. Die Subjektivierung von Zeit und Raum nötigt nicht zur Rede von einem unhinterschreitbaren »Ego«; beide Begriffe (»conceptus«) sind nicht aus der Erfahrung erworben, sie sind auch nicht einfach angeboren, sondern jeweils »ab ipsa mentis actione, secundum per­ petuas leges sensa sua coordinante, quasi typus immutabilis, ideoque intuitive cognoscendus« (§ 15 Schluß; II 406). Im Prinzip müßte diese »mens«, aus deren Koordinationshandlung der Begriff der Zeit und des Raumes gewonnen wird, auch einem Tier zukommen, nur daß den Tieren die Reflexion auf das procedere ihrer »mens« und damit die Gewinnung der entsprechenden Begriffe nicht m ög­ lich ist. Im Hinblick auf die Begriffe des (den Tieren mangelnden) »intellectus purus« gilt in gleicher Weise: Sie können nicht aus den Inhalten der Erfahrung abstrahiert und erworben sein, sind aber auch nicht angeboren, sondern »e legibus menti insitis (attendendo ad eius actiones occasione experientiae) abstracti, adeo­ que acquisiti« (§ 8; II 395).3 Die Ablehnung der Möglichkeit, Begriffe (wie die der Möglichkeit, der Existenz, Notwendigkeit, Substanz, Ursache) von den Sinnen zu erhalten, teilt Kant mit Platon und den Platonikern; auf jeden Fall ist die »mens« und nicht die sinnliche Affektion der Ursprungsort dieser Begriffe; hier nun die Alternative von Angeborensein und Erwerb: Kant plädiert für das letztere, aber damit wird die Konstruktion einer platonisierenden Erkenntnistheorie nicht gesprengt. Vom Ich-Bewußtsein findet sich in der Dissertation keine Spur.4 So auch in den früheren Schriften; in den Träumen spielt die Seele entspre­ chend dem Thema eine Rolle, aber nicht in der Form, daß sie die Funktionen anti­ zipiert, die dem Ich in der Kritik der reinen Vernunft zugesprochen werden. Der Wandel findet - so läßt sich bei unserer Quellenlage vermuten - in den frühen siebziger Jahren statt; Kant sucht die Dissertation in ihren haltbaren Teilen fortzusetzen und braucht dazu ein neues Instrumentarium.

Die gleiche Auffassung findet sich häufig in den frohen erhaltenen Logik-Vorlesungen (u. a. XXIV 254; 262; 452) und den Reflexionen aus der Phase um I 770, vgl. bes. Refl. 3930 (XVII 3 52). Im Hinblick auf die Dissertation von 1 770 brauchen wir nur festzuhalten, daß das Subjekt nicht als das seiner selbst bewu ßte Ich gefaßt wird; es ist damit nicht ausgeschlossen, daß Kant schon um 1 770 über einschlägige Überlegungen verfügte, das erhaltene Material gibt vielleicht nur einen unzulänglichen Einblick in die Denkbewegungen im ganzen. Kant wird umgekehrt in der Dissertation kaum Ansichten vertreten haben, die er für obsolet hielt (anders u. a. Kreimendahl 1 990, 2 1 3 -252). Ähnlich wie Kant tendiert schon Ralph Cudworth zu einer Erwerbstheorie apriorischer Begriffe; in der Schrift De aeternis justi et honesti notionibus wird ausgeführt, daß Begriffe wie die von Kant aufgeführten, aber auch geometrische Formen nicht von den S innen abstrahiert und erworben werden können, sondern daß die Intelligenz sie bei Gelegenheit der Sinneserfahrung produziert und schafft (>>produxit intus et creavitbei Gelegenheit der sinnlichen Eindrücke>Ich denke«

7

schriften ein Unikum. Es ist unwahrscheinlich, daß Kant den Text in dieser Form in der Vorlesung brachte, aber der Nachschreiber der Vorlesung, der aus Berlin stammende gebildete Student Philippi, wird ihn auf einen Hinweis von Kant ein­ gefügt haben. Um das Interesse Kants an dieser Passage zu erklären, muß kurz referiert werden, welchen Gedanken Rousseau hier entwickelt. Der Vikar schildert zunächst - im lockeren Anschluß an Sokrates im Phai­ don,20 seine Enttäuschung über die philosophische Literatur: lauter Systeme, die einander widersprechen und nicht zur Wahrheit führen. Aber wie ist die Wahrheit zu erlangen? Zunächst eine einfache Regel: Als evident sollen nur die Sätze aner­ kannt werden, denen ich in der Simplizität meines Herzens die Zustimmung nicht verweigern kann; den gleichen Status haben die Folgesätze, die notwendig aus diesen Prämissen fließen (570). Und dann ein großartiger Neueinsatz - »Mais qui suis-je? Quel droit ai-je de juger les choses, et qu' est-ce qui determine mes jugemens? S ' ils sont entraines, forces par les impressions que je re�ois, je me fatigue en vain a ces recherches [ . . ]« (570). - >>Mais qui suis-je?« Nehmen wir eine Passage hinzu, die nach der Sicherung des Ich nach der Stellung dieses Ich im Universum fragt: »M'etant, pour ainsi dire, assure de moi-meme, je commence a regarder hors de moi, et je me considere avec une sorte de fremissement jette, perdu dans ce vaste univers, et comme noye dans l'immensite des etres, sans rien savoir de ce qu'ils sont, ni entre eux, ni par raport a moi« (573). Rousseau benutzt an diesen beiden Scharnierstellen seiner Ü berlegungen eine alte Formel der Selbst-Frage: Wer bin ich? oder: Was bin ich? Auch Spalding kennt diese Frage: »Ich erschrecke über meine Kleinheit in der unermäßlichen Natur, und gegen die noch unermäßlichere Gottheit. Dieser Sonnenwirbel ist ein Sandkorn. Diese Erde ist ein Staub, ein Punkt. Und ich auf dieser Erde -- was bin ich? -- «. 2 1 Und Kant konnte sie in anderem Zusammenhang auch in einer Beilage der Königsbergsehen gelehrten und politischen Zeitungen vom 5. und 12 . Juli 1771 unter dem Titel » Nachtgedanken eines Zweiflers« finden. .

Idee [sc. des ' Ich denke' , R. B.] dem Savoyardischen Vikar von Rousseau (zu B eginn des IV. Buches des Emile)Wonderful ward! powerful question!« Zum >>What arn I ? >Aias! what arn I? . . . > [ ... ] daß es ei­ nes jeden Menschen Pflicht, I den Dingen allen auf den Grund zu gehen: I als was für Wesen wir geboren werden, I zu welchem Lebenszwecke wir auf Erden, I in welcher Ordnung (wie wir's können sehn I beim Wagenrennen) wir die Bahn durcheilen [ ... ] >Conclusion of this book«) ist es nicht unwichtig, daß Shaftesbury im zweiten Kapitel der >>Miscellaneous Reflections« eine ähnli­ che Überlegung einfügt zwischen Scheitern in epistemischer Hinsicht und Neubeginn im Prakti­ schen, auch die Meeresmetapher findet sich dort, Shaftesbury 1 963, II 286 ff. - Spatding folgt Shaftesbury in der Wahl seines Mottos und der zentralen Frage seiner Bestimmung des Menschen.

Rousseau und Kants >>Ich denke«

9

angeführte Filiation. - Ein schwächeres Echo auch bei Friedrich Il. : »Unde? ubi? quo?«28 Und dann die »Nachtgedanken eines Zweiflers«: »Wo oder was bin ich? Von welchen Ursachen leite ich mein Daseyn, und wohin geht meine künftige Bestimmung? [ . . . ] Was für Wesen umgeben m ich? Auf welche hab ich Einfluß und welche auf mich?«.29 Kehren wir zurück zu Rousseau. Wir sahen, daß auf den Topos des »Mais qui suis-je?« die Vergewisserung des Ich als eines geistig-aktiven Wesens (wie bei Epiktet) und dann in einem zweiten Ansatz die Weltverlorenheit (und Weltfin­ dung) folgt. Der erste Schritt, die Ich-Gewinnung, ist der Punkt, der uns interes­ siert. Zuerst die Gefahr der Dispersion des Ich in die einzelnen Empfindungen: »Ai-je un sentiment propre de mon existence, ou ne la sens-je que par mes sensa­ tions? Voila mon premier doute, qu'il m ' est, quant a present, impossible de re­ soudre« - hierauf folgt der von Philippi wortgetreu exzerpierte Text. Bin ich, könnte man mit Epiktet paraphrasieren, nichts anderes als meine Empfindungen, mit Hume: nichts anderes als »a bundle or collection of different perceptions [ ... ]«? »For my part, when I enter most intimately into what I call my­ self, I always stumble on some perception or other, of heat or cold, light or shade, Iove or hatred, pain or pleasure. I can never catch myself at any time without a perception, and never can observe any thing but the perception«.3 0 Rousseau wird diese Passage nicht gekannt haben, er zog selbständig die Konsequenz aus dem Sensualismus in der Locke-Nachfolge sowohl in England wie auch in Frank­ reich.3 1 Hume gelingt es bekanntlich nicht, sich dem Ich-Verlust im epistemischen Bereich zu widersetzen, Rousseau dagegen schlägt eine Lösung vor. Er konstatiert

2s

Friedeich II 1 9 14, X 253. Hamann 1 949ff., IV 367 . Es handelt sich um die Übersetzung von David Hume, A Treati­ se of human nature I 4,7.- Zum Versuch von Kreimendahl 1 990, die >>Nachtgedanken>Coda« scheint in der Forschung bisher unbekannt zu sein. 30 Hume 1 896, 252. 31 Zu den literarischen Bezügen vgl. Rang 1 959, 1 73- 1 8 1 (der Anfang des Kapitels >>Der anthropologische Sensualismus und seine Überwindung«) und den Kommentar des Emile von Pierre Burgelin in den Oeuvres completes, Paris 1 959 ff., IV 1509 ff. Rousseau bezieht sich nach seinem eigenen Bekunden besonders auf den Artikel >>Evidence« der Enzykloptidie von Quesnay (vgl. Burgelin 1 5 19; 1 523); in ihm wird zwar den >>sensations memes« die Unterscheidung der Empfindungen und ihrer Objekte und das Urteilen vindiziert (§ 1 9 - 20), in einem späteren Teil des Artikels hält Quesnay jedoch fest, daß die » forme essentielle et active de l'homme«, die » for­ me constitutive de l'homme moral c'est-�-dire du principe actif de son intelligence, de Ia force d'intention, de sa liberte, de ses determinations morales, que Je distinguent essentiellement des betes« (§ 52), daß diese Formen nicht sensualistisch erklärt werden können, sondern in einem unmittelbaren Bezug zu Gott fundiert sind. 29

R. Brandt

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zunächst das Gegebensein materieller Körper, er vergewissert sich der Existenz des Universums und seiner selbst. »Ensuite, je reflechis sur les objets de mes sen­ sations, et trouvant en moi Ia faculte de les comparer, je me sens doue d'une force active que je ne savois pas avoir auparavant« (57 1 ) . Dies steht mit ungefahr den gleichen Worten im Theätet von Platon, 3 2 Rousseau jedoch hinterschreitet im folgenden die Vermögen und läßt das Ich die Tätigkeiten des Vergleichens und des Urteilens ausüben. »Par Ia sensation, les objets s' offrent a moi separes, isoles, tels qu ' ils sont dans Ia nature ; par Ia comparaison , j- e les remüe, je les transporte, pour ainsi dire, je les pose l ' un sur l' autre pour prononcer sur leur difference ou sur leur similitude, et generalement sur tous leurs raports« (57 1 ) . Diese Tätigkeit des Ich gibt dem Wort »ist« erst eine Bedeutung (»donner un sens a ce mot 'est' «, 57 1 ) - im Theätet hieß es: »Vermittelst wessen wirkt denn nun dasjenige Vermö­ gen, welches dir in allen und auch in diesen Dingen Gemeinschaftliches offenbart, womit du von ihnen das 'es ist' oder 'es ist nicht' aussagst und das, wonach du jetzt eben fragtest? Für dies alles, was für Werkzeuge willst du annehmen, vermit­ telst deren unser Wahrnehmendes jedes davon wahrnimmt?« Die Antwort lautet: Daß die Seele es vermittelst ihrer selbst verrichtet, nicht vermittelst des Kör­ pers. 33 Rousseau setzt an die Stelle der Seele und ihrer Vermögen das »Ich«: Ein­ zig das Ich stiftet die Synthese zwischen den isolierten Eindrücken; nur durch die Aktivität des Ich ist es möglich, die Empfindungen der verschiedenen Sinne zu einem identischen Gegenstand zu verknüpfen - die Wahrnehmung von identischen Objekten (»[ . . . ] d ' appercevoir l' identite«, 573) ist bedingt durch die Aktivität des Ich »occasione experientiae«. 3 4 »Qu ' on donne tel ou tel nom a cette force de mon esprit qui rapproehe et com­ pare mes Sensations; qu' O n J' appelle attention, meditation, reflexion, OU comme on voudra; toujours est-il vrai qu' elle est en moi et non dans les choses, et que 32

Vgl. Theätet bes . 1 84b ff. Auf Platon verweist in diesem Zusanunenhang die Logik von Port-Royal: >>Et c'est pourquoi il faut avouer que saint Augustin a eu raison de soutenir, apr�s Pla­ ton, que le jugement deIa verite etIa regle pourIa disccmer n'appartiennent point aux sens, mais ll. l'esprit: Non estjudicium veritatis in sensibus . . . >Das denkende Vermögen, und dieses al­ lein in der ganzen Natur, ist fahig, durch eine innerliche Thätigkeit Vergleichungen, Verbindungen und Gegeneinanderhaltungen wirklich zu machen [ . . . ] Und da dieses zugegeben wird, so kann ja dieses Denkungsvermögen selbst, diese Ursache aller Verg leichung und Gegeneinanderhaltung, unmöglich aus diesen ihren eigenen Verrichtungen entspringen, unmöglich in einem Verhältniß, Harmonie, S ymmetrie, unmög lich in einem Ganzen bestehen, das aus außereinander seyenden Theilen zusammengesetzt ist: denn alle diese Dinge setzen die Wirkungen und Verrichtungen des denkenden Wesens voraus, und können nicht anders, als durch dieselben, wirklich werden> [ ... ] quoique mon esprit ne !es [sc. die >>idees comparativesIch denke>bloß mechanische Reaction der Lebenskraft>Alle Vergnü­ gungen der Einbildungskraft bestehen vielleicht nur darin, daß sie unsre Kräfte ins Spiel setzen, und unsre Thätigkeiten begünstigen« (9); im (ebenfalls unveröffentlichten) Anthropologie-Ms. 400 (aus der späteren Mitte der siebziger Jahre) : >>Das Gefühl von der H indernis des Lebens ist der Schmertz oder die Unlust. Das Gefühl von der Beförderung des Lebens ist das Vermögen (? R. B . ) oder d i e Lust. Das Leben ist das Bewust seyn eines freien u n d regelmäßigen Spiels aller Kräfte und Vermögen der Menschen . Das Gefühl von der Beförderung des Lebens ist das was Lust ist und das Gefühl von der Hindernis des Lebens ist Unlust>Soll der Mensch belebt werden, so muß sein Gemüth agiret werden. Weil dieses nun ein Gefühl hervorbringt, so vergnügt es. Das Spiel der Gemüths Kräfte muß starck, lebhaft und frey seyn, wenn es beleben soll« (290) . Das Spiel wird nur mit dem Gefühl der Lust in Verbindung gebracht. Ein Gefühl, das nicht entweder mit Lust oder mit Unlust besetzt wäre, gibt es nicht. 39 Wenn es z. B. heißt >>Drittes Moment der Geschmacksurtheile nach der Relation der Zwecke, welche in ihnen in Betrachtung gezogen wird« (V 219, 26-28), so ist das Subjekt, das die Relation der Zwecke in Betrachtung zieht, natürlich n icht der ästhetisch Urteilende, sondern der Transzendentalphilosoph. Die Frage, was dem Urteilenden selbst transparent und explizit bewußt sein muß und was der Transzendentalphilosoph erkennt, durchzieht für den Leser die gesamte Abhandlung; dazu u. a. Guyer 1 979, 202-206 im Hinblick auf die Evidenz der Interesselosigkeit. 4 0 Die Lokalisierung im Unbewußten wäre nur eine Konjektur des Interpreten, Kant selbst nimmt sie innerhalb der Kritik der Urteilskraft nicht vor. 41 Zum Kautischen >>Wir weilen bei der Betrachtung des Schönen« vgl. V 222.

38

R. Brandt

Zugleich gilt jedoch: Die Erkenntnisvermögen sind keine Phänomene im Gemüt, und das Spiel der Interaktion von Einbildungskraft und Verstand ist sicher nicht dem Kausalprinzip unterworfen und wird insofern als nicht phänomenal begriffen.42 Im § 1 2 (also innerhalb des dritten Moments) wird zwar von der »inneren Causalität« (V 222) des Bewußtseins der bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiel der Erkenntniskräfte gesprochen und von der »Causalität ... den Zustand der Vorstellung selbst und die Beschäftigung der Erkenntnißkräfte ohne weitere Absicht zu erhalten« (V 222), aber in beiden Fällen scheint Kant nicht die Relati­ on der Kräfte im Spiel selbst zu meinen, sondern an die Wirkung dieses Spiels auf das Gemüt oder Bewußtsein zu denken, und zwar in Analogie zur Kausalität der praktischen Vernunft auf das Gefühl als eine nicht schematisierte, sondern nur denknotwendige, »intellectuelle Causalität« (V 73).43 Am Ende des § 1 2 heißt es jedoch von der Betrachtung des Schönen, daß s ie »sich selbst stärkt und reproducirt« (V 222), es ist »diejenige Gemüthsstimmung, die sich selbst erhält« (V 230) , es wird gesprochen vom S piel der Gemütskräfte, »welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt« (V 3 1 3). Das S piel wird hiermit gefaßt wie eine vis viva, die ihre Kraft vermehren kann.44 Es ist ein Stück empirischer Psychologie, das in ähnlicher Form in der Anthropologie begegnet: »Was aber den Vitalsinn betrifft, so wird dieser durch Musik, als ein regelmäßiges Spiel von Empfindungen des Gehörs, unbeschreiblich lebhaft und mannigfaltig nicht blos bewegt, sondern auch gestärkt . . . « (VII 1 55). Hier in der »Kritik der ästhetischen Urtheilskraft« spielt vielleicht der Gedanke eine Rolle, daß das Spiel der Erkenntniskräfte ein Analogon organischer Systeme bildet; wie Organismen sich autopoietisch erhalten und stärken, so auch das selbständige Spiel von Sinnlichkeit und Verstand. Dies ist ein Vorgang in der Zeit, also etwas, das im inneren Sinn lokalisiert ist. Während die Kritik der reinen Vernunft eine Theorie des transzendentalen Subjekts und die Bedingungen von Erfahrungserkenntnis überhaupt entwickelt (die durch das in der ersten Kritik nicht näher interessierende Individuum realisiert

42 Es ist anzumerken, daß dem Spielbegriff als solchem eine Opposition zum Kausalprinzip anhaftet; wenn die Menschen ein >>lusus fortunaeein Spiel>that a given pleasure has been caused by the harmony of the imaginati­ on rather than something eise> [ . . . ] unser Gemüth be­ kommt durch die Abwechselung immer neue Kräfte, so wie man von einer Canonen Kugel weiß, daß wenn man sie auf die Erde stöBet, sie mit neuen Kräften fortprallet>Losen Blatt Leipzig I >Erkenntnis überhaupt« (V 2 17 u . ö. )47 angetroffen wird. Hier berühren sich die beiden unterschiedlichen Domänen in einer Form , die vielleicht so zu charakterisieren ist: Das empirische proportionierte Spiel als ein psychologisches Faktum und die epistemische Proportion als normative Bedingung für Erkenntnis überhaupt. Das erstere kann der ästhetisch Urteilende fühlen, das zweite muß der Transzendentalphilosoph erkennen. Das harmonische Spiel ist ein konkretes Er­ eignis mit einer bestimmten Dauer, die Harmonie ist ein transzendentales Element der Erkenntnis überhaupt. - Diese Verknüpfung von ästhetischem Spiel und epi­ stemischer Relevanz findet sich bei Kant nicht vor der Kritik der Urteilskraft; sie scheint die Entdeckung zu sein, die deren Konzeption erst ermöglicht hat.4 8 Das

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Die Probleme, die dadurch entstehen, daß dem >>Ich denke« Spontaneität zugeschrieben wird und es somit doch wieder erkannt wird, also phänomenalen Charakter haben müßte, brauchen hier nicht zu interessieren; s. dazu Schmitz 1989, 185-201 (>>Ich denke«). 46 Diese Struktur der Erkenntnistheorie von 1 78 1 ist, wenn ich richtig sehe, besonders in Pe­ ter F. S trawsons The Bounds of Sense von 1 966 verkannt worden; das Erkenntnisurteil der ersten Kritik hat nicht den singulären, zu identifizierenden Gegenstand zum Inhalt (Schliemann: >>Dies hier ist Troja«), sondern notwendige Relationen, die sich in concreto exemplarisch darstellen las­ sen. S trawsons Interpretation nähert die erste Kritik der dritten an. Die hiermit gegebenen funda­ mentalen Differenzen der beiden Kritiken, auf die Kant nicht explizit aufmerksam macht, werden in den Interpretationen häufig übersehen, auch von Guyer 1979, bes. 288-294. 47 Diese Erkenntnis überhaupt wird im § 9 nicht mit der reflektierenden Urteilskraft (die im gesamten § nicht erwähnt wird) identifiziert, sondern muß (auch) das Gebiet der Transzendenta­ len Analytik« der Kritik der reinen Vern unft unter sich befassen. Für sie ist die - nicht zeitliche, sondern logische - Harmonie von Sinnlichkeit und Verstand konstitutiv, und darauf zielt Kants Verknüpfung von Spiel und Erkenntnis. - Manfred Baum ist der Meinung, daß >>die Beurteilung eines bestimmten Zustandes der Erkenntniskräfte erst der Grund einer Lust an diesem Zustand ist>intellektuellen Ursachen« der Lust gehöre es, daß das Spiel als allge­ meingültig und ergo mitteilbar gedacht wird (Baum 199 1 , 278). Mir scheint, daß mit dem Akt der Beurteilung des harmonischen Spiels als eines allgemeingültigen und mitteilungsflihigen nicht nur eine von Kant nicht vorgesehene >>intellektuelle Ursache« einbezogen wird, sondern ein von Kant verbotener Begriff zur Grundlage der Lust gemacht wird, der Begriff nämlich der Allgemeinheit und Mitteilbarkeit Liest man den Text von § 9 auf dieses Problem hin, so sieht man, daß Kant eine gesonderte Beurteilung des Gemütszustandes in der ästhetischen Kontemplation vermeidet; wir haben ein Bewußtsein des Spiels, das als solches allgemeingültig und folglich mitteilbar ist, und dieses Bewußtsein ist nichts anderes als das ästhetische Wohlgefallen (V 219; 222). 4 8 Es gibt Vorformen, so in der ästhetischen Theorie der frühen siebziger Jahre, gemäß der die ästhetische Lust aus der leichten Rezeption und Erkenntnis eines Objekts herrührt; in der »

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R. Brandt

Spiel ist zeitlich und muß ein Phänomen des inneren Sinnes sein; die epistemische Harmonie ist Gegenstand einer transzendentalphilosophischen Untersuchung und hat eine logische Struktur, keine empirisch-psychologische. Das Allgemeine ist die bloße Formbestimmtheit des Urteilsgrundes - an dieser Stelle werden die All­ gerneinheitsbedingungen aus der ersten Kritik entliehen und dem Individuum im­ plantiert. Durch diese Kombination entsteht das Doppelspiel von transzendental­ philosophischer und empirisch-psychologischer Argumentation. Der Befund läßt sich noch in folgender Weise vertiefen. Kant entwickelt in der Kritik der reinen Vernunft eine der Intention nach nicht-naturalistische, nicht-psy­ chologische Theorie des notwendigen Denkens einer möglichen Erkenntnis.49 Die Grundlage bildet die allgemeine Logik und die aus ihr entwickelte transzen­ dentale Logik. Die »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« kann nicht niveaugleich neben die erste Kritik treten, sondern m uß sie voraussetzen. Sie tut dies u . a. da­ durch, daß sie die Urteilstafel der ersten Kritik übernimmt und zu einer Exposition des ästhetischen Urteils transformiert. Mit dieser Transformation bleibt zwar die grammatische Form des Urteils erhalten, nicht jedoch die logische; damit aber verliert das Urteil den Halt, den die erste Kritik in der Logik gegen Hume gewin­ nen konnte. Es findet einen Ersatz in dem Spiel der Erkenntniskräfte, liefert sich damit jedoch der mißlichen Lage aus, den Geltungsanspruch in einem zeitlichen Phänomen stützen zu müssen. Ich fasse zusammen : Das Spiel von Einbildungskraft und Verstand im Ge­ schmacksurteil hat erstens die Eigentümlichkeit, nur das Urteil des Schönen, nicht auch das des Nicht-Schönen zu begründen. Zweitens faßt Kant dieses Spiel so, daß es zeitlich bestimmbar ist; es ist konstitutiv für den das Urteil fundierenden Gemütszustand des Kontern plierenden, daß dieser Zustand sich selbst erhält und stärkt. Diese zweite Bestimmung setzt die erste voraus (in einem Urteil über das Häßliche müßte sich das Spiel der Erkenntnisvermögen selbst verhindern). Die Harmonie, die zum Spiel gehört, ist die Formbestimmung, die die Verknüpfung des Spiels mit der »Erkenntnis überhaupt« ermöglicht.

Nachschrift der Anthropologie-Parow heißt es u . a.: »Eine Lust aus der Anschauung hergenom­ men, vergrößert unsre Glückseeligkeit nicht im mindesten, und ist weiter nichts als das Verhältnis meiner Erkentniß zum Object>Erkenntnis überhauptDas Schöne führt eine Annehmlichkeit bei sich; aber darum ist es nicht schön, sondern weil es allgemein gefällt« (73). In dieser Phase wird der Geschmack entsprechend mit dem Vermögen, allgemeingültig zu wählen , gleichgesetzt (Anthropologie-Mrongovius 72 u. ö.), eine Vorstellung, die 1 790 nicht auf­ genommen wird; sie findet sich jedoch erneut in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1 798 (VII 240-24 1 ), obwohl hier die apriori begründete Notwendigkeit von 1 790 aufgenommen wird (VII 240). 49 Eine Erörterung dieser Intention und ihrer Realisierung findet sich u. a. bei Guyer 1989.

Die Schönheit der Kristalle

41

III. Im § 16 wird die freie, eigentliche Schönheit von der bloß anhängenden Schönheit unterschieden; die letztere wird Objekten beigelegt, »die unter dem Begriffe eines besondem Zwecks stehen« (V 229). » Blumen sind freie Naturschönheiten«, des weiteren viele Vögel und »eine Menge Schaltbiere des Meeres« (V 229); bei den Vögeln werden tropische Arten genannt: Papagei, Colibri und Paradiesvogel. Die Zuerkennung der Bezeichnung der freien Schönheit beruht jedoch einzig darauf, daß dem Autor die Zwecke dieser Pflanzen und Tiere unbekannt sind, denn nach der Lehre der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« stehen alle genannten Gat­ tungen und Arten unter Zweckbegriffen (sc. immer für unsere Urteilskraft). Nun gibt es Naturbildungen, die gewissermaßen objektiv freie Naturschönheiten dar­ stellen, weil sie nicht in die Teleologie gehören : Die Kristalle des später hinzuge­ fügten § 58.5 0 Die gleiche Unterscheidung wird im Bereich der Urteile selbst vorgenommen: »Ein Geschmacksurtheil würde in Ansehung eines Gegenstandes von bestimm­ tem innern Zwecke nur alsdann rein sein, wenn der Ortheilende entweder von diesem Zwecke keinen Begriff hätte, oder in seinem Ortheile davon abstrahirte« (V 23 1 ).5 1 Was uns interessiert: Dem Spiel der Erkenntnisvermögen korrespondiert als Muster in der Natur die ästhetisch zweckmäßige, jedoch objektiv zwecklose, weil bloß mechanische Bildung in der urtümlichen Sphäre der Kristalle. Die Parallele oder Analogie von beidem, des Spiels also der Erkenntniskräfte und der freien Naturprodukte, läßt sich genauer bestimmen. Zunächst: Die Parallele ist programmiert in dem Überschritt von der Zweck­ mäßigkeit ohne Zweck im Spiel der Erkenntnisvermögen zur Zweckmäßigkeit der Form und dann der bloßen Form im Gegenstand, der für schön gehalten wird (§§ 1 0- 1 3). Damit entspricht das freie Spiel im Subjekt der bloßen Gestalt im Gegenstand, wie immer die zweckfreie Zweckmäßigkeit und bloße Form im einzelnen interpretiert wird.52 - Es gibt außerhalb dieser internen Systemkorre­ spondenz zahlreiche Überlegungen Kants, die zeigen, daß ihm der Zusammen­ hang von Gemüts- und Naturkräften, von Urteils- und Naturbildung nicht fremd

50 Im Bereich der Kunst nennt Kaut im § 1 6 einerseits das Bagatell-Schöne bei den »Zeich­ nungen A Ia grecqueSie stellen nichts vor, kein Objekt unter einem bestinunten Begriffe>Ich habe zur Absicht, die Natur des Genies zu untersuchen, und es auf ähnliche Weise zu zergliedern, als ein Chymist die Mineralien in ihre Bestandteile auflöst>zwei ersten Arten der Zusammensetzung >als wenn eine von der anderen [ ... ] analogische Wechselwirkung [ . ] oder beide von einem gemeinschaftlichen S tamme ihren Ursprung häUen>Die Verwandtschaft nach Vitalitätsgesetzen [ ] nicht nach chemischen, macht Bastarte. .

...

.

Die Schönheit der Kristalle

43

Kehren wir von diesen Beobachtungen zurück zur Kritik der Urteilskraft, so entdecken wir auch dort einen Hinweis auf die Verwandtschaft. In einer schon zi­ tierten Passage des § 58 heißt es: »Das Flüssige ist allem Ansehen nach überhaupt älter als das Feste, und sowohl die Pflanzen als thierische Körper werden aus flüs­ siger Nahrungsmaterie gebildet, sofern sie sich in Ruhe formt«, also nicht im Modus des plötzlichen Anschießens, » [ ... ] aber nebenbei doch auch vielleicht als dem allgemeinen Gesetze der Verwandtschaft der Materien gemäß anschießend und sich in Freiheit bildend« (V 349). Eine Affinität also wie, so konjizieren wir, im Parallelfall der heterogenen Erkenntniskräfte Einbildungskraft und Verstand, die ebenfalls in Freiheit ohn6 Zweckbestimmung in eine verwandtschaftliche Zu­ sammenstimmung geraten. »Ohne Zweckbestimmung«; die Freiheit der »freien B ildung« im Reich der anorganisc hen Natur bezieht sich auf die Abwesenheit bestimmter Zwecke, unter deren Direktive die Natur ihre Bildungen im Reich des Organischen vollbringt. 57 Auf die Analyse des freien Spiels von Einbildungskraft und Verstand folgt: »Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird« (V 236). Eben dies ist die Bestimmung der freien, nur mechanischen Bildungen der Natur, sie sind zweckmäßig (für uns) ohne Zweck. 58 Wir sind in ein Gebiet geraten , das es nach Kant nicht zu geben scheint: Ent­ weder wirkt die Natur rein mechanisch oder aber - für die reflektierende Urteils­ kraft - teleologisch, tertium non datur. Die bloße causa efficiens der Mechanik (Epikurs Welt und die Welt der Kategorien und Grundsätze des reinen Verstan­ des) überläßt alle »Bildungen« dem blinden Zufall, es können demnach keiner Gegenstandsklasse (wenn es denn solche gibt) besondere Gestalteigenschaften zukommen. Im Unterschied zur vorkritischen Naturauffassung kann mit der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr von einer Programmierung der atomaren Natur durch einen Schöpfergott gesprochen werden; so verlieren die Kristallbildungen ihr Heimatrecht in der bloß mechanisch bestimmten Natur. Bei der Teleologie

Gesetze der animalischen affinitaet in den Bastarterzeugungen beweisen das empfindende Princip als ein organisirtes oder sich organisirende Fluidum, denn sonst könnten sie sich nicht durchdrin­ gen>Welt von Welten« (I

255), der Systeme und ihrer isomorphen Subsy­

steme zuständig sein? Die Kritik der Urteilskraft sieht dies nicht vor, und doch bleibt, wenn der Verstand versagt und die Vernunft sowieso nicht zuständig ist, nur die reflektierende Urteilskraft übrig. Was für die Systembildung der Welt im ganzen gilt, gilt auch für die Bildung der Kristalle; sie stehen an der Schwelle des Übergangs vom nebulösen und flüs­ sigen Chaos zur Fmmation von Gegenstandskomplexen; mit ihnen beginnt die Weltbildung, ihr titanisches Gestalten hat, so konjizieren wir, in der Alternative von mechanisch-teleologisch und anorganisch-organisch keinen Ort.61 Diese kristallinen Gestalten nun stellen damit im Objektbereich im Raum (qua

Gestalt) just das dar, was sich in der ästhetischen Rezeption im Subjekt in der Zeit (qua Spiel) manifestiert.62 In beiden Fällen liegt ein geordnetes, proportioniertes

61

Bildet sich die nicht-organische Materie aus dem Flüssigen grundsätzlich in kristalliner

Form? In der zeitgenössischen Chemie wird diese Auffassung vertreten: »Einige Chemiker, z. B. de Morvenu, Maret und Durande (Anfangsgr. der theor. u. pr. Chym. Th. I. S.

38.),

haben sogar

allen Uebergängen der Körper aus dem flüßigen Zustande in den festen den Namen der Krystalli­ sationen beylegen wollen>Kritik der ästhetischen Urteilskraft«

die Unterscheidung: >>Alle Form der Gegenstände der Sinne (der äußern sowohl als auch des in­ nern) ist entweder Gestalt, oder Spiel [ . . . ]« (V

225, dazu Guyer 1979, 225-227; s. auch V 322325). Anthropologie-Collins 29: »Die Verhältniße des Raums geben Gestalt, die Verhältniße der Zeit das Spiel« (so auch Anthropologie-Philippi 20r). - Die Gestalt als Gegenstand des Ge­ schmacksurteils kann das Subjekt nicht affizieren, denn zur Affektion ist nicht die Form, sondern nur das materiale Mannigfaltige in der Lage; sie schwebt gewissermaßen als eidos zwischen dem veranlassenden Gegenstand und dem ästhetisch konternplierenden Subjekt; aber woher kommt sie? Dieter Henrich schreibt in seinem Aufsatz »Kant's Explanation of the Esthetic Judgment«, das Spiel der Erkenntniskräfte »does not take place before the free employment of imagination results itself in the creation of forms that correspond to the general feature of an exhibition of an empirical concept« (Mskt. S.

21) - aber das empirische Objekt selbst ist schon formbestimmt,

die

Einbildungskraft könnte also die Form nur reproduzieren. Zur Diskussion dieser Frage schon im Kontext der Raumlehre der

Kritik der reinen Vernunft vgl. Vaihinger 1970,

II

180-184. Das Desin­ 1979, 191-202)

teresse des ästhetisch Urteilenden an der Existenz des Gegenstandes (dazu Guyer

stimmt damit überein, daß die Gestalt keine mich affizierende Existenz hat. Sie muß im Ge-

46

R. Brandt

Mannigfaltiges vor, dessen Ordnung weder der bloßen Mechanik entspringen kann noch sich dem Zugriff eines Zwecks oder einer Absicht verdanken darf. Aber wie ist es dann möglich? Kant spricht im § 1 der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« vom »Lebensge­ fühl« des ästhetisch Urteilenden (V 204). Das Leben ist ein besonderer Bereich des Organischen; von ihm gilt gemäß der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«: »Ein organisiertes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wech­ selseitig auch Mittel ist. Nichts ist in ihm umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben« (V 376). Gemäß diesem Prinzip muß auch die Interaktion der Gemütskräfte, die beim Lebensgefühl im Spiel sind, von einem Zweck bestimmt sein, und diese finale Determination muß auch den Molekular­ bereich des Spiels bestimmen und fixieren, d. h. als Spiel aufheben. Im dualen System von organisierten Produkten der Natur und blindem Mechanismus, von Epikur und Stoa, haben weder die Kristalle noch das Spiel der Erkenntniskräfte eine Bleibe. Man kann sie nicht dadurch retten, daß m an ihre Heraushebung aus dem blin­ den Mechanismus zu einem Akt der ästhetischen Urteilskraft macht, der von ihrer Objektbestimmung abstrahiert und nur die subjektive Reaktion wertet. Das har­ monische Spiel wird als psychisches Phänomen zur Grundlage des ästhetischen Echogefühls gemacht, ihm müssen als solchem gewisse obj ektive Merkmale wie die der Proportion und Symmetrie zukommen, und analog wird zuerst die Gestalt der Kristalle bestimmt, bevor von ihrer ästhetischen Rezeption gesprochen wird, auch der Gestalt kommen Proportion und Symmetrie objektiv zu, sie müssen meßbar sein. Vielleicht sind beide, zweckfreies Spiel und zweckfreie Gestalt, unterhalb der bestimmten Erkenntnis in der Tiefensphäre des Noch-Nicht-Bestimmten anzusie­ deln. So wie die anorganische Natur frei ist von den begrifflichen Fixiemngen der Zwecke, die in der organischen Natur unterstellt werden müssen, so ist das Erkenntnisvermögen im Spiel von Einbildungskraft und Verstand frei von der begrifflichen Bestimmung kategorialer Erkenntnis. Wir erinnern uns, daß der Ü bergang vom Flüssigen zum Kristallinen in die Primärzone der Natur gehört, die vor der Bildung von Organismen liegt. So stehen wir mit dem freien Spiel (nicht nur - zeitlich, sondern irgendwie logisch) vor der Erkenntnisleistung in der Pri­ märzone der Tätigkeit des Vernunftwesens überhaupt.

schmacksurteil als Ganzheit präsent sein und darf weder auf die individuellen Affekte von Reiz und Rührung noch auf die Funktion der Form in einem bestimmten Kontext Rücksicht nehmen (über letzteres spricht Kant nicht in der Kritik der Urteilskraft; in einer Nachschrift der frühen Anthropologie-Vorlesung ( 1 772- 1 773) findet sich jedoch (noch) folgende Beobachtung: >>Die Al­ ten machten an den Häusern Pfeiler, nach einer Spirallinie, weil sie die Pfeiler nach unserer Art für plump hielten, allein man sieht gleich, daß dieses nicht mit der Idee des Hauses übereinstimmt, denn ein Hauß muß fest seyn, und die Schönheiten sind n ur Accidentia>Dia­ lektik« die Deduktion einer für das Geschmacksurteil notwendigen Voraussetzung und damit des Geschmacksurteils selbst bringt.63 In der Beweisanlage ist die >> Kritik der ästhetischen Urteilskraft« wie die Prolegomena und die Kritik der

63 Zur Deduktion in der »DialektikAnalytik>Dialektik>Analytik>Dialektik>Soll>Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß Nr.992 in ihrer zweiten Hälfte eine Vorarbeit zur Kritik der Urteilskraft darstellt. Da der erste Absatz aber in keinem er­ kennbaren unmittelbaren Zusammenhang mit diesem Werk steht, drucke ich das L BI., [ . . ], h ier ab«. Adickes unterliegt offenbar der Vorstellung, daß die Dialektik der Ort des Scheins ist, die >>Dialektik der ästhetischen Urteilskraft>Kritik der ästhetischen Urteilskraft>Die Auflösung dieser Aufgabe [sc. >>Ob im Geschmacksurtheile das Ge­ fühl der Lust vor der Beurtheilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe. Der AA (XII, 589 f.) sind weitere Informationen zu entnehmen, die in den 44

Tatsächlich ließ die Zuverlässigkeit der Pedellen gerade während dieser Amtsperiode Kants zu wünschen übrig. So berichtet der S tudent Puttlieh in seinem Tagebuch, daß der Pedelle, der am 16. 9. 1 786 FreibilleiS an die S tudenten verteilen sollte, >>ganz besoffen>aus dem Fenster zu vertheilen«; als die Studenten aber in sein Haus drängten und ihm Fenster zerbrachen, warf er »das Packet ganz unter die S tuden­ tendie S tudenten lie­ ßen sich ihr Fest nicht nehmen und brachten dem König am 1 8 . einen großen Aufzug dar« (Gause 1968, II 1 32f). Diese Konstellation wiederholte sich übrigens bei der Erbhuldigung Friedrich Wil­ helm 111. ( 1 798) in Königsberg (vgl. Wadzeck und Wippel l 798, 194- 196, 214). 60 Dieses und die folgenden Zitate aus: Warda 1905, 285 . 61 Warda 1 905, 288. 62 >>Das geschmackvollste Schauspiel gaben indessen die in Königsberg Studirenden, indem selbige nach 7 Uhr dem Könige eine große vollständige Musik in verschiedenen Chören brachten. Der Zug war ebenso glänzend, als er mit Anstand und Ordnung gebracht wurde. « (Wadzeck und Wippel 1 798, 73 f.; vgl. >>Nachricht« 1 786, 22).

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Ordnung und Wohlanständigkeit mit der sie auf dem Hin- und Rückzuge ausge­ führet worden, der sämmtlichen Academischen Jugend zur vorzüglichen Ehre« gereichte. 63 Eine Zurücknahme des Verbots scheint jedenfalls nicht stattgefunden zu haben. Puttlieh berichtet noch von der Aufstellung des Festzuges am Kollegi­ um, der u. a. aus fünf Musik-Chören und 400 Fackelträgern bestand,64 gemäß dem ursprünglichen Plan der Studenten. Der Zug wurde jedoch von Ordnungs­ kräften des Militärs eskortiert, was ihm - nach dem Geschmack Puttiichs - eine ansehnliche Gestalt gab. Am 22. September verließ der König in aller Frühe unter anhaltendem Kanonendonner die Stadt Königsberg.65 An dieser Schilderung der Ereignisse ist auffällig, daß die Studenten trotz des strikten Verbotes vom 7. 9. ihre Aktivitäten fortsetzten und sich bei der Realisie­ rung ihres Planes angeblich sogar auf den Befehl des Königs stützen konnten. Ihre Zuwiderhandlung scheint übrigens wie der allgemeine Ungehorsam der Bevölke­ rung ohne strafrechtliche Konsequenz geblieben zu sein.66 Diese Sachlage deckt sich mit dem Inhalt des in AA XIII, 590 erwähnten Schreibens von von der Groeben und der ursprünglichen Haltung von Rektor und Senat, stimmt aber nicht mit der später von Kant als Rektor maßgeblich vertretenen ablehnendenden Hal­ tung überein, die in den Briefen der AA dokumentiert ist. Eine genaue Klärung dieser Ungereimtheit und der Frage, wie sich die Universitätsleitung zur fortge­ setzten Ü bertretung des von ihr verhängten Verbots weiter verhielt, kann nur durch die Einsichtnahme in die Universitätsakten, insbesondere in die verfaßten königlichen Reskripte herbeigeführt werden.

V. Skizze eines neuen Forschungsansatzes Die oben aufgezeigten Rätsel bezüglich Kants Wirken im Rahmen seiner ersten Rektoratsverwaltung sind auf Mängel in der Erforschung von Aktenvorgängen und auf eine bisher lückenhafte Dokumentation von Kants Amtstätigkeit als Rek­ tor der Universität zurückzuführen. Diese Defizite und ihre Konsequenzen bele­ gen, daß ein neuer Forschungsansatz überfällig ist. Die zwecks Aufarbeitung der Forschungsversäumnisse hergestellte Datenbank »Kant-Amt«, die zur Zeit 422 Schriftstücke umfaßt, läßt sich nach den verhandel­ ten Amtssachen thematisch in Gruppen ordnen. U.a. resultieren nach diesem Ord­ nungsprinzip die folgenden, größeren Sachkomplexe:

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»Nachricht>Privatschreiben« amtlicher S tellen, wie das weiter oben (S . 70) er­ wähnte Schreiben des Ministers von der Groeben (s. AA XIII, 590). 69 Alle Zitate aus: Kant 1798, AA VII, 1 8 . 10 Vgl Brandt 1 987, 33. .

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daß die Amtsverwaltung und nicht zuletzt auch die Vorlesungspraxis zu Interes­ senkollisionen unter den bestallten Lehrern führte (etwa in Hinsicht auf die Ab­ grenzung ihrer jeweiligen Ressorts von denen der Fachkollegen), die im wesentli­ chen materiell motiviert waren. Vom Bemühen, diese Idee Wirklichkeit werden zu lassen, zeugen viele seiner amtlichen und dienstlichen Schreiben. Kant nahm Stellung sowohl zur Rechtsform der Universität (d. h. zur Einhaltung bzw. Verlet­ zung der Universitätsverfassung und der Reskripte durch die Amtspraxis und Beschlußfassung bestimmter Personen oder Versammlungen71), als auch zu den theoretisch-praktischen Inhalten der Organisation der Lehre im Hinblick auf ihre effektive Gestaltung und Verbesserung. Dies zeigt sich in Kants Verhalten zu der von der Regierung seit dem 1 6 . Jh. immer wieder geforderten Intensivierung der Disputatorien und ihrer Abhaltung in lateinischer Sprache,72 der Neuregelung des Zugangs von Schulabsolventen auf die Universität sowie besonders in Vorschlä­ gen zur Reform des Schul- und Universitätswesens insgesamt,7 3 schließlich bei der Einrichtung neuer (auf praktische Berufe hin ausgerichteter) Unterrichtsfächer bzw. Lehrstühle und ihrer Besetzung. Bei einer gründlichen Durchleuchtung des Gesamtverlaufs eines Amtsvorgan­ ges, wird man aus den angeführten Gründen gerade feststellen, daß die Persön­ lichkeit eines Amtsinhabers deutlich an Konturen gewinnt. Es kommt also stets auf Art und Funktion des ausgeführten Amtes und auf den Inhalt der in Frage ste71

Wie dies insbesondere durch Vorgänge um die Rektoratsbesetzung im WS 1785/86, die von dem Medizin-Professor J. D. Metzger beansprucht und durch ein von Kant verurteiltes Taktie­ ren unter Mißachtung der rechtlichen Instanz von Rektor und Senat durchzusetzen versucht wurde (s. Staatliches Archiv Olsztyn, Akte Die med. Professorum 1 785, XXVIII/ I , 444) . 72 Das Disputatorium war im Unterschied zu den Praelectiones eine verhältnismäßig freie und für alle Studenten und Lehrenden offene Unterrichtsform, die den Studenten den Eintritt in den Dialog miteinander und mit den Lehrenden ermöglichen sollte (vgl. D. H. Arnoldt 1 746, Teil I, 201-210 (§§ 16-17); Bomhak 1 900, 31 und 34). Sie bestand seit der Gründungszeit der preußi­ schen Universitäten. Diese Veranstaltung (die nicht mit den anläßlich von Promotionen zu halten­ den Disputationen zu verwechseln sind) diente nicht nur der Einübung der Studenten im Reden und Argumentieren und der Zeugnisablegung über den Grad des erworbenen Wissens, sondern auch der besseren Befähigung der Professoren und des übrigen Lehrpersonals zum gelehrten Un­ terricht (s. das Reglement, daß sowohl die Profeßores als andere, welche auf Universitaeten Col­ legia, zu Aufmunterung derer Studenten eine gewiße Anzahl Disputationen halten sollen; etc., Berlin 24. 12. 1 749, abgedruckt bei D. H. Arnoldt, Zusätze (1 756), 222-224 (Beilage 1 ) ; s. auch die beiden folgenden Beilagen, Reskripte von 1 7 1 0 und 1736 in derselben Sache). - Zum Thema Sprache vgl. z. B . : GStAPK Berlin-Dahlem, EM 1 39b, Nr. 25, Bd. 8 ( 1 778). 73 Anläßlich einer Überprüfung des Schul- und Universitätswesens, speziell der Examina im Vorfeld der Immatrikulationen, infolge eines übergroßen Zustroms von Schulabsolventen auf die Universität, die nicht die erforderliche Reife für das S tudium mitbrachten und daher ein Überan­ gebot von Anwärtern auf S taatsämter bzw. eine Vergrößerung des studierten Proletariats befürch­ ten ließen, erstellte die philosophische Fakultät unter Kants Dekanat ein Gutachten (9. 1 . 1 788), das die Universität in einer Abschrift bei der OSK in Berlin einreichte und das konkrete praktische Vorschläge enthielt (s. Schwartz 1 9 1 0, 74 f. , 95 f.; das 6 112 seitige Gutachten - von Schwartz nur in einem kurzen Auszug wiedergegeben - befindet sich im GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 76 alt I, 23, fol. 60-63). S. zu diesem Thema auch den im vorliegenden Band folgenden Aufsatz von Euler I Dietzsch.

Kants Amtstätigkeit

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benden Schreiben an. Dies ist der wesentliche Grund dafür, nicht die Konsequenz mitzuvollziehen, daß die von einer Amtsperson aus- bzw. bei ihr eingehenden Schriftstücke gar nicht als Briefe, sondern schlechthin bloß als (unpersönliche, rein funktionsgebundene, unfreiwillige) Aktenstücke anzusehen seien.74 7) Wenn nun aber klarerweise in amtlichen und dienstlichen Schreiben im Unterschied zu Privatbriefen75 die Individualität des Autors oft unmittelbar zu­ rücktritt, dann drängt sich überhaupt die Frage auf, welche Kriterien dafür taug­ lich sind, den Autor eines Amtsschreibens als solchen zu identifizieren? Wenn die Handschrift allein über diese Frage entscheiden soll, wird man zu der irrigen An­ nahme verleitet, daß ein Sekretär, dem ein B rief in die Feder diktiert wurde, als dessen Verfasser anzusehen sei. Eine Alternative könnte sein, die Funktion des Unterzeichners allein über die Autorschaft entscheiden zu lassen.76 Wie aber geht man dann mit einem Dokument um, das in Form einer Kopie vorliegt, die den Unterzeichnenden gar nicht nennt, oder wie entscheidet man sich, wenn Original­ briefe mehrere Unterschriften verschiedener Funktionsträger enthalten? Letzteres ist gerade im Falle von Universitätsschreiben, die in der Regel vom amtierenden Rektor, vom Dekan der philosophischen Fakultät und von den Mitgliedern des akademischen Senats unterschrieben sind, an der Tagesordnung. Denkbar ist auch, daß ein Autor in einem Dokument gar nicht signifikant in Erscheinung tritt, aber durch Dritte als Autor bezeugt wird, z. B. wenn er maßgeblich für den Inhalt ver­ antwortlich gemacht wird, insofern dieser seinen Gedanken entstammt, den Brief aber weder eigenhändig verfaßt, noch selbst signiert hat. Es scheint also aussichtslos zu sein, ein allgemeingültiges Kriterium an­ zugeben, das in jedem Einzelfalle die sichere Identifizierung des Autors eines amtlichen Schriftstückes erlaubt. Es bleibt nichts übrig, als von Fall zu Fall nach den jeweils vorliegenden, besonderen Umständen der Entstehung eines Amts­ schreibens den Autor zu ermitteln. 8) Dieser Befund bringt uns scheinbar in eine prekäre Lage : wie kann die Dokumentation von Kants Amtstätigkeit an Hand von Briefen und Aktenfund­ slücken dafür in Anspruch genommen werden, Kants Persönlichkeit zu beleuch­ ten, wenn die Originalität dieses Denkers aufgrund der Natur von Amtsschreiben selbst in den herangezogenen Dokumenten nun gerade tendenziell verschwindet? Die Antwort muß beinhalten, daß erstens - wie gezeigt - der Persönlichkeit in amt­ lichen und dienstlichen Schreiben der Universität ein besonderer Freiraum zur Ent74

Vgl. dagegen Schmid 1988, 4 f. Die Frage der strikten Trennbarkeil von Amt und privatem Lebensbereich ist grundsätz­ lich als Problem zu bedenken. Denn anders als im 20. Jh. hatte die Universität zu Kants Zeit einen umfassenden Einfluß auf die Organisation des Lebens ihrer Mitglieder. Dies zeigt sich u. a. am Wesen und an der Sttuktur der Universitätsökonomie und -gerichtsbarkeiL Bis zum Begräbnis, der Testamentsvollstreckung und Erbschaftsverwaltung blieben die Angelegenheiten der Professoren, ihrer Angehörigen und Bediensteten in den Händen der Universität. Die Mitgliedschaft und die damit verbundenen Rechte und Pflichten endeten nicht mit Einstellung der Vorlesungen, sondern dauerten bis zum Lebensende. 76 Vgl. dazu Woesler 199 1 , 70. 75

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faltung bleibt und daß zweitens die Individualität einer Amtsperson natürlich nicht in einzelnen, vom gesamten Verwaltungsvorgang isolierten Schreiben zutage tritt, sondern eben gerade erst im Gesamtkontext der Geschichte der Amtsverwaltun­ gen und der verhandelten Sachangelegenheiten und d. h. eben auch in dem Bezie­ hungsgefüge von Verwaltungsebenen, Institutionen, Gremien und (miteinander konkurrierenden) Amtspersonen. Aus den dargelegten Mängeln und Defiziten der bisherigen Forschungs­ arbeiten zu Kants Amtstätigkeit, insbesondere aus dem Befund des amtlichen Schriftverkehrs I. Kants in der AA und aus der Wiederentdeckung umfangreicher Archivalien leiten sich im Hinblick auf das Ziel einer Gesamtdokumentation die folgenden Arbeitsschwerpunkte ab:

A. Materialerhebung Die grundlegenden Arbeitsschritte richten sich auf die Bereitstellung der zu bear­ beitenden Texte. Dazu gehören: 1) Die datentechnische Erfassung aller erreichbaren Zeugnisse zu Kants amtli­ cher Tätigkeit in den Archiven von Berlin, Merseburg, Olsztyn, 2) die Speicherung aller erfaßten, für Kant einschlägigen Originaltexte auf Mi­ krofilm bzw. Xerokopie zur späteren textkritischen Aufbereitung der Druck­ texte und ggf. zur Identifizierung des Schreibers. Alle neu erfaßten Daten werden in die am Kant-Archiv Marburg eingerichtete Datenbank »Kant-Amt« eingearbeitet. Sie umfassen den jeweiligen Originaltext sowie Angaben über Fundort, Provenienz, ggf. die Quelle des entsprechenden Drucks etc. Die Datenbank bildet die Grundlage für die Herstellung und Publi­ kation der Gesamtdokumentation. Bei der Forschungspraxis in den genannten Archiven sind folgende, allgemeine Leitlinien zu berücksichtigen: 1 ) Grundsätzlich ist das gesamte Aktenmaterial in den für Kant relevanten Zeit­ räumen nach Spuren Kants zu durchleuchten. 2) Gezielt aufzusuchen sind die Originale aller publizierten Amtssachen Kants. 3) Die Auswertung der bisher gedruckten Amtsschreiben von und an Kant sowie einiger unveröffentlichter Materialien bzw. neuer Hinweise auf bisher unent­ deckte Briefe erlaubt die Formulierung gezielter Fragestellungen, die die Nachforschung im Hinblick auf bestimmte Sachthemen, Verwaltungsinstitu­ tionen und eng begrenzte Zeiträume leiten werden. Für die Berliner Akten bedeutet dies: die im GStAPK (Berlin-Dahlem), HA. XX., lagernden Archivalien des ehemaligen Etatsministeriums aus dem früheren StA Königsberg enthalten u. a. den Schriftverkehr des EM mit der Universität Königs­ berg, und zwar insbesondere zu folgenden Sachkomplexen: - Zensurmaßnahmen - Berufung von Lehrkräften (Personalakten) - Akten wegen fleißigen Lesens der Kollegien (diese geben Einblick in den

Kanls Amistätigkeit

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Betriebsablauf der Universität und ihrer Fakultäten: Einrichtung der Kollegien, Durchführung der Prüfungen, Ferienregelung, besondere Vorfälle etc.). Es sind dabei nicht nur die direkten Voten Kants bzw. die Reaktionen darauf zu erheben, sondern auch alle Stellungnahmen Dritter, insbesondere der Kollegen Kants, die im selben Kontext stehen - soweit sie Kants Handlungsweise oder den sachlichen Kontext, in den sie eingebunden sind, weiter erhellen.77 Von Interesse ist z. B. die folgende Fragestellung: - Nahm Kant als Dekan auf die Berufung von Johann Gottlieb Kreutzfeld ( 1 7451 784) (per Reskript vom 4. 9. 1 776), der bei der Neubesetzung der Professur für Dichtkunst (Nachfolge des am 29. 3 . 1776 verstorbenen J. G. Lindner) allen vorgeschlagenen Bewerbern vorgezogen wurde, Einfluß? Der amtliche Schrift­ verkehr in der AA teilt darüber nichts mit. Es ist aber wenigstens ein bisher un­ gedrucktes Schreiben Kants vom 17. 4. 1 776 an die Universitätsleitung in dieser Sache bekannt, in welchem er als Dekan im Namen der philosophischen Fakul­ tät einen vorgeschlagenen Bewerber zurückweist und drei Alternativvorschläge unterbreitet. Kreutzfeld wird dabei noch nicht als Bewerber genannt.78 Benutzt wurden bisher zu dieser Angelegenheit nur die Akten des EM 1 39 c. 4, nicht aber die Universitätsakten.79 Für die Merseburger Akten bedeutet die Auswertung der bisher bekannten und teilweise veröffentlichten Amtsschreiben von und an Kant: die im GStAPK, Ab­ teilung Merseburg (ehemaliges Zentrales Archiv der DDR) lagernden Bestände aus der 76. Repositur des GStA Berlin enthalten die Akten der Oberschulbehörde in Berlin (der OSK und des Oberkuratoriums), die die Einrichtung und Durchfüh­ rung von Aufnahmeprüfungen an der Universität, die Anstellung und Besoldung der Lehrkräfte, die Einhaltung der Zensurbestimmungen und besondere Ereignisse auf der Universität regelte und überwachte. Teile dieser Akten wurden früher benutzt von Fromm ( 1 894), Warda ( 1 9 19) (KS 23), Schwartz ( 1 925). Schwartz ( 1 9 1 0) berücksichtigte nur einen kleinen Teil dieser Akten. 80 Aus Unterlagen der Rep. 7 sind Angaben über Kants Studienzeit, seine Anstel­ lung als Professor der Logik und Metaphysik ( 1 770), über seine Aufnahme in den akademischen Senat ( 1 7 80) sowie über seine weitere dienstliche Tätigkeit an der Universität Königsberg zu entnehmen. Kants Tätigkeit als Mitglied des Prüfungskomitees (Rektor, Dekan, Prodekan, Exdekan) ist bis heute nicht dokumentiert worden. Die Akten des OSK im 76. Rep. enthalten Materialien und Briefe aus dem Amtsverkehr zwischen OSK und Universität Königsberg aus dem Zeitraum von 1 78 8 bis 1 805. Die Akten sind vor 77

In dieser Hinsicht ist die Ausgabe »Goethes Amtliche Schrifteneine andere Logik« beizubringen versuchte, denn die Schü­ ler hatten Philosophie bei einem erklärten Kant-Gegner gelernt. 17 18

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Kants Brief19 und Bericht20 »Ew: Magnificence habe die Ehre den verlangten Entwurf schuldigermaßen zuzu­ stellen, und zugleich ergebenst zu bitten, mir die Zeit, wenn das Anschreiben des academischen Senats an Herrn Domsien abgegangen seyn wird und Schreiner sich bey selbigem stellen kan, gütigst zu melden. Ich bin mit schuldiger Hoch­ achtung Ew: Magnificentz gehorsamster Diener Koenigsberg d 1 5 Oct: 1 779 / Kant * * * Da dem Decano Fac: Phil: in einem besonderen Anschreiben den 1 1 Octobr von Ihro Excell: dem Herrn Etats ministre und Obermarschall v. d. Gröben aufgetragen worden, den ohne Dimission vom Collegio Fridericiano abgegange­ nen Schreiner der Vorschrift gemäs zu tentiren und ihn nach Befinden, entweder zu dimittiren, oder zurück nach der Schule zu verweisen: so ist von Decano in consessu Senatus den 1 3ten Octobr: angezeiget worden: daß solches geschehen und [daß] gedachter Schreiner, so wohl in Ubersetzung einiger Stücke a us Ciceronis Orationibus und Ovidii Metamo rpho sen, als auch in einem kleinen exercitio extemporaneo, zwar eben nicht Fertigkeit, aber doch [eben] so viel Kentnis der Sprache gezeiget, als [verschiedene] die, mit guten Zeugnissen versehen, aus eben der Anstalt entlassen worden. Zugleich legte Decanus [die] eine Ü bersetzung aus dem Deutschen ins I Lateinische von einem Stück aus D. Hume Abband: vo[i]n den Nationalcharakteren vor, welche gedachter Schreiner in einem Zimmer des Decani, ohne hülfe eines Buches, oder die mindeste Erinnerung, hatte abfassen müssen, nach deren Prüfung Senatus Academicus * 1 beschließt: daß 1 , obgleich in diesem Specimine sich verschiedene Fehler vorfinden, sie den­ noch eher eine Unachtsamkeit als Unwissenheit [anzeigen] beyzumessen

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Olsztyn, XXVIII/ I , 1603, S . 3 54; eigenhändiges Schreiben Kants (als Dekan der Philo­ sophischen Fakultät) mit anschließendem (zwar undatiertem, aber sicherlich auch am 1 5 . 1 0. ver­ faßten) Bericht über die Prüfung des Novizen Schreiner. Die Transkription richtet sich im wesent­ lichen nach den folgenden Grundsätzen: 1. Orthographie und Zeichensetzung des Originals wer­ den beibehalten. 2. Hervorhebungen im Original (Unterstreichung) werden wiedergegeben. 3 . Wörter i n lateinischer Schrift werden durch Kursivdruck angezeigt. 4 . S iglen werden stillschwei­ gend aufgelöst. 5. Streichungen stehen in [ ... ]. 6. Überschreibungen und Einfügungen über der Zei­ le oder am Rand stehen in < . . .> . 7. Die Zusätze anderer Schreiber sind im Text durch * mit Index­ ziffer kenntlich gemacht und erscheinen am Textende. 20 Olsztyn, XXVIII/ I , 1 603, S. 355-357; eigenhändiges Schreiben Kants mit Zusätzen eines zweiten und dritten Schreibers. Kants Bericht diente als Briefentwurf, der wörtlich mit dem offi­ ziellen Schreiben der Universität an das Etatsministerium vom selben Tag übereinstimmt [Oisztyn, XXVIII/I, 1 603, S. 358-359].

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scheinen, weil sich zugleich Spuhren einer ziemlichen Kentnis der Sprache [dabey zeigen] dazwischen äußeren. 2 daß da er zwey Jahre in Collegio Fridericiano und von diesen, 1/2 Jahr auf Prima gewesen, wo die Elemente der Sprache vorausgesetzt w[i]erden und nur die Eleganz derselben cultivirt werden soll, ihm dadurch die nothwendige Sprachkentnis von den Herrn lnspectoribus selber zuge­ standen w [i]erde 3 da er auch ietzt in seinem 1 9ten Jahre schwerlich mehr lange in der Schule verweilen und darinn, bey niedergeschlagenem Muthe, eher nur zurük lernen dürfte: unter allen diesen Umständen gedachtem Schreiner der Zutritt zur Vniversitaet verstattet werden könne I Damit aber hiedurch nicht der schuldige Respekt der Schuljugend gegen ihre Vorgesetzte geschmälert und der Wahn veranlasset werde, als sey es so leicht, sich ihren Anordnungen zu entziehen und die Acade­ mie, [zu] ohne förmliche Dimission , zu gewinnen, * 2 so ist gedachtem Schreiner aufgegeben worden : sich vorher b e y Herrn lnspector Domsien z u melden, selbi­ gen wegen der Übereilung, womit er die Schule ohne seine Einwilligung verlas­ sen, um Vergebung zu bitten, auch, wenn es der Herr lnspector so verlangt, sich noch einmal auf der Classi Prima als Schüler zu stellen, um, nach [de] einer bey dieser Gelegenheit an seine Mitschüler ergangenen nöthigen Erinnerung und Warnung * in gehöriger Form dimittirt zu werden. 3 * Wir erwarten hierüber des Herrn lnspectoris Domsien gefällige Erklärung, um das nötige dieserwegen verfügen zu können. sich nicht füglieh dürfte entbrechen können dem Schreiner den Zutritt zur Universitaet zu verstauen. * so ist Senatus bereit, gedachtem Schreiner aufzugeben. 2 jedoch mit der gehörigen Mäßigung gegen den Schreiner« Ein Senatsprotokoll vom 1 3 . Oktober 1 779 gibt weitere Auskünfte über die näheren Umstände in der Sache. Es wird daraus ersichtlich , daß die strengen Kri­ terien der Schulinspektion für die Immatrikulation offenbar mit der Praxis der Universität nicht in Einklang standen. In den Senat wurde eine Note des Inspek­ tors Domsien2 1 eingebracht, der gegen die Immatrikulation von einigen Schulab­ gängern protestierte. Kant meldete sich nun in der Sitzung zu Wort und trug den Fall Schreiner vor, indem er auf dessen zufriedenstellendes Prüfungsergebnis hinwies. Daraufhin beschloß der Senat, Domsien um ein Zeugnis für Schreiner zu ersuchen, wobei man sich vorbehielt, diesen auch dann zu immatrikulieren, wenn der Schulinspektor das Zeugnis verweigern sollte.22 Bereits das nächste Senats­ protokoll (vom 20. 10. 1 779) verrät den Ausgang der Geschichte: Inspektor Dom21

Christoph S amue1 Domsien, von 1 765- 1 7 8 9 Oberinspektor des Collegium Friedericia­ num. Zur Funktion des Schulinspektors, vgl. Goldheck 1 782, 25 1 . 22 Olsztyn, XXVIII/ 1 , 805, S. 27. Der Name Schreiners erscheint nicht in dem Verzeichnis der »zur Akademie entlassenen« Schüler des Friedrichs-Kollegiums, vgl. Ellendt 1 898, 8 .

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sien, dessen Rechtfertigung sich u. a. auf die mehrfach zitierte Verordnung von 1 7 35 stützte, hatte nichts mehr gegen die Immatrikultation von Schreiner einzu­ wenden, und dieser sollte bald immatrikuliert werden. Die Aufnahme des Kandi­ daten erfolgte dann am 19. Oktober 1 779. 23 Allerdings machte er in seinem Schreiben an die Universität ( 1 6. 10. 1 779) auf den Ungehorsam des Schul­ abgängers aufmerksam. 24 Kant geriet übrigens noch einmal mit dem nämlichen Schulinspektor, mit dem offensichtlich nicht gut auszukommen war, 25 in Konflikt. Das Senatsprotokoll vom 9. Oktober 1 7 8 2 weist aus, daß er als Dekan die Aufnahme des Studenten Scubich verweigerte, weil dieser ein zu schlechtes Zeugnis von Domsien vorge­ wiesen habe. Domsien beschwerte sich daraufhin bei der Universität über Kants Verhalten. Der Senat stellte sich jedoch hinter den Dekan der Philosophischen Fakultät und verlangte die Ausstellung eines besseren Zeugnisses für den Novi­ zen, ansonsten sei das Immatrikulationsgesuch von Domsien abzuweisen. 26

Aufnahmeprüfung oder Schulexamen? Mit Beginn der 1 7 80er Jahre hatten die preußischen Universitäten - obwohl die Studentenzahlen in Deutschland zwischen 1740 und 1 800 insgesamt rückläufig waren)27 - mit einem anhaltend hohen Zustrom von Studienbewerbern zu kämpfen, die häufig unzureichend auf die Universitätsanforderungen vorbereitet waren und den Zweck ihres Studiums nur in einer schnellen Ausbildung für zivile Ä mter sahen. In Königsberg wirkte sich auch noch die Unterbesetzung mit Lehrkräften äußerst nachteilig auf den Studienverlauf aus. So beklagte der König, nachdem er anläßlich seiner Huldigung ( 1 786) die Universität in Königsberg inspiziert hatte, ihren schlechten Zustand und ordnete eine Untersuchung und Verbesserungs­ vorschläge (u. a. auch die Besoldung der Professoren betreffend) an. 2 8 Sehr bald wurde daraufhin die Universität mit zusätzlichen Geldern ausgestattet. Infolge der bisherigen Prüfungspraxis verschärfte sich die Situation noch bis 1 7 8 8 . Die Schulzeit wurde nach dem Willen der Schüler und ihrer Eltern wegen der Aussicht auf eine schnelle Karriere so kurz wie möglich gehalten. Manche Schüler gingen deshalb schon frühzeitig (von Tertia oder Secunda) von der höhe­ ren (insgesamt bloß in sechs, ab 1 7 80 sogar in nur fünf Klassen untergliederten)

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Laut des lnunatrikulationsnachweises in Erler I 9 I I - I 9 I 2, II 558. 24 Olsztyn, XXVIII/ I , I 603, S . 36I -362. In der Tat schien sich die Universität mit S chrei­ ners Aufnahme baldige Schwierigkeiten eingehandelt zu haben. Denn bereits am I I . November desselben Jahres wurde er wegen eines Vergehens bestraft und, weil er die ihm auferlegte Strafe nicht akzeptierte, >>ad Custodiam« gebracht [Oisztyn, XXVIII/ I , Nr. 805, S. 33]. 25 Vgl. die Charakteristik bei Zippei i 898, I 37- I40. 26 Olsztyn, XXVIII/ I , 805, S . I 64. 21 Vgl. Pester I992, 26 f. 28 In einem Brief an den Staatsminister von Zedlitz (Sept. I 786) [GStAPK, Abt!. Merseburg, Rep. 96 B, 86, 852].

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S chule ab, um unmittelbar darauf - »zu ihrem eigenen und der bürgerlichen Ge­ sellschaft großen Nachtheil« (wie es in einer Kgl. Verordnung vom 23. 1 2. 1 7 8 8 hieß) - die Universität z u beziehen. Für nicht wohlhabende Eltern mag auch die Aussicht auf Benefizien (z. B . freie Wohnung), Freitische und Stipendien für ihre Söhne ein Anreiz gewesen sein, auf deren beschleunigten Schulabschluß zu drän­ gen. Die Studenten verließen sich auf die bequemen und relativ unbedeutenden Examina und gingen deshalb mehr und mehr dazu über, die Schule ohne Zeugnis zu verlassen. Dies führte aber zu einer Ü berbelastung des Lehrpersonals der Uni­ versitäten mit Prüfungsangelegenheiten. Anders als in Königsberg ging die allgemeine Tendenz der anderen preußi­ schen Universitäten (Halle, Frankfurt) dahin, den anhaltend hohen Zustrom von unzureichend präparierten Schulabsolventen durch die Einführung eines Abituri­ entenexamens einzudämmen. Es wurden jedoch auch radikalere Vorstellungen bekanntgemacht So empfahl die Berlinische Monatsschrift ( 1 7 8 8 , XII, S. 25 1 ) unter der Überschrift: » Ü ber die zu große Anzahl der S tudierenden«, daß die Eltern ihre Söhne eher zu einem Handwerk anhalten sollten, als sie auf die Universität zu schicken. Denn die Zahl der Bewerber auf zivile Ä mter sei »be­ kanntermaßen so groß, daß alle Kollegia damit überschwemmt sind. Vergleicht man diese Zahl mit der von den wirklichen Ä mtern und den selbst nach der größ­ ten Mortalität berechneten Vakanzen, so bleibt doch keine Hoffnung übrig , alle diese junge Leute oder auch nur den größten Teil derselben auf eine Art versorgt zu sehen, die mit den vielen Aufopferungen, die ihre Vorbereitung kostet, in einem Verhältnis stände . «29 Die Folge der Studentenschwemme sei Perspektiv­ l osigkeit und ein Absinken der Arbeitsmoral unter den Studierenden. Es wurde zwar darauf hinge wirkt, die Ausbildung an den Schulen zu intensivieren, an eine Schulprüfung wurde aber zunächst konkret noch nicht gedacht. Um den M ißstand endlich zu beheben, versuchte das Oberschulkollegium (OSK) in Berlin seit 1 7 87 ein Abiturientenexamen einzurichten. Zu diesem Zweck wurden sechs Schulrektoren berufen, Vorschläge zur Verbesserung der Hoch­ schulsituation zu unterbreiten. Gleichzeitig wurden die drei preußischen Universi­ täten in Halle, Frankfurt/0. und Königsberg mit Gutachten beauftragt. Die Ur­ sachen des Niedergangs der Universitäten wurden einvernehmlich in den Mängeln der Schulausbildung gesehen, sowie u. a. auch in den unsicheren ökonomischen und sozialen Verhältnissen, in denen viele Schüler und Studenten lebten. Das Ergebnis der Befragung bestand darin , das Examen an den Universitäten fallen zu lassen und an den Schluß der Schulzeit zu verlegen. Ohne gültiges Schulzeugnis sollte niem and mehr immatrikuliert werden. Die Universitäten sprachen sich u.a. deswegen gegen ein Hochschulexamen aus, weil zurückgewie­ sene Schüler Gefahr liefen, für den Staat unwirksam zu werden und weil sie außerdem von mateliellen Hätten getroffen würden. Insbesondere griff das OSK

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Zitiert nach Schwartz 1 9 1 0- 1 9 1 2, I 7 1 .

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eine » Kantsche Idee« auf. Kant hatte näm lich in seinem Gutachten, das er als Dekan im Namen der Philosophischen Fakultät verfaßt hatte (9. 1 . 1 7 8 8),30 davon abgeraten, eine Verbesserung bloß durch die Verschärfung von Prüfungen herbei­ führen zu wollen. Stattdessen unterbreitete er den pädagogisch durchdachten Vor­ schlag , dem geringen Bildungsstand auf der Universität durch eine einheitliche Schulreform zu begegnen, die insbesondere die Klassenversetzung nach allgemei­ nen Richtlinien regelte. Denn die Quelle des Ü bels liege in den Schulen. Daß sich Kant spätestens seit den frühen 1 7 60er Jahren - wohl auch ange­ regt durch die Lektüre von Rousseaus »Emile« ( 1 762) - engagiert für eine tief­ greifende Umgestaltung des Schul- und Erziehungswesens aussprach, ist dem Kant- Kenner auf Grund seines Eintretens für das von B asedow und Campe auf neuen pädagogischen Grundlagen geführten »Philantropin« in Dessau hinlänglich vertraut. Kants Vorschlag sah vor, daß die Entscheidung über die Versetzung nicht mehr das alleinige Privileg des Rektors sein solle, sondern vom Votum der gesamten Lehrerschaft der Schule abhängig gemacht werden müsse. Besonderes Gewicht sollte die Stellungnahme des jeweiligen Klassenlehrers erhalten. Außer­ dem regte Kant folgende Radikalkur an: minderbegabte und lernunwillige unter den ganz armen Schülern bereits in der Tertia zum Verzicht auf ein künftiges Universitätsstudium zu verpflichten, indem ihnen zugleich die Aussicht auf das Fortrücken in höhere Schulklassen genommen werden sollte. Damit würden sie nämlich rechtzeitig auf einen für sie praktikableren Lebensweg gebracht, der sie vor späteren Nachteilen und Enttäuschungen bewahre. Diese Anregungen wurden in die konzeptionellen Ü berlegungen des OSK aufgenommen, ohne daß sie aller­ dings in dem fertigen Reformwerk ihren Niederschlag gefunden hätten.3 1 Die Begutachtung und Auswertung hatte schließlich zwei Reglements für die Schulen und Universitäten des Landes mit konkreten Anweisungen zum Prü­ fungsverfahren zur Folge (23. 1 2. 1 7 88). Sie betrafen jedoch zunächst nur die öffentlichen, zum Verwaltungsgebiet des OS K gehörenden Gelehrtenschulen.32 Alle privat unterrichteten Novizen sollten weiterhin der Prüfung durch die

30 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 76 alt I, 23, fol. 60-63; auszugsweise zitiert in Schwartz 1 9 1 0- 1 9 1 2, I 74 f.; vgl. auch Rethwisch 1 886, 200. 3 1 Noch am 20. 2. 1 790 schlägt die Philosophische Fakultät der Universität diese Idee in fast durchgängig wörtlicher Übernahme des Kant-Gutachtens vor (s. Rep. 76 alt II, I, fol. 94 im GS tAPK, Abt. Merseburg). 3 2 Der Rang der Gelehrtenschulen innerhalb der gesamten Schulgliederung war nicht genau festgelegt. Zwar war sie nach oben hin klar von den Universitäten geschieden, doch von den ge­ wöhnlichen »BürgerschulenIch gestehe meine Schwäche und Unreife für die Universität. Friderich Seiff.>die Studenten auf Universitae­ ten von den Brodt Collegiis zuruk zu halten u. ihnen begreiflich zu machen daß das bischen Rich­ terey, ja selbst Theologie u. ArzneyGelarheit unendlich leichter u. in der Anwendung sichrer wird wenn der Lehrling mehr philosophische Kenntniß hat, daß man doch nur wenige Stunden des Ta­ ges Richter, Advocat, Prediger, Arzt, u. in so vielen Mensch ist wo man noch andre Wißenschaften nötig hat [ . . . ] « . Den S tudenten sei der Vorteil des philosophischen Studiums aber nicht durch >>ge­ druckte Anweisungen, Leges, Reglements>alles noch schlimmer, als das Brodt-Collegium selbst« (von Zedlitz an Kant, 1 . 8. 1 778, Brief Nr. 1 3 7 , AA X, 235 f. ; eine Antwort Kants ist nicht bekannt). 34

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die Ausbildung an den oberen Fakultäten sowie für das Abschlußexamen fest­ schreiben möchte.36 Kant zeigte als Dekan im Juli 1 79 1 dem Etatsministerium statistisch einen Rückgang der Zahl der Studienanfänger (bezogen auf die letzten fünf Semester durchschnittlich von 72 auf 43) an.37 Zwar führt er dieses Ergebnis auf die durch Verordnung vom 23. 1 2 . 1 7 8 8 vorgeschriebene strengere Prüfungspraxis an der Universität zurück, aber er macht zugleich deutlich, daß die zahlenmäßige Ver­ minderung das Ausbildungsproblem nicht löse. Denn es würden mehr akademisch gebildete Leute zur Besetzung der Landesstellen benötigt als gegenwärtig die Universitäten bezögen. Die Deckung dieses Bedarfs setzt nach Kant primär eine qualitative Verbesserung der Schulen voraus. Auch dürfe der »glückliche Gang der Schulgeschäfte« nicht durch Zugriffe von außen (z. B. willkürliche Rekrutie­ rungsmaßnahmen der Militärbehörden) gestört werden.Js Gestützt auf Kants Bericht meldete die Königsherger Universität am 29. 7. 1 79 1 einen spürbaren Rückgang der Immatrikulationen nach Inkrafttreten der neuen Reglements und brachte bereits ihre Besorgnis zum Ausdruck, daß sie durch diese derart starke Verminderung der Studentenzahl die Besetzung der staatlichen Ämter gefährdet sehe.39 Diese Berichte stehten jedoch im krassen Gegensatz zu der allgemeinen Lage und den wiederholten Aufforderungen des OSK an die Universitäten, auf mehr Strenge bei den Prüfungen zu achten. Auch in Königsberg änderte sich die Lage wieder. So berichtet die Philosophische Fakultät am 1 . 1 1 . 1796 über den häufigen Mangel an Reife auch unter denjenigen Schul­ abgängern, die ein Reifezeugnis mitbrächten. Dies gebe Anlaß zur Vorsicht und mache eine nochmalige Ptüfung auf der Universität erforderlich. Die staatliche Neuregelung des Zugangs zur Universität schaffte in der Tat nicht weniger, sondern mehr Arbeit für die Professoren als vordem und führte obendrein zu keiner wesentlichen und dauerhaften Verbesserung der Situation. Schon im Jahre 1795 wurde erneut registriert, daß die Zahl der an der Universität Geprüften mit jedem Semester anstieg. Die neue Regelung hatte also auf längere Sicht keine positiven Effekte auf den Zustrom von Studienanfängern. Die Imma­ trikulation erfolgte - trotz der Erneuerung des vom Dekan der Philosophischen Fakultät auszustellenden »Depositionsscheines«40 und der Beteuerung der Fakultät (20. 2. 1 790), kein Novize werde immatrikuliert, der nicht vorher geprüft worden sei - in der Regel noch vor der Aufnahmeprüfung. Die Mahnungen des OSK, die

36 Diese Selbsleinschätzung über die Funktion der Philosophischen Fakultät lag durchaus im Trend der Zeit. F. W. J. S chelling entwarf 1 803 in diesem Sinne die nämliche Fakultät nach mit­ !elallerlichem Musler als autonomes >>Collegium Artium«. 37 Vgl. den Bericht der Königsherger Universität an das Etatsministerium vom 29. 7. 1 7 9 1 , zitiert i n Schwartz 1 9 1 0- 1 9 1 2, III 476. 38 Brief a- 1 7, AA XII, 435-437; Original in Olsztyn, XXVIW 1 , 1808, S. 9-1 1 . 39 Zitiert be i Schwartz 1 9 1 0- 1 9 1 2, II1 476. (Rep. 76, I , 57) 40 Das »S ignum despositionis« wurde als Relikt der Deposition, mit der eine zeremonielle Erteilung der akademischen Bürgerrechle an die Studenten verbunden war, 1 7 1 7 zur Bescheini­ gung der bestandenen Eingangsprüfung eingeführt (vgl. Goldbeck 1782, 28).

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Prüfungsanforderungen an den Universitäten zu verschärfen, blieben unwirksam. Die anhaltende Misere wurde nun einseitig den Universitäten angelastet. So wie das OSK an die Universität Königsberg verfügte ( 17. 5. 1 79 1 ), mit größerer Stren­ ge beim Examen zu verfahren, wiederholten sich die Ermahnungen auch an die Adresse der anderen Universitäten in der Folgezeit nachweislich bis zum Ende des Jahres 1 800. Am 26. I . 1 796 wurde vom OSK sogar eine Neuregelung verfügt, die freilich im wesentlichen nur die Reglements von 1 7 8 8 bestätigte. Alle weiterge­ henden Bestrebungen, von staatlicher Seite mit konkreten Bestimmungen in die Prüfungspraxis der Examinationskommissionen einzugreifen (Einführung einer Berichtspflicht über die in j edem Semester abgehaltenen Prüfungen) scheiterten nicht nur daran, daß sie nicht praktikabel waren, sondern auch am Autonomiesta­ tus der Universität. Denn für sie war es z.B. nicht hinnehmbar, daß ein nicht im­ matrikulierter Studienbewerber, da er noch nicht Bürger der Universität sein konn­ te (gleichwohl sich an der Universität aufhielt), bis zum Tag der bestandenen Prü­ fung nicht zur Beachtung der akademischen Gesetze verpflichtet werden konnte. Historische Erinnerungen sind gewiß lehrreich auch im Hinblick auf die Universitätsgeschichte. Man sollte sich jedoch davor hüten, voreilig Parallelen zur Krise der Universität im heutigen Deutschland und den durch sie hervorgerufenen Reformvorstellungen zu ziehen. Dafür nämlich sind die Organisationsformen und Ausbildungsbedingungen der Universität im 1 8. Jh. und jetzt sowie die gesell­ schaftlichen Probleme, mit denen sie jeweils konfrontiert sind, zu verschieden. Mit den Wissenschaften hat sich die Universität in den letzten zweihundert Jahren tiefgreifend verändert. Eine Einsicht allerdings läßt sich u. E. sicher aus der Kenntnis der historischen Bedingungen der Krise der Preußischen Universität im ausgehenden 1 8 . Jh . und den Fehlschlägen, die die Maßnahmen zu ihrer Bewälti­ gung nach sich zogen, gewinnen: daß staatliche Eingriffe in das universitäre Autonomiestreben in Form von strengeren Reglementierungen .(Verkürzung der Studienzeiten, Verschärfung der Prüfungsordnung, Komprimierung und Speziali­ sierung der Lehrinhalte, Verschulung, Sanktionierung etc .) bestenfalls gar nichts zur Verbesserung der Situation beitragen, schlimmstenfalls aber das Übel ver­ größern; abgesehen davon, daß einige der aktuell diskutierten Vorschläge zur Verbesserung der Lage der Universitäten sich gar nicht einmal dem Einfallsreich­ tum von Politikern verdanken, sondem bloß auf längst vergtiffenen Vorstellungen beruhen, die sich zwar nicht bewährt haben und deshalb nicht zu Unrecht der Vergangenheit angehören, aber nun zu einem neuen, zweifelhaften Glanz auf­ poliert werden. Sie sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie sich zu sehr, wenn nicht gar ausschließlich auf quantifizierende Überlegungen stützen, indem sie sich danach ausrichten, die Studentenzahlen quasi mechanisch zu mani­ pulieren, ohne eine wirkliche (und natürlich sehr zeitaufwendige) Strukturanalyse (die auch und gerade die Ausbildung an den Gymnasien zu berücksichtigen hätte) zu betreiben. Die Alternative könnte lauten: zurück zum Humboldtschen Bil­ dungsideal ! Doch auch gegen den Schein eines solchen Ausweges ließen sich gute Argumente vorbringen.

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Euler I Dietzsch

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ANJA VICTORINE HARTMANN Der Platz des Rechtlichen Postulats in der Besitzlehre

1 949 hat Friedrich Tenbruck dafür plädiert, die Absätze 4-8 des § 6 der Kanti­ schen Rechtslehre aus dem Text zu entfernen, da sie offensichtlich jedes sprachli­ chen und inhaltlichen Bezuges zu ihrer Umgebung entbehren.! Diese Streichung ist allgemein anerkannt und zunächst als eine ersatzlose betrachtet worden. Dage­ gen hat Bernd Ludwig - zuerst 1 982 in einem Aufsatz, und dann in seiner 1 988 erschienenen Dissertation - vorgeschlagen, die entstandene Lücke mit dem Text des bisherigen § 2 der Rechtslehre zu füllen. Mit diesem Vorschlag zur Neuorga­ nisation der §§ 1-7 der Rechtslehre verbindet Ludwig in der Dissertation einen » Analytischen Kommentar«, der aufzeigen soll, daß der neuentstandene Text nicht nur formal, sondern auch inhaltlich konsistent ist.2 Gegen die Ludwigsche Umstellung und gegen seine Interpretation hat sich Burkhard Tuschling in einem 1988 erschienenen Aufsatz ausgesprochen.3 Ich halte Tuschlings Kritik an der Ludwigschen Interpretation insbesondere des § 2 für gerechtfertigt, meine aber, daß die Umstellung von § 2 in die Ten­ brucksche Lücke nichtsdestoweniger zwingend ist. 1 . Tuschling geht nicht auf die Argumente ein, die Ludwig dafür vorbringt, daß das Postulat nicht vor dem § 6 stehen kann. Daß es nicht vor § 6 stehen muß, zeigt sich darin, daß es bis zur Tenbruckschen Lücke weder erwähnt noch als Beweismittel herangezogen wird.4 Daß es auch nicht vor § 6 stehen kann, wird aus den Formulierungen der §§ 4 und 5 deutlich : B eide betrachten die Möglich­ keit eines äußeren Mein und Dein als bloß hypothetisch , was einem aufmerksa­ men Leser als seltsam auffallen muß, wenn er den § 2 schon kennt. Denn dieser hat ja gezeigt, daß es ein äußeres Mein und Dein geben soll. Mit einer Formulie­ rung wie in § 5: »also muß zufolge des § 4 ein intelligibler Besitz als möglich vorausgesetzt werden, wenn [ ! , AVH] es ein äußeres Mein und Dein geben soll« (249, 1 1 - 1 3) wäre die Ableitung des intelligiblen Besitzes, die - nach der Ü ber­ schrift - erst in § 6 folgen sollte, schon geleistet, § 6 wäre somit überflüssig.5 Auf diese Argumentation nimmt Tuschling keinen direkten Bezug, er versucht viel­ mehr zu erweisen, daß § 2 an der von Ludwig vorgeschlagenen Stelle nicht stehen

Tenbruck 1 949. - Obwohl den gleichen Korrekturvorschlag schon Buchda 1929 machte, wurde er erst nach Tenbrucks Aufsatz allgemein zur Kenntnis genommen. - Kants Rechtslehre wird im folgenden nach der Akademie-Ausgabe, Bd. VI, mit arabischer Seiten- und Zeilenzählung zitiert, andere Kantische S chriften nach der Akademie-Ausgabe mit römischer Band- und arabi­ scher Seitenangabe. 2 Ludwig 1 982, 2 1 8 -232 und Ludwig 1988. Dort besonders S. 60-65 und 1 06- 1 15. Tuschling 1988. 4 Ludwig 1988, 61 und 63. Ludwig 1988, 6 1 f.

A. V. Hartmann

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darf, »daß die Versetzung des Textes von § 2 nach § 6 keinen sinnvollen Text ergibt«.6 Zunächst zu einem formalen Einwand gegen die Umstellung, danach zu den materialen Einsprüchen. 2. Tuschlings form aler Einwand, die Einfügung einer Zwischenüberschrift in einen Text, wie sie durch die Umstellung von § 2 in § 6 entsteht, sei ein »von Kant sonst nicht befolgtes Verfahren«7, läßt sich mit Blick auf Passagen des sog. »opus postumum« in Frage stellen : An einer Stelle läßt Kant hier auf ein Paragra­ phenzeichen und eine kurze Textpassage die Zwischenüberschrift »Lehrsatz« fol­ gen, darauf wird dieser dargestellt, dann folgt erneut eine Zwischenüberschrift »Beweis«, dann die Beweisausführungen. Danach wird - nur durch einen Absatz getrennt - der Gedankengang fortgeführt. 8 Ebenfalls vergleichbar sind Stellen, an denen in den Text die Zwischenüberschriften »Axiom«, »Definitio« oder »Theo­ rem« eingefügt werden. 9 Gerade in bezug auf Lehrsätze o.ä. ist das Verwenden einer Zwischenüberschrift Kant in den späten neunziger Jahren also nicht gänzlich fremd. Die Textgestalt des § 6 nach der Umstellung von § 2 und damit die Einfü­ gung der Zwischenüberschrift »Rechtliches Postulat der praktischen Vernunft« kann demnach mit Blick auf obige Stellen durchaus als von Kant möglicherweise intendiert angesehen werden. - Im folgenden nun zu den materialen Einwänden gegen die Umstellung des § 2. 3 . § 2 beginnt mit dem rechtlichen Postulat: »Es ist möglich, einen jeden äu­ ßern Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben; d.i.: eine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde , ein Gegenstand der Willkür an sich (obj ektiv) herrenlos (res nullius) werden müßte, ist rechtswidrig« (246,5-8). Im zweiten Absatz folgt die Begründung dieses Postulats, im dritten wird das Postulat als ganzes mit seinen Folgen betrachtet. Ein Argument Ludwigs für die Umstellung des § 2 hängt eng mit seiner Inter­ pretation der Begründung des Postulats zusammen: Im dritten Absatz von § 6 werde ein Verfahren beschrieben, mithilfe dessen die Vernunft einen syntheti­ schen Satz a priori aufweisen könne : »auf dem [ . . . ] Wege der Abstraktion von allen empirischen Bedingungen«. 1 0 Dieses Verfahren werde an dieser Stelle lediglich »beschrieben«, im restlichen § 6 aber nicht »angewandt«. t t Anwendung finde aber ein solches Verfahren in der Begründung des Postulats, 1 2 dieses habe daher seinen richtigen Ort in § 6. Die Ludwigsche Interpretation der Begründung des Postulats, die die Anwen­ dung eines solchen Abstraktionsverfahrens zu finden meint, verläuft folgender­ m aßen: Der Beweisgang im zweiten Absatz von § 2 beginne. mit dem Nachweis,

10 n

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Tuschling 1988, 28 1 . Tuschling 1 988, 275. Vgl. AA XXI, 223 ff. Vgl. AA XXI, 50; XXII, 609 f.; XXII 473 ff. Ludwig 1988, 60. Ludwig 1988, 60. Ludwig 1 9 8 8 , 6 3 , Arun. 24, >>b)VoraussetzungDer Sperrdruck der Gegenbegriffe ' theoretisch' und ' prak­ tisch ' , die deutliche Entgegensetzung des ' theoretisch' gegen das ' praktisch' durch das Wort ' näm­ lich' [ . . ] der deutliche Rückbezug des ' diesem praktischen' in § 6 Abs. 9 auf das ' Grundsatz' im letzten Satz des § 2Postulat« hier in der Rechts­ lehre für einen praktischen Grundsatz, in der Kritik der praktischen Vernu'lfi aber für Vernunftbe­ griffe verwendet. In der Terminologie der Kritik der praktischen Vemu'!fi wäre der Begriff des intelligiblen Besitzes ein »PostulatVerstand>Vernunft«. Da für die Plazierung des § 2 die Frage, ob es sich beim Begriff des intelligiblen Be­ sitzes um einen Verstandes- oder einen Vernunftbegriff handelt, unerheblich ist, sei eine Entschei­ dung hier nicht gefäll t 37 Vgl. z. B. AA V, 1 3 3 : Es wird »daß eine solche [sc. Kausalität durch Freiheit] sei, durch das moralische Gesetz und zu dessen Behufe postuliert«, vgl. auch AA V, 4, bes. Anm .; AA V, 29 u. ö. Die intelligible Freiheit ist auch »Bedingung des moralischen Gesetzes>physiologische Ableitung, die eigentlich gar nicht Deduktion heißen kann«). 6 Erdmann 1 878, 25. Eine tabellarische Übersicht der Einteilung des Deduktionskapitels bei älteren Kaut-Interpreten (A. Riehl, B. Erdmann, G. Thiele, E. Adickes, E. Arnoldt und H. Vaihin­ ger) findet sich bei de Vleeschauwer 1936, 208-210.

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H. F. Klemme

Bezeichnet Kant mit ihr zwei Beweisschritte der einen Deduktion? Oder nur zwei Aspekte des einen Begründungsganges? Werden die beiden Seiten separat und nacheinander begründet und anschließend (im dritten Abschnitt?) in einer zusam­ menhängenden Argumentation, in der Deduktion, aufeinander bezogen? Wenn nur die objektive Deduktion zur Beantwortung der Hauptfrage der K. d. r. V. wesentlich ist und die Zustimmung des Lesers erwartet, welche Funktion kann dann überhaupt die subjektive Deduktion erfüllen? Ist sie vielleicht überhaupt für das Beweisziel der Deduktion entbehrlich? Bevor wir uns der Beantwortung dieser Fragen - soweit es im Rahmen dieses Beitrages möglich ist - annähern, ist es angebracht, die wichtigsten Merkmale der beiden Seiten der Deduktion im Detail festzuhalten: I. Aufgabe der objektiven Deduktion ist ( I .) der Nachweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien, die (2.) mit der »Hauptfrage« der K. d. r. V. , also der Frage nach den Grenzen des Kate­ goriengebrauchs, in einem engen Zusammenhang steht. II. Die subjektive Deduk­ tion ist demgegenüber der Problematik gewidmet, ( 1 .) wie der Verstand als Denk­ vermögen selber möglich ist; des weiteren soll (2. ) die subjektive Deduktion etwas einer Hypothese Ähnliches haben. III. Beide ' Dedukti � nen' sind ( I .) »zwei Seiten« der einen Deduktion; (2. ) die Ü berzeugungskraft der objektiven Deduk­ tion hängt nicht vom Erfolg oder Mißerfolg der subjektiven Deduktion ab. Ich möchte im folgenden nun so vorgehen, daß ich zunächst Wolfgang Carls Interpretationsvorschlag vorstelle. Es wird zu prüfen sein, inwiefern seine Ausfüh­ rungen mit den genannten begrifflichen Bestimmungen Kants kompatibel sind. Anders als Erdmann, der sich bemüht, den dem Deduktionskapitel selber zu­ grundeliegenden »Plan« wiederzugeben (und damit letztlich scheitert), will Carl zeigen, daß sich die Kantische Distinktion sehr wohl auf das Deduktionskapitel beziehen läßt, allerdings unter der Voraussetzung, daß gewisse begriffliche Neu­ bestimmungen vorgenommen werden. Ausgehend von den Problemen, die, wie sich zeigen wird, mit Carls Interpretation verbunden sind, soll dann erneut geprüft werden, ob und inwieweit sich die von Kant in der Vorrede der K. d. r. V. gege­ benen Auskünfte über die zwei Seiten der Deduktion auf den faktischen Begrün­ dungsgang der A-Deduktion beziehen lassen. Da es mir hier nicht darum geht, eine umfassende Interpretation der Kategoriendeduktion vorzustellen, beschränke ich meine Ausführungen weitgehend auf den zweiten Abschnitt der Deduktion, in dem sich gemäß der traditionellen Lesart die subjektive Deduktion findet.

II. Wenden wir uns zunächst der objektiven Deduktion zu. Nach Carl verhält es sich so, daß sie »sich an der Stelle findet, die Kant selber in der ' Vorrede' angibt, also auf den Seiten 'A 92/3 ' , und daß dieser Gedankengang im ' Zweiten Abschnitt' der ' Deduction ' auf der Seite 'A 96' und auf der Seite 'A 1 1 1 ' kurz skizziert wird.« ( 1 992, 53-54; vgl. 1989a, 1 7- 19) Wende man sich diesen drei Textstellen zu, werde deutlich, daß die objektive Deduktion »keine Erklärung der Möglichkeit

Subjektive und objektive Deduktion

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der Beziehung des Verstandes, bzw. seiner Begriffe auf Gegenstände gibt und sich daher nicht die Aufgabe stellt, die schon nach der Ü berschrift des dritten 'Ab­ schnitts' die beiden als definitiv angesehenen Deduktionen lösen sollen.« (5 1 ) Die objektive Deduktion setze nämlich voraus, daß wir Erfahrung haben, »und erweist die objektive Gültigkeit der Kategorien dadurch, daß diese als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung ausgewiesen werden.« (54) Die subjektive Deduktion, von der im zweiten Abschnitt eine vorläufige (A 1 1 1 - 1 1 2) und im dritten Abschnitt »zwei definitive Darstellungen« (54; die nach Carl systematisch überzeugendere - Deduktion »von oben« und die Deduk­ tion »von unten«) gegeben werden, mache von dieser Voraussetzung gerade kei­ nen Gebrauch. Sie »begründet die objektive Gültigkeit der Kategorien durch den Nachweis, daß dasjenige, was in einer Anschauung gegeben sein kann, die Bedin­ gungen erfüllt ' deren der Verstand zur synthetischen Einheit des Denkens bedarf' (A 90-B 1 23), d. h. unter Kategorien steht. Hier wird also die Gültigkeit der Kate­ gorien für alle Erscheinungen gezeigt, während dort [sc. in der objektiven Deduk­ tion, H. K. ] diese Gültigkeit für alle Gegenstände der Erfahrung nachgewiesen wird. Wenn es richtig ist, daß die 'subjektive' Deduktion das Kernstück von Kants Ü berlegungen zu einer ' Deduction der reinen Verstandesbegriffe ' bildet, dann muß ihr Beweisziel in der Behauptung gesehen werden, daß alle Erscheinungen unter Kategorien stehen und stehen müssen. « (54) Um die Vorrangstellung der subjektiven vor der objektiven Deduktion zu rechtfertigen, ist es nun allerdings notwendig, das Deduktionskapitel von der »Hauptfrage« der K. d. r. V. , die Kant in der Vorrede ja eindeutig mit der objekti­ ven Deduktion verknüpft hatte, zu entlasten. Um dies zu leisten, greift Carl auf begriffliche Bestimmungen zurück, die sich in der berühmten Anmerkung in der Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (M. A. N . ; AA IV, 474-476) finden.7 In ihr unterscheidet Kant zwischen dem Nachweis, daß die Kategorien keinen anderen Gebrauch als auf Gegenstände der Erfahrung haben, und der Frage, » Wie sie solche möglich machen [ . . . ] . «8 Zur Beantwortung des Hauptzweckes des Systems, nämlich der Grenzbestimmung der reinen Vernunft, sei die Auflösung der zweiten Frage, die in der A-Deduktion ver­ folgt werde, »keineswegs notwendig, sondern blos verdienstlich« (AA IV, 474 Anm . ) . Hierzu schreibt Carl treffend: »Wenn aber die ' Hauptfrage ' auch ohne ' Deduktion ' beantwortet werden kann, dann kann sie nicht die Frage sein, wenn es denn eine solche gibt, die durch die ' Deduktion' beantwortet wird; und eine Bewertung ihrer beiden ' Seiten ' , die im Hinblick auf die ' Hauptfrage' vorgeAuf diese Anmerkung greift u. a. auch Detel zurück, der ihr die Bestätigung entnimmt, daß die A 92-93 gegebene >>Argumentation den Kern der objektiven Deduktion ausmacht [ ] . « ( 1 978, 30) Einen weiteren Beleg entnimmt e r dem Anhang (§ 39) der Prolegomena, i n dem Kant die Leser auffordert, die Deduktion, so wie sie in dieser Schrift (§ 1 8 -22) exponiert wird, zu prü­ fen. Detel ist weiter der Überzeugung, daß § 39 >>die wohl präziseste Darstellung der obj ektiven Deduktion der KategorienMan darf sich von Kant nicht i n die Irre führen lassen, i n seinem Text eine tatsächlich durchgeführte Unterscheidung der zwei Seiten, oder gar einer objektiven Deduktion von einer sub­ jektiven Deduktion, zu suchen. Der Unterschied ist vielmehr bloß vorgeschützt, um eine Rück­ zugsposition zu bemänteln, in die sich Kant nachträglich begibt, weil er sich seiner Sache nicht mehr sicher ist.« ( 1 989, 216; vgl. hier unten Anmerkung 23.) 10

Subjektive und objektive Deduktion

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das Dunkel der A-Deduktion von 1 7 8 1 zu bringen. Eine gewisse Skepsis gegen­ über Kants retrospektiven Deutungen seiner eigenen Philosophie oder Teilen von ihr zu hegen, kann sich als durchaus fruchtbar erweisen. So hatte bereits Karl Leonhard Reinhold Kant gegenüber in einem Brief vom 1 2. Oktober 1 787 zur Sprache gebracht, wie es denn zu verstehen sei, »daß das Hauptfundament Ihres Systems [gemäß den Ausführungen in den M. A. N . , H. K.] auch ohne ' vollstän­ dige Deduktion der Categorien feststehe, - Hingegen wird in der Krit. d. r. V. so­ wohl der ersten als zweyten Ausgabe [ . . . ] die unumgängliche Nothwendigkeit jener Deduktion behauptet und erwiesen. ' « I I Eine Antwort ist Kant Reinhold zu­ nächst schuldig geblieben. In dem Aufsatz Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philoso­ phie ( 1 7 88) - auf den Carl in seinem Kommentar nicht eingeht - nimmt Kant die Fragestellung jedoch auf und gesteht ein, daß seine Äußerung in den M. A. N. zu Mißverständnissen habe Anlaß geben können (AA VIII, 1 84). Jetzt unterscheidet er zwischen einer negativen und einer positiven Absicht, die mit dem Projekt der transzendentalen Deduktion der Kategorien verbunden sein sollen. Die negative Absicht wird dabei mit dem Problem in Verbindung gebracht, zu dessen Lösung die Deduktion eben nicht »äußerst nothwendig« (AA VIII, 1 84) ist. Denn bereits die »Exposition der Kategorien«, also die metaphysische Deduktion (vgl. § 26, B 1 59), stelle einen hinreichenden Beweis dafür dar, daß durch die reinen Katego­ rien eine Gegenstandserkenntnis nicht möglich sei (vgl. B XXIV) . Diesen negati­ ven Aspekt, der mit der »Hauptfrage« der K. d. r. V. im Zusammenhang steht, hatte Kant demnach in der Anmerkung zu den M. A. N. in den Vordergrund ge­ stellt und mit der Frage nach dem daß in Verbindung gebracht, um sich gegen Ul­ richs und Schultz' Vorwurf, er habe in der transzendentalen Deduktion die An­ wendung der Kategorien auf Noumena nicht ausgeschlossen, zu Felde zu ziehen. Es ist zu vermuten, daß Johann Schultz, der diese Kritik in seiner Rezension von J. A. Ulrichs Institutiones logicae et metaphysicae (Jena 1 785) in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 1 3. Dezember 1 7 8 5 zur Sprache gebracht hatte, dabei ins­ besondere an die Textstellen gedacht haben wird, an denen Kant von den Katego­ rien sagt, daß wir mittels ihrer den transzendentalen Gegenstand als Ding an sich selbst denken können. 1 2 Wird nun, wie dies bei Schultz (und Ulrich) offensicht-

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AA X, 500. In dem Abschnitt ••Von den Prinzipien einer transz. Deduktion überhaupt« (§ 1 3 ) hatte Kant gefragt, warum die transzendentale Deduktion »unumgänglich notwendig sei .Tatsächlich ist der 3. Abschnitt aber ganz der subjektiven Deduktion gewidmet, der ' Erörterung dieser Elemente des Verstandes ' , wie es in der Ankündigung A 98 (Vorläufige Erinnerung) ganz richtig heißt. Die obj ektive Gültigkeit der Kategorien wird ohne Weiteres aus

Subjektive und objektive Deduktion

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Es kann somit nicht der Fall sein, daß der ganze zweite Abschnitt der sub­ jektiven Deduktion gewidmet ist. 2 1 Die objektive Gültigkeit der Kategorien wird dadurch gewährleistet, daß die Kategorien Begriffe sind, mittels derer wir Gegen­ stände zu den Erscheinungen denken. Und genau diese Funktion übernimmt in der A-Deduktion der transzendentale Gegenstand. Die subjektive Deduktion dagegen ist als eigenständiger Begründungszusammenhang an der S telle zu einem Ab­ schluß gekommen, wo als bewiesen gelten kann, daß die Einbildungskraft das­ jenige Vermögen ist, dessen reine Synthesisfunktion den Verstand als ein Ver­ mögen zu denken konstituiert. Die zentrale Bedeutung der Einbildungskraft für die subjektive Seite der Deduktion hat Paton herausgestellt: »All references to imagination are a sure sign that we are dealing with the Subjective Deduction.«22 Worin ist nach Maßgabe dieser Ü berlegungen aber der (quasi-)hypothetische Status der subjektiven Deduktion zu sehen, von dem A XVII die Rede ist? Auf der Seite A 78 hatte es geheißen: »Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unent­ behrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind. Allein, diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstande zukommt, und wodurch er uns allererst die Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschafft. « Wenn es sich bei der Synthesis der Einbildungskraft um eine Funktion der Seele handelt, »der wir uns aber selten einmal bewußt sind«, dann kann die Notwendig­ keit dieser Synthesis nicht - wie der mit Locke oder Tetens vertraute Leser erwar­ ten mag - einem untrüglichen Bewußtsein dieser Synthesis selber entnommen oder aus diesem 'abgeleitet' werden. Der Leser muß den Eindruck gewinnen, »als sei hier der Fall, da ich mir die Erlaubnis nehme, zu meinen , und dem Leser also auch freistehen müsse, anders zu meinen.« (A XVII) Der Wahrheitswert dieser Synthesis verdankt sich somit Ü berlegungen, die hinführen zu einer objektiven Deduktion der Kategorien, nämlich von Ü berlegun­ gen, die zeigen, wie der Verstand durch seine reinen Begriffe Gegenstände zu den Erscheinungen der Sinnlichkeit denkt. In diesem Zusammenhang sei auf eine

dem Funktionieren des subjektiven Vennögensapparates gefolgert.>Weitläufigkeit« (A 98) wegen nicht beantworte. Vielmehr beschränke sie sich auf die Frage nach der Möglichkeit des Verstandes ( 1 98 8 , 333-336 u. 349- 3 5 1 ) . Ich sehe jedoch nicht, daß Kant mit der Möglichkeit des Denkens eine Problemstellung angesprochen hat, die systematisch anspruchsvoller wäre als die, die mit der Möglichkeit des Verstandes einhergeht. Auch Thöle bezeichnet - »einer geläufigen Praxis fol­ gend« ( 1 99 1 , 4 1 ) - die Überlegungen von A 98- 1 1 4 als subjektive Deduktion. 22 Paton 1 936, 24 1 .

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H. F. Klemme

wichtige Textemendation hingewiesen, die Kant in seinem Handexemplar K. d. r. V. notierte, aber nicht für die B-Auflage heranzog: Kant streicht in dem Satzteil »unentbehrliche Funktion der Seele« (A 78) die Seele und spricht von »einer Funktion des Verstandes«. 23 Wenn nun die Synthesisfunktion der Ein­ bildungskraft als Verstandesfunktion interpretiert wird, 24 dann entfällt mit dem Gedanken, daß die Einbildungskraft dasjenige Vermögen ist, welches den Ver­ stand ermöglicht, auch das Projekt einer subjektiven Deduktion im Sinne der Vor­ rede: was bereits als Verstandesfunktion ve rstanden wird, kann schwerlich heran­ gezogen werden, um den Verstand als Denkvermögen zu ermöglichen. Wenn oben darauf hingewiesen wurde, daß die Deduktion auf der Seite A 1 1 1 zu einem vorläufigen Abschluß gekommen ist, dann ist hierm it nicht gemeint, Kant habe bis hierher bereits alle die Erfordernisse eingelöst, die nach A 92-93 an eine objektive Deduktion zu stellen sind. Unklar bleibt nicht nur der epistemische Status der Minor des Syllogismus: »Nun behaupte ich: die eben angeführten Kategorien sind nichts anderes, als die Bedingungen des Denkens in einer mögli­ chen Erfahrung [ ... ] . « (A 1 1 1 ) Unklar bleibt auch, worin ein Beweis der sogenann­ ten Kategorienthese (alle Wahrnehmungen stehen unter Kategorien) und der Ge­ setzesthese (Erfahrung ist ein gesetzmäßiger Zusammenhang von Erscheinungen) gesehen werden kann. 2 5 Allerdings könnten die zuletzt benannten Schwierig­ keiten durch die Ü berlegung gemindert werden, daß es sich hier um eine erste, minimale Deduktion der Kategorien handelt, die aufgrund ihres vorbereitenden Status (A 98) diese Fragen nur gegen Ende des 2. Abschnittes mehr anschneidet als befriedigend löst. Für unsere Problemstellung ist hinreichend zu bemerken, daß die sogenannte subjektive Deduktion in einem Kontext virulent wird, in dem es darum geht, die Kategorien als alleinige Formen des Denkens eines Gegenstandes nachzuweisen (vgl. A 97). Dies heißt aber auch, daß die Problematik, die Kant in der Vorrede mit der subjektiven Deduktion verbunden hat, nur zum Teil aufgelöst ist. Denn die eigentliche, mit ihrer Charakterisierung verbundene, Schwierigkeit ergibt sich aus einem recht simplen Sachverhalt: Kant gibt an verschiedenen Stellen des Deduk­ tionskapitels verschiedene Auskünfte darüber, was unter dem Verstand zu ver­ stehen ist. 2 6 Bestehen wir auf unserer Diagnose, die subjektive Deduktion bezeichne die Problematik, den reinen vom empirischen Gebrauch der Erkennt­ nisvermögen abzusondern und zu rechtfertigen, dann ist festzuhalten, daß Kant

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Ich folge der Angabe von R. Schmidt in seiner Edition der K. d. r. V. Vgl. dazu auch den § 24 der B-Deduktion, insbesondere B 1 5 1 . 25 Zu diesem Fragenkomplex verweise ich auf die sorgfältige Studie von Thöle 1 99 1 . 26 Auf diesen Sachverhalt hat Kant selber hingewiesen: >>Wir haben den Verstand oben auf mancherlei Weise erklärt: durch eine Spontaneität der Erkenntnis, (im Gegensatze der Rezeptivität der Sinnlichkeit) durch ein Vermögen zu denken, oder auch ein Vermögen der Begriffe, oder auch der Urteile, welche Erklärungen, wenn man sie bei Lichte besieht, auf eins hinauslaufen. Jetzt können wir ihn als das Vermögen der Regeln charakterisieren. Dieses Kennzeichen ist fruchtbarer und tritt dem Wesen desselben näher.>um 1 790erst nach 1 785 modelliert> Kupferstich von S. F. Bause«) auf 1 795 als Jahr der Entstehung unserer Vase geführt. 39 Aus dem Text auf der Rückseite der genannten Zeichnung. Zitat nach dem Wiederabdruck der Mitteilung von Distel 1 909, 143. Zu den Beziehungen zwischen Kant und Hippe! vgl. Vorlän­ der 1 977, II 34-36. 40 Zu dieser Zeichnung vgl. auch die Arbeit des Königsherger Kunsthistorikers Clasen 1 924, 1 7 . Eine Wiedergabe dieses Kant-Portraits findet sich zum Beispiel auch bei Gulyga 1985, Abb. 25. Distel 1 909, 143 kritisiert unter anderem, B ause, >>der zwar denkende, aber doch unkundige [ . . . ] KupferstecherVon der entgegengesetz­ ten Seite [ .. . ] ausgeführt.> 1 780/85 noch gar nicht existierte.« Sie vermutet, wie wir gesehen haben, zu Recht, die >>Datierung 1 790/95 dürfte wohl eher den Tatsachen entsprechen.>Die Weißheit auf ihrem Trone sizzend, hat die Werke eines P1ato, Leibnitz und Hume an die Seite gestellt, streckt die Hand nach dem zu ihr kom­ menden Genius, und empfängt von ihm die Critik der Vernunft. «46 Schon am 30. März antwortet Kant Lagarde offensichtlich erfreut über das Geschenk: >>Welche Ü berraschung haben Sie Geehrtester Freund ! mir gemacht und in welche Verle­ genheit mich gesetzt, ein Denkmal Ihrer Freundschaft, welches Ihnen doch viel Kosten gemacht haben muß, zu erwiedern?« Kant verspricht, >>dieses, im Entwurf sinnreiche, in der Ausführung durch die Porcellanfabrik schöne Produkt der Kunst« seinen und des Verlegers Freunden zu zeigen.47 Kants zeitgenössischer Biograph, der spätere preußische Erzbischof Ernst Ludwig von Borowski, weiß vom weiteren Verbleib des Stückes zu berichten: >>Eine porzellänene Teetasse von

aus. Küthmanns Vermutung betreffs der Person des Malers folgt auch S chulz 1953, 28 sowie ferner S. 30 (in der Erläuterung zur Textabb. 3), und weitet sie an erstgenannter S telle auf die Winckelmann-Vase aus. Schulz vermutet - zu Recht -, Vorlage sei der Stich B auses - oder die allerdings erst 1 789 in der Salzdahlumer Sammlung nachweisbare, vielleicht aber, wie er meint, schon früher im Herzoglichen B esitz befindliche Kopie des Maronschen Ö lbildes. Diese zweite Vermutung, so sei angemerkt, erklärt aber nicht, warum die Porzellanportraits gegenüber dem Gemälde spiegelverkehrt sind. Auch Newman 1 977, I 3 1 0, 3 1 2 (im Text zur Abb. 266) und 379 f. (Erläuterung zur Abb. 266), nennt Oest als Maler des genannten Reiseservices, obgleich auch er es um 1780 ansetzt, und flillt in seiner Bestimmung der Vorlage (Schmidt) hinter Schulz' An­ nahme zurück. 45 Vgl. Hedergott 1 982, 2303, und Lorenz 1 9 8 8a, 97 f. Eine andere Vase trägt die Portrait­ silhouetten von Johann Georg Hamann (gest. I 788) und der Fürstin von Gallitzin. Das S tück be­ findet sich als Dauerleihgabe im Goethe-Museum, Düsseldorf. Es ist abgebildet bei Bayer I Gajek I S irnon 1 987, 150 (Abb. 1 6); vgl. auch ebd. 1 9 5 . Die Antikenbegeisterung am Braunschweiger Hof - Kar! Wilhelm Ferdinand, seinerzeit noch Erbprinz, hatte 1 766 mit Winckelmann Rom be­ sucht und in Neapel auch die Vasensamm l ung S ir William Hamiltons besichtigt; 1 776 begleitete Lessing den Prinzen Leopold von Braunschweig und Lüneburg, den Bruder des genannten Her­ zogs, nach Rom - förderte auch die Fürsteoberger Produktion von antikisierenden Vasen und ähn­ lichem . Auch Fürsteoberger Kaffeservices tragen Medaillons mit antiken Köpfen. Vgl. Westhoff­ Krummacher 1 98 8a, 1 14 und 1 1 8 f. Natürlich, dies sei angemerkt, wurden in Fürstenberg auch z. B. separate Porzellanmedaillons und -büsten mit den Portraits bekannter Köpfe gearbeitet. 46 Der Brief ist AA XIII, 392 f., abgedruckt. Zitate ebd. 392. Siehe zu dieser Tasse, die übri­ gens einen Deckel besitzt, auch Vorländer 1 977, II 84 und II 342. 47 Brief Nr. 658, AA XII, 14 f.

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vorzüglichem Werte mit seinem Bilde gab er lange schon vor seiner Vollendung seinem treuen Hausfreunde, dem Diak. Wasianski.«4B Wenden wir uns wieder Fürstenberg zu. Vasen, ob als Einzelstücke oder in Sätzen offeriert, waren die Spezialität der Fürstenherger Porzellanmanufaktur, die auf diesem Feld nahezu konkurrenzlos war. Schon die technisch schwierige Ferti­ gung solcher Formen schien den nicht geringen Preis der Stücke zu rechtfertigten. Vasen dienten als Tausch- und Handels- und zunehmend als Sammelobjekte auch vermögender bürgerlicher Kreise. Da Blumen bei der Tafel- wie Raumdekoration im Zeitalter Kants eine, wenn überhaupt, nur untergeordnete Rolle spielten, hatte die Vase in dieser Hinsicht keinerlei primär praktische Funktion - sie führte viel­ mehr im 1 8 . Jahrhundert, dem ' Jahrhundert der Vase' , ein geradezu » ' autonomes' Dasein«.49 Vielleicht ist die Frage, wozu solche Dinge nütze seien, hier über­ haupt unangemessen - dies jedenfalls legen die Ausführungen des Kant der Beob­ achtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1 764 nahe, einer Schrift, die das besondere Interesse und wohl auch Zustimmung eines breiten zeitgenössischen Publikums fand: »Ein Huhn ist freilich in solchem Betracht bes­ ser als ein Papagei, ein Kochtopf nützlicher als ein Porcellängeschirr, alle witzige Köpfe in der Welt gelten nicht den Werth eines Bauren, [ . . . ] Gleichwohl wird doch ein Mensch von der gröbsten und gemeinsten Empfindung wahrnehmen können: daß die Reize und Annehmlichkeiten des Lebens, welche die entbehrlich­ ste zu sein scheinen, unsere meiste Sorgfalt auf sich ziehen, und daß wir wenig Triebfedern zu so vielfältigen Bemühungen übrig haben würden, wenn wir jene ausschließen wollten.«50 Mag das Modell RR auch vielfach hergestellt worden sein, was die Bemalung betrifft, handelt es sich bei unserer Vase zweifelsohne um ein Einzelstück.Sl Daher scheint es wahrscheinlich, daß es sich um eine Auftragsarbeit handelt. Wer die Kommission für diese wertvolle mit den Portraits von Kant und Ramler

4 8 Borowski 1974, 8 1 . Die Tasse befindet nach Malter 1 990, 206, Anm. 1, heute »im Haus Königsberg Duisburg. Das 'Bild' gibt Vernets Kautbild wieder.>die Fürsteoberger Figurenmaler Georg Heinrich Holtzmann, Anton Wilhelm Junges­ bluth oder Johann Andreas Hintze in Frage.>Erwer­ ber und Auftraggeber können leider nicht mehr ermittelt werden, da das Archiv der ' B untmalerei' , des Fürsteoberger Zweigbetriebs [s. o.] in Braunschweig, nicht überliefert ist. « Der genaue Preis der Vase zu ihrer Ents tehungszeit ist somit auch nicht mehr zu erheben. Eine heutige Taxe läge, wie mir Frau Dr. Eva Becker vom Kunsthaus Lempertz, Köln, der ich für ihre Auskunft danken möchte, in ihrem Brief vom 1 9 . Februar 1 99 1 mitteilte, im unteren fünfstelligen Bereich. - Einen Einblick in das gelehrte Leben Braunschweigs in der zweiten Häl fte des 1 8 . Jahrhunderts bietet S chikorsky 1989, passim. Am Collegium Carolinum immatrikulierte sich zum Beispiel auch im Jahre 1 747 der spätere preußische Minister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz, dem Kant die Kritik der reinen Vernunft gewidmet hat (vgl. ebd. 21 ff. und 108 ff.; 44). 5 3 Brief Nr. 297, AA X, 485-487; 485 . Der Pädagoge und Verleger Campe war 1786 von Herzog Karl Wilhelm Ferdinand in Braunschweig zum Schulrat ernannt worden, wo er in Zusam­ menarbeit mit den beiden letztgenannten gegen zum Teil heftige Widerstände ankämpfend das Schulwesen zu reformieren suchte. Vgl. Stern 192 1 , 100 ff. 54 AA X, 485. 1 742 hatte der in Wolfenbüttel residierende Herzog Karl I. den Neologen Jerusalem zum Erzieher des Erbprinzen Karl Wilhelm Ferdinand (s. u.) und Hofprediger bestellt. Seither war Jerusalem (gest. 1 789), Vater jenes Karl Wilhelm Jerusalem, dessen Schicksal und Tod ( 1 772) in Goethes ' Werther' einging, in unterschiedlichen Ämtern und nicht zuletzt am Col­ legium Carolinum in Braunschweigischen Diensten tätig gewesen. Zu Person und Werk vgl. Ha­ genbach 1900 und insbesondere Schikorsky 1989, 74 ff. 55 Den Hinweis auf die Person Pockels verdanke ich den Herausgebern dieses Bandes. 56 Vgl. Stern 1 92 1 , 1 30. 51 AA X, 486. 5 8 Vgl. Stern 1 92 1 , 1 23 .

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Aufgabe war es, den 177 1 geborenen Prinzen vornehmlich i n Geschichte und Geographie zu unterweisen. Da Friedrich Wilhelm zunächst nicht dazu bestimmt war, einmal die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, erhielt er eine militärische Ausbildung, trat Ende der 1 780er Jahre ins preußische Heer ein und zeichnete sich in den Feldzügen der frühen 1790er Jahre durch persönliche Tapferkeit aus. 59 Als sich wenige Jahre später, 1794, noch vor der Kabinettsorder vom 1 . Okto­ ber desselben Jahres, in Braunschweig das Gerücht verbreitete, Kant drohe infolge des Konfliktes mit der Wöllnerschen Zensurbehörde der Verlust seines Lehrstuh­ les, lud ihn Campe durch seinen Brief vom 27. Juni 1 794 freundlich ein, in seinem Hause Wohnung zu nehmen.60 Kant hatte seinerseits Campe, als er von dessen notgedrungenem Rücktritt in Dessau erfuhr, wo dieser als Nachfolger Johann Bernhard Basedows das auch von Kant geförderte und nun aus Mangel an Fi­ nanzmitteln zusammengebrochene Philanthropin geleitet hatte, sogleich in seinem Brief vom 3 1 . Oktober 1777 vorgeschlagen, er möge nach Königsberg kommen und die vakante Stelle des Oberhofpredigers und Generalsuperintendenten von Ost- und Westpreußen sowie ein ebenfalls unbesetztes theologisches Ordinariat an der Albertus-Universität annehmen.6 I Campe hatte seinerzeit, nicht ohne Kant auf das freundlichste zu danken, abgelehnt.62 Im Braunschweigischen erstrebte man 1 794 sogar eine Berufung des Philoso­ phen an die kleine zu Braunschweig gehörige Universität Helmstedt.63 Der dor­ tige der Aufklärung nahestehende Kirchenhistoriker und Exeget Heinrich Phitipp Konrad Henke,64 ein erklärter Gegner Wöllners, der mit anderen führenden Köp­ fen aus dem Umkreis der Universität schon früher den Plan entwickelt und dafür offensichtlich auch die Zustimmung des Herzogs gefunden hatte, Kant nach Helmstedt zu bitten, erhielt einen anonymen Brief, der vermeldete, Kant sei be­ reits abgesetzt. Namentlich Kants philosophischer Gegner Gottlob Ernst Schulze, der 'Aenesidemus-Schulze ' ,65 seinerzeit Professor der Julia Carolina und damit 59

Vgl. Stern 1921, 275 ff. Friedrich Wilhelm fiel 1 8 1 5 im Kampf gegen die Napoleonischen Truppen. 60 Vgl. den Brief Nr. 632, AA XI, 5 1 2 f. In seinem Brief vom 16. Juli 1 794, Nr. 635, AA XI, 5 1 6 f. , antworlet ihm Kant herzlich dankend, doch glaubt er nicht, das Angebot Campes annehmen zu müssen. 61 Brief Nr. 122, AA X, 216-2 1 8 . Vgl. ferner auch Vorländer 1 977, I 223 ff. bzw. II 197 f. 62 Vgl. den Brief Campes aus Harnburg an Kant vom 1 3 . März 1778, Nr. 1 30, AA X, 225227. Campes nach Erhalt des Briefes aus Königsberg umgehend abgesandtes Antwortschreiben war auf der Post verloren gegangen. Vgl. ebd. 225 . 6 3 Zur Universität vgl. Mager 1 986. Zum folgenden vgl. Stern 1921 , 244 f. und 382 (Anm.). 64 Zu Person und Werk vgl . Henke 1 899. 65 Zu seiner wissenschaftlichen Vila vgl. Wiegershausen o. J., 5 ff. Schulze hatte im Jahre 1 792 - anonym - sein vielbeachtetes, bezeichnenderweise mit dem Namen des antiken Skeptikers aus Knossos betiteltes Werk Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Profes­ sor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skepticis­ mus gegen die Anmaaßungen der Vernunftkritik (Schulze 1 792 resp . ders. 1 9 1 1 ) veröffentlicht, das, in das Gewand eines fingierlen Briefdialoges zwischen Aenesidemus und Hermias gekleidet, sowohl die Elemeniarphilosophie Kar! Leonhard Reinholds als auch Kants Transzendenialphilo­ sophie vom Siandpunkt eines eher methodisch als in prinzipiellem Zweifel an der Möglichkeit von

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dessen potentieller Kollege, unterstützte die Berufung. Gerne wolle er dazu bei­ tragen, »daß der große Mann unserer Academie zu Theil würde und sein Leben unter dem Schutz eines Fürsten beschlösse, in dessen Staat die verfolgte Philoso­ phie, wie einst in dem Staate Friedrichs des Großen, Sicherheit gegen den Aber­ glauben und die Unwissenheit findet«.66 Doch aller nachdrücklichen Unterstützung der Initiative zum Trotz lehnte Her­ zog Karl Wilhelm Ferdinand, politische Verwicklungen mit Preußen fürchtend,67 eine Berufung Kants nach Helmstedt ab und erklärte am 28. Juni 1 794: »Die mir mitgetheilte Nachricht wegen Kants Entlassung von der Königsherger Universität ist mir nicht unerwartet und ganz in der Stimmung, die jetzt in den Königlich Preußischen Staaten herrschet. « Jedoch, als »Wolff nach Marburg gieng, war kein Krieg gegen einer Nation, von welcher man der Meinung ist, daß sie zu dem ho­ hen Grad der ausschweifendsten Raserey bloß durch Wegräumung der Religiosität gelangt ist. Diese wichtige Gründe behindern mich, einen Schritt zu thun, der ei­ nige Studirende auf eine Zeitlang zwar mehr nach Helmstedt ziehen würde, der aber Unsere Opinionen über manche wichtige Gegenstände in kein vortheilhaftes Licht setzen würde, besonders bey der großen Klasse von Menschen, die religiöse Vorortheile und Pfaffenturn (nach Kants Ausdruck) mit wahrer Religion vermen­ gen. Ich ersuche daher aus politischen Gründen den Antrag zu declinieren.«68 Die Staatsraison im allgemeinen und der Krieg gegen das revolutionäre Frankreich im besonderen schien es dem zu seinem Leidwesen von Preußen abhängigen Herzog, der im selben Jahr resigniert den Oberbefehl über die Truppen der Koalition auf­ gab,69 also nicht zu gestatten, dem - zumindest vermeintlich - Verfolgten wissen­ schaftliches Asyl zu gewähren. Es ist beachtenswert, daß der Herzog von Braun­ schweig in der Situation des Zensurkonfliktes Kants auf den Fall des Philosophen Christian Wolff und dessen religionspolitisch begründete Vertreibung aus Halle

Erkennmis begründeten antidogmatischen Skeptizismus aus kritisiert. Kant nimmt im Brief an Jacob S igismund Beck vom 4. Dezember I 792, Nr. 549, AA XI, 394-396; 395, S tellung zu der genannten Schrift Schulzes und referiert sein Verständnis der darin bezogenen Position. >> [ . ] Un­ ter dem angenommenen Nahmen Änesidemus aber hat jemand einen noch weiter gehenden Scep­ ticism vorgetragen: nämlich daß wir gar nicht wissen können ob überhaupt unserer Vorstellung irgend etwas Anderes (als Object) correspondire, welches etwa so viel sagen möchte, als: Ob eine Vorstellung wohl Vorstellung sey (Etwas vorstelle). Denn Vorstellung bedeutet eine Bestimmung in uns, die wir auf etwas Anderes beziehen (dessen S telle sie gleichsam in uns vertritt).« 66 Zitat nach Stern I92 I , 244 f. 67 Der Herzog äußerte seine Bedenken in der Erklärung vom 28. Juni 1 794 (s.u.) sehr direkt: >>Würden nur nicht die Meinungen über theologische und philosophische Gegenstände in jetzigen Zeiten, wo ganz Europa gespannet ist, und wo selbst die mächtigsten Regierungen in Besorgnisse schweben, als die Quellen der unabsehlichen Unruhen betrachtet, so würde die Berufung des Phi­ losophen Kant nach Helmstedt nichts gegen sich haben, jetzt muß ich aber diesen Schritt von der politischen Seite als bedenklich betrachten . Es würde offenbahr das Ansehen gewinnen, als miß­ billige man das Verfahren im Preußischen, als nehme man ganz die Grundsätze an, welche Kant behauptet, als wolle man sie zu verbreiten suchen und die Folgen daran wagen.« (Stern 192I, 245) 68 Zitat nach Stern I92 I , 245 . 69 Vgl. Stern 1 92 I , 282-284. ..

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im Jahre 1 7 23 zu sprechen kommt: auch Kant erinnerte sich in dieser Zeit, als er gleich diesem wegen seiner Religionsphilosophie in Konflikt mit der Preußischen Regierung geriet, seines geschätzten philosophischen Gegners.70 Der Herzog selbst kann, dies sei angemerkt, kaum zu den besonderen Vereh­ rern Kants gezählt werden, wie Pockels biographisches Portrait Karl Wilhelm Ferdinands belegt. Karl Wilhelm Ferdinand hegte durchaus ein Interesse an Bü­ chern und »wünschte sogar einstmahls, einen deutlichen Begriff von der Kanti­ schen Philosophie zu haben. Die Ideen der reinen praktischen Vernunft faßte er geschwind auf, sie schienen ihn Anfangs sehr anzuziehen ; er bemerkte selbst eine gewisse Aehnlichkeit zwischen den Aussprüchen des Königsherger Philosophen und dem System der Stoiker. - Nach Endigung des Gesprächs machte er aber noch die richtige Bemerkung: ' alles dieses metaphysische Vernünfteln habe keinen Nutzen für das gemeine Leben, ' - und als das ewige Lobpreisen der Kantischen Philosophie zu laut und schreyend wurde, sah er es nicht ungern, daß einer seiner Philosophen [ 'Aenesidemus-Schulze ' ?] gegen Kant auftrat, und dadurch bewies, daß man auch, ohne ein Kantianer zu seyn, philosophiren könne.«7 1 Der Herzog dürfte, will m an dieser Anekdote Glauben schenken, wohl kaum unsere Vase in Auftrag gegeben haben. Sollte, falls niemand aus dem Braunschweigischen dies tat, ein Preuße, einer aus dem Berliner Kreis72 oder ein Königsberger, die Kommission für die wertvol­ le Vase erteilt haben? Möglich wäre dies trotz des diesbezüglichen preußischen Importverbotes gewesen. Ein Reskript aus dem Jahre 1 7 80 von der Königlichen Ostpreußischen Kriegs- und Domänenkammer zum Schutz der heimischen Kö­ nigsberger Fayencemanufaktur wiederholt noch im frühen 19. Jahrhundert publi­ ziert - verbot seinerzeit die Einfuhr und den Verkauf »fremden echten, wie unech­ ten Porzellans, des englischen, wie anderen Steingutes und fremder Fayence in die Provinzen diesseits der Weser auf das nachdrücklichste«. Davon ausgenommen war »allein das Porzellan von Fürstenberg«. 13 Wenig scheint zunächst Kant und Ramler zu verbinden. Weder in Kants gedruckten Werken noch dem Nachlaß oder seinem Briefwechsel begegnet Ramler.74 Was also hatten die beiden, auch in den Augen der Zeitgenossen, -

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Vgl. dazu Seibach 1 99 1 . Der Professor der Theologie und Abt von Marlental Heinrich Philipp Sextro wandte sich am 26. Juni 1 794 an den für Universitätsangelegenheiten zuständigen Geheimen Justizrat Mahner, beide Freunde Henkes, und forderte ihn auf, Kants Berufung zu be­ treiben, um >>dadurch der hiesigen Akademie eine Zierde zu geben, die in unserem Zeitalter noch wichtigere Folgen haben könnte, als die Geschichte der Versetzung des zu seiner Zeit berühmten Wolfs in den Annalen der Akademie Marburg und Halle darlegt>Wegwerfende Art über das Formale in unserer Erkenntniß (welches doch das hauptsächlichste Geschäft der Philosophie ist) als eine Pe­ danterei« einer 'Forrngebungsmanufaktur' , wie es Schlosser genannt hat, zu sprechen. 78 Vgl. zum Beispiel die Abbildung bei Höffe 1985, 15. 79 Vgl. Vorländer 1 977, I 183.

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von Stein wehr, Wolf B althasar Adolf: »Von einem neuen zum Gebrauch auf der See bestimmten B arometer. Historie.« ibid. 39 1 -394. -: »Von der Erweiterung der Gefäße durch die Hitze. Historie.« ibid. 40 1 -402. - : »Von der Verdünnung und Verdichtung der Luft. Historie.« ibid. 438-445 . Tonelli , Giorgio : »Conditions in Koenigsberg and the making of Kant' s philosophy. « Bucher, Alexius J., Hermann Drüe und Thomas M. Seebohm (Hrsg.): 'bewußt sein ' : Gerhard Funke zu eigen. Bonn 1975 , 1 26- 1 44. Warda, Arthur: Immanuel Kants Bücher. Mit einer getreuen Nachbildung des bisher ein­ zigen Abzuges des Versteigerungskataloges der Bibliothek Kants. Berlin 1 922. Waschkies, Hans-Joachim : Physi k und Physikotheologie des jungen Kant. Die Vorge­ schichte seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Hi mmel s. B ochumer Studien zur Philosophie, Bd. 8. Amsterdam : John Benj amins Publishing Company [vormals Verlag B. R. Grüner] , 1 987. »Wissenschaftliche Praxis und Erkenntnistheorie in Kants Opus postumu m.« Forum für Philosophie B ad Hornburg (Hrsg. ) : Ü bergang . Untersuchungen zum Spätwerk Immanuel Kants. Frankfurt am Main 1 99 1 , 1 85-207. Weigl, Engelhard : >>U ni versalisierung al s Problem- oder die l angsame Erfindung des Thermometers.« In E. Weigl : Instrumente der Neuzeit. Die Entdeckung der modernen Wirklichkeit. Stuttgart: J. B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung, 1 990, 86- 1 00. Wolf, A. : A history of science , technology, and philosophy in the 1 6th and 1 7th century. Bd. 1-11. Second edition prepared by Douglas McKie. London 1 962 ( 1 [ 935).

HANS-JOACHIM WASCHKIES Das Lose Blatt Leipzig 1 Text, Datierung und Erläuterungen

I. Der Text!

1 .0 1 1 .02 1 .03 1 .04 1 .05 1 .06 1 .07 1 .07a 1 .08 1 .09 1 . 10 1. 1 1 1.12 1.13 1 . 14 1.15 1.16 1 . 17 1.18 1 . 19 1 .20 1.21 1 .22 1 . 23 1 .24 1 .25 1 . 26 1 . 27 1 .28 1 .29 1 . 30 2.0 1

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N o 6 Introducrio a) M athematische Principien der Naturwissenschaft Von [den bewegenden Kräften] der Materie so fern diese blos in Bewegung ist. Principien a priori ihrer Gesetze. Centralkräfte, Licht (Schall) und Undulation auf der Oberfläche b Metaph. A. Gr. d. N W Von der Materie im Raum C. Physiologische A. Gr. d. N W. Von der Materie so fern sie bewegende Kraft hat. Der Ü bergang von den physiologischen zur Physik und zwar nach Principien a priori ist darauf [be] angelegt [alle Principien a pr] diese in einem System vorzustellen ohne in die Physik als empirische Erkentnis welche gar kein Vollstandiges System sondern nur fragmentarische [ empi] Zusamensuchung (Naturforschung) verstattet - einzugreifen Die a priori erkennbaren bewegende Krafte der Materie sind diejenige Principien der Bewegung derselben nach denen wir die Bewegung derselben nicht analytisch denken sondern synthetisch selbst als Ursache machen denn [/lwenni/] die Andern geben nur empirische Gesetze derselben und gehören zur Physik, nicht zum Ubergange von der Metaphysik und der Tendenz der Metaphysik [der Natur] zur Physik. Die Amphibolie der objectiven Bewegbarkeit ifacultas locomotiva) der Materie im Gegensatz mit der subjectiven welche mechanisch und physisch ist. Die Wägbarkeit bedatf einer inneren bewegenden

Die Transkription hat Wemer Stark angefertigt.

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2.02 2.03 2.04 2.05 2.06 2.07 2.08 2.09 2. 1 0 2. 1 1 2. 1 2 2. 1 3 2. 14 2. 1 5 2. 1 6 2. 1 7 2. 1 8 2. 1 9 2.20 2.2 1 2.22 2.23 2.24 2.25 2.26 2.27 2.28 2.29 3.01 3 .02 3.03 3.04 3.05 3.06 3.07 3.08 3.09 3. 10 3. 1 1 3. 1 2 3. 1 3

Kraft der Materie des Hebels und der Anziehung ihrer Theile (einer Maschine als vermittelnden bewegenden Kraft). - Die Starrigkeit des Hebels bedarf aber einer inneren bewegenden Kraft die fi.,aberi./ nicht auf eine Richtung aussen sondern in dem Hebel selbst zielt. - Einer imponderablen Materie; denn wäre [d] sie wiederum ponderabel so würde d[ie]er bewegende Kraft im Cirkel schließend seyn. Diese Materie als innerlich bewegend und imponderabel muß auch incoercibel d . i . ein jeder Körper für sie permeabel seyn weil in Substanz penetrabel [ist] nicht wie die Gravitätsanziehung die ein Ziel ausser ihr hat von der ponderablen angezogen doch sie innigst durchdringt und expansiv ist, worauf die Qvalität [einer] Flüßigkeit die nur als negativ-abstoßend gedacht werden darf beruht. Eine solche Materie kann secundum quid imponderabel seyn sofern sie in ihrem Element nicht schwer ist aber als Matetie überhaupt nie simpliciter

Die Existenz eines solchen alle Körper [d] in Substanz durchdringenden Stoffs [allberi/l gehört zum Ü bergange von den Met. A. G. zur Physik [denn] und muß nicht als zur Physik gehörig au[f] s empirischen Beweisgründen abgeleitet werden

#

Die Amphibolie oder Zweydeutigkeit im Begriffe der Bewegenden Kräfte der Materie so fern sie a priori [als] die Tendentz zur Physik enthalten beruht darauf daß die subjectiv verstandenen Gesetze von jenen für objectiv und umgekehrt genommen werden, die Phänomene der Wirkungen für die Begriffe ihrer Ursachen: die empirische Wägbarkeit wegen des Zusammenhanges (als coercibilitaet) und die blos Gedachte zum Behuf der letzteren wozu doch eine besondere A rt von Kraften der Anziehung ingewisser Direction gehort die innerlich [der] Materie zukommen soll z. B . dem Wärmestoff.

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3. 1 4 3. 1 5 3. 1 6 3. 17 3. 1 8 3. 1 9 3.20 3.21 3.22 3.23 3.24 3.25 3.26 3.27 3.28 4.0 1 4.02 4.03 4.04 4.05 4.06 4.07 4.08 4.09 4. 1 0 4. 1 1 4. 1 2 4. 1 3 4. 1 4 4. 1 5 4. 1 6 4. 1 7 4. 1 8 4. 1 9 4.20 4.2 1 4.22 4.23 4.24 4.25 4.26 4.27

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Die Bewegende Kraft der Materie ist entweder eine Ortverandernde (vis locomotiva) oder an demselben Ort bewegende Kraft (vis interne motiva). Die letztere enthält das dynamische die zweyte die mechanische [bewegende] Prinz der bewegenden Kräfte welches die erstere als empirisch gegeben voraus setzt. Die Materie von der ersteren Beschaffenheit ist als alle Korper durchdringend mithin auch als [incoercibel] < [abstoßende] > gedacht weil sie nicht nach der Ortverändernden Bewegung vorgestellt wird [(denn] aber auch abstoßend in allen ihren Theilen indem die Korper fur sie durchgänglich (permeabel) sind. Eben darum wird sie auch als incoercibel vorgestellt und ist das Ptincip der innerlich bewegenden Kräfte der Mat. #

Von der Amphibol: Amphibolie ist die [Ver] wechselung des Primären mit dem Secundären der Begriffe in [sein] einem System die Letztere als Principien den ersteren Vorzusetzen (z. B. die Würkungen den Ursachen) Das mechanische Princip dem dynamischen und nicht umgekehrt unterzulegen. I. die mechanisch-bewegende Kraft des Hebels der dynamischen desselben als Princip [voraus] zum Grunde z u legen. z. B . Kaestner. w o das vitium subreptionis vorkommt die [o ]subjective Wägbarkeit zum Princip der objectiven z u machen. Ohne eine die Korper [i]durchdringende und innerlich bewegende Materie (Warmestoff) kann die Maschine die äußerlich bewegende Kraft nicht haben. Die mechanische Wägbarkeit kann nur durch eine

imponderable Materie bewirkt werden. Eben z u derselben hinsieht muß eine alldurchdringende Materie auch i!!coercibel seyn weil sie sonst mechanisch-ponderabel seyn würde. - Sie muß auch incohäsibel seyn. Denn der Zusammenhang ist die Anziehung in der Berührung folglich der Korper mit ihrer Oberfläche und also keine durchdringende Kraft. - Endlich muß diese Materie auch inexhaustibel seyn (Perpetuitat): Sie mag ihrer bewegenden Kraft nach gebunden seyn können so muß der Wärmestoff doch immer zu dem Ganzen der inneren bewegenden

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4.28 4.29

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Kräfte der Materie in allen ihren Theilen enthalten seyn und ein Continuum ausmachen.

II. Datierung Wie W. Stark bereits festgestellt hat (Transkription des Losen Blattes Leipzig 1, S. 1 54), gehört dieser Text zu der von Kant in den l 790er Jahren konzipierten Lehre vom ' Ü bergang von den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik' , deren unvollendet gebliebene, auf zahlreichen Blättern und Bögen skizzierte Darstellung heute gewöhnlich als Opus postumum bezeichnet wird. Dazu zeigt ein B rief von J. G. C . Chr. Kiesewetter an I. Kant vom 8 . Juni 1 795 (2XII 23.28-30), daß dieser spätestens seit dem Beginn dieses Jahrzehnts plante, einige Bogen herauszugeben , »die den Ü bergang von [den] metaph [ysischen] Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik selbst enthalten sollten«. Erste Notizen dazu scheint er allerdings erst kurz vor 1 796 auf der 2.Seite des Losen Blattes 36 festgehalten zu haben (XXI 463 . 8 -464. 2 5 ; vgl. dazu ergänzend E. Adickes, Kants Opus postumum, S. 49-50) , und eine erste zusammenhängende Skizze der neuen Wissenschaft vom Ü bergang, für die Adickes den Namen Oktav­ entwurf eingeführt hat (a.a.O. , S. 54-85), dürfte sogar erst 1 796 entstanden sein. Den ersten Anhaltspunkt für eine präzisere Datierung des LBL 1 bieten die Worte »No 6 Introductio«, mit denen es überschrieben ist. Zum Opus postumum gehören zwar noch 9 weitere, »von Kant selbst durch korrespondierende Tinten­ bezeichnungen zusammengehaltene Entwürfe, [die] Vorrede, Einleitung und Ele­ mentarsystem der bewegenden Kräfte der Materie (ganz oder zum Teil) enthal­ ten« (E. Adickes, a.a.O., S . 1 03); aber bei der Durchnumerierung einer Folge von solchen B ogen hat Kant nur einmal die Abkürzung ' No' benutzt. Dabei handelt es sich um die auf die Zeit vom September bis Oktober 1 798 datierbaren Bogen No 1 bis No 3 (XXI 1 6 1 . 1 - 1 66. 1 9, 1 66.20- 1 69.22 und 352.2-365.28), auf die auf S . 3 des III. Bogens aus dem IV. Konvolut noch eine mit dem Hinweis Vid. No. 3 ein­ setzende, revidierte Fassung des Anfangs von No 3 folgt, und daran anschließend wiederholt bzw. expliziert er auf den aus derselben Zeit stammenden Bogen No 3 a - No 3 11 (XXII 246.5 - 267.9, 2 1 6. 2-226 . 5 , XXI 36 1 . 2 1 -369.25, 528. 2 1 5 3 5 . 8 , 294. 1 0-30 1 .7 und 30 1 .9-307 . 1 8) dann noch eine ganze Reihe von Details aus den Entwütfen No 1 - No 3. Die Tatsache, daß der Text LBL 1 den Index No 6 trägt, legt nun die Vermu­ tung nahe, daß Kant vom Herbst 1 798 an (mindestens) sechs Skizzen seiner Lehre vom Ü bergang angefertigt hat, zu denen neben den schon angeführten Entwürfen No 1 - No 3 11 auch das LBL 1 gehötte (während die Entwürfe No 4 und No 5 einstweilen als verschollen gelten müssen). Das LBL 1 dütfte demnach zusammen mit bzw. kurz nach den Entwürfen No 1 - No 3 entstanden sein; denn wie E. Adickes feststellen konnte (a.a.O., S. 9 1 ) , bestätigen handschriftliche Indizien ausnahmslos, »daß die Bogen, die von Kants Hand korrespondierende Bezeich­ nungen bekommen haben, auch derselben Zeit angehören«.

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Der Versuch, das LB Leipzig 1 mit Hilfe inhaltlicher Kriterien chronologisch in das Opus postumum einzuordnen, führt zu einer noch etwas genaueren Datie­ rung. Zum einen ist zu beachten, daß Kant seine Behauptung, nach der die Belast­ barkeit jedes Hebels (ganz ebenso wie die von jeder anderen Maschine) auf die Wirkung einer Kraft zurückgeht, deren Träger eine ' innerlich bewegende, impon­ derable Mate1ie' sein soll, in der Zeile 4. 1 0 des LBL 1 (ebenso wie in den Ent­ würfen No 3 o (XXI 535.8) und No 3 E (XXI 294. 1 1 ) mit einer Kritik an den Aus­ führungen von Abraham Gotthelf Kaestner zur Theorie der Waage verbunden hat. Dadurch läßt sich das LB Leipzig 1 dem Zeitraum von August 1 798 (Entwurf klein deutsch a - klein deutsch c) bis zum Januar 1 799 (Farrago 1 - 4) zuordnen; denn in diesen Zeitraum fallen die Passagen aus dem Opus postumum, an denen Kant auf Kaestners Theorie des Hebel (und der Balkenwaage) eingeht. Außerdem spricht die Beobachtung von B . Tuschling (Me taphysische und transzendentale Dynamik in Kants opus postumum, S. 1 56), nach der Kant den Terminus 'Amphi­ bolie ' , der in den Zeilen 1 .28, 3 .0 1 , 4.0 1 und 4.02 des L B Leipzig 1 auftritt, im Opus postumum zum ersten mal in den von E. Adickes auf die Monate Dezember 1 798 bis Januar 1 799 datierbaren Entwü1fen Farrago 1 - 4 (XXI 6 1 5 .2- 645 . 19) zur Bezeichnung eines erkenntnistheoretischen Zirkelproblems benutzt hat, dafür, daß das LB Leipzig 1 auf die Jahreswende 1 798/ 1 799 zu datieren ist, und diese chronologische Zuordnung läßt sich noch weiter absichern. Nach dessen Zeilen 2. 1 7-20 hat die subtile Materie, der die einfachen Maschinen von der Art des Hebels ihre Festigkeit verdanken, »die Qualität einer Flüßigkeit, die nur als nega­ tiv abstoßend gedacht werden darf«. Soweit ich sehe, kommt die Beschreibung dieses Ä thers als ' negativ-flüssig ' bei Kant sonst nur noch in dem auf die Zeit vom Februar bis zum M ai 1 799 datierbaren Entwurf A Elementarsystem 4 vor (XXI 5 8 8 . 1 -4) , und somit dürfte das Lose Blatt Leipzig 1 wohl am ehesten in den ersten Wochen des Jahres 1 799 entstanden sein.

III. Emendierte Fassung des Losen Blattes Leipzig 1 Die Grundlage für alle später folgenden Erläuterungen zum Losen Blatt Leipzig 1 bildet immer die oben abgedruckte Transkription dieses Texts aus Kants Nachlaß, der allerdings nicht durchgängig verständlich ist. Aus diesem Grunde lasse ich hier noch eine emendierte Fassung des Losen Blattes Leipzig 1 folgen, doch sei betont, daß es sich dabei eigentlich nicht um die Grundlage meiner kommentierenden An­ merkungen handelt. S ie ist vielmehr ein Teilergebnis meiner Analyse des Losen Blattes Leipzig 1 und steht daher ebenso zur Diskussion wie alle anderen Ergeb­ nisse dieser Untersuchung. 1 .0 1 : Einleitung [in die Lehre vom Übergang von den metaphysischen An­ fangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik] 1 .02- 1 . 1 7 : ' a) [Die] mathematische [n] Principien der Naturwissenschaft [han­ deln] von der Materie, so fern diese blos in Bewegung ist. [Die] Principien a priori ihrer Gesetze [fundieren die Lehre von den] Centralkräften , [vom] Licht, ([vom]

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Schall) und [von der] Undulation auf der übelfläche [von Flüssigkeiten] . b) [Die] Metaphysische[n] Anfangsgründe der Naturwissenschaft [sind die aus Begriffen a priori gewonnene Lehre] von der Materie als dem Beweglichen im Raum. c) [Die] Physiologischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft [handeln] von der Materie, sofern sie bewegende Kraft hat. Der Ü bergang von den physiologischen [Anfangsgründen der Naturwissen­ schaft] zur Physik, und zwar nach Principien a priori, ist darauf angelegt, diese in einem System vorzustellen, ohne in die Physik, als empirische Erkenntnis, welche gar kein vollständiges System [sein kann ] , sondern nur [eine] fragmentarische Zusammensuchung [von Daten] verstattet, einzugreifen. 1 . 1 8- 1 .27: Die a priori erkennbaren bewegenden Kräfte der Materie sind die­ j enige[n] Principien der Bewegung [der Materie ] , nach denen wir die Bewegung derselben nicht analytisch denken, sondern synthetisch selbst als Ursache machen; denn die andern [Kräfte von der Art der Zentralkräfte aus I. Newtons Principia] geben nur empirische Gesetze derselben und gehören zur Physik, nicht zum Ü ber­ gang von der Metaphysik der Natur zur Physik. 1 .28- 1 .30: Die Amphibolie [ist stets die Verwechselung des Primären mit dem Sekundären, also etwa] der objectiven Bewegbarkeit (facultas locomotiva) der Materie [ . . . ] mit der subjectiven, welche mechanisch und physisch ist. 2.0 1 -2. 1 0: Die Wägbarkeit bedarf einer inneren bewegenden Kraft der Materie des Hebels und der Anziehung ihrer Teile (einer Maschine als vermittelnden be­ wegenden Kraft). [Genauer gesagt bedarf] die Starrigkeit des Hebels [ . . . ] einer inneren bewegenden Kraft, die aber nicht auf eine Richtung nach aussen, sondern in de[n] Hebel selbst zielt. [Diese innere bewegende Kraft gehört zu] einer im­ ponderablen Materie ; denn wäre [diese Materie] wiederum ponderabel, so würde der Begriff der bewegenden Kraft im Cirkel schließend seyn. 2 . 1 1 -2.20: Diese Materie als innerlich bewegend und imponderabel muß [au­ ßerdem] incoercibel [und mithin] ein jeder Körper für sie permeabel seyn, weil [sie] in Substanz penetrabel ist. [Die von ihr ausgeübten Kräfte wirken nämlich nicht so] wie die Gravitationsanziehung, die ein Ziel ausser[halb der Materie hat, von der sie ausgeübt wird, während j ene innerlich bewegende M aterie] von der ponderablen [Materie, die] sie innigst durchdringt, [ . . ] nicht [ . . . ] angezogen [wird, sondern] expansiv ist, worauf die Qualität einer Flüssigkeit, die nur als negativ­ abstoßend gedacht werden darf, beruht. 2.2 1 -23 : Eine solche Mateiie [wie der Wärmestoff] kann secundum quid im­ ponderabel seyn, sofern sie in ihrem Element nicht schwer ist, aber als Materie überhaupt [kann sie] nie simpliciter [imponderabel sein ] . 2.24-2.28: D i e Existenz eines solchen alle Körper i n Substanz durchdringen­ den hypothetisch a priori zu postulierdenden S toffes gehört zum Ü bergange von den Metaphysischen Anfangsgründen [der Naturwissenschaft] zur Physik und muß nicht [wie] zur Physik gehörig aus empilischen Prämissen abgeleitet werden. 3 . 0 1 -3. 1 3 : Die Amphibolie oder Zweideutigkeit im Begriffe der bewegenden Kräfte der Materie so fern sie a priori die Tendenz zur Physik enthalten beruht .

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darauf, daß die subjectiv verstandenen Gesetze von [den bewegenden Kräften] für objectiv und umgekehrt genommen werden, [bzw. daß man] die Phänomene der Wirkungen für die Begriffe ihrer Ursachen [hält, also etwa] die empirische Wäg­ barkeit wegen des Zusammenhanges (als coercibilitaet) und die blos Gedachte zum Behuf der letzteren [obwohl zur bloß gedachten] eine besondere Art von Kraften der Anziehung in gewisser Direction gehört, die innerlich einer besonde­ ren Att von Materie zukommen soll z. B. dem Wärmestoff. 3 . 1 4- 1 6 : Die bewegende Kraft der M aterie ist entweder eine ortverändernde (vis locomotiva) oder [eine] an demselben Ort bewegende Kraft (vis interne moti­ va). 3 . 16-3.28: Die [Materie von besonderer Art] enthält das dynamische die [von der Art der Körper] d [as] mechanische Ptin[zip] der bewegenden Kräfte, welches die erstere[n] als empirisch gegeben voraus setzt. Die M aterie von der ersteren Beschaffenheit ist als alle Körper durchdringend mithin auch als imponderabel gedacht, weil sie nicht nach der ortsverändernden Bewegung vorgestellt wird aber auch [als] abstoßend in allen ihren Theilen, indem die Korper fur sie durchgängig (permeabel) sind. Eben darum wird sie auch als incoercibel vorgestellt und ist das erste dynamische Princip der innerlich bewegenden Kräfte der Mat[erie] 4.0 1 -4. 1 5 : Von der Amphibol[ie]. Amphibolie ist die Verwechselung des Primären mit dem Sekundären der Be­ griffe [und m ithin der Fehler] , in einem System die letztere[n] als Prinzipien den ersteren vorauszusetzen (z. B. die Wirkungen den Ursachen [oder auch] ) das me­ chanische Prinzip dem dynamischen und nicht umgekehrt unter zu legen. [Der zuletzt genannte Fall liegt vor, wenn man] die mechanisch bewegende Kraft des Hebels der dynamischen desselben als Prinzip zum Grunde [legt wie] z. B . Käst­ ner, [bei dem] das vitium subreptionis vorkommt, die subjektive Wägbarkeit zur Objektiven zu machen. Ohne eine die Körper durchdtingende und innerlich bewe­ gende Materie ([wie den] Wärmestoft) kann die Maschine die äußerlich bewegen­ de Kraft nicht haben. 4. 1 6-24: Die mechanische Wägbarkeit kann [also] nur durch eine impondera­ ble Materie bewirkt werden. Eben zu derselben Hinsicht muß [diese] alldurch­ dringende M aterie auch für sich selbst incoercibel seyn, weil sie sonst mecha­ nisch-ponderabel seyn würde. - Sie muß auch incohäsibel seyn; denn der Zusam­ menhang ist die Anziehung [bei] der Berührung, folglich [eine Anziehung] der Körper mit [und an] ihrer Oberfläche und also keine [die Körper, auf die sie ein­ wirkt] , durchdringende Kraft [wie die innerlich bewegende Kraft der Materie, die dem Hebel seine Festigkeit verleiht] . - Endlich muß diese Materie auch inexhaus­ tibel seyn. 4.25-4.29 : (Perpetuitat) : [Diese Materie] mag ihrer bewegende[n] Kraft nach gebunden seyn können, so muß d[ies]er Wärmestoff doch immer zu dem Ganzen der inneren bewegenden Kräfte der Materie in allen ihren Theilen enthalten seyn und ein Continuum ausmachen.

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IV. Problemgeschichtliche Einordnung des Losen Blatt Leipzig 1 Zur Einführung in das Thema, mit dem sich Kant im LBL 1 befaßt, seien vorab ei­ nige Zeilen aus der KdrV angeführt, die einen ersten Hinweis auf die problemge­ schichtlichen Wurzeln der im LBL 1 nur knapp skizzierten Lehre vom Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik ge­ ben. Kant erklärt nämlich im Rahmen seiner transzendentalen Methodenlehre (Ill 5 3 8 . 2 1 -540. 1 2; A 832/B 863-A 835/B 863): » Die systematische Einheit [ist das­ jenige], was gemeine Erkenntniß allererst zur Wissenschaft, d. i. [was] aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht. [ . . . ] Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkennt­ nisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die S tel­ le der Theile [dieses Mannigfaltigen] untereinander a priori bestimmt wird. [ . ] Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio) ; es kann zwar innerlich (per intussusceptionem) aber nicht äußerlich (per appositio­ nem) wachsen, wie ein thierischer Körper, dessen Wachsthum kein Glied hinzu­ setzt, sondern ohne Veränderung der Proportion ein jedes zu seinen Zwecken stär­ ker und tüchtiger macht. Die Idee bedarf zur Ausführung ein Schema, d. i. eine a priori aus dem Princip des Zwecks bestimmte wesentliche [ . . . ] Ordnung der Theile. [ . . . ] Niemand versucht es, eine Wissenschaft zu Stande zu bringen, ohne daß ihm eine Idee zu Grunde liege, [allein] , es ist schlimm, daß nur allererst, nachdem wir lange Zeit, nach Anweisung einer in uns versteckt liegenden Idee, rhapsodistisch viele dahin sich beziehenden Erkenntnisse als Bauzeug gesammlet, ja gar lange Zeiten hindurch sie technisch zusammengesetzt haben , es uns dann allererst mög­ lich ist, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken und ein Ganzes nach den Zwec­ ken der Vernunft architektonisch zu entwerfen.« Mit diesem erkenntnistheoretischen Programm knüpft Kant an eine weit ältere Tradition an; denn wie er in der Vorrede zur 2. Auflage der KdrV bemerkt (III 1 5 . 1 -3, B XXII; siehe auch 540. 30-54 1 .4, A 835/B 863 - A 836/B 864), wird man im Anschluß an den seiner Ansicht nach absehbaren Abschluß der »Versuche, das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern und [ . . . ] nach dem Beispiele der Geometer und Naturforscher eine gänzliche Revolution mit derselben vor­ [zu]nehmen«, in einem »künftigen System der Metaphysik [ . . . ] der strengen Me­ thode des berühmten Wolff [folgen müssen] , der zuerst das Beispiel gab, [wie in der Philosophie] durch gesetzmäßige Feststellung der Principien, deutliche Be­ stimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise [und] Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei« (Ill 22.5 - 13, B XXXVI). Wolffs philosophische Werke waren jedoch keineswegs das einzige und erst recht nicht das wichtigste der Paradigmen, an denen sich Kant bei der FOimulie­ rung seines bis hin zum Opus postumum behalTlieh wiederholten und auch in den Zeilen 1 . 1 0- 1 . 1 7 des Losen Blattes Leipzig 1 erwähnten wissenschaftstheoreti..

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sehen Postulats orientiert hat, nach dem menschliches Wissen erst dann den Rang eines Systems hat, wenn es in der Form einer in Prinzipien fundierten, logisch­ deduktiv strukturierten Lehre vorliegt. Wie der Hinweis auf die Geometer und Naturforscher schon vermuten läßt, kamen dabei neben Chr. Wolffs Schriften vor allem I. Newtons Principia eine entscheidende Bedeutung zu. Kant hat nämlich früh registriert, daß es Newton in diesem auch noch im Opus postumum stets mit großer Achtung erwähnten ' unsterblichen Werk ' gelungen war (siehe Entwurf No 2, XXI 1 6 6.29-30 [September bis Oktober 1 798] und öfter), vielerlei Wissen, das man schon lange vor seiner Zeit ermittelt hatte und das zunächst nichts weiter als ein heterogenes Aggregat von vielerlei naturwissenschaftlichen Kenntnissen gewesen war, zu einer logisch-deduktiv strukturie1ten, aus wenigen Prinzipien ab­ leitbaren Lehre zusammenzufügen. Von dieser epochemachenden Besonderheit der Newtonsehen Principia wußten im deutschen Sprachraum um 1 7 50 nur weni­ ge Gelehrte. In dem Kompendium Lineae prima e math eseos des Königsberger Dozenten Chr. Fr. Ammon, dessen dazugehörige, nach Fr. J. B uck (Lebens-Be­ schreibungen derer verstorbenen Preußischen Mathematiker, S. 1 58) »mit einem ansehnlichen Beyfall viele Jahre nacheinander gehaltene [Vorlesung]« wahr­ scheinlich auch vom j ungen Kant besucht worden ist (siehe H.-J. Waschkies, Phy­ sik und Physikotheologie des jungen Kant, S. 24), findet m an z. B. jeweils ein oder mehrere Kapitel über die Strahlenoptik, über die Lehre von der Schwerkraft samt deren Anwendung auf die sogenannten einfachen Maschinen von der Art des Hebels und der Waage, über die Kompressibilität und Elastizität von Gasen sowie über die Hydrostatik samt deren Anwendung auf die Hydraulik; aber dabei wird nirgends deutlich, zwischen welchen dieser Teilgebiete der Physik ein systemati­ scher Zusammenhang besteht. Insbesondere fehlt bei Ammon, dessen Kompendi­ um den Lehrbetlieb an den deutschen Universitäten von damals exemplarisch wiederspiegeln dürfte, noch jeder Hinweis darauf, daß die von ihm angeführten Sätze über die Schwerkraft und die in den Astronomiekapiteln aus seinen Lineae primae matheseos ohnehin nur andeutungsweise erwähnten Keplerschen Gesetze inzwischen zusammenfassend in I. Newtons allgemeiner Gravitationstheorie ab­ gehandelt werden können, während Kant, dem sein Förderer Martin Knutzen schon früh I. Newtons Werke zur Einsicht überlassen hatte (siehe L. E. Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants, S. 76), bereits in seiner A llgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels darauf anspielt, daß die drei Keplerschen Gesetze samt der Lehre, nach der die Schwerkraft, die auf einen Körper einwirkt, in der Umgebung der Erdoberfläche in guter Näherung als kon­ stant anzusehen ist, aus I. Newtons 1 /r2 -Gesetz für die Gravitation abgeleitet wer­ den können (siehe I 1 44. 1 - 145.5; dazu vergleiche m an ergänzend Entwurf Deutsch Groß A , XXI 3 1 1 . 3-8 [Juli 1 797 bis Juli 1 798] ; Entwurf Y, XXII 5 1 3 . 1 42 1 [August 1 799 bis April 1 800] und /. Konvolut XXI 68. 1 4-20 [ 1 800 bis 1 803]). Wenn Newton in den Principia nur die eben erwähnte Systematisierung des physikalischen und astronomischen Wissens seiner Vorgänger Descartes, Galilei, Huygens und Kepler gelungen wäre, hätte Kant darin wohl kaum mehr als die technische Synthese von Bauzeug gesehen, das man über einen langen Zeitraum

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hin stoppelnd zusammengelesen hatte. In diesem Sinne spricht er in dem auf die Zeit von August 1 799 bis zum April 1 800 datierbaren Entwurf Y aus dem Opus postumum davon, daß »die drey berühmte[n] Analogien Kepler' s [Newton dazu veranlaßt haben, mit] einem Machtstreich [die] Gravitationsanziehung durch eine kühne, aber unumgängliche These für die Physik auszurufen« (XXII 5 1 3 . 14- 1 7 ) ; aber nichtsdestoweniger muß e r schon früh darauf aufmerksam geworden sein, daß die Principia von Newton in ihrem Vorwort außerdem den Keim zu einer Idee enthalten, die es gestatten sollte, beim weiteren Ausbau der Naturwissen­ schaften nur noch einen architektonischen Entwu1f per intussusceptionem Gestalt annehmen zu lassen. Wie Newton in der praefatio ad Ieetorern mitteilt, die der 1 . Auflage seiner Principia voransteht, »sah er sich durch vielerlei Gründe in der Vermutung be­ stärkt, daß [die von uns beobachtbaren Erscheinungen in der Natur auf die Wir­ kung] gewisser, bis dato [allerdings zumeist noch unbekannter] Kräfte zurückge­ hen, von denen [die einen] die Bestandteile der Körper aufeinander zutreiben, bis sie schließlich in der Form von regulären Figuren miteinander zusammenhängen, während die andem [als abstoßende Kräfte bewirken, das die Teile der Körper] vor einander fliehen«. Als Paradigma diente Newton dabei natürlich die bereits erwähnte, von ihm selber entdeckte und durch ein l !r2-Gesetz beschreibbare uni­ verselle Gravitation zwischen allen Massen . Im XIV. Abschnitt des I. B uches der Principia versuchte er außerdem noch, an Hand von eher programmatischen Er­ klärungen zur »Bewegung sehr kleiner Körper, die von Zentripetalkräften ange­ trieben werden« (a.a.O. , B uch , Titel des XIV. Abschnitts), optische Phänomene von der Art der Beugung und der Brechung mit Hilfe einer korpuskularen Theorie des Lichts zu deuten; aber der wahrhaft universelle Umfang der Prozesse, die er als kombinierten Effekt von anziehenden und abstoßenden Zentralkräften erklären wollte, wird erst deutlich, wenn man seine Ausführungen zu diesem wissen­ schaftstheoretischen Programm in der Query 3 1 seiner Opticks mit in Betracht zieht (siehe H.-J. Waschkies, Physik und Physiko theologie des jungen Kant, S. 399-403) , die Kant in einer lateinischen Ausgabe von 1 7 1 9 besaß (siehe A. Warda, lmmanuel Kants Bücher, S. 35). Obwohl m an bei der Realisierung von I. Newtons soeben erwähntem wissen­ schaftstheoretischem Programm keine größeren Erfolge zu erzielen vermochte , w a r e s in d e n Augen einer ganzen Reihe v o n Gelehrten, deren Werke Kant nach­ weislich früh gelesen hat, weit mehr als ein mißglückter Annex zu der (Him­ mels)mechanik aus den Principia. Daher ist es auch nicht erstaunlich, daß sich der junge Kant in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels bei der Abfassung seiner kosmogonischen Spekulationen an diesen ' Newtonischen Grund­ sätzen' orientiert hat, die nicht mit den Axiomen oder Grundsätzen verwechselt werden dürfen, die in den Physikbüchern von heute am Anfang der Kapitel über die Newtonsehe [oder Klassische] Mechanik stehen (siehe H.-J. Waschkies, Phy­ sik und Physikoth eologie des jungen Kant, S. 399-439). Kant versuchte in der ANu TH nachzuweisen, daß der M akrokosmos (seit der Schöpfung) für alle Zeiten einen zyklischen Prozeß durchläuft, bei dem abstoßende Zentralkräfte einen Me-

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chanismus entstehen lassen, der verhindert, daß die gesamte Materie unter dem Einfluß anziehender Zentralkräfte in einem Punkt des Raumes kollabiert (siehe I 264.20-265.8), und wie bereits ein kurzer B lick in Kants MAdN erkennen läßt, ist die dort vorgestellte Lehre von Wesen der Materie eine ins Kosmologische trans­ formierte Variante der kosmogonische Spekulationen aus der ANuTH. In den MAdN schreibt -Kant der Materie zwei bewegende Grundkräfte zu, von denen die eine ab- bzw. zurückstoßend und die andere anziehend ist (siehe MAdN, Erklärung 2 und Zusatz, IV 498 . 1 6-499.4). Da die abstoßende Zentralkraft allen Teilen der Materie eigen sein soll (und deren Undurchdringlichkeit bedingt), wür­ de deren wechselseitige Abstoßung allein mit der Zeit zu einer totalen Zerstreuung aller Materie im Raume führen, wenn es nicht außerdem noch eine mit ihr konkur­ rierende fundamentale Zentralkraft gäbe, die ihrerseits einen totalen Kollaps aller Materie bewirken würde, wenn dem nicht deren schon erwähnte Abstoßungskraft entgegenstände (siehe MAdN, Zweites Hauptstück, IV 496-535 sowie L. Schäfer, Kants Metaphysik der Natur, S . 70-77). Diese Vorstellung stand Kant auch noch bei der Arbeit an seinem Opus postumum vor Augen; denn wie er dort betont (Farrago 1, XXI 626. 1 -2 [Dezember 1 798 - Januar 1 799] ) , ist »in allen bewegen­ den Kräften [ . . . ] die Anziehung notwendig mit der Abstoßung verbunden« ; aber bei den Kräften, von denen hier die Rede ist, handelt es sich inzwischen nicht mehr um die Newtonsehen Zentralkäfte aus den Opticks, sondern um Kräfte, die an einem ' Ä ther' angreifen, und damit steht m an vor der Frage, warum der alte Kant das Wirken der Kräfte, die das Geschehen im Großen fundieren, von der makroskopisch registrierbaren Materie in eine submikroskopische Ä therwelt ver­ lagert hat. Ein Grund dafür ist sicher, daß Kants Versuch aus den MA dN, einen Beitrag zur Ausarbeitung des Newtonsehen Programms zu einer universellen Weltdeutung zu leisten, nicht den erhofften Beifall fand. Wie B. Tuschling ausführlich darge­ stellt hat (Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants Opus postumum, S. 46-56 und S. 92- 1 00), ist Kant nämlich schon bald von Johann Tobias Mayer darauf hingewiesen worden, daß die MAdN letztlich nichts weiter als eine Phoro­ nomie enthalten. Aus diesem Grund versuchte Kant, seine nunmehr zu bloß noch ' mathematischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft' herabgestufte Lehre aus den MAdN im Opus postumum durch eine Lehre von den bewegenden Kräften zu ergänzen, in der ein Äther als Träger dieser Kräfte und damit als Ursache für die­ jenigen Effekte dienen sollte, die in den MAdN als Wirkung der von Mayer kriti­ sierten Repulsionskraft erklärt worden waren. Ganz abgesehen davon m u ßte Kants kritische Erkenntnistheorie aber auch aus systeminternen Gründen auf ein Problem hinführen, das nicht aufkommen konnte, solange die Physiker (wie New­ ton) in ihren obersten Grundsätzen nichts weiter als induktiv aus empirisch ge­ wonnenen Daten ermittelte Prinzipien sahen. In diesem Fall stand nämlich von vornherein fest, daß sich die fraglichen Grundsätze im Nachhinein zur theoreti­ schen Einordnung der Daten eignen würden, aus denen sie ermittelt worden wa­ ren, während bei Prinzipien, deren Quelle nichts weiter als das Wesen des Denk­ vermögens selber sein soll, nicht so ohne weiteres vorauszusehen ist, warum m an

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gerade mit ihnen bei einer Begründung der Physik, deren Bauzeug zum Teil schon lange als ein rhapsodistisch gesammeltes Aggregat von Kenntnissen zur theoreti­ schen Verarbeitung bereitlag, auskommen würde (dazu verweise ich ergänzend auf H. Hoppe, Kants Theorie der Physik, S. I, S . 78 und S. 8 1 ). Die Beantwortung dieser Frage, die Kant auch in der KdU gestellt hat (V 1 79.23- 1 80. 5), etfordert letztlich, »ein System empirischer Vorstellungen a priori zu errichten [und damit] die Erfahrung quoad materiale zu anticipiren, [ . . . ] was sonst unmöglich scheint« (Entwurf X, XXII 502. 8- 10 [August 1 799 - April 1 800] ) . Wie von V. Mathieu angemerkt worden ist, hat Kant allerdings versucht, diesen Verstoß gegen die Prinzipien seiner Transzendentalphilosophie dadurch zu vermeiden, daß sich die fragliche Anti zipation nur auf gewisse ' ursprünglich be­ wegende Kräfte des Ä thers ' beziehen soll, »die sowohl formal als auch material sind« (Kants Opus postumum, S. 1 29). Der Sache nach knüpfte der alte Kant mit dieser Umgestaltung seiner Lehre aus den MA dN im übrigen an eine erkenntnis­ theoretische Diskussion an, die schon bald nach dem Erscheinen der Newtonsehen Principia einsetzte. Da man das l l r2 -Gesetz für die universelle, wechselseitige Massenattraktion dahingehend interpretieren kann, das ein einzelner Körper wie die Sonne gleichzeitig und ohne jede Vermittelung durch irgendeinen Mechanis­ mus an vielen, räumlich weit voneinander getrennten Orten wie den jeweiligen Positionen der Planeten und Kometen wirksam ist, stieß Newtons dynamische Fundierung der Gestirnbewegungen bei vielen seiner Zeitgenossen auf Unver­ ständnis oder gar auf Ablehnung. Man war damals nämlich noch allenthalben auf ein im Prinzip cartesisches und damit mechanistisches Weltbild fixiert, nach dem j ede an irgendeinem Ort beobachtbare Beschleunigung den Schluß auf eine an eben dieser Stelle angreifende und dabei stoßende, drückende oder ziehende mate­ rielle ' Ursache ' gestattet. Aus diesem Grunde deutete der engagiette Newtonianer P. L. M. de Maupertuis die Gravitation in seinem 1 7 5 1 auch ins Deutsche über­ setzten Versuch einer Cosmologie (S. 6 1 -62), von dem Kant bereits bei der Arbeit an seiner ANu TH nachhaltig beeinflußt worden war (siehe H.-J. Waschkies, Phy­ sik und Physikotheologie des jungen Kant, S. 564-577), immer noch als Mitführ­ effekt irgendeiner subtilen, die makroskopischen Körper umgebenden Materie, und ganz entsprechend geht der alte Kant im Opus postumum spätestens seit dem Herbst des Jahres 1 798 davon aus, daß immer dann, wenn es in Newtons Princi­ pia um die Gravitation oder irgendeine andere Zentralkraft geht, bloß »ein­ gedrückte Kräfte (vires impressae) « gemeint sind (Farrago I , XXI 6 1 6. 1 3 - 1 4 [Dezember 1 798 bis Januar 1 799] ), die ' aus der Bewegung der Körper entsprin­ gen' (siehe Entwurf c, XXI 286. 1 9-287.4 [August bis September 1798]). D iese Weltdeutung hat zur Konsequenz, daß die Formeln, mit denen man in der Physik von Newton die wechselseitige Anziehung zwischen den Körpern, die Ausbreitung der Schallwellen oder auch die Brechung des Lichts beschreiben kann (dazu sei auf die Zeilen LBL 1 .05-06 verwiesen) , ganz ebenso wie die Sätze über die Funktionsweise der einfachen Maschinen von der Art des Hebels (siehe Elementarsystem 2, XXI 206.7- 1 9 [Februar bis Mai 1 799] ) immer nur den kombi­ nierten Effekt von Prozessen aus dem Bereich des Submikroskopischen erfassen,

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dessen Elemente die eigentlichen Objekte der Naturwissenschaftler sind bzw. sein sollten. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich I. Newtons Principia natürlich nur noch als ein Lehrbuch der Phoronomie verstehen, und damit ist zugleich klar, daß der alte Kant seine Lehre von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwis­ senschaft von 1 7 8 6 im Opus postumum grundlegend revidieren mußte (siehe H . Hoppe, Kants Theorie der Physik, S . 4, u nd B . Tuschling , Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants Opus postumum, S. 1 5 5). Dem entspricht, daß er während der Phase seiner Bemühungen um eine neue metaphysische Begrün­ dung der Naturwissenschaft, zu der das LBL 1 gehört, einen dem Inhalt nach nur schwer abgrenzbaren Teil seiner MAdN als (bloß noch) mathematische Anfangs­ gründe der Naturwissenschaft bezeichnet und durch zwei weitere 'Anfangsgrün­ de ' zu ergänzen versucht. Dabei handelt es sich zum einen um die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft in einem nunmehr völlig neuen Sinne, bei denen es sich formal um eine »reine aus Begriffen [und nicht wie im Falle der mathematischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft aus der Konstruktion von Begriffen] hervorgegangene [Lehre] handeln soll (Entwurf c, XXI 285 .9- 1 0 [Au­ gust bis September 1 798]), in der «die Materie blos als das bewegliche im Raum vor[gestellt wird]« (ebenda, XXI 290.22; siehe auch Loses Blatt 6, XXI 474.3-4 [vor 1796] sowie Farrago 1 XXI 6 1 6. 1 -3 [Dezember 1798 bis Januar 1 799] ), und zum andem um die physiologischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in denen »die bewegenden Kräfte der Materie nach Begriffen a priori aufgesucht und in einem System dargestellt werden [wobei es nun genauer um diejenigen Kräfte der Materie geht, die sie hat] , sofern sie auch selbst in Ruhe ist [und die sie somit] in sich selbst hat« (Entwurf No 3 y , XII 366.7- 1 5 [September bis Oktober 1 798] ; siehe auch Entwurf 1 , XX 5 1 2.8 [September bis Oktober 1 798] und Elementarsy­ stem 3, XXII 1 64.2 1 -29 [Oktober bis Dezember 1798]). Für das Verständnis der schon angeführten Passagen aus dem Opus postumum ist es unerläßlich, vorab zu klären, was Kant unter dem Begriff einer 'bewegenden Kraft der Materie, die diese in sich selbst hat' , verstanden wissen wollte. Dazu sei zunächst angemerkt, daß es im Rahmen der mechanistischen Weltdeutung des 1 8 . Jahrhunderts zwischen den zum Universum gehöligen Materieportionen i n der Terminologie von heute (und daher etwas anachronistisch) gesagt immer nur ei­ nen Austausch von kinetischer Energie und Impulsen geben kann, ohne daß je­ m als spontan irgendeine ' neue ' Bewegung entsteht. In diesem Sinne erklärt Kant ( Übergang 3 , XXI 227 . 1 3 - 1 9 [Mai bis August (?) 1 799] ) , daß eine »mechanisch bewirkte Bewegung nicht uranfänglich [sein kann, weil ein Körper nach dem zu­ gehörigen Weltbild immer] nur durch die Bewegung eines anderen [ bewegt und damit selber] bewegend ist [so daß der Versuch, eine solche Bewegung] von einer vorhergehenden abzuleiten [auf] einen Rückgang der Ursachen ins Unendliche [hinausläuft] «. Mit diesen Ü berlegungen knüpft der alte Kant an ein Problem an, mit dem er sich schon in seiner Erstlingsschrift Über die wahre Schätzung der lebendigen Kräfte auseinandergesetzt hatte (I 58. 1 8-62. 1 6) . Dabei handelt es sich um die Fra­ ge, ob eine unbewegte Materiemenge ohne jeden Anstoß durch eine bereits in

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Bewegung befindliche Materiemenge [wieder] in Bewegung kommen kann, wozu noch angemerkt sei, daß sich Kant nach den Untersuchungen von E. Adickes mit diesen Ü berlegungen Klarheit darüber verschaffen wollte (Kant als Naturforscher, Bd. 1 , S. 1 30- 1 32), ob das nach I. Newtons Ansicht langfristig in einen ungeord­ neten Zustand zerfallende und nach einem ' Kältetod ' in absoluter Ruhe verhar­ rende Sonnensystem auch ohne jeden unmittelbaren Einfluß Gottes neu entstehen kann. In der ANu TH glaubte Kant, das fragliche Problem gelöst zu haben; denn nach seiner dort vorgestellten Kosmogonie dauerte die allgemeine Ruhe [bei dem von Gott bei der Schöpfung mit unbewegter Materie] erfüllten Raume nur einen Augenblick [weil] die Elemente [ ... ] wesentliche [Zentral]kräfte [haben] , einander in Bewegung zu setzten« (I 264,20-22). Für den Kant der späten 90er Jahre war dieses Detail seiner kosmogonischen Spekulationen von 1 7 55 aber nicht mehr akzeptabel; denn zum einen schließt seine kritische Philosophie die Vorstellung von einem Ersten Tag , an dem Gott die Welt schuf, aus, »weil vor ihm eine leere Zeit und eine nachfolgende Dauer derselben angenommen werden müßte« ( Über­ gang 2, XXI 220. 17- 1 9 [Mai bis August 1 799] ; siehe auch KdrV, III 295.3-30 1 . 8 , A 427/B 455-A 433/B 46 1 ), u n d zum andern deutete Kant die Newtonsehen Zen­ tralkräfte aus seiner frühen Kosm ogonie zum indest während der Abfassung des Losen Blattes Leipzig 1 mechanistisch und damit als Effekt von irgendwelchen Stoßprozessen, deren Ursprung selber erst noch zu erklären wäre (dazu verweise ich auf meine später folgenden Ausführungen zu den Zeilen LB 1 .02- 1 .06). In eine andere Phase der zyklischen Kosmogonie , die Kant in seiner ANuTH vorträgt, geht jedoch eine weitere, nicht aus I. Newtons Schriften extrapolierte ' ursprünglich bewegende Kraft' ein. Wie bereits angedeutet, übernahm er von Newton die Lehre, nach der es auf Grund von verschiedenen Störeffekten mit der Zeit zu einem Kollaps unseres Planetensystems kommt, doch »nachdem die endli­ che Mattigkeit der Umlaufs-Bewegungen in dem Weltgebäude die Planeten und Kometen insgesammt auf die Sonne niedergestürzt hat [wird] dieser ihre Gluth ei­ nen unermeßlichen Zuwachs durch die Vermischung so vieler und großer Klum­ pen bekommen. [Das] durch neue Nahrung [ . . . ] in die größte Heftigkeit versetzte Feuer wird [danach] ohne Zweifel nicht allein alles wiederum in die kleinsten Elemente auflösen, sondern auch dieselbe [n] in dieser Art mit einer der Hitze gemäßen Ausdehnungskraft und mit einer Schnelligkeit, welche durch keinen Widerstand des Mittelraums geschwächt wird, in dieselben weiten Räume wie­ derum ausbreiten und zerstreuen, welche sie vor der ersten B ildung der Natur angenommen hatten« (I 320. 1 8-32 1 .32). Im Anschluß an diese Explosion kann der Weltprozeß dann wie am Ersten Tag bis zu dem nächsten Kollaps des Planeten- und Kometensystems nach Newtoni­ schen Prinzipien weiterlaufen. Dabei ist zu beachten, daß die von Kant in den oben zitierten Zeilen eingeführte »erweiterte« Kraft des Feuers (1 320. 1 4) nicht zu den Newtonischen Repulsionskräften gehört; denn die sollen im Rahmen seiner zyklischen Kosmogonie erst wirksam werden, nachdem sich die Materie wieder in ihre feinsten Teile aufgelöst und über den gesamten Raum verteilt hat (siehe I 237 . 1 -2 1 ) . Kant steht damit in einer alten Tradition; denn wie S . Schaffer darge-

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stellt hat (»Phoenix of Nature«, S. 1 82- 1 89), bemühten sich im Anschluß an die kosmogonischen Spekulationen aus den Principia des Descartes eine ganze Reihe von Autoren, eine Erklärung für den von ihnen zumeist auch schon evolutionär gedeuteten Weltlauf anzugeben, die einen unmittelbaren Eingriff Gottes in die Natur ganz oder doch weitgehend entbehrlich erscheinen ließ. Zu diesem Zweck führten sie als Ersatz für 'Gottes Hand ' gewisse ' aktive Prinzipien' oder ' Kräfte ' ein, zu denen insbesondere das damals entweder noch korpuskular gedeutete oder als ' Kraft' bzw. ' Energie' bezeichnete Feuer gehötte. Wie erwähnt, geht das Feuer in die Kosmogonie des jungen Kant als expandierende Kraft ein. Diese Rolle übernimmt im Opus postumum schließlich der Äther, wobei die Tatsache, daß Kant diesen Äther dort im allgemeinen Wärmestoff nennt, schon vermuten läßt, daß es sich bei dieser subtilen Materie um einen späten Nachkommen der ' aktiven Prinzipien' des 1 7 . Jahrhunderts handelt. Kant hat seine schon in der Schrift Über die wahre Schätzung der lebendigen Kräfte nachweisbare Ü berzeugung, nach der es Bewegungen gibt, die spontan entstehen, im Opus postumum als Lehre von den innerlich bewegenden Kräften wieder aufleben lassen, weil man seiner Ansicht nach »zu allen Bewegungen und daraus entstehenden Bildungen einen Anfang denken muß, ([und] wenn es auch eben nicht der Anfang aller Systeme, d. i. der absolute Weltanfang wäre [für den es in der Naturphilosophie des alten Kant keinen Platz mehr gab]), so wird dieser Anfang in der inneren Anziehung [des] Äthers [und dessen] inneren Bebungen und Erschütterungen gesetzt werden müssen« (XXI 253. 1 1 - 1 8 ; Entwurf ß [Juli 1 7971798]). Kant nennt alle Kräfte, die von einer nicht zu einem Körper organisierten Materie ausgehen, ursprünglich (siehe XXI 356.20-22; Entwurf No 3 [September ­ Oktober 1798] ) ; aber ganz abgesehen davon , daß man in Kants Schriften keine auch nur einigermaßen präzise Definition des Kraftbegriffs findet, ist zunächst völlig unklar, in welcher Weise diese ursprünglichen Kräfte, die in den Körpern wirksam sein sollen ohne Kräfte dieser Körper selber zu sein, irgendetwas zur Fundierung der Newtonsehen Physik beitragen können. Bei meinem Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, was Kant zu der Hoffnung Anlaß gegeben haben könnte, daß sich seine physiologischen Anfangs­ gründe der Naturwissenschaft schließlich doch noch einmal als die Physik fundie­ rende Prinzipien bewähren würden, gehe ich von einer Passage aus den Principia von Newton aus; denn dessen opus maximum beginnt mit der Erklärung 1 : »Das Quantum einer Materie[menge] ist das Maß, das sich ergibt, wenn man das Produkt aus ihrer Dichte und ihrem Volumen bildet. Das [dadurch definierte] Quantum der Materie werde ich im folgenden auch als [ . . . ] Masse bezeichnen, die dem Gewicht proportional ist, [wozu noch ange­ merkt sei, daß] ich dabei jedes Medium außer acht lasse, das den Raum zwischen den Teilen des [betreffenden] Körpers ungehindert durchdringt, falls es ein sol­ ches [Medium] geben sollte.« Wie E. Mach hervorgehoben hat (Mechanik, S . 1 8 8), ist diese Begriffsbestim­ mung, mit der Newton immerhin darauf aufmerksam macht, »daß jedem Körper ein quantitatives, von seinem Gewicht verschiedenes Merkmal anhaftet, welches

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wir nach ihm [träge] Masse nennen«, zirkelhaft, weil man den von Newton unde­ finiert gelassenen Begriff der Dichte nur als Masse pro Volumeneinheit definieren kann, doch das ist Kant sicherlich noch nicht aufgefallen. Für ihn war eher von Interesse, daß dem Begriff der Masse, die man nach Newton mit einer Hebelwaa­ ge bestimmen kann, in dessen Physik eine fundierende Bedeutung zukommt, und darüber hinaus muß ihn dann schließlich die Lektüre von A. G. Kästners Theorie des Hebels (und damit der Waage) auf die Idee gebracht haben, daß in Newtons Lehre von der Bestimmung der Masse (und damit in dessen gesamter Physik) eine Begründungslücke klafft, die sich mit Hilfe des in der Erklärung 1 aus den Princi­ pia in Zusammenhang mit der Definition der Masse zwar andeutungsweise er­ wähnten, aber dort nicht weiter berücksichtigten ' Ä thers' schließen läßt. Den Kern der Überlegungen, die A. G. Kaestner zur Theorie des Hebels (und damit der Balkenwaage) in seinen Anfangsgründen der angewandten Mathematik vorträgt (Teil II, S. 4- 12), bildet eine Variante des Arguments, mit dem schon Arehirnedes zu zeigen versuchte (De planorum aequilibriis sive de centris gravi­ tatis, Opera, Vol. II, S. 1 24- 1 39), daß das allgemeine, in den Schulen gern auf die einprägsame Formel ' Kraft mal Kraftarm gleich Last mal Lastarm ' gebrachte Hebelgesetz aus dem Spezialfall dieser Regel für den symmetrischen Hebel (bzw. für die damit der Struktur nach gleiche Balkenwaage) hergeleitet werden kann (dazu vetweise ich ergänzend auf die Kritik an allen Ableitungen dieses Typs von E. Mach , Mechanik, S. 2 1 ). In dieser Hinsicht bieten die Ausführungen von Käst­ ner, der als Autoren, an denen er sich orientieren konnte, lsaac Barrow, Rene Des­ cartes, Philippe de la Hire, Pierre Varignon und Christian Wolff nennt (a.a. O., Vorrede), nichts Ungewöhnliches, doch daneben erwähnt Kästner eine (in seiner Vectis et compositionis virium theoria von 1 75 3 übrigens noch nicht genannte) Bedingung für die Funktionsfähigkeit aller (einfachen) Maschinen, auf die noch keiner seiner Vorgänger aufmerksam geworden war. Kaestner erklärt gleich zu Beginn seiner Ableitungen, daß seine Sätze immer nur »den geradlinichte [n], mathematische [n] Hebel [betreffen. Darunter versteht er] eine gerade, unbiegsame Linie ohne Schwere, bey der an zwey Puncten Kraft und Last dergestalt angebracht sind, daß, wenn eine von beyden die Überwucht bekömmt, die Linie sich um einen gewissen Punct drehet, welcher der Ruhepunct oder Bewegungspunct [heißt, während das] , was den Hebel daselbst aufhält, daß er sich drehen muß, die Unterlage (hypomochlium) genannt wird« (a.a.O., S . 8). Zuvor hatte er allerdings bereits kurz darauf verwiesen, daß jeder Hebel in Wirk­ lichkeit wie alle andern einfachen Maschinen ein dreidimensional ausgedehnter Körper ist, zu dem »unzählig viele schwere Puncte [gehören] , die durch eine Festigkeit zusammenhängen« (a.a.O., S. 5-6), und ein wenig später empfiehlt er seinen Lesern dann noch, sich jeden Stab von der Art einer Hebelstange bzw. ei­ nes Waagebalkens als eine Folge von Scheibchen vorzustellen, wobei es seiner Ansicht nach keinen Unterschied macht, ob man eine solche Folge als ein Aggre­ gat betrachtet, das von einer durch den Mittelpunkt der Scheibchen geführten dünnen Stange wie eine Perlenkette zusammengehalten wird oder ob man unter­ stellt, daß jedes dieser Scheibchen mit dem (oder den) ihm unmittelbar benachbar-

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ten »durch den Zusammenhang verbunden ist, welcher die Festigkeit des Körpers verursacht« (a.a.O.). Wie ich bereits andeutete, findet man im Opus postumum eine ganze Reihe von Textstellen, an denen Kant auf A. G. Kästners Ausführungen zum Hebelge­ setz eingeht. Typische Beispiele dafür bieten die nachstehend zitierten Zeilen aus den Entwürfen No 3 e [September bis Oktober 1798] und A Übergang [Januar bis Februar 1 799] , in denen (bzw. deren Kontext) Kaestner namentlich genannt wird ; denn dmt heißt es: »HelT [A. G.] Kaestner hat zuerst den Hebel scharfsinnig und gründlich de­ monstrirt, ohne wie es scheint, irgend eine besondere physische Eigenschaft bei demselben mit ins Spiel zu ziehen. Ein Materieller Hebel müßte bei der Länge seiner Ä rme [ aber] eine gewisse Dicke haben , um, wenn diese belastet werden, über dem Unterstützungspuncte nicht zu brechen, d . i. in dem Queerdurchschnitt nicht zu reissen. [ ... ] Nimmt man nun den Hebel als Maschine der Erforschung des Gewichts , mithin der Quantität der Materie, so ist zu sehen, daß das Wägen den Beytritt noch einer anderen bewegenden Kraft, nämlich des Zusammenhanges als Gegenwirkung gegen die bewegende[ n] Kräfte des Abtrennens so wohl als des Verschiebens seiner Theile voraussetze, ohne welche sich keine Wägbarkeit den­ ken läßt, und daß m an von jener Kraft nicht abstrahiren kann, ohne selbst den Beg1iff der Wägbarkeit zu verlieren und sich selbst zu wiedersprechen« (XXI 294. 1 1 -26), und mithin erfordert »die Möglichkeit [des Waagebalkens nach Kant] selbst schon gewisse bewegende Kräfte der Materie, daraus er besteht, nämlich des Strebens der Theile desselben in gerader Linie gegen einander, um der Verän­ derung seiner Figur zu wiederstehen (XXII 228. 1 3 - 1 7)«. Wie ein Vergleich zwischen den eben angeführten Textstellen aus dem Opus postumum (sowie den Zeilen 2.0 1 -09 aus dem Losen Blatt Leipzig 1) und dem Bd. II von Kästners Anfangsgründen der angewandten Mathematik deutlich macht, dürfte Kant bei der Lektüre von dessen Ausführungen zum Hebelgesetz darauf aufmerksam geworden sein, daß die Funktionsfähigkeit aller einfachen Maschinen von der Wirksamkeit gewisser (Molekular)kräfte abhängt, die ihren Teilen Festig­ keit verleihen. Dem wiederspricht auch nicht Kants Hinweis darauf, daß ' Herr Kästner den Hebel demonstriert hat, ohne irgend eine besondere physische Eigen­ schaft bei demselben mit ins Spiel zu ziehen' ; denn in Kästners Ableitung des all­ gemeinen Hebelgesetzes geht in der Tat an keiner Stelle ein , daß es sich bei dem von Alters her ohne jede Reflexion ausgeführten Abwiegen von Waren mit einer Balkenwaage um einen höchst komplexen Vorgang handelt, an dem nicht nur die universelle Gravitation beteiligt ist, nach deren Gesetzen die an den Enden des Waagebalkens angebrachten Lasten und Gewichte ebenso wie dieser selber von der Erde angezogen werden. Daneben zeigen in der Praxis vernachlässigbar klei­ ne, elastische Deformationen an jeder (zumindest durch das Gewicht ihres Bal­ kens mit den Schalen) belasteten Waage an, daß zwischen den Molekülen, aus denen sie besteht, Kräfte wirken, die ihr die erforderliche Stabilität verleihen . Dabei handelt es sich nach der Physik v o n heute u m Kohäsionskräfte, deren Stär­ ke mit der Entfernung von den Molekeln, die ihre Aktionszentren sind, weit

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schneller als bei der universellen Gravitation abnimmt. Im übrigen sind sie jedoch nicht weniger ' newtonisch ' als die universelle Gravitation, doch das ist Kant ent­ gangen. Er behauptet statt dessen, daß ' die Kräfte des inneren Zusammenhalts ' , die den Körpern ihre Festigkeit verleihen, fundamentaler als die Gravitation sind, und in den Zeilen 2.07-2. 1 0 des LBL 1 versucht er sogar, diese Ansicht per deduc­ tionem zu begründen. Danach gehört die ' innere bewegende Kraft' , von der die Festigkeit der Hebelstange und des Waagebalkens abhängt, nämlich zu einer im­ ponderablen Materie; denn wäre diese Materie selber ponderabel, ' so würde der Begriff der bewegenden Kraft im Cirkel schließend sein ' (siehe LBL 1, 2.09- 1 0). Dabei ist Kant jedoch ein Irrtum unterlaufen; denn er schließt von der Regel, nach der das definiendum bei einer Begriffsbestimmung nicht als definiens benutzt werden darf, auf den im Rahmen der Physik von Newton keineswegs zutreffenden Satz, daß Materieteilchen, denen ein Gewicht zugeordnet werden kann, nicht Trä­ ger von weiteren Kräften sein können, deren Wirksamkeit die Stabilität aller am Vorgang der Gewichtsbestimmung beteiligten Körper bedingt. Im Entwurf ß erklärt Kant, daß die ' i nnerlich bewegenden Kräfte ' , von deren Wirken die Funktionsfähigkeit der einfachen Maschinen abhängt, auf die ' Be­ bungen und Erschütterungen des Ä thers ' zurückführbar sein sollen (siehe XXI 253 .8- 1 8) . Das klingt recht vage und geht wahrscheinlich auf Spekulationen von Stephen Haies über die Kräfte zurück, die in pflanzlichen Geweben wirksam sind; denn Haies schreibt den Zerfall solcher Strukturen gewissen Anomalien der schwankend-zitternden Bewegungen eines alle organischen Gewebe durchdrin­ genden Äthers zu (Statick der Gewächse, S. 1 62- 1 63 und S. 24 1 ; dazu verweise ich ergänzend auf H.-J. Waschkies, »Wissenschaftliche Praxis und Erkenntnis­ theorie in Kants Opus postumum«, S. 1 90- 1 9 1 ). Nichtsdestoweniger versichert Kant im Entwmf Übergang 13 (XXI 608 . 1 1 - 1 2 [Mai - August (?) 1 799] ), die » dynamisch bewegende[n] Kräfte [seien] die ober­ sten Gründe der Möglichkeit aller mechanisch bewegenden [Kräfte]«, und ganz in diesem Sinne erklärt er zu Beginn des LBL 1 ( 1 .02- 1 . 1 7 ) : » a ) [Die] mathematische [n] Pri ncipien d e r Naturwissenschaft [handeln] von der Materie, so fern diese blos in Bewegung ist. [Die] Principien a priori ihrer Gesetze [fundieren die Lehre von den] Centralkräften , [vom] Licht, ([vom] Schall) und [von der] Undulation auf der Oberfläche [von Flüssigkeiten] . b) [Die] Metaphysische[n] Anfangsgründe der Naturwissenschaft [sind die aus Begriffen a priori gewonnene Lehre] von der Materie als dem Beweglichen im Raum. c) [Die] Physiologischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft [handeln] von der Materie, sofern sie bewegende Kraft hat. Der Übergang von den physiologischen [Anfangsgründen der Naturwissen­ schaft] zur Physik, und zwar nach Prinzipien a priori, ist darauf angelegt, diese in einem System vorzustellen, ohne in die Physik, als empirische Erkenntnis, welche gar kein vollständiges System [sein kann] , sondern nur [eine] fragmentarisches Zusammensuchung [von Daten] verstattet, einzugreifen.«

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Durch Chr. Wolffs Eiementa matheseos war seit dem Beginn des 1 8 . Jahrhun­ derts ein in den elementaren Lehrbüchern der Physik bis heute bewährtes Schema vorgezeichnet, nach dem die Darstellung der (Klassischen) Mechanik mit einer Einführung i n die Kinematik (oder Phoronomie) zu beginnen hat, in der Bewe­ gungen von Körpern (die man dabei durch einen Punkt repräsentiert), beschrieben werden, ohne daß auch nur erwähnt würde, daß es Kräfte gibt bzw. daß die frag­ lichen Prozesse als Effekte der Wirkung von irgendwelchen Kräften gedeutet werden können. Nach der Einführung des Kraftbegriffs geht man dann von der Kinematik zu der (Klassische) Mechanik (aus den Newtonsehen Principia) über, und diese Hierarchie der Grundbegriffe und Axiome hat der alte Kant im Opus postumum offenbar zu übernehmen versucht. Er schreibt dort nämlich wiederholt, daß die ' Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft' als gänzlich a priori begründetes System von Sätzen über die Materie, sofern diese bloß das Bewegliche im Raum ist, den von ihm meistens als ' Lehre vom Ü bergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik' bezeichneten ' Physiologischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft' vorangehen sollen, die er in seinem Elementarsystem 4 [vom Oktober (?) Dezember 1798] wie folgt eingeführt hat (XXII 1 66.25- 1 8): »Es ist [aber] noch ein zweyter Begriff der Materie über den [ ... ] des Bewegli­ chen im Raume, da nämlich Materie das Bewegliche im Raume bedeutet sofern es an sich selbst (per se) bewegende Kraft hat. Weil nun die Begriffe von diesen bewegenden Kräften a priori, d. i. vor der Etfahrung müssen gegeben seyn, um zur Physik gebraucht werden zu können und für sich ein System ausmachen müs­ sen, so wird dieses einen besonderen Theil der allgemeinen Naturwissenschaft (philosophia naturalis) ausmachen, der nach form alen Principien den Ü bergang von den metaphysischen Anf[angs] Gr[ünden] d[er] N[ atur] - W [issenschaft] zur Physik durch gewisse Urbegriffe (von bewegenden Kräften) vermittelt, weil sonst das Fortschreiten von der Metaphysik zur Physik ein Sprung von einem Territori­ um der Wissenschaft zum andern über eine Kluft seyn würde , der ihrer notwendi­ gen systematischen Verknüpfung zuwieder wäre. [ ... ] Um von der Metaphysik zur Physik vermittelst des Systems der bewegenden Kräfte hinüber zu kommen, [wer­ de ich dieses also] unter dem Nahmen eines Systems der allgemeinen physiologi­ -

schen Anfangsgründe der Natutforschung zwischen d[ie] Metaphysik und die

Physik stellen und so drey Atten von Anfangsgründen von Naturwissenschaftli­ chen Systemen in stufenattiger Verbindung aufstellen.« Während der Phase, der das Lose Blatt Leipzig 1 zuzuordnen ist, zerfällt die fortentwickelte Lehre aus den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissen­ schaft demnach genauer in die mathematischen Anfangsgründe der Naturwissen­ schaft (bei denen es sich im wesentlichen um eine transzendentalphilosophisch überformte Version einiger Sätze aus dem B uch I der Newtonsehen Principia handelt), in die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (im enger­ en Sinne), die ein reines, a priori aus Begriffen (und nicht wie die mathematischen Anfangsgründe aus der Konstruktion von Begriffen) gewonnenes Lehrsystem sein sollen (siehe Entwurf No. 1 , XXI 1 6 1 .3- 1 4 [September bis Oktober 1798] ; dazu

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veiWeise ich ergänzend auf meine Ausführungen zu dieser Differenzierung in dem Aufsatz über »Eine neu aufgefundene Reflexion Kants zur Mathematik«, S. 24 1 253), i n dem e s inhaltlich u m die Materie geht, insofern diese bloß das Bewegli­ che im Raum ist. Den Ü bergang von dieser a priori begründeten Disziplin zur Physik m it ihren empirisch zu ermittelnden Gesetzen sollen dann als eine von je­ der Willkür freie Verbindung die physiologischen Anfangsgründe der NatuiWis­ senschaft vermitteln, das Kant im Elementarsystem 4 als ein ' System von Urbe­ griffen von bewegenden Kräften' bezeichnet hatte. Wenn man die Ausführungen zum Begriff der ' innerlich' oder ' dynamisch' bewegenden Kräfte aus dem Losen Blatt Leipzig 1 durchgeht, fällt auf, daß dieser Terminus nicht so recht zu den Kräften paßt, die nach diesem Manuskript aus Kants Nachlaßwerk und vielen andern Textstellen aus dem Opus postumum die Stabilität der einfachen Maschinen bewirken; denn sie ' bewegen' überhaupt nichts; aber nichtsdestoweniger werden sie von Kant als ein typisches Beispiel für die innerlich bewegenden Kräfte angeführt. Diese Diskrepanz dürfte dadurch zu erklären sein, daß Kant versucht hat, seine Ü berlegungen zum Problem der ' ur­ sprünglich bewegenden Kräfte' , die sich bis hin zu seiner Erstlingsschrift zurück­ verfolgen ließen, in seine erst sehr viel später konzipierte Lehre von einem will­ kürfreien Ü bergang von seiner a priori entwmfenen Naturphilosophie zur em­ pirisch fundierten Physik der NatuiWissenschaftler zu integrieren. Wie schon er­ wähnt, liegt seinen Bemühungen um eine Lösung des zuletzt genannten Problems im Opus postumum nämlich stets der Gedanke zu Grunde, daß alle Vorgänge, die der Physiker beschreibt, in Prozessen fundiert sind, die in einer ' HinteiWelt' ab­ laufen. Dabei handelt es sich jedoch weder um den Bereich der Dinge an sich aus dem mundus intelligibilis noch um die Atome und Moleküle der newtonischen Physik (oder gar der Physiker von heute). S ie wird vielmehr aus einer von Kant als Äther oder Wärmestoff bezeichneten Organisationsform der Materie gebildet, in der diese ganz anderen Gesetzen folgen soll als die von der newtonischen Phy­ sik erfaßten materiellen Strukturen von der Art der Körper oder der Moleküle, aus denen diese aufgebaut sind. Diesen Äther kann man also nur ex hypothesi er­ schließen, wobei Kant genauer unterstellt (oder besser hofft), daß man ihn samt seiner Eigenschaften ganz zwanglos von zwei Seiten her bestimmen kann. Zum einen fordern gewisse makroskopische Phänomene nämlich zu dem Schluß her­ aus, daß es eine sinnlich nicht wahrnehmbare Form der Materie gibt, die den frag­ lichen Strukturen und Prozessen aus unserer Umwelt fundierend zu Grunde liegt; aber solchen Schlüssen kommt nach Kant letztlich allenfalls eine propädeutische Funktion zu ; denn die Existenz desselben ' Äthers' soll sich seiner Ansicht nach auch aus Prämissen deduzieren lassen, die a priori ermittelbar sind. Kant war offenbar früh davon überzeugt, daß es in der Natur Kräfte gibt, die in der Lage sind, den Bewegungszustand eines Körper zu verändern, ohne daß dieser dabei zugleich von einem schon bewegten Körper angestoßen wird. Ich habe be­ reits darauf hingewiesen, daß er eine solche Kraft in seiner A llgemeinen Naturge­ schichte und Theorie des Himmels dem Feuer zuschreibt, und die nachfolgend angeführte Passage aus den Träumen eines Geistersehers sind für die Vorge-

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schichte seiner Lehre aus dem Opus postumum nicht weniger aufschlußreich; denn Kant erklärt dort (II 329. 1 4-33 1 .29): »Die todte Materie, welche den Weltraum erfüllt, ist ihrer eigenthümlichen Natur nach im Stande der Trägheit und der Beharrlichkeit in einerlei Zustand. Sie hat Solidität, Ausdehnung und Figur, und ihre Erscheinungen, die auf allen diesen Gründen beruhen, lassen eine physische Erklärung zu, die zugleich mathematisch ist und zusammen mechanisch genannt wird. Wenn man andererseits seine Acht­ samkeit auf diejenige Art Wesen richtet, welche den Grund des Lebens in dem Weltganzen enthalten, die um deswillen nicht von der Art sind, daß sie als Be­ standtheile den Klumpen und die Ausdehnung der leblosen Materie vermehren, noch von ihr nach den Gesetzen der Berührung und des Stoßes leiden, sondern vielmehr durch innere Tätigkeit sich selbst und überdem den todten Stoff der Na­ tur rege machen, so wird man, wo nicht mit Deutlichkeit einer Demonstration, doch wenigstens mit der Vorempfindung eines nicht ungeübten Verstandes sich von dem Dasein immaterieller Wesen überredet finden, deren besondere Wir­ kungsgeset� pneumatisch [ . . ] genannt werden (II 329. 1 4-30).« Aus diesen Zeilen geht hervor, daß Kant im Jahre 1 766 in der unbelebten Na­ tur im wesentlichen ein Aggregat von trägen Massen sah, die aufeinander nur einwirken können, wenn sie sich berühren oder stoßen. Dieser im Prinzip cartesi­ schen Weltdeutung oder ' physischen Erklärung, die zugleich mathematisch ist und zusammen mechanisch genannt wird' , würde nach der Lehre aus dem LBL 1 eine Physik entsprechen, die sich auf mathematische Anfangsgründe der Naturwissen­ schaft stützt und ansonsten nur ' nachfolgend bewegende Kräfte' in Betracht zieht. Nach Kants Ausführungen in seinen Träumen eines Geistersehers genügt eine solche Physik jedoch nicht, um alle in unserer Umwelt ablaufenden Prozesse zu beschreiben; denn die Lebewesen werden offensichtlich nicht bloß herumgesto­ ßen . Sie m achen augenscheinlich ' nicht nur sich selbst, sondern auch den toten Stoff der Natur durch innere Thätigkeit rege ' , und mithin scheint es neben den toten Körpern noch gewisse ' immaterielle Wesen ' zu geben, die immer wieder neue Bewegungen in die Welt bringen. In seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels hatte Kant die Frage, wie nach einem Kollaps des Kos­ mos ohne jeden wunderbaren Anstoß von Seiten Gottes ein neuer kosmogonischer .

Prozeß in Gang kommen kann, mit einem Hinweis auf die Kraft des Feuers ge­

antwortet, während er im Falle der Frage, wie es im Bereich der Lebewesen spon­ tan zu einer weder durch den Druck noch die Berührung von trägen Massen hervorgerufenen Bewegung kommen kann, auf die Existenz von immateriellen ' Geistern ' schließt, die pneumatisch wirken; aber wie schon in den oben zitierten Zeilen anklingt, hat dieses Argument für ihn nicht die Deutlichkeit einer Demon­ stration, und im weiteren Verlauf der Bemerkungen zu den Träumen e ines Gei­ stersehers wird klar, wie ungern Kant in dieser Hinsicht seinem ' Vorempfinden' gefolgt ist. Er schreibt nämlich nur wenig später (II 330. 1 6-33 1 .29): »Indem man denn auf solche Weise alle Principien des Lebens in der ganzen Natur als so viel unkörperliche Substanzen [zum Teil nur] untereinander in Ge­ meinschaft, aber auch zum Theil mit der Materie vereinigt, zusammennimmt, so

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gedenkt man sich ein großes Ganze der immateriellen Welt, eine unermeßliche, aber unbekannte Stufenfolge von Wesen und thätigen Naturen, durch welche der todte Stoff der Körperwelt allein belebt wird. B is auf welche Glieder aber der Natur Leben ausgebreitet sei, und welche diejenigen Grade desselben seien, die zunächst an die völlige Leblosigkeit grenzen, ist vielleicht unmöglich jemals mit S icherheit auszumachen. [ . . . ] Das ungezweifelte Merkmal des Lebens an dem , was i n unsere äußere Sinne fällt, ist wohl die freie Bewegung, die d a blicken läßt, daß sie aus Willkür entsprungen sei. [Im übrigen] ist die Berufung auf immateriel­ le Prinzipien [aber] eine Zuflucht der faulen Philosophie und darum auch die Er­ klärungsart in diesem Geschmacke nach aller Möglichkeit zu vermeiden, damit diejenigen Gründe der Welterscheinungen, welche auf den Bewegungsgesetzen der bloßen Materie beruhen, und welche auch einzig und allein der Begreiflichkeil fähig sind, in ihrem ganzen Umfange erkannt werden.« Diese Zeilen verraten, daß Kant sich nicht nur während der Arbeit an seiner A llgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels mit der Frage befaßt hat, wie ein System von trägen Massen ohne jeden Anstoß durch einen anderen Kör­ per in Bewegung gesetzt werden kann. Vor der Ausarbeitung seine � kritischen Philosophie mit ihrer strengen Trennung des mundus sensibilis vom mundus intel­ ligibilis ließ er dabei im Falle der Lebewesen noch den Eingriff von immateriellen Pneumata zu, während im Opus postumum ein materieller Äther, der weder im mundus sensibilis noch im mundus intelligibilis einen rechten Platz hat, als Sitz der ' inneren bewegenden Kräfte' gilt. Wie ich bereits anmerkte, zeigt das Beispiel der die Festigkeit eines Hebels fundierenden ' innerlich bewegenden' Kräfte nicht, warum sie ' bewegend' heißen, aber eine andere Passage aus dem LB Leipzig 1 l äßt zusammen mit Parallelstellen aus dem Opus postumum erkennen, daß Kant mit den Kräften, die er dort als ' innerlich bewegend ' bezeichnet hat, immer noch diejenigen Kräfte meinte , der die in der Welt beobachtbaren Bewegungsimpulse, deren bloßen Austausch die vom alten Kant mechanistisch gedeutete Physik aus den Principia von Newton beschreibt, ihr ursprüngliches Entstehen verdanken. Gleich zu Beginn des LBL 1 erklärt Kant nämlich ( 1 .02- 1 .06) : ' Mathematische Principien der Naturwissenschaft. [Sie handeln] von der Ma­ terie, so fern diese blos in Bewegung ist. [Die] Principien a priori ihrer Gesetze [ fundieren die Lehre von den] Centralkräften, [vom] Licht, ( [vom] Schall) und [von der] Undulation auf der Oberfläche [von Flüssigkeiten] . ' Soweit ich sehe, werden die i n diesen Zeilen des LBL 1 erwähnten physikali­ schen Phänomene in dieser Kombination sonst nur noch in den Entwürfen a und c sowie im Elementarsystem 6 als Beispiele für das Wirken von Kräften angeführt, die sich ganz im Rahmen der mathematischen Anfangsgründe der Naturwissen­ schaft behandeln lassen. Diese Stellen enthalten außerdem einen wichtigen Hin­ weis auf die wissenschaftstheoretische Deutung der Newtonsehen Principia durch den alten Kant, und daher führe ich im folgenden zunächst noch einige Zeilen aus dem Elementarsystem 6 an (XXII 190. 1 6-25): »Es dringt sich aber in das System der Naturwissenschaft [neben den der in­ nerlich bewegenden Kräfte] noch ein [weiterer] Begriff von bewegenden Kräften

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der Materie, [der] auf einen besonderen Titel von Anfangsgründen, nämlich den ... mathematischer Anf[angs] Gr[ünde] der N[atur-] W[issenschaft] Anspruch [macht] , wovon Newtons unsterbliches Werk ein glänzendes Beyspiel gebe, ob­ gleich diese Betitelung (philosophiae naturalis principia mathematica) in der That mit sich selbst im Widerspruch steht. Beyspiele hievon giebt in [Newtons] ge­ nanntem Werke die Lehre von den Centtalkräften durch Anziehung (Gravitation) [so wie] durch Abstoßung (Licht und Schall) und der Wellenbewegung flüßiger Oberflächen (Oscillation).« Zum besseren Verständnis dieser Stelle ergänze ich sie noch durch das Zitat einiger Zeilen aus dem Entwurf c; denn dort erklärt Kant (XXI 286. 1 9-287.4; dazu vergleiche man ergänzend Entwurf a, XXI 479.3-5, sowie die Zeilen XXI 505. 101 6 auf einem von Kant mit 1 signierten Halbbogen) : »Wenn [ ... ] von mathematischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (wie in Newtons philosophiae naturalis principia math[ematica] ) geredet wird, so werden da die bewegende[n] Kräfte als zur Physik gehörend - [also] z. B. Gravitation [oder] Licht, Schall und Wasser bewegend[e Kräfte] - vorausgesetzt, und es wird nicht, wie die Bewegung aus den bewegenden Kräften, sondern wie gewisse Kräfte aus der Bewegung entspringen (z. B. bey den Centralkräften im Kreise bewegter Kör­ per), gelehrt.« An diesen Zeilen wirkt heute auf den ersten Blick verblüffend, daß Kant die Gravitation darin (samt aller anderen anziehenden oder abstoßenden Zentralkräf­ ten) als einen sekundären Effekt deutet, der nur deshalb zu einer Bewegung von Materie führen kann, weil andere Materie bereits in Bewegung ist (siehe auch Entwurf No 2 [September - Oktober 1798], XXI 1 66.29- 1 67 . 1 7 und 170.6- 1 6). Darauf hat auch schon V. Mathieu aufmerksam gemacht; aber seine Antwort auf die damit implizit gestellte Frage muß meiner Ansicht nach ergänzt werden. Mathieu vermutet nämlich (Kants Opus postumum, S. 78), daß die Gravitation nach Kant keine primitive (bzw. innere bewegende) Kraft der Materie sein kann, weil sie eine schon vorhandene wägbare Materie voraussetzt, doch das ist ein Aspekt der Gravitation, der im Zusammenhang mit Kants soeben angeführten Ausführungen schwerlich von Belang ist. Wie ich weiter oben bereits andeutete, dürfte Kant statt dessen im Alter zu einem Anhänger der nach dem Erscheinen von I. Newtons Principia (vor allem auf dem Kontinent) weitverbreiteten und ihm u. a. aus dem Versuch einer Cosmologie des engagierten Newtonianers P. L. M. de Maupertuis bekannten Vorstellung geworden sein, nach der die formal durch ein 1/r2 - Gesetz beschreibbare universelle Massenattraktion mechanistisch als Mitführeffekt irgendeiner subtilen, die makroskopischen Körper anstoßenden Materie deutbar ist (dort S. 6 1 -62; dazu verweise ich ergänzend auf meine Aus­ führungen zu diesem Themenkreis in der Monographie Physik und Physikotheo­ logie des jungen Kant, S. 570-573), und ganz in diesem Sinne schreibt Kant im Entwurf No 3 (XXI 352. 1 1 - 1 2), daß »Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica [ . . ] blos das Formale der bewegenden Kräfte enthalten«. Nach den soeben diskutierten Zeilen soll dem Äther oder Wärmestoff offenbar eine die Objekte der Physiker im wahrsten Sinne des Wortes ' bewegende ' Kraft .

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zukommen. Dabei wurde die Hypothese, nach der ein solcher Äther existiert, damit begründet, daß man sonst gar nicht die Entstehung von gewissen Prozessen in der Welt um uns erklären könnte, doch das reicht nach Kant für eine Fundie­ rung seiner physiologischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft nicht aus. Genauer gesagt wäre das eine Amphibolie von einer ähnlichen Art, wie sie seiner Ansicht nach A. G. Kästner im Rahmen seiner Ausführungen über den Hebel un­ terlaufen ist; denn er schreibt dazu im Losen Blatt Leipzig 1 : 'Amphibolie ist die Verwechselung des Prim ären m it dem Sekundären der Begriffe [und mithin der Fehler] , in einem System die letztere[n] als Prinzipien den ersteren vorauszusetzen (z. B . die Wirkungen den Ursachen [oder auch] ) das mechanische Prinzip dem dynamischen und nicht umgekehrt unter zu legen. [Der zuletzt genannte Fall liegt vor, wenn m an ] die mechanisch bewegende Kraft des Hebels der dynam ischen desselben als Prinzip zum Grunde [legt wie] z. B . Käst­ ner, [bei dem] das vitium subreptionis vorkommt, die subjektive Wägbarkeit zur Objektiven zu machen. Ohne eine die Körper durchdringende und innerlich bewe­ gende Materie ( [wie den] Wärmestoff) kann die Maschine die äußerlich bewegen­ de Kraft nicht haben. Die mechanische Wägbarkeit kann [also] nur durch eine imponderable Materie bewirkt werden (LB 4. 01 -4. 1 7) [doch] die Existenz eines solchen alle Körper in Substanz durchdringenden hypothetisch a priori zu postu­ lierenden Stoffes gehört zum Ü bergange von den Metaphysischen Anfangsgrün­ den [der Naturwissenschaft] zur Physik und muß nicht [wie] zur Physik gehörig aus empirischen Prämissen abgeleitet werden (LB 2.24-2. 28) . ' Zur Deutung dieser Zeilen ziehe ich eine Passage aus dem Entwurf B vom August 1 799 - April l 800 heran, in der Kant erklärt (XXII 3 1 5.22-28): »Das wägbare kann zwiefach verstanden werden: subjectiv, daß die Waage als Maschine ein Mittel zu[r] Findung des Gewichts ist - wobey die cohaesibilitaet auch vorausgesetzt wird, oder objectiv, daß es Materie gebe, welche kein Gewicht enthält. [Eine] Amphibolie der Reflexionsbegriffe [läßt sich vermeiden, wenn man beachtet, daß dasjenige] , was für den Verstand allein gilt, nicht als Sinnenobjekt beurtheilt werden muß u[nd] vice versa. « I c h habe oben bereits darauf hingewiesen, daß Kant mit seinen Ü berlegungen zur Theorie der Waage bzw. der Gewichtsbestimmung aus den Zeilen 2.0 1 -2. 1 0 des Losen Blattes Leipzig 1 a n A. G. Kästners Ausführun g en z u diesem Thema anzuknüpfen versucht. In den Zeilen LB 4. 01 -4. 1 7 moniert er nun, daß Kästner bei seinem Versuch, die Wägbarkeit der Körper zu begründen, ein methodischer Feh­ ler unterlaufen ist. Nach Kant muß ein mechanisches und damit sekundäres Prin­ zip wie die Möglichkeit, das Gewicht von makroskopisch registrierbaren Körpern mit einer B alkenwaage zu bestimmen, in einem dynamischen und damit primären Prinzip fundiert sein, wofür im Fall des Wiegens seiner Ansicht nach nur eine sel­ ber imponderable Materie in Frage kommt. Nach Kants Erläuterungen aus dem Entwurf B wäre dann erklärt, was unter dem Begriff der Wägbarkeit objektiv zu verstehen ist. Dage g en hat A. G. Kästner im Rahmen seiner Beweise für die Re­ gel, nach der man den Hebel (bzw. die Waage) als Maschine zur Bestimmung des

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Gewichts verwenden kann, immer nur Sätze und Begriffe der Newtonsehen (bzw. Klassischen) Mechanik benutzt. Dabei setzte er außerdem voraus, daß der Hebel (bzw. der Waagebalken) ' unbiegsam ' ist, und somit hatte Kästner nach Kants Er­ läuterungen aus dem Entwurf B nur erklärt, was subjektiv unter dem Begriff der Wägbarkeit verstanden werden soll. Wie ich bereits angeführt habe, hat Kästner allerdings noch nebenher erklärt, daß Hebel (bzw. B alkenwaagen) nur funktionieren können, wenn ihre Teile ' durch Festigkeit zusammenhän gen ' , wobei er seinen Lesern empfiehlt, die He­ belstange bzw. den Waagebalken als eine Folge von Scheibchen aufzufassen, die mit Hilfe einer ' durch ihren Mittelpunkt geführten dünnen Stange oder den Zu­ sammenhang verbunden sind, welcher die Festigkeit der Körper verursacht' (siehe A. G. Kästner, Anfangsgründe der angewandten Mathematik, Teil li, S. 5-6). Kästner hat die ' Kraft' , die der Hebelstange bzw. einem Waagebalken die Fe­ stigkeit verleiht demnach (allenfalls) ' aus empirischen Beweisgründen abgeleitet' . Damit war ihm nach Karrt jedoch ein vitium subreptionis unterlaufen; denn seiner Ansicht nach hat Kästner (de facto) versucht, den Begriff der objektiven Wägbar­ keil einzuführen, und dazu hätte er die Kräfte, die den Zusammenhang der einfa­ chen Maschinen von der Art des Hebels stiften, (nach Karrt) a priori im Rahmen einer Lehre von Übergang von den Metaphysischen Anfangsgründen der Natur­ wissenschaft zur Physik einführen müssen. Derselbe Fehler würde vorliegen, wenn man von der Beobachtung, daß es in unserer Umwelt einen Austausch von Impulsen gibt, auf die Existenz des (oder eines) Äthers schließt, der diese Impulse irgendwann einmal entstehen ließ. Wie Kants fragmentarische Ausführungen in den Zeilen 1 .27- 1 .30 aus dem LBL 1 andeuten, müßte statt dessen a priori be­ stimmt werden, daß dem Äther eine die newtonseben Zentralkräfte oder die Kräf­ te, deren Wirkung sich als Licht bzw. Schall manifestiert, fundierende ' objektive facultas locomotiva' zukommt; aber soweit ich sehe, sucht man eine solche De­ duktion im Opus postumum vergeblich. Im Fall der Materie, die der Sitz der Kräf­ te sein soll, die den einfachen Maschinen von der Art der Waage ihre Stabilität verleihen, schien das Kant dagegen möglich; denn er erklärt in den Zeilen 2.072. 1 0 aus dem LBL 1 : » [Die Wägbarkeit bedarf der inneren bewegenden Kraft] einer imponderablen Materie; denn wäre [diese] wiederum ponderabel, so würde dieser Begriff der bewegenden Kraft im Cirkel schließend seyn.« Kant versucht hier unabhängig von jeder empirischen Erfahrung zu begründen, daß die Materie nicht nur in der uns aus der direkten Erfahrung bekannten Form existiert. Seiner Ansicht nach erfordert schon die bloße Wägbarkeit der uns ver­ trauten Formen der Materie, daß es außerdem noch eine imponderable Materie geben muß, die den Vorgang des Wiegens möglich macht, weil es auf einen Zir­ kelschluß hinauslaufen soll, wenn die fragliche Materie selber auch wieder ponde­ rabel wäre. Wie ich schon anmerkte, ist Karrt dabei ein Irrtum unterlaufen, doch das ist von ihm offensichtlich nicht bemerkt worden. Wie die Zeilen 2.2 1 -23 aus dem Losen Blatt Leipzig 1 andeuten, bereitete die Vorstellung von einer imponderablen Materie Karrt jedoch aus ganz andern Grün-

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den Schwierigkeiten; denn er schiebt dort ganz unvermittelt und überraschend die Bemerkung ein: »Eine solche Materie [wie der Wärmestoff] kann secundum quid impondera­ bel seyn, sofern sie in ihrem Element nicht schwer ist, aber als Materie überhaupt [kann sie] nie simpliciter [imponderabel sein] .« Kant betont in seinem Opus postumum wiederholt, d aß man die von ihm ein­ geführte subtile Materie, die er mitunter Äther, zumeist Wärmestoff aber manch­ mal auch Lichtstoff oder magnetische Materie nennt, selber niemals sinnlich wahr­ nehmen kann. Andrerseits fundierte dieser Äther bei ihm (und vielen seiner Zeit­ genossen) aber eine im Prinzip mechanistische Weltdeutung, und damit ist klar, daß er sich bei seinen Ausführungen über die Eigenschaften und das Verhalten dieser subtilen Materie immer wieder an Modellen aus der Sinnenwelt orientiert hat. Solange man mit einem solchen Äther nur einzelne Phänomene wie den Wärmetransport oder Wärmeaustausch zu erklären versuchte, fiel es gewöhnlich nicht schwer, ihm ad hoc die erforderlichen Eigenschaften zuzuschreiben. Kant suchte dagegen nach einem Ätherbegriff, der zu einer Deutung von nahezu allem und jedem taugt, und das hatte zwangsläufig zur Folge, daß er seinem Wärmestoff im Verlauf seiner Entwürfe aus dem Opus postumum immer wieder neue, nicht immer miteinander kompatible Eigenschaften zusprechen mußte. Ein Beispiel dafür bietet nicht zuletzt Kants Versuch, dem Äther die Eigen­ schaft der Imponderabilität zuzuschreiben. Wie ich oben erläuterte, darf sich der Äther nach seinen Überlegungen zur Theorie der Waage selber nicht abwiegen lassen , doch das kollidierte empfindlich mit einem allgemeineren Materiebegriff von Kant, unter den der Äther gleichfalls fallen soll. Nach seinen Ausführungen im Entwurf Deutsch Groß A wird die Ponderabilität als etwas vorgestellt, »was aller Materie eigen [ist] « (XXI 269. 1 8 [August bis September 1798]); denn was die »Quantität der Materie [ . . . ] betrifft, so wird man aller Materie absolute Wäg­ barkeit (ponderabilitas) beylegen müssen [weil das schon] im gegebenen Begriffe derselben [liegt] . Gleichwohl aber könnte es auch wohl eine respectiv impondera­ ble Materie im Weltraum geben, wenn diese nämlich ein Theil einer allerwarts ausgebreiteten ponderabelen Materie wäre, in welcher er selbst kein Gewicht zei­ gen würde, wie etwa das Wasser im Wasser nicht wiegt. Eine dergleichen hypo­ thetische Materie wollen wir einstweilen Äther nennen (XXI 268.3- 1 4).« Trotz des Hinweises aus den Zeilen 2.2 1 -23 scheint mir nicht sicher, daß Kant unter dem Äther im Losen Blatt Leipzig 1 immer nur eine subtile Materie verstan­ den wissen wollte, die nur secundum quid imponderabel ist. Sicher ist jedoch, daß die Imponderabilität dem Äther nach diesem Text a priori zugeschrieben werden kann, und wie Kant nicht nur im Opus postumum, sondern auch im LBL 1 betont, folgt daraus gleichfalls a priori , daß die fragliche Materie weitere Eigenschaften hat, durch die sie sich von der zu makroskopischen Körpern organisierten Materie unterscheidet. In den Zeilen 4. 1 6-24 aus dem LBL 1 erklärt er nämlich: ' Die mechanische Wägbarkeit kann nur durch eine imponderable Materie be­ wirkt werden. Eben zu derselben Hinsicht muß [diese] alldurchdringende Materie auch für sich selbst incoercibel seyn , weil sie sonst mechanisch-ponderabel seyn

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würde. - Sie muß auch incohäsibel seyn; denn der Zusammenhang ist die Anzie­ hung [bei] der Berührung, folglich [eine Anziehung] der Körper mit [und an] ihrer Oberfläche und also keine [die Körper, auf die sie einwirkt] , durchdringende Kraft [wie die innerlich bewegende Kraft der Materie, die dem Hebel seine Festigkeit verleiht] . - Endlich muß diese Materie auch inexhaustibel seyn . ' Kant hat den Terminus ' inkoerzibel ' , v o n dem im LBL 1 auch schon in den Zeilen 2. 1 1 -2. 1 7 die Rede war, im Entwurf No 3 wie folgt erklärt (XXI 358.3- 1 2 [September - Oktober 1 798]): »Eine Materie, die durch keinen Andern Körper, der sie einschließt, gehindert werden kann zu entweichen, heißt unsperrbar (incoercibilis), entweder blos bezie­ hungsweise auf gewisse andere sie anhaltende Materien (secundum quid) oder schlechthin in Ansehung aller (simpliciter), welches eine solche seyn würde, die eine jede Andere durchdringt und durch keine andere den Raum, den sie ein­ nimmt, einschließende Materie gehindert werden kann, sich über die Grenzen des­ selben weiter zu verbreiten. [ ... ] So denkt man sich die Wärmematerie«. Dazu sei noch ergänzend angemerkt, daß Kant in der ' magnetischen Materie' eine subtile Materie sah, die nur secundum quid incoercibel ist; denn im Okta­ ventwurf 14 merkt er an, daß »die Magnetische [Materie] als imponderabel ange­ sehen werden [muß, wiewohl sie] nicht absolut, sondern nur respectiv in Anse­ hung aller Materien ausser dem Eisen [inkoerzibel ist] « (XXI 388.8- 1 0 [April bis Oktober 1 79 8 ] ; siehe auch XXI 3 37 .4-5 [Notizen auf dem Umschlag des IV. Konvoluts; April bis Oktober 1798]). Für die problemgeschichtliche Einordnung dieser Zeilen ist der Hinweis von Brich Adickes darauf wichtig (»Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant«, S. 366), daß Kant spätestens seit der Abfassung seiner Magister-Dissertati­ on Meditationum quarundam de igne succincta delineatio (I 367-384) zu den überzeugten Anhängern einer damals in vielerlei Varianten verbreiteten Lehre gehörte, nach der die Wärmephänomene auf die Bewegung eines besonderen, nicht mit den Komponenten der makroskopischen Körper vergleichbaren Stoffes zurückführbar sein soll. Diese Hypothese, mit deren Hilfe sich für so viele beob­ achtbare Sachverhalte eine plausibel klingende Erklärung angeben ließ, daß die Vorstellung von einer besonderen Wärmematerie in der Physik des 1 8. Jahrhun­ derts »fast Alleinherrseherin gewesen [ist]« (E. Adickes, a.a.O., S . 346), neben der sich die Deutung der Wärme als kinetische Energie der Partikel, aus denen die Körper bestehen, zunächst nicht durchzusetzen vermochte, legt zusammen mit der Alltagserfahrung, nach der es nie gelingt, einen in einer kälteren Umgebung depo­ nierten Gegenstand auf Dauer vor der Abkühlung zu bewahren, den Schluß nahe, daß der fragliche Wärmestoff jeden Körper zu durchdringen vermag, ohne daß man ihn beliebig lange wie eine Wassermenge in eine Flasche sperren könnte. Ganz ähnlich schien die Emanation der magnetischen Materie, die man eingeführt hatte, weil man hoffte, mit ihrer Hilfe die Wirkung des Magneten mechanistisch deuten zu können, so gut wie alle Materialien außer dem Eisen, das (fast) als ein­ ziger Stoff die Wirkung von Magneten abschirmt, zu durchdringen, und somit konnte sie nach Kant immerhin als secundum quid incoercibel gelten.

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Nach Kants Ausführungen im Losen Blatt Leipzig m uß der imponderable Äther außerdem inkoerzibel sein, und im Entwurf No 3 a. [September - Oktober 1 798] begründet er sogar ausführlich, warum aus der Imponderabilität des den Maschinen Festigkeit verleihenden Äthers auf dessen Inkoerzibilität geschlossen werden kann und umgekeh1t; denn er schreibt dort: »Was imponderabel ist, das ist auch incoercibel. Denn setzet, es sey sperrbar, so würde es als Materie eine gewisse Quantität haben, deren Größe sich durch wägen müßte bestimmen lassen(XXII 255 . 1 1 - 14). Man kann [aber auch] ebenso umgekehrt sagen« (XXII 255. 1 1 ) : Was incoercibel ist, das ist auch imponderabel. Denn setzet es sey wägbar, s o würde es m i t seinem Gewicht auf eine Schale drücken, welche seinem Drucke, mithin auch dem Durchgange durc h diese Schale wiedersteht und könnte durch einen solchen Körper gesperrt werden: also wäre es nicht incoerzibel« (XXII 255.7- 1 1 ) . I c h will hier nicht genauer diskutieren, ob Kants Schluß v o n der Sperrbarkeit einer Materiemenge auf deren Wägbarkeit im Rahmen seiner Naturphilosophie zwingend ist. Statt dessen merke ich nur an, daß das Phänomen des unaufhaltba­ ren Wärmeausgleichs jedenfalls anschaulich für die Inkoerzibilität des Wärme­ stoffes zu sprechen schien, und auch im Fall der Inkohäsibilität hat sich Kant si­ cher an der Erfahrung orientiert. Damit das klar wird, zitiere ich zunächst die fol­ gende Definition der Kohaesibilität aus dem Halbbogen 1 (XXI 509. 1 4- 1 5) : »Cohaesibilität ist die Anziehung der Materie i n ihren Theilen sofern sie zu­ gleich starr ist [und das bedeutet, sofern] diese Theile dem Verschieben wieder­ stehen.« Den Teilen einer inkohaesiblen Materie fehlt somit jeglicher Zusammenhalt, und eben darauf spielt Kant in den Zeilen 2. 1 8-2.20 aus dem Losen Blatt Leipzig 1 an, nach denen die innerlich bewegende Materie »expansiv ist, worauf die Quali­ tät [einer] Flüssigkeit, die nur als negativ abstoßend gedacht werden darf, beruht«. Das impliziert nämlich, daß der Ä ther nach Kant eine amorphe, völlig gestaltlose Flüssigkeit ohne jeden Zusammenhang ist; denn nach seinen Ausführungen an andern Stellen aus dem Opus postumum ist eine flüssige M aterie »entweder blos expansiv flüßig (welche also dem Verschieben [ihrer] Theile gar nicht wieder­ steht), wie z. B . die Luft, oder attractiv flüssig, welche dem Verschieben blos auf der Oberfläche der Materie (in der Berührung mit dem leeren Raum) wiedersteht Die letztere ist die tropfbar flüßige Materie, z. B . Wasser, Quecksilber u [nd] d[ergleichen] m [ehr] (Entwuif � [Juli 1 797 - Juli 1 798], XXI 2 54.30-255.4).« Kant hat sich bei der Einführung des Terminus inkohäsibel also an dem Ver­ halten der damals allenthalben zu den Flüssigkeiten gerechneten Gase orientiert, während nicht ohne weiteres einsichtig ist, warum »ein Negativflüßiges seyn [muß] , was incoercibel ist, welches als alldurchdringende Materie dem vectis die Starrigkeit giebt, durch d [ie] er die Wägbarkeit möglich macht. Die positiv flüssi­ ge Materie, welche ponderabel und tropfbar ist, ist [dagegen] coerzibel (Entwurf A, Elementarsystem 4 [Oktober (?) - Dezember 1 798] , XXII 588. 1 -4). Bevor ich auf die Frage eingehe, mit welchen Argumenten Kant dem Äther

Das Lose Blau Leipzig 1

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oder Wärmestoff die Eigenschaft der Inkohaesibilität zuschreibt, führe ich noch seine Definition der Inexhaustibilität aus dem Entwurf A Elemen tarsystem an. Danach ist alle Materie entweder »exhaustibel oder inexhaustibel der Möglichkeit oder Unmöglichkeit nach, einen gewissen Raum an der ihn erfüllenden Quantität der Materie auszuleeren oder die Beharrlichkeit derselben in eben derselben Raumesgröße (XXI 202. 1 3- 1 6)«. Kant könnte sich dabei an dem Phänomen orientiert haben, daß es nie gelingt, einem Körper allen 'Wärmestoff zu entziehen; denn bei dem Versuch, die Tempe­ ratur eines Körpers zu senken, kommt man nie an eine untere Grenze ; aber auch in diesem Fall ist nicht so ohne weiteres klar, warum dem Äther die Eigenschaft der Inexhaustibilität a priori zukom men soll. Bei dem Versuch, diese Frage zu beant­ worten, muß berücksichtigt werden, daß Kant die Liste mit den Eigenschaften sei­ nes Wärmestoffs oder Äthers ganz unabhängig von aller Erfahrung zusammenstel­ len wollte . Daher mußte es für ihn nahe liegen, bei der Lösung dieses Problems von der Einteilung der Urteile in vier Klassen aus der Urteilstafel auszugehen, die ihm in seiner Kritik der reinen Vernunft als Leitfaden bei der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe gedient hatte (siehe KdrV, III 986.23-95 . 1 0), und ganz in diesem Sinne erklärt Kant im Entwurf No 3 ö (XXII 530.26-53 1 . 1 1 [September - Oktober 1798]): »Man kann sich die bewegende[n] Kräfte der Materie, die ihrer Natur anhän­ gen, a priori nach gewissen thätigen Bestimmungen (functiones) modifici rt den­ ken, nach welchen sie im Raume bewegend sind, ohne daß noch ausgemacht wird, ob sie wirklich in der Welt angetroffen werden möchten oder nicht und sie in einer logischen Eintheilung aufstellen, von der man es allenfalls, ob sie vollstän­ dig sey oder nicht, unausgemacht lassen kann. Dahin gehören folgende problema­ tische, einander entgegengesetzte Urtheile : Eine gegebene Materie ist [ . . . ] der Quantität [nach] ponderabel oder imponderabel, [der] Qualität [nach] coercibel [oder] incercibel, [der] Relation [nach] cohäsibel [oder] incohäsibel [und der] Modalität nach] exhaustibel [oder] inexhaustibel.« Wie Kant in einer Randnotiz zu diesem Tableau betont, ist diese 'Antizipation de r Naturforschung nach den Kategorien' für sich betrachtet nur problematisch. Im Falle der Imponderabilität glaubte Kant außerdem a priori beweisen zu kön­ nen, daß diese Eigenschaft dem Äther zukommt, und nach demselben Muster hat er schließlich alle vier oben erwähnten Eigenschaften des Äthers zu deduzieren versucht; denn er schreibt dazu im Entwurf A Elementarsystem 6 aus dem Opus postumum (XXII 607 . 20-608.3 [Januar - Mai 1 799] ): »Es muß eine Materie seyn, durch welche die practische Wägbarkeit möglich ist, ohne für sich ein Gewicht zu haben, die Sperrbarkeit, ohne äußerlich coercibel zu seyn, die Cohäsion, ohne innerlich zusammenzuhängen, endlich die Erfüllung aller Räume der Körper ohne Erschöpfung oder Verminderung dieses alldurch­ dringenden Stoffs, und zwar darum, weil alle mechanisch, d. i . äußerlich bewe­ gende[n] Kräfte als Erscheinungen nur durch die dynamische[n] möglich sind und

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dieser ihre Wirkung die Erfahrung möglich macht. Die Materie mit dieser ihrer ursprünglich und unabläßig agitierenden Kraft (Wärmestoff genannt ohne doch hiebey eine gewisse Wirkung aufs Gefühl dabey einzumischen), wird hier nach einem Princip a priori, d. i. der Nothwendigkeit dieser Bewegungen nicht als hy­ pothetischer Stoff, sondern als solcher, mit dessen als eines absoluten Gantzen Anziehung und Abstoßung aller seiner Theile die Bewegung uranfanglich anhebt (welcher Zustand weiter nicht erklärlich ist), postulirt.« Diese Zeilen, die einer etwas späteren Zeit angehören als das Lose Blatt Leip­ zig 1 , sind für dessen problemgeschichtliche Einordnung unter mehreren Aspekten von Interesse. Zum einen verraten sie, daß sich Kant bis in die letzten Phasen sei­ nes wissenschaftlichen Denkens mit der Frage befaßt hat, wie die Bewegung ' ur­ anfänglich in die Welt gekommen ist' , wobei er am Ende einsehen mußte, daß die Einführung einer subtilen Materie wie des Ä thers die Frage auch nicht beantwor­ tet, sondern allenfalls um einen Schritt zurückverlegt. Zum andern zeigt sich, daß Kant schließlich glaubte, seinem Wärmestoff oder Äther, der alle physikalischen Phänomene und Prozesse fundieren soll, bei denen stets Materie in der Form von ponderablen, sperrbaren, (zumindest minimal ) zu­ sammenhängenden und aus einem ganzbestimmten Raumstück vollständig ent­ fernbaren S trukturen auftritt, a priori die zu den eben angeführten Eigenschaften kontradiktorischen Eigenschaften der Imponderabilität, der Inkoerzibilität, der Inkohäsibilität und der Inexhaustibilität zusprechen zu können bzw. zu müssen, ' weil der Begriff der bewegenden Kraft sonst im Zirkel schließend sein würde ' (siehe LBL, 2.09-2. 1 0) . Wie ich bereits erläutert habe, ist dieses Argument jedoch unhaltbar. Die Struktur und die Eigenschaften der Träger der Mikroprozesse, der­ en Wirkung gewisse Makrophänomene um uns sein sollen, lassen sich also wei­ terhin nur induktiv - empirisch gewinnen, ohne daß auch nur ansatzweise zu er­ kennen wäre, wie sie rein a priori bestimmt werden könnten, und somit muß Kants Versuch, die Naturwissenschaften so zu fundieren, daß die Art, in der m an die Welt naturwissenschaftlich zu deuten hat, a priori und damit eindeutig bestimmt ist, als gescheitert gelten. Literatur Adickes, Erich: K.ants Opus postumum. Kant-Studien, Erghft. Nr. 50. B erlin 1 920. -: Zur Lehre von der Wärme von Fr. B acon bis Kant, Kant-Studien, 27, 1 922, 328-368. - : Kant als Naturforscher. Bd. 1 - 2 , Berlin 1 924. Ammon, Christian Friedrich: Li neae primae matheseos in usum auditorii privati ductae. Regiomonti : Typis Reusnerianis 1 736. Archimedes: Opera omnia cum commentariis Eutocii.Vol. 1-III. Iterum edidit . L. Hei­ berg. Corrigenda adiecit E. S . Stamatis . Stuttgart 1 972. Korrigierter Nachdruck der 1 9 1 0- 1 9 1 5 in Leipzig erschienenen 2. Auflage ( 1 1 880- 1 8 8 1 ) . B orowski, Ludwig Ernst: Darstellung des Lebens und des Charakters Immanuel Kants. Siehe Groß, Felix (Hrsg.), Immanuel Kant. Buck, Friedrich Johann: Lebens-Beschreibungen derer verstorbenen Preußischen Mathe­ matiker überhaupt und des vor mehr denn hundert J ahren verstorbenen großen

Das Lose B latt Leipzig 1

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Preußischen Mathematikers P. Christian Otters insbesondere in zwey Abtheilungen glaubwürdig zum Druck befördert. Königsberg und Leipzig : verlegts seel. Joh. Heinr. Hartungs Erben und D. Zeise, 1 764. Groß, Felix (Hrsg): Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. B orowski , R. B. Jachmann und E. A. Ch. Wasianski . Darm­ stadt 1 974 ( 1 Berlin, 1 9 1 2 ; die Erstausgaben erschienen 1 804 in Königsberg). Hoppe, Hansgeorg : Kants Theorie der Physi k. Eine Untersuchung über das Opus postu­ mum. Frankfurt am Main 1 969. Kaestner, Abraham Gotthelf: Vectis et compositionis virium theoriam evidentius exposi­ tam sistit praelectionesque indicat [ . . . ], Lipsiae: Ex officina Langenheniana, 1753. - : Anfangsgründe der Mathematik. D e r mathematischen Anfangsgruende zweyter Theil. Zweyte , verbesserte Auflage. Göttingen: Im Verlag der Wittwe Vandenhoek, 1 765. Mach, Ernst: Die Mechanik historisch-kritisch dargestellt. Darmstadt 1 976 (unveränder­ ter Nachdruck der 9. Auflage von 1 933, 1 1 883). Maupertuis, Pierre Louis Moreau de : Versuch einer Cosmologie. Berlin: bey Christian Gottlieb Nicolai , 1 75 I (die frz. Originalausgabe erschien 1 750 ebenfalls in Berlin). Mayer, Johann Tobias: »Ob es nöthig sey, eine zurückstoßende Kraft in der Natur anzu­ nehmen [Rezension der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft von I. Kant] .« Abgedruckt aus dem Journal der Physik, Bd. 7 ( 1 793), 208-226 in: B. Tusch­ ling 1 97 1 , 208-2 1 5 . Mathieu, Vittorio: Kants opus postumum, hrsg. von Gerd Held. Frankfurt am Main 1 989. Newton, Isaac: Opticks, or a treatise of the reflections, refractions, inflections, and co­ lours of light. B ased on the fourth edition, London 1 730. With a foreword by Albert Einstein, an introduction by Sir Edmund Wittaker, a preface by I. Bernard Cohen, and an analytical table by Duane D. Roller, New York 1 952. Philosophiae naturalis principia mathematica. The third edition ( 1 726) with variant readings assemb1ed and edited by Alexandre Koyr� and I. Bernard Cohen, with the assistence of Anne Whitman. Vol. 1-11. Cambridge (Mass.) I Cambridge (Eng!.) 1 972. Schäfer, Lothar: Kants Metaphysik der N atur. Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie, Bd. IX. Berlin 1 966. Schaffer, Simon: The phoenix of nature: Fire and evolutionary cosmology in Wright and Kant. Journal for the History of Astronomy, Bd. 9 ( 1 978), 1 80-200. Stark, Werner: >>Transkription des Losen Blattes Leipzig 1 . « Forum für Philosophie B ad Hornburg (Hrsg.): Übergang. Untersuchungen zum Spätwerk Immanuel Kants. Frank­ furt am Main 1 99 1 , 1 46- 156. Tuschling, Burkhard: Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants opus postu­ mum. Quellen und Studien zur Philosophie, Bd. 3. Berlin I New York 197 1 . Warda, Arthur: Immanuel Kants Bücher. Mi t einer getreuen Nachbildung des bisher ein­ zigen bekannten Abzugs des Versteigerungskataloges der Bibliothek Kants. B erli n 1 922. Waschkies, Hans-Joachim : Physi k und Physikotheologie des jungen Kant. Die Vorge­ schichte seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Hi mmels. Bochumer Studien zur Philosophie, Bd. 8. Amsterdam 1 987. »Eine neu aufgefundene Reflexion Kants zur Mathematik (Loses Blatt Leningrad 2). « Brandt, Rei nhard I Werner Stark (Hrsg.): Kant-Forschungen, Bd. 1 . Harnburg 1 987. s . 266-278. »Wissenschaftliche Praxis und Erkenntnistheorie in Kants Opus postumum.« Forum für Philosophie B ad Hornburg (Hrsg.): Ü bergang . Untersuchungen zum Spätwerk Immanuel Kants. Frankfurt am Main 1 99 1 , 1 85-207.

PERSONENREGISTER

Nicht registriert sind die Literaturverzeichnisse. Für die Anfertigung danken Her­ ausgeber und Verlag Henn Stefan Dahlbüdding (Marburg). Adickes, E. : 42, 48, 1 2 3 , 1 2 8 , 1 5 8 , 1 63 f. , 1 90- 1 92, 200 f. , 2 1 0, 223 Aenesidemus: 1 5 1 , 1 52 Aenesidemus-Schulze : siehe Schulze, G.E. Agricola: 144 Ahrens: 1 39 Albrecht, Markgr. v. Brandenburg-Ansbach (Herzog von Preußen) : 93, 94 Albrecht, P.: 143 Ammon, Chr. Fr. : 205 Amontons, G . : 1 6 1 ff. Anton Ulrich, Herzog von B raunschweigWolfenbüttel: 145 Archimedes : 2 1 2 Aristipp: 27, 28 Aristoteles : 33 Armitage, A. : 1 73 Arnobius : 8 Arno1d, D. H. : 65 , 68, 69, 78, 96-98 Arnold, E. : 59 f., 62, 64, 82, 97, 1 23 Auerswald: 72 Augustinus: 1 0 Bacon, Fr. : 223 Baczko, L. von: 60, 73 B aum, M.: 27, 39, 1 2 1 , 1 30 B aumanns, P. : 1 2 1 B aumgarten, A . G . : 1 , 1 6 B ause, J . F. : 1 45 - 148 B arale, M.: 1 35 B arrow, 1. : 2 1 2 B artuschat, W. : 34 Basedow, Joh. B . : 1 03 , 1 5 1 Batteux, Ch. : 1 44 Bayer, 0 . : 148 Beck, J. S . : 152 Becker, E. : 1 50, 1 54 Becker, R. Z.: 26, 28 Bergcr, F.: 1 5 8 Bcrgi us, W. : 1 44

Bergmann, L. : 1 76, 1 90 Berrenhaucr, von: 83 Bielefcld, Baron von: 144 Biester, J. E. : 140, 1 54 Bloch, E. : 8 Blümner, H.: 8 Bock, F. S . : 65-67 Bodmer, Joh. J. : 1 48 Boerner: 83 Bohlius, J. Ch. : 68 Bonnet, Ch. : 5 Bornhak, C . : 78 B orowski, L. E. von: 58, 67 f. , 82, 98, 148 f. , 205 Boyle , R. : 1 7 1 , 1 73 , 1 76- 1 79 Brandt, R.: 1 , 47, 60, 62, 77, 92 Brinkmann, J . : 1 5 3 Brown, P. : 2 8 Buchda, G . : 1 09 Bucholtz: 72, 74 Buck, F. J.: 65 -67, 70 f., 73, 205 Buffon, G. L. L., Comte de: 1 5 , 1 6 Burgelin, P. : 8, 9 Burke, E. : 49 Campe, J. H.: 1 03 , 150 f. Capua, A. G. de : 144 Carl, W. : 4 f. , 121 ff. Cassini , J . : 1 76- 178 Celsius, A. : 1 67, 1 70 f. , 1 86 Cicero, M. T. : 96, 99 Christiani , C. A.: 65-67 Clasen, K. H. : 146 Clemens Alexandrinus: 8 Cohen, H.: 30 Colbert, J.-B . : 1 66 Crawford, D. W. : 54 Crusius, Chr. A. : 128 Cudworth, R. : 294

Personenregister

Daubler: 98 Descartes, R.: 1 , 3 , 9, 1 1 - 1 3, 173, 205 , 2 1 1 f. Detel , W. : 1 2 1 , 125, 1 30 Dewitz, H.-G . : 144 Diderot, D . : 1 0 Diederichs. J. Chr. W. : 83 Dietzsch, St. : 6 1 , 78 Dilthey, W. : 59 Diagenes Laertius: 28 Distel , T. : 146 Domsien, Chr. S.: 99- 1 0 1 Drescher, S . : 6 7 f. , 7 0 , 8 2 Ducret, S . : 1 39, 1 4 3 , 145 - 1 49 Durande: 45 Ebert, J. A. : 1 45 Eggebrecht, W. : 143, 1 54 Eiche , J. G . : 149 Elditten, E. L. von: 84 Ellendt, G . : 100 Engel, Joh. J . : 144 Epiktet: 8, 9 Epikur: 22, 24 f. , 43, 46 Erdmann, B . : 123 f., 1 26, 1 37 Erler, G.: 68, 1 0 1 Essers, V. : 1 45 f. Euchel, I. A.: 60 Eu1er, L. : 1 9 1 f. Euler, W. : 78 Fahrenheit, G. D.: 1 70 Fenelon, F. d. S. de 1a M. : 8 Ferretti, G . : 1 9 Flottwell, C. Chr.: 94 Forstreuter, K. : 60 Frank, M . : 6, 7 Franke, U.: 36 Fricke, Chr. : 3 1 -34 Friedrich II. (König von Preußen) : 9, 68, 7 1 , 144, 152, 1 64 Friedrich III. (Kurfürst von Branden­ burg, ab 1 70 1 Friedrich I. König von Preußen) : 73 Friedrich Wilhelm, (Herzog zu Braun­ schweig-Lüneburg-Oels): 150 f. Friedrich Wilhelm II. (König von Preu­ ßen) : 67 f., 87, 144 Friedrich Wilhelm III. (König von Preu­ ßen) : 73 Fromm, E. : 59, 64, 8 1

Gaede, F. : 144 Gajek, B . : 148 Galilei, G.: 205 Gallitzin, Fürstin von: 148 Garde, F. Th. de Ia: 21 Gassendi, P. : 24, 28 Gause, F. : 73 Gay-Lussac, J. L.: 179 f. Gehler, J. S. T. : 43, 45 Geliert, Chr. F.: 1 45 Genova, A. C . : 47 Gerresheim, E. : 1 5 , 1 5 3 Gerthsen, Chr. : 1 77 f. Gessner, S . : 1 45 Gleim, J. W. L.: 144 Goethe, J. W. von: 2 1 , 8 1 , 144, 1 50, 154 Goldbeck, J. F. : 92-94, 97, 100 , 1 05 Gradenwitz, 0 . : 82 f. Graff, A . : 147 Groeben, von der: 70, 74, 77, 99 Gross, F. : 98 Guerlac, H . : 1 73 Gulyga, A. : 146 Gurwitsch, A. : 2-4 Gusdorf, G . : 5 Gutowski : 60 Guyer, P. : 32, 37-4 1 , 45 , 50 f. Hadot, 1 . : 8 Hagedorn, F. von: 145 Hagenbach, K. R . : 150 Halbach, K. : 142 Haies, St. : 1 72 f. , 1 9 1 f., 2 1 4 Haller, A. von: 145 Halley, E.: 168 Hamann, J. G . : 9, 68, 72, 74, 148 Hamilton, Sir W. : 148 Harnack, A.: 68 Hartknoch, J. F. : 68 Haupt, J. T. : 140 Hedergott, B . : 1 39, 1 45 , 1 47 f. Hegel , G. W. F. : 30, 47 Heinsius, B . H . : 2 1 Heinze, M . : 1 4 Hempel, G . : 144 Henke, E. L. Th . : 1 5 1 , 1 5 3 Henke, H. Ph. K. : 1 5 1 Henrich, D.: 6 , 45 Helvetius, Cl . A . : 1 1 Herbert, M. von: 1 46 Hermias: 1 5 1

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Personenregister

Hertzberg, E. F., Graf von: 68 Hesse, M. B . : 1 90 Heusinger, von: 143 Hilschenz-Mlynek, H. : 1 39 f. , 143, 1 45 Hinsch, W. : 1 22 Hinske, N . : 1 54 Hintze, J. A. : 149 Hippe!, Th. G. (von) : 146, 1 54 Hire , Ph. de Ia: 2 1 2 Höffe, 0 . : 1 54 Holger, K. : 1 5 , 1 5 3 Holtzhauer, G. F. : 68 Holtzmann, G. H.: 1 49 Hoppe , H . : 208 f. Hossenfelder, M.: 130 Hubatsch, W. : 94 Humboldt, W. Frhr. von: 95 , 1 06 Hume, D . : 8 f. , 1 2 , 99, 148 Huygens, Chr. : 205

Knutzen, M. : 205 Köhler: 60 Koeppen, H . : 64 Kreutzfeld, J. G . : 60. 8 1 Kraus, Chr. J . : 5 9 f. , 63-67, 70, 72 Krause, Chr. G . : 1 44 Kreimendahl, L.: 2, 9 Kruse, J.: 147 Küthmann, C. : 1 39, 1 43, 1 45 - 1 49 Kulenkampff, J. : 47 Kuhn, Th. S. : 1 65 , 1 92 Kulstad, M.: 4, 1 3 Kypke, G . D . : 83

Jäsche, G. B.: 158 Jaki, St. L. : 1 5 Jachmann, J . B . : 2 1 Jachmann, R. B . : 5 8 , 60, 70, 9 8 Jaeschke: 144 Jedding-Gesterling, M.: 1 43 Jenisch, D . : 150 Jenisch, E. : 94 Jerusalem, J. F. W. : 1 45 , 1 50 Jerusalem, K. W. : 1 5 0 Jungesbluth, A. W. : 1 49

Lagarde, F. Th. de: 148 Lampe, M. : 6 8 Landau, A.: 128 Lange: 1 44 Langemack: 144 Leibniz, G. W. : 1 , 3-5, 1 3 , 1 45 , 148, 1 64 Lehmann, G . : 60, 1 5 8 f. Lempertz: 1 5 0 Leopold, Prinz v o n Braunschweig und Lüneburg : 148 Lessing, G. E.: 144, 1 45 , 148 Lessmann, J . : 145 Leutwein, Chr. Ph. : 2 1 Lindner, J . G . : 8 1 , ! 54 Lips, J. H . : 1 47 Locke, J . : 1 , 3-5, 9 f. , 1 2 f. , 22, 24, 28, 49, 1 35 Lorenz, A. : 1 39 f. , 1 43, 1 45 - 1 49 Ludwig, B . : 1 09- 1 1 9

Kaestner, A. G . : 1 99, 201 , 2 1 2 f., 220 f. Kant, 1 . : passim Kanter, Joh. J. : 1 54 Kar! I . , Herzog von Braunschweig : 1 39, 145 , 1 50 Kar! Wilhelm Ferdi nand, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: 1 48, 1 50, 1 52 f. Kelvin: 1 80 Kepler, J.: 2 1 , 205 f. Keil, G . : 1 46 Kiesewetter, J. G. C. Chr. : 54, 200 Kirchmann, J. H. von: 1 64 Kleist, E. Chr. von: 144 Klemme, H . : 1 2 8 Klinge, E.: 147 Knebel, K. L. von: 1 44

Maaß : 144 Mach, E.: 2 1 1 f. Mager, 1 . : 1 5 1 Mairan, J.-J. Dortous de: 2 1 Malter, R . : 60, 62, 84, 1 49, 1 54 Mahner, Justizrat: 1 5 3 Mangelsdorff, C. E. : 6 3 Mann, Th. : 4 1 Mannebach, E. : 28 Maraldi, G. F. : 1 76- 1 78 Maret: 45 Mariotte, E. : 1 68 , 1 7 1 , 1 73, 1 76- 1 79 Maron, A . : 147 f. Mason, S. F. : 1 92 Mathieu, V. : 208, 2 1 9 Maupertuis, P. L . Moreau de: 1 64, 208, 219

·

lffl and, A. W. : 1 44

Personenregister

Mayer, Joh. F.: 207 Mayne : siehe Pseudo-Mayne Meiners, Chr. : 92, 97 Meister, R.: 53 Melanchthon, Ph. : 93 Mendelssohn, M. : 1 0, 1 44 f. , 148, 1 54 Menzer, P. : 59 Meschkowski, H . : 144 Metzger, J. D . : 78 Middleton, W. E. K. : 1 64, 1 7 1 Molyneux, W. : 1 2 Mohr, G . : 1 22 Morgenstern, K.: 1 5 8 Mortzfeld, P. : 147 Morvenu, de : 45 Newman, M. : 1 39, 1 47 f. Newton, 1 . : 24, 1 72 f. , 1 76, 1 8 6 f. , 1 9 1 f., 202, 205 ff. Nicolai, Fr. : 144 Nicolovius, Fr. : 140 Noxon, J . : 9 Oest, J. A.: 1 47- 149 Osiander: 93 Orlovius, J. A . : 65 f. Ovid: 99 Paleikat, G.: 64 Paton, H. J. : 1 30 f. , 1 34 f. Pauen, M . : 8 Payen, J . : 1 63, 1 80 Persius: 6, 8 Petrich, H . : 1 43 Pester, Th. : 95 , 1 01 Philipp, W. : 2 1 Philippi, W. A . F. : 7, 9 Philippine Charlotte, Herzogin: 145 Platon: 2, 7, 10 f., 33 f. , 1 2 1 , 148 Plessing, J. Fr. : 60 Plutat-Zeiner, H. : 143 Pockels, K. F. : 1 50, 1 5 3 Poma, A . : 1 9 Protagoras: 1 1 Pseudo-Mayne : 1 , 1 3 Puster, R . W. : 24, 28 Puttlich, Ch. F.: 69, 7 1 , 73 f. Quantz, J. J. : 144 Quesnay, F. : 9, 1 1

Rabener, G. W. : 1 45 Rang, M . : 9, 1 3 Ramler, K . W. : 1 39, 1 43 ff. Reicke, R. : 59, 60, 62-64, 67, 82 Reinhold, K. L. : 62, 1 27, 1 5 1 Reimarus, H. S . : 5 Rethwisch, C . : 1 03 Reusch, C. D . : 63-67, 70, 72 Riconda, G. : 1 9 Riehl , A. : 1 23 Riesebieter, 0 . : 1 5 3 Rink, Fr. Th . : 63 Rousseau, J.-J. : I, 6 f., 9- 1 6 , 103 Sabinus, G . : 93 Sack, Fr. S. G . : 1 43 Schaefer, Cl . : 176, 1 90 Schäfer, L. : 207 Schaffer, S . : 2 1 0 Scheffner, J . G. : 148, 1 54 Schelling, F. W. J. : 95 , 1 05 Scherer, Chr. : 1 39, 146 f. Schikorsky, 1. : 150 Schleiermacher, F. D . E. : 95 Schliemann, H . : 39 Schlichting : 144 Schlosser, J. G . : 1 54 Schlüter: 144 Schmid, 1 . : 76, 79 Schmidt, G. F. : 147 f. Schmidt, R . : I , 1 9 , 1 2 1 , 136 Schmitz, H.: 39, 1 26, 1 34 f. Schnorr von Carolsfeld, V. H . : 146 Schöndörffer, 0 . : 59 f. , 83, 86 Schollmeier, J.: 6 Schreiner, C. H. : 97- 1 0 1 Schulthess, J. G . : 144 Schu1tz, F. A.: 97 Schultz, J.: 1 27 f. Schutz, A. : 147 f. Schulze, G. E. : 1 5 1 - 1 53 Schwartz, P. : 62, 64, 78, 8 1 f., 1 02- 1 05 Scubich: 1 0 1 Seebohm, Th. M. : 3 Seiff, F. : 1 04 Selbach, R.: 1 5 3 Seneca: 8 Sextro, H. Ph. : 1 5 3 Sextus Empiricus: 2 8 Shaftesbury, A . A. C., Earl of: 6 , 8 S hoemaker, S . : 28

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Personenregister

Simon, J.: 148 Sobrevilla, D . : 19 Sokrates: 7 Spalding, J. J.: 5-8, 1 44 f. Stark, W. : 26, 59-62, 92, 1 54, 1 5 8 , 200 Starobinski , J . : 1 5 Stein, K. H . : 7 Steinwehr, W. B. A. von: 1 64 ff. Stern, S. : 1 5 0- 1 5 3 Strawson, F. : 39 Strub, Chr. : 29-35 Stuve, J.: 1 5 0 Sucro, J. G . : 144 Sulzer, J. G . : 42, 144 f. ·

Tenbruck, F. : 1 09 Tetens, J. N. : 1 35 Thiel , U . : 2 Thiele, G . : 1 23 Thöle, B . : 128, 1 35 f. Tonelli , G.: 53 f. , 1 64 Toury, J . : 93 Trapp, E. Chr. : 1 5 0 Trede, J. H.: 47 Truchet, Seb.: 1 77 Tuschling, B . : 1 09- 1 1 6, 20 1 , 207, 209 Ulrich, J. A. : 1 27 f. Uz, J. P. : 1 44 Vaihinger, H . : 45, 1 23 Valentinos: 8 Varignon, P. : 2 1 2 Vernet, J . : 149 Vleeschauwer, H. J. de: 123 Voigt, J . : 72 Vorl änder, K. : 7, 60 f., 63, 66-69, 82 f. , 97, 146, 148, 1 5 1 , 1 54 Voss: 144

Wackenroder, Geh. Kriegsrat: 145 Waclawik, B . : 6 1 , 82 Wadzeck, F. : 68 f. , 72 f. Wald, S. G . : 58 f. , 67, 97 Walz, A.: 1 39 Wannowski, St. : 82, 98 Warda A . : 59 f. , 62, 64, 69, 7 1 -74, 81 f. , 84, 206 Waschkies, H.-J.: 1 5 , 2 1 , 38, 1 64, 1 72 f. , � 1 90, 205 f. , 208, 2 1 4 Wasianski , E . A . Chr. : 1 49 Wedgewood, J . : 1 39 Weigl , E. : 1 65 f., 1 68 Werner, J. F. : 65 , 67 Wessely, J. E. 147 Westhoff-Krummacher, H . : 145, 148 Weymann, D. : 60 Wiegershausen, H.: 1 5 1 Wiener, Jo. N . : 60 Winckelmann, J. J.: 1 39, 1 47 f. Windelband, W. : 20, 53 Wippe!, W. : 68 f. , 72 f. Woellner, J. Chr. : 82, 97, 1 5 1 Woesler, W. : 79, 85 Wolff, Chr . : 1 , 4, 144, 1 52, 1 68 , 204 f. , 2 1 2, 2 1 5 Wolff Metternich, B . Frfr . : 147, 149 f. Young, E.: 145 Zammito, J. H . : 20 Zedlitz, K. A. Frhr. von: 96, 1 0 1 , 1 04, 150 Zippel, G.: 101 Zöller, G. : 1 22