Ausgewählte Werke: Band 1 Kleine Schriften 9783110647808, 9783110645927

In the late 18th century, Christian Garve’s works were considered the pre-eminent example of a learned yet popular style

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Ausgewählte Werke: Band 1 Kleine Schriften
 9783110647808, 9783110645927

Table of contents :
Inhalt
Zur Einführung
1 Aus den Monographien
Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik
2 Beiträge in Zeitschriften
Über die Moden
Über den Einfluß einiger besondern Umstände auf die Bildung
Von der Popularität des Vortrages
Über die Gränzen des bürgerlichen Gehorsams
Ein ernsthafter Commentar über einen Scherz
3 Aus den Übersetzungen
Anmerkungen zur Übersetzung von Adam Ferguson
4 Rezensionen
Gotthold Epharim Lessing: Laokoon
Moses Mendelssohn: Phädon
Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder
5 Erläuterungen
Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik
Über die Moden
Über den Einfluß einiger besondern Umstände auf die Bildung unserer Sprache und Litteratur [Eine Vorlesung.]
Von der Popularität des Vortrages
Über die Gränzen des bürgerlichen Gehorsams, in Beziehung auf den Aufsatz von Kant über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig seyn, taugt aber nicht für die Praxis
Ein ernsthafter Commentar über einen Scherz
Anmerkungen zur Übersetzung von Adam Ferguson: Grundsätze der Moralphilosophie
Laokoon, oder über die Gränzen der Mahlerey und der Poesie mit beyläuftigen Erläuterungen verschiedener Punkte der Alten Kunstgeschichte, von Gotthold Ephraim Lessing
Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele, in drey Gesprächen von Moses Mendelssohn, bey Nicolai 1767
Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen
6 Anhang
Zeittafel
Siglenverzeichnis
Bibliographie
Personenregister
Sachregister

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Christian Garve Ausgewählte Werke

Werkprofile

Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Frank Grunert und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat: Stefanie Buchenau, Wiep van Bunge, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow und John Zammito

Band 15.1

Christian Garve

Ausgewählte Werke

Band 1: Kleine Schriften Herausgegeben von Udo Roth und Gideon Stiening

ISBN 978-3-11-064592-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064780-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064620-7 ISSN 2199-4811 Library of Congress Control Number: 2020950978 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Christian Garve, Ende der 1790er Jahre Stich von Anton Friedrich König (1722–1787) nach Anton Graff (Gleim-Haus Halberstadt)

Inhalt Udo Roth, Gideon Stiening  Zur Einführung »Prediger des allgemeinen Menschensinnes« ‒ Christian Garves Schriften im Kontext der Spätaufklärung  | IX

1 Aus den Monographien Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik | 3

2 Beiträge in Zeitschriften Über die Moden  | 75 Über den Einfluß einiger besondern Umstände auf die Bildung  | 141 Von der Popularität des Vortrages  | 150 Über die Gränzen des bürgerlichen Gehorsams  | 159 Ein ernsthafter Commentar über einen Scherz  | 168

3 Aus den Übersetzungen Anmerkungen zur Übersetzung von Adam Ferguson  | 185

4 Rezensionen Gotthold Epharim Lessing: Laokoon  | 233 Moses Mendelssohn: Phädon  | 249 Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder  | 272

5 Erläuterungen | 307

VIII | Inhalt

6 Anhang Zeittafel | 379 Siglenverzeichnis | 385 Bibliographie | 387 Personenregister | 405 Sachregister | 411

Udo Roth, Gideon Stiening

Zur Einführung »Prediger des allgemeinen Menschensinnes« ‒ Christian Garves Schriften im Kontext der Spätaufklärung

1 »Der berühmte Garve« Anfang April 1781, nur wenige Tage nachdem Kant die Dedikation seiner Kritik der reinen Vernunft an Abraham von Zedlitz am 29. März 1781 unterzeichnet hat, arbeitet ein junger, noch unbekannter Dramendichter fieberhaft an der Vorrede seines ersten, soeben fertiggestellten Theaterstücks. Dabei verspürt er offenkundig Legitimationsdruck, weil er »manche[n] Charakter« in seinem Stück auftreten lässt, der »das feinere Gefühl der Tugend beleidigt und die Zärtlichkeit unserer Sinne empört«. Um dieses riskante Vorgehen zu begründen, verfasst er eine ungewöhnliche Vorrede und bezieht sich zu diesem Zweck auf einen Autor, der – obwohl seit 1772 nurmehr wenig publizistisch in Erscheinung getreten – zu den Berühmtheiten der europäischen Aufklärung der 1770 und 1780er Jahre zählte: Christian Garve. Dabei begründet der junge Dichter die Notwendigkeit, »unmoralische Charaktere« auftreten zu lassen, wie folgt: Noch mehr – Diese unmoralische Karaktere mußten von gewissen Seiten glänzen, ja offt von Seiten des Geists gewinnen, was sie von Seiten des Herzens verlieren. Jeder Dramatische Schriftsteller ist zu dieser Freiheit berechtigt, ja so gar genöthigt, wenn er anders der getreue Kopist der wirklichen Welt seyn soll. Auch ist, wie Garve lehrt, kein Mensch durchaus unvollkommen: auch der Lasterhaffteste hat noch viele Ideen, die richtig, viele Triebe die gut, viele Thätigkeiten, die edel sind. Er ist nur minder vollkommen.1

Friedrich Schiller, der hier an seiner später zurückgezogenen Vorrede zu seinen Räubern arbeitet, bedient sich des Breslauer Aufklärers zum einen als schützende Autorität in gleichsam scholastischer Manier, um die Darstellung unmoralischer Figuren zu legitimieren. Zum anderen referiert er auf ein Theoriestück, das Garve in der Tat neun Jahre zuvor in seinen Anmerkungen zur Übersetzung von Adam Fergusons Grundsätzen der Moralphilosophie ausgeführt hatte: Im Zusammenhang der Frage nach den Gründen und Formen des moralischen Übels hatte Garve nämlich behauptet:

|| 1 Friedrich Schiller: Die Räuber. Ein Schauspiel. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. 5 Bde. München 1959, Bd. 1, S. 482. https://doi.org/10.1515/9783110647808-001

X | Udo Roth, Gideon Stiening

Wir wollen das gröste Laster nehmen, was wir kennen; den Mord. Man kann ihn in zwey Gesichtspunkten betrachten; in seinen Folgen und in seinem Ursprung. In seinen Folgen ist er nichts ärgers als der Tod eines Menschen, der doch durch Krankheit oder Alter würde getödtet worden seyn; den auch ein Wetterstrahl oder der Einsturz eines Hauses hätte umbringen können. In seinem Ursprunge ist er ein Zustand eines hassenden, übelwollenden, rachgierigen, mit einem Wort der Zustand eines unvollkommnen Geistes. Aber nicht eines durchaus unvollkommnen: denn eben dieser Mensch hat noch viele Ideen, die richtig sind, viel Triebe die gut, viele Thätigkeiten die edel sind; also nur eines minder vollkommen.2

Garve – und mit ihm Schiller – zielen darauf ab, die Annahme, es gebe einen Menschen, der grundlegend böse sei, weil er das Böse wolle, zurückzuweisen. Unmoralisches Handeln ist nach dieser Vollkommenheitsethik nicht schlechthin böse, sondern lediglich weniger gut bzw. vollkommen, und zwar deshalb, weil ein Mensch, der eine oder gar mehrere unmoralische Handlungen begeht, durchaus noch andere Vorstellungen und Handlungsziele haben kann, die als gut beurteilt werden müssen. Eben darum ist es Schiller mit seinem ungewöhnlichen Schauspiel zu tun: gemischte Charaktere auf die Bühne zu bringen und deren unmoralische Handlungen psychologisch zu plausibilisieren, was nur dann möglich und sinnvoll ist, wenn sie nicht schlechthin böse sind – und das gilt auch und in besonderem Maße für den Räuber Karl Moor und seinen Bruder. Zu diesem Zweck beruft sich Schiller auf Christian Garves moralphilosophische Anmerkungen, die einem größeren Publikum bekannt waren.3 Im Hintergrund der garveschen Thesen zur relativen Unvollkommenheit noch des »größten Lasters« und damit auch der schillerschen Psychologie des Verbrechens steht erkennbar die Vollkommenheitsethik Christian Wolffs.4 Denn auch bei Wolff ist der Begriff der bösen Handlung insofern relational bzw. prozesshaft gedacht, als sie einen vorherigen Zustand einer Person unvollkommener macht, nicht aber aus einer substanziellen Unvollkommenheit in praktischer Hinsicht erfolgt.5 Der Grund dafür besteht darin, dass der Mensch nach Wolff das Böse nicht als Böses wollen kann, sondern als Unvollkommenes nur nicht-wollen kann; sucht er es dennoch zu verwirklichen, dann lediglich, weil er es als Böses nicht erkennt und damit einem nur scheinbar Guten nachstrebt. Böses bzw. lasterhaftes Verhalten basiert nach Wolff mithin auf einem Erkenntnisirrtum:

|| 2 Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie. Übersetzt und mit einigen Anmerkungen versehen von Christian Garve. Breslau 1772 (GGW XI), S. 254. 3 Vgl. hierzu Leonie Koch-Schwarzer: Populare Moralphilosophie und Volkskunde. Christian Garve (1742–1798) – Reflexionen zur Fachgeschichte. Marburg 1998, S. 271f. 4 Vgl. hierzu Clemes Schwaiger: Art. Ehik. In: Robert Theis, Alexander Aichele (Hg.): Handbuch Christian Wolff. Wiesbaden 2018, S. 253–268. 5 Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen zu Beförderung ihrer Glückseligkeit. Frankfurt a. M., Leipzig 1733 [WGW I.4], S. 6 (§ 5ff.)

Zur Einführung | XI

Gleichergestalt ist die Erkäntniß des Bösen ein Bewegungs-Grund des nicht Wollens (§. 496. Met.), oder des Abscheues ſür einem Dinge (§. 495. Met). Wer die freye Handlungen der Menschen die vor und an sich böse sind (§. 5.), deutlich begreiffet, der erkennet, daß sie böse sind (§. 206. Met.). Und daher ist das Böse, was wir an ihnen wahrnehmen, ein BewegungsGrund, daß wir sie nicht wollen. Da nun nicht möglich ist, daß etwas zugleich ein BewegungsGrund zum Nicht-Wollen und zum Wollen seyn kann (§. 10. Met.); so gehet es auch nicht an, daß man eine an sich böse Handlung wollen solte, wenn man sie deutlich begreiffet. Und daher sind sie so beschaffen, daß sie nur können nicht gewolt werden, oder daß man für ihnen einen Abscheu haben muß, wenn man sie deutlich begreiffet. Wenn wir sie wollen, ist keine andere Ursache, als daß wir sie nicht kennen, sondern für etwas anders ansehen als sie sind.6

Noch Karl Moor wird auf einen solchen Irrtum Bezug nehmen – »O über mich Narren«.7 Dennoch beruft sich der junge ambitionierte Dichter zu Beginn der 1780er Jahre nicht mehr auf Wolff, sondern auf den seit den 1770er Jahren international berühmten Christian Garve. Dass Garve diese herausragende Stellung in der Öffentlichkeit der Spätaufklärung innehatte, lässt sich noch an einem weiteren Ereignis ablesen, das in eben jenem Zeitraum im Frühjahr und Sommer 1781 statthatte, während dessen Kant seine Kritik der reinen Vernunft zum Druck übergibt und Schiller seine Räuber abschließt: Christian Garve besucht ab Ende Juni 1781 Göttingen. Seit Mitte 1780 hatte er Berlin, Leipzig, Weimar, Gotha und Kassel besucht und war als Berühmtheit nicht allein von Gelehrten und Schriftstellern, sondern auch von Adeligen und Souveränen empfangen worden; in Weimar erhält er eine Audienz bei Herzogin Anna Amalia.8 Ein gewichtiger Zweck dieser Reise bestand neben der Kontaktpflege zu Freunden und prägenden Aufklärern der Zeit in der Diskussion seiner in Arbeit befindlichen Übersetzung von Ciceros De officiis, die er im Auftrag Friedrichs II. seit 1779 anfertigte. In Göttingen, wo er in Michael Hißmanns (1752‒1784) Wohnung logiert,9 setzt er sich daher eigens in die Vorlesungen Christian Gottlob Heynes (1729‒1812), um Anregungen in sprachlicher und historischer Hinsicht zu erhalten.10 Garves zweimonatiger Besuch in Göttingen ist um die Mitte des Jahres 1781 das Ereignis in der Universitätsstadt, die sich zu diesem Zeitpunkt als europäische Hauptstadt einer neuen, auf Praxis aufgerichteten Gelehrsamkeit versteht.11 So heißt es in einem Brief Georg Christoph Lichtenbergs (1742‒1799):

|| 6 Ebd., S. 8 (§ 7). 7 Schiller: Die Räuber (s. Anm. 1), S. 617. 8 Brief an Zollikofer vom 6. Juli 1781, GGW XVI.1, S. 287. 9 Siehe hierzu Garve an Hißmann am 18. Oktober 1781. In: Michael Hißmann: Briefwechsel. Hg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening und Falk Wunderlich. Berlin, Boston 2016, S. 140. 10 Vgl. u. a. Brief an Zollikofer vom 24. Juli 1781, GGW XVI.1, S. 289: »Ich gehe hier fleißig mit meinem Buch unter dem Arme in die Collegia.« 11 Vgl. hierzu u. a. Götz von Selle: Die Georg-August-Universität zu Göttingen 1737–1937. Göttingen 1937, S. 129ff.; Ulrich Hunger: Die Georgia Augusta als hannoversche Landesuniversität. Von ihrer Gründung bis zum Ende des Königreichs. In: Ernst Böhme, Rudolf Vierhaus (Hg.): Göttingen. Ge-

XII | Udo Roth, Gideon Stiening

Der berühmte Garve ist jetzt hier und wird auf 2 Monate hier bleiben, ein sehr heller vortrefflicher Kopf. Auch Forster ist hier und hat sich förmlich ein Stübchen gemietet. Beide besuchen mich zuweilen, das ist doch etwas ganz anders, als wenn einen die Gestempelten besuchen, bei denen Nachschlagen mit zum Besinnen gerechnet wird.12

Aber Garve, den Lichtenberg noch 1785, also weit nach dem Skandal um die Rezension der Kritik der reinen Vernunft als »Großen und Rechtschaffenen Mann« bezeichnet wird,13 trifft in Göttingen nicht nur mit dem Experimentalphysiker und dem berühmten Weltreisenden zusammen, sondern auch mit Johann Georg Heinrich Feder (1740‒1821), mit Christoph Meiners (1747‒1810), August Ludwig von Schlözer (1735‒1809) u. v. m.14 Es ist durch eine Reihe von Dokumenten offensichtlich, dass nicht nur Göttingen für Garve von großem wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Interesse war, sondern dass auch die Göttinger Spitzenforschung in dem Besuch Garves einen Reputationsgewinn erkannte. Nun hatte Garve allerdings seit 1772/73 nur noch wenig publiziert und suchte sich durch die Cicero-Übersetzung und deren Diskussion in Göttingen neuerlich an den Aufklärungsdebatten der Zeit zu beteiligen. Zu diesem ›Comeback‹ zählte aber offenbar auch der verunglückte Versuch einer Rezension der Kritik der reinen Vernunft,15 die Garve als »metaphysische Grille« abtat,16 mithin in ihrer Bedeutung völlig verkannte. Seiner immensen Produktivität ab 1783 und bis zu seinem Tode 1798 sowie seinem Renommee sollte diese Besprechung gleichwohl kaum Abbruch tun. Wie kam es dazu, dass ein seit einigen Jahren wenig publizierender Philosoph, Essayist und Philologe im Sommer 1781 derart triumphal in einem der Zentren der europäischen Aufklärung empfangen wurde?

|| schichte einer Universitätsstadt. Göttingen 2002, Bd. 2, S. 139–213, hier S. 168ff.; Erich Bödeker, Philippe Büttgen, Michel Espagne (Hg.): Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800. Göttingen 2008. 12 Christoph Lichtenberg an Georg Heinrich Hollenberg, 8. Juli 1781. In: ders.: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. 4 Bde. München 1967, Bd. 4, S. 416f. 13 Ebd., S. 628. 14 Vgl. hierzu auch Koch-Schwarzer: Populare Moralphilosophie (s. Anm. 3), S. 211ff. 15 Vgl. hierzu u. a. Klaus Petrus: »Beschrieene Dunkelheit« und »Seichtigkeit«. Historisch-systematische Voraussetzungen der Auseinandersetzung zwischen Kant und Garve im Umfeld der Göttinger Rezension. In: Kant-Studien 85 (1994), S. 280–302. 16 Garve an Hißmann, 18. Oktober 1781 (s. Anm. 9), S. 140.

Zur Einführung | XIII

2 Christian Garve – Skizze einer intellektuellen Biographie 2.1 Kindheit, Jugend und erste Studienjahre (1742–1765) Christian Garve wurde am 7. Januar 1742 in eine nicht unvermögende Handwerkerfamilie hineingeboren. Als einziges Kind sowie aufgrund seiner schwächlichen Konstitution und häufig angegriffenen Gesundheit wurde er zunächst von seiner Mutter und Hauslehrern erzogen und unterrichtet. Eine besondere Rolle spielte dabei der spätere Theologe Gottlieb Ringeltaube (1732–1824), der sich im Hause Garve als Lehrer und Mentor des Sohnes sein Studium verdiente. Das nicht immer konfliktfreie Verhältnis zwischen Garve und Ringeltaube währte immerhin bis 1765 und damit bis in die ersten Studienjahre Garves. Ringeltaube, der zwischen 1757 und 1760 in Frankfurt an der Oder studiert hatte, machte Garve schon vor dessen Studium mit der Philosophie Alexander Gottlieb Baumgartens (1714‒1762) bekannt und sorgte darüber hinaus für einen soliden theologischen und philologischen Unterricht. Aufgrund des Siebenjährigen Krieges konnte Garve selbst erst im Alter von 20 Jahren ein Studium aufnehmen; am 11. Mai 1762 immatrikulierte er sich in Frankfurt an der Oder als Student der Theologie, deren philosophische Grundlagen er bei dem ihm in Grundzügen schon bekannten Baumgarten erlernen wollte. Wie viele andere Universitäten war auch die Viadrina vom Krieg schwer gezeichnet; 1759 war die Stadt von russischen Truppen besetzt worden, die zudem erhebliche Reparationszahlungen forderten, worunter auch die Universität zu leiden hatte.17 Zudem starb Baumgarten wenige Woche nach Garves Immatrikulation am 27. Mai 1762, so dass die Universität eine ihrer bedeutenden akademischen Attraktionen verlor; Joachim Georg Darjes (1714‒1791) sollte erst 1763 nach Frankfurt versetzt werden und ab diesem Zeitpunkt herausragende Leistungen auf dem Felde des Naturrechts und der Kameralistik erbringen.18 Für Garve kam diese durch Friedrich II. erzwungene Berufung Darjesʼ allerdings zu spät; schon zum Sommersemester 1763 wechselt er an die Universität Halle an der Saale, die auch in den 1760er Jahren noch als eines der bedeutenden Zentren der Aufklärung galt, auch wenn ihr Göttingen schon vor dem Krieg den Rang abgelau-

|| 17 Vgl. hierzu u. a. Günter Mühlpfordt: Die Oder-Universität Frankfurt 1511–1805. Eine deutsche Hochschule in der Geschichte Brandenburg-Preußens und der europäischen Wissenschaft. In: Die Oder-Universität Frankfurt. Beiträge zu ihrer Geschichte. Hg. von Günther Haase. Weimar 1983, S. 19–72. 18 Vgl. hierzu Ulrike Lötzsch: Joachim Georg Darjes (1714–1791). Der Kameralist als Schul- und Gesellschaftsreformer. Köln, Weimar, Wien 2016, S. 193ff.

XIV | Udo Roth, Gideon Stiening

fen hatte. Auch Halle hatte unter dem Krieg und der anschließenden wirtschaftlichen Krise schwer zu leiden, schien aber schneller den Weg in eine akademische Normalität zurückzufinden.19 Hier lehrten die schon in den 1760er Jahren und weit darüber hinaus bedeutenden Theologen Johann August Nösselt (1734–1807)20 und Johann Salomo Semler (1725–1791)21 sowie der bei Studenten überaus beliebte und auch publizistisch ausnehmend erfolgreiche Georg Friedrich Meier (1718‒1777).22 Meier stand zu Beginn der 1760er Jahre im Zenit seiner Schaffenskraft und seiner Reputation, er hatte Ende der 1750er Jahre seine Metaphysik und 1761 seine Philosophische Sittenlehre abgeschlossen und drängte nun mit der Gründung moralischer Wochenschriften in eine größere Öffentlichkeit.23 Die Verbindung von Theorie und Praxis sowie das Anliegen an einem popularphilosophischen Einwirken auf die ›öffentliche Meinung‹ dürften Garve in besonderer Weise angezogen und beeinflusst haben. Meiers Gespür für alltagsweltliche Themen, die die entstehende bürgerliche Öffentlichkeit interessierten, seine Ausrichtung auf die Nützlichkeit der Wissenschaften sowie der eingängige Sprachstil seiner Essays gab ein Vorbild für den 21jährigen Garve ab, der sich noch in Halle für eine akademische Laufbahn in der Philosophie entschied. Auch bei dem Physiker und Mathematiker Johann Andreas von Segner (1704‒1777) hörte Garve Vorlesungen, die ihn derart beeindruckten, dass er noch 1766 von Leipzig aus eine Magisterprüfung unter dem Vorsitz Segners ablegte.24 Die Berufung Christian Adolph Klotzʼ (1738‒1771) zum Sommersemester 1765 scheint Garve wenig beeindruckt zu haben, und das obwohl Klotz als Wunderkind der neueren Ästhetik und Philologie galt.25

2.2 Leipziger Studium und Professur (1765–1772) Denn nach Abschluss des Sommersemesters 1765 wendet sich Garve nach Leipzig, um an der dortigen Universität seine Studien fortzusetzen und abzuschließen. Leip-

|| 19 Siehe hierzu u. a. Marion Mücke, Thomas Schnalke: Briefnetz Leopoldina. Die Korrespondenz der Deutschen Akademie der Naturforscher um 1750. Berlin, Boston 2009, S. 513ff. 20 Siehe u. a. Malte van Spankeren: Johann August Nösselt – Ein Theologe der Aufklärung. Halle 2012. 21 Vgl. hierzu u. a. Andreas Lüder: Historie und Dogmatik. Ein Beitrag zur Genese und Entfaltung von Johann Salomo Semlers Verständnis des Alten Testaments. Berlin, Boston 2020. 22 Siehe hierzu u. a. Frank Grunert, Gideon Stiening (Hg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Berlin, Boston 2015. 23 Vgl. hierzu Kay Zenker: Zwei Jahrzehnte Volksaufklärung (1748–1769). Meier als Herausgeber und Autor Moralischer Wochenschriften. In: Grunert, Stiening (Hg.): Georg Friedrich Meier (s. Anm. 22), S. 55–80. 24 Siehe hierzu Christian Garve: Dissertatio de nonnullis quae pertinent ad Logicam Probabilium. Halle 1766. 25 Vgl. hierzu Erika Thomalla: Christian Adolph Klotz. In: Aufklärung 31 (2019), S. 315–320.

Zur Einführung | XV

zig ist in den 1760er Jahren zwar einerseits noch immer diejenige Aufklärungsuniversität,26 an der mit Christoph Gottscheds einerseits und Christian August Crusius (1715‒1775) sowie Johann August Ernesti (1707‒1781) andererseits die prominentesten Vertreter des Wolffianismus und des späten Thomasianismus aufeinanderprallten;27 zugleich wirkt dort mit Christian Fürchtegott Gellert (1715‒1769) einer der bedeutendsten Moralphilosophen und Literaten der Empfindsamkeit, die noch in den frühen 1760er Jahren eine große Anziehungskraft ausübt.28 Garve konnte seit 1765 im Hause Gellerts wohnen und führte mit diesem sowie mit Ernesti eine Fülle von Gesprächen, weil beide Wolff-Gegner den jungen aufstrebenden Philosophen auf ihre Seite einer eklektischen, theonom gebundenen Popularphilosophie zu ziehen suchten.29 Ernesti hatte 1754 mit der Schrift De philosophia populari die seit Gottsched und Meier zu verzeichnenden Tendenzen zu einer ›Philosophie für das Leben‹ zu bündeln und dem Wolffianismus zu entreißen versucht30 und damit den Grundstein für eine bis weit in die 1790er Jahre erfolgreiche, wenngleich nicht unkontroverse Entwicklung zu einer Popularphilosophie gelegt.31 Garve hat seit den 1760er Jahren und damit gleich zu Beginn seiner akademischen und publizistischen Karriere an dieser Bewegung erheblichen Anteil und wird sie in den kommenden, verstärkt seit den frühen 1780er Jahren massiv befördern.32 In Leipzig prägt Garve unter dem Einfluss Gellerts und Ernestis sowie dessen Schülerkreis neue Schwerpunkte seines, zumeist popularphilosophischen Arbeitens aus. Denn er betreibt einerseits Studien zur empirischen Psychologie, die zumeist auf deren praktische Bedeutung hin ausgelegt sind. So schreibt er zwischen 1766 || 26 Vgl. u. a. Wolfgang Martens (Hg.): Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit [Zentren der Aufklärung III]. Berlin 1990. 27 Vgl. hierzu Detlef Döring: Leipzig als Zentrum des philosophischen Widerstandes wider den Wolffianismus. Die Thomasius-Schule. In: ders.: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibnizʼ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 102–122. 28 Vgl. hierzu und zur ›Epochenfigur‹ Gellert Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild. Hamburg 2015, S. 556ff. 29 Zu den theologischen Dimensionen der gellertschen Moralphilosophie vgl. Oliver Bach: Christian Fürchtegott Gellert über die Bedeutung der Unsterblichkeit der Seele für das Naturrecht der Aufklärung. In: Aufklärung 29 (2017), S. 213–241. 30 Vgl. hierzu u. a. Helmut Holzhey: Die Berliner Popularphilosophie. Mendelssohn und Sulzer über die Unsterblichkeit der Seele. In: ders., Martin Fontius (Hg.): Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Berlin 1996, S. 201–216; Michael Ansel: Ernst Platner und die Popularphilosophie. In: Aufklärung 19 (2007), S. 221–242. 31 Siehe hierzu Christoph Binkelmann, Nele Schneidereit (Hg.): Denken fürs Volk. Popularphilosophie vor und nach Kant. Würzburg 2015. 32 Siehe hierzu Claus Altmayer: Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve. Saarbrücken 1992 sowie Norbert Waszek: Christian Garve. In: Helmut Holzhey, Vilem Murdoch (Hg.): Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa. 1. Halbbd. Basel 2014, S. 406–414.

XVI | Udo Roth, Gideon Stiening

und 1769 jenen Essay, der ihn schlagartig bekannt machen wird, über eine Prüfung der Fähigkeiten der Seele im Hinblick auf die Frage, wie sich Lehrer zu den unterschiedlichen Ausprägungen der Seelenvermögen bei ihren Schüler zu verhalten haben. In der Aufnahme helvétiusscher Motive, vor allem aber der Begriffs- und Systemstruktur der Psychologie Georg Friedrich Meiers33 entwickelt er schon 1769 u. a. bedeutende Elemente einer Distinktion zwischen einem theoretischen und einem praktischen Verstand sowie eine Theorie des Genies als eines ungewöhnlich fähigen Individuums, das sich in Politik, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft realisieren könne. Zur Beförderung solcher Talente wird eine entsprechende Pädagogik empfohlen. Dabei gibt es nach Garve frühe Hoffnungen auf bedeutende Leistungen eher bei Kindern mit ausgeprägter Einbildungskraft als bei frühreifen Wunderkindern: Ein Kind also, welches von einer schönen Fabel entzückt wird, und bey einem eben so schönen Beweise gähnt; das voll Munterkeit und Aufmerksamkeit ist, wann es die Geschichte auf einem guten Kupferstiche oder Gemälde erklären hört, und verdrossen und zerstreut wird, sobald man ihm allgemeine Wahrheiten vorträgt; das in seinen Spielen Erfindsamkeit und in den Lernstunden Unfähigkeit zeigt, würde mir weit mehr Hoffnungen machen, als ein andres, das eine ganze Moral mit der größten Geduld und der scheinbarsten Aufmerksamkeit anhört, und in der Grammatik eben so gern liest, als im Robinson.34

Wie Meier, so legt auch Garve besonderen Wert auf die Kreativitätsleistungen des Kindes und grenzt sich zugleich vom ›Schulfüchsischen‹ jeder reproduktiven Gelehrsamkeit ab.35 Diese Tendenz zeigt sich auch in Garves umfangreichem Aufsatz Einige Gedanken über das Interessirende, der auf der Grundlage einer empirischen Psychologie der Aufmerksamkeit, die – wie schon erwähnt – vor allem auf Meiers Distinktionen zurückzuführen ist, produktionsästhetische Fragen zu beantworten sucht, denn: »Für die Dichter und die Schriftsteller ist diese Untersuchung bestimmt.«36 Überhaupt beschäftigt sich Garve in diesen Jahren vermehrt mit den Entwicklungen der deutschen Literatur und trägt hierzu mit kritischen Rezensionen und systematischen Essays bei. So verfasst er umfangreiche Rezensionen zu Lessings || 33 Der Bezug auf Meiers Psychologie (vgl. Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 4 Bde. Halle 1755– 1759, Bd. 3) stellt sich vor allem über die auch bei Garve zu verzeichnende Verwendung des Begriffs der »Aufmerksamkeit« her (ebd., S. 56–73) sowie durch die Reflexionen beider zum »Vermögen vorherzusehen« (ebd., S. 202–221), mit dem keineswegs Prophetien, sondern Prognostiken in Meteorologie und Ökonomie zu verbinden sind; vgl. GGW V, S. 41–43. 34 Christian Garve: Versuch über die Prüfung der Fähigkeiten, GGW V, S. 34. 35 Vgl. hierzu Georg Friedrich Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen. Halle 1745. 36 Einige Gedanken über das Interessirende, GGW V, S. 266, vgl. hierzu auch Doris BachmannMedick: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Weimar 2002, S. 174–241 sowie Alessandro Nannini: Christian Garve e lʼestetica dellʼinteressante. Palermo 2020.

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Laokoon, Herders Kritischen Wäldern und einen Essay über die Unterschiede zwischen antiken und neuzeitlichen Dichtern, der erneut mit einer historischen Anthropologie argumentiert und zugleich eine vorsichtige Kritik an der Ständegesellschaft der neueren Zeit erprobt.37 Dabei macht Garve in mehreren seiner frühen Texte deutlich, dass es eine enge Bindung von Dichtung und Anthropologie gibt, weil es die »Kenntniß des Menschen« sei,38 die jeder wahren Dichtung zu jenem Allgemeinen im Individuellen verhelfe, das sie allererst zur Dichtung mache. Diese ›Kenntnis des Menschen‹ erstreckt sich aber sowohl auf die theoretische als auch auf die praktische Anthropologie, weil die Nachahmungen der Dichter die zentrale Aufgabe haben, »alle die Grundsätze der Tugend und alle Regeln der Klugheit, die in unserm Gedächtnisse todt liegen, gerade auf diejenige Art uns eingedenk machen können, auf welche allein sie einen Einfluß auf unser Verhalten haben«.39 Es ist mithin eine der Leistungen der Dichtung, das oft unbewusste Wissen über die Tugendpflichten zu einer tatsächlichen Praxis zu machen. Garve hat sich auf Anregung Gellerts seit 1766 erkennbar auch mit Fragen der Moralphilosophie beschäftigt, und zwar zunächst durch die Lektüre solcher Autoren wie Shaftesbury und Hutcheson; dass er früh schon auch Locke40 und Helvétiusʼ L’esprit41 gelesen hat, zeigen seine Texte eindringlich. Darüber hinaus beginnt Garve – wohl auch um sein weiteres Studium zu finanzieren, weil die Färberei seiner Mutter nach dem Krieg in Liquiditätsbedrängnisse geraten war42 – zu diesem Zeitpunkt Übersetzungen zunächst aus dem Französischen, vor allem aber aus dem Englischen anzufertigen, eine Tätigkeit, die ihn zeitlebens begleiten wird43 und die einen nicht geringen Anteil an seiner Berühmtheit ausmachte. So arbeitet er schon seit 1766 an einer Übersetzung von Henry Homes Elements of Criticism (1762), die er als eine Überarbeitung der Versuche Johann Nikolaus Meinhards (1727‒1767) 1772 herausgeben kann; er übersetzt noch in den frühen 1770er Jahren Edmund Burkes A Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, die er 1773 publizieren kann; und er verfasst eine umfangreiche Übersetzung samt Kommentar der Institutes of Moral Philosophy Adam Fergusons, die, wie das obige Zitat aus der Vorrede zu den Räubern zeigte, mühelos die Grenzen der akademischen Rezeption überwinden konnte. Ab 1772, dem Zeitpunkt dieser Veröffentlichung, war Garve in den Kreisen der Leipziger, Berliner, Hallenser und Göttinger Aufklärer kein Unbekannter mehr. So nennt Christoph Martin Wieland (1733‒1813) Garve in seiner

|| 37 GGW V, S. 99–104. 38 Ebd., S. 234. 39 Ebd., S. 253. 40 Ebd., S. 223 41 Ebd., S. 50. 42 Koch-Schwarzer: Populäre Moralphilosophie (s. Anm. 3), S. 58. 43 Vgl. hierzu u. a. Norbert Waszek: Übersetzungspraxis und Popularphilosophie am Beispiel Christian Garves. In: Das achtzehnte Jahrhundert 31 (2007), S. 42–64.

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Rezension der Ferguson-Übersetzung »Einen der Ersten teutschen Philosophen« und resümiert sein Urteil zu Garves Leistung: Wir können nach alle dem dreist behaupten, daß noch nie ein englischer strengphilosophischer Autor so gut, als Fergusson, übersetzt, und so gut commentirt worden wäre. Denn auch die Anmerkungen des Hrn. Garve können allen künftigen Anmerkern zum Muster dienen.44

Letztlich trägt eine dritte Textsorte zu Garves frühem Ruhm erheblich bei: die biographische Skizze als Nachruf auf verstorbene Persönlichkeiten. Im Dezember 1769 stirbt Christian Fürchtegott Gellert nach langer Krankheit; schon zuvor hatte der mit seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie ausnehmend erfolgreiche Gellert im Verein mit Ernesti und weiteren Freunden machtvolle Versuche unternommen, Garve als seinen Nachfolger auf der außerordentlichen Professur für Philosophie in Leipzig ins Spiel zu bringen.45 Die erst nach weiteren Interventionen u. a. Christian Felix Weißes (1726‒1804) im Jahre 1770 erfolgreiche Berufung Garves ermöglichte dem erst 28-jährigen eine eigene Existenz als Hochschullehrer in Leipzig, nachdem er schon 1768 mit einer Arbeit zur Geschichte der Philosophie die venia legendi erworben und eine Reihe von Vorlesungen gehalten hatte. Sicher aufgrund großer Verbundenheit gegenüber dem Mentor und Förderer verfasst Garve nach Aufforderung von Weiße eine intellektuelle Biographie Gellerts, die er als Anmerkungen über Gellerts Moral, dessen Schriften überhaupt und Charakter 1771 in die von Weiße herausgegebene Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste einrücken lässt. Garve schildert hier in einem selbst empfindsamen Ton den verehrten Lehrer und Protektor als ebenso pragmatischen wie gütigen, mithin empfindsamen Vater »der Nation«,46 der in theoretischen Texten und in der Fabeldichtung die Tugend der Deutschen maßgeblich befördert habe. Dies sei ihm durch die Popularisierung einer emotionalistischen Ethik gelungen, die »mehr für das Herz als für den Verstand geschrieben sei«,47 welche er nicht nur zu begründen, sondern auch zu exemplifizieren gewusst habe. Trotz des zunehmenden Erfolgs als Philosoph und Publizist ist Garve auf der lange angestrebten Professur unglücklich; offenbar überfordert das Lehrprogramm den jungen Professor, auch sein Verhältnis zu den Studenten scheint schnell von Irritationen beherrscht. Alle Versuche, diese Problemlagen durch zusätzliche Arbeit zu lösen, führen wie so häufig zu psychosomatischen Erscheinungen des je schon kränklichen Körpers. Schon im September 1770 hält er es für seine »Pflicht, meinen Stand zu verlassen«, wenn er nicht häufiger und intensiver zu seiner wissenschaftli-

|| 44 Anon. [Christoph Martin Wieland]: Rezension zu Adam Fergusons Grundsätzen der Moral. In: Erfurtische gelehrte Zeitung vom April 1772 [zitiert nach WOA 9.1, S. 739–742, hier S. 740]. 45 Koch-Schwarzer: Populäre Moralphilosophie (s. Anm. 3), S. 70ff. 46 GGW V, S. 168. 47 Ebd., S. 171.

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chen Arbeit käme, die durch seine Lehrertätigkeit und den »nichtswürdigen« Universitätsbetrieb zunehmend verunmöglicht würde.48 Im September 1772, nur zwei Jahre nach seiner offiziellen Ernennung zum außerordentlichen Professor und auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner publizistischen Wirkung, muss Garve das Amt aus gesundheitlichen Gründen aufgeben und flieht erneut zu seiner Mutter nach Breslau. Schmerzlich ist dieses Versagen auf der lange ersehnten Stelle nicht allein für Garves großen Leipziger Freundes- und Bekanntenkreis, zu dem neben Ernst Platner (1744‒1818), Christian Felix Weiße (1726‒1804), Johann Wolfgang Goethe (1749‒1832), Johann Joachim Eschenburg (1743‒1820), Christian Friedrich Blankenburg (1744‒1796), Georg Joachim Zollikofer (1730‒1788), Friedrich Wolfgang Reiz (1733‒1790) und der junge Christian Konrad Wilhelm Dohm (1751‒1820) zählen; schmerzlich ist diese Flucht in die Breslauer Provinz vor allem für den ebenso ehrgeizigen wie geselligen Garve, der seine großen Ambitionen als Philosoph und Publizist vorläufig aufgeben muss. Das wird auch in den Kreisen der Aufklärer mit Bedauern zur Kenntnis genommen; noch Jahre später murmelt Lichtenberg in seine Sudelbücher: »Daß Garve aufgehört hat zu schreiben ist ein so großer Verlust für unsere Literatur als daß Lavater angefangen hat.«49

2.3 Intermezzo: Breslauer Eremitage 1772–1779 Zurück in Breslau, wo Garve in den nächsten Jahrzehnten im Hause seiner Mutter sowie weitgehend von deren Einkommen und Vermögen leben wird, muss er sich zunächst gesundheitlich erholen und sodann den Versuch unternehmen, mit der ortsansässigen gesellschaftlichen Funktionselite aus Adel und gehobenem Bürgertum Kontakt aufzunehmen. Dieser Aufbau von Sozialkontakten gelingt offenbar nur mühsam; auch die Entscheidung über den weiteren Berufsweg wird immer weiter aufgeschoben. Publizistisch ist Garve wenig aktiv, lediglich einige Rezensionen zu Aufmerksamkeit erregender Dichtung, so zu Goethes Werther oder Lessings Emilia sind zu verzeichnen. Aus Weißes Neuer Bibliothek zieht er sich ganz zurück, nur für Johann Jakob Engels (1741‒1802) Philosoph für die Welt schreibt er noch die erwähnten Rezensionen. Goethe, den er schon während der Leipziger Zeit kennengelernt hatte, wird als kommender Despot der deutschen Literatur mehr beargwöhnt als gefeiert: Die Leiden des jungen Werthers haben mich auf den Verfasser viel aufmerksamer gemacht, als alles, was er vorher geschrieben. Das ist, glaube ich, einer der Schriftsteller, die auf unsre Zeit-

|| 48 GGW XVI.2, S. 100f. 49 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe (s. Anm. 12), Bd. 1 [Sudelbücher I], S. 570 (F 786).

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genossen viel Einfluß haben werden. Er hat Herz, Verstand und Dreistigkeit; Gunst beym Publikum und Begierde zu herrschen.50

Gleichwohl verteidigt er den Roman in Briefen an Weiße gegen dessen oder auch Lessings Vorwürfe.51 Bis in die späten 1770er Jahre hält sich Garve mit weiteren Publikationen essayistischer oder monographischer Natur vollkommen zurück; immerhin gelingt ihm eine 400-seitige Übersetzung von Alexander Gerards Essay on Genius (1774), die 1776 in Leipzig erscheint. Diese Arbeit übernimmt Garve aber vor allem aus finanziellen Gründen,52 den Autor hält er für einen »verzweifelten Schwätzer«.53 Den Wendepunkt in dieser auch gesundheitlich labilen, scheinbar ausweglosen Lage wird durch einen Besuch Friedrich II. in Breslau veranlasst, während dessen der Monarch den noch immer berühmten Gelehrten mehrfach zur Audienz bittet und ihn in diesem Zusammenhang zu einer bestimmten Übersetzung dringlich auffordert; Garve selbst beschreibt dieses Ereignis und deren Folgen eher zögerlich: Der König, (von dessen Unterredung ich eher nicht umständlich mit Ihnen reden werde, als bis ich es mündlich werde thun können,) hat unter andern mir die Übersetzung des Cicero de officiis, als eine sehr nützliche Arbeit empfohlen. Er hat dieß mehrmahls wiederhohlt, er hat sogar die Art der Anmerkungen angegeben, die ich dazu setzen sollte. Ich habe also im Ernste daran denken müssen, so eine Übersetzung zu versuchen.54

Der Breslauer Aufklärer wird sich noch eine Weile zieren,55 den Auftrag zu übernehmen; doch der Autorität des königlichen Willens kann er sich nicht entziehen; schon im Januar 1780 berichtet er Weiße: Sie wissen es schon, daß ich die Officia übersetze. Die Veranlassung dazu wissen Sie auch. Da ich so lange des Arbeitens entwohnt; da ich auch einiger Maßen muthlos geworden bin: so würde ich mich vielleicht an eine eigne Schrift nicht gemacht haben. In sofern ist es gut, daß ich durch etwas aufgefordert worden bin, zu übersetzen.56

Tatsächlich wird dieses Projekt, das Garve erst im Spätsommer 1783 abschließen wird,57 jenes ›Comeback‹ auch des Essayisten und Systematikers Garve bedeuten, das oben schon angedeutet wurde.

|| 50 Christian Garve: Aus einem Briefe, über die Leiden des jungen Werthers. In: Der Philosoph für die Welt 1 (1775), 2. St., S. 20–33, hier S. 21f. 51 Brief an Weiße vom 11. März 1775, GGW XV.1, S. 115ff. 52 Brief an Weiße vom 1. April 1775, GGW XV.1, S. 125f. 53 Ebd., S. 128. 54 Brief an Weiße vom 26. Mai 1779, GGW XV.1, S. 149. 55 Vgl. Brief an Zollikofer vom 6. September 1779, GGW XVI.1, S. 264. 56 Brief an Weiße vom 31. Januar 1780, GGW XV.1, S. 155. 57 Vgl. dazu Kurt Wölfel: Zu Garves Übersetzungen. In: GGW IX, S. XXXVIff.

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2.4 Rückkehr in die Öffentlichkeit (1780–1789) Hatte sich Garve noch im September 1779 darüber beklagt, dass er »die sechs oder sieben Jahre über, da ich in meinem Vaterlande bin, kein Theater gesehen, fast kein Stück, auch wenig Gedichte gelesen, und auch mit keinem Menschen über schöne Wissenschaften oder die Regeln der Poesie geredet habe«,58 so wird er schon ab dem Sommer 1780 seine Breslauer Isolation beenden und erneut Kontakt zu den Zentren der deutschsprachigen Aufklärung und deren Protagonisten aufnehmen; dafür wird er – solange seine Gesundheit es trägt – mehrere Reisen unternehmen. Den Beginn macht dabei die oben schon erwähnte Reise nach Göttingen, das er über die Stationen Berlin, Leipzig, Weimar, Braunschweig u. v. m. erreicht. An seinen Freund Zollikofer, bei dem er lange und mehrfach Station macht, übermittelt er eine bemerkenswerte kultursoziologische Skizze dieser Stationen: In Weimar ist man mehr deutsch; man spricht diese Sprache, man kennt diese Litteratur am meisten; jeder folgt hier mehr dem Gange seines Naturells, selbst in dem, was es auffallendes hat; es giebt nicht so viele angenommenen allgemeinen Sitten, wie an andern Höfen. Wenn etwas allgemein ist, so ist es eine gewisse Mischung von Metaphysik und Poesie, mehr noch in den Ausdrücken vieler Leute, als in ihren Gedanken, wovon man die Quelle leicht entdeckt. Es sind sogar gewisse Worte gang und gebe hier, die man anderswo nicht oft hört. Man redet auch oft dunkel, weil man zu tief empfinden oder denken will. Demohnerachtet giebt es hier sehr brave Menschen. In Gotha ist mehr Französische Artigkeit, mehr Conventionelles, mehr gesunder Menschenverstand, mehr Welt, mehr Lebensart. […] Die Bekanntschaft ist leicht gemacht, wenn ein gemeinschaftliches Interesse vorhanden ist. In Cassel herrscht der militärische Geist. Hier gilt der Officier alles; der Gelehrte wird wieder einige Stellen zurückgewiesen; man ist ganz Französisch, nicht sehr bekümmert um die Wissenschaft, – aber man hat die gewisse Freymüthigkeit und Munterkeit, die der Militärstand verbreitet. In Göttingen endlich ist Gelehrsamkeit alles; es giebt keinen eigentlichen gesellschaftlichen Ton, weil es wenig Gesellschaften giebt. […] Der ganze Tag ist der Arbeit gewidmet; und der Abend ist, (wo er noch übrig ist,) bloß zur Erholung in der Familie, oder auch einem kleinen Spaziergange.59

Garve genießt in all diesen Orten die große Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwird. In Göttingen wird aber auch verabredet, was ihm lange Schwierigkeiten bereiten wird: Die Rezension der just erschienenen Kritik der reinen Vernunft. Ohne die gut erforschten Details dieser Rezension betrachten zu müssen,60 ist doch aus dem Text

|| 58 Brief an Weiße vom 24. September 1779, GGW XV.1, S. 152. 59 Brief an Zollikofer vom 6. Juli 1781, GGW XVI.1, S. 285–287. 60 Vgl. hierzu Petrus: »Beschrieene Dunkelheit« (s. Anm. 15), Konstantin Pollok: Einleitung. In: Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Eingel. und mit Anm. hg. von Konstantin Pollok. Hamburg 2001, S. XXIIIff. sowie Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening: Zur Einführung: »Mit dem Menschen hat es die Philosophie zu thun«. J. G. H. Feder – Von einer »Physik des Herzens« zur praktischen Anthropologie. In: Johann Georg Heinrich Feder: Ausgewählte Schriften. Hg. von dens. Berlin Boston 2018, S. IX–XXXIV, spez. S. XXIIIff.

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ersichtlich, dass Garve vom kantischen Projekt wenig verstanden hatte, er hält die Kritik – wie auch viele Göttinger – für einen Rückfall in eine als überwunden geltende Metaphysik, was energisch zurückgewiesen wird. Im Oktober übersendet Garve den Text der Rezension an Hißmann, der um Kürzungen gebeten wird; auch Feder scheint sich an diesem Arbeitsvorgang beteiligt zu haben. Im Januar 1782, Garve ist schon wieder in Breslau, erscheint die Besprechung in den Göttingischen Anzeigen61 und wird einen akademischen Skandal verursachen, nicht nur weil Kant in den Prolegomena eine wütende Entgegnung plaziert und dabei den anonymen Rezensenten auffordert, sich zu erkennen zu geben.62 In den kommenden Jahren wird sich Garve tatsächlich – ebenso wie Feder – zu erkennen geben und bei Kant zu entschuldigen suchen.63 Doch selbst der Versuch, durch die Publikation der vollständigen Version ein Verständnis der gelehrten Öffentlichkeit für seine kritische Position zu erwirken,64 dokumentierte lediglich, dass die gekürzte Version nur die Schwachstellen im Kant-Verständnis Garves besonders betont hatte; Hißmann und Feder hatten Garves Rezension mithin kongenial gekürzt und pointiert. Garve – wie auch Feder – wird die öffentliche Blamage nicht vollends überwinden; er wird jedoch bis in seine spätesten Texte die Auseinandersetzung mit Kants Philosophie weiter suchen65 – ohne je zu einem echten Verständnis vorzudringen. Bei allem Ärger, den Garve offenbar schon früh zu spüren bekommt,66 gelingt ihm im Jahre 1783 endlich die Publikation der Cicero-Übersetzung sowie seines umfangreichen Kommentars, der in der interessierten Öffentlichkeit weithin wahrgenommen wird. Am 13. Dezember kann Garve an Zollikofer berichten, dass nicht nur Friedrich II. die Bände mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen habe, sondern auch der Herzog von Gotha oder Johann Caspar Lavater ausführliche Briefe übersandten, in denen sie ihre Lektüreeindrücke beschrieben;67 auch eine Reihe von Rezensionen werden verfasst,68 Friedrich Nicolais (1733‒1811) Allgemeine deutsche Bibliothek überschlägt sich gar mit einer 45-seitigen, überaus positiven Besprechung.69 Gleichwohl gibt es auch Kritik insbesondere an einem heimlichen Machiavellismus Garves || 61 Anon. [Christian Garve]: Rez. von Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Riga 1781. In: Zugaben zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen 1782, Bd. 1, 3. St., S. 40–48. 62 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. In: AA IV, S. 373. 63 Brief Christian Garves an Immanuel Kant, 13. Juli 1783. In: AA X, S. 328–333, spez. S. 329. 64 Ursprüngliche Fassung in: Allgemeine deutsche Bibliothek, Anhang zum 37.–52. Bd. (1785), 2. Abt., S. 838–862. 65 Vgl. hierzu insbesondere die Kant gewidmete Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre, von dem Zeitalter des Aristoteles an bis auf unsre Zeiten. Eine zu dem ersten Theile der übersetzten Ethik des Aristoteles gehörende und aus ihm besonders abgedruckte Abhandlung (Breslau 1798). 66 Brief von Zollikofer vom 4. April 1782, GGW XVI.1, S. 297. 67 Brief an Zollikofer vom 17. Dezember 1783, GGW XVI.1, S. 327–333. 68 Siehe hierzu die Auflistung bei Koch-Schwarzer: Populare Moralphilosophie (s. Anm. 3), S. 570. 69 Allgemeine deutsche Bibliothek 57 (1784), S. 1–45.

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in Sachen Politik. Dennoch ist der Erfolg dieser Übersetzung überwältigend, selbst Kant nimmt sie zum Anlass, sich mit Plänen zu einem Anti-Garve zu befassen,70 die letztendlich in die von Garve erneut unabhängige Grundlegung zur Metaphysik der Sitten münden.71 Obwohl durchaus zufrieden, wird Garve auf diese Kritik mit der Ausarbeitung einer Monographie antworten, die im Jahre 1788 das Verhältnis von Moral und Politik zum Gegenstand macht und dabei die politische Theologie des Autors dokumentieren wird.72 Zuvor jedoch wird Garve seine Publikationstätigkeit und damit auch seine Präsenz in den vielfältigen Aufklärungsdebatten der 1780er Jahre erheblich ausweiten. So wird er sich in die von Friedrich Nicolai angezettelte Debatte über geheime Machenschaften der Jesuiten und des Katholizismus im Allgemeinen73 einmischen, und zwar mit Aufsätzen und einer umfangreichen Monographie, weil Nicolai ihn direkt angegriffen hatte.74 Er wird sich darüber hinaus in eine Kontroverse mit Joachim Heinrich Campe (1746‒1818) über Fragen der Pädagogik werfen und ab 1790 mit mehreren Aufsätzen zu den revolutionären Ereignissen in Frankreich kritisch Stellung beziehen.75 Vor allem aber wird er ab Mitte des Jahrzehnts und veranlasst durch eine Übersetzung John Macfarlans das sozialpolitische Problem der Armut publizistisch bearbeiten, das sowohl nach dem Siebenjährigen Krieg als auch nach den großen Hun-

|| 70 Vgl. hierzu u. a. Heiner F. Klemme: Freiheit oder Fatalismus? Kants positive und negative Deduktion der Idee der Freiheit in der Grundlegung (und seine Kritik an Christian Garves Antithetik von Freiheit und Notwendigkeit), In: Heiko Puls (Hg.): Kants Rechtfertigung des Sittengesetzes in ›Grundlegung‹ III. Deduktion oder Faktum? Berlin 2014, S. 61‒103, v. a. S. 92ff. 71 Vgl. hierzu Manfred Baum: Kant und Ciceros ›De officiis‹. In: ders.: Kleine Schriften. Bd. 2: Arbeiten zur praktischen Philosophie Kants. Hg. von Dieter Hüning. Berlin, Boston 2020, S. 45–56 sowie Andree Hahmann: Christian Garve als Ausleger der stoischen Philosophie. Die Philosophischen Anmerkungen und Abhandlungen zu Ciceros Büchern von den Pflichten. In: Udo Roth, Gideon Stiening (Hg.): Christian Garve (1742‒1798). Philosoph und Philologe der Aufklärung. Berlin, New York 2021, S. 127‒142. 72 Christian Garve: Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik, oder einige Betrachtungen über die Frage, in wiefern es möglich sey, die Moral des Privatlebens bey der Regierung der Staaten zu beobachten. Breslau 1788, S. 141–156 (GGW VI). 73 Vgl. hierzu u. a. Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974, S. 111ff. u. ö. sowie Ursula Paintner: Aufgeklärter Antijesuitismus? Zur antijesuitischen Argumentation bei Friedrich Nicolai. In: Stefanie Stockhorst (Hg.): Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung. Göttingen 2013, S. 315‒336. 74 Vgl. hierzu Christian Garve: Schreiben an den Herrn Friedrich Nicolai von Christian Garve, über einige Äußerungen des erstern, in seiner Schrift, betitelt: Untersuchungen der Beschuldigungen des P[rof]. G[arve]. gegen meine Reisebeschreibung. Breslau 1786; zu den Hintergrundbedingungen vgl. GGW XV.1, S. 204. 75 Siehe hierzu u. a. Christian Garve: Einige Betrachtungen veranlaßt durch das Dekret der Nationalversammlung in Frankreich über die Güter der Geistlichkeit. In: Berlinische Monatschrift 1790, S. 388–414 (GGW V).

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gerkatastrophen der frühen 1770er Jahre zu einem politischen Problem zu werden drohte. Dabei geht es Garves neben einem spezifischen Konzept von Volksaufklärung76 vor allem um einen Beitrag zur »Policey- und Staatswissenschaft«,77 die des Phänomens Herr werden soll. Dazu macht Garve auf der Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit Macfarlan konstruktive Vorschläge. Doch bei allen Versuchen um innovative Perspektiven und Differenzierungen in den Erscheinungsformen der Armut verbleibt Garve bei Fragen zu deren Ursachen weitgehend im Rahmen moralinsaurer Vorverurteilung: Wenn Faulheit und Lüderlichkeit zusammen verbunden, die Ursachen des Verarmens gewesen: so ensteht die eigentliche Bettlerrace. Den Armen von dieser Art ist fast durchaus nicht zu helfen.78

Gleichwohl ist nicht alle Armut Konsequenz moralischer Verfehlung und irreversibel. Vor allem ein solider Glaube ist nach Garve eine gute Bedingung für den Ausgang aus jener zumeist selbstverschuldeten Abhängigkeit von der »Mildtätigkeit Anderer«.79 Mit einem breiten Themenspektrum, das sich zur Moralphilosophie, zur Herrschafts- und Sozialpolitik und zur Pädagogik auch durchaus kontrovers äußert, findet Garve mithin in den 1780er Jahren erneut in die Rolle eines einflussreichen Aufklärers, der als eigenständige Stimme wahrgenommen wird und doch auch als Moment jener kantkritischen Bewegung firmiert, die in den 1780er Jahren mit Autoren wie Feder, Meiners, Herder oder Forster dem als schlechte Metaphysik interpretierten Gebaren aus Königsberg empiristischen Einhalt zu gebieten versucht.80 Auch geht er wieder häufiger auf Reisen, so 1783 nach Leipzig und Berlin und 1790 erneut nach Berlin, zumeist wird er von den örtlichen Aufklärern mit Wohlwollen empfangen. Auch weitet er sein stets gepflegtes umfangreiches Netzwerk von Briefwechseln aus; selbst mit Kant hält er, wenngleich sporadisch, Kontakt.81 Dabei geht es in den Briefen an die Freunde Weiße und Zollikofer häufig um Ergebnisse seiner umfangreichen Lektüren, bei denen er stets um die Wahrnehmung aktueller Neuerschei-

|| 76 Koch-Schwarzer: Populäre Moralphilosophie (s. Anm. 3), S. 322ff. 77 GGW XII.2, S. 1. 78 Ebd., S. 96. 79 Ebd. 80 Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: »Ganzer Mensch« statt »reiner Vernunft«. Feders Zeitschriftenprojekt Philosophische Bibliothek und seine Rezension der Kritik der praktischen Vernunft. In: HansPeter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening (Hg.): Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. Berlin, Boston 2018, S. 209–234. 81 Noch Mitte September, wenige Wochen vor seinem Tod, schreibt er an Kant einen Begleitbrief zur Übersendung seiner just erschienenen Sittenlehre, die er dem Königsberger ›Freund‹ gewidmet hatte; vgl. Immanuel Kant: Briefwechsel. Hg. von Rudolf Malter und Joachim Kopper. Hamburg 3 1986, S. 776–778.

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nungen und rezenter Debatten bemüht ist; so heißt es in einem Brief an Zollikofer am 17. September 1787, also auf dem Höhepunkt des Spinoza-Streites82: Unsre neuen Deutschen Metaphysiker werden mir bald zu hoch werden. Natürlicher Weise wird auch meine Philosophie für sie zu niedrig seyn. Weil doch immer aber noch eine Classe im Volke übrig bleibt, die sich zu den aller abstractesten Speculationen nicht erheben kann, und doch noch über das Unsichtbare nachzudenken in sich ein Bedürfniß findet; so werde ich auch vielleicht noch meinen Kreis, wenn auch nur einen kleinen finden, mit dem ich in meiner Denkungsart au niveau bin, und der mich also weder als seicht verachten, noch als unverständlich wegwerfen wird. – Ich bin an die Quelle unsrer sublimen Metaphysik gegangen, und habe den Spinoza selbst mit aller Aufmerksamkeit gelesen.83

Ausdrücklich werden Herders Gott und Jacobis Spinozabriefe in diesem Zusammenhang einer ›Neuen Deutschen Metaphysik‹ kritisch erwähnt. Doch kehrt Garve in seiner Lektüre auch immer wieder zu den Grundlagenwerken der Aufklärung wie Hume oder Rousseau zurück und er scheint pünktlich jede neue Publikation Kants zur Kenntnis genommen zu haben.84

2.5 Krankheit und späte Hauptwerke (1790–1798) Spätestens ab 1790 hat sich eine seit Mitte der 1780er Jahre auftretende Hauterkrankung im Gesicht Garves so weit verschlechtert, dass er größere Gesellschaften vermeiden muss, vor allem aber auf anstrengende Reise weitgehend verzichtet. Das krebsartige Geschwür verursacht offenbar eine häufig offene Wunde im Gesichtsbereich und führt zudem zu einer zunehmenden Erblindung. Zweimal, 1792 und 1794, unternimmt er eigens Reisen nach Posen zu einem Wundarzt, der als Spezialist für seine Erkrankung gilt, kehrt aber jeweils enttäuscht nach Breslau zurück.85 Gleichwohl scheint seine schriftliche Produktivität kaum nachzulassen, ja gegen Ende seines Lebens sich gar noch zu steigern: Es gelingen ihm nicht nur programmtische Aufsätze, so ein Essay zur Mode,86 der versucht, eine spezifische Form von Normativität zu fassen, die zwar weder ethische noch rechtliche Verbindlichkeit

|| 82 Zum Spinoza-Streit der 1780er Jahre vgl. insbesondere Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd. 1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt a. M. 1974 sowie Thomas Leinkauf: Friedrich Heinrich Jacobi. In: Helmut Holzhey, Vilem Murdoch (Hg.): Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nordund Osteuropa. 1. Halbbd. Basel 2014, S. 584–606. 83 Brief an Zollikofer vom 27. September 1787, GGW XVI.1, S. 392f.; vgl. schon ebd., S. 227f., S. 232 u. ö. 84 Siehe u. a. Brief an Zollikofer vom 8. Januar 1786, GGW XVI.1, S. 376f. 85 Vgl. hierzu die Briefe an Weiße vom 9. Juni 1792 (GGW XV.2, S. 63ff.) sowie vom 31. Mai 1794 (ebd., S. 155ff.). 86 Christian Garve: Über die Moden. In: GGW I, S. 117–294.

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enthält, dennoch als Konvention machtvoll zu wirken vermag und zudem eine soziale Ausdifferenzierung aufweist; oder ein Essay zur Popularität,87 die als Bedingung der Möglichkeit einer besonderen Form von Aufklärung begriffen wird. Darüber hinaus arbeitet er in eben dieser populären Weise zu einzelnen Themen der empirischen Psychologie, wie über die Geduld, über die Muße oder über die Laune,88 die eine große Leserschaft finden und Garves Meisterschaft in der Gattung des Essays dokumentieren.89 Vor allem aber gelingen ihm in den späteren 1790er Jahren vier monographische Arbeiten, die die Schwerpunkte seines philosophischen Arbeitens zu bündeln vermögen: Erstens publiziert Garve in seinem Todesjahr eine Biographie Friedrichs II.,90 die sein Konzept genialischer Individualität noch einmal an einer biographischen Skizze exemplifiziert und zugleich seine Vorstellung von einem aufgeklärten Absolutismus in Zeiten der Revolution mit Nachdruck deutlich macht; zweitens erscheint schon ein Jahr zuvor der erste Band seines anthropologischen opus magnum, Gesellschaft und Einsamkeit,91 in dem er das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als Grundbedingung der Natur des Menschen nachzuweisen sucht; das entscheidende telos der umfangreichen Abhandlung benennt Garve wie folgt: Aber es giebt Materien, über welche alle gesittete Menschen einige Untersuchungen anstellen, und gewisse Grundsätze bey sich feststellen müssen, obgleich nur wenige daraus ihren Beruf machen. Religion, Politik, Staats- und Haus-Wirthschaft, und die Kenntniß des gesellschaftlichen Lebens selbst, welche der Endzweck der gegenwärtigen Abhandlung ist: dieß sind unter den Kenntnissen gleichsam die Gemeingüter des menschlichen Verstandes; darüber denken, urtheilen und reden mehr oder weniger alle Menschen. Gerade über diese allgemeinen Gegenstände des Nachdenkens aber behält oft der in dem Fache seines Berufs einsichtsvollste Mann sehr große Vorurtheile, wenn er von dem Umgange mit Menschen zu sehr abgeschnitten ist.92

Hier geht es Garve noch einmal ums Ganze der Anthropologie als Wissenschaft, um jene Konstanten in der Natur des Menschen, die zwar nur empirisch zu ermitteln, gleichwohl gegenüber sozialen, ethnischen und geschlechtlichen Bedingungen

|| 87 Christian Garve: Über die Popularität des Vortrages. In: GGW IV, S. 331–358. 88 Vgl. Christian Garve: Über die Geduld. In: Versuche über verschiedne Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. Bd. 1. Breslau 1792, S. 1–116 (GGW I); ders.: Über die Muße. In: Deutsche Monatsschrift 1792, Bd. 1, S. 93–98 (GGW IV); ders.: Über die Laune, das Eigenthümliche des Englischen humour und die Frage: ob Xenophon unter die launigen Schriftsteller gehöre. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 61 (1798), 1. St., S. 51–77 (GGW V). 89 Vgl. hierzu auch Nina Hahne: Essayistik als Selbsttechnik. Wahrheitspraxis in Zeitalter der Aufklärung. Berlin, Boston 2015, S. 267ff. 90 Christian Garve: Fragmente zur Schilderung des Geistes, des Charakters, und der Regierung Friederichs des zweyten. 2 Bde. Breslau 1798 (GGW VII). 91 Vgl. Christian Garve: Über Gesellschaft und Einsamkeit. 2 Bde. Breslau 1797/1800 (GGW II). 92 Ebd., Bd. 1, S. 143.

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menschlicher Existenz indifferent sein sollen. Gesellschaft und Einsamkeit ist eine der bedeutenden Summen der Anthropologie der Spätaufklärung. Drittens bündelt Garve seine Versuche zur Moralphilosophie in einer historischen und systematischen Abhandlung zu den Prinzipien der Sittenlehre,93 die auch eine letzte, verzweifelte Auseinandersetzung mit Kants kritischer Philosophie enthält. Garve präludiert den zweiten, systematischen Teil mit einem »Glaubensbekenntnis«, in dessen Rahmen er sich zunächst zur Popularphilosophie bekennt: Es wird der jezt herrschenden Partey der Philososphen, wenn einige diese Schrift würdigen, sie bis hieher durchzulesen, nicht entgangen seyn, daß ich ein populärer Philosoph, im schlimmsten Sinne des Worts, oder vielmehr, daß ich ein Prediger des allgemeinen Menschensinnes, – des Feindes aller ächten Philosophie, sey. Ich gestehe ihnen, daß sie Recht haben.94

Er macht auch schon in diesem Glaubensbekenntnis darüber hinaus kenntlich, dass die Prinzipien seiner Moralphilosophie bei aller Lektüre Kants den Grundlagen seiner Überzeugungen seit der Ferguson-Kommentierung verpflichtet geblieben sind: Um jedoch das, was ich mein Glaubensbekenntniß genannt habe, nicht unvollständig zu lassen, und doch nicht den Leser durch Wiederhohlungen zu ermüden; will ich hier nur die Summe meiner moralischen Ideen, deren meiste der Leser schon weiß, unter folgende drey Punkte zusammenfassen: 1) von dem Triebfedern der sittlichen Handlungen; 2) von der gesetzgebenden Vernunft; und 3) von der sittlichen Freyheit. In Absicht des ersten Punkts bin ich überzeugt, daß die Glückseligkeit, in dem wahren Sinne genommen, eine sehr würdige, und in der That die einzige Triebfeder sittlicher Handlungen sey. In Absicht des zweyten Punkts bin ich überzeugt: daß dem wahrhaft sittlichen Menschen, seine eigne Vernunft die Regeln seiner Handlungen vorschreiben müsse; daß aber die Vernunft diese Regeln nicht aus sich selbst, sondern aus der Erfahrung, und aus den, von allen andern geistigen Fähigkeiten eingesammelten, Kenntnissen hernehme. In Absicht des dritten Punkts bin ich überzeugt: daß der Mensch, wenn er, um sittlich seyn zu können, frey seyn soll, dieß in der Sinnenwelt seyn müsse; daß aber auch nicht bloß der Glaube an die Sittlichkeit, sondern wahrscheinliche Gründe, aus der Natur des Menschen und der Dinge hergenommen, uns von der Freyheit des erstern gewiß machen.95

Alle drei Punkte sind gegen Kants Ethik formuliert.96 Viertes gelingt Garve in diesen Jahren noch die Übersetzung und Kommentierung der Nikomachischen Ethik und der Politik des Aristoteles,97 zwei Werken, denen || 93 Christian Garve: Einige Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre. Ein Anhang zu der Übersicht der verschiedenen Moralsysteme. Breslau 1798 (GGW VIII). 94 Ebd., S. 1. 95 Ebd., S. 4f. 96 Vgl. hierzu Franz Hespe: Garves späte Sittenlehre. In: Udo Roth, Gideon Stiening (Hg.): Christian Garve (1742‒1798). Philosoph und Philologe der Aufklärung. Berlin, New York 2021, S. 225‒263. 97 Die Ethik des Aristoteles übersetzt und erläutert. 2 Bde. Breslau 1798/1801 sowie Die Politick des Aristoteles. Übersetzt von Christian Garve. Hg. und mit Anmerkungen und Abhandlungen begleitet von Georg Gustav Fülleborn. 2 Bde. Breslau 1799/1802.

XXVIII | Udo Roth, Gideon Stiening

er sich in seinen eigenen Vorstellungen von Moral und Politik durchaus verpflichtet fühlte. Der ungeheure Arbeitsumfang dieser letzten Jahre fordert seinen Tribut, am 1. Dezember 1798 stirbt Garve in Breslau.

3 Zur Auswahl der Werke Christian Garves Garve hat in den gut 30 Jahren seiner wissenschaftlich-publizistischen Tätigkeit eine große Varianz an Texten unterschiedlicher Gattungen veröffentlicht.98 Diese Arbeiten lassen sich formal in vier Werkgruppen unterteilen: 1. 2. 3. 4.

Monographien Beiträge in Zeitschriften Rezensionen Übersetzungen

In der folgenden Auswahl seiner Schriften konnten alle vier Gattungen berücksichtigt werden. Dabei konzentriert sich die Abteilung zu den Monographien auf die Wiedergabe seiner zentralen Arbeit zum Begriff und der Idee der Politik, die er in der Tradition des 18. Jahrhunderts als Staatskunstlehre begreift und mit der Frage verbindet, ob der jeweilige Souverän neben den technisch-praktischen Maximen des Politischen auch die moralisch-praktischen Grundsätze der Ethik des Privatmannes zu berücksichtigen habe. Aus zahlreichen Beiträgen Garves in Zeitschriften, die die hohe Kunst seiner Essayistik dokumentieren können, konnten nur einige paradigmatische Essays ausgewählt wurden, so der berühmte Text über die Moden, weil sich hier Garves empiristische Normativitätskonzeption exemplarisch zeigt. Ein weiterer Text behandelt die äußeren Einflüsse auf die Sprache und Literatur einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Region und dokumentiert Garves Interesse an einer Literaturkritik, die durch eine empirische Anthropologie fundiert sein soll. Der kurze und prägnante Essay über die Popularität des Vortrags, in dem der Autor sein Modell von Popularphilosophie verteidigt, wurde ebenso aufgenommen wie die Fortsetzung der Kontroverse mit Kant über das Verhältnis von Theorie und Praxis in Ethik, Recht und Politik. Abgerundet wird die Auswahl der garveschen Essays durch ein kleines Kabinettstückchen seiner Kunst, den Ernsthaften Commenar über einen Scherz, in dem er Jonathan Swifts Meditation upon a Broomstick zum Anlass für Reflexionen über die Französische Revolution nimmt.

|| 98 Vgl. hierzu die Bibliographie am Ende dieses Bandes.

Zur Einführung | XXIX

Aus den Kommentaren zu seinen Übersetzungen wurden die frühen Anmerkungen zu Ferguson ausgewählt, weil sie Garves Ruhm begründeten und schon 1772 die spezifische Form und Funktion dieser Kommentare ausweisen können. Garve hat – so scheint es – seine zuvor ebenso umfangreiche wie ambitionierte Rezensionstätigkeit nach dem Skandal um seine Besprechung der Kritik der reinen Vernunft nahezu vollständig eingestellt. In den 1760er Jahren, mithin zu Beginn seiner Laufbahn, liefert er nicht nur umfangreiche, sondern sachlich komplexe Rezensionen ab, die zeigen können, dass der Aufklärer das Geschäft der Kritik außerordentlich ernst nahm; seine Besprechungen der Werke Lessings, Mendelssohns und Herders ermöglichen es, ein spezifisches Verständnis von Aufklärung bei der Arbeit zu beobachten. Die nachfolgende Edition ausgewählter Texte Christian Garves bemüht sich um einen repräsentativen Ausschnitt aus seinem vielfältigen und umfangreichen Werk. Dabei wurden Orthographie und Interpunktion des Originals beibehalten und nur in Fällen offensichtlicher Druckfehler stillschweigende Verbesserungen vorgenommen. Hervorhebungen im Original werden als Kursive wiedergegeben, zeitgenössische Antiqua hingegen bleibt unberücksichtigt. Der Kommentar beschränkt sich auf die notwendigsten, zumeist historischen Erläuterungen und wird ergänzt durch eine Quellen- und Forschungsbibliographie.

Die Herausgeber sind – wie stets, so auch in diesem Falle – zu vielfältigem Dank verpflichtet. Dieser gilt vor allem Anna Sebastian, die bei der Erstellung des Typoskripts wertvolle Hilfe leistete. Ein besonderer Dank gilt zudem dem Verlag Walter de Gruyter und dabei insbesondere Macus Böhm und Anne Hiller, die sich für unsere Textauswahl aus dem Werk Christian Garves mit großem Engagement einsetzten.

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https://doi.org/10.1515/9783110647808-003

Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik | 3

Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik, oder einige Betrachtungen über die Frage: »in wiefern ist es möglich die Moral des Privatlebens bey der Regierung der Staaten zu beobachten?« 5

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Eine gnugthuende Antwort dieser Frage ist über meinen Horizont. Je mehr ich mich mit derselben beschäftige: desto mehr Schwierigkeiten sehe ich von allen Seiten. Auf der einen ist es Pflicht des Philosophen, der Gerechtigkeit und der strengen Tugend wenigstens in der Theorie nichts zu vergeben, da die Leidenschaften der Menschen sich ohne das so leicht erlauben, in der Ausübung Ausnahmen davon zu machen. Auf der andern ist es Vorschrift seiner Vernunft, nichts unmögliches zu fordern, weil sonst auch seine der Anwendung fähigsten Lehren, von den Personen, welche den Geschäften vorstehen, verachtet werden. In welchem Puncte sich diese beyden Sachen vereinigen lassen, ist mir bisher noch nicht klar geworden. Zieht

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man die Erfahrungen aller Zeitalter, und die Beyspiele selbst der besten Fürsten zu Rathe: so | sollte man glauben, daß es unmöglich sey, auf dem Throne und an der [4] Spitze der Staaten, von den strengen Regeln die der Aufführung des Privatmanns im Verkehr mit seines Gleichen vorgeschrieben sind, nicht abzuweichen. Wenn man auf der andern Seite die Nützlichkeit und innere Vortreflichkeit dieser Regeln bedenkt; wenn man sieht, daß, sobald dieselben nicht auch im öffentlichen Leben für unverletzlich gehalten werden, sich gar keine bestimmte Schranken mehr se[t]zen lassen, um der Willkühr und den Leidenschaften der Regenten Einhalt zu thun: so ist man geneigt, den Urtheilen der Welt und den Erfahrungen welche die Geschichte von den Folgen der Dinge dabeut, zu trotzen, und jede Staatshandlung für Verbre-

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chen zu erklären, die nicht auch im Verhältnisse eines Bürgers gegen den andern erlaubt wäre. So viel sehe ich deutlich ein, daß der einzige Weg jene Frage zu untersuchen, dieser ist: sich zuerst die Unterschiede deutlich zu machen, die sich zwischen der Lage der Regenten und Privat-Personen finden. Diese Unterschiede sind doppelt. – 1. Der Souverän eines Staates ist gegen den

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Souverän eines andern Staates in dem Stande der Natur, wo jeder nur sich selbst zu seinem Beschützer hat, und beyde, wenn sie in Streit gerathen, nur sich selbst zu ihren Richtern haben. Der Privatmann hingegen steht mit einem andern in einer solchen Verbindung, vermöge welcher ihnen vor Beleidigungen ein höherer Schutz gewährt,| und ihnen zu ihren Streitigkeiten ein Richter angewiesen wird. [5] 2. Der Souverain hat für die Erhaltung und das Wohl einer ganzen Gesellschaft zu sorgen, die ihm anvertrauet ist: er ist Depositarius einer fremden Macht, ein Geschäftsträger eines ansehnlichen Corporis. – Der Privatmann hat nur für das Wohl seiner selbst und der Seinigen, – eines einzigen, oder weniger Menschen, zu sorgen.

4 | 1 Aus den Monographien I. Zu Folge des ersten Unterschiedes also wird es, um die Pflichten eines Staats und eines Souveräns gegen den andern auszufinden, nöthig seyn, überhaupt zu untersuchen, welche Pflichten unabhängige Menschen im Naturstande gegen einander zu beobachten haben. Diese Materie vom Naturstande ist schon oft aus verschiedenen Gesichtspuncten untersucht worden. Man zweifelt, und mit Recht, ob derselbe je unter einzelnen Menschen statt gefunden habe. Aber wenn er auch nie vorhanden gewesen ist, so ist deßwegen doch die hypothetische Untersuchung, was bey Voraussetzung völliger Unabhängigkeit, Menschen einander leisten können und sollen, nicht unnütz, wenn doch die wirklichen Zustände der Menschen sich jener Independenz bald mehr, bald weniger nähern. Freylich macht es eine Schwierigkeit mehr, daß wir hierbey nicht die Erfahrung [6] zu Rathe ziehen kön|nen. Nehmen wir, wie es fast geschehn muß, die Beyspiele aus den Handlungen moralischer Personen, (mit welchem Namen wir die Staaten belegen, weil die Vielen, aus welchen sie bestehn, wegen ihrer Verbindung als eine einzige Person handeln,) so sind wir, besonders bey unsrer Unterschung, in Gefahr einen Cirkel zu machen; und, indem wir zuerst das Wesentliche des Standes der Natur aus den Beyspielen vielleicht schon verdorbner und ungerecht handelnder Staaten abstrahiren, alsdann nach jenen Begriffen hinwiederum diese Verderbnisse, und diese Ungerechtigkeiten zu entschuldigen. Selbst die Staaten sind selten in jener völligen Verbindungslosigkeit, die das Eigenthümliche des Naturstandes ausmacht. Es entstehen aus der Nachbarschaft, aus dem Verkehr der Nationen, selbst aus ihren Kriegen, und den Friedensschlüssen mit welchen sie sich endigen, nach und nach allerhand Bande unter ihnen, die, indem sie ihr Verhältniß, dem Zustande der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft näher bringen, auch eine größre Übereinstimmung in den Pflichten der Fürsten und der Privatleute bewirken. Ein Staat der vermittelst der ihm geleist[et]en Garantien auf einen mächtigen Schutz zu rechnen hat, ist nicht mehr in der Lage, als einer der lediglich auf seine eigne Stärke seine Sicherheit bauen muß. Doch selbst um den Einfluß dieser Verbindungen, deren es viele Stufen giebt, [7] auf Pflichten oder Ge|wohnheiten der Staaten deutlicher einzusehn, kan man nicht umhin sich einen Zustand der vorher gieng zu denken, wo noch gar keine Verbindung statt fand. In diesem Zustande nun finde ich drey Eigenthümlichkeiten. Erstlich, jeder muß nicht nur für seine Sicherheit selbst sorgen, sondern jeder ist auch allein Richter darüber, was zu seiner Sicherheit gehört. Zweytens, die Gewissens- und die Zwangspflichten sind in Absicht des wirksamen Grundes ihrer Verbindlichkeit, nicht unterschieden: oder mit andern Worten, der unabhängige Mensch hat keine andre Bewegungsgründe gerecht zu handeln, als die er auch hat, wohlthätig zu seyn.

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Drittens, das Eigenthumsrecht wird nicht durch so deutliche und so unverletzliche Regeln bestimmt. Was den ersten Punct, die Sorge für die Sicherheit betrifft: so ist dieselbe im bürgerlichen Leben und im Naturstande vornehmlich darinn verschieden, daß man in dem erstern keine Gefahr von andern Menschen befürchtet, als bis sie da ist, und alsdann entweder, wenn keine Obrigkeit Hülfe leisten kan, sich seiner Haut wehrt, oder wenn Zeit dazu ist, bey der Obrigkeit Schutz sucht. Im Naturstande hingegen muß man die Gefahren dieser Art, (ich meyne die welche von den Gewaltthätigkeiten der Menschen herkom|men,) voraussehen und ihnen vorbeugen, oder man ist [8] verlohren. Diese Anstalten gegen künftige vermuthliche Angriffe sind es, welche den Unrechtigkeiten des unabhängigen Menschen den meisten Spielraum lassen, und den Moralisten welcher Gränzen setzen will am meisten verlegen machen. In Absicht derselben müssen augenscheinlich zwey Betrachtungen vorhergehn, wenn das Verfahren gerecht seyn soll. Erstlich: »wie wahrscheinlich stehen diese Gefahren uns bevor«? Wenn die Voraussehung derselben nicht richtig ist: so sind auch die Maaßregeln falsch, die deßhalb genommen werden. In dem ungegründeten Mißtrauen liegt der erste Grund zu Ungerechtigkeiten. Zweytens, »wie weit dürfen die Anstalten dagegen getrieben werden«? Die allgemeine Regel ist: beleidige niemanden zuerst. Aber es giebt augenscheinlich Fälle, wo alle Vertheidigung umsonst ist, wenn der Angriff abgewartet wird. Mehrere können sich gegen einen verbünden. Ihren vereinigten Kräften zu widerstehen, ist diesem Einen unmöglich; aber er kan ihr Bündniß trennen, wenn er einen derselben zuerst angreift und überwindet. In dem Falle der Nothwehr ist jedem Menschen, auch im bürgerlichen Zustande erlaubt, für die Erhaltung seines Lebens selbst das Leben andrer aufzu|opfern: – [9] noch weit eher sich des Eigenthums andrer zu bemächtigen. Dieser Fall der Nothwehr erstreckt sich im Naturstande viel weiter, weil er da nicht bloß bey Thätlichkeiten, sondern auch bey Anstalten und Verbündungen andrer zu unserm Untergange eintritt. Klar ist es, wenn die Umstände genau so sind, wie ich sie angegeben habe; – wenn ein Angriff uns gewiß bevorsteht; wenn er gewiß alsdann, wann er zur Ausführung kömmt, unüberwindlich für uns ist; wenn er gewiß dadurch zu Schanden wird, wenn wir einen unsrer Feinde zuerst angreifen: so ist dieser Angriff im Naturstande erlaubt. Aber dann wird er ungerecht, wenn alle diese Voraussetzungen falsch sind: er wird zweydeutig, wenn die Wahrheit derselben nicht ausgemacht ist. Alles kömmt also bey der Bestimmung, ob der frührere Angriff eines uns bloß drohenden Gegners, oder eines uns gefährlichen Rivals, gerecht oder ungerecht sey, darauf an, wie richtig die Gesinnungen und die Stärke der Feinde, und wie richtig unsre eigne Hülfsmittel von uns beurtheilt worden sind. Was durch die Noth allein

6 | 1 Aus den Monographien gerechtfertigt wurde, wird unerlaubt, wenn man sich eine Noth erdichtet, oder fälschlich eine größre eingebildet hat, als vorhanden war. Aber wen hat der Mensch im Naturstande, oder jedes unabhängige Corpus, wen [10] haben sie zum Rath|geber, wen zum Richter über alle diese Wahrscheinlichkeiten als sich selbst? Die Regel also, welche dem unabhängigen Menschen, so wie dem Unterthanen in einem Staat vorschreibt, »Du sollst niemanden zuerst beleidigen; du sollst dich keines fremden Eigenthums bemächtigen,« kan bey dem ersten lange so wirksam nicht seyn, als bey dem andern, ihn von Ungerechtigkeiten abzuhalten: weil bey jenem augenscheinlich weit mehrere Ausnahmen davon statt finden, und es in seiner Lage ihm allein überlassen bleibt zu beurtheilen, ob der Fall der Ausnahme vorhanden sey. Was für den Bürger Nothwehr heißt, ist nach der bloßen Beurtheilung des gesunden Vernunft enger eingeschränkt, als das, was eben diesen Namen unter Unabhängigen und Schutzlosen verdient. Aber es ist auch nicht einmal der Einsicht des Bürgers überlassen, diese Fälle der Nothwehr zu bestimmen, sondern sie werden von den Gesetzen schon zum voraus angegeben. An die Stelle dieser Gesetze nun kan in dem Naturstande nichts anders treten, als der eigne Verstand und das eigne Gewissen derer, welche darinn leben, – ihr Scharfblick und ihr Muth, vermöge welcher sie sich nicht durch schimärische Gefahren leicht schrecken lassen; und ihr wohlwollendes Herz, welches sie abgeneigt macht, andern ohne die äußerste Noth zu schaden. Und eben diese Eigenschaften werden also auch nöthig seyn, um selbst jener erstern allgemeinen Regel, ihre Kraft, und einen Einfluß auf die Ausübung zu geben. [11] Dies ist die Hauptsache, die ich in meiner vorigen Abhandlung sagen wollte, und die ich in der gegenwärtigen auszuführen suche. »Für Menschen im Naturstande, für Regenten, kömmt es nicht sowohl auf Regeln des Rechts, als auf Bildung ihres Geistes und Charakters an.« Sie sind allerdings Gesetzen so gut wie wir alle unterworfen. Aber diese Gesetze sind nicht auf mamorne Tafeln geschrieben, und werden nicht durch eine Obrigkeit die das Schwerdt über ihrem Haupte hält, aufrecht erhalten. Ihr eigner Verstand muß sie dieselben lehren, und in ihrem Herzen müssen sie die Sanction davon finden. Zwar sind die Verträge, den geschriebenen Gesetzen, und die Gewalt welche diejenigen auszuüben das Recht haben, denen die Vertrags-Puncte nicht gehalten worden, – ist einer Strafe ähnlich. Aber wie sehr ist doch das eine von dem andern in seiner Natur und in seiner Wirkung unterschieden! Dieß führt mich auf den zweyten der Puncte, die ich oben als dem Naturstande eigenthümlich angegeben habe. Diejenigen welche gesagt haben, daß vor Errichtung einer bürgerlichen Gesellschaft die Menschen gar keine Pflichten gegen einander hatten, haben ohne Zweifel den Grund der bürgerlichen Pflichten selbst aufgehoben. Denn wenn [in der] Natur der Menschen und in ihren natürlichen Verhältnissen, keine solche Bewegungsgründe zu Handlungen liegen, die wir als Verbindlichkeiten ansehen können: wo-

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her soll dann das | Verbindliche des ersten Actus kommen, durch welchen die bür- [12] gerliche Gesellschaft errichtet worden ist? Wenn hingegen der Sinn jener Männer dieser gewesen ist, daß zwischen Zwangsrechten, und erbetnen Rechten, zwischen äußern und innern Pflichten, sich im Naturstande bloß ein idealer Unterschied denken lasse; daß also Gerechtigkeit, in sofern sie von Menschenliebe unterschieden ist, in besagtem Zustande nicht eine eigne ganz abgesonderte Classe von Pflichten ausgemacht habe, und erst durch die bürgerliche Vereinigung zu diesem ihrem höhern Ansehen gelangt sey: so haben sie, wie mich dünkt, die Wahrheit und Vernunft auf ihrer Seite. Allerdings ist auch im Naturstande ein reeller und leicht zu fassender Unterschied zwischen Gutes thun, und Böses unterlassen. Und dieß ist eine von den Grundlagen bey der Classification der Gewissens- und Gerechtigkeitspflichten. Auch im Naturstande sind die Bewegungsgründe zum letztern stärker, dringender für denjenigen Verstand, welcher die Wahrheit und die Natur seiner selbst und andrer einsieht, als die Bewegungsgründe zum erstern. Es sind also auch alsdann Stufen der Verbindlichkeit denkbar: eine vollkomnere und die wenigere Ausnahme leidet, dazu, andrer Zustand nicht zu verschlimmern, also niemanden ungereitzt zu beleidigen; eine geringere und die mehr von den Umständen abhängt, dazu, den Zustand andrer nach Möglichkeit glücklicher zu machen. Aber dieß ist noch nicht genug um Zwangs- von Gewissenspflichten, so wie sie [13] jetzt im Verhältnisse stehen, abzusondern. Es frägt sich, wodurch kan der Naturmensch abgehalten werden, seinen Nächsten nicht zu schaden? Ich sage eben dadurch, wodurch er angetrieben wird, ihm, wenn er kan, zu nutzen; – durch Wohlwollen. Zwar scheint zu dem ersten hinlänglich, daß man nur den andern nicht hasse. Aber dieser Zustand der Gleichgültigkeit wird sogleich gestört, als die Vortheile entgegen gesetzt sind. Außer diesem Falle würde freylich der roheste Naturmensch eben so wenig jemanden Schaden thun, als ein Schlafender. Aber eben von diesem Falle ist allein die Rede. Was kann also dem Reitze des eignen Vortheils, wenn derselbe durch Beeinträchtigung eines andern befördert wird, entgegen wirken, wenn es nicht eine der Liebe ähnliche Gesinnung ist, welche macht, daß man fremdes Leiden für ein eignes Übel hält? Nach unserm jetzigen System des Naturrechts, ist noch eine andre und zwar stärkre Triebfeder, den Menschen auch ohne gutes Herz vom Beleidigen andrer abzuhalten, vorhanden: sie liegt in dem Zwangsrechte welches der Beleidigte hat, den Angreifer zu seiner Schuldigkeit mit Gewalt zurückzuführen. Diesen Bewegungsgrund hat niemand zum Wohlthun: denn niemand hat das Recht Wohlthaten mit Gewalt zu erpressen. Hier komme ich auf den eigentlichen Punct, wohin ich wollte. [14] Gerechtigkeitspflichten sind Zwangspflichten; und wenn sie in der Ausübung von Gewissenspflichten unterschieden seyn sollen: so muß der welcher sie zu fordern hat, im Falle sie ihm versagt werden, das Zwangsrecht anwenden können.

8 | 1 Aus den Monographien Aber kan er das im Naturstande? – Es wäre ein Wortspiel dieß zu behaupten. Er hat das Recht des Widerstandes. Ich kann seinem Widerstande widerstehn. – Er hat das Recht des Krieges. Aber heißt bekriegen so viel als zwingen? Ist die höhere Gewalt immer auf der Seite des Beleidigten? Wo dieser also einzeln ist wie der Beleidiger; – wenn für den erstern nicht Helfer bereit sind, die mit ihm gemeinschaftliche Sache machen: wird nicht alsdann die Verbindlichkeit gerecht zu seyn, in sofern sie von dem Zwangsrecht der Gegenparthey abhängt, dem zufälligen Ausgange eines Wettstreits, oder der Stärke der Sehnen und Muskeln überlassen? Und da gemeiniglich Bewußtseyn überlegner Stärke ungerecht macht: wird nicht der Streit zwischen dem Beleidiger und Beleidigten am öftersten ungleich seyn, und dieser, indem er sein Zwangsrecht ausüben will, nur seinem Feinde Gelegenheit geben, ihn vollends zu Grunde zu richten? [15] Daß also der eine Mensch den andern im eigentlichen Verstande zwingen kan, ihm nicht zu schaden, d. h. gerecht gegen ihn zu seyn; – mit andern Worten, daß der Beleidigte eine überlegne Macht über den Beleidiger in Händen hat: dieß kömmt erst von der bürgerlichen Vereinigung her, und war in der That der vornehmste Zweck derselben. Hier ist die ganze Macht des Staats auf Seiten dessen der Unrecht leidet: Der welcher Unrecht thut steht einzeln. Nun hat es einen wahren Sinn, wenn man mir sagt, daß ich als Gläubiger das Recht habe meinen Schuldner zu zwingen, mir das Meinige wiederzugeben. Das heißt, ich kan den Richter, und die ihm zu Gebote stehenden Bewaffneten aufbieten, ihm eine so große Gewalt anzuthun, de[r] er nicht widerstehen kan, – eine Gewalt die hinlänglich ist, ihn zur Erfüllung seiner Schuldigkeiten zu bewegen. – Ganz von andrer Art ist die Gewalt die ich einem andern anthue, indem ich mich einer gleichen Gewalt desselben aussetze. Dieß ist kein Zwang im eigentlichen Verstande, und kan nicht die Wirkung davon haben. Ich komme also wieder auf meinen Satz zurück. Im Naturstande hat der Mensch keine andre Bewegungsgründe die Gerechtigkeitspflichten, – als die er hat, die Gewissenspflichten zu erfüllen: Wenigstens ist kein besondrer Bewegungsgrund beständig und nothwendig, mit der eigenthümlichen Beschaffenheit der erstern verbunden. Furcht, wenn diese an die Stelle der Liebe und de[s] Großmuth[s] treten [16] soll, kan nur bey | gewissen Personen, und unter bestimmten Umständen Wirkung thun: nämlich alsdann wenn der, welcher den Beleidigungen andrer ausgesetzt ist, stärker ist oder mehrere Freunde hat, als der welcher ihn zu beleidigen in Versuchung geräth. Die sogenannten vollkomnen Rechte müssen im Naturstande noch durch die zufällige Überlegenheit des Menschen, welchem sie zukommen, unterstützt werden. Und, diese Überlegenheit vorausgesetzt: – so wird der andre dadurch zur Unterlassung von Ungerechtigkeiten nicht stärker, als zu Erweisung von Gefälligkeiten angetrieben werden. Dem Übermächtigen eine Wohlthat abzuschlagen ist eben so gefährlich, als ihm ein Recht zu verweigern. So würde es, dünkt mich, unter Menschen im Naturstande ausgesehn haben: so ist es noch jetzt unter Regenten unabhängiger Staaten beschaffen. Kein Mittel den Ungerechten zu zwingen ist hier vorhanden, als mit ihm Krieg zu führen. Aber die-

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ses Mittel ist nur in den Händen des Stärkern von gewissem Erfolge. Um dieser Ursache willen sehen wir auch, daß jeder Souverän sich wenn er kan, dieses Schutzes vor der Ungerechtigkeit andrer, – seiner eignen Übermacht, – zu versichern sucht. Jeder ist auf Schwächung seiner Rivalen bedacht, um, wie er andern vorspiegelt, oder vielleicht sich selbst überredet, in der Zukunft, die bloße Furcht welche er einflößt zur Schutzwehre seiner Rechte und der Rechte seines Volks zu haben, ohne erst das Schwerd ziehn zu dürfen. So werden oft auf der Stelle Ungerechtigkeiten [17] | begangen, um in der Folge das Recht besser vertheidigen zu können. Beym Privatmanne hängt Ehrlichkeit gemeinhin von ganz andern Principien ab, als auf welche seine Tugend und sein wohlthätiges Bestreben zum Besten andrer sich gründet. Jene kan ohne diese bestehn: daher ist es auch, wie Lessing sagt, für den gemeinen Bürger so verzweifelt wenig, wenn er nichts mehr als ehrlich ist. Ganz anders bey den Unabhängigen. Bey ihnen ist Beobachtung des Rechts die höchste und verehrungswürdigste Tugend: denn sie ist nur bey einer großen Einsicht, einem ausgebreiteten Wohlwollen, und einem festen Muthe möglich. Bey dem Privatmanne kan Furcht vor der Strafe oder mit andern Worten, die Furcht vor der Gewalt des ganzen Staats die dem Beleidigten beysteht, von Ungerechtigkeiten abhalten. Bey dem Unabhängigen hingegen ist diese Furcht entweder eine unwirksame, oder eine verkehrt wirkende Triebfeder. Sie ist eine unwirksame, wenn der Unabhängige sich für mächtig genug hält, den Krieg der aus seinen Ungerechtigkeiten entstehen möchte, (das einzige Übel welches er zu befürchten hat,) auszuhalten, und in demselben Sieger zu bleiben. Furcht ist selbst ein zu Ungerechtigkeiten verleitendes Principium bey demjenigen Souverän, der sich zu schwach fühlt, um im Streite mit andern nicht unterzuliegen, und sich daher nicht eher für sicher hält, bis er auf irgend eine Art zur Gleichheit mit seinem Nebenbuhler, oder zur Übermacht gelangt ist. Eine dritte Eigenthümlichkeit des Naturstandes ist, daß das Eigenthum in dem- [18] selben weder durch so kenntliche und deutliche Zeichen zu bestimmen, noch durch andre Mittel, als die beständige Wachsamkeit und die Gewalt des Eigenthümers zu befestigen möglich ist: wodurch die ganze Einrichtung etwas von ihrer Natur und von ihrem Nutzen verliert. Ich will die gewöhnlichen Grundsätze von den ersten rechtmäßigen Erwerbungsarten als ungezweifelt annehmen: ich will es als ausgemacht ansehen, daß ein Actus, durch welchen jemand hinlänglich deutlich erklärt, daß er eine vorher niemanden zuständige Sache sich zueignen wolle, alle andre von dem Gebrauche derselben ausschließe; daß besonders die auf die Vervollkomm[n]ung oder Benutzung einer Sache gewandte Arbeit ein solcher Actus sey. – Aber deßwegen bleibt es noch immer richtig, daß vor aller Verbindung unter den Menschen, diese Zeichen, woran der eine sein Eigenthum erkannt wissen will, den übrigen zweydeutig bleiben werden. Und mit der verminderten Deutlichkeit und Gewißheit, ob etwas ein Eigenthum sey, vermindert sich auch die Achtung für dasselbe, selbst bey Personen die alle Rechte desselben anerkennen.

10 | 1 Aus den Monographien Alle andre Zeichen, wodurch man seine Ansprüche an eine Sache anzeigen will, außer wenn ein Mensch dieselbe in seiner Hand hält, oder sie mit seinem Munde verzehrt, verlangen eine Auslegung. Und diese zu geben, sie zu empfangen, dazu [19] gehört Mittheilung durch | Hülfe der Rede oder irgend einer Art von Sprache, bey welcher aber die Personen die einander verständigen wollen, sich sehen, mit einander umgehen, also schon in gewisser Verbindung seyn müssen. Selbst die auf eine Sache gewandte Arbeit ist nicht ein ohne alle Convention und vor allem Verkehr verständliches Kennzeichen des Eigenthümlichen. Wenn der eine Mensch keinen Begrif von den Arbeiten hat, die sich auf eine Sache wenden lassen, wie will er es ihr ansehen, ob sie von der Natur oder durch den Fleiß eines seines Gleichen in den Zustand gebracht worden ist, in welchem er dieselbe sieht? Ein Volk, welches nie vom Ackerbau etwas gehört hätte, würde an einem gepflügten Acker, oder an einem reifen Kornfelde nicht unmittelbar die Hand der Menschen erkennen. Bringt nicht zuweilen das Spiel des Zufalls auch etwas regelmäßiges in der Gestalt der Erdfläche hervor? Und kan nicht die Natur eine Menge gleichartiger Gräser auf einem Flecke zusammen gehäuft haben? Zäune, Gehege, und alle bloße symbolische Mittel sein Eigenthum vor Dingen die allen gemein sind, auszuzeichnen, sind noch weit weniger ohne vorläufige Kenntniß ihrer Bestimmung und der damit zusammenhängenden Ideen ihrer Urheber, verständlich. Eins von beyden gehört nothwendig dazu, wenn ein den Mensch den andern, [20] ein Volk das andre, in Absicht dieser Erklärung seines Willens, verstehen und | sogleich bey dem Anblicke jener Kennzeichen des Eigenthums, die Rechte desselben anerkennen soll: – Umgang oder Ähnlichkeit. Ich will soviel sagen, entweder müssen die Menschen darüber einander ihre Gedanken mitgetheilt, sich einander von dem rohen Zustand der Dinge, den durch Arbeit darinn vorgegangnen Veränderungen, und deren Absicht unterrichtet haben, und überein gekommen seyn, daß sie die Gegenstände immer auf diese Weise beurtheilen wollen. Oder sie müssen in ihren Lebensarten, in ihren Bedürfnissen, den Mitteln diese zu befriedigen, den Arbeiten die sie zu dem Ende vornehmen, den Künsten die sie darauf wenden, einander gleichkommen. Nur alsdann weiß ein Mensch die Handlungen eines andern Menschen, die er nie gesehen hat, aus den Wirkungen derselben zu errathen; nur alsdann ist er im Stande auf die Absichten aus den angewandten Mitteln zu schließen. Beydes aber, Umgang und Gleichförmigkeit der Lebensart, macht schon eine Verbindung unter den Menschen, oder setzt sie voraus. Aber die Anerkennung des Eigenthums ist nicht die einzige Schwierigkeit im Naturstande: es ist noch eine größre, Respect für dasselbe einzuflößen, ohne unmittelbare Gewalt zu brauchen. Das Eigenthum ist eigentlich keine Beziehung, welche die Sache auf mich hat; sondern es ist eine Beziehung welche Personen gegen mich haben. Denn wie kan [21] ich eine leblose Sache, – noch mehr, wie | kan ich eine unbewegliche, z. B. ein Stück

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Land, dauerhaft mit mir verknüpfen? Alle Verhältnisse welche ein lebloses Ding mit mir verbinden, bestehen entweder darinn, daß dasselbe auf mich wirkt, und durch seine Wirkung eines meiner Bedürfnisse befriediget, oder darinn, daß es nahe um mich, und also zu meinem Gebrauche immer bereit ist. Die Nutzbarkeit und die Nähe, das sind reelle Beziehungen einer todten Sache auf mich. Aber diese soll das Wort Eigenthum nicht ausdrücken. Es findet augenscheinlich nur Statt wo viele Menschen zusammen kommen; es drückt im Grunde eine Anordnung aus, wonach mehrere, welche gleiche Begierden, und eine eingeschränkte Anzahl von Objecten zu Befriedigung der Begierden haben, an dem Genusse dieser Güter sämtlich Theil haben können, ohne daß Streit und Krieg unter ihnen entstehe. Eigenthum, sage ich, ist ein moralisches Verhältnis, zwischen Personen. Es ist mit dem Besitz eins und dasselbe, wenn der Mensch allein ist. So lange neben mir niemand ist, der nach dem Apfel verlangt, welchen ich abbreche, und zum Munde führe: wie kan darüber die Frage seyn, ob er mir zugehöre? Sobald aber nur ein zweyter hinzukömmt, der auch Äpfel verlangt, und bedarf: so bald entsteht ein Streit; der nicht eher geendigt werden kan, bis wir entweder theilen, oder ausmachen, welchem von beyden der ganze Apfel zu Theile werden soll. – Dieß sind die zwey Hauptarten, wie Eigenthum ent|steht: Theilung oder [22] Abtretung. In beyden bleibt immer viel willkührliches. Denn wie wir den Apfel theilen sollen, kan unmöglich durch natürliche innere Gründe bestimmt werden: eben so schwer ist es eine Ursache des Vorzugs zu finden, warum der eine mehr als der andre, den ganzen Apfel behalten solle. Auf welche Weise nun auch diese Fragen entschieden werden: so ist klar, daß wenn z. B. der Grund der ersten Occupation gelten soll, das Recht seinen Ursprung habe in den moralischen Ursachen, welche den zweyten hinzukommenden bewegen, (und wenn er richtig und zusammenhängend denkt, bewegen müssen) dem ersten zu lassen, was er früher gesehen und genommen hat. Wenn man also frägt, »giebt es ein Eigenthum im Naturstande?« so heißt das: »giebt es gewisse Handlungen eines Menschen in Absicht des Dinges welches er zu seinem alleinigen Gebrauche bestimmt, um deren willen, alle andre Menschen, wenn sie der richtigen, gesunden Vernunft folgen, bewogen werden, des Gebrauchs desselben sich zu enthalten?« Es giebt deren ohne Zweifel. Aber dieser Ursprung der Gesetze des Eigenthums zeigt auch die nothwendige Wankelhaftigkeit derselben, ohne neue Verträge und ohne errichtete Gesellschaft. Denn erstlich, um auf jenen Fall wieder zurükzukommen. Der Bewegungsgrund, welcher den zweyten abhielt, dem ersten den Apfel welchen er in Hän|den [23] hatte, zu entreissen, war entweder bloße Liebe zu ihm; – er wollte ihn der Labung nicht berauben, welche ihm der Genuß der Frucht verschaffen konnte: oder es war der Gedanke, daß, wenn er diesem den von ihm zuerst entdeckten Apfel nähme, dieser ihn hinwiederum mit Gewalt hindern würde, einen andern für sich zu pflücken, und daß auf diese Weise keiner seinen Durst in Ruhe stillen könnte; mit allge-

12 | 1 Aus den Monographien meinen Worten, daß, für sämtliche künftige Fälle, wo sie ähnliche Bedürfnisse würden zu befriedigen haben, es für beyde am nützlichsten sey, eine solche Regel vom ersten Anfange an, und ohne Ausnahme, zu beobachten. Der erste Grund bringt nach den gewöhnlichen Eintheilungen der Systeme nur eine Gewissenspflicht hervor. Der zweyte ist eigentlich worauf ein Zwangsrecht beruht. Bey diesem aber ist es klar, daß vor Entscheidung des Rechts, die Entscheidung dessen was allen nützlich ist vorhergehen müsse. Wenn aber das Eigenthumsrecht, und die Vorschriften, nach welchen nur dieß, unter solchen und solchen Bedingungen für Eigenthum zu halten ist, aus dem Principio des Nutzens, als einem allgemeinern und höhern hergeleitet worden: so wird folgen, daß im Naturstande jeder das Recht haben wird, auf dieses höhere Principium zurückzugehen, und zu prüfen, in wie weit er zu Beobachtung der darauf gezogenen Regeln verbunden sey. Wer sieht aber nicht, daß dadurch das Eigenthum diejenige Unverletzlichkeit verliert, welche ihm im bürgerlichen Leben deßwegen zukömmt, weil in diesem die positiven Anordnun[24] gen der Gesetze, und die Conven|tionen der Gesellschaft die höchste Richtschnur des Betragens der Bürger sind. Ich habe in meiner ältern Abhandlung gesagt: »Der Begriff des Eigenthums schließe schon in sich, daß e[s] von allen oder den meisten Menschen anerkannt werde, und daß der welchem es gehört, von dieser Gesinnung der übrigen im Ganzen versichert sey, welches beydes ohne Verkehr und Verabredung nicht möglich ist.« Und ich finde noch in diesem Satz, so wie ich ihn damals verstand, Wahrheit. Wodurch unterscheidet sich wohl das Recht, welches ich an einer Sache habe, von dem bloßen Einschließen und Verwahren der Sache, welches ein physisches, kein moralisches Hülfsmittel ist, dieselbe zu behalten. Wenn ich das was mir gehört immer in meiner Hand tragen könnte; wenn ich so allwissend und so stark wäre, daß ich andre, in jedem Augenblicke, da sie es versuchen, das was ich zu Befriedigung meiner Bedürfnisse aufgesucht, oder durch Arbeit hervorgebracht habe, mir zu entwenden, bemerken und davon mit Gewalt abhalten könnte; – wenn nicht eine solche beständige Aufmerksamkeit auf die Vertheidigung des Meiningen mich an den übrigen zu meiner Erhaltung nöthigen Arbeiten hinderte; so würde die Unmöglichkeit in welche die andern sodann versetzt würden, mir das Meinige zu nehmen, die Stelle des Rechts vertreten; Gewalt und Recht würden auf meiner Seite zusammen fallen. Da ich aber sehr viele Dinge, deren fortdauernden und ausschließenden [25] | Gebrauch ich verlange und nöthig habe, aus meiner Hand weglegen, und ohne Obhut gleichsam Preis geben muß; da weder meine Kraft noch meine Zeit ganz allein auf die Verwahrung des Erworbenen und die Abwehrung andrer von dessen Gebrauch gewendet werden kan: so müssen moralische Bewegungsgründe, welche andern die Neigung benehmen mir etwas zu entwenden, an die Stelle meiner physischen Gewalt treten, welche ihnen das Vermögen dazu benehmen sollte. Bewegungsgründe dieser Art, fähig auf alle verständige und die Folgen der Dinge übersehnde Menschen zu wirken, sind vorhanden. Ein solcher ist die Betrachtung, daß wo mehrere Menschen beysammen sind, Friede unter ihnen die erste und nothwen-

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digste Bedingung ist, unter welcher nur allein es jedem einzeln möglich wird, an seinem Wohl zu arbeiten; und daß dieser Frieden nicht anders zu erhalten steht, als wenn gewisse Theilungsregeln, der für sie von der Natur zubereiteten Güter ausgemacht und heilig gehalten werden. Die Gewißheit nun, daß solche Bewegungsgründe auf andre Menschen wirken, und sie bewegen werden, mir das Meinige zu lassen, ist die moralische Sicherheit, um derentwillen ich mir ein Recht zuschreibe. Recht wäre wenigstens ein leeres unfruchtbares Wort, eine bloß speculative Idee ohne Anwendung, wenn es mir nicht, in dem gewöhnlichen Zustande der Dinge, auch dann, wenn meine physische Kraft ruhte, eine moralische Sicherheit gewährte. Dazu aber muß es von der allgemeinen Meynung, oder doch der Meynung des größten Theils | unterstützt werden. Von dieser Meynung muß ich demnach wenigstens [26] wahrscheinlich versichert seyn, wenn ich, in der That und nach der Wirkung, mir ein Recht soll zuschreiben können. Und wie will ich diese Versicherung mit hinlänglicher Gewißheit erhalten, als durch irgend eine Art von Erklärung? Und diese Erklärung, ist sie nicht der erste Grund des Vertrags, auf welchem die Gesellschaft beruht? Ermangle ich dieses Beweises von der Übereinstimmung andrer Menschen mit meinen Ansprüchen: so muß ich mich blos darauf verlasse, daß sie Verstand genug haben werden, um einzusehen, wie nützlich es für alle, und auf alle künftigen Zeiten sey, solche Forderungen als die meinigen sind, gelten zu lassen; – und daß sie frey genug von Leidenschaften seyn werden, um ihrer Vernunft Gehör zu geben. Wie geringe ist schon an sich diese Sicherheit! Aber sie wird noch kleiner, wenn man folgendes bedenkt. Gesetzt die gute Idee eines einzuführenden und zu respectirenden EigenthumsRechts habe sich in den meisten menschlichen Köpfen hinlänglich entwickelt. In sofern ist also unter ihnen Übereinstimmung ohne und vor allem Vertrage. Aber damit diese Idee in Ausübung komme, wird noch eine neue Bedingung erfordert. Das Institut des Eigenthums ist ein System der Theilung gemachte Anordnung zu verewigen. Aber nach welchen Regeln soll ge|theilt werden? welches sind die Hand- [27] lungen, durch die ein Mensch eine ihm nützliche Sache sich zu eigen machen kan? Auf welche Weise soll das erworbne Eigenthum von einem Menschen auf den andern übergetragen werden? Durch welche Zeichen wird es allen und deutlich genug bekannt, daß jene Handlungen vorgegangen, daß diese Methoden befolgt worden sind? Über alle diese Stücke muß erst eine gleichförmige Entscheidung von alen angenommen seyn, ehe eine dauerhafte Achtung gegen das Eigenthumsrecht unter ihnen statt finden kan. Zwar giebt es vielleicht in Absicht derselben etwas, welches an sich das Beste ist, in welchem also diejenigen, welche weise genug wären, es zu erkennen, von selbst übereinkommen würden. Aber bis dahin reicht auch jetzt noch der menschliche Verstand nicht, am wenigsten der Verstand des großen Haufens. Es müssen also willkührliche und positive Einrichtungen, an die Stelle der noch unbekannten Vernunfts-Regeln treten. Und wie kan in willkührlichen Einrichtungen Übereinstimmung unter mehrern herrschen, ohne vorhergehende Verabredung?

14 | 1 Aus den Monographien Ich habe diesen Punct vielleicht weitläuftiger ausgeführt, als es zu meiner gegenwärtigen Absicht nöthig war, um einige Ausdrücke meiner vorigen Abhandlung zu rechtfertigen. Wende ich diese Betrachtungen auf Staaten und Regenten an: so sehe ich, daß [28] die Idee eines Länder-Eigenthums ebenfalls eine von ihnen vorgenommene | Theilung, oder vielmehr eine Genehmigung derjenigen, welche der Zufall und frühere Begebenheiten gemacht haben, zum Grunde hat; daß diese Genehmigung nicht eher statt findet, als bis die Nationen mit einander in die Verbindung treten, daß sie sich wechselweise von ihren Wünschen, Bedürfnissen, Absichten und Anstalten unterrichten können; daß also die Achtung für dieses Eigenthum zuerst mit Verträgen und Verabredungen die unter ihnen auf eine oder die andre Weise zu Stande gebracht wurden, angefangen hat. Ich sehe ebenfalls, daß dieses öffentliche Eigenthum so gut wie das Privat-Eigenthum, – in Absicht der Zeichen desselben, in Absicht der Erwerbsmittel, und der Übertragungsmethoden, – durch positive und willkührliche Regeln habe unterstützt werden müssen, wenn es nicht eine bloße Speculation bleiben sollte; daß es aber deßwegen nicht zu dem vollen Ansehn des Privat-Eigenthums gelangt ist, weil es nicht ganz dieselbe Deutlichkeit und Gewißheit hat; weil es nicht das höchste Gesetz ist, sondern ein dem allgemeinen Besten subordinirtes Gesetz bleibt; weil die anerkannten positiven Vorschriften des Völkerrechts nicht so vollständig alle Puncte entscheiden, welche in Absicht des StaatsEigenthums streitig werden können. Wilde herumschweifende Nationen haben keine bestimmte Gränzen ihrer Wohnsitze. Ihre Kriege entstehen mehr aus Beleidigungen, die einzelnen Gliedern der einen, von Personen aus der andern, widerfahren sind, als aus Verletzung des Eigenthums. [29] Erst müssen mehrere Horden von Nomaden oder jagenden Wilden auf einem eingeschränkten Gebieth zusammenkommen; – erst muß über die Wildbahn oder die Weideplätze Streit unter ihnen entstanden seyn, ehe eins davon sich einkommen läßt, diesen oder jenen Fleck des Erdbodens als ein Eigenthum in Anspruch zu nehmen. Wenn wilde Völker unter gesittete kommen, so ist ihnen anfangs nichts heilig. Nicht bloß die Unbändigkeit ihrer Leidenschaften, sondern auch ihre Unwissenheit in Absicht des Nutzens und des Werths der Werke die sie zerstören, macht, daß sie sich über alle Schranken hinaussetzen. Die ersten Tractaten waren Friedensschlüsse, und Friedensschlüsse zogen die ersten Gränzlinien die ein Eigenthum bezeichnen; an welches kein Volk so lange dachte, als niemand in Anspruch nahm was es gebrauchte. Dieses Eigenthum ward bestimmter und deutlicher, als Ackerbautreibende Völker sich neben einander niederließen. Da sie den Frieden mehr zu ihren Beschäftigungen bedurften, da sie nöthig hatten, immer auf demselben Flecke des Erdbodens zu bleiben: so mußten sie auf Mittel denken, jenen zu erhalten, und den Besitz von diesem sich zu versichern. Auch hier wurden Streitigkeiten die erste Veranlas-

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sung die Gränzen zu bestimmen. Die Beylegung derselben war ein Vertrag. Und die Pflicht das Eigenthum zu respectiren wurde auf die Pflicht des Worthaltens, gegründet. Indeß diese Verträge suchten nur immer die gegenwärtigen Ursachen der Strei- [30] tigkeiten aus dem Wege zu räumen. Es entstanden neue, über welche in den Artikeln jener Verträge keine Entscheidung zu finden war: und neue Kriege wurden unvermeidlich, die vermöge ihres Begriffs alle Rechte des Eigenthums aufhoben. Endigte sich irgend einer dieser Kriege mit dem Untergange eines der streitenden Völker oder Staaten: so erlosch aller Begriff von Eigenthum desselben; und das Eigenthum des Mächtigern der ihn verschlang, ward dadurch nicht sichrer noch genauer bestimmt. Nur durch eine Reyhe solcher blutiger Processe unter den Nationen, wurde endlich eine hinlängliche Anzahl von Urtheilssprüchen und rechtlichen Entscheidungen veranlaßt, um die friedliche Auseinandersetzung ähnlicher Collisionen für die Zukunft möglich zu machen. Mit jeder neuen genauern, deutlichern Bestimmung des Eigenthums, ward auch das Recht welches demselben zugestanden wurde ehrwürdiger. Die Geschichte des Eigenthums im bürgerlichen Leben ist dieser Schilderung ähnlich. Auch hier sind | Streitigkeiten vor den richterlichen Sentenzen, und richter- [31] liche einzelne Sentenzen vor einem vollständigen Gesetzbuche vorhergegangen. Aber ein zwiefacher Unterschied hat diesen Fortgang der Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft beschleuniget. Erstlich, in derselben giebt es Gesetzgeber, die ohne besondere Veranlassung über die schon vorgekomnen oder noch zu erwartenden Fälle von Streitigkeiten oder von Verbrechen, zum voraus entscheiden, und diesen Entscheidungen, selbst wenn sie willkührlich sind, alle Bürger unterwerfen dürfen. Die gegenwärtige Noth, und unmittelbares Bedürfnis ist innerhalb eines Staats nicht das einzige, was Gesetze veranlaßt: auch die Weisheit kan dieselbe machen, und die oberherrliche Gewalt kan dieselbe einschärfen. Nationen hingegen machen selten unter sich anders Anordnungen in Absicht des Eigenthums, als nachdem sie vorher die Übel alle empfunden haben, die aus der Unbestimtheit desselben entstehen mußten. Niemand hat den Beruf, niemand die Gewalt zum voraus für sie alle nachzudenken, und ihnen Vorschriften für Auseinandersetzung von Streitigkeiten zu geben, die sie noch nicht gehabt haben. Daraus, (nur dieß beyläufig zu bemerken,) ist es erklärbar, warum mit der Länge der Zeit, selbst wenn die Nationen nicht vollkommner und gesitteter | wür- [32] den, sie doch friedlicher werden müßten. Der Fälle worüber Streit entstehen kan, kommen in einer großen Reyhe, von Jahrhunderten nothwendig mehrere vor. Jede Streitigkeit zieht irgend eine Entscheidung nach sich, weil der Krieg doch zuletzt mit einem Friedenstractat sich endigen muß. Diese giebt für die Zukunft schon eine Richtschnur. Werden mehrere Kriege die aus ähnlichen Ursachen entstanden waren, der Nothwendigkeit der Sachen wegen, durch ähnliche Vergleichs-Artikel geen-

16 | 1 Aus den Monographien diget: so bekommen die Regeln derselben eine etwas größere Festigkeit. Wofern also die Nationen nur so weit cultivirt sind, daß sie die Denkmäler ihrer Verhandlungen aufbewahren, und der Nachwelt davon deutliche Nachrichten geben, so wird mit jeder Generation das Völkerrecht sowohl vollständiger als heiliger. Ein zweyter Unterschied zwischen dem Zustande der Dinge, im bürgerlichen Leben und im Verhältnisse der Staaten ist dieser: daß in jenem die Anzahl der Personen, welche neben einander ruhig wohnen wollen, weit größer ist; daß sie einen weit häufigern Verkehr mit einander haben; und daß sie also auch in weit mehrere und mannigfaltigere Streitigkeiten verwickelt werden. Dieß macht erstlich, daß sie die Nothwendigkeit von Gesetzen und der Ehrfurcht gegen die Gesetze deutlicher und überzeugender einsehen. In einer Stadt wo alle Processe der Bürger durch das Schwerdt ausgemacht werden sollten: wäre des [33] Blutvergiessens | kein Ende, und der Untergang aller unvermeidlich. Nationen empfinden das Unglück des Krieges, und die Nothwendigkeit einer rechtlichen Entscheidung der Streitigkeiten nicht eben so stark. Sie werden also eher von den Leidenschaften hingerissen, die sie zu jenem reitzen, und haben weniger Ehrfurcht für die Gesetze, durch welche diese möglich wird. Ferner, je mehr Fälle, die richterlicher Entscheidung bedürfen, in kurzer Zeit vorkommen: je vollständiger wird die Rechtswissenschaft; je mehr Regeln und Bestimmungen werden erfunden, um künftigen Mißhelligkeiten zuvorzukommen; je mehr zweifelhafte Puncte werden ins klare gebracht. Die weit seltnern Verhandlungen der Staaten über ihr Eigenthum lassen in dem daraus nach und nach erwachsenden Gesetzbuche weit größre Lücken. Ist es schon im Privatrechte unmöglich, allgemeine Gesetze zu geben, welche auf alle künftige vorkommende Fälle genau paßten, wo doch der Beyspiele und Instanzen aus welchen man das Gesetz abstrahieren kan, so unzählige sind: wie viel weniger werden alle verwickelte Fragen über das Eigenthum der Staaten, schon durch ihre bisherige Tractaten vollständig beantwortet seyn? Im Staate ersetzt nun am Ende die Weisheit des Richters, oder der Machtspruch des Souveräns die Mangelhaftigkeit der Gesetze. Man mag die Willkühr des erstern einschränken so viel man will: so muß in der Anwendung der Gesetze. Man mag die [34] Willkühr des erstern einschränken so viel man will: so muß | in der Anwendung der Gesetze, noch sehr viel seiner Einsicht überlassen bleiben. Aber unter Nationen oder Souveräns, welche keinen Richter über sich haben: wer soll unvollständige Rechtsregeln ergänzen, wer zweydeutige anwenden? Nur die Partheyen selbst. Und man weiß wohl, daß es zuviel von Menschen gefordert heißt, wenn man von ihnen völlige Unpartheylichkeit verlangt; sobald sie in ihrer eignen Sache, und noch dazu in Sachen die wirklich mehrere Seiten haben, Richter seyn sollen. Ein positives Recht muß in allen Angelegenheiten der Menschen sich zu dem natürlichen gesellen, oder dieses wird unanwendbar, und eben deßwegen vernachläßigt werden. Soll die Gerechtigkeit nicht nur in den abstracten Ideen der Menschen, sondern auch in ihren Handlungen vorhanden seyn: so muß sich gegen viele

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willkührliche Einrichtungen eine gewissen Ehrfurcht bey ihnen eingefunden haben; mannichfaltige positive Gesetze müssen durch Gewohnheit und Alterthum zu einem festen Ansehn gelangt seyn. – Aber die Unabhängigen, wollen sich, mehr oder weniger, nur nach dem Naturrechte richten; die Rechtsgründe sollen aus der Beschaffenheit der Dinge hergenommen seyn. Wenigstens machen die, welches es nicht sind, nicht den starken Eindruck, daß sie den Leidenschaften Fesseln anlegten. Dieß hängt mit der Idee zusammen, welche ich oben geäußert habe. Privatbürger haben sich ganz und gar dessen begeben, auf den ersten Grund aller | Gerechtig- [35] keit, den allgemeinen Nutzen zurückzugehen; sie haben sich verpflichtet, sich an die Gesetze als die letzte und oebrste Entscheidung von dem was Recht und Unrecht ist zu halten, und durch Gewohnheit und langjährige Beobachtung geheiligte Regeln keiner neuen Prüfung zu unterwerfen. Die Staaten und ihre Beherrscher haben sich jenes Rechts nicht ohne Ausnahme begeben können. Besonders in den Fällen, wo die Fragen über das Eigenthum wirklich verwickelt sind, und wo die Verträge nicht deutliche Ansprüche thun, (welche Fälle der Civil-Richter nach Analogien entscheiden müßte,) erlaubt ihnen Vernunft und Natur, nach ihrer eignen Einsicht des allgemeinen Besten zu handeln. Die größte Schwierigkeit hiebey macht, noch nach meiner gegenwärtigen Überzeugung, der Umstand dessen ich schon in meiner frühern Abhandlung erwähnt habe, daß das Recht der Ver-jährung auf das Eigenthum der Staaten nicht anwendbar, oder doch bisher nicht angewandt worden ist. Ich habe schon gesagt: Der Besitz ist vor dem Rechte vorhergegangen. Zufälliger Weise hatten in dieser Gegend die Celten, in einer andern die Sarmaten oder Slaven ihre Sitze genommen. Endlich stiessen sie an einander, sie lernten sich kennen, und um friedlich zu leben, willigte jede Nation ein, daß sie von ungefähr eingenommen hatten. Die Gesetze des Eigenthums also bekräftigen mit einen gewissen schon ältern [36] Besitzstand. Aber da so viele Veränderungen in diesem Besitzstande vorgegangen sind, von welchem Zeitpuncte soll man das Regulativ nehmen? – Diese Frage die bey dem verwickelten Länder-Proceß, welchen der Westphälische Friede endigte, die Unterhändler so sehr in Verlegenheit setzte, macht überhaupt bey Bestimmung des Eigenthums die größte Schwierigkeit, und erhält, wenn sie nicht fest entschieden wird, dasselbe immer in einem unsichern Zustande. Wenn nicht im bürgerlichen Leben die Gesetze einen gewissen Termin festgesetzt hätten, über welchen hinaus niemand mehr nach der Gültigkeit des ersten Erwerbs-Titels meines Eigenthums fragen darf; wenn ich das Recht meines entferntesten Ahnherrn, auf ein Gut welches von ihm auf mich vererbt worden ist, immer von neuem beweisen müßte, sobald jemand Anspruch an dasselbe macht: könnte ich wohl dieses meines Eigenthums je sicher seyn? Wer kan dafür stehen, daß in der Reyhe aller derer unter welchen mein Gut aus Hand in Hand gegangen ist, ehe es zuletzt in die meinige kam, nicht einer sich durch Betrug oder Gewalt desselben

18 | 1 Aus den Monographien bemächtigt habe? Wenn nicht alte Ungerechtigkeiten endlich vergessen werden: wer kan sein gegenwärtiges Recht als völlig gültig betrachten? Bey den kleinern Angelegenheiten der Privatleute kommt die natürliche Verges[37] senheit, welche mit der Zeit die Vorfälle und Handlungen bedeckt, und die | Documente vernichtet, der gerichtlichen Verjährung zu Hülfe, – oder sie macht selbst einen nicht willkührlichen Verjährungs-Termin. Aber dieß ist bey den großen Begebenheiten der Staaten nicht in gleichem Grade der Fall. Die Geschichtschreiber und Archive verewigen so viel als sie können alle Rechts-Ansprüche, alle Ursachen der Streitigkeiten, alle begangnen Ungerechtigkeiten. Und was noch schlimmer ist: die Nachrichten davon erhalten sich, und sind doch nicht übereinstimmend und gewiß. Wenn in den Privatfamilien alle Documente, alle Testamente, alle Contracte, Jahrhunderte hindurch eben so sorgfältig aufgehoben, – wenn von allen Ansprüchen, Processen und Judicaten eben so genaue Verzeichnisse gehalten würden, als beydes in Absicht der Documente und der Verhandlungen der Souveräne geschieht; – und wenn zu gleicher Zeit jedem erlaubt wäre das von ihm oder seinen Vorältern vernachläßigte, oder durch den Richter beyden längst abgesprochne Recht, von den ältesten Zeiten an wieder hervorzusuchen: würde alsdann das Eigenthum die Festigkeit haben, welche ihm jetzt in der bürgerlichen Gesellschaft zukommt? Die Processe würden so verwickelt, und so mannigfaltig werden, daß nur Machtsprüche, nicht richterliche Sentenzen sie würden entscheiden können. Oder wenn die Personen sich solche Rechtshändel anzufangen enthielten: so würden sie es mehr aus Menschenliebe, oder aus Liebe zur Ruhe, als aus Ehrfurcht gegen das Eigenthum [38] thun. Die Juristen | selbst nennen den Beweiß über das Eigenthum probationem diabolicam. Wie viel schwerer muß er nicht über das öffentliche Eigenthum eines Volkes zu führen seyn; da hier der datorum weit mehrere vorhanden, und diese oft weit mehr widersprechend sind? Ein Souverän A stört den seit hundert Jahren bestehenden Besitzstand der benachbarten Länder, weil er findet, daß sein Nachbar B vor solcher Zeit sich etwas zugeeignet hat, was dem Staate des A zugehörte. Aber B der noch bessere Alterthumsforscher in Diensten hat, entdeckt, daß das Stück Landes, welches sein Vorfahr den Ahnherrn des A vor hundert Jahren genommen hatte, vor zweyhundert Jahren ganz unstreitig einen Theil der Staaten ausmachte, welche er, B, gegenwärtig beherrscht, und also nicht anders als unrechtmäßiger Weise in den Besitz des A gekommen seyn könne. Noch ältere Urkunden kehren vielleicht die Sache abermals um, und zeigen vor 300 Jahren den Staat A von neuem in dem Besitze des streitigen Stücks. Wer von beyden hat nun ein wahres Recht an dasselbe? Es ist augenscheinlich, daß wenn nicht ein ewiger Saame zu Streitigkeiten übrig bleiben soll, ein Zeitpunct festgesetzt werden muß, über welchen hinaus der Ursprung der Rechte nicht weiter aufgesucht werden darf. Es ist aber eben so augenscheinlich, daß dieser Zeitpunct nur willkührlich bestimmt werden kan. Dazu muß es noch kommen, ehe ein ewiger, oder auch selbst nur ein recht [39] dauerhafter Friede unter den | Nationen statt finden kan; – dahin wird es vielleicht

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noch kommen, daß es eine allgemeine Convention der Europäischen Mächte, alle Ansprüche, die aus einem frühern Zeitalter, als on ihnen in diesem Vertrag festgesetzt wird, herstammen, für null und nichtig erklärt; dahin muß es zuvor noch kommen, daß derjenige für einen gemeinschaftlichen Feind aller angesehen wird, der wegen noch so gültiger aber verjährter Rechts-Ansprüche, den gegenwärtigen Besitzstand zu stören sich unterfängt. Aber so lange diese Convention noch nicht geschlossen ist: was kan nicht der Witz und der Fleiß der Menschen, geschärft durch den Eigennutz oder die Ruhmbegierde, aus den so mannigfaltigen, oft so dunkeln und vieldeutigen Denkmählern der Vorwelt herauszufinden, um Ansprüche der Habsucht mit Rechts-Beweisen zu unterstützen? II. Der Souverän handelt im Namen einer ganzen Nation. Der Privatmann nur für sich oder für eine Familie. Daß ist der zweyte Gesichtspunct nach welchem die Verschiedenheit ihrer Pflichten zu beurtheilen ist. Gesetzt auch der einzelne Mensch lebte im Naturstande mit seines Gleichen: so könnten ihm doch dieselben Freyheiten nicht zugestanden werden, die man jetzt einem Souverän gegen andre Souveräne erlaubt. Das höchste erdenkliche Gesetz aller menschlichen Handlungen ist, zu thun, [40] was dem Menschengeschlecht im Ganzen genommen am nützlichsten ist. Also eine zahlreiche Gesellschaft von Menschen hat einen Vorzug vor einem einzelnen Menschen; die Erhaltung von jener ist etwas wichtigeres als die Erhaltung von diesem, ihr Wohl ist ein größres Stück von der gesamten Glückseligkeit, welche den Endzweck des Schöpfers ausgemacht. – Der Souverän, der die vereinigte Macht einer solchen Gesellschaft in Händen hat, ist eigentlich nur Repräsentant derselben; es sind ihre Rechte welche er vertheidigt, ihre Erhaltung welche er sicher stellen, ihre Reichthümer welche er vermehren will. Ohne Zweifel darf er einem so großen Objecte mehr von Vortheilen eines Dritten aufopfern, als der Privatmann seinem eignen Interesse. Aus dieser Übertragung der Macht und Rechte ganzer Staaten an Einen oder wenige Stellvertreter, entstehen neue und nicht minder schwere Collisionen für diese letztern. Mit dem Staats-Interesse dessen Besorgung dem Regenten aufgetragen ist, vermischt sich fast ververmeidlich das persönliche Interesse des Regenten. Weil beyde sehr oft zusammenfallen, so werden sie leicht für ganz einerley gehalten. Bey den Verhandlungen, welche die Regenten mit einander in National-Angelegenheiten abzumachen haben, lernen sie sich zugleich als Menschen kennen. Es entstehen zwischen ihnen alle die Neigungen und Verhältnisse die unter Privatpersonen existiren. Der eine Regent ist | der Freund des andern aus Hochachtung, ist [41] verwandt mit einem dritten, haßt den vierten aus Eifersucht, oder eines ihm ungleichen Charakters wegen. Sie alle zusammen machen einen eignen Stand in der gro-

20 | 1 Aus den Monographien ßen Societät des Menschengeschlechts aus, der seine eignen gesellschaftlichen Bande hat. Es ist beynahe unmöglich, daß auf die National-Verhandlungen, die in den Händen der Fürsten sind, nicht diese persönlichen Rücksichten neben dem StaatsInteresse Einfluß haben sollten. Die Erfahrung aller Jahrhunderte lehrt es, was die Vernunft vermuthen läßt: daß diese gebohrnen Geschäftsträger der Nationen sehr oft im Namen der letztern handeln, wenn sie bloß durch Bewegungsgründe die auf sie als Menschen Beziehung haben, getrieben werden. Die Staaten müssen Friedensschlüsse, und Tractaten als die ihrigen ansehen, welche ihre Könige in ihren eignen Angelegenheit, um die Privat-Verbindungen ihrer Personen und Familien willen, geschlossen haben. Dieß ist schon an sich vielleicht eine Ungerechtigkeit, die doch bey Regenten, welche Menschen sind, und ihre Persönlichkeit nie ganz ausziehn können, zu entschuldigen ist. Aber es entsteht daraus oft eine zweyte, auch in den Verhandlungen die als National angesehen werden. Die doppelte Rolle welche ein souveräner Fürst spielt, als vornehmster Privatmann in seinem Staate, und als Vorsteher desselben, [42] macht es ihm oft unvermeidlich, – und giebt ihm noch | öfter einen scheinbaren Vorwand, seinem Worte untreu zu werden. Die Verbindung die er mit andern Fürsten seines Gleichen, um eines persönlichen oder Familien-Interesses willen eingegangen ist, können zur Zeit da sie erfüllt werden sollen, dem National-Interesse so sehr schädlich befunden werden, daß er sich wirklich für verpflichtet halten kan, von denselben abzutreten. In ruhigen Zeiten, wenn keine große Staatsveränderung die Augen der Menschen auf die politischen Angelegenheiten richten, sind die Fürsten am ersten im Stande, und sind auch am meisten geneigt, den Empfindungen ihres Herzens oder den besondern Verhältnissen ihrer persönlichen Lage zu folgen, – sich zu verbinden mit dem welchen sie lieben, und sich mit andern in Pläne einzulassen, die nur zur Vergrößerung ihrer Häuser abzielen. – Die Stimme der Nation schweigt alsdann; und der Fürst ist in voller Freyheit, den ihm näher liegenden Bewegungsgründen Gehör zu geben. So bald aber verwickelte und gefährliche politische Umstände eintreten; so ist der unumschränkteste Monarch nicht mehr mächtig gnug nach den Neigungen seines Herzens, oder selbst nach den Gesinnungen die in seinem Charakter liegen, ganz allein zu handeln. Er wird von der allgemeinen Meynung seiner Nation mit fortgerissen, er wird durch die herrschende Gesinnung derselben bestimmt. Selbst [43] wenn | er edel und gut denkt, bekömmt das Interesse seines Staats, nun da die Gefahr welche ihn bedroht, näher tritt, das Übergewicht über alle andern Betrachtungen. – Sieht er auf sich selbst: so haben sich die Triebfedern nicht weniger verändert. Er hatte sich zu etwas anheischig gemacht aus Freundschaft, oder in der Absicht die Vortheile seiner Lage zu vergrößern. Jetzt aber ist es seine Sicherheit und seine Regenten-Ehre, welche das Gegentheil erfordert.

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Wenn unter solchen Umständen Tractaten gebrochen werden: so hat der Regent nicht sowohl dadurch eine Schuld auf sich geladen, daß er sein Wort jetzt zurückzieht, als dadurch daß er es zuvor gegeben hatte. Er sollte keine Sache versprechen, wozu seine Nation ihre Schätze und ihr Blut hergeben muß, wenn dieselbe bloß ihm, und nicht der Nation nützlich ist. Aber wer ist im Stande, bey der in der That innigen Verknüpfung des Interesses einer erblich herrschenden Familie, mit dem Interesse des von ihr beherrschten Staates, wer ist im Stande zu jeder Zeit die feine Gränzlinie zu finden, die noch immer beyde Gegenstände von einander absondert? Zeit und Umstände entwickeln oft erst die wahre Beschaffenheit der Verhältnisse, und zeigen gefährliche Folgen für einen Staat von Verträgen seines Fürsten, die er zur Zeit als er sie eingieng, dem Staate nützlich oder doch gleichgültig glaubte. – Hier ist also das Große und | Wich- [44] tige welches National-Angelegenheiten vor Privatgeschäften voraus haben, ein ungezweifelter Grund, warum dort ein aus Unklugheit oder aus Leidenschaften gegebens Wort, wenn die Folge den daraus entstehenden Schaden lehrt, zurückgenommen werden darf, – hier nicht. Selbst die bloße Veränderung der Umstände kan eine gültige Ursache zu einem Bruche werden, wenn gleich der Vertrag wirklich nicht zwischen Fürst und Fürst, sondern zwischen Nation und Nation geschlossen worden war. Der Privatmann muß die Strafe seines Unverstands, oder seiner wenigen Kenntnisse, vermöge welcher er Verträge eingegangen ist, die ihm in der Folge schädlich werden, mit Recht dadurch tragen, daß er zur Erfüllung derselben gezwungen wird. Er muß auch zuweilen dem Unglück Preiß gegeben werden, welches veränderte und nicht vorauszusehende Umstände, ihm bey Erfüllung eines in unverschuldeter Unwissenheit gethanen Versprechens zuziehn. Sein Wohl, sein Vermögen, selbst sein Daseyn ist nicht etwas so wichtiges daß darüber der Heiligkeit der Verträge Eintrag geschehen sollte, die immer leidet; wenn viele Fälle vorkommen, wo dieselben gebrochen werden. Aber eine ganze Nation, oder die Person welche im Namen derselben handelt, darf unter gleichen Umständen sich von der Pflicht ihr Wort zu halten freysprechen. Vorausgesetzt daß der aus der Haltung des|selben für den Staat entspringende [45] Schaden so groß ist, daß er dessen Erhaltung in Gefahr setzt. Sollten Nationen verpflichtet seyn, selbst mit der Gefahr ihres gänzlichen Ruins einmal eingegangne Verbindungen zu erfüllen: wie theuer würde nicht oft dem Menschengeschlecht diese Strenge zu stehen kommen? Würde der Vortheil, den ihm das Beyspiel einer solchen Treue verschaffte, – in sofern es das Recht der Verträge, die Grundfeste seines Wohlstandes als unverbrüchlich darstellte: – würde er wohl dem Elende und dem Untergange vieler Tausenden gleich wiegen, welche dadurch aus der Zahl seiner Glieder oder wenigstens aus der Zahl seiner glücklichen Glieder ausgetilgt würden. Ein Fürst versprach einem andern Beystand zu seiner künftigen Vertheidigung. Aber in dem Augenblick, da sein Verbündeter bedrohet wird, ist er selbst in Gefahr

22 | 1 Aus den Monographien von einem andern Nachbar angegriffen zu werden. Eine Pest hat die Volksmenge seines Staats vermindert, Mißwachs hat die zu kriegerischen Unternehmungen nöthigen Vorräthe leer gemacht. Soll er noch sein armes, ermattetes, bedrohtes Volk anstrengen, um einem andern die Dienste zu leisten, welche es selbst braucht? Ein andrer schließt einen Vertrag zu gemeinschaftlichem Angriff und Vertheidigung, mit dem Bedinge, nie in einem abgesonderten Friedenschluß, sein Interesse von dem Interesse seines Bundes-Genosses zu trennen. Aber nach einigen Jahren [46] des Krieges findet | er seinen Staat an Volk und Geld erschöpft; er schadet diesem durch Fortsetzung des Krieges sehr, er nutzt seinem Bundsgenossen wenig; er hat vielleicht während desselben, seines Staats Interesse, und die wahren Absichten seiner Verbündeten besser kennen gelernt; vielleicht hat sich sogar dieses Interesse, haben sich diese Absichten in dem besagten Zeitraum geändert. Ist es eine verabscheuungswürdige Treulosigkeit, wenn er sich und seinen Staat aus dem gefährlichen Spiel in dem Augenblick zurückzieht, da er es mit Ehren endigen kann? Konten die Holländer es Heinrich dem vierten verdenken, daß er sein durch so viele Jahre zerrüttetes Reich durch den Frieden von Vervins zur Ruhe und zu einer Erholung zu bringen suchte, ob er sie gleich dadurch einer größern Gefahr bloß stellte? Wurden Bolingbrocke und die Minister der Königin Anna, die im Spanischen Successionskriege zuerst unter den Bunds-Genossen, und abgesondert von denselben einen Friedenstractat mit Frankreich schlossen, wirklich Verräther an diesen? Oder verdienen sie nicht vielmehr als kluge Staatsmänner und als Wohlthäter der Menschheit Dank von der Nachwelt, indem sie den Krieg nicht länger dauern ließen, als das Staats-Interesse welches ihn veranlaßt hatte, daurete, und den allgemeinen Frieden Europens durch den zwischen England und Frankreich veranlaßten? War unser großer Friedrich bundbrüchig gegen die Franzosen, da er nach der [47] Chotusitzer Schlacht,| sich den Besitz Schlesiens, durch den Breßlauer Frieden sicherte, und an einem Kriege keinen Theil mehr nahm, bey welchem weder er noch sein Staat mehr Vortheil hatte? Selbst die Franzosen müssen diese Beleidigung nicht so hoch ihm angerechnet haben, da sie sich in kurzem von neuem mit ihm verbanden. Aber dieser Grund, warum die Politik zuweilen erlaubt, was die Moral beim Privatmann verbietet, die Wichtigkeit einer Nation und deren Wohlstandes, – dieser Grund, wenn er in manchen Fällen wirklich vorhanden ist, giebt noch weit öfter Gelegenheit Ungerechtigkeiten zu beschönigen. – Zu beschönigen nicht bloß in den Augen der Welt, sondern auch selbst in dem Herzen des Souveräns und seiner Staatsdiener. Die Überlegungen die hierbey erfordert werden, sind oft sehr verwickelt, die Leidenschaften die sich einmischen, sehr überwältigend. Aber wo sind Hülfsmittel dagegen, um dort Irthum und hier Ungerechtigkeiten zu verhüten, als in dem Geist und Charakter der Fürsten, und derer welche sich um Rath fragen. Eine andre Schwierigkeit in der Moral der Regenten, die unter dieses Hauptstück gehört, entspringt aus der Ungleichheit der Staaten. Eine große Monarchie

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von 25 Millionen Menschen, und eine Stadt von tausend Einwohnern, sind, wenn beyde unabhängig sind, einander den Rechten nach gleich. Aber ist | das Wohl von [48] 25 Millionen nicht mehr werth, als das von tausend Menschen. Und wenn also die Erhaltung oder ein wesentliches Interesse des größern Staats von dem kleinern einige Aufopferungen seiner Rechte und Besitzungen fordert, ist es nicht dem Administrator des erstern erlaubt, den zweyten dazu auch mit Gewalt zu nöthigen? Wenn die Fürsten sich bey Entschlüssen dieser Art täuschen, so liegt der Grund des Blendwerks nicht in der Unrichtigkeit des Grundsatzes wornach diese handeln, sondern in unrichtigen Begriffen die sie von der Wohlfahrt des Staates haben. Der Sitz ist unstreitig wahr. Das Ubergewicht großer Gesellschaften von Menschen über kleine, ist nicht bloß physisch sondern auch moralisch. Nicht bloß die Stärke derselben ist ungleich: sondern auch ihre Rechte sind es. Ein Mensch ist unverschämt, welcher sich einem ganzen Publiko vorzieht, gesetzt auch daß dieses aus weit weniger bedeutenden Personen bestünde als er ist. Und eine zahlreihe Nation muß bey der Collision ihrer Vortheile mit den Vortheilen kleiner Völkerschaften, den Vorzug haben. Aber kan der Fall einer solchen Collision wohl sich jemals ereignen, oder ist er je mit Deutlichkeit zu erkennen? Wenn man unter Wohl des Staats Glückseligkeit aller oder der meisten Individuen versteht: so kan jener | Fall sich fast nur alsdann ereignen, wenn die große [49] Nation gesittet, die kleine wild ist. Ein weitläuftiges Reich kan durch eine Räuberhorde von einer Gränze bis zur andern beunruhiget werden. Es kan also wirklich das Wohl der Millionen welches es bewohnen, dabey interessirt seyn, daß diese tausend Menschen ausgerottet, vertrieben oder unterjocht werden. Indeß jener Begriff vom Wohl des Staats, ob es gleich der wesentliche Grundbegriff ist, kan doch in der Folge der Zeit und der Dinge nicht der einzige bleiben. Eben dieß macht so viel Verwirrung in den politischen Berathschlagungen; dieß erregt bey guten Fürsten so viel Bedenklichkeit, und giebt den bösen so scheinbare Vorwände; daß es nicht immer deutlich auszumachen ist, was wahres Staats-Interesse heißt. Hätten die Handlungen der Regenten unmittelbar auf das Wohl aller der Individuen die unter ihnen stehn, Einfluß: so dürfte man ihnen zur einzigen Richtschnur geben, dieses Wohl, – selbst mit Ausschließung und Aufopferung jedes andern Gegenstandes, zu befördern. Das was Millionen Menschen in der That und Wahrheit glückseliger machte, könnte nie eine ungerechte Handlung seyn. Alsdann wäre die absolute Größe des Nutzens, den sie stiften, der richtige Maaßstab des Rechts. Aber so ist es bei weitem nicht. Die Regenten haben nur die entfernten Mittel zu diesem großen End|zweck in Händen. Sie sind wie die Flußgötter, die aus ihrer Urne [50] zwar Wasser ausgiessen, aber ohne bestimmt vorherzusehen, wohin dasselbe strömen, wie viele Ländereyen und welche es bewässern wird. Das Ziel, wornach sie arbeiten, die Glückseligkeit des Staats, insofern diese soviel bedeutet, als die

24 | 1 Aus den Monographien Summe der Glückseligkeit deren seine sämtlichen Glieder genießen, – ist ein für menschliche Augen unübersehlicher Gegenstand. Sie müssen ihn daher unter gewisse allgemeine und abstracte Gesichtspuncte, – dergleichen die der Macht, des Reichthums, der Bevölkerung des Staats sind, zu fassen suchen. Je mehr diese Endzwecke, welche sie unmittelbar zu erreichen sich vorsetzen, von der letzten Absicht entfernt sind; – je ungewisser es wird, wie viele ihrer Unterthanen, und in welchem Grade sie wirklich durch Ausführung ihrer Entwürfe werden glücklicher werden: um desto weniger Erlaubniß haben sie, zur Beförderung jener Entzwecke, zur Unterstützung dieser Unternehmungen, gewaltsame Mittel zu wählen, oder in andere Rechte und Besitzungen Eingriffe zu thun. Man kan sich eine Stufenleiter von Begriffen denken, durch welche das was man gemeinhin Staats-Interesse und Staatsräson nennt, aus der natürlichen und ersten Vorstellung von Glückseligkeit einer Nation entstand. Diese erste und natürliche Vorstellung nemlich ist: »Eine Nation oder der Staat ist glücklich, wenn die Menschen aus welchen er besteht, glücklich sind.« [51] Aber das Schicksal einer Menge muß nach dem größern Theile geschätzt werden. Das Wohl des Staats wird also das Wohl der meisten Glieder desselben seyn. Aber diese Glieder sind ungleich – Ungleich in Absicht ihres innern Werths, und des innern Vermögens welches sie haben Glückseligkeit zu genießen; – ungleich, wegen des Einflusses den sie auf andre haben, und der Hülfsmittel die sie besitzen wieder andre zu beglücken. Mit dieser Ungleichheit der Menschen, welche auf der Schätzung ihres Beytrags zur allgemeinen Glückseligkeit, und also auf Natur und Wahrheit gegründet ist, verbindet sich bald die Ungleichheit die auf der Meynung und dem Vorurtheile beruht. Man sucht den Staat vornehmlich in den höhern Ständen, in dem Adel, den Begüterten, den Wohlerzognen, den Gelehrten: und glaubt das Interesse des erstern richtig zu bestimmen, wenn man auf die Vortheile dieser aller Rücksicht nimmt, – und dieß um so mehr, weil jeder aus dieser Classe gleichsam wieder ein kleines Reich unter sich hat, – ich will sagen, mit einer Anzahl niedrigerer Menschen in Verbindung steht, deren Wohl- oder Übelbefinden an dem seinigen hängt. Die Erfahrung lehrt nun ferner theils gewisse allgemeine Hülfsmittel, durch [52] welche man Wohlhabenheit und Zufriedenheit einer Menge sichern und beför|dern kan, theils gewisse allgemeine Kennzeichen, wornach man sie beurtheilen muß, wenn es nicht möglich ist sie in sich selbst kennen zu lernen. Zu jenen Hülfsmitteln gehört z. B. Flor der Handlung, zu diesen Kennzeichen die Bevölkerung, zu beyden der gute Zustand der Armeen, Flotten, Vestungen, und des öffentlichen Schatzes. Ehedem hielt man sich bloß an gewissen äußre Kennzeichen um das Blühen eines Staats, und also die Güte seiner Regierung abzumessen. Jetzt, da man den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung etwas besser einsehen lernt, beobachtet man mehr die Hülfsmittel, und den innern Zustand. Und ohne Zweifel ist dieser Probierstein weniger fehlbar als der erste. –

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Demohnerachtet da Sicherheit das erste Momente der Glückseligkeit ist, und Macht zur Sicherheit führt: so geschieht es auch jetzt noch häufig, von Staats-Männern und Philosophen, daß sie den weitläuftigen und viel umfassenden Begriff von Glückseligkeit des Staats, in den engen und eingeschränkten von Macht und Einfluß seines Regenten einschließen. Es ist klar daß dieser letztre Endzweck weit öfter in Widerspruch mit dem eben so verstandnen Interesse andrer Staaten kommen kan, als die wahre Glückseligkeit der Einwohner des ersten Landes, mit der Glückseligkeit der Einwohner des zweyten. Aber die Einschränkung der menschlichen Fähigkeiten und die Unvollkommen- [53] heit seiner Einsichten, bringt nothwendig in den Handlungen, welche sich auf unübersehbar große Gegenstände beziehn, eine Mangelhaftigkeit hervor. Schon dieser Umstand macht Rechtswissenschaft und Moral des Privatmanns sichrer, als die Moral des Staatsmanns je werden kan. Erstrer weiß mit wem er zu thun hat, wem er durch sein Verfahren Schaden thut, oder Nutzen stiftet, er weiß wie viel dieser Nützen oder Schaden beträgt. Er sieht, wie wenig sein Individuum gegen den ganzen Staat bedeutet, und wie unrecht es wäre allgemein nützliche Gesetze in seinem Falle aufzuheben. Der Beherrscher eines Staats hingegen hat weder die Menschen vor Augen deren Glück er befördert oder stört; noch weiß er das Gute was er thut mit dem Bösen was er anrichtet genau zu vergleichen; noch kann er sich endlich bestimmt das Verhältniß denken, in welchem das Glück seines Staats gegen den noch höhern Endzweck des allgemeinen Menschenwohls steht. Die Gegenstände die er zu verfolgen gemüßigt ist, Ehre, Macht, Glück des Staats, sind mehr Gegenstände für den Verstand oder die Imagination als für die Sinne, und die Erfahrung. Eben deßwegen ist er auch mehr in Gefahr bloße Schimären zu verfolgen. Ich kehre von dieser Digression dahin zurück, von wo ich ausgieng. Wenn ganze Gesellschaften von Menschen, Vorrechte vor einzelnen Menschen haben: so haben auch große Gesellschaften Vorrechte vor kleinen. Hat der Regent der erstern also nur nicht unrichtig beurtheilt, was wahres Inter- [54] esse seines Staats heißt, besonders was er als Mittel zur Erhaltung desselbe ansieht: so kan ihm unmöglich die Befugniß abgesprochen werden, ein weit geringeres Interesse weit weniger Menscher, wenn diese auch von ihm unabhängig sind, seinen höhern Endzwecken unterzuordnen. Die Geschichte lehrt auch durch ihre Nachrichten, daß größre Monarchien immer von ihrem Übergewicht über kleinere in gefährlichen Zeitpuncten Gebrauch gemacht haben; und sie zeigt durch den Beyfall oder den Tadel, mit denen sie die erzählten Handlungen belegt, daß dieß nur alsdann von der Nachwelt für ungerecht erkannt wird, wenn die Staats-Ursachen nicht wichtig, die Gefahren nicht groß genug gewesen sind, um unregelmäßige Schritte zu rechtfertigen, oder wenn die Monarchen nicht in Zeiten der Ruhe gut zu machen suchten, was sie in Zeiten der Noth andern zum Schaden unternommen hatten.

26 | 1 Aus den Monographien War es im dreyßigjährigen Kriege für die Österreichischen Regenten ein durchaus wesentlicher Gegenstand, daß ihre deutschen und italiänischen Staaten zusammenhiengen: so war es zu entschuldigen, daß sie die Graubündner mit Gewalt zu nöthigen suchten, ihnen das Thal, wodurch diese Staaten getrennt wurden, einzuräumen. Konte im Jahr 1535. Franz der erste die Italiänische Gränze seiner Staaten gegen [55] Karl den fünf|ten nicht vertheydigen, ohne sich des ungehinderten Durchgangs durch die Pässe der Alpen, welche Savoyen in Besitz hatte, zu versichern: so ward auch sein zweydeutiges Recht, welches er hatte, dieses Land mit seinen Truppen zu besetzen, durch die Nothwendigkeit vollgültig. Diese Betrachtung, daß die Regenten, eben um der Wichtigkeit ihrer Pflichten willen, auch unter gewissen Umständen größere Rechte haben, führt mich auf noch einen andern Gesichtspunct in welchem die Lage dieser Mächtigen der Erde anzusehen ist; ein Gesichtspunct der nur selten von ihnen erwogen wird, und der, in dem er sie auf der einen Seite erhebt, sie auf der andern einschränkt und neuen Verbindlichkeiten unterwirft. Sie zusammengenommen sind die großen Vorsteher der Menschheit; sie bestimmen durch ihre vereinigte Summe von Weisheit und Tugend, oder von Thorheit und Laster, – unter allen moralischen Ursachen am meisten, – den Grad der Glückseligkeit und des Elendes auf Erden in jedem Zeitalter. Sie lenken durch den Zusammenfluß ihrer Unternehmungen den Lauf der menschlichen Dinge, und veranlassen, handelnd oder leidend, durch ihre Thaten und durch ihre Schicksale, die größten, und noch dazu immerwährende Veränderungen in dem Zustande der gesammten Menschheit: – Veränderungen durch welche diese in [56] Entwickelungen ihrer Kräfte, und in der An|näherung zu ihrer Vollkommenheit, bald weiter gebracht bald verzögert wird. Wenn sie auf der einen Seite Stellvertreter der Nationen sind: so sind sie auf der andern die ersten Werkzeuge der Vorsehung. Sie helfen unter ihr den Plan derselben entwickeln. Sie sind die ersten Triebfedern in der großen Maschine der moralischen Welt, wodurch der höchste Regierer derselben die übrigen Räder in Bewegung setzt. Und diesem Verhältnisse, so bald als sie einsehen, und so weit als sie es einsehen, ist es auch ihre Pflicht, gemäß zu handeln. Sie deren Handlungen durch den Zusammenhang mit den Handlungen andrer Regenten, auf viele Nationen, oft auf ganze Welttheile Einfluß haben, müssen auch das Wohl des menschlichen Geschlechts im Ganzen, als ihren wahren und letzten Zweck erkennen. Nun sind alle Regeln der Tugend sowohl als die Regeln der Gerechtigkeit eben auf dieses allgemeine Wohl gerichtet. Sie sind deßwegen verpflichten, weil ihre Ausübung nothwendig ist, wenn die Menschen bey einander leben, und glücklich leben wollen. Alle Regeln aber müssen der Absicht der Regel untergeordnet seyn. Und es ist also unstreitig wahr, »alles ist Recht, was dem menschlichen Geschlecht im Ganzen ersprieslich ist.«

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Wer diesen großen Gesichtskreis übersehen kan, und die Folgen seiner Handlungen so vollständig und | so deutlich vor Augen hat, daß er nach eigner Einsicht [57] mit Gewißheit beurtheilen kan, welche der ganzen vernünftigen Schöpfung in allen künftigen Zeitaltern mehr nutzen als schaden werden: der braucht sich nach keinen allgemeinen Regeln zu richten, – und er kan diejenigen welche uns Recht und Gewissen vorschreibt übertreten, ohne weder ungerecht noch strafbar zu handeln. Nach dieser Rücksicht irren diejenigen nicht, welche behaupten, daß die göttliche Gerechtigkeit und Güte, obgleich als Eigenschaften in seinem Wesen, den eben so genannten Tugenden unsers Geistes ähnlich, doch in ihren Äusserungen sehr weit von de Verfahren abgehen können, welches uns jene Tugenden vorschreiben. Wenn seine Gedanken nicht die unsrigen sind, in Absicht der Einschränkung und Mangelhaftigkeit, so können auch die Wege welche er zur Erreichung des Ziels allgemeiner Glückseligkeit nimmt, nicht die unsrigen seyn. Es darf uns demnach nicht wundern, daß vernünftige Menschen Offenbarungen haben für göttlich halten können, durch welche Handlungen befohlen wurden, die ohne eine solche Autorität lasterhaft gewesen seyn würden. Sie irrten vielleicht in den Gründen warum sie jene Offenbarung annahmen: aber sie dachten richtig, daß sie sie nicht um der letztern Ursache willen verwarfen. Gott befiehlt einem Vater seinen Sohn zu opfern; er befiehlt einem Volke andre Völker auszurotten. Kan dieß allein einen Beweis abgeben, daß die Schriften worinn das steht, nicht | von ihm [58] sind? Aber der welcher allen Menschen das Leben gegeben, und alle dem Gesetze des Todes unterworfen hat, kan ja wohl über das Leben eines einzelnen Menschen, über das Daseyn einzelner Nationen gebieten. Wenn er durch die allgemeinen Gesetze der Natur Zerstörung zu einem so wesentlichen Theil seines Plans gemacht hat: so kan er ja wohl auch in einem besondern Falle Menschen zum Werkzeuge der Zerstörung brauchen, und ihnen Zeit und Ort dazu anweisen. Thäten diese Menschen was er ihnen befiehlt auf eignen Antrieb, so wären sie Verbrecher: denn sie sähen nichts als Zerstörung und Untergang vor Augen: das höchste Wesen sahe Leben und Glückseligkeit als eine entfernte Folge davon voraus, und hatte diese zur Absicht. – Zadig warf sich voll Ehrfurcht vor dem Engel Jezrad als Gesandten der Vorsehung nieder, den er als Eremiten, nach seinen Handlungen, für einen Räuber und Mörder gehalten hatte.1 Auf einem so erhabnen Standpuncte steht kein Mensch. Keiner kan das menschliche Geschlecht im Ganzen und alle folgende Jahrhunderte übersehen, und beurtheilen was der Welt als der ewigen Kette aller vernünftigen Wesen zu ihrem Besten gereicht. Also kan auch keinem die Gewalt verliehen seyn, um solcher großen Zwecke willen die kleinern zu zerstören, welche den Grund zu den gewöhnlichen menschlichen Pflichten ausmachen. Indeß nähert sich doch ein Mensch nach seiner Lage und Verhältnissen, so wie [59] nach seinem Berufe, mehr diesem erhabnen Standpuncte als der andre. 1 Zadig, Hist. Orient. Chap. XX.

28 | 1 Aus den Monographien Und gewiß, wenn irgend jemand berechtigt ist bey der Regierung seiner Handlungen, sich nicht bloß an die einmal etablirten Regeln zu halten, sondern auf den höhern Grund der Regeln, das allgemeine Beste der Menschen unmittelbar zu sehen: so müssen es diejenigen Personen seyn, die, erstlich, Richter und Gesetzgeber der übrigen Menschen sind; zum andern die Angelegenheiten der Völker im Großen absichtlich anordnen, oder gelegentlich durch ihre Verhandlungen leiten; und die endlich durch keinen Contract dieses Recht der Selbstprüfung auf immer aufgegeben haben. Zuerst die welche am Ruder großer Staaten sich befinden, stehen wirklich auf einer Höhe, von wo sie mehr vom menschlichen Geschlechte und von der Zukunft übersehen. Sie kennen den Zustand der Völker besser, sie haben mehr Gelegenheit die Ursachen und Triebfedern zu beobachten, aus welchen die künftigen Erfolge entstehn. Sie können also, wenn sie selbst mit den nöthigen Geisteskräften ausgerüstet sind, es eher in ihren politischen Berathschlagungen als irgend ein Privatmann in seinen bürgerlichen Geschäften wagen, die Betrachtung der besondern Umstände und die Voraussehung der bevorstehenden Fälle, oder, die Hofnung zur Verbesserung des Zustandes der Dinge, an die Stelle allgemeiner Grundregeln zu setzen. [60] Zum andern; sie haben wirklich diesen Beruf. Das Wohl der Länder und der Zeiten hängt an ihren Entschlüssen. Besonders sind alle Verhandlungen eines Souveräns mit andern seines Gleichen, die Kriege die sie mit einander führen, die Verträge die sie machen, die Verwandschaften die sie stiften, für mehr als ein Land und Volk Quellen des Wohlstandes oder des Unglücks. Also fordert sie auch ihr Posten auf, das Glück der Völker, auf welches sie gewiß durch die auswärtigen Staats-Geschäfte Einfluß haben, auch gefliessentlich zu ihrer Absicht zu machen. Aus Pflichten entstehen Rechte. Und wenn sie in einem so großen Wirkungskreise Gutes thun sollen, so müssen sie auch in einem eben so großen Gesichtskreise beobachten und urtheilen dürfen. Weit anders ist es mit Privatleuten und ihren Geschäften. Ich will nicht wiederholen, was ich oben gesagt habe, daß sie sich, in dem Grund-Vertrage der bürgerlichen Vereinigung, des Rechts begeben haben, das was die Gesetze in allgemeinen verordnen, in jedem besondern Falle, – ob es hier nützlich oder schädlich sey, – zu prüfen. Ich will nur diese beyden Bemerkungen hinzufügen. Der Privatmann kan die jedesmaligen individuellen Folgen seiner Handlungen, besonders in demjenigen Verkehr mit andern welcher das Eigenthum betrifft, weit weniger voraussehen und beurtheilen: er muß sich also an die allgemeine Vorschrift strenger halten, oder er hätte gar keine. So wie es den Menschen eher gelungen ist von den Gesetzen des Weltbaues [61] etwas zu verstehen, als die Gesetze der Witterung einzusehen, und so wie sie besser gelernt haben Finsternisse an Sonne und Mond, als Regen und Wind in unsrer Atmosphäre vorauszusagen: so haben sie auch über den Gang der großen politischen Angelegenheiten, und die Erfolge von Staatshandlungen in Absicht des Schicksals

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der Völker, deutlichere Begriffe und sicherere Vorzeichen, als über den Lauf der Familien- und persönlichen Begebenheiten, oder über die Erfolge ihrer Privatverhandlungen. Der Grund ist daß im Physikalischen wie im Moralischen – in den großen Gegenständen, der Ursachen die zugleich wirken weniger, und diese wenigern regelmäßiger sind, in den kleinern hingegen der Zusammenfluß concurrirender Umstände unendlich groß, und also auch die Wirkungsart jedes Umstandes ungleicher und regelloser ist. Wo aber das Individuelle des Falls in welchem wir handeln, und der Folgen die wir veranlassen, sich weniger deutlich erkennen läßt, da müssen allgemeine Grundsätze uns unumschränkter regieren. Dazu kömmt, daß eben weil die Angelegenheit des Privatmanns klein ist, das Interesse welches mit derselben verknüpft ist, immer überwogen wird von dem Interesse des Gesetzes selbst, d. h. von dem Nutzen welchen die Gesellschaft davon hat, daß Gesetze beobachtet werden. Bey National-Angelegenheiten kan wohl zuweilen das Gegentheil statt finden. Dieß führt mich auf einen doppelten Unterschied zwischen den Pflichten, bey [62] welchen die Allgemeinheit und Unverletzlichkeit der Regeln, der menschlichen Gesellschaft wichtiger ist, als der Nutzen oder Schaden welcher in irgend einem besondern Falle, aus der unter der Regeln stehenden Handlung herauskommen kan. Von dieser Art ist die Pflicht wiederzugeben was man geborgt hat. Hiebey wird also de Menschen die Beurtheilung nicht mehr zugestanden, ob er unter seinen Umständen, durch die Zurückzahlung seiner Schulden auch etwas gutes stifte: er muß sie zurückzahlen. Dieß ist Verpflichtung der Gerechtigkeit. Bey andern Pflichten hingegen kömmt der Nutzen oder Schaden, welcher in jedem Falle aus der Handlung entspringt, mehr in Betrachtung als die Nutzbarkeit des Gesetzes. Der Grund warum ich etwas Gutes thue, wenn ich einem Armen eine Gabe reiche, liegt mehr darinn, daß ich weiß, daß er sie bedarf, und gut anwenden wird, und daß ich sie entbehren kan, als darinn, da ich das Gesetz Armen zu geben durch meinen Gehorsam dagegen aufrecht erhalten will. Ich darf daher auch jedesmal neue Überlegungen anstellen, ob ich es für nützlich oder unnütz halte, Almosen zu geben; – und mich mehr nach diesen Über|legungen, als nach dem allgemei- [63] nen Geboth wohlzuthun, richten. Dieß sind die Gewissenspflichten. Die Allgemeinheit also der erstern, – der Gesetze der Gerechtigkeit – beruht auf zwey Gründen: erstlich auf der überwiegenden Wichtigkeit des Gesetzes über die Wichtigkeit und Größe der Angelegenheit, auf welche das Gesetz angewandt wird; zweytens auf der Gefahr durch jede zugestandene Ausnahme von der Regel, die Regel selbst wankender zu machen. Was den ersten Grund anbetrifft: so ist es augenscheinlich, daß derselbe in den Geschäften des Privatlebens immer oder doch in den allermeisten Fällen statt finden wird, – auf die Verhandlungen der Staaten mit einander aber, sich nicht mit gleicher Gewißheit anwenden läßt. Der Schaden und selbst der Ruin den die Ausübung der strengen Gerechtigkeit zuweilen über den einen Bürger und seine Familie, ohne beträchtlichen Nutzen für

30 | 1 Aus den Monographien die andre dabey interessirte Parthey bringt, ist doch ein sehr kleiner Gegenstand gegen den Nutzen einer gesetzmäßigen Ordnung unter einer so zahlreichen und so enge verbundenen Gesellschaft. Aber wenn über der gleich pünktlichen Beobachtung ähnlicher Pflichten, eine Nation zu Grunde geht, oder ein unabhängiger Staat, die Provinz eines andern wird; – wenn wenigstens Millionen von Menschen an ihrem Wohlstande leiden, oder [64] durch Mangel umkommen: ersetzt dann noch dem menschlichen | Geschlecht, der Nutzen der aus der Gesetzmäßigkeit als einem allgemeinen Principio für dasselbe entsteht, den Schaden welchen das Gesetz selbst ihm in diesem Falle brachte? Ich sage nicht, daß nicht sehr oft und gemeiniglich beydes vereinigt ist, Interesse der Nationen und Interesse des Gesetzes; ich sage nicht, daß die Monarchen sich nicht sehr oft täuschen, und die Vergleichung zwischen der Wichtigkeit ihrer En[d]zwecke und der Wichtigkeit der allgemeinen Vorschriften unrichtig anstellen, weil sie auf der Waagschaale der erstern ihre Leidenschaften mit wägen. Aber das behaupte ich nur, daß die Größe der National-Gegenstände, mit welchen der Regent zu thun hat, und der Umfang des Nutzens oder Schadens welcher aus seinen Entschlüssen zu erwarten ist, ihn zu Ausnahmen von der Regel berechtigen könne, zu welchen derjenige nicht berechtiget ist, dessen Wirksamkeit in der engern Sphäre des Privat-Lebens eingeschlossen ist. Daß die Nachsicht mit welcher die politischen Handlungen selbst von der Nachwelt beurtheilt werden von ihrer Wichtigkeit herkomme, ist daraus klar, daß derselbe Fürst, welcher von der strengen Gerechtigkeit in seiner Politik abwich, ohne dadurch seinen Charakter in den Augen der Welt sehr zu beflecken, sobald er als Mensch in seinem Betragen gegen einzelne Personen, sich ähnliche Unregelmäßig[65] keiten erlauben wollte,| mit der größten Schande gebrandmarkt seyn würde. Ein König der einen Krieg leichtsinnig und ohne hinlängliche Ursachen anfängt, opfert vielleicht tausende von Menschen auf. Einer welcher einen Großen an seinem Hofe, dem er nicht wohl will, ohne Richter und Recht ermorden läßt, bringt nur einen einzigen Menschen ums Leben. Demohnerachtet wird jener vielleicht doch noch für einen großen Mann und für einen vortreflichen Regenten, dieser wird gewiß für einen Tyrannen gehalten. Woher dieser Unterschied? Dort, setzte man voraus, waren Staatsabsichten die Triebfeder, und der Regent irrte sich nur in der Schätzung und Abwägung derselben; oder es lagen doch National-Leidenschaften zum Grunde, bey welchen selbst die Ausschweifungen nicht ohne alle Entschuldigung sind. Aber hier handelte nicht der Monarch, sondern der Mensch: die Gründe seines Entschlusses oder die Ursachen seines Affectes lagen nur in Angelegenheiten die ihn betrafen. Der Gegenstand welchen er suchte, war nicht größer, als der welchen der Eigennutz oder die Rachsucht jedes Privatmanns unter gleichen Umständen haben würde. Die Gesetze waren daher in diesem Falle für den Regenten so unverletzlich als sie für den niedrigsten Bürger sind. Wenn er sie übertritt, ist er mit diesem gleich strafbar.

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Der Verdacht daß Ferdinand der erste den Cardinal Martinusius in Ungarn hat umbringen lassen, ist ein größrer Schandfleck in seiner Geschichte als in der Geschichte seines Bruders seine zweydeutige | Politik, und sein immerwährendes [66] Kriegführen. Wir billigen in der Verwaltung des Richelieu nicht, die List und Gewalt die er angewandt hat, seinen König mächtig zu machen: aber wir wanken in unserm Urtheile, und sind unschlüßig, ob wir um der Größe der Endzwecke willen, die Unregelmäßigkeit der Mittel entschuldigen sollen. Hingegen würden wir vor ihm als einem Ungeheuer schaudern, wenn wir es für bewiesen hielten, daß er sich seiner persönlichen Feinde, durch eine heimliche Fallthüre in seinem Cabinette entlediget habe. Der zweyte Grund, warum gewisse Regeln ohne alle Ausnahme seyn müssen, ist, weil jede Ausnahme sie wankend macht. Und dieß trift wieder das Privatleben weit mehr als die politischen Verhandlungen. Je mehr Menschen auf einem kleinen Platze bey einander leben, und je öfter eine und dieselbe Art von Handlung wiederholt wird: desto ansteckender ist das Beyspiel, und desto leichter bilden sich Gewohnheiten. In der bürgerlichen Gesellschaft kömmt alles darauf an, daß es zur Gewohnheit werde, gerecht zu handeln, niemanden das seinige zu entwenden u. s. w. weil Gewohnheit die Triebfeder ist, die am zuverlässigsten auf einen großen Haufen zugleich wirkt. Was diese Gewohnheit hier unterbricht, ist äußerst schädlich, weil dadurch die Autorität der Gesetze selbst, die in der Gewohnheit ihre vornehmste Stütze hat, untergraben wird. Jede einzelne Übertretung, welche ungeahn|det hingeht, ist wegen der Menge derer, welche da- [67] durch zur Nachahmung verleitet werden, gefährlich. Und die Rechtfertigungsgründe, die zuweilen eintreten, können deßwegen nicht angenommen werden, weil sie das Schädliche des Beyspiels bey dem großen Haufen der bloß auf das Äußere der Handlung sieht, nicht verhindern. Bey den Souveränen ist diese Ursache, nie Ausnahme von der Regel zu gestatten, weniger vorhanden. Die Anzahl der Personen in diesem Posten ist zu geringe, sie sind nicht so enge mit einander verbunden, und ihre Handlungen sind nicht so gleichartig, daß unter ihnen aus Beyspielen so leicht Gewohnheiten entstehen könnten. Die Vorfälle, welche ihre Aufführung bestimmen, sind von der Größe und Wichtigkeit, daß sie wenigstens immer neue Überlegungen veranlassen. Leidenschaften können dabey viel Einfluß haben; die Gewohnheit und Beyspiele weniger. Die Abentheuer Carls des zwölften werden nicht leicht einen Fürsten zum irrenden Ritter machen. Die Eroberungssucht Ludewigs hat als Beyspiel gewiß an den Kriegen die seitdem aus ähnlichen Triebfedern unternommen worden, so wenig Antheil gehabt, als die Feldzüge des Alexanders daran haben. Dem Privatmanne also muß die eigne Beurtheilung aller der Fälle, welche das Eigenthum betreffen, untersagt seyn, weil im bürgerlichen Leben Einförmigkeit des Verfahrens in diesen Puncten nothwendig ist: den Landesherrn kann diese Beur-

32 | 1 Aus den Monographien theilung nicht unter|sagt, sondern sie muß nur aufs Gute, aufs Edle, Große und Menschenfreundliche geleitet werden. Ich komme zu der zweyten weniger bemerkten Eigenschaft des strengen Rechts. Es geht nämlich nur auf Erhaltung des Zustandes und der Verhältnisse, die einmal da sind. Wenn daher in öffentlichen Sachen, in Angelegenheiten der Staaten mit ihren Fürsten, und der Nationen unter einander nie davon wäre abgewichen, und nie das höhere Gesetz des allgemeinen Nutzen zu Rathe gezogen worden: so müßten Macht der Staaten, Regierungsform, Unterordnung der Stände, und die meisten menschlichen Dinge noch in dem Zustande seyn, in welchem sie vor tausend Jahren gewesen sind. Die Grundgesetze der Constitution haben zur Absicht, das einmal eingeführte Verhältniß zwischen den verschiedenen Regierungsgliedern, und dieser mit dem Unterthan fortdaurend zu machen. Die Gesetze des Eigenthums sind dazu gemacht, daß der, welcher einmal reich ist, reich bleiben, der Arme arm bleiben soll. Nach denselben behält jeder was er hat, darf nichts von dem andern nehmen, darf keinen Gränzstein verrücken, keine Veränderungen vornehmen. Die Gesetze des Völkerrechts zielen ebenfalls bloß dahin ab, jedem Staat das Land und die Einkünfte, welche er einmal hat, zu sichern; den herrschenden Staat in seinen Vorrechten, den abhängigen in seiner Unterwürfigkeit zu befestigen; kurz alle Verhältnisse von [69] Macht,| Ehre und Reichthum zwischen den Souveränen auf dem Puncte zu erhalten, wo sie heute sind. Was erkennen wir nun aus der Geschichte? Daß diese Gesetze von Nationen und ihren Häuptern nie können unverbrüchlich gehalten worden seyn, weil die Welt sich so erstaunlich verändert hat, ganze Staaten verschwunden, andere entstanden sind; und der jetzige Zustand von Europa selbst einer immer fortgehenden Revolution ähnlich sieht. Was lehrt uns aber die Geschichte noch weiter? Daß durch diese Veränderungen, sie mögen nun von der Ungerechtigkeit, die bloß ihren Leidenschaften folgte, oder von der Weisheit, die sich über die Regeln wegsetzte, hergekommen seyn, doch zum Theil wahre Verbesserungen zu Stande gekommen sind. Zwar scheint es in der Speculation möglich, daß in den Gerechtsamen mehrerer Staaten gegen einander, so wie in der innern Constitution eines Staats, Veränderungen mit vollkommner Gerechtigkeit vorgehn können, wenn nämlich alle dabey interessirten Partheyen einwilligen. Aber ist dieses in Facto wirklich oft geschehen? Ist es, – sobald die Menge derer, welche sich in ihren Meynungen dabey vereinigen müßten, groß ist, leicht zu erwarten, daß es geschehen werde? Die glücklichsten Änderungen der Englischen Verfassung sind doch nur durch eine F[r]action angefangen worden, welcher der größte Theil des übrigen Volks in der Folge beystimmte. [70] Würde die gegen|wärtige gesegneten Verfassung von Deutschland und die Territorial-Hoheit der Stände je durch eine völlig freye Verabredung zwischen Kayser und Reich ihre Wirklichkeit bekommen haben?

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Also die Frage, »giebt es in der Politik gar keine Ausnahme von jenen Rechtsregeln:« verwandelt sich in die Frage: »ist es für die Menschheit ohne Ausnahme vortheilhaft, daß der Zustand aller Staaten so bleibt, wie er ist? Und thut jeder Unrecht, welcher darinn etwas verändert?« Wenn man aus allen Jahrhunderten diejenigen politischen Unternehmungen vornimmt und beleuchtet, die durch die allgemeine Stimme der Nationen für ruhmwürdig erklärt worden sind: so wird man finden, daß, nach den Regeln des strengen Rechts geprüft, sie viel tadelhaftes enthalten; daß aber, weil sie das allgemeine und dauerhafte Beste ganzer Länder, Nationen, Religionspartheyen befördert haben, und weil man aus den Umständen und dem Character der Hauptpersonen schließen kan, daß sie dieses Beste, wenn auch nicht allein, doch in der That mit zur Absicht gehabt haben, – ihre ungerechte Seite vergessen worden, und nur die glorreiche und wohlthätige im Andenken der Menschen geblieben ist. War des Churfürsten Moritzens Unternehmung gegen Carl den fünften, da er ihn in Inspruck überfiel, gerecht? Machte er eine gegen seinen Vetter und seine Religionsverwandten ausgeübte Treulosigkeit | dadurch gut, daß er gegen den untreu [71] ward, welcher jene erstern unterdrückt und ihn mit ihrer Beute bereichert hatte? War die verweigerte Freylassung des Landgrafen eine hinlängliche Ursache, warum Moritz Waffen, die er für Carln und zu Ausführung seiner Befehle in Händen hatte, ohne Kriegserklärung gegen ihn kehren durfte? – Aber er focht doch für Unterdrückte, für die Gewissensfreyheit, für die Constitution von Deutschland, für eine Religion, deren Erhaltung wir als einen Segen für die Nachwelt ansehen. Wie nachsichtig beurtheilen auch die strengsten Moralisten diesen Feldzug Moritzens, weil sie ihm höhere Absichten dabey zuschreiben, als die Regeln waren die er übertrat. Wer verdient als Mensch, als König, als Held, mehr die Dankbarkeit von Europa, und besonders von Deutschland, als Gustav Adolph? Aber war sein Unternehmen vollkommen gerecht? – Ist es nicht die erste Grundlage zu allen Ungerechtigkeiten, sich in fremde Händel zu mischen? Was hat, nach den Regeln des Privatrechts zu urtheilen, ein Staat für Befugniß, die Streitigkeiten in einem andern mit gewafneter Hand beyzulegen, gesetzt auch, daß er der gerechten Parthey beysteht? Er soll Gründe, Beweise, Überzeugungsmittel, aber nicht das Schwerd brauchen. – Welches Recht hatte er, selbst die protestantischen Fürsten, zu deren Schutz er zu kommen vorgab, und deren Einwilligung ihm zum Eintritt in Deutschland, den einzigen scheinbaren Rechtstitel gab,| mit Gewalt zu seinem Bündniß und zu Abtretung ihrer [72] Festungen zu nöthigen? Aber Gustav opferte selbst dabey Bequemlichkeiten und Leben auf. Für seinen Staat schien er zunächst nichts als Sicherheit zu suchen, die durch das Bündniß des siegenden Kaysers mit seinem Thron-Rival in Gefahr gesetzt wurde. Für das Land, in welches er mit seinem Kriegsheer kam, brauchte er der unterdrückten Parthey Hülfe mit; hier that er der Übermacht eines Religionsverfolgers und seiner Generale, die aufs äußerste gemißbraucht worden war, Einhalt, – und wurde die erste Ursache aller der Veränderungen, auf welche zuletzt eine vernünftigere und billigere Anordnung der Dinge in diesem Reiche, die Feststellung

34 | 1 Aus den Monographien unzähliger vorher schwankender Rechte, der Friede der Partheyen, und die Freyheit des Gewissens folgte. Wenn er auch nicht alle diese Güter, welche für Deutschland und ganz Europa aus seinen Feldzügen entstehen sollten, voraussah, und zur Absicht hatte: so war er doch von Gesinnungen belebt, die auf solche Absichten gerichtet sind. Er wollte bey einer großen Nation, das was er für das Beste derselben hielt, befördern: und der Erfolg hat gezeigt, daß er wirklich zu ihrem Glück beygetragen hat. Und dieses macht sein Unternehmen in den Augen aller vernünftig urtheilenden Menschen untadelhaft. Sobald man also den Souveränen dieses einräumt, daß sie sich um die Angelegenheiten andrer Staaten bekümmern, und die in denselben vorgehenden [73] Unge|rechtigkeiten bestrafen, oder die Streitigkeiten auch durch Kriegsheere beylegen helfen dürfen: sobald erlaubt man ihnen auch eine Abweichung vom Privatrechte, auf welche nothwendig unzählige andre folgen. Im Privatleben ist, um Ungerechtigkeiten zu vermeiden, die erste Regeln, sich nur um sich zu bekümmern, in fremden Angelegenheiten nie ungebeten Rath zu geben, aber auch bey Freunden nie über einen simpeln Rath hinauszugehn, dessen Befolgung oder Nichtbefolgung man denjenigen überläßt, die davon Nutzen ziehen sollen. In der Verwaltung der Staaten kann dieß unmöglich die erste Regel seyn. Unter unabhängigen einzelnen Menschen, deren einer vor dem andern immer auf der Hut seyn müßte, würde sie eben so wenig gelten. Hier muß sich jeder um alle bekümmern. Die Veränderungen die in dem Hause meines Nachbars vorgehn, können mir unmöglich gleichgültig seyn, wenn meine Sicherheit nur von seinem guten Willen und meiner Macht ihm zu widerstehn, abhängt. Alles was von mir gefordert werden kann, ist, daß ich bey der ungebetnen Theilnehmung an den Angelegenheiten meines Nachbars sein Bestes sowohl als meine Sicherheit zum Augenmerk haben. Noch weit klärer aber ist es, daß Staaten weder ihre äußre Ruhe sicher stellen, noch für ihre innere Verwaltung gehörig sorgen können, wenn sie nicht an den Aufritten, die in andern Staaten vorgehn; ohne, und sogar wider deren Willen An[74] theil nehmen, – | und thätlich mit wirken die Angelegenheiten derselben in die Form und Ordnung zu bringen, welche sie ihrem eignen Staats-Interesse gemäß halten. Sobald Regenten solche Schritte thun, so bald handeln sie als von der Vorsehung verordnete Schiedsrichter und Regierer der Welt. Sie treten aus den ihnen zunächst angewiesenen Schranken heraus: und ihre Berathschlagungen können durch nichts mehr geleitet werden als durch ihre Klugheit und durch ihre Liebe zum menschlichen Geschlechte. »Aber, heißt dieses nicht dem Willkühr der Monarchen zuviel einräumen, und ihrem Ehrgeitz ein zu weites Thor eröfnen? Was werden nicht ihre Leidenschaften erst wagen, wenn Moralisten selbst in den Grundsätzen ihnen so viel zugestehn? Soll die Nothwendigkeit, oder der Vorwand Völker beglücken zu wollen, die ihrer Sorgfalt nicht anvertraut sind, alles bey ihnen entschuldigen: welcher Länder-Verwüster wird alsdann ohne Entschuldigung bleiben? Soll der Vorsatz, Verbesserun-

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gen zu machen, Eingriffe in positive Rechte andrer erlauben: so kann dem Despotismus kein Damm mehr entgegengesetzt werden, daß er nicht unter diesem Vorwande, die Freyheiten edler Nationen untertrete, keiner der Eroberungssucht, daß sie nicht ihre Gewalt über schwächere Nachbarn ausdehne. Sollen keine Gränzen mehr unverrückbar, kein Staatseigenthum sicher, keine Verträge mehr heilig seyn?« Gott bewahre uns für so schrecklichen Lehren. Sie sind eben so fern von den [75] Gesinnungen meines Herzens, als sie es, hoffe ich, von den Grundsätzen sind, die ich ihr vortrage. Denn zuerst, wenn es auf Vorwände ankömmt, hat es je einem ungerechten Mächtigen daran gefehlt? Hat das positive Recht mit allen seinen Regeln und Clauseln den Eroberern und den Despoten Einhalt gethan? Sind nicht unter dem Schein von Rechtsansprüchen, die aus alten Pergamen[t]en, aus Testementen, aus allen Erwerbungstiteln des bürgerlichen Rechts hergeleitet wurden, ehen soviel ungerechte Kriege geführt worden, als der unverhehlte Bewegungsgrund der Convenienz je hätte hervorbringen, oder der vorgegebene des allgemeinen Besten je hätte beschönigen können? Und wenn eines von beyden seyn soll; wenn es unmöglich ist, zu verhindern, daß nicht die Großen der Erde entweder mit ihren Documenten oder mit ihrem Gewissen spielen, und zu dem was ihnen blos Habsucht oder Herrschsucht eingegeben hatten, entweder juristische oder politische Gründe ausfündig machen und anführen: wäre es nicht besser, wenn sie das letztere vorzögen, indem sie doch wenigstens dadurch der Wahrheit näher träten, und zugleich ihr Verfahren nach mehr bekannten dem gemeinen Verstande mehr offen liegenden Grundsätzen prüfen ließen. Um die Rechtsansprüche die jetzt vor jedem Kriege in Manifesten ausgeführt werden, zu untersuchen, dazu gehört eine Kenntniß der Geschichte welche wenige Menschen | haben. Ob das Staatsinteresse, welches man im gegen- [76] seitigen Falle vorwenden müßte, reell und groß genug sey, um die Unternehmung zu rechtfertigen, oder ob das allgemeine Wohl von Europa, wenn an dieses, meinem System gemäß, vorwenden sollte, dadurch wahrscheinlich befördert werde: darüber würden sehr viele verständige Menschen urtheilen können. Der ungerechte Fürst würde mit einer solchen politischen oder moralischen Deduction weit mehr in seiner Blöße sich zeigen; und der Unwille aller Rechtschaffnen, und der Tadel der Zeitgenossen und der Nachtwelt würde ihn weit sichrer treffen. O wollte Gott, daß nie mehr ein Krieg geführt, nie eine Eroberung versucht würde, als wenn der welcher jenen anfängt, und nach dieser strebt, auch nur mit einiger Wahrscheinlichkeit zeigen könnte, daß beyde seinem eignen Lande, oder auch nur ihm selbst nützlich wären. Wollte Gott daß die wahre Convenienz, die Abzielung eines politischen Unternehmens auf irgend einen Zweck, – selbst den des wohl verstandnen Eigennutzes, die Maaßregeln der Regenten leitete; daß nur diese Convenienz vor ihnen erwiesen werden müßte, wenn sie ihre Unternehmungen in den Augen der Welt rechtfertigen wollten. Wie ruhig würde jetzt Europa lange Zeit seyn, und wie ungestört jeder Unterthan unter seinem Ölbaum und Weinstock sitzen können!

36 | 1 Aus den Monographien Aber wenn noch überdieß die Nationen von ihren Herrschern forderten, daß sie Handlungen, die ganz Europa zerrütten, auch durch irgend eine Aussicht auf | das künftige größre Stück von ganz Europa rechtfertigen müßten: würde dann wohl noch dem ländersüchtigen Fürsten, oder dem kriegerischen Abentheurer irgend ein Scheingrund zu Gebote stehen, welcher die übrigen Menschen blenden könte? Doch ich will nicht mein System durch bloße Vergleichung mit dem bisherigen, oder durch schimärische Voraussetzungen rechtfertigen. Ich will bloß zeigen was in demselben liegt. Und in der That, eine solche Ungebundenheit der Fürsten, als man aus ihm schließen wollte, ist weit von dem Geiste desselben entfernt. Einmal. Ist es einerley, ob ich sage, »der Fürst hat keine zwingende Gesetzgeber, als seine Einsicht des Besten;« – oder ob ich sage, »er hat gar keine Gesetze?« Enthält jener Satz eine unbekante Wahrheit? Kan in Facto die Sache geändert, – kan dem Unabhängigen die Gewalt entzogen werden, zu thun was er für gut hält? Und giebt es ein anderes moralisches Mittel diese Gewalt einzuschränken; als ihn zu lehren, was wahrhaft gut ist, und sein Herz gegen menschliches Elend und Wohl empfindlich zu machen? Zum andern. Aus der Natur und den Gründen der Freyheit selbst, welche ich Unabhängigen im Stande der Natur nicht absprechen konnte, folgt die Einschränkung dieser Freyheit. 1. Da Erhaltung dessen was da ist, ein näher liegendes und zur Glückseligkeit [78] der Menschen wesentlicheres Gut ist, als die Beförderung eines noch un|gewissen Bessern; und da das Recht eigentlich die Erhaltung und die Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes der Dinge zur Absicht hat: so verpflichtet eben die Regel des allgemeinen Nutzen welche allein den Regenten von den untergeordneten Pflichten des strengen Rechts frey sprechen kan, in dem gewöhnlichen Zustande der Dinge diese Pflichten zu beobachten. »Ändre, in deinen Verhältnissen mit deinem Volke, in den Verhältnissen deines Volks mit andern Völkern, außer von der Noth gedrungen, oder durch außerordentliche Vorfälle aufgefordert, – nichts.« Dieß ist das erste Gesetz der Vernunft und des Gewissens für einen tugendhaften Fürsten. Es ist etwas großes einer ganzen Nation oder mehreren Nationen mehr Glückseligkeit zu verschaffen als sie haben; aber es ist schon sehr preißwürdig, ihnen den Genuß derer welche sie besitzen zu versichern: und es ist verwegen und frevelhaft sie in einer ungewissen Hoffnung künftiger Vortheile, für jetzt elend zu machen. Aber welches ist eine solche Noth, welches sind diese außerordentlichen Vorfälle? Dieß ist es eben, was die Freyheit der Monarchen gefährlich zu machen scheint, weil es ihrer Beurtheilung überlassen werden muß. Indeß wenn es auch alle menschliche Weisheit übersteigt, durch allgemeine und bestimmte Regeln dieß im voraus zu entscheiden: so wird, wenn der Fall da ist, selten mehr als gesunder [79] Verstand und Redlich|keit erfordert, die wahre Beantwortung der Frage zu finden. So viel läßt sich aus obigem Grundsatze im Allgemeinen schließen. Wenn nicht Revolutionen von selbst durch Zufall, oder durch andre Menschen in dem Zeitalter

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eines Regenten entstehen, an denen er Theil zu nehmen gezwungen wird: so ist es ihm nicht erlaubt von freyen Stücken dergleichen zu veranlassen. Allen großen Reformen muß die Vorsehung vorgearbeitet haben; selbst denen die durch Überzeugung hervorgebracht werden, aber noch weit mehr denen, wo die Gewalt mitwirken muß. Die Ursache ist, um die Menschen zu berechtigen, in Hoffnung eines künftigen Guten, welches er stiften will, jetzt, mitten im Frieden Unruhen anzufangen: dazu ist die menschliche Einsicht von der Zukunft nicht groß und gewiß genug. – Der Fürst mag an der Constitution seines Rechts, oder er mag an den Verhältnissen mit andern Staaten etwas ändern wollen: immer ist das erste was er hervorbringt, Streit, Unzufriedenheit, Mißvergnügen, Erbitterung und sehr oft Blutvergiessen und Verwüstung. – Hat er nun in der Entfernung nichts weiter vor sich, als sich persönlich eine größre Erhabenheit, mehr Gewalt, einen berühmtern Namen zu erwerben, fürchterlicher für Auswärtige, und ungebundner in seinen eignen Gränzen zu seyn: so handelt er als ein Tyrann und ein Feind des menschlichen Geschlechts, der kleine, kaum ihm selbst beym vollen Genuß bemerkbare Vortheile | seiner persönli- [80] chem Lage, mit dem Leben, der Gesundheit und dem Wohl vieler tausenden von Unterthanen und Fremden erkaufen will. Ist es wirklich ein National-Interesse, welches er bey seinen eigenmächtigen Entwürfen vor Augen hat: stört er deswegen unveranlasset den Ruhestand von Europa, weil er durch die errungnen Vortheile hofft seinem Lande neue Quellen des Wohlstandes zu eröffnen: so wird sein Unternehmen schon dadurch ungerecht, daß er vielen Nationen schadet, um einer zu nutzen; daß er der Familie deren Hausvater er ist und vielleicht nur einigen vornehmen Gliedern derselben, das Wohl mehrerer Familien seiner Nachbarn aufopfert; – und es wird noch tadelhafter, weil diese Vortheile selten gewiß genug, noch seltner gegen den zuvor anzurichtenden Schaden gehörig abgewogen sind. Wäre endlich der Endzweck einer Friede störenden Unternehmung ein allgemeines Gut der Menschheit oder doch ein gemeinschaftliches aller der Nationen, welche darein verflochten werden: so würde zwar dann (vorausgesetzt, daß die Absicht lauter, und die Erreichung derselben wahrscheinlich wäre,) der heldenmüthige Abentheurer zu entschuldigen seyn, der auch unaufgefordert einen solchen Kampf wagte. Wenn Mancocapac Peru wirklich in der Absicht eroberte, um es gesitteter zu machen; wenn Alexander deswegen den Darius bekämpft hätte, um die Länder Asiens von einem despotischen Joche zu befreyen, und ihnen griechische Freyheit, Künste und Aufklärung mitzutheilen:| so würde, – zwar vielleicht das Gewagte und [81] Unsichere eines solchen Endzwecks von den Zeitgenossen Tadel verdient haben: – aber glücklich ausgeführt, würde das Unternehmen von der Nachwelt mit Recht gepriesen werden. Aber wie selten möchten wohl Entwürfe dieser Art zu machen, wie selten auch nur Vorwände der Art zu finden seyn! – Der Fälle welche unter diese Rubrik gehören, sind so wenige, daß sie bey Festsetzung einer allgemeinen Regel nicht in Anschlag kommen.

38 | 1 Aus den Monographien Und diese Regel war: Der gute Fürst muß, so lange alles um ihn herum ruhig ist, die Ruhe nie zuerst stören. Dann muß er bloß an Erhaltung nicht an Verbesserung des politischen Zustandes der Dinge denken; d. h. er muß strenge gerecht seyn. Wenn aber dieses Gleichgewicht durch andre gestört worden, und der Strom der Verwirrungen ihn mit sich fortreisset, dann muß er nach dem besten Hafen zu steuern suchen, den er zu finden weiß: mit andern Worten, er muß suchen Gutes aus dem Übel zu ziehn, und für seinen Staat und für alle Nationen so viel Vortheile zu erkämpfen als ihm möglich ist. Wir sehen die Urtheile der vernünftigen und billigen Richter dieser Theorie folgen. Alle die Könige die ohne nahe Veranlassung ihre Nachbarn bekriegen, Zankäpfel unter die Nationen werfen, oder den gegenwärtigen ruhigen Besitzstand der Staaten um verjährter Ansprüche willen unterbrechen, sind immer als Unglücksstif[82] ter in der Geschichte brandmarkt worden.| Aber die weisesten und besten Fürsten haben von den zu ihrer Zeit vorfallenden Revolutionen und Kriegen zum Vortheil ihrer Staaten Gebrauch zu machen gesucht. Ungerechte Fürsten fangen die Kriege an: gerechte mischen sich in dieselbe um sie zu schlichten. Und wenn es in gewissen Zeiten, unumgänglich nothwendig wird, (wie dieß nach Kriegen, bey Succeßionsfällen sich wirklich ereignet) neue Einrichtungen in Absicht der Eintheilung des Staats-Eigenthums zu treffen, neue Verträge zwischen den Nationen zu errichten, und die durch einander geworfnen Rechte wieder durch neue Schranken von einander abzusondern: ist es alsdann den daran Theil habenden, den zur Wiederherstellung der Ruhe vornehmlich mitwirkenden Mächten nicht erlaubt, auch den ihnen anvertrauten Ländern und Völkern größre Vortheile zuzuwenden, wenn dadurch nur nicht das Wohl aller gestört wird? 2. Wenn nur ein wahrer und ein großer Vortheil der für die Menschen zu erhalten ist, eine ihre gegenwärtige Ruhe störende Unternehmung der Politik rechtfertigen kan: so muß, damit diese Rechtfertigung statt finde, das Nachtheilige der Mittel, welche man anwendet, mit dem Nutzen des Zwecks welchen man sich vorgesetzt, verglichen worden, und das Übergewicht des letztern erwiesen seyn. Es ist unsinnig und es ist grausam, heute mit Gewißheit tausend Unglückliche zu machen, um vielleicht in zwanzig, dreyßig Jahren, Hunderten zu größerm Wohlstande zu verhel[83] fen. – | Und welche enge Schranken werden nicht bloß durch diese einzige Regel, der Freyheit der Könige, wenn sie als weise und tugendhafte Männer handeln wollen, gesetzt! Wenn unter jene Mittel der Krieg mit gehört: so muß jeder der das mannigfaltige Elend das damit verbunden ist, und die Bosheiten zu denen er Anlaß giebt, kennt, vor Furcht schaudern, wenn er auch die wohlthätigsten Zwecke welche sich nur je die Politik vorgesetzt hat, auf diesem mit Blut bezeichneten Wege zu erhalten gedenkt. Eben deßwegen wird ein menschenfreundlicher Fürst nie ganz freywillig einen Plan entwerfen, wozu Krieg als ein nothwendiger Theil gehört. Irgend eine Nothwendigkeit muß ihm die Waffen in die Hände gegeben haben. Es ist genug

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wenn er sie alsdann zur Aufrechterhaltung der bessern Parthey, und zu Bewirkung großer und nützlicher Reformen zu führen weiß. 3. Eine dritte Betrachtung kommt hinzu, auch gutgemeynte Entwürfe der Fürsten einzuschränken: – diese, daß von allen Veränderungen eine sehr schädliche Folge die Veränderlichkeit selbst ist, d. h. daß andre gereitzt werden, die neugemachte Einrichtung wieder abzuändern. Dieß ist vorzüglich von Veränderungen in Staatssachen wahr, bey welchen alle Sicherheit von dem Alterthum, und die Zufriedenheit der Menschen von der Gewohnheit herkömmt. Ist in den Rechten oder Besitzungen, ist in der innern Verfassung der Staaten etwas dem Herkommen zuwider durchge|setzt, ist die Gewohnheit unterbrochen worden, gesetzt auch beydes sey in [84] der besten Absicht geschehen, sey durch die gelindesten Mittel ausgeführt, und im Erfolge als bewährt und nützlich gefunden worden: immer wird bey dem großen Haufen der Menschen, der Respect gegen die Gesetze sich vermindert haben, und nicht weniger von der Zufriedenheit mit ihrem Zustande verlohren gegangen seyn. Es wird selten fehlen, daß nicht abermahlige Versuche gemacht werden sollten, das Alte wiederherzustellen, und auf diese Weise die Dinge eine Zeit lang in einem Schwanken blieben, welches der besten Verwaltung der Staaten nicht günstig ist. So bringt fast jede Eroberung neue Kriege hervor, und wird selten anders dem Eroberer sicher, als wenn er einen zweyten, gemeiniglich schwerern Kampf deshalb glücklich besteht. Die Ursache liegt vor Augen. Der Staat welcher eine Provinz durch Krieg verliert, sieht sich aller Friedensschlüsse ohngeachtet, noch halb für den rechtmäßigen Eigenthümer derselben an, und behält sich vor, bey der ersten günstigen Gelegenheit sie wieder zu erwerben. Die ersten Eroberungen Ludwigs des vierzehnten in den Niederlanden, kosteten wenig Blut: aber welche lange und verwüstende Kriege entspannen sich nicht daraus? Jetzt hat die Zeit diese Wunde geheilt, und den Besitzstand in jenen Gegenden sicher gemacht. Der siebenjährige Krieg wurde eigentlich noch um Schlesien geführt: und sein glücklicher Ausgang, verbunden mit der durch den Lauf der Zeit immer kräftiger werdenden Verjährung, und noch mehr mit der allgemeinen Überzeu|gung des ganzen Europa von der Nützlichkeit der preußi- [85] schen Macht für den Ruhestand aller, – dieser verband erst unsre Provinz auf eine unauflösliche Art mit dem preußischen Staate. Der rechtschaffene Fürst wird also auch dadurch abgehalten, Unternehmungen welche den gegenwärtigen Besitzstand stören anzufangen, weil, wenn sie an sich auch den Ländern die sie betreffen nützlich seyn könnten, sie doch allen Völkern durch die unruhige Begierde die sie bey ihnen unterhalten, immer wieder neue Unternehmungen zu wagen, schädlich werden. 4. Endlich, (und dieß ist ein Hauptpunct den der Leser nicht aus den Augen verlieren muß,) habe ich bey meinen obigen Betrachtungen, die Staaten als moralische Personen die in dem Stande der Natur nach der strengsten Bedeutung dieses Worts leben, angenommen, also in einer vollkommnen Unabhängigkeit, ohne alle Verbindung mit einander, – in einem Zustande wo keiner von dem andern etwas weiß, keine Verträge ihnen Schranken setzen, keine Gewährleistungen ihnen Si-

40 | 1 Aus den Monographien cherheit verschaffen. Dieß war der älteste Zustand der Staaten, in den Zeiten da die Menschen aus welchen sie bestanden noch roh und ungesittet waren. In demselben waren Kriege unvermeidlich. Die Furcht vor den Fremden war die herrschende Leidenschaft einer jeden Nation, – daraus entstand der Haß: und da jede Völkerschaft nur immer bedacht war ihren Untergang abzuwehren, konte sie unmöglich [86] darauf denken, was recht und was nützlich sey. Der | Moralist, (wenn anders einer in dieser Epoche erscheinen, oder zu einer Theorie die der allgemeinen Praxis entgegen war sich erhaben konte,) predigte ganz umsonst. – Die Moral hat erst von der Zeit an bey den Politikern einiges Gehör finden können, seitdem die Staaten unter einander in Verbindungen gerathen sind, die sie mehr oder weniger dem Verhältnisse der einzelnen Menschen im bürgerlichen Leben näher gebracht haben. Nie ist dieser Zusammenhang auf einer so großen Erdfläche und unter so vielen Staaten vorhanden, und nie ist er unter verbundenen Staaten so genau gewesen, als er es in unserm Europa ist. – Die lange Dauer unsrer Staaten, die beträchtliche Anzahl derselben, die auf einem nicht allzugroßen Raume neben einander existiren, und die immer wachsende Ähnlichkeit der Menschen die in diesem Staaten wohnen, macht den wahren Grund jener Verbindungen. Wo häufige Total-Revolutionen vorgehn, und ganze Staaten oft verschlungen werden, wie dieß in Asien, und vorzüglich in Hindostan noch bis auf unsre Zeiten geschehen ist: da können sich die Verhältnisse zwischen den übrigbleibenden nie durch die Zeit so festsetzen, daß daraus heilige Rechte würden. Wo in weiten Wüsteneyen kleine Völkerschaften herumirren, oder wo ungeheure Monarchien, einzeln von Nomaden umringt, von halben Welttheilen Besitz [87] nehmen: da können der Theilnehmer an den Ver|trägen nicht genug seyn, um daß ein Bundbrüchiger immer eine überlegne Macht gegen sich fände. Die Zerstückelung von Europa in viele Reiche von mäßigem Umfange ist eine der Hauptstützen seiner Cultur und höhern Sittlichkeit, aber auch seines Völkerrechts. Eine UniversalMonarchie, oder eine ihr nahe kommende Macht würde für Europa den Schaden thun, den der Despotismus in einem einzelnen Lande thut: sie würde alten gemeinschaftlichen Verabredungen Vieler, allen Berathschlagungen, Negociationen, Debatten, eine Ende machen, wodurch erst die Begriffe von dem was Recht ist, aufs Reine gebracht worden sind. Endlich wenn von benachbarten Nationen, eine die Sprache der andern nicht versteht, eine die Gebräuche der andern verabscheut, oder eine an den Verfeinerungen der andern nicht Theil nimmt: so ist Mißtrauen und Abneigung zwischen ihnen bey allen Verträgen unausbleiblich. Also die Verbindung mehrerer Staaten zusammen, in Verträgen oder Friedensschlüssen, woran sie insgesamt Theil nehmen, diese macht eigentlich das verbesserte, dem bürgerlichen Stande nahe kommende Verhältniß aus, von dem ich rede. Auch zwey Menschen würden durch gegenseitige Versprechungen noch keine hinlängliche Sicherheit erlangen. Erst wenn viele unter gemeinschaftlichen Bedingun-

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gen zusammentreten, kan das Bündniß unter ihnen fest werden, indem immer gegen Einen Übertreter, mehrere Vertheidiger desselben zu erwarten sind. Eine Art dieser Verträge, woran mehrere Theil nehmen, sind die Garantien, – [88] das Eigenthümliche und der Vorzug des Europäischen Völkerrechts. Sie haben einige Ähnlichkeit mit dem Schutze welchen die Obrigkeit dem Bürger gewährt, – und sind auch zu eben so wohlthätigen Zwecken, zur dauerhaften Festsetzung gewisser Rechte wirksam. Vermöge derselben kan der schwächere Beleidigte ziemlich sicher auf Beystand zählen. Eben deßwegen hat er nicht mehr so viel Gewalt und List nöthig sich selbst zu beschützen, nicht mehr so viele Ursachen, selbst nach überlegner Macht zu streben.2 So | wie für den Bürger nichts heiliger seyn soll, als [89] der Grund-Contract, worauf die bürgerliche Ver|einigung beruht, und die Constitu- [90] tion welche die Bedingungen derselben anordnet, weil von beyden die ganze Glückseligkeit, die nur im geselligen Leben für den Menschen möglich ist, abhängt: so muß für die Staaten von Europa und ihre Beherrscher nichts heiliger seyn, als die Tractaten, durch welche ihr jetziger Zusammenhang, und das System des Europäischen Gleichgewichts, vornehmlich zu Stande gebracht worden ist.

2 Die Garants oder Gewährleister bey einem Tractat, machen sich anheischig, ihre Macht gegen die Parthey zu vereinigen, die zuerst den Contract brechen wird. Sie können aber doch nicht eher, dieser Garantie zu Folge handeln, bis sie erst geurtheilt haben, daß der Vertrag gebrochen sey. Sie werden also stillschweigend von den contrahirenden Partheyen als Richter anerkannt. – Durch ihre Verbindung bildet sich eine Macht, die der Macht jedes einzelnen dieser Contrahenten überlegen ist. – Dieß kan mit der souveränen Macht in der bürgerlichen Gesellschaft verglichen werden. – Der laut erklärte Entschluß dieser garants mit ihrer gesammten Macht den Bundbrüchigen anzufallen, ist der Androhung einer Strafe von Seiten der Obrigkeit ähnlich. Gewiß ist es, daß diese Einrichtung nicht eher statt fand, bis viele Staaten an einerley Bündnissen, oder denselben Friedensschlüssen Theil nahmen. Eben so gewiß ist es auch, daß dieselbe etwas beygetragen hat,| den leichtsinnigen Bruch öffentlicher Verträge zu verhindern. Aber sie ist doch noch nicht zureichend, sie unverletzlich zu machen. Die bürgerliche Gesellschaft hat bei ihren Vorkehrungen zu gleichem Endzwecke, unter andern Vorzügen auch diesen, daß die von ihr verordneten Richter bey Entscheidung der Streitigkeiten die sie schlichten sollen, weniger interessirt sind. Diese gewinnen und verlieren an ihrem eignen Vermögen, in ihren eignen Rechten nichts, das Eigenthum und die Rechte der Partheyen die vor ihren Richterstuhl kommen, mögen festgesetzt werden, wie sie wollen. – Die Garants hingegen von den Tractaten der Fürsten, sind wieder andre Fürsten. Ihr Interesse ist mit dem Interesse der contrahirenden Mächte verflochten. Sie vermittelten den Friedensschluß, oder bekräftigen ihn durch ihre Beystimmung und Gewährleistung, weil sie nach den damaligen Umständen ihre Rechnung dabey fanden. Diese Umstände ändern sich, die Gewährleistenden Mächte selbst sehen den Frieden, oder gewisse Bedingungen desselben, nicht mehr für vortheilhaft für sich an. Die persönlichen Neigungen der Regenten und ihrer Minister, die jene Unterhandlung zu Stande bringen halfen, ändern sich nicht weniger. So nach werden aus diesen Richtern, Partheyen. Sie brechen zuerst den Vertrag, durch welchen sie sich anheischig gemach hatten die Verträge andrer aufrecht zu erhalten. Entweder ruht ihre Macht, dann wenn sie ihrem Versprechen gemäß agiren sollte: oder sie wird wohl gar gegen denjenigen gebraucht, welcher bey den Bedingungen des alten Contracts am festesten beharret.

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42 | 1 Aus den Monographien Die Pflichten der Staaten ändern sich demnach mit ihrer Lage, und werden bey der wachsenden Sicherheit derselben strenger. Sie können um desto mehr allgemeinen Regeln folgen; je weniger sie durch plötzlich Gefahren überrascht werden können. Sie dürfen der Sorge für ihre Erhaltung desto weniger von ihren andern Pflichten aufopfern, je weniger sie ganz allein diese Sorge zu führen haben; – weil sie nämlich wissen, daß an ihrer Erhaltung andern Staaten eben so viel als ihnen selbst gelegen ist. Sie müssen um desto mehr zu Beybehaltung des einmal vorhandnen Zustandes der Dinge arbeiten, und also das Eigenthum und positive Rechte um desto mehr respectiren, je vollkomner und gemeinnütziger dieser Zustand an sich ist. Als noch in manchen Theilen Europens barbarische Nationen hausten, die ihre cultivirtern Nachbarn mit Zerstörung aller ihrer Anlagen drohten; – so lange noch menschenfeindliche Gesinnungen und Aberglauben in gewissen Nationen so zu [91] sagen erblich waren; so lange endlich innerhalb der Gränzen jedes | Staats selbst, so viel streitende Partheyen, so viele Gährungen und Quellen zu bügerlichen Kriegen sich fanden: so lange konten auch die großen Kräfte der politischen Welt nicht im Gleichgewicht bleiben. Die Staaten (gleich auf einander gehäuften Körpern, die noch nicht auf ihrem gemeinschaftlichen Schwerpuncte ruhen) rieben sich an einander, zerstörten sich wechselsweise, oder verdrängten einander von ihrer Stelle. Das ist Gesetz der Natur, daß unvollkomner Zustand veränderlich ist. Dieß sehen wir, (um ein Beyspiel aus einer ganz andern Gattung, aber ein wie ich glaube, passendes Beyspiel anzuführen,) an der Sprache. So lange sie bey einer Nation noch stammelt: so lange veraltert sie von dreyßig zu dreyßig Jahren, und wird immer wieder neu. Ist sie einmal zu ihrer völligen Ausbildung gelangt: so dauert sie Jahrhunderte unverändert. Auf gleiche Weise verhält es sich mit mehrern andern Dingen. Die Beharrlichkeit findet sich erst, wenn der Zeitpunct der Reise und der Vollkommenheit da ist. Bey den Verhältnissen der Staaten, und den Verhältnissen der Beherrscher zu ihren Unterthanen, ist ebenfalls eine öftere Umänderung des Zustandes, der Besitzungen, der Rechte, die unausbleibliche Begleiterin, fehlerhafter Vertheilungen des Staats-Eigenthums, unweiser Verträge, und mangelhafter oder wenig bestimmter Verfassungen. Während solcher sich schnell folgenden Abwechselungen sind Ungerechtigkeiten unausbleiblich, so wohl weil sie leichter [92] Entschuldigung,| als weil sie mehr Beystand und Hülfsmittel finden. – Der bessere Zustand hingegen ist gemacht fortzudauern. Je vernünftiger die Verabredungen, je zweckmäßiger die Einrichtungen, je deutlicher die Bestimmungen der Rechte sind, desto ehrwürdiger werden sie. Und derjenige ist doppelt strafbar, der hier an neue Revolutionen denkt, die außer dem Mangel rechtlicher Ansprüche, auch alle Gründe der Schicklichkeit und des Nutzens gegen sich haben. Zwar ist dieser Punct der Vollkommenheit in der Politik noch lange nicht erreicht. Aber man erkennt, wenn man anders in den menschlichen Angelegenheiten einen Plan annimmt, daß die Vorsehung darauf losarbeitet. Und wir können hoffen, daß diejenige strenge Gerechtigkeit, und dieselbe Ehrfurcht für Eigenthum und

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Verträge, die jetzt nur im Privatleben herrscht, auch auf die Verhandlungen der Staaten übergehen wird, so bald gleicher Wohlstand, gleiche Aufklärung und Sittlichkeit der meisten Völker unsers Welttheils, dem Ehrgeiz ihrer Beherrscher keinen scheinbaren Vorwand, und den gut gesinnten Fürsten keinen Bewegungs-Grund zu eigenmächtigen Schritten geben wird. Es sind dreyerley verschiedne Zeitumstände zu unterscheiden, in welchen auf die Maaßregeln eines Souveräns verschieden seyn müssen. Der erste Zustand ist der, dessen ich schon oben erwähnt habe, der Zustand [93] allgemeiner Ruhe; wenn weder die Sicherheit seines eignen Staats durch Anschläge die andre gegen ihn gefaßt haben, in Gefahr gesetzt wird, noch in andern Staaten Revolutionen vorgehn, oder Kriege geführt werden, welche einen nachtheiligen Einfluß auf sein Land befürchten lassen; kurz wenn die politische Welt eines ruhigen und heitern Tages genießt. In diesem Zustande, (welchen man als denjenigen ansehen kan, auf welchen die Regeln der Moral eigentlich berechnet wird) darf, wie ich schon gesagt habe, ein guter und menschenfreundlicher Fürst, nie zuerst und freywillig etwas stören. Welchen Bewegungsgrund könte er dazu haben, der einen Schein von Gültigkeit hätte? Der Fall der Nothwehr die alles entschuldigt, ist nicht vorhanden. Und kein Staats-Interesse, welches er auch immer vorwenden möchte, ist den Vortheilen gleich, die ein solcher Ruhestand den Ländern gewährt. In einem solchen Zeitraume ist also strenge Beobachtung aller Verträge sorgfältige Achtsamkeit auch die kleinsten Ursachen zu Beschwerden für die benachbarten Staaten, und besonders Anlässe zum Mißtrauen zu verhüten, – endlich Vereinigung der ganzen Aufmerksamkeit auf die innere Verwaltung des Staats, heilige Pflicht jedes Regenten. Zweyter Zustand. Wenn gegen einen Staat Anschläge und Verbindungen jetzt [94] eben gemacht werden, oder doch mit großer Wahrscheinlichkeit zu befürchten sind. Jenes setzt Thathandlungen voraus, von welchen der bedrohete Staat hinlänglich unterrichtet seyn muß, wenn die darnach genommenen Maaßregeln gerecht seyn sollen. Dieses kann auch zuweilen aus den Gesinnungen der Nationen und ihrer Fürsten mit ziemlicher Sicherheit beschlossen werden. Unser großer Friedrich fand sich vor dem Anfange des Krieges von 1756, gegen den Österreichischen Staat und seine Verbündeten in dem ersten Falle; – die Königin Elisabeth gegen Philipp den zweyten, fast ihre ganze Regierung hindurch, und am meisten in dem Jahrzehend von 1580 bis 90, in dem letztern. Religions-Eifer und Geist des Despotismus mußten damals Spanien gegen eine Insel waffnen, welche der Schutzort der Freyheit und des Protestantismus war. Das Entgegenstehende des Interesses in den holländischen Angelegenheiten, Unwille über die fehlgeschlagene Erwartung in Absicht seiner vormahligen Verbindung mit England, – endlich manche kleine angethane und empfangene Beleidigungen waren für einen Geist, wie Philipps seiner, zu starke Ursachen zum Hasse, als daß Spanien nicht schon vor

44 | 1 Aus den Monographien Ausrüstung seiner unüberwindlichen Flotte, als Feind Englands angesehen werden sollte. Darnach mußte also auch, nach gesunder Politik, Englands Königin handeln. [95] In solchen Zeitpuncten nimmt mit der Gefahr auch die Schwierigkeit zu, das was Pflicht der Selbsterhaltung, und das was die Treue und die Gerechtigkeit fordert, genau von einander abzusondern. Es sind besonders hiebey zwey gefährliche Puncte wo es leicht ist von dem rechten Wege, als unklug, oder als ungerecht abzuweichen: erstlich in Absicht der Art und Weise, wie man zur Kentniß der Anschläge seiner Gegner gelangt; zweytens in Absicht der Mittel welche man vorkehrt sie zu vereiteln. Wenn es nicht erlaubt seyn soll, sich eher gegen bloße gemachte Entwürfe andrer, mit den Waffen in der Hand zur Wehre zu setzen, als bis man von der Wirklichkeit solcher Entwürfe gewiß überzeugt ist: so, scheint es, müsse man das Recht haben alle Schritte zu thun, wodurch man das Vorhaben seiner Rivale entdecken könne. Demohnerachtet sind einige dieser Schritte, worunter z. B. die Bestechung der eignen Diener unsers Gegners, die heimliche Entwendung von Documenten gehören, – den Begriffen von Treue und Redlichkeit, die ein tugendhafter Mann hat, dergestalt zuwider, daß er sie unmöglich billigen kan, wenn es nicht schon ein erklärter Feind ist, gegen den sie gebraucht werden. Aber in diesem Falle wären sie unnöthig. Überdieß sind solche Kunstgriffe feindselige Anschläge andrer zu erfahren, wenn sie entdeckt werden, selbst schon hinlängliche Ursachen Feindschaft zu erregen, und machen also den selbst zum Beleidiger und ersten Aggressor, der sich [96] nur von den be|vorstehen Angriffen der Gegenparthey vergewissern wollte. Auf der andern Seite würde ein, der Eifersucht anderer ausgesetzter Fürst sich seinen Feinden auf gut Glück Preis geben müssen, wenn er bey bloßen Vermuthungen einer von denselben ihm drohenden Gefahr, weder gegen sie agiren, noch seine Besorgnisse durch alle mögliche Wege der Erkundigung aufklären dürfte. Ich zeige hier blos die Schwierigkeiten an, ohne im Stande zu seyn, sie völlig aufzulösen. Zeit und Umstände verändern viel: und wenn nicht in dem Charakter eines Fürsten oder seines Ministers Hinterlist leigt; wenn es ihnen wirklich nur um Sicherheit und Vertheidigung des Reiches welchem sie vorstehn zu thun ist: so wird ihnen in jedem besondern Falle ihr Gewissen besser als der Rechtlehrer sagen, was ihnen erlaubt sey. So viel ist gewiß, schon in dem Gedanken, daß eine Nation die andre für ihren natürlichen Rival hält, liegt schon etwas so menschenfeindliches, zum Theil etwas so ungerechtes und unwahres, daß wenn man diese Maxime erst gelten läßt, man umsonst eine Regel sucht, Ungerechtigkeiten und Treulosigkeiten zu verhüten welche nothwendige Folgen jener Maxime sind. Denn was ist mir nicht gegen den erlaubt, von dem ich gewiß glaube, daß er immer mit dem Vorsatz herumgeht, mich zu Boden zu schlagen? [97] Je weniger allgemeine Gründe also vorhanden sind, solche bleibende feindselige Gesinnungen bey irgend einer Nation oder einem Regenten gegen einen andern

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vorauszusetzen: je weniger gewagte Schritte darf dieser letzte sich erlauben um die Wirkungen dieser Feindseligkeit auszukundschaften. Dieser Zustand der Dinge nähert sich in Europa: und wenn die Menschen nicht an Gewohnheiten, an Formeln, an alten ererbten Maximen mehr hiengen, als sie von ihren eignen Überlegungen regiert werden: so würde schon jetzt in Europa von natürlichen Feinde unter Politikern nicht mehr die Rede seyn. Aber da doch dieser von ehemaligen Kriegen übriggebliebne Saamen zu Streitigkeiten noch immer keimt: so ist dieß wenigstens der Maaßstab, nach welchem Rivale sich im Frieden gegen einander zu betragen haben. »Vor geheimen Nachforschungen von meiner Seite, müssen offenbare Merkmale des übeln Willens von Seiten meiner Gegner vorhergehn.« Der zweyte Punct, »welche Mittel ein Staat brauchen dürfe, um vermuthliche Anschläge seiner Gegner zu hintertreiben« hat weniger Schwierigkeit. Es ist klar, daß die gelindesten die besten sind. Wenn also durch pünctliche Erfüllung aller eingegangnen Vorträge, und durch die nachbarlichste Begegnung, der Haß des Gegners zu entwaffnen ist; wenn man sich durch Bündnisse, durch eine gute Landesverwaltung, durch bloße Sorgfalt auf alle Vertheidi|gungsanstalten [98] gewandt, hinlänglich vor ihm schützen kan: so ist das Zuvorkommen nicht erlaubt. Aber wer wagt sich, zu behaupten, daß dieß ohne Ausnahme der Fall sey? und daß nicht der erste Aggressor doch der wahrhaft gerechte Mann seyn könne, weil er nichts thut als unausbleiblichen, und dann wenn sie erst ausbrechen ihm unwiderstehlichen Angriffen andrer zu begegnen? Wer da weiß, was im Kriege das Unerwartete, die Schnelligkeit und das Glück der ersten Unternehmungen vermag, der wird einem mit Kriege bedrohten Fürsten nicht ohne Einschränkung anrathen diese Vortheile seinen Feinden in die Hände zu geben. Der dritte Fall ist: wenn ein Staat zwar nicht selbst bedroht wird; aber wenn er in andern Staaten große Veränderungen vorgehn, sie in bürgerliche Streitigkeiten oder in Kriege verwickelt sieht, welche durch entfernte Folge auch ihm selbst schaden oder nutzen können. Welchen Antheil darf er daran nehmen, welche Rolle hat er dabey zu spielen? Diese Frage ist vielleicht die wichtigste von allen, weil die Fälle wo sie zu beantworten ist, am häufigsten vorkommen, und die Gefahr also Ungerechtigkeiten in dieser Art zu begehn, am größten ist. Weit öftrer werden Europäische Fürsten in Kriege andrer verwickelt, als sie selbst Kriege zu führen haben. Um das Interesse von einem oder zwey Mächten dreht sich immer die ganze politische Maschine von Europa.| Die meisten Streitigkeiten werden erst durch die Einmischung der Neben- [99] partheyen verwickelt und langwierig. Überdieß ist dieß immer das letzte Ziel des königlichen Ehrgeizes, – (wie man gemeiniglich sagt,) – eine große Rolle auf dem Schauplatz der Welt zu spielen, d. h. mit andern Worten, auf die Angelegenheiten andrer Staaten Einfluß zu haben; bey ihren Entwürfen zur Rathe gezogen zu werden, oder bey ihren Händeln, es sey als Schiedsrichter es sey als Gehülfe einer Parthey den Ausschlag zu geben.

46 | 1 Aus den Monographien Ehe wir von den Ausnahmen reden, müssen wir erst die Regel festsetzen. Diese ist nach Gründen der Vernunft und des allgemeinen Rechts folgende. »Der Souverän eines Staats hat sein eigentliches Geschäfte innerhalb der Gränzen desselben. Darauf ist also auch seine Autorität eingeschränkt. Handlungen andrer Staaten gehören nicht unter seine Gerichtsbarkeit, so wenig als die Vorfälle in denselben seine Fürsorge erfordern. Was in beyden die Sicherheit oder die Wohlfahrt seines Landes nicht berührt, dabey muß er sich bloß als Zuschauer verhalten, wenn er nicht von den interessirten Partheyen selbst zur Theilnehmung aufgefordert wird.« So wie im bürgerlichen Leben, die ungebetnen Friedensstifter oft die Zänkereyen vergrößern, und die, welche sich zu Reformatoren aufwerfen, die verdorbne Sachen noch mehr zerrütten: so bringen auch ehrgeitzige Fürsten, indem sie sich [100] anmaßen die Wagschaale von Europa in Händen zu halten, eben dadurch die | Geschäfte noch mehr aus dem Gleichgewicht; und zünden das Feuer der Zwietracht erst recht an, indem sie strittige Rechte durch ihre Dazwischenkunft entscheiden wollen. Die Partheyen welche Frankreich bey Erlöschung des Valesischen Stamms theilten, wären nie so erbittert gegen einander geworden, wenn Philipp sich nicht eingemischt hätte, die streitige Succession zu reguliren, – Ist es überdieß bloß Herrschsucht welche einen Fürsten bewegt, sich bey allen in benachbarten Staaten entstehenden Unruhen thätig zu erweisen: so wird er es in kurzem nicht dabey bewenden lassen, die Gelegenheiten die sich ihm zum Gebrauche seines Ansehens darbieten, zu nutzen: – er wird selbst Anlässe dazu hervorzubringen suchen; er wird Unruhen stiften um sie beyzulegen; – er wird Partheyen gegen einander aufhetzen, um als Gebiether in einem fremden Lande handeln zu können. Eine solche Rolle haben mächtige Monarchen Europens zuweilen gespielt, – mehrere haben darnach gestrebt. Sie hat in der That etwas glänzendes. Und beynahe kan bey einem Fürsten die Begierde nach Macht außer der Sicherheit keinen andern Endzweck haben, als auf diese Weise zur indirecten Beherrschung mehrerer Staaten zu gelangen. Aber es ist doch eine unerlaubte und für das Wohl der Völker verderbliche Rolle. Indeß ist jetzt in Europa die Verbindung des Interesses der verschiedenen Staa[101] ten, besonders wegen des doppelten Gegenstandes, des politischen Gleich|gewichts und des Handels so groß, daß, nach der Wahrheit, in keinem Theile dieses Systems merkwürdige Veränderungen vorgehn können, ohne daß jeder andre Theil desselben, mehr oder weniger die Wirkung davon gewahr wird. Den Fürsten Europens ganz zu verwehren, an fremden Regierungsangelegenheiten Theil zu nehmen, hieße die Staaten dieses Welttheils wieder so isoliren, wie sie es in uralten Zeiten waren. Und die Folge davon müßte seyn, daß, indem sie sich weniger um einander bekümmerten, sie sich auch nicht mehr einander so gut kennten, sie also sich auch mehr vor plötzlichen Überfällen gegenseitig fürchten müßten: woraus von jeher weit größre Ungerechtigkeiten entsprangen, als diejenigen sind, welche die unzeitige Neugierde und Geschäftigkeit der Regenten in Absicht fremder Staatssachen, begleiten.

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Wenn die Sicherheit eines Staats also durch Veränderungen, die bey einem Nachbar vorgehn, in Gefahr geräth: so darf der Regent des ersten hinzutreten, die Sachen wieder in die Ordnung zu bringen, welche seinen Besorgnissen abhilft. Dieser Fall der angegriffnen Sicherheit ist alsdann vorhanden, wenn durch den befürchteten Ausgang der Unruhen, entweder ein Staat, der auf der Waage von Europa ein merkliches Gewicht gab, zu schwach, ein andrer übermächtig wird, oder wenn der Krieg sich unsern Gränzen nähert; oder wenn ein Bundsgenosse sich in einen Feind verwandelt. Auch in der bloßen Absicht Gutes zu stiften, darf ein mächtiger Fürst, der andre Staaten zerrüttet,| von Feinden bedroht, von übermüthigen Siegern unterdrückt, [102] oder von F[r]actionen zerrissen sieht, sich als Beystand der bessern Parthey oder als Vermittler thätig erweisen. Es kann zuweilen wahre preißwürdige Großmuth seyn, in Staaten, deren Schicksale auf unser Wohl und Wehe geringen Einfluß haben, Ruhe wieder herzustellen, oder eine glücklichere Einrichtung der Dinge zu befördern. »Aber darf sich der Regent auch solcher Gelegenheiten zu seiner eignen Vergrößerung bedienen?« Es sind Beyspiele, wo dieses geschehen ist, auf allen Blättern der Geschichte zu finden. Fast immer haben die Helfer der Unterdrückten, oder die Schiedsrichter der Streitenden, sich für ihre Wohltat so reichlich bezahlt gemacht, daß es ungewiß geblieben ist, ob sie mehr für ihre Freunde und die gute Sache, oder für ihren eignen Vortheil die Waffen ergriffen haben. Es kostete das Deutsche Reich die drey Lothringischen Bisthümer, daß Frankreich sich der Freyheit seiner Fürsten, und der verbesserten Religion zu Carls des fünften Zeiten annahm. Die Schweden und Franzosen erhielten zur Belohnung ihrer schiedsrichterlichen Theilnehmung an den Unruhen des dreyßigjährigen Krieges so ansehnliche Provinzen von Deutschland, daß eigentlich zu Eroberungen unternommene Kriege ihnen nicht mehr hätten einbringen können. Solche Beyspiele vermehren eben den freundschaftlichen Eifer, mit welchem immer die Potentaten Eu|ropas herbeyeilen, wo irgend ein Feuer sich entzündet, [103] um, wie sie vorgeben, löschen zu helfen, aber in der That, um etwas von dem aus den Flammen gerettetem als Beute davon zu tragen. Ist nun dieß gerecht? Es ist abermals unmöglich dieß bejahend oder verneinend im allgemeinen zu beantworten. Aber gewisse allgemeine moralische Grundbegriffe lassen sich festsetzen, nach welchen jeder Fürst und Staatsverwalter, wenn es ihm anders um Erfüllung seiner Pflicht zu thun ist, sein Verfahren prüfen kann. Alles was ein Regent in solchen Fällen thut bloß um einer ihm als Menschen eignen Leidenschaft Gnüge zu thun, oder um einen nur auf seine Person und seine Familie eingeschränkten Vortheil zu erhalten, – das ist unrecht. Alles was er in fremden Angelegenheiten thut, bloß der Nation wegen welcher er vorsteht, zu Beförderung eines Interesses, das sich lediglich auf seinen Staat

48 | 1 Aus den Monographien bezieht, (ausgenommen wenn Erhaltung und Sicherheit dieses Interesse ist) das kann, nach den Umständen, bald recht, bald unrecht seyn. Alles was er thut mit Rücksicht auf Sicherheit, Freyheit und Wohlstand der sämtlichen Nationen, welche in die unter seine Gerichtsbarkeit gezogne Angelegenheit, oder in den von ihm mit ausgefochtnen Streit verwickelt sind, das ist vollkommen recht. Jacob der erste that Recht, daß er sich nicht in die Händel des Churfürsten von [104] der Pfalz, bloß weil dieser sein Schwiegersohn war, mischte, wenn er dessen Wahl zum Könige von Böhmen für unrechtmäßig, und die Sache desselben zugleich für gleichgültig für Englands Sicherheit und für die Wohlfahrt von Europas hielt. Aber seine Gewissenhaftigkeit war zu groß, oder seine Moral nicht aufgeklärt genug, wenn er sich verpflichtet hielt, einem so nahe verbundnen Fürsten, der in Gefahr war völlig unterdrückt zu werden, wegen des zweydeutigen Rechts seiner ersten Schritte nicht beystehen zu dürfen, da doch mit seinem und seiner Bundsgenossen Falle, die deutsche Freyheit und die protestantische Religion über den Haufen fiel, und Papisten und Spanier, – damals die Erbfeinde von England, und in der That Feinde von allem was Glück und Wohlseyn der Staaten heißen kan, – die Oberhand behielten. Wenn Gustav Adolph bloß die Absicht gehabt hätte, sich die Unruhen Deutschlands zu Nutze zu machen, um einen festen Fuß in demselben fassen zu können, und in dem Fürstenrath desselben eine Stimme zu erhalten: so war das Blut seiner Schweden für einen mehr ihrem Fürsten als ihrem Lande wichtigen Gegenstand mit Unrecht gewagt; und das Blut der Deutschen, die er bestreiten kam, mit Unrecht vergossen. Aber er verdient Dank und Ehre, wenn er zugleich Retter von Deutschland und von der Gewissensfreyheit seyn wollte. [105] Es wird ein ewig glänzender Schmuck in der Krone der preußischen Monarchie bleiben, daß der größte ihrer Könige seine Heldenlaufbahn mit einer Unternehmung beschloß, welche ohne seine Macht zu vergrößern, oder seinen Staat zu bereichern, bloß zur Aufrechterhaltung der Constitution von Deutschland, zur Beschützung fremden Eigenthums, und zur Befestigung des allgemeinen Ruhestandes abzielte, – so wie der Nachfolger dieses Helden seine Laufbahn mit einer gleich edel abzweckenden, gleich uneigennützig ausgeführten Theilnehmung an fremden Angelegenheiten angefangen hat. Doch der Sinn jener Regeln wird sich noch deutlicher zeigen, wenn ich die Fälle, worinn sie anzuwenden sind, genauer unterscheide. Die Veränderungen eines Staats, von welchen ich untersuche in wie weit andre Mächte zur Theilnahme an denselben berechtigen, sind vornehmlich von zweyerley Art, entweder Streitigkeiten die er mit Auswärtigen hat, Kriege die er führt, Eroberungen die er macht, Niederlagen die er leidet; oder es sind Änderungen seiner Constitution, Zuwachs oder Verlust an Rechten auf Seiten eines oder des andern seiner Staatsglieder, nebst den aus solchen Änderungen entstehenden, auf solche Änderungen abzielenden bürgerlichen Unruhen.

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Es ist also immer Krieg und Streit, der vornehmlich die Aufmerksamkeit der Ausländer auf einen | Staat hinzieht. Es ist immer, um entweder der einen Parthey [106] beizustehn, oder beyde zu vergleichen, daß Ausländer sich in jene Händel mischen. So lange in einem Hause alles ruhig und gesund ist, bekümmert sich die Nachbarschaft nicht um dessen Einwohner. Dann läuft aber alles hinzu, wenn man eine lärmende Zänkerey hört, wenn Feuer geschrien wird, oder wenn jemand darinn tödlich verwundet worden. Der natürlichste und vernünftigste Zweck dieser vorzüglichen Aufmerksamkeit auf das Böse welches bey andern vorgeht, sollte seyn es zu lindern. – die Zankenden zu versöhnen, das Feuer zu löschen und die Wunden zu verbinden. So also sollten die Fürsten in jenen Angelegenheiten auftreten, – als Friedensstifter. Und in der That ist dieß auch immer ihr Vorwand. – Aber ist es auch ihr wirkliches Geschäfte? Die streitenden Partheyen dahin zu bringen, daß sie sich selbst mit einander versöhnen und ihre Rechte durch eigne Verabredungen ausgleichen, ist ein gerechteres und rühmlicheres Werk eines großen Staatsmanns, als selbst mit gewaffneter Faust Schiedsrichter derselben zu werden. Den alten Ruhestand wiederherzustellen ist, im Ganzen besser, als noch so weise Änderungen machen zu helfen, weil diese immer die Unsicherheit der Staaten und ihrer Verfassungen vermehren, jener die Festigkeit derselben dauerhafter | macht, – woran im Ganzen dem menschlichen [107] Geschlecht am meisten gelegen ist. Denn alle wahren Verbesserungen entstehen in ihm, durch den immer anwachsenden Schatz seiner Erfahrungen und Begriffe nach und nach von selbst, wenn nur sein Fortgang nicht durch physische Unglücksfälle, oder politische Revolutionen gestört wird. Doch nicht allemal kan die Einmischung eines Staats, in innere oder äußre Streitigkeiten seiner Nachbarn bloß auf Vereinigung der Partheyen gerichtet seyn, oder sich mit einem friedlichen Rath endigen. Zuweilen muß erst mit gefochten werden, ehe man versöhnen kan; und ein sehr zerrütteter Körper kan oft nicht anders in Ruhe gebracht werden, als indem man die Lage und Anordnung seiner Theile abändert. In diese Falle tritt also gemeiniglich ein Staat als Bundsgenosse einer der streitenden Partheyen auf, die gegenseitige zu bekämpfen. Die Hauptfrage ist alsdann: welche Parthey er ergreifen solle; die zweyte, durch welche Mittel er ihr beystehen müsse. Bey jener scheinen mir drey Betrachtungen vorhergehn zu müssen: erstlich, welche von den beyden Partheyen die im Streite liegen, ist die gerechtere? zweytens, welcher Parthey Übergewicht ist für die Sicherheit und Flor meines Staats am nützlichsten? – endlich welcher Parthey Übergewicht ist zum Vortheil des menschlichen Geschlechts überhaupt am meisten zu wünschen? Nach der Regel muß das Recht zuerst zu Rathe gezogen werden. »Wer will mit [108] dem andern, an Gütern oder an Rechten das Seinige nehmen? Wer ist angreifender

50 | 1 Aus den Monographien Theil? Auf wessen Seite ist das Herkommen, die Gewohnheit, der uralte Besitz, oder vorhergegangne Verträge?« Wenn nicht der Schaden, welchen der gerechte Theil in der Verfolgung seiner Rechte anrichtet, sehr groß, oder der Nutzen der für alle entsteht, wenn an den Rechten selbst etwas geändert wird, sehr einleuchtend ist: so muß das was immer gewesen ist, aufrecht erhalten, und der welcher für den alten Zustand ficht, in Schutz genommen werden. Aber doch ist der Fall sehr denkbar, – hat sich in der Welt ereignet, und wird sich wahrscheinlich noch mehrmalen zutragen, daß der angreifende Theil zugleich in andrer Absicht der bessere, – der angegriffene der schlimmere ist, – daß letztrer grausame und unterlaubte Mittel braucht eine gerechte Sache zu vertheidigen, oder Vortheile die er mit Gerechtigkeit erworben hat, auf eine ungerechte Weise verfolgt und nutzt. Überdieß kan die eine Parthey so offenbarer Feind meines Staats seyn, und wenn sie obsiegt demselben so gefährlich werden, daß ich als Regent der Sicherheit desselben schuldig bin der Gegenparthey beyzustehen, ohne die Rechts-Ansprüche derselben untersucht zu haben, und selbst wenn ich an ihrer Gültigkeit zweifle. Welcher Ausgang eines Kriegs oder bürgerlicher Unruhen, – der Sieg welcher [109] Parthey für die Menschheit überhaupt am vortheilhaftesten sey: – das hängt vornehmlich von den Gesinnungen ab die bey einer Parthey herrschen, von dem Grade der Aufklärung und Tugend zu welcher die Menschen in ihr gelangt sind. Der Sieger kan immer seinen Einfluß weiter verbreiten, kan stärker auf andre Menschen (theils durch seine Macht theils durch sein Beyspiel) wirken, als der Überwundene. Und wenn also die Grundsätze der erstern irriger, härter und menschenfeindlicher sind als die Grundsätze des letztern: so leidet die allgemeine Glückseligkeit der Menschen durch dieses Übergewicht des Schlimmern. Die großen Gegenstände, welche das menschliche Geschlecht bey den Revolutionen der Staaten interessiren, sind hauptsächlich diese drey: ob Gewissensfreyheit oder Religions-Zwang, ob Aufklärung und gute Sitten, oder Unwissenheit und Laster, endlich, ob Despotismus oder Geist einer vernünftigen Freyheit wahrscheinlich durch die emporkommende Parthey wird befördert werden. Diese Gegenstände müssen den nähern Endzwecken, wovon ich zuvor redete, bey den Berathschlagungen der Cabinetter über die zu ergreifende Parthey nachstehen, weil jeder Fürst für sein Land eher als für das ganze menschliche Geschlecht, und für Aufrechterhaltung der Dinge eher als für Reformirung derselben zu sorgen [110] hat. Aber wenn jene Endzwecke in Sicherheit | sind, oder die darauf abzielenden Betrachtungen keinen hinlänglichen Ausschlag geben: so ist es einem Menschenfreunde auf dem Throne erlaubt, sich bloß dadurch bestimmten zu lassen, daß er eine duldsame Parthey gegen eine intolerante, daß er die aufgeklärtere, edlere, großmüthigere Nation, gegen die ungesittetere und grausamere, daß er die Freunde der Freyheit gegen despotisch gesinnte vertheidige.

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Wir wollen uns vorstellen, um diese Theorie durch ein Beyspiel zu erläutern, daß wir die Berathschlagungen zu machen hätten, welche Gustav Adolph als ein redlicher Fürst ohne Zweifel anstellte, als er sich in den dreyßigjährigen Krieg mischte. 1. »Wer hat Recht, Ferdinand und die Ligaisten oder die Protestanten? Wer ist der angreifende Theil?« Dies konte, wenn auf die ersten Veranlassungen des Krieges zurückgegangen wurde, wenigstens zweifelhaft scheinen. Das Recht der Böhmen einen König zu wählen, war nicht ausgemacht, der Titel des Churfürsten von der Pfalz zu dieser Krone war also zweydeutig. In wie weit Unterdrückung, oder gebrochne Verträge von Seiten der Österreichischen Regenten, den Böhmischen Ständen die Befugniß gaben die herkömmliche Successionsordnung zu ändern war unmöglich zu ergründen. – Auf welche andre entferntere Ursachen des Krieges man zurückgieng, es sey auf den Donauwerthschen Tumult, und die gegen die Stadt erkannte Reichs-Acht, es sey auf die Errichtung der Protestantischen Union und der Katholischen Liga, oder | auf den Jülich- und Bergischen Successionsstreit: so war, [111] »außer den Mauern von Ilium gefehlt worden, wie innerhalb derselben.« Die Protestanten hatten sich zuerst gerüstet, zuerst losgeschlagen: aber sie hatten vorhergehende Verletzungen des Religionsfriedens von Seiten der Katholiken, und heimliche Anschläge derselben zu ihrer Rechtfertigung anzuführen. Aber jenen Verletzungen setzte die Gegenparthey noch ältere Eingriffe der Protestanten in die ihnen durch den Religionsfrieden von Seiten der Katholiken, und heimliche Anschläge derselben zu ihrer Rechtfertigung anzuführen. Aber jenen Verletzungen setzte die Gegenparthey noch ältere Eingriffe der Protestanten in die ihnen durch den Religionsfrieden gesetzte Schranken entgegen; und diesen Verdacht erklärte sie für unbegründet, oder schob ihn, nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit auf die Protestanten zurück. Das eigentliche Recht war also im Dunkeln. 2. »Welches ist für Schweden vortheilhafter, – wenn ein despotisch gesinnter Fürst seine unumschränkte Herrschaft bis an das Meer welches auch die Ufer von Schweden bespült, erweitert; wenn eine Religionsparthey in Deutschland die Oberhand bekömmt, welche die Religion des Schwedischen Volks und Königs haßt, und die Anhänger derselben zu verfolgen sich berechtigt glaubt; – wenn endlich der Bundesgenosse und Verwandte des Thron-Prätendenten von Schweden freye Hände bekömmt, sich in die Angelegenheiten des Nordens zu mischen, – oder wenn Deutschland unter einem eingeschränkten Oberhaupte in mehrere kleinere Herrschaften getheilt bleibt, wenn ein ansehnlicher Theil dieser Fürsten mit Schweden durch eine gemeinschaftliche Religion und durch Dankbarkeit für die im | Augenbli- [112] cke dringender Noth geleistete Hülfe verbunden, – wenn endlich dem Feinde der gegenwärtigen Regierung und Constitution Schwedens seine mächtigste Stütze entzogen wird.« – Die Beantwortung dieser Frage, ohne Zweifel der ersten, welche die Staatsmänner von Schweden aufwarfen, konte nicht anders als einstimmig für die Ergreifung der letztern Parthey ausfallen.

52 | 1 Aus den Monographien 3. »Welches ist dem Interesse der Menschen überhaupt gemäßer, daß der mit Spanien verbundne Kayser Ferdinand, welcher, nachdem er die im Anfange ihm fürchterlichen Gegner überwunden hat, nun alle Welt, auch die welche ihn nicht beleidigt hat, unterdrücken will, seine Macht unverhindert vermehre, oder daß er in seine alten Gränzen zurückgewiesen? Welches ist besser, daß die Parthey, deren Religions-Grundsätze den freyen Gebrauch der Vernunft verbieten, und welche alle anders Denkende zu dieser Religion zwingen will, in einem für Europa so wichtigen Lande als Deutschland, dem ersten Sitze der Reformation, obsiege oder daß diejenige Parthey bey Kräften und in der ungestörten Übung ihrer Religion bleibe, welche sich zu freyern und duldsameren Grundsätzen bekennt? Welches ist für Europa vortheilhafter, daß spanischer Stolz und römische Bigotterie, oder daß deutscher Freyheitssinn, und protestantischer Untersuchungsgeist sich in demselben ausbreite?« Auch hierüber konte unmöglich ein Streit seyn, wenigstens bey dem Fürs[113] ten und bey dem Volke nicht, welche selbst den | Gottesdienst der Reformatoren bey sich eingeführt, – und welche vor kurzem durch eine kühne Handlung, durch Absetzung eines intoleranten Königs, und Änderung der Thronfolge, die FreyheitsRechte einer Nation behauptet hatten. Es wird nicht unnütz seyn, diesem Beyspiele der löblichsten Theilnehmung eines Fürsten an den Unruhen auswärtiger Staaten in ein anderes von entgegengesetzter Art an die Seite zu stellen. Hatte wohl Philipp der zweyte eben so viel Recht sich in die bürgerlichen Kriege Frankreichs zur Zeit der Ligue, als Gustav sich in den deutschen Krieg zu mischen? Ergrif jener die Parthey, welche er unterstützte, aus eben so billigen Ursachen? 1. Er trat auf gegen das deutlichste und ausgemachteste positive Recht, welches nur in Staatssachen vorhanden seyn kan. Wenn in irgend einem Staate ein Gesetz durch Alterthum, allgemeine Übereinstimmung der Nation, immer gleichförmige Entscheidung aller Jahrhunderte heilig geworden: so ist es in Frankreich die Successions-Ordnung, nach welcher, wenn der regierende Zweig der königlichen Familie abstirbt, der älteste Sohn des nächsten Mannstamms ihm auf dem Throne folgt. Nach diesem Gesetze welchem keine auch nur scheinbare Ansprüche entgegengesetzt werden konten, war Heinrich von Navara der unstreitige Erbe der Französischen Monarchie. Und doch wandte Philipp seine Schätze und seine Heere an, eben diesen Heinrich von der Thronfolge auszuschließen. [114] 2. Es war nicht Philipps Reich, es war nur er selbst, es war nur seine Tochter deren Interesse er durch Ränke, Bestechungen, heimliche und offenbare Gewalt bey den französischen Unruhen zu befördern suchte. Spaniens Sicherheit stand auf keinen Fall von Seiten des geschwächten und in F[r]actionen getheilten Frankreichs in Gefahr, der Thronfolger in diesem mochte seyn, welcher er wollte. Spaniens Wohlfahrt konte nichts dadurch gewinnen, wenn eine Gvise in Frankreich herrschte. Selbst Spaniens Vergrößerung, wenn, nach den unrichtigen Begriffen der damaligen Politik, diese ja für einerley mit der Vermehrung der National-Glückseligkeit gehalten wurde, konte nicht als die Absicht von Philipps Entwürfen angesehen

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werden, da er Frankreich als ein abgesondertes Reich seiner Tochter und ihrem Gemahl zueignen wollte. Alle seine Triebfedern lagen in Leidenschaften des Menschen Philipps, nicht in Entwürfen des Königs und Landesvaters. Es schmeichelte ihm, jetzt, während der Unruhen, in diesem Lande, durch seine Gesandten zu herrschen. Es reitzte noch mehr seinen Ehrgeitz die Regierung dieses Staats, so lange er lebte, durch den Einfluß den er auf seine Tochter, auf einen König den er eingesetzt hätte, und auf eine Parthey die immer seines Beystandes bedürfen würde, hoffen konnte, in Händen zu behalten. Alles das waren bloß persönliche Vortheile für ihn: – Der einzige Vortheil seines Staats auf die Zukunft, war, die Wahrscheinlichkeit Frankreich zum Bundsgenossen oder doch nicht so oft zum Feinde zu haben. Aber dieser Vortheil war so | entfernt und so ungewiß, daß es unerlaubt blieb ein unstrei- [115] tiges Recht um deßwillen zu verletzen, und die Schätze und das Blut seiner Unterthanen ihm aufzuopfern. 3. Sehen wir auf ein noch höheres und allgemeineres Interesse, so finden wir Bewegungsgründe zu Philipps Unternehmen, die wir nicht ganz verwerfen können, wenn wir uns, wie es billig ist, ganz an seine Stelle versetzen. Er war ein so eyfriger Katholik, daß er das Wohl der Länder, und die Sicherheit der Könige an das Bekenntniß dieser Religion gebunden glaubte. Die Aufrechterhaltung und Ausbreitung derselben in der Welt, hielt er für die erste Pflicht eines Souveräns. Nach solchen Begriffen konte er es für etwas sehr verdienstliches ansehen, daß er seinen Glaubens-Genossen in Frankreich, – nicht nur in Streit mit ihren protestantischen Mitbürgern Beystand leistete, sondern daß er sie auch zum Kriege mit denselben aufforderte. Er konnte es als einen sehr würdigen Gegenstand seiner Politik und seiner Waffen ansehen, vom französischen Throne einen Prinzen zu entfernen, mit welchem die Ketzerey zugleich in diesem großen Lande triumphiren würde. – Die Nachwelt hat demohnerachtet diese Rechtfertigung nicht gelten lassen. Die Erfahrung hat das Irrige in den Religionsbegriffen des Philipps gezeigt; die Vernunft mißbilligt einen so unaufgeklärten Religionseifer, als den größten Flecken in dem Charakter eines Regenten; und das moralische Gefühl verabscheut das Heimtückische und Grausame in den Maaßregeln, durch welche Philipp der | Religion zu dienen vorgab, [116] da doch Religion nur insofern ein Gut ist, als sie Rechtschaffenheit und Menschenliebe befördert. Endlich wird dieser Bewegungsgrund Philipps selbst als ein bloßer Vorwand verdächtig, wenn man sieht, daß er sich der Bekehrung Heinrichs, und der Lossprechung desselben vom Banne, eben so eifrig widersetzte, als er sich zuvor der Thronbesteigung des noch ketzerischen und im Banne lebenden Heinrichs widersetzt hatte. Bey diesem Artikel meiner Untersuchung wäre es unnatürlich nicht Ludwigs des vierzehnten zu erwähnen, des Fürsten, der mehr als irgend ein andrer sich in die Angelegenheiten seiner Nachbarn gemischt hat, und ganz Europa durch seine Intriguen und die Furcht vor seinen Waffen zu beherrschen suchte. Ich will aber nur Eine seiner hieher gehörigen Unternehmungen anführen, – gerade diejenige, welche die scheinbarsten Vorwände hatte. Ich meyne den Beystand den er dem abge-

54 | 1 Aus den Monographien setzten Jacob dem zweyten leistete, ihn wieder auf den Thron Großbrittaniens zu setzen. Niemals hatte er noch eine, den positiven Rechten nach so gute Sache vertheydigt. Jacob, der rechtmäßige König von England, von einer F[r]action seiner Unterthanen, welche die Oberhand erhielt, vertrieben, von seiner eignen Tochter und seinem Schwiegersohne verdrängt, nahm zu seinem Bundesgenossen seine Zuflucht. Welcher gerechte Monarch konte die in Jacob beleidigt Majestät ungerochen [117] lassen, – welcher menschenfreundliche Fürst mußte nicht an dem Schick|sale eines von seinen eignen Kindern verrathnen Vaters Theil nehmen? Man setze hinzu, daß Ludwig dem nahen Ausbruch eines Krieges entgegensah, für welchen er durch die Revolution in England, wenn sie Bestand hatte, einen neuen mächtigen Feind bekam, und zu welchem er sich einen treuen Alliirten verschaffte, wenn er Jacoben wieder einsetzte. Das Französische Interesse schien in diesem Zeitpuncte mit dem Interesse der Stuarts enge verbunden. Auch für die katholische Religion, deren Beschützung sich Ludwig immer zur Pflicht machte, auch für die allgemeine Ruhe der Völker, und die Festigkeit der Thronen, schien viel gewonnen, wenn rebellische und ketzerische Unterthanen in Großbrittanien gehindert wurden, das Beyspiel einer gegen ihren katholischen Souverän glücklich ausgeführten Empörung zu geben. Warum hat demohnerachtet die Nachwelt diese dem Staats-Interesse so gemäße, so großmüthige Verwendung Ludwigs für das alte Recht, und für den Unterdrückten, nicht mit so lautem Beyfalle gepriesen, als andre Unternehmungen, von mehr zweydeutiger Rechtmäßigkeit? – Bloß deßwegen weil sie nicht gelungen ist? Der üble Erfolg trägt allerdings in der Politik dazu bey, die Güte der Bewegungsgründe zu verdunkeln. Aber ich glaube doch auch, daß die Stimme die insgeheim in [118] aller Menschen Herzen für die Frey|heit, und für die Aufklärung spricht, das Urtheil der Welt über diese Begebenheit geleitet habe. Es war freylich nur ein Theil der Englischen Nation welcher den Prinz von Oranien herbeygerufen hatte, (denn sonst hätte Jacob keine Anhänger mehr übrig behalten, die doch noch sein Enkel in Menge fand): – aber es war der größere, der ansehnlichere und der erleuchtetere Theil. Mit völliger Einstimmigkeit einer Nation ist nie eine Staatsrevolution zu Stande gekommen. Und wenn man es also ihren vornehmsten und edelsten Gliedern, wann diese die Mehrheit der Stimmen im Volke auf ihrer Seite haben, nicht zugestehen will, daß sie Änderungen in der Staatsverfassung oder in der Thronfolge machen dürfen, so kann sich keine Nation eines Tyrannen oder einer unterdrückenden Regierung entledigen. Ein solcher Grundsatz würde das Recht einer einzelnen Person über das Recht eines ganzen Volks zu sehr erheben. Und diesem widerspricht das Freyheitsgefühl jedes edlen Menschen. Also war das Recht Jacobs, das Unrecht des Wilhelms und der Maria, nicht erwiesen: denn bey so einem wichtigen Interesse konte die Verwandschaft in keine Betrachtung kommen. Daß überdieß Jacob weniger aufgeklärt als sein Volk war, daß er in kleinen Gebräuchen und in der Unterwürfigkeit unter den Pabst die Religion suchte, da

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viele seiner Unterthanen schon erkannten, daß sie nur in der Ausübung aller moralischen Pflichten bestehen könne; – daß, wenn Jacob mit seinem Entwurfe die katholische Religion in England wieder einzuführen,| durchgedrungen wäre, diese [119] philosophische Nation viel von ihrem Scharfsinn und besonders von derjenigen Denkfreyheit verlohren hätte, durch welche sie seitdem die übrigen Nationen erleuchtet hat: dieß wird gegenwärtig auch der vernünftige Katholik zugestehn. Ludwig war also mehr auf der Seite eines scheinbaren Rechts und eines persönlichen Interesse, insofern seine eigne Hoheit und Unverletzlichkeit zu leiden schien, wenn ein anderer König entthront wurde, als auf der Seite eines großen die Menschen überhaupt und die Nachwelt interessirenden Nutzens. Die Parthey gegen welche er stritt, war im Grunde die Sache der Vernunft und einer vernünftigen Freyheit. Die Bewegungsgründe, welche Ludwigen bey dieser Gelegenheit regierten, sind also in der Folge, entweder nicht für lauter oder nicht für aufgeklärt genug gehalten worden. Dieß hat den Werth seiner Handlung in den Augen unpartheyischer Beurtheiler vermindert. Sein Staatsvortheil konnte dieß erfordern, daß er versuchte Jacoben wieder einzusetzen: aber das Interesse des menschlichen Geschlechts hat gewonnen, daß es ihm nicht gelungen ist. Die erste Frage bey der Einmischung in Geschäfte fremder Staaten, sagte ich, ist, welche Parthey man ergreifen, – die zweyte, durch welche Hülfsmittel man sie unterstützen solle. – Ich will hierüber nur eine einzige Betrachtung anführen, da diese Abhandlung sich ohne das schon über das Maaß verlängert hat, welches ich mir vorsetzte. Alles heimliche ist in der Politik verdächtig. Das offenbare ist immer edler. Also [120] in einem fremden Staate, einer Parthey der man sich äußerlich nicht anzunehmen scheint, insgeheim Geld, Waffen oder Rathgeber zuschicken, ist gemeiniglich eine unerlaubte Handlung. Sie ist nur noch um einen Schritt von der Maaßregel entfernt, Partheyen in einem Lande, wo keine sind, zu stiften, und Mitbürger unter einander, oder Unterthanen gegen ihre Obrigkeiten aufzuhetzen, welches immer schändlich ist. Demohnerachtet haben sich in den vorigen unruhigern Zeiten Europas, wo mehr Saamen zu bürgerlichen Fehden in dem Haß der Religionspartheyen, oder in den Mängeln der bürgerlichen Verfassungen lag, wenige Staatsmänner Bedenken gemacht, die Rivalen ihrer Staaten durch diese heimliche Unterhaltung der bey jenen entstandnen Gährungen zu schwächen, oder ihnen durch die geheime Direction derselben Abbruch zu thun. Was Philipp in Frankreich that, das that Elisabeth in Holland, ehe sie sich noch öffentlich für die vereinigten Provinzen erklärte; das that Richelieu in Deutschland, ehe er an dem dreyßigjährigen Kriege directen Antheil nahm. Auch jezt ist diese Politik nicht ausgestorben. Die F[r]actionen von Schweden wurden von der letzten Regierungsveränderung von eben so viel auswärtigen Mächten regiert. Und wer weiß nicht, welche geheimen Triebfedern in unsern Zeiten die Schritte der Patrioten in Holland so verwegen machte?

56 | 1 Aus den Monographien Nur die Noth, glaube ich, und die Furcht vor einer großen Gefahr kann solche Maaßregeln rechtfertigen. Elisabeth war eher zu entschuldigen, wenn sie dem Könige von Spanien heimliche Feinde erweckte, oder die welche er hatte, insgeheim unterstützte, als Ludwig der vierzehnte, wenn er am Hofe Carls des zweyten, Minister und Parlamentsmitglieder bestach; oder die F[r]actionen in Ungarn unterstützte. Überhaupt dünkt mich, würde in vielen Fällen der Verwaltung der auswärtigen Geschäfte, folgende Regel ein guter Leitfaden für gewissenhafte Regenten seyn, wenn sie über Entwürfe, die von zweydeutiger Natur sind, sich berathschlagen. Alle die Maaßregeln, bey welchen die, welche sie ausführen, sehr unmoralische, treulose, niederträchtige Handlungen thun müssen, bey welchen selbst Menschen zu solchen Handlungen überredet, bestochen, gezwungen werden müssen, – solche Maaßregeln sind eines edeldenkenden Fürsten und einer braven Nation unwürdig. Also Diener eines fremden Herrn zu Verräthern, Bürger eines andern Landes zu Aufwieglern machen, – Gesetzlosigkeit, Tumult und Blutvergießen in einem andern Staate durch Kunstgriffe veranlassen: das ist schlimmer als offenbare Gewalt brauchen, und Länder durch Kriegsheere verheeren. Hier werden wenigstens nur die Leiber und Güter der Menschen angegriffen: dort wird selbst gegen ihre Tugend und ihre moralische Glückseligkeit zu Felde gezogen. [122] Zwey Gegenstände muß ich noch berühren, ehe ich diese Materie als geendigt ansehen kann. Der eine betrifft die Einschränkung und Berichtigung einer Behauptung in meiner vorhergehenden Abhandlung: der zweyte betrifft die Collisionen mit dem Rechte die aus dem Handlungsinteresse entstehn. »Die Sorge für die Sicherheit des Staats« habe ich gesagt, »kann selbst zuweilen erfordern, ihn durch Eroberungen zu vergrößern, um ihn mit den übrigen Mächten in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen.« – Ferner: »Es kann Eroberungen geben, welche nicht nur dem erobernden Staate, nicht nur den eroberten Provinzen selbst, sondern auch ganz Europa und dem ganzen menschlichen Geschlecht nützlich sind: Entweder weil durch die neue Vertheilung des Staatseigenthums das Gleichgewicht größer, und also der Ruhestand den Völkern mehr gesichert, oder der Verkehr derselben erleichtert wird.« »Der großen Zerstöhrung in der politischen Welt,« sage ich an einem dritten Orte, »ist in dem neuern Europa dadurch vorgebeugt worden, daß die Monarchien desselben sich bis zu gewissen natürlichen Gränzen ausgedehnt haben.« Diese Sätze die von unleugbare Erfahrungen abstrahiert sind, haben dennoch Einschränkungen nöthig, wenn sie nicht anstößig und dem Mißbrauche unterworfen seyn sollen. Es ist aber in manchen Materien sehr schwer, jeder Behauptung ihre [123] Schranken gleich hinzuzufügen. Der billige Leser muß dieselben nach dem | Geiste und dem Inhalt der ganzen Abhandlung selbst setzen. So, um von dem letzten Satze anzufangen, konnte es nicht meine Meynung seyn, daß jene natürliche Gränzscheidung der Staaten zur Erhaltung des Friedens unter ihnen durchaus nothwendig sey. Ich sehe sehr wohl ein, daß Königreiche und [121]

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Republiken bestehen, die keine andre als willkührliche Gränzen haben, deren Festigkeit auf der Heiligkeit der Tractaten beruht. Ich verlange also nicht etwan, daß diese Gränzen so lange verrückt und Kriege und Eroberungen so lange fortgesetzt werden sollen, bis jeder Staat ein Meer, ein Gebürge oder einen großen Strom erreicht habe. – Meine Absicht war mehr zu erklären, warum das was vor Zeiten in dieser Art geschehen ist, nicht laut mißbilligt wird, als zu sagen, was jetzt noch geschehen soll; – mehr, manche ehemalige Unruhe, welche Europa verwüstet hat, als einen Theil von dem Plane der Vorsehung, durch den Erfolg, zu rechtfertigen, als eine Regel für künftige Fälle zu geben. Und in dieser Rücksicht wird der strengste Rechtslehrer, wenn er über die Geschichten alter Eroberungen nachdenkt, Tadel und Lob sehr ungleich austheilen. Er wird erkennen daß es deren gegeben habe, die jetzt fast unumgänglich nothwendig scheinen, andre die den Staaten sehr nützlich waren, noch andre die bloß dem Ehrgeize einzelner Menschen zur Befriedigung dienten. Es ist z. B. gewiß, daß seitdem fast der ganze Völkerstamm, welcher französisch [124] spricht, und die ganze Ländermasse, welche von dem Rhein und den Pyrenäen eingeschlossen wird, unter demselben Könige vereinigt ist, das Innere von Frankreich einer ungestörtern Ruhe genießt, und selbst sein Verhältniß mit Auswärtigen friedlicher ist, als da ein Theil seiner Provinzen unter Englands Scepter gehörte. Wenn also auch Philipp August, Carl der siebente und Heinrich der zweyte nicht mit den vollgültigsten Rechtsgründen versehen waren, um von den Englischen in Frankreich gelegnen Domänen, zuerst die Normandie und die angränzenden Provinzen,3 dann Gvienne,4 endlich das am längsten rückständige Calais5 ihrem Staate wieder einzuverleiben: so verdienten doch diese gewalttäthigen Schritte, (welche zum Theil Operationen in Kriegen waren, die schon aus andern Ursachen Frankreich mit England führte) vor den Augen der Zeitgenossen und der Nachwelt, weit mehr Nachsicht als der Versuch Ludwigs Holland im Jahr 1672 zu erobern, die Einnahme von Straßburg mitten im Frieden oder die unter dem Schein eines rechtlichen Verfahrens von seinen Reunions-Cammern ausgeübten Räubereyen. Es ist ein Glück für die Einwohner der Gruppe von Inseln, die der Schöpfer in dem Atlantischen | Ocean, nahe an einander, ausgesäet hat, daß sie, theils durch [125] Gewalt, theils durch Tractaten, unter Ein Volk, und zwar unter das aufgeklärteste von ihnen, vereiniget worden sind. Wenn die Einwohner Irlands in unsern Zeiten mehr den Druck fühlen, den ihnen Englands Handlungspolitik auflegt, als sie die Wohlthat erkennen, welche England ihren Vorfahren durch die Mittheilung eben der Künste erwiesen hat, deren freyere Ausübung sie jetzt verlangen: so folgt daraus nicht, daß nicht wirklich die Oberherrschaft Englands für Irland nützlich gewesen sey. Heinrich der zweyte begieng eine ungerechte Handlung, da er ohne gegründete Ansprüche sich diese Insel unterwarf. Aber wird wohl der Geschichtschreiber jetzt

3 Im Jahr 1203. | 4

Im Jahr 1451–53. | 5

Im Jahr 1558.

58 | 1 Aus den Monographien von dieser Unternehmung nach einem andern Maaßstabe urtheilen können, als nach der Grausamkeit oder Menschlichkeit mit der sie ist ausgeführt worden? Es war wider das Recht des Staats-Eigenthums daß Ferdinand und Isabella sich des letzten Maurischen Königsreichs Granada bemächtigten. Aber ist diese Ungerechtigkeit mit der verrätherischen Theilung von Neapel, die Ferdinand zehn Jahre darauf mit Ludwig dem zwölften verabredete, zu vergleichen? War es auch wohl dem gerechten Fürsten möglich, in seinem größern Staate, einen kleinern zu dulden, dessen Bürger durch Religion, Nationalhaß und lange Kriege, des erstern Feinde waren. Und wenn sich die Castilianer begnügt hätten, die Mauren bloß ihrer [126] Unabhängigkeit zu berauben, und sie dem Spanischen | Staatskörper einzuverleiben, übrigens sie bey der Ausübung ihrer Religion geschützt, ihr Privateigenthum nicht gekränkt und sie nur durch Unterricht und gelinde Behandlung der Religion und den Sitten des Landes näher zu bringen gesucht hätten: würde auch der strengste Moralist, jene Maaßregel welche die Staatskunst eingab, haben mißbilligen können? Dieses letztre ist zugleich ein Beyspiel meines ersten Satzes, daß Sicherheit des Staats Eroberungen erfordern könne. Viele ähnliche bietet die ältere Geschichte dar, und sie müssen in einem Zeitpuncte häufig seyn, wo gesittete Staaten an Barbaren gränzten, oder mitten in dem Herzen eines Landes fremde Erobrer sich eingenistet hatten. Daß ein Herzog von Masovien im dreyzehnten Jahrhundert einen fremden Ritterorden herbeyrief, um die Preußen zu bezwingen, daß die Engländer die Oberherrschaft über die Schotten zu erhalten suchten, daß die Russische Kayserinn in unsern Tagen die Krimischen Tartarn ihrem Scepter unterwarf: dazu hatten diese Eroberer in den Verwüstungen, welchen ihre Staaten unaufhörlich von jenen räuberischen Nachbarn ausgesetzt waren, so dringende Bewegungsgründe, daß man ihre Unternehmungen ohne übertriebne Strenge nicht mißbilligen kan. Aber allerdings kann dieser Fall mitten in Europa jetzt nicht mehr eintreten. Je [127] mehr alle Völker, in den Grundsätzen ihrer Politik, in den Gewohnheiten | ihres Völkerrechts, in ihrer Neigung zu friedlicher Arbeitsamkeit, in der Sanftmuth ihrer Sitten aneinander gleich kommen: desto weniger kann eines zu seiner Sicherheit die Unterjochung des andern durchaus nöthig haben. Wo nicht mehr die Nationen sondern nur die Fürsten Krieg führen, und nicht Haß oder Begierde nach Beute, sondern Politik sie auf das Schlachtfeld führt: da erfordert auch die Sicherheit eines Staats mehr Schutzwehre gegen die Leidenschaften andrer Regenten, – welche in Tractaten und Bündnissen gefunden werden kan, – als absolute Ohnmacht oder Unterwürfigkeit der benachbarten Völker, welche nur eine Folge von Gewaltthätigkeiten seyn kann. »Aber gerade diejenige Ursache der Unsicherheit, von welcher ich in dem ersten der oben angeführten Sätze ausdrücklich rede, – die welche in der Ungleichheit der Macht besteht, kan auch jetzt noch einem Staate Besorgnisse erregen, kan auch jetzt noch einen Regenten bewegen auf Vergrößerung zu denken. Ist dieß nun ein hin-

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länglicher Grund für den Schwächern, dem Mächtigern, wenn sich die Gelegenheit darzu darbietet, Provinzen zu rauben, um sich mit ihm ins Gleichgewicht zu setzen?« Gewiß nicht, – wenn man die Sache an sich und im Allgemeinen betrachtet. Und ich mißbillige es jezt, wenn ich Anlaß gegeben habe, dieß für meine Meinung zu halten. Ich sehe, daß kleine Staaten mitten unter großen in dem neuern Europa sich lange erhalten haben. Ich finde, daß genaue Erfüllung aller Gerechtigkeitspflichten, und eine weise, [128] vorsichtige Verwaltung, bey kleinen Staaten die Stelle der Macht vertreten kan, indem sie den größern eine gewisse Achtung gegen sie einflößt, ihnen alle Ursachen zu Beschwerden benimmt, und selbst ihre Großmuth auffordert. Genf würde nicht fremde Truppen und Gesetzgeber innerhalb seiner Mauern gesehen haben, wenn nicht Fehler in seiner Regierung von Seiten seiner Obrigkeit oder seiner Bürger begangen worden wären. Und demohnerachtet haben diese mächtigen Schiedsrichter, da sie genöthigt wurden, Gewalt zu brauchen, diese Gewalt nicht angewandt den kleinen Freystaat zu unterdrücken, sondern nur ihn zu reguliren. Ich erkenne, daß bey dem gegenwärtigen Zustande von Europa, auch ungleiche Staaten sicherer als sonst neben einander bestehen können, da alle wachsam sind, keinen einzelnen unterdrücken zu lassen. Der schwächere Fürst, besonders wenn er einen seinen Kräften angemessenen Vertheidigungstand unterhält, und seiner Treue und Gerechtigkeitsliebe wegen bekannt ist, wird immer Freunde und Bündnisse finden, die ihn vor den Angriffen der Mächtigern schützen werden. Aber ist dieß immer so gewesen? Wenn wir nicht von künftigen Fällen reden, bey welchen wir nicht die besondern Umstände voraussehen können, und daher nach allgemeinen Gründen entscheiden müssen, – sondern von vergangnen, bey welchen uns Ursachen, Um|stände und Folgen bekannt sind: – hat es nicht Erobe- [129] rungen gegeben, die man, (abstrahirt von dem positiven Rechte,) für vernünftiger, billiger, nöthiger erklären muß als andre? Ist nicht das Gleichgewicht von Europa durch die Vergrößerung des einen Staats wirklich befesigt, durch die Acquisitionen eines andern auf lange Zeit gestört worden? Sind nicht, wie ich es in dem zweyten der obigen Sätze anführe, zuweilen einem Staate Provinzen oder Gerechtsame geraubt worden, die für ihn ein lästiger Überfluß, für den Eroberer zu seinen Bedürfnissen sehr nothwendig waren? Sind eroberte Provinzen nicht oft, durch den Tausch ihrer Landesherrn, erst in ihre natürliche Lage gekommen, in welcher sie selbst besser gedeyhen, und ihren Nachbarn mehr Vortheil bringen konnten? Sind nicht große, gesegnete Länder erst durch die Erwerbung kleiner Districte, an welchen ihre vorigen Eigenthümer nur wenig verloren, zu der Benutzung aller ihrer natürlichen Vortheile gelangt? Um nur einige dieß beweisende Beyspiel aus der Geschichte zu führen: Was hat wohl in den mittlern Zeiten mehr Unglück über Deutschland gebracht, als daß seine

60 | 1 Aus den Monographien Kayser so viele und so unbestimmte Rechte in Italien hatten? Die Römer-Züge waren die unter jeder Regierung sich erneuernden Anlässe zu innern Zerrüttungen und zu auswärtigen Kriegen. Indeß jeder kleine Vorfall in Italien der auf das Wohl Deutschlands keine Beziehung hatte, die Aufmerksamkeit der Regenten des letztern auf sich [130] zog, – ihre Politik | oder ihre Waffen beschäftigte, wurden die wichtigsten Angelegenheiten des deutschen Reichs versäumt. Haben also nicht diejenigen Mächte, – Päbste, Fürsten oder Republiken, – Deutschland eine wahre Wohlthat erwiesen, die das Oberhaupt desselben in seine eigne Gränzen nach und nach eingeschränkt, und seinen oberlehnsherrlichen Rechten über Rom und Italien, ein Ende gemacht haben? Ward England nicht erst von der Zeit an ruhig, mächtig und glücklich, da es seine Französischen Besitzungen verlohr? Dadurch wurde ihm ein Gegenstand entzogen, dessen Vertheidigung seine Macht theilte, der die Aufmerksamkeit seiner Beherrscher von der innern Verwaltung abwendete, und bald ihren Ehrgeitz reitzte, neue Eroberungen in einem fremden Lande zu machen, bald sie den Angriffen eines eifersüchtigen Nachbars bloßstellte. Jeder vernünftigte Beurtheiler politischer Unternehmungen, wird einen Unterschied zwischen derjenigen Ungerechtigkeit machen, welche Ferdinand begieng, da er der Catharina von Foix, deren Gemahl Jean d’Albret, ein französischer Vasall war, Navarra entriß, und zwischen der, da er zu Gewinnung des Königsreichs Neapel, den rechtmäßigen Landesherrn, seinen Vetter und den mit ihm theilenden Ludwig den zwölften zugleich betrog. Durch jene erweiterte er sein Reich bis an seine natürliche Gränzen, vollendete das große Werk, alle durch Sprache und Abstammung [131] verwandte Völkerschaften jenseits der Pyrenäen, in | einen gemeinschaftlichen Staatskörper zu vereinigen, und hob eine seine Länder unterbrechende, zwar kleine, aber wegen ihrer Anhänglichkeit an ein fremdes Interesse doch ihnen fürchterliche Macht auf. Durch die letztre Unternehmng erhielt er nur entlegne, sein Reich nicht benruhigende, ihm auf keine Weise zugehörige Provinzen. Das Vergnügen zu überlisten, zu triumphiren, zu herrschen, konte für seine Person ein sehr großes Gut scheinen, ob es gleich in der That ein elendes, eines edlen und guten Menschen unwürdiges Vernügen ist: – aber sein Volk gewann dadurch nichts als neue Arbeit, neue Gelegenheit zu Aufwand und Blutvergießen. Schonen, Halland, Bleckingen, jetzt die mittäglichsten und fruchtbarsten Provinzen des Schwedischen Reichs, sind mit demselben von der Natur vereinigt, und sind ihm als Kornkammer zu seiner Verproviantirung und als Eigenthum, zu einem Gleichgewicht der Macht mit den Nordischen Mächten, fast unentbehrlich. Da dieselben von den ältesten Zeiten einen Zankapfel zwischen Dännemark und Schweden ausgemacht haben, und seit 1343 mehrmalen aus dem Besitz des einen Staats in den Besitz des andern gekommen sind: so war im vorigen Jahrhunderte, eben durch diese öftre Verwechslung des Eigenthümers, das Recht auf dieselben schwankend geworden. Aber wenn Karl Gustav seinen kriegerischen Geist bloß auf Wiedererlangung derselben gewandt hätte: so würde er nicht mit seinem Enkel den Namen

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eines bloß ruhmsüchtigen und krieglie|benden Fürsten gemein haben. Wenigstens [132] hat gewiß der Kopenhagner Friede, von 1600, – die Furcht der glücklichen Kühnheit dieses Königs in seinen Angriffen auf Dännemark, – die Sachen in Norden in einen natürlichern Zustand versetzt, als der war, worin sie sich seit dem Stettiner Frieden von 1570 befanden, und hat die Ruhe dieser Reiche durch eine schicklichere Theilung der Provonzen mehr gesichert. Können diese Eroberungen wohl in eine und dieselbe Classe mit denjenigen gesetzt werden, welche eben dieser Karl Gustav in Pohlen machte, oder mit den nach bloßer Vergrößerung strebenden Entwürfen Ludwigs des Vierzehnten? Überhaupt sind in dem Falle, wenn mit einem großen von der Natur schlecht begabten rauhen Lande, eine fruchtbare kleinere Provinz in einen Staatskörper durch Eroberung vereiniget wird, die Vortheile davon oft gegenseitig. Jenes ist sichrer seine Bedürfnisse zu erhalten, dieses gewinnt einen leichtern Absatz, und tapfere Beschützer. Die Nothdurft des erstern, konte besonders in vorigen Zeiten, so hoch steigen, daß es durch die Liebe zu seiner Erhaltung gezwungen wurde sich eine solche Vorrathskammer zu verschaffen. Aus dieser Ursache war der Besitz von Liefland für Schweden weit wichtiger, als für Pohlen und Rußland, die mit ihm darum kämpften. Auch die in Deutschland durch Gustav Adolphen und seine Generale gemachten Erwerbungen, verschafften dem Staate zu welchem sie hinzukamen, größere Vortheile, als sie dem ent|zogen, von welchem sie getrennt wurden. Hätten [133] die Nachfolger dieses Helden nicht die durch ihn gegründete Macht gemißbraucht: so würden Schwedens Nachbarn nicht Ursache gehabt haben, diese seine Vergrößerung mit Unwillen anzusehen. Die Unternehmung Peters der Großen Ingermannland zu erobern, und die Karls des zwölften den König von Pohlen vom Throne zu stoßen, konten beyde, in Absicht des Mangels gegründeter Ansprüche gleich ungerecht seyn. Aber der letztre erwarb durch Aufopferung so vieler Menschen, nichts als eine eitle Ehre für sich selbst. Der erste verschafte seinen weit nach Asien sich erstreckenden Ländern, das was sie zu ihrem Fortgange in Gewerben, Handlung und Sittlichkeit am meisten bedurften, einen Zusammenhang mit dem Meere, welcher zu dem übrigen Europa führt. Diese kleine Erweiterung der Gränzen gab Rußland durch seine vermehrte politische und Handlungs-Verbindung mit den übrigen Europäischen Reichen, Vortheile, welche ihm die größten Eroberungen an seinen östlichen und südlichen Grenzen nicht würden gebracht haben. Alle diese und mehrere vielleicht noch schicklichere Beyspiele die aus der Geschichte angeführt werden könnten, sind demohnerachtet nicht zureichend, es als eine Regel festzusetzen, daß diese Art von Convenienz, – die Schicklichkeit der Lage einer Provinz gegen die Länder eines größern Staats, der Übereinstimmung der beyderseitigen Einwohner, in Abstammung, Charak|ter, Sprache, Religion oder [134] Zuneigung, die Nützlichkeit der Verbindung beyder mit einander, – jenem größern Staate ein Recht gebe, sich dieser Provinzen zu bemächtigen.

62 | 1 Aus den Monographien Sie sind deßwegen nicht zureichend: Erstlich, weil es so schwer ist, zum voraus diese Schicklichkeit genau zu beurtheilen, die Vortheile die aus der Acquisition neuer Ländereyen für den erobernden Staat, die nachtheiligen Folgen, die aus ihrem Verlust, für den geschwächten Staat entstehen werden, richtig zu berechnen. Zweytens, weil andre stärkre Gründe auf der Gegenseite seyn können: wozu vornehmlich der von mir oben angeführte gehört, daß jede Änderung in den Gränzen der Staaten, das Staats-Eigenthum überhaupt unsicher macht, indem sich immer eine Revolution aus der andern, eine Theilung aus der andern entspinnt, und friedliche Gesinnungen nur durch lange ununterbrochnen Frieden entstehn können. Endlich, weil es einen Zustand der Nationen giebt, wo Länder und Provinzen die vollkommenste Verbindung, sofern dieselbe zum Wohlstande der Einwohner nöthig ist, haben, und sich wechselweise alle ihre Vortheile mittheilen können, ohne zu einem und demselben Staate zu gehören. Dieser Zustand ist eben derjenige, dem wir uns nach und nach in Europa nä[135] hern, wofern anders zu hoffen ist, daß die National-Vorurtheile, so wie die | harten Einschränkungen welche die Staatswirthschaft macht, die jetzt schon sich gemildert haben, sich immer mehr verlieren werden. Wenn der Däne den Schweden, der Engländer den Franzosen, ansieht und liebt wie seinen Landsmann; wenn Producte, Kunstfleiß und Wissenschaften des einen Landes ungehindert in das andre übergehn: welche Vortheile könte noch der wahre Staat, d. h. die in dem Staate lebenden Menschen davon haben, daß die Einwohner eines andern, demselben Könige als sie selbst gehorchen. Eine gute und eie nach gleichen Grundsätzen geführte Verwaltung der mit einander gränzenden Staaten, würde also auch dieser Ursache oder diesen Vorwand, neue Acquisitionen zu machen aufheben, – eine Ursache oder ein Vorwand, die in jenen Zeiten wirklich vorhanden waren, da die Gränzen der Länder auch die Menschen in ihren Gesinnungen, Meynungen, Gütern und Handel von einander trennten. Hierdurch sind zugleich schon die Grund-Ideen angegeben, welche bey dem streitenden Handlungs-Interesse der Staaten in Betrachtung kommen. Seitdem der Handel ein so wichtiger Gegenstand der Aufmerksamkeit für Staatsmänner geworden ist: seitdem führen die Fürsten einen immerwährenden geheimen Krieg mit einander, durch die Kunstgriffe die jeder anwendet, Kunstfleiß und Handlung seines Volks auf Kosten seiner Nachbarn zu vermehren. Ich wundre mich, daß diejenigen welche gegen die Zwangs-Gesetze des Handels [136] nichts einwenden, verlangen können, daß unter Nationen, die so gegen einander gesinnet sind, als es der Geist jener Gesetze angezeigt, irgend eine unwandelbare Gränze des Rechts festgesetzt werden solle. Ist es einmal den Menschen erlaubt, andern, auf welche Weise es immer sey, wissentlich und vorsätzlich zu schaden: so können es nur willkührliche Gesetze seyn, welche den Grad der Beeinträchtigung bestimmen, bey welchem man stille stehen soll.

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Es giebt nur Einen, ganz fixen Punct in der Moral: das ist der der Liebe; – da ein Mensch das Wohl des andern mit dem seinigen aufs möglichste zu verbinden sucht. Sobald man hiervon abweicht, und dieß einmal zum Principio annimmt, daß man in seinen Entwürfen zu seinem eignen Besten, auf das Beste der Übrigen gar keine Rücksicht nehmen dürfe: so ist auch der Ungerechtigkeit welche geflissentlich schadet, das Thor eröffnet. Denn wo ist die Gränzlinie? Eine gewisse Einschränkung des Handels, gewissen Verbote der Ein- und Ausfuhr der Waaren, machen daß der Nahrungsstand der Nachbarn leidet. Einige Einschränkungen mehr: – so geht er vielleicht gänzlich zu Grunde. Was ist dann aber für ein großer Unterschied, ob ich den Menschen die in des Nachbars Staate leben, die Mittel zu ihrem Auskommen abschneide, und also mache, daß sie verhungern, oder ob ich sie mit dem Schwerdt ausrotte. Ein Unter|schied ist freylich: der nämlich, daß ich im letzteren Falle, den [137] Untergang der Menschen, welche ich ums Leben bringe vor Augen sehe, im erstern die sie zu Grunde richtenden Wirkungen meiner Maaßregeln nur im Geiste und in der Entfernung erblicke: daher ich in jenem hartherziger und von schlimmern Charakter seyn muß, als in diesem, wenn ich mich von meinem Unternehmen durch seine Folgen nicht abschrecken lasse. – Aber es ist hier nicht die Rede von der Moralität der Personen, sondern von dem Recht oder Unrecht der Handlungen. Dieses scheint mir einzuleuchten, daß diejenigen Zweige der innern Verwaltung, welche auf andre Staaten zu ihrem Schaden oder Nutzen Einfluß haben, mit der Politik in den auswärtigen Geschäften, welche ganz allein auf die Fremden gerichtet ist, gleichen Regeln unterworfen seyn müssen. Die Selbsterhaltung ist die höchste Absicht; und die Furcht unterzugehen, die vollkommenste Rechtfertigung. Daher kein Zweig der Handlung zuweilen Einschränkungen so nothwendig erfordert, keiner in gewissen Zeitpuncten so wenig Rücksicht auf das Interesse andrer erlaubt, als der Handel mit Lebensmitteln, so lange es nicht bewiesen ist, daß eine allgemeine Freyheit desselben, zuverlässig, zu allen Zeiten, und in jedem Lande, die Hungersnoth verhindern würde. Nach der Selbsterhaltung, sind alle die übrigen Zwecke die sich die Handlungs- [138] politik vorsetzen kan, nur Vortheile die den Wohlstand einer Nation – und zwar niemals der ganzen, sondern nur, wenn es hoch kömmt eines beträchtlichen Theils derselben, vermehren. – Diese Vortheile, wenn sie eben so vielen Menschen in einer andern Nation Nachtheil bringen, sind für den welcher das menschliche Geschlecht im Ganzen übersieht, das heißt, für den der am richtigsten urtheilt, keine wahren Güter mehr. Sie sind wirkliche Übel, wenn sie anderswo einer größern Anzahl schaden, als sie in dem Lande des Staatswirthschafters nützen. »Aber dieser kan nun einmal einen so weiten Gesichtskreis nicht fassen. Er ist überdieß wie ein Hausvater nur verbunden für die Seinigen zu sorgen. Endlich ist es selbst unter Mitbürgern, die sicherste Methode, wie das allgemeine Beste besorgt wird, wenn jeder, nur mit Verstande, nach den Absichten seines Eigennutzes handelt. Eben dadurch daß jeder Kaufmann darauf denkt, so viel selbst zu gewinnen,

64 | 1 Aus den Monographien andre so wenig gewinnen zu lassen, als möglich ist, schränken sich die Gewinnste aller ein: und die Billigkeit ist hier, wie bey der Bestimmung des Marktpreises, das Resultat der entgegengesetzten Bestrebungen vieler Eigennützigen. Sollte das bey den ökonomischen und merkantilistischen Verhandlungen der Staaten nicht auch der Fall seyn?« [139] Er ist es allerdings im Ganzen. Die Administration der Staaten würde noch weit schlechter als jetzt bestellt seyn, wenn sich jeder Regent unmittelbar damit beschäftigen wollte, auch die Industrie und den Wohlstand andrer Länder zu befördern. Der Gegenstand, den er innerhalb der Gränzen seines Staats zu besorgen hat, ist schon zu groß für menschliche Fähigkeiten. Er darf also bey den gewöhnlichen Angelegenheiten der innern Verwaltung, das was andre Nationen angeht, aus der Acht lassen, und nur darauf denken, den Menschen in seinem Lande, Unterhalt, Beschäftigung und Einkommen zu verschaffen. Nur zwey Bedingungen müssen dabey erfüllt seyn. Erstlich, der Regent muß die seinem hohen Posten angemessene Erhabenheit der Gesinnungen bey sich unterhalten, nach welcher Glückseligkeit der Menschen überhaupt nicht bloß der Menschen, welche auf einem gewissen Flecke des Erdbodens leben, als der wahre und letzte Zweck aller preißwürdigen Unternehmungen angesehen wird. Zum andern, da wo die Folgen seiner Operationen auf andre Staaten anfangen, sich seinen Augen deutlicher zu zeigen; wo die Schädlichkeit für diese, größer und bestimmbarer wird: da fängt für ihn die Pflicht der Behutsamkeit an. Er muß in solchen Fällen wenigstens rechnen. Er muß die Reichthümer, die er [140] in seinen Staat lockt, den Zuwachs an Arbeitsamkeit und Erwerb, den er | demselben zu verschaffen hofft, mit der Armuth, der Nahrungslosigkeit, und eben so sehr mit der Unzufriedenheit und dem Kummer vergleichen, welche er andern Orten durch seine Maaßregeln veranlaßt. Ist das Übergewicht auf Seiten der Vortheile groß: so darf er das Seinige dem Fremden, das Viele dem Wengen vorziehn. Aber wenn der Schluß der Rechnung gegenseitig ausfällt: so muß er eine solche Maaßregel aufgeben, oder guter Wille, Freundschaft und Frieden zwischen seiner Nation und ihren Nachbarn wird nicht lange bestehn. Absichtlich zu schaden ist niemals erlaubt. Der Schaden den man unwissend anrichtet, indem man nach zugestandnen Gesetzen seine Vortheile sucht, ist kein Unrecht. Diesen Nachtheil andrer bemerken, wissen wie schmerzlich er für sie sey, und doch seinen Gang fortgehn, weil es die Gesetze erlauben, ist die Handlung eines bösen Herzen, aus welchem bey größern Veranlassungen, bald wirkliche Ungerechtigkeiten hervorquellen werden. Es ist zu hoffen, daß, je mehr Fortschritte die Menschen in den Künsten und Wissenschaften machen, welche sich mit der Besorgung ihres Privat- oder öffentlichen Interesses beschäftigen, sie desto mehr die Mittel welche zu Erreichung ihres eignen Nutzens die schicklichsten sind, auch mit der Moral, mit ihren Pflichten gegen andre, und mit den allgemeinen Endzwecken der Vorsehung, alle ihre Geschöpfe glücklich zu machen, übereinstimmend finden werden.

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Schon jetzt hat die Philosophie aus der Handlungs- und Finanzwissenschaft [141] manches menschenfeindliche Vorurtheil ausgerottet, indem sie als unnütz und schädlich für den Einheimischen dargethan hat, was man zuvor als einen auf Unkosten der Auswärtigen zu machenden Gewinn betrachtete und empfohl. Ich will die Hauptideen dieser auf die Politik angewandten Moral noch, ehe ich schließe, kurz zusammenfassen. Ich stelle mir vor, ein Prinz werde, kurz zuvor ehe er den Thron besteigt, von seinem Schutzengel so hoch über die Erde erhoben, und mit so geschärfter Sehekraft begabt, daß er nebst seinen Staaten, zugleich die Reiche, mit welchen er künftig in Verbindung stehen wird, und alle ihre Einwohner überschauen könne, (ein Standpunct welcher allein der Größe seiner künftigen Verrichtungen angemessen ist, und in den er sich, wenn er einer solchen Rolle gewachsen ist, oft im Geiste versetzen wird.) Indem das Gemüth des jungen Fürsten durch den Anblick so vieles Lebens, so mannichfaltiger Thätigkeit, so großer von Menschen ausgeübter Tugenden, so vielfachen Genusses, und der nicht minder zahlreichen Scenen des Elendes, des Mangels und der Laster, auf einer so großen Erdfläche gerührt wäre: redete ihn sein Schutzgeist, oder sein Gewissen, welches beym Menschen die Stelle des Schutzgeistes vertritt, folgendergestalt an. »Siehe hier den Schauplatz deiner künftigen Thaten. Das Reich ist groß, wel- [142] ches zu beherrschen du berufen bist. Aber es umschränkt noch nicht die Sphäre deiner Wirksamkeit. Die Einwohner desselben sind die Kinder des Hauses, welches dir zur Verwaltung anvertrauet ist; von dir vornehmlich erwarten sie ihre Sicherheit und ihr Glück: aber die Einwohner dieses ganzen vor dir liegenden Welttheils sind deine Nachbarn und Verwandte, welche dem Einflusse deiner klugen oder thörichten, deiner gerechten oder boshaften Handlungen ausgesetzt sind.« »Überdieß bist du der oberste Richter der Menschen in deinem Lande. In allen andern Ländern findest du niemanden der dein Richter sey. Das Vorrecht ist groß: aber die Last welche dir dadurch aufgelegt wird, ist noch viel größer. Andre werden geleitet durch Gesetze: du sollst dich selbst leiten. Andre dürfen in den meisten Fällen nur die Handlungen nach unwandelbaren Regeln, – du mußt oft die Regeln selbst prüfen. Wie viel mehr ist deinen Einsichten und deinem moralischen Gefühl als den Einsichten und den Gewissen andrer Menschen überlassen! Welche Aufforderung an dich, jene so vollständig, dieses so empfindlich, beyde so richtig machen als es möglich ist!« »Der erste Schritt zur Erfüllung deiner Pflichten ist, deine Verhältnisse zu kennen. Vergleiche dich mit allen den Menschen, deren Wohnplätze und Geschäftigkeit du hier vor dir siehst, und untersuche was du | für sie seyn kanst, so wirst du bald [143] entdecken, was du in Absicht ihrer zu thun schuldig seyst.« »Erstlich, du bist Stellvertreter einer Nation. Du handelst in ihrem Namen. Die Macht mit welcher du bekleidest bist, ist die vereinigte Kraft [des] Leibes und der Seelen von allen den Menschen woraus sie bestehn. Die Reichthümer welche du zu vertheilen hast, sind aus ihrem Vermögen zusammengebracht. Das hohe Ansehen

66 | 1 Aus den Monographien welches du besitzest ist eigentlich der Inbegriff der Vorrechte, welche eine ganze Gesellschaft von Menschen, über jeden einzelnen Menschen voraus hat.« »Du mußt also, wenn du diese Macht, diese Reichthümer, dieses Ansehn gebrauchst, deine Persönlichkeit, so viel als es dir nur immer möglich ist, anziehn. Alles was du in der Regierung deiner Staaten, in den Verhandlungen mit Auswärtigen thust, um deiner selbst, deiner Familie, deiner Freunde willen, – darum thust, weil dieser Fürst dir gefällt, oder weil ein andrer dir mißfällt, – um dich an der einen Person, sie sey König oder Minister, zu rächen, um einer andern, sie sey Günstling, Verwandter oder Geliebte, gefällig zu seyn: das ist ungerecht, weil es der Größe und dem Umfange deines Berufs nicht angemessen ist.« »Als einzelner Mensch hast du nur die Kräfte eines Menschen. Diese stehn dir zu [144] deinen Absichten, wenn sie keinen Bezug auf die Nation haben, allein | zu Gebote. Aber wenn du die Kräfte von Millionen in Bewegung setztest; wenn du die Früchte der Arbeit von Millionen aufwendest: so müssen auch die En[d]zwecke, welche du suchest, das Wohl dieser Millionen angehn.« »Nur ein einziger Fall ist ausgenommen, wenn von dem Ansehn welches du persönlich genießest, auch die Achtung abhängt, welche andre Nationen gegen die deinige haben sollen. Da unter Unabhängigen mit der Verachtung immer Gefahr verbunden ist: so darfst du die Beleidigungen deiner Ehre alsdann rächen, wenn sie den ganzen Staatskörper, welchem du vorstehest, in Verachtung bringen.« »Durch diese einzige Betrachtung, wenn sie deinem Gemüthe immer gegenwärtig ist, wirst du den gefährlichsten Versuchungen zu Ungerechtigkeiten vorbeugen. Die Gelegenheiten, wo Leidenschaften aus persönlichen Rücksichten entstanden, dich irre führen könten, bieten sich alle Augenblicke dar. Der Fälle, wo du als Regent durch falsch eingesehnes National-Interesse irre geführt werden, an fehlerhaften Nationalleidenschaften Theil nehmen könntest, sind viel weniger. Überdieß sind jene Affecten gemeiniglich heftiger, und lassen der Überlegung viel weniger Raum. – Handele also nicht als ein einzelner mächtiger Mensch, sondern als der Geschäftsträger und Worthalter eines ganzen Volks: und du wirst durch diesen Gesichts[145] punct, wenn du deine Angelegenheiten | aus solchem betrachtest, das Recht und Unrecht in denselben sehr aufgeklärt finden.« »Zweytens. Deine Nation ist selbst nur ein einzelnes Glied des großen Körpers aller gesitteten Staaten: und du als Repräsentant der erstern trittst eben in dieses Verhältniß mit den Regenten der letztern. Alle diese Staaten haben sich nach und nach Jahrhunderte hindurch zu einem zwar noch nicht völlig zusammenhängenden, aber doch schon untrennbaren Ganzen, durch wechselseitige Mittheilung alles dessen, was sie an eigenthümlichen Gütern befaßen, und durch Verträge, vereiniget. Auf dieser Verbindung beruhen größtentheils die Vorzüge welche die Menschen in Europa heute zu Tage vor ihren Vorfahren, und vor den Bewohnern der übrigen Welttheile auszeichnen. Auf ihr beruht es, daß du wenig oder gar keine Gefahr mehr läufst, völlig unterdrückt zu werden, und dein Reich unter eine fremde Bothmäßigkeit kommen zu sehn. Davon hängt es ab, daß die Kriege menschlicher geführt

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werden, und weniger Störungen der allgemeinen Glückseligkeit nach sich ziehn; davon, daß National-Vorurtheile sich mildern, Kenntnisse allgemeiner werden, und Verdienste allenthalben mehr als Landsmannschaft gelten. – Es ist also eine deiner ersten Pflichten, diese Verbindung aufrecht zu erhalten, und sie, so weit es von dir abhängt, fest zu machen. Sey also vor allen Dingen den Verträgen treu, durch welche diese Bande zuerst geknüpft, oder durch die sie enger und genauer geworden sind.« »Je größer jetzo deine Sicherheit geworden ist, je weniger darfst du dir Eingriffe [146] in herkommliche Rechte und alte Verfassungen erlauben, Eingriffe welche nur dringende Noth rechtfertigen kan. Je williger andre deine und deines Staats Eigenthumsrechte anerkennen: desto heiliger müssen dir die einmal festgesetzten Gränzen der ihrigen seyn.« »Indem du vermöge jenes Zusammenhanges Europäischer Staaten auf Beschützer rechnen kanst, wenn du in Gefahr wärest unterdrückt zu werden: so hast du auch vermöge eben desselben Richter deiner Handlungen in gewissem Verstande anzuerkennen. Die übereinstimmenden Urtheile der europäischen Mächte, entweder declarirt in feyerlichen Tractaten und Friedensschlüssen, oder stillschweigend gefällt durch die Art des Verfahrens und die Gewohnheiten, welche von dem größten und besten Theil derselben angenommen worden, müssen von dir jetzt als Gesetze geehrt werden, da du auf den Beystand dieses Theils deine Sicherheit baust, und seine Neigung dir beyzustehen von seiner Hochachtung und seinem Beyfall abhängt.« »Da du empfindest, daß du mehr vor Aufrührern und Feinden geschützt bist, als die Monarchen der Vorwelt: so darfst du dir den willkührlichen Gebrauch der Macht nicht für erlaubt halten, zu welchem diese oft durch die Noth getrieben, noch öftrer durch die Furcht verleitet wurden.« »Je besser, ruhiger, schicklicher das gegenwärtige Verhältniß der Staaten unter [147] einander, und je mehr es jetzt möglich ist, daß ohne plötzliche und gewaltsame Veränderungen in Rechten und Besitzungen zu machen, alle zu ihrem höchsten Flor gelangen: desto weniger kannst du dich berechtigt glauben, diese Verhältnisse durch Treulosigkeit aufzuheben, diese Rechte und Besitzung durch Krieg und Blutvergießen zu stören.« »Unter allen Arten aber das Recht zu beleidigen, ist keine schändlicher als die, welche unter dem Scheine des Rechts geschieht. Verträge freymüthig und offenbar brechen, wenn die Umstände sich augenscheinlich geändert haben, ist weder dem guten Namen eines Regenten so nachtheilig, noch erregt es bey dem welchem man ungetreu wird, solchen Haß, noch giebt es ein so verderbliches Beyspiel, als Verträge den Worten nach halten, indem man dem Sinne und den Absichten derselben entgegenhandelt.« »Schikanen entehren schon in Privatgeschäften; aber in öffentlichen sind sie verhaßter als offenbare Ungerechtigkeiten. Die abscheulichste unter allen ist, die Artikel der Verträge mit Vorsatze zweydeutig auszudrücken, um sich zum Nachtheil

68 | 1 Aus den Monographien und wider den Willen des andern Theils geltend zu machen.«6 Nach ihnen | folgt diese, – eigennützige Auslegungen seiner Worte hintendrein erfinden, die man mit redlichern Gesinnungen von sich gegeben hatte. »Aus dieser Achtung für die Vorzüge des gegenwärtigen Zustandes der Dinge, sey besonders behutsam bey Unternehmungen die du auf alte Ansprüche oder ehemalige Erwartungen entfernter Anherrn gründest.« »Das Eigenthumsrecht kann nie unter den Staaten fest gegründet seyn, wenn ihre Fürsten nicht wenigstens stillschweigend die Verjährung anerkennen, und einen langen ruhigen und niemanden schädlichen Besitz mehr als veralterte Documente gelten lassen.« »Diejenigen täuschen dich, welche dir einbilden, daß du ein wahres Recht auf [149] alles das habest, worauf du nach den Regeln der Civil-Gesetze, aus alten | Geschichten Ansprüche herleiten kanst. Diese Deductionen beweisen nichts, weil sie zu viel beweisen. Welcher Souverän des jetzigen Europa wird nicht seine Nachbarn plagen und zu berauben immer Befugnisse behalten, wenn er durch solche aus seinen Archiven bezogne scheinbare Rechtsbeweise dazu autorisirt wird. Aber der höchste Grund aller Rechte ist der allgemeine Nutzen: und es ist der Wohlfahrt der Menschen gemäß, vor allen andern den gegenwärtigen Besitzstand zu respectiren, – und wenn man ja von diesem abweicht, weniger das Alte und Vergangne, als das jetzt Gemeinnützige aufzusuchen.« »Drittens, du bist Hausvater einer Familie die einen beträchtlichen Theil des ganzen Menschengeschlechts ausmacht, deren Wohl oder Weh ein wichtiger Beytrag oder eine merkliche Verminderung der allgemeinen Glückseligkeit ist.« »Eben diese Größe deiner Endzwecke erweitert deine Rechte. Aber diese Endzwecke sind nur alsdann wirklich groß, wen sie sich in der That auf die ganze Menge der Menschen beziehn, welche dein Reich in sich fasset.« »Insofern also das was du Staats-Interesse nennst mit der Glückseligkeit der größten Zahl der Einwohner deines Landes einerley ist: insofern kanst du vieles dafür wagen, und jeden der diesem Interesse im Wege steht, mit Kühnheit bestrei[150] tet. Du kanst dieß um so viel mehr, weil du hier des Widerstandes viel | weniger finden, der gewagten Schritte weit weniger benöthigt seyn wirst.« »Aber Staat als ein idealisches Wesen, als concentrirt in deiner Person, in deinen Armeen, in deiner Schatzkammer, in deiner und deiner Familie Ehre, – ist nicht

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6 In dem Oßnabrückischen Frieden, erzählt der jüngere Pfeffel, in seinem Commentariis de limite Galliae, schlossen die französischen und kayserlichen Gesandten, unter andern den Artikel, daß Frankreich das ganze | Elsaß und das supremum dominium über Ober- und Nieder-Elsaß, doch unbeschadet der Reichs Unmittelbarkeit der Bischöfe von Basel und Straßburg, des Immediat-Adels, und der Reichsstädte, zugehören solle. Da zwischen dem ersten Ausdrucke und dem letzten ein Widerspruch zu seyn schien: so verlangten die Reichsstände eine deutlichere und weniger zwey-deutige Erklärung. Aber weder konnten sie es dahin bringen, daß eine solche in das Friedens-Instrument eingerückt wurde, noch konnten sie es durch ihre Gesandschaft von Ludwig dem vierzehnten erhalten, daß er eine Declaration, welche sie sicher stellte, darüber ertheilt hätte.

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ein eben so hoher Gegenstand. Und dem Interesse welches sich hierauf bezieht, darfst du nicht so viel von dem Schweiße und Blute der Menschen aufopfern.« »Alle diese genannten Sachen sind nur Mittel. Diese müssen geprüft werden, – wie viel sie wirklich zum Wohlseyn deiner Unterthanen beytragen, auf wie viele sie Einfluß haben, und auf wie würdige.« »Aber gehe oft von diesen Wesen der Einbildungskraft, auf das wirkliche Wesen der Sachen. Der Staat sind die Menschen. Wohlfahrt des Staates ist, Gesundheit, Zufriedenheit, Ruhe, Wohlhabenheit, Geschicklichkeit, Tugend aller dieser Menschen, oder des größern und bessern Theils unter ihnen.« »In Unternehmungen die darauf gradezu abzielen, diese innern Vorzüge und äußern Güter so vieler Personen zu vermehren, handelst du eigentlich als Regend, als höheres Wesen. Und nur bey diesen darfst du dich von den Schranken frey glauben, welche dem Privatmanne bey allen seinen Schritten gesetzt sind.« »Deine erste und vornehmste Pflicht in dieser Absicht geht auf die innere Verwaltung deines Staats. | Den Boden desselben aufs beste anzubauen, die Einwohner [151] zu beschäftigen, sie aufzuklären, ihnen eine unpartheyische Rechtspflege zu gewähren, ihrer Thätigkeit alle Hülfsmittel zu verschaffen, und auch zu ihrer angenehmern Existenz durch weise Polizey beyzutragen: dieß ist das deiner Bestimmung am nächsten liegende Geschäfte.« »Je mehr du dich mit diesen Arbeiten abgeben, an den Kenntnissen die sie voraussetzen, Geschmack finden, und in dem Succeß derselben einen würdigen Preiß für deine Ehrbegierde erblicken wirst: desto freyer wirst du von den Versuchungen der falschen Politik und des falschen Heroismus seyn, welche nur in auswärtigen Unternehmungen und neuen Erwerbungen einen dem fürstlichen Charakter angemessenen Ruhm suchen. Die alten Könige haben nur deßwegen immerwährende Kriege geführt, weil sie nichts anders als den Krieg wußten, wobey sie selbst thätig seyn, und worin sie ihre Gaben und ihre Geistes-Größe zeigen konten.« »Nach der Verwaltung deines Staats ist der Schutz vor auswärtigen Feinden das größte Gut, welches du den Menschen in de[m]selben gewähren kanst.« »Der Sicherheit, wenn sie wirklich angegriffen ist, muß alles nachstehn. – Aber hier eben, wo deine Rechte am größten sind, können deine Leidenschaften am gefährlichsten werden.« »Hüte dich zu schnell andre Fürsten und Nationen für deine Feinde zu halten. Traue den Nachrichten von | ihren feindseligen Gesinnungen, oder ihren boshaften [152] Anschlägen nicht ohne Prüfung. Oft sind es selbst ränkevolle Schmeichler, die dir solche hinterbringen, und ihre Anhänglichkeit an dein Interesse auf Kosten der öffentlichen Ruhe zeigen wollen. Mißtrauen ist von jeher der Grund zu Feindschaften gewesen, und hat selbst die Ungerechtigkeiten des andern Theils entschuldiget.« »Die Waffen welche du zuerst gegen Übelgesinnte brauchen mußt, sind eine desto gewissenhaftere Billigkeit, ein desto großmüthigeres Betragen. Du wirst sie dadurch, wenn noch Grundsätze der Ehre in ihrem Herzen sind, entwaffnen; du

70 | 1 Aus den Monographien wirst neutrale Mächte für dich einnehmen; du wirst wenigstens die Stimmen aller Weisen und Redlichen in Europa auf deiner Seite haben. Und diese Stimmen vermögen etwas, selbst unter dem Geräusche der Waffen. Sie dringen endlich durch, und verschaffen dem mit Unrecht Angegriffenen, Freunde und Beschützer.« »Eine Regierung welche Achtung einflößt, ist immer stark; eine Nation die bewundert und geschätzt wird, kan nicht leicht unterdrückt werden. Wo Weiseit die Verwaltung führt, wo innerlicher Friede wohnt, wo keine Partheyen am Hofe, keine Mißvergnügte im Lande sind: da hat ein Feind böses Spiel. An einen solchen Staat wagt sich der klügere Ehrgeitzige nicht: und der Verwegnere wird mit Schaden und Verlust zurückgewiesen.« [153] »Doch es giebt Zeiten, wo alle diese Mittel nicht den Beleidigungen andrer zuvorzukommen hinreichen. Alsdann was du thun mußt, das darfst du thun. Mit Voraussetzung jener Gesinnungen kan es dir sicher überlassen bleiben, die Schranken, welche du in den jedesmaligen Umständen dir zu setzen hast, selbst zu finden.« »Endlich du bist ein Mitglied des großen Senats, der über Europa und gewissermassen über die Welt gebietet. Deine Entschlüsse und Thaten, vereinigt mit den Entschlüssen und Handlungen der dir an Würde Gleichen, bestimmen und leiten den Lauf der menschlichen Dinge, so wie die Bewegung der himmlischen Sphären auf alle Veränderungen der Körper unsers Erdballs einwirkt.« »Große und ehrwürdige Bestimmung, – eine unter den Triebfedern zu seyn, welche der Thätigkeit der moralischen Welt ihre Richtung geben, und diesem edelsten Theile der Schöpfung, seine Gestalt und seine Bewegung mittheilen! Es kan aus demselben keine geringere Pflicht folgen, als für das Beste der Welt, nicht bloß für das Beste einer einzigen Nation zu sorgen.« »Es ist keine schimärische, überspannte Moral, welche dich lehrt, in Unternehmungen welche ihrer Natur nach auf mehrere Nationen Einfluß haben, auch das Wohl mehrerer Nationen in Betrachtung zu ziehn. Es ist der klärste Ausspruch der [154] Vernunft, daß unsre | Pflicht gutes zu thun sich so weit erstreckt, so weit unsre Kraft sich erstreckt, um wirken zu können.« »Aber diese auf die Wohlfahrt der Menschen überhaupt gerichtete Sorge, macht es dir weit mehr zur Pflicht, zu erhalten, als zu verbessern. Fürsten thun genug, wenn sie den Menschen, auf ihrem natrlichen Fortagnge zur Vollkommenheit, nur die Störungen abwehren. Überdieß kanst du jenen Gegenstand eher überschauen, und du kanst ihm ein Gnüge thun, indem du deine Leidenschaften einschränkest. Das wohlthätige Umändern der Dinge erfordert große Einsichten, und ist nur möglich, wenn zufällige Umstände es vorbereitet haben.« »Wenn dann aber nun einmal dieser Ruhestand den du zu erhalten suchtest, gestört worden, wenn du eigne Streitigkeiten auszukämpfen, oder an fremden Theil zu nehmen hast: dann erhebe dich zu diesem hohen Standorte. Handle nicht als ein einzelner Mensch, nicht bloß als Sachwalter Einer Nation, sondern als ein Freund und Beschützer alles Guten und Wohlthätigen unter den Menschen.«

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»Alle kriegerische Unternehmungen endigen sich ungerecht, wenn sie nicht auch den Ländern welche du mit Kriege überzogen hast, Vortheile bringen, die sie für das während des Krieges erlittene Elend schadlos halten.« »Immer sey, wenn du unter zwey Partheyen wählen mußt, auf der Seite der bessern Sache; – | zuerst des Rechts; dann, wenn dieses nicht klar, oder wenn es zu [155] klein ist, auf der Seite der Vernunft, der Sittlichkeit und der Freyheit. Nur dadurch können Siege dem menschlichen Geschlechte Vortheile schaffen, wenn die bessern Menschen die Sieger sind.« »Jede neue Einrichtung die du machen hilfst muß darauf gehn, den Frieden unter den Nationen auf die Zukunft zu befestigen. Dazu kan sie aber nicht dienen, wenn sie sich nicht durch ihre innere Weisheit, und Billigkeit allen Partheyen empfiehlt.« »Durch nichts kanst du dem menschlichen Geschlechte so sehr nützen, als durch die Verbesserung der herrschenden Begriffe und Gewohnheiten. Begriffe und Gewohnheiten breiten sich von einem Staate zum andern aus. Nicht bloß die einzelnen Menschen ahmen nach: sondern ganze Nationen noch weit mehr. Immer ist das Licht aus einem gewissen Mittelpuncte ausgegangen. Siehe also zu, daß in deinem Lande ein solcher Focus sey, von wo aus, Verstand, Wissenschaft, Edelmuth, und Gerechtigkeitsliebe, auf die übrigen Nationen stralen. Deine Regierung gebe das Beyspiel einer weisen und redlichen Politik: dein Volk sey das Muster einer betriebsamen aufgeklärten und glücklichen Nation: und dann werden noch in künftigen Jahrhunderten ganze Welttheile die Früchte deiner Herrschaft genießen.« »Nichts aber kan diese Vereinigung der Menschen, und deine Pflicht, ihnen allen, wo es möglich ist,| nützlich zu seyn, dir in einem so hellen Licht zeigen, als [156] der Gedanke, daß ein höchster gemeinschaftlicher Vater und Regierer der Menschen vorhanden sey. Ja sie sind alle, auch die geringsten deiner Unterthanen, auch die Einwohner fremder Staaten, mit dir eines Geschlechts, und zwar eines göttlichen Geschlechts. Es ist wirklich ein Plan in der Natur entworfen, sie durch Tugend zur Glückseligkeit zu führen. Dazu leuchtet die Sonne: um deßwillen drehen sich die Weltkörper in ihren Kreisen – dazu ist der menschliche Körper so künstlich gebaut, dazu ist die Erde mit so unzähligen Gütern bereichert, dazu hat die menschliche Seele ihre Fähigkeiten, dazu das menschliche Geschlecht in der Sprache ein Mittel seiner Verbindung bekommen. Und in diesem großen ewigen Plan sollst du eintreten – in ihn mehr als sonst irgend jemand mitwirken. Eben das Wesen welches dich als Mensch schuf, welches dich als Königssohn gebohren werden ließ, welches Jahrhunderte zuvor schon diesen deinen Staat bildete, und ihn deinen Ahnherrn unterwarf: eben das Wesen ist der Schöpfer, der Freund und der Wohlthäter aller der Menschen die jetzt unter dir stehn, und auf die du Einfluß hast. Wenn du deine Herrschaft anwendest sie weiser und glücklicher zu machen: so wirkst du mit dem höchsten Geist gemeinschaftlich und unter Menschen in der erhabensten Sphäre.«

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https://doi.org/10.1515/9783110647808-003

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In jeder enger verbundnen Gesellschaft entsteht unter den Gliedern derselben, außer der Gleichförmigkeit, welche die Natur hervorgebracht hat, oder die von der Ähnlichkeit ihrer Lage, von dem Gemeinschaftlichen ihres Gesichts- und ihres Wirkungskreises herkömmt, auch noch eine neue, durch Nachahmung. Diese Nachahmung ist zum Theil unwillkührlich. Personen, die täglich mit einander umgehn, nähern sich einander umvermerkt. Jeder verliert gewisse Eigenheiten, und nimmt einige Eigenschaften andrer an. So vereinigen sich alle zuletzt in gewissen mittlern und gemischten Charakterzügen, wodurch eben die Sitten dieser Gesellschaft bestimmt werden. Eine andre Art der Nachahmung ist absichtlich. Viele bemühn sich, Einem, den sie für vortrefflich halten, ähnlich zu werden, weil sie dadurch ihren eignen Wert zu erhöhen hoffen. Dasjenige, was in jeder Gesellschaft, so wie bey jedem Menschen, die Wahl bestimmt, wo unter mehrern Dingen zu wählen ist, ‒ oder was sie zu Änderungen bewegt, wenn sie alte Einrichtungen | mit neuen vertauschen, ist entweder das Gute [120] oder das Schöne. Die Begriffe vom Guten und Bösen, werden, in dem gesellschaftlichen Zustande der Menschen, bestimmt durch die Gesetze und durch das Gewissen: die Begriffe vom Schönen und Häßlichen durch den Geschmack und durch die Mode. Wie es nähmlich in Absicht dessen, was gut, und also Pflicht ist, kleinere Gegenstände giebt, die durch Gesetze im Allgemeinen nicht entschieden werden können: so giebt es deren auch in Absicht des Schönen und des Anständigen; ‒ Dinge von einer geringern oder einer flüchtigern und wandelbarern Natur, die nach der Empfindung, selbst der am besten organisirten und am feinsten unterscheidenden Menschen, nicht immer gleichförmig beurtheilt werden. Jene Pflichten also und diese Schönheiten ändern nach Zeit, Ort und Umständen ab. Sie bleiben beyde eigentlich der Beurtheilung eines jeden Individuums in jedem besondern Falle überlassen: sie werden aber doch unter Menschen, die an einem Orte, und in mannichfaltigen Verbindungen leben, durch gewisse gemeinschaftliche Regeln angeordnet. Von diesen sind die, welche sich auf die Pflichten beziehn, unter dem Namen der Sitten bekannt: die, welche über Schmuck und Anstand gebiethen,| ma- [121] chen den Gegenstand meiner Betrachtung, die Mode, aus. Und hier trennen sich diese beyden bisher verglichnen Sachen. Die Sitten sind keiner Veränderungen fähig, als solcher, durch welche sie besser oder schlimmer werden. Alles übrige, was sonst noch bei Handlungen, welche Pflichten, wenn auch nur kleinere Pflichten sind, unbestimmt ist, und also veränderlich seyn kann, bezieht sich so ganz auf die besondern Umstände einzelner Personen: daß es nie in der ganzen Gesellschaft merkliche und gemeinschaftliche Abwechselungen veranlassen kann. Die Mode hingegen kann sich in einem weiten Kreise von Abwechselungen umherbewegen, ohne von ihrem Ziele sich merklich zu verirren, und ohne der Vollkommenheit viel näher zu kommen. Die Begriffe vom Schönen in Nebensachen,

76 | 2 Beiträge in Zeitschriften können sich unter einer so großen und so genau verbundnen Anzahl von Menschen, als die Bürger eines Staats sind, oft verändern, und doch so, daß zu jeder Zeit der größre Teil derselben in gemeinschaftlichen Punkten übereinstimmt. Demzufolge können wir die Mode so erklären, daß sie die zu jeder Zeit herrschende Meinung von dem Schönen und Anständigen in kleinern Sachen ist, in [122] Sachen, die weder durch Anwen|dung der Regeln des Geschmacks noch der Zweckmäßigkeit, mit völliger Übereinstimmung, regulirt werden können. Schon diese Erklärung zeigt, daß das Gebieth der Mode keine ganz bestimmte Gränze habe. Nachdem die Menschen mehr oder weniger Sachen unter die Kleinigkeiten rechnen; nachdem ihr Geschmack durch Naturanlagen, oder durch Bildung und Kunst mehr oder weniger fixirt ist; nachdem sie mehr auf die Nutzbarkeit und den Gebrauch der Sachen, oder mehr auf die Annehmlichkeit derselben sehn; nachdem sie überhaupt mehr oder weniger Trieb zu Veränderungen haben, oder mehr oder weniger Vergnügen an Neuheit finden: nachdem werden bey ihnen mehr oder weniger Gegenstände, ohne feste Regeln, und daher der Herrschaft der Mode überlassen bleiben. Daß es Moden unter den Menschen giebt, ist eine Folge ihrer geselligen Natur. Sie wollen einander gleichförmig seyn: weil sie miteinander verbunden seyn wollen. Jede in die Augen fallende Unähnlichkeit in Kleidung, Wohnung und Lebensart, ist ein Abstand, der die Zuneigung verhindert, und der vertraulichen Mitteilung der Ideen im Wege steht. ‒ Wenn Menschen einander einmal so nahe [123] sind, daß sie mit einander | gemeinschaftlich handeln, oder sich in Gesellschaft miteinander vergnügen: so ist es eben so wohl eine natürliche Folge ihrer Gesinnung gegeneinander, als eine unwillkührliche Wirkung ihres Beisammenseyns, daß sie einander ähnlich zu werden streben. Und diese Gleichförmigkeit, wenn sie in einer Gesellschaft einmal erreicht ist, wird für jedes neue Glied, das in dieselbe aufgenommen, werden oder in ihr mit Ehren und Vergnügen auftreten will, eine Regel. Daher hat es Moden unter den Menschen gegeben, solange Menschen existiren. Es giebt deren unter den Wilden. Die Einschnitte, die sie sich in die Haut machen, und die Farben, mit welchen sie sie einreiben, sind in jeder Völkerschaft, und oft in vielen Völkerschaften auf einem großen Erdstriche, gleichförmig. Wie viele und wie bestimmte Moden in den Verzierungen ihrer Personen und Häuser sowohl, als in den Ausdrücken ihrer Höflichkeit finden wir nicht bey den Homerischen Helden! So wie sich die Stände voneinander absondern, und sich die große bürgerliche Gesellschaft gleichsam in mehrere kleine trennt, die nur als Corpora miteinander verbunden bleiben, ohne daß die Individuen, woraus sie bestehn, sich wechselsweise sehr [124] nahe kämen: so | trennen und vervielfältigen sich auch die Moden. Ja sie werden eben so gut Mittel der Absonderung, als der Vereinigung. Der gemeinschaftliche Ehrgeiz Vieler sucht sich ebensosehr durch ein ähnliches Äußeres von denen, die unter ihnen sind, zu unterscheiden, als die Zuneigung und Vertraulichkeit derer, die sich einander für gleich halten, sie bewegt, alle Unterschiede so viel, als möglich, zu vermeiden.

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Doch dieser aus der Geselligkeit entspringende Trieb der Menschen, sich einander ähnlich zu machen, ist nur ein Principium des Willens; demzufolge sie nach Gleichförmigkeit in den sichtbaren Formen, welche sie sich selbst und ihren Handlungen, ‒ oder welche sie den zu ihnen gehörigen und ihren Bedürfnissen dienenden Dingen geben, verlangen. Aber wo nimmt ihr Verstand oder ihr Instinct die Regel her, nach welcher er diese Ähnlichkeit jedesmal bestimmt? Hier kömmt nun von der einen Seite der Nachahmungstrieb, von der andern die Ungleichheit, welche die Natur unter den Menschen gemacht hat, dem geselligen Triebe zu Hülfe. Der erste ist hinlänglich eine schon eingeführte und angenommene Mode fortzupflanzen: aber er ist nicht genug, sie hervorzubringen. Der Nachahmungstrieb Vieler muß | nähmlich ein gemeinschaftliches Centrum bekommen. Es muß also Einer oder [125] es müssen Wenige seyn, welche die Augen Vieler auf sich ziehn, und von ihnen als Muster angesehn werden. Dieß würde nicht sein, wenn die Natur eine vollkommene und absolute Gleichheit unter den Menschen gemacht hätte, oder wenn sich dieselbe in der errichteten Gesellschaft erhalten könnte. Aber, weil vom Anfange des menschlichen Geschlechts an, Schönheit, Größe, Stärke, Muth und Verstand einen Menschen vor dem andern und einige wenige unter einer großen Menge auszeichneten; ‒ und weil, vom Anfange der bürgerlichen Gesellschaft an, Reichthum und Macht auf gleiche Weise einzelne Individuen unterschied: so entstanden durch beydes im menschlichen Geschlechte gewisse Höhen, auf welche alle ihre Blicke richteten. Die Begierde, die jeder hat, selbst vortrefflich zu seyn und über andre hervorzuragen, reitzt die meisten, diejenigen nachzuahmen, die sie schon in dem Besitze eines solchen Vorzugs sehn. Daher sind der Moden weit mehrere, und ihre Abwechselung sowohl, als ihre Herrschaft während ihrer Dauer, ist größer in einer Gesellschaft, in der eine regelmäßige Unterordnung der Stände durch die Verfassung eingeführt ist, als in einer, wo dieser Unterschied gar nicht vorhanden ist oder weniger | beobachtet wird. Die Monarchie ist der Sitz und die Quelle der Moden: [126] besonders eine gemäßigte Monarchie, in welcher die Stände durch allmählige Gradationen emporsteigen. ‒ Denn ein einzelner, alle Unterthanen in gleicher Niedrigkeit haltender Despot, wie es die orientalischen sind, ist von der Menge zu sehr entfernt, ist zu unsichtbar, und zu fürchterlich, um der Gegenstand der Nachahmung zu werden. Aber wenn der Stufen viele sind; jeder Mensch gewisse andre über sich hat, welche ihm nahe genug sind, um von ihm beobachtet zu werden, und doch noch ehrwürdig genug, um ihn zur Nacheiferung ihrer Größe, und zur Annahme ihrer Gewohnheiten zu reizen: so wird der Nachahmungstrieb bey allen unaufhörlich erweckt; und er wird, von Stufe zu Stufe, unmerklich auf einen gemeinschaftlichen Punct hingezogen. Aber zum Wesen der Mode, gehört nicht bloß die Einstimmung Vieler in denselben Gewohnheiten oder in der Wahl derselben Sachen, zu einer und derselben Zeit, ‒ sondern auch die Veränderlichkeit dieser Gewohnheiten und dieser Wahl in der Folge derselben. Und wodurch werden diese Veränderungen veranlaßt, nach welchen Gesetzen werden sie bestimmt?

78 | 2 Beiträge in Zeitschriften Die Veränderlichkeit in allem, was zur Mode gehört, entsteht aus dem Triebe nach Beschäftigung, und aus der Thätigkeit des Geistes, ‒ aus dem Geschmacke am Schönen und dem Urtheile über dasselbe, ‒ und endlich aus der National-Industrie. Sie ist bei jedem Volke größer oder kleiner, nachdem diese Ursachen bey ihm in einem höhern oder mindern Grade vorhanden sind. 1. Träge, kalte, ernsthafte Menschen, die nur wenige Ideen, eingeschränkte Kenntnisse, einfache und starke Leidenschaften, und wenig Betriebsamkeit haben, ‒ die sich nach der Arbeit bloß durch Ruhe erholen, ‒ die wenig Zeitvertreibe kennen, und nach keiner Unterhaltung verlangen, wenn ihr Bedürfniß befriedigt ist, sind deswegen in allen ihren Einrichtungen weniger veränderlich, weil sie wenig über dieselben nachdenken, und weil ihnen das Alltägliche und Gewohnte keine lange Weile macht. Sie sind es noch weniger bey den Gewohnheiten, die ihre Bequemlichkeiten und ihre alltägliche Lebensart betreffen, weil hier jede Neuerung sie aus der Ruhe stört, die sie über alles schätzen, und weil sie die Mühe scheuen, die es immer anfangs kostet, eine neue Gewohnheit anzunehmen, oder sich in eine unbekannte Form eines Dinges, dessen man bedarf, zu schicken. ‒ Eine Nation hingegen, [128] welche Witz | und Erfindungskraft hat, welche mit vielerley Kenntnissen aller Art ausgerüstet, und nach neuen Bildern für ihre Imagination, oder nach neuen Ideen für ihren Verstand begierig ist; ‒ eine Nation, die in der Bewegung, im Gespräch, im Spiel, kurz in Unterhaltung des Geistes, oder in Beschäftigung des Körpers und der Sinne ihr einziges Vergnügen, und in Stunden der Muße ihre Erholung findet: eine solche Nation wird auch Kleider, Hausrath, besonders alles, was zum Schmucke und zum Zeitvertreibe gehört, alles, was im gesellschaftlichen Umgange andern zur Schau ausgestellt wird, oder ihnen Vergnügen verschaffen soll, oft ändern. Sie scheut die lange Weile mehr, als die Mühe: und erträgt die Unbequemlichkeit des Ungewohnten gern, wenn sie nur durch eine lebhaftere Sensation, dergleichen das Neue immer erregt, schadlos gehalten wird, oder hoffen kann, eine solche bei andern zu erregen. 2. Wenn wir am Schönen Geschmack finden, und die Formen der Dinge auf uns einen Eindruck machen, dessen wir uns bewußt sind, und in dessen Feinheit oder Richtigkeit wir eine Ehre setzen; so ist es eine natürliche Folge, daß wir über diese Formen nachdenken, und unsern Geschmack zu einem Gegenstande der verständi[129] gen Beurtheilung und des Räson|nements machen. Sobald man aber über das Schöne und Häßliche in Dingen, die keiner absoluten Regel der Schönheit fähig sind, räsonnirt, und diese Beurtheilung oft erneuert: so entstehen vielerley Aussichten; so zeigen sich mannigfaltige Gesichtspuncte. Und durch diese wird die Vorstellung vom Schönen, anstatt fixirt zu werden, wie man von einem anhaltendern Studium erwarten sollte, schwankend. Das, was uns unter der Idee der eleganten Einfalt gefiel, macht in unsrer Neigung und in unsern Begierden dem Platz, was durch Pracht die Sinne an sich zieht. Bald ist es die Vergleichung mit den Formen des Alterthums, oder einer fremden geschätzten Nation, ‒ bald ist es die größre Zweckmäßigkeit der Sache, welche uns an unserm Hausgeräthe und unsern Werkzeugen [127]

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einnimmt, und unsre Wahl bestimmt. Zu der einen Zeit ist unsre Aufmerksamkeit auf das Natürliche und Ungezwungne gerichtet; ‒ und dann übertreiben wir es oft, in unserm Anzuge, wie in unserm Betragen, bis zum Nachläßigen und Rohen; ‒ zu einer andern auf das Schöne, welches in der Regelmäßigkeit und in der Proportion liegt; und dann verfolgen wir diese oft bis zum Steifen und Gezwungnen. Alles dieses geschieht nur, weil wir mit | Bewußtsein daran arbeiten, uns und unsre Sachen [130] zu verschönern. Es ist uns sehr viel daran gelegen, die gefälligen Formen in den Dingen zu finden. Wir durchsuchen deswegen alle Bestandtheile und Verhältnisse der Schönheit: und niemals völlig, oder doch nicht lange befriedigt, wenden wir uns von der einen Form zu der andern, um zu versuchen, ob wir nicht unser Ideal durch irgend eine erreichen können. ‒ Nicht so unruhig und veränderlich sind diejenigen Nationen in ihrem Geschmacke, die überhaupt gegen das Schöne gleichgültiger, und besonders in ihrem Wohlgefallen an demselben nie so weit gekommen sind, daß sie die Theorie davon untersucht hätten. Je weniger man das, was da ist, beurtheilt: desto ruhiger bleibt man dabey. Wo aber alles kritisirt, da verändert und stört auch alles den gegenwärtigen Zustand der Dinge. 3.) Wenn die Arbeiten der Menschen sich getheilt haben; und mit der Verfertigung und Gestaltung der Dinge, die zu unsern mannichfaltigen Bedürfnissen gehören, sich eigne Künste und Lebensarten beschäftigen, die die Quelle des Erwerbs für eben so viele Bürgerclassen geworden sind: so kömmt das Interesse dieser, der Eitelkeit der übrigen Classen zu Hülfe, die Veränderlich|keit der Moden zu beschleu- [131] nigen. Der erstern genauere Bekanntschaft und immerwährende Beschäftigung mit demjenigen Stücke des Luxus oder der Bedürfnisse, welches sie hervorbringen, erhöht ihre Erfindsamkeit, ‒ entweder noch neue Endzwecke und neue Bequemlichkeiten zu entdecken, für welche es eingerichtet und aptirt werden, oder bloß neue Formen zu erdenken, durch welche es gefallen und Aufmerksamkeit erwecken könnte. Zugleich hängt der Unterhalt und der Wohlstand dieser Classen von der Menge der Arbeiten ab, welche sie liefern: und es ist ihnen also daran gelegen, daß die Producte derselben öfter von ihren Kunden erneuert werden, als es, bloß ihrer Abnutzung wegen, nöthig wäre. Hierzu aber kann kein andres Motif reitzen, als wenn diese neuen Producte von den alten verschieden sind, und irgend einen Vortheil oder eine Annehmlichkeit versprechen, welche die vorigen nicht darbothen. Je mehr also der Handwerks- und Künstler- Arbeiten, die man zusammen mit dem Nahmen der Industrie belegt, in einer Nation vorhanden sind, je mehr die, welche diese Arbeiten verrichten, ihr Gewerbe als Kunst betreiben; je mehr Genie sie zu Erfindungen haben, und mit je mehr Geschicklichkeit sie neue Entwürfe ausführen: desto unaufhörlicher | wird bey dieser Nation gearbeitet, die Formen aller Dinge, [132] welche zur Kleidung, Wohnung, Hausgeräthe und Equipage gehören, es sey zu verbessern, es sey bloß zu vervielfältigen. Und bey diesem Bestreben der arbeitenden Classen, immer neue Modelle für das Modische zu fabriciren, kann es nicht fehlen, daß nicht auch die Neigung der genießenden, neue Moden anzunehmen, und durch dieselben zu glänzen, unterhalten werde.

80 | 2 Beiträge in Zeitschriften Die genannten drey Ursachen liegen in Umständen, welche dem ganzen Körper einer Nation zugehören. ‒ Man kann noch eine vierte hinzusetzen, die nur auf den höhern oder glücklichern Theil wirkt, aber eben deswegen auf die allgemeine Veränderlichkeit der Nationalmoden von großem Einfluß ist, weil alle beträchtliche Neuerungen eben bey jener Classe den Ursprung nehmen, und von da zu den übrigen herabsteigen. Diese Ursache ist die Begierde der Reichen, ihren Reichthum, und der Vornehmen, ihren Rang äußerlich zu zeigen. Denn da die Niedrigern sich durch Nachahmung immer an sie herandrängen, und sie durch Stolz bewogen werden, sich immer wieder von denen, die unter ihnen sind, zu entfernen: so wird bey ihnen die allen Menschen natürliche Begierde nach dem Neuen durch Eitelkeit und Hoch[133] muth geschärft. Das Schöne und | das Zweckmäßige selbst verliert seinen Werth in ihren Augen, sobald sie sich nicht mehr in dem ausschließenden Besitze desselben sehn; und Veränderungen, die sich nicht von Seiten ihrer Nützlichkeit oder ihrer Eleganz empfehlen, können ihnen schon deswegen willkommen seyn, weil das Neue, wenigstens eine Zeitlang, nicht das Allgemeine ist. Wie sehr die Denkungsart und der Charakter der Reichen auf die Abwechselung der Moden Einfluß habe, kann man auch daraus sehn, daß fast in jeder Nation der Gang der Abwechselungen dieser ist, daß immer theurere Moden auf wohlfeilere folgen. Dies kann zum Theil daher kommen, daß, indem die Kunst mehr an den Dingen vervollkommnet, die Arbeit des Künstlers zugleich länger und schwerer wird, und also auch sein Lohn größer seyn muß. Aber das ist nicht die einzige Ursache jenes Factums. Da der Reiche der erste und beste Kunde des industriösen Mannes und des Erfinders neuer Moden ist, so muß dieser letztre auf die Neigung desselben bei seinen Arbeiten und Erfindungen vorzüglich Rücksicht nehmen. Aber er weiß, daß schon die bloße Kostbarkeit einer Waare ihr einen größern Werth in den Augen der Reichen giebt. Er sieht, daß diese so vieles um und an sich haben, was [134] ganz unnütz | ist, bloß weil es Geld kostet, und andern zeigt, wie viel sie Geld aufwenden können. Er schließt also, daß sie sich noch viel lieber gefallen lassen werden, daß das, was nützlich ist, durch außerwesentliche Zierrathen, durch Seltenheit des Materials, oder durch Künstlichkeit der Fabrication, kostbar werde, um dadurch Gelegenheit zu bekommen, ihren guten Geschmack und ihren Reichthum zugleich sehen zu lassen. Vielleicht ist dies eine der schädlichsten Eigenheiten der Moden, weil dadurch der Luxus und die Nachahmungssucht den ärmern Classen zum Verderben gereicht. Da es die Reichsten sind, welche den Gang der Moden reguliren, und doch diese Moden, wenn sie einmahl herrschend geworden sind, auch unter die weniger wohlhabenden Classen kommen: so werden diese durch die Begierde, mit ihrem Zeitalter fortzugehn, zu immer größerm und größerm Aufwande bewogen, und oft zu Anstrengungen über ihr Vermögen verleitet, die sie zuletzt in Armuth stürzen. ‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒ Soviel von den Ursachen der Veränderlichkeit in den Moden, und von den Gra[135] den derselben. Aber in der Art und Weise, wie diese Veränderun|gen geschehn,

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zeigen sich ebenfalls gewisse Gesetze, deren Entwickelung nicht unnütz ist, weil sie die Natur des Menschen, und den Einfluß des gesellschaftlichen Zustandes auf ihn schildert. Der Ursprung neuer Moden kömmt immer von der Nation her, welche, außer dem erfinderischen Genie, oder einer von dem Gewöhnlichen gern abgehenden Phantasie, auch noch dasjenige Ansehn oder die Gunst unter den übrigen Völkern besitzt, wodurch das von ihr Erfundne diesen zur Nachahmung empfohlen wird. Mit der Anzahl der auf dem politischen Schauplatze glänzenden, oder in der Cultur fortgeschrittnen Nationen, und mit der Verbindung dieser Nationen unter sich, wird das Reich der Moden erweitert. So lange jedes Volk ein von andern Völkern ganz abgesonderter Körper war, von dem, was bey diesen vorgieng, wenig erfuhr, über das, was sie hervorbrachten oder thaten, nicht urtheilte; so lange jedes auf die Erfindungen und auf die Sitten eingeschränkt war, die es aus sich selbst geschöpft hatte: so lange waren alle Bedürfnisse noch einfach, die Industrie eingeschränkt; und neue Veränderungen des Üblichen waren schwer und selten. ‒ Wenn unter rohen und unaufgeklärten Völkern ein einziges sich der Kunst und der Wissenschaft näherte, und | nach Schönheit, in seinen Producten und in den Befriedi- [136] gungsmitteln seiner Bedürfnisse, strebte: so ward dieses, durch seinen Charakter und seine Lage, gemeiniglich auf einen einzigen Weg geleitet, der es zu einem bestimmten Ziele führte. Oder wenn auch, mit der Länge der Zeit, dieser Charakter und diese Lage selbst einige Änderungen litt, die auf die Producte des Kunstfleißes und auf die Gewohnheiten der Nation Einfluß hatten; oder wenn einzelne große Genies unter ihr auftraten, deren Erfindungen neue Ideenreihen veranlaßten, und den Grund zu Abänderungen in der Lebensart und in der Gestalt der den Menschen angehörigen äußern Dinge legten: so war doch der Fortgang vom Ältern zum Neuern langsam, und die Revolutionen des Üblichen folgten nur in langen Perioden auf einander. Jenes war der Fall in den Zeiten allgemeiner Barbarey; dieses im griechischen Alterthume. ‒ Wenn aber, (so wie die gegenwärtige Lage der Dinge in Europa ist), auf einem Erdstriche von mittlerm Umfange eine Anzahl von Völkern neben einander wohnt, wovon jedes auf Sittlichkeit und Geschmack Anspruch macht, jedes die Verschönerung der äußern Dinge sucht, und nach Beförderung des Kunstfleißes strebt; ‒ wenn diese Nationen mit einander in beständigem Verkehr sind, und | die eine in kurzem alles zu sehen und zu hören bekömmt, was in der andern [137] Aufmerksamkeit erweckendes producirt oder gethan worden ist: dann ist, mit dem schnellern Umlaufe der Erfindungen, auch die Thüre zu Neuerungen bey allen geöffnet. Jeder Winkel dieses Welttheils liefert seinen Beytrag zu der allgemeinen Masse neuer Erfindungen, neuer Bequemlichkeiten, neuer Werkzeuge, neuer Zierrathen und neuer Moden. Es ist eine beständige Wirkung und Zurückwirkung, ein Wettstreit der Industrie zwischen allen Europäischen Völkerschaften. Jede empfängt die aus den Werkstätten der Fremden kommende Waaren, und giebt die ihrigen dafür zurück. Kein Wunder, daß, so wie der Luxus sich zu gleicher Zeit so vieler Dinge bemächtigt hat, und Putz und Bequemlichkeiten unsrer Reichen und Großen

82 | 2 Beiträge in Zeitschriften aus so vielen Ländern und Naturreichen zusammengesucht werden, eben dieser Luxus auch in einem Reichthume von Abwechselungen schwelgt, und sich, durch eben so mannichfaltige Ideen und Einfälle der Fleißigen und Erfindsamen aus allen Gegenden Europens, immer neu und glänzend erhält. Aber so wie die größre Anzahl der Völker, die sich einander ihre Producte, ihre Erfindungen und ihre Gewohnheiten mittheilen, die Abwechselungen der Mode [138] beschleuniget: so ist es hinwiederum, wenn | in dieser Veränderlichkeit auch eine Regel und eine Gleichförmigkeit, wenigstens für kurze Zeiträume, Platz finden soll, nothwendig, daß unter diesen wetteifernden und mit einander correspondirenden Völkern, Eines, in den Hülfsquellen und Talenten der Industrie einen Vorzug vor den übrigen, oder durch sein Ansehn, es sey das Ansehn des Vorurtheils oder der verdienten Achtung, einen Einfluß über sie habe. In Sachen der Mode wird diesen Vorzug und dieses Ansehn nicht diejenige Nation erhalten, die den andern bloß an Fleiß, an Genie zu Erfindungen, an Geschicklichkeit in der Ausarbeitung überlegen ist: sondern die, welche eine fröhliche und veränderliche Phantasie mit einem feinen Gefühl des Anständigen verbindet; die, reich an Combinationen eines leichten Witzes, sehr gesellig, und besonders schnell und fruchtbar in Einfällen ist. So war die Französische Nation bis auf unsre Zeit. Auch hatte sie sich der Herrschaft der Moden in Europa ohne allen Widerspruch bemächtigt. Was die Revolution und die Freyheit aus ihr machen wird, und wie sich der Ernst eines bis auf seine Fischweiber mit Politik und Regierung, mit Krieg, Frieden und Bündnissen beschäftigten Volks, mit dem anmuthigen und gefäl[139] ligen Leichtsinne vertragen wird,| welcher die Gesetzgeber für den Putz und die Moden in Europa unterscheiden muß: das wird die künftige Zeit lehren. Doch, vorzügliche Geschicklichkeit, die Gabe, in diesem Gebiete der Kleinigkeiten das Schöne in allen seinen Abarten zu fühlen, es selbst bis auf die Extreme, wo es ins Abentheuerliche übergeht, zu verfolgen und es durch Arbeit der Hände rein und vollkommen darzustellen, ‒ diese Geschicklichkeit allein sichert einer Nation noch nicht die Herrschaft in den Gegenständen der Mode und des Luxus, wenn nicht noch durch größere Vorzüge, oder einen wesentlicheren Einfluß, diese Nation die Augen der andern auf sich gezogen, oder sie sich gewissermaßen unterwürfig gemacht hat. Das hatte die Französische Nation durch ihre Politik, ihre Siege, und durch die Cultur der Wissenschaften gethan; und eben die Ursachen, welche ihre Sprache allgemein machten, haben auch dazu beygetragen, ihre Kleidung, ihre Nippen und ihre Höflichkeitsbezeugungen durch ganz Europa auszubreiten. Vielleicht ist es in dem Fortgange der Dinge nothwendig, daß diese Herrschaft einer Nation über die übrigen wegfalle. Aber alsdann wird höchst wahrscheinlich die Herrschaft der Mode selbst abnehmen. Ihre Blüthe dauert in der Tat nur so [140] lange,| als die Begierde nach Schmuck, Eleganz und Artigkeit zwar allgemein, die Zahl derer aber, die zu Mustern dienen können, noch klein ist. Zu gewissen Zeiten sahen alle modischen Leute aus allen Ländern nach Paris, nach London, oder nach irgend einem solchen fixen und gemeinschaftlichen Puncte hin, von wo aus sie die

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Bestimmung ihrer schwankenden Wahl erwarteten. Und indem die einen erfanden und vorschrieben, die andern sich aufs Nachahmen und Befolgen einschränkten, ward aus dem, was an dem Orte seines Ursprungs nur ein glücklicher Einfall eines guten Kopfs, die augenblickliche Laune einer angesehnen Person, oder die Ausschweifung eines Phantasten war, an fremden Örtern und in entfernten Ländern Gesetz und Regel, weil diese nur unter dem Stempel ausländischer Billigung und Empfehlung das Neue, welches ihnen dargebothen ward, für schön erkannten. Aber wenn nun die Zeit kömmt, ‒ und sie ist vielleicht nicht mehr fern, ‒ wo jede Nation auf Künstler-Genie und Geschmack Anspruch macht, wo jede in ihrem Schooße Arbeiter erzeugt, die ihren Werken die Achtung ihrer Mitbürger, trotz deren eingewurzelten Vorliebe für das Ausländische, zu erwerben wissen: dann wird jede, auch in dem, was schön und galant heißt, Erfinderin zu sein anfan|gen. Wenigstens wer- [141] den sich die Muster der Nachahmung vervielfältigen, und die Möglichkeit der Auswahl unter mehrern, wird die Europäischen Moden von dem Zwange befreyen, von welchem sie bis jetzt eingeengt wurden. ‒ Schon sehen wir seit geraumer Zeit die Englischen und Französischen Sitten sowohl, als ihr Costume, mit einander, bey der galanten Welt der übrigen Nationen wetteifern. Der Deutsche Kunstfleiß und der Deutsche Geschmack treten schon als Rivale von jenen auf: und bald wird der Fortgang der allgemeinen Cultur die Nationen in diesem Puncte wieder dahin bringen, von wo sie zur Zeit der ersten Rohigkeit ausgegangen waren, daß jede sich freyer ihrem Naturell und ihrem Genie überläßt; ‒ daß eine von der andern, in dem Außerwesentlichen ihrer Sitten und Kleidungen, sich mehr unterscheidet, indeß alle, durch eine gleich richtige Beurtheilung des Schönen und Anständigen, in der Hauptsache einander näher kommen. Das, was ich jetzt von Nationen ausgeführt habe, ist auch von Individuen wahr. So lange wenige in einer Nation eignen Geschmack haben, und diese einen entschiedenen Vorzug, oder ein anerkanntes Ansehn in den Angelegenheiten des Schmuckes und des guten Anstandes besitzen: so | richten sich Viele sklavisch nach [142] diesen wenigen, die Sitten werden pedantisch einförmig, die Moden mit einer knechtischen Genauigkeit nachgemacht. ‒ Insbesondre, wenn der Mittelstand in einem Staate, in Erziehung und feiner Geistesbildung, hinter dem höhern zurück ist, ohne daß deshalb seine Eitelkeit, und seine Begierde, den Großen gleich zu glänzen, gemindert sey: so wird die Gesetzgebung der Mode bey dieser Nation ausnehmend heilig, und der Gehorsam gegen ihre Vorschriften strenge seyn. Aber wenn sich dieser reiche Bürgerstand, an Sinn und Erfahrung des Schönen, eben so empor hebt, wie er an Wohlstand gewachsen ist: dann beurtheilen seine Kinder und Zöglinge, jeder für sich selbst, was ihnen wohl oder übel steht, was sie putzt oder entstellt. Der erste Schritt verfeinerter Sitten ist die Nachahmung dessen, was andre für schön halten: der letzte ist die eigne Wahl dessen, was man als schön erkennt. ‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒

84 | 2 Beiträge in Zeitschriften Was nun die Gegenstände betrifft, welche bey gesitteten Nationen, deren Lage und Cultur der gegenwärtigen der Europäer gleich ist, unter die Herrschaft der Mode gehören: so scheinen sie mir unter zwey Hauptclassen gebracht werden zu können. [143] Die Mode regulirt entweder die Sachen, die zur Befriedigung unsrer körperlichen Bedürfnisse dienen, oder die gesellschaftlichen Gebräuche. Jene sind Kleider, Wohnung, Hausgeräthe, Equipage, und alle Arten von Schmuck: diese sind von zweyerlei Art, entweder Übereinkommungen über Zeit, Ort und Form aller der im geselligen Umgange gemeinschaftlich vorzunehmenden Verrichtungen und zu genießenden Vergnügungen; oder es sind die verabredeten Zeichen unsrer Gesinnungen gegen andre. In der ersten Gattung des Modischen giebt es einen höheren Grund der Bestimmung für die Sache, ein älteres Gesetz für ihre Form, von welchem die Mode nicht abweichen darf. Dieser Grund, dieses Gesetz, liegt in der Natur jedes Bedürfnisses, und in der unveränderlichen und ausschließenden Schicklichkeit gewisser Mittel, dasselbe zu befriedigen. ‒ Der Mensch will sich nähren, er will seinen Körper bedecken, ohne an der freyen Bewegung seiner Glieder gehindert zu werden; er verlangt einen Aufenthalt, der vor dem Ungestüm der Witterung geschützt, lichte, gesund, und zu seinen verschiedenen Verrichtungen aptirt sey; ‒ er will sich so gemächlich und so geschwind, als es möglich ist, von einem Orte zum andern bewegen. Jedes [144] Stück des Hausgeräthes bezieht sich auf eine kör|perliche Nothdurft, auf eine Arbeit, oder auf einen Zeitvertreib und eine Art der Erhohlung des Menschen. Alles was uns umgiebt, und was unsre Wohnungen anfüllt und schmückt, sind Werkzeuge: aber nicht Werkzeuge besondrer Künste, sondern des allgemeinen menschlichen Lebens. Hierdurch wird nun für die Veränderungen in allen diesen Gegenständen eine gewisse Gränzlinie gezogen. Die Wahl der Speisen muß innerhalb der Naturproducte stehen bleiben, welche zu Nahrungsmitteln dienen können; ihre Zurichtung muß sich nach der Natur unsers Geschmackssinns, und unsrer Verdauungskraft richten. Stoff und Schnitt der Kleider muß der Gestalt unsers Körpers, seinen Bewegungen und seinen Gefühlen angemessen seyn. Die Materialien und Form unsrer Häuser, ‒ wenn sie durch die wesentliche Natur des Geschöpfs, das darin wohnen soll, weniger bestimmt sind ‒, werden es nach und nach durch die Ausbildung, die der Mensch in jedem Zeitalter und an jedem seiner Wohnorte erhält, und durch die Endzwecke und Verrichtungen, mit welchen er, dieser Ausbildung zu Folge, beschäftigt ist. Aber innerhalb dieser Gränzen, welcher weite Spielraum zu Veränderungen bleibt nicht noch übrig! Erstlich, die Zwecke selbst, wozu wir die Mittel wählen, verändern sich, verviel[145] fältigen sich, werden besser von uns erkannt, oder werden wenigstens anders von uns beurtheilt. Je zärtlicher unsre Leibesbeschaffenheit, je leckrer unser Gaumen wird: desto eckler werden wir in der Wahl unsrer Speisen, und desto sorgfältiger und erfinderischer in der Zurichtung derselben. Ein rauheres Klima oder ein weniger abgehärteter Körper erfordert eine andre Art der Bekleidung. Der active und beweg-

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liche Abendländer mußte seinen Kleidern, in denen er ungehinderte Freyheit seiner Hände und Füße verlangte, einen andern Schnitt geben, als sie bey dem Morgenländer hatten, der die Ruhe und das Stillesitzen liebt. Unsre Häuser müssen eine neue Einrichtung bekommen, so wie unsre Lebensart sich verändert, wozu sie uns Raum und Bequemlichkeit gewähren sollen. Jedes neue Geschäft, jeder neu erfundne Zeitvertreib bringt einen neuen Hausrath in unser Zimmer. Wie leer sieht es in den Häusern eines Volks aus, das, wie die Türken, weder das Studiren, noch die gesellschaftlichen Zeitvertreibe liebt, zwey Dinge, die bey den gesitteten Ständen der übrigen Europäer ein unaufhörliches Anschaffen neuer Hülfsmittel und Werkzeuge erfordern. Ferner, bey ganz unveränderten Endzwecken ist doch ihre Erreichung durch [146] mehrere Mittel möglich. Das platte und das erhobne Dach schützen auf gleiche Weise vor Regen und Schnee. Die Gestalt des Menschen läßt es unbestimmt, ob sein ganzer Körper in ein gemeinschaftliches Gewand von Kopf bis zu Füssen eingehüllt werden, oder ob jedes Glied seine eigne abgesonderte Bekleidung bekommen soll. ‒ Welche unendliche Mannichfaltigkeit von Nahrungsmitteln läßt sich unser Magen gefallen, und findet unser Körper zu seiner Stärkung geschickt? Auch zu denselben Verrichtungen können Geräthschaften von ganz verschiedner Structur dienen. Aber nun kömmt noch ein dritter, und fast der Hauptgrund unsrer Veränderlichkeit, in den zur Befriedigung unsrer Bedürfnisse gewählten Mitteln, hinzu: dies ist das Vergnügen, welches wir an Schönheit finden, und die Begierde, welche wir haben, durch schöne Sachen andern zu gefallen. Wir wenden nähmlich bey allem, was wir thun, bey jedem Genusse, den wir uns vorbereiten, einen Theil unserer Aufmerksamkeit auf die bloße Ausschmückung der Sache: theils um uns selbst einen angenehmen Anblick zu verschaffen, theils um uns den Beyfall, oder die Bewunderung andrer zu erwerben. Der Aufwand oder die Bemühung, welche erfordert | wird, die Zimmer, wo wir unsre Freunde aufnehmen, und die Tafel, an welcher [147] wir sie bewirthen, geschmackvoll auszuputzen, ist weit größer, als das, was uns die Anschaffung der Nahrungsmittel kostet, mit welchen wir diese unsre Freunde sättigen, oder die Veranstaltung der Vergnügungen, mit welchen wir sie unterhalten. Hier ist nun das eigentliche Gebieth der Mode. Diese arbeitet und wählt vornehmlich für die Augen. Die andern Sinne sind eigensinniger und ziehn den Menschen mit einer Art von Gewalt zu dem hin, was ihnen schmeichelt, oder wenden ihn von dem ab, was ihnen zuwider ist. Was uns gut oder übel schmecken soll, welche Gefühle rauh oder sanft, ‒ welche Töne wohl- oder übelklingend seyn sollen, wird durch eine instinctartige Nothwendigkeit bestimmt. Und wo weniger Beurtheilung und Wahl statt findet: da hat auch die Nachahmung weniger Einfluß. Zwar können wir uns Speisen, die uns Anfangs zuwider waren, zu essen zwingen, weil wir sehn, daß sie andern wohlschmecken, und können sie endlich durch die Gewohnheit gut finden. So sind auch, bis auf einen gewissen Grad, unsere Gefühls- und unsre Gehör-Empfindungen durch Beyspiel, Nachahmung und Vorsatz veränderlich. ‒ Aber ganz vorzüglich ist es der Sinn des Gesichts, welchen die Natur der | Willkühr und [148]

86 | 2 Beiträge in Zeitschriften dem freyen Willen des Menschen unterworfen hat. Die Augen lassen sich unendlich vielerley Anblicke gefallen; sie gewöhnen sich an ganz verschiedne Gestalten, und können, nach längerer Betrachtung, oft dasjenige schön finden, was sie, bey dem ersten darauf geworfnen Blicke, mit Gleichgültigkeit oder gar mit Widerwillen ansahen. Eben deswegen hat auch das Beyspiel über sie eine größre Gewalt. Wir sehen ein Gemählde, das uns anfangs wenig an sich zog, wenn wir hören, daß es ein geschätztes Werk eines großen Meisters ist, von neuem an, und finden endlich seine Schönheit, oder überreden uns wenigstens dessen. Auf eben die Weise nehmen die Leute nach der Mode sich vor, Gefallen an den Farben, Kleidungen und Meubeln zu finden, die aus Frankreich oder aus der Hauptstadt kommen: und es gelingt ihnen. Die wahre Ursache, warum wir bey den Empfindungen des Gesichts mehr, als bey den Empfindungen andrer Sinnen, durch unsern Vorsatz unser Vergnügen oder Mißvergnügen bestimmen können, ist, weil wir bey ihnen durch unsre Aufmerksamkeit unsre Vorstellungen mehr zu leiten und abzuändern vermögen. Und die Aufmerksamkeit hat deswegen bey ihnen mehr Einfluß, weil die Gegenstände des Ge[149] sichts länger und ununterbrochner | unsrer Betrachtung ausgesetzt sind, als die Gegenstände andrer Sinne. Töne gehen schnell vorüber; unsre Zunge schmeckt nicht länger, als sie von der Speise berührt wird: aber Gestalten und Farben schweben fortdauernd vor unsern Augen, wir können so lange bey ihnen verweilen und so oft zu ihnen zurückkehren, als wir wollen. Eben deswegen können wir auch mehrere Seiten von ihnen erforschen, können einen Theil von ihnen nach dem andern in Betrachtung ziehn. Und so wird es möglich, daß wir nach und nach Sachen in ihnen entdecken, die wir anfangs nicht wahrnahmen, daß wir die ersten Eindrücke, die uns mißfielen, durch neue angenehme verdunkeln, ‒ und überhaupt unsre undeutlichen Vorstellungen durch das Urtheil unsers Verstandes abändern. Zu dieser Ursache gesellt sich die Sanftheit, mit welcher beym Sehen, das äußere Object, oder die Lichtstrahlen, welche es uns zuwirft, das Werkzeug unsrer Empfindung berühren: wodurch es also dem wahrnehmenden und auf den empfangnen Stoff gleichsam zurückwirkenden Geiste desto leichter wird, seine eigne Kraft mit voller Energie zu äußern. Je geringer in der Mischung von leidenden und thätigen Veränderungen, die bey jeder Empfindung vereiniget sind, der Antheil der [150] erstern ist, desto aus|gebreiteter und mannichfaltiger werden die letztern. Ein heftiges körperliches Gefühl überwältigt die Seele, und läßt sie wenig urtheilen: in diesem Falle bleibt also die Stimmung des Gemüths, weil sie vom Gefühl allein abhängt, eben so einfach als unabänderlich. Aber wo jenes Gefühl schwach, zart und fast unmerklich ist, wie bey den Gesichts-Eindrücken: da hat das Nachdenken freyeres Spiel, und Einbildungskraft und Verstand thun in der Wirkung des Ganzen weit mehr von dem Ihrigen hinzu. Was nun auch die Ursache sey, so ist der Erfolg gewiß. Unser Urtheil über Schönheit, und also auch über das, was schmückt und putzt, ist weniger instinctartig, und kann daher öfter bey den scharfsinnigen und erfinderischen Menschen

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durch neue Betrachtungen und gewählte Gesichtspuncte, bey den trägern durch Nachahmung und allmählige Angewöhnung abgeändert werden. Und wenn dies von der Schönheit der Formen überhaupt wahr ist, so ist es noch mehr von denjenigen Formen wahr, welche allein die Mode regulirt. Ohne uns in den langen und noch nicht ganz geendigten Streit über die Natur der Schönheit einzulassen; ohne insbesondre die schwerste Frage bey | demselben [151] zu beantworten, ob bloß eine gewisse Form, ohne Rücksicht auf die Natur und den Endzweck des Dinges, die Schönheit oder Häßlichkeit desselben bestimme, oder ob der Begriff von der Natur des Dinges vorausgehe, und dem Urtheil über dessen Gestalt zum Grunde liege, ‒ können wir doch mit Gewißheit einen Unterschied zwischen einer mehr und einer weniger veränderlichen Art der Schönheit annehmen. Wir sehen, daß Dinge, deren Natur für uns zum voraus bestimmt ist, auch nur durch Eine bestimmte Form gefallen können; diejenigen hingegen, die wir entweder selbst erst bilden, oder deren Wesen wir nur durch einen allgemeinen Begriff bestimmen, unter den wir sie fassen, auch uns, unter weit verschiednern und weiter von einander abgehenden Formen, gefallen können. Nur wenige und nur die edelsten ihrer Producte hat die Natur selbst classificirt: und diesen hat sie auch einen von unsrer Einbildungskraft unabhängigen Charakter der Schönheit gegeben. Die übrigen theilen wir in Geschlechter und Arten, indem wir sie unter gewissen Gesichtspuncten vergleichen: oder wir sondern selbst erst die Geschlechter und Arten derselben ab, indem wir sie nach Idealen unserer Einbildungskraft in neue Gestalten umformen. Diese beyden letztern, so wie ihr Be|griff und ihr Wesen von unserm [152] Verstande abhängiger ist, nehmen auch die Eigenschaften des Schönen und Häßlichen mehr von unsern Neigungen, unsrer Gemüthsstimmung, und der Richtung unsers Begehrungsvermögens an. Unter den Dingen der ersten Art steht der Mensch oben an; ihm folgen die Geschlechter der Thiere, und in einiger Entfernung die Gattungen und Arten der Pflanzen: welche alle die Natur mit einem so ausdrückenden Stempel, bezeichnet hat, daß wir weder verlegen seyn können, wie wir sie ordnen, noch ungewiß, wann wir sie für schön oder häßlich halten sollen. Was sich in der Natur diesen beyden Reichen, dem Thier- und Pflanzenreiche, nähert, was in der Kunst sie nachbildet, hat nach eben dem Maße festere und weniger abänderliche Regeln der Schönheit. Aber nun kömmt ein weites unabsehbares Gebieth von Formen, die mit keinem bestimmten Begriffe verknüpft, an keine, durch eigenthümlichen Bau und stets ähnliche Fortpflanzung, sich auszeichnende Natur gebunden sind. ‒ Alle Zusammensetzungen der menschlichen Kunst, die nicht Abbildungen jener zuvor genannten Naturproducte sind, gehören sämtlich zu dieser Classe. In ihnen herrscht zwar ebenfalls ein Gesetz der Schönheit: es giebt einen gewissen Geschmack, der, wie Kant | sagt, ohne seine Beweise führen zu können, doch seine [153] Ansprüche auf die Einstimmung aller gebildeten Menschen geltend macht. Aber weil dieses Gesetz seine Vorschriften, weil dieser Geschmack seine Ansprüche nur auf Übereinstimmungen des Dinges, es sey mit unsern sinnlichen Organen, es sey mit den Fähigkeiten und Anlagen unsers Geistes, gründet: so werden beyde eben so

88 | 2 Beiträge in Zeitschriften oft und auf eben die Art sich verändern können, als die Beschaffenheit unsrer Sinne, und als die Handlungsweise unsers Geistes sich ändert. Jedesmal gefällt uns, ich will es zugeben, selbst in den willkührlichsten und am wenigsten bedeutenden Formen der Verzierungen, (dergleichen die Arabesken sind), nur das, was durch seinen Anblick den Verstand, verbunden mit der Einbildungskraft, in das beyden Fähigkeiten angemessenste Spiel setzt. Aber diese Fähigkeiten selbst haben eine gewisse Gewandheit. Sie können sich in die Formen der Gegenstände gleichsam schicken, sie können durch deren längere Betrachtung etwas denselben Analoges annehmen. Das, was ihnen anfangs schwer begreiflich war, wird ihnen in der Folge geläufig. Formen, deren Anblick im Anfang sie verwirrte, sind in der Folge vielleicht gerade nur hinlänglich, sie zu beschäftigen. In jenem Falle mißfielen ihnen diese [154] Gestalten, als abweichend von | den Regeln ihrer Natur, in diesem gewinnen sie Geschmack an denselben. Vielleicht wäre man durch diese Reflexionen berechtigt, die objective Schönheit von der subjectiven zu unterscheiden. Jene, die bey den Menschen- und Thier-Gestalten vornehmlich ihren Sitz hat, läßt eine Vereinigung von zwey Principien der Schönheit muthmaßen, wovon das eine in der vor unsrer Betrachtung völlig bestimmten Natur und Bildung des Dinges, das andre in der Natur und den Gesetzen unsers betrachtenden Verstandes liegt. Diese, die wir besonders bey allen unsern eignen Fabricaten, vorzüglich bei den zum Schmuck unsrer Personen und unsrer Wohnplätze bestimmten, antreffen, würden dann vornehmlich das Verhältniß unsers Geistes zu den Formen der Gegenstände zum Grunde haben. Da aber dieses Verhältniß, eben durch die Application unsers Geistes selbst sich ändern kann, es sey, wenn dieselbe länger dauert, es sey, wenn sie eine andre Richtung bekömmt: so wird das Urtheil über die darauf gebaute Schönheit abwechseln können, ohne absolut falsch zu werden. ‒ Und nun bemächtigt sich also die Mode dieses noch unbestimmten Geschmacks an Schönheit, der, indem er immer den angenehmsten Ein[155] druck sucht, ihn aber nicht durch fixe Regeln bestimmt findet, sich leichter | durch das Beyspiel und die Gewohnheit mit fortreißen, und durch die Übereinstimmung Vieler auf eine Zeit lang bestimmen läßt. Mode wird demnach in Dingen nicht stattfinden, oder wenig Veränderungen leiden, die gar keiner Schönheit empfänglich sind, und bey welchen der Nutzen oder die Wahrheit ganz allein ohne Rücksicht auf den Geschmack gebiethet. Sie wird gleichfalls ausgeschlossen seyn von Dingen, die eine innere, absolute und in ihrer Natur gegründete Schönheit besitzen, ‒ welches, beyläufig zu sagen, immer zugleich diejenigen sind, welchen eine gewisse Würde zukömmt. Aber in dem ganzen weiten Gebiethe von solchen Gegenständen der Natur, und noch mehr der Kunst, wird sie herrschen, bey welchen der Mensch, vermöge seines innern Triebs nach Vollkommenheit, oder vermöge des Wunsches zu gefallen, Schönheit sucht, aber von ihr keine ganz deutlichen und unwandelbaren Begriffe auffinden kann. Hier wird er alles zu Hülfe nehmen, was seine Wahl nur immer bestimmen und was ihm den Beyfall andrer zusichern kann. Und so wie, bey der wesentlichern Schön-

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heit, die richtige Empfindung des Mannes von Geschmack zugleich die Übereinstimmung der übrigen Menschen fordert, und, wenn kein Mißverstand obwaltet, erhält: so wird bey diesen zu|fälligen Schönheiten, die Einhelligkeit Vieler selbst für eine [156] Regel des Geschmacks gelten, und die Empfindung sich, in der Beurtheilung der Formen, dem Beispiele und der Gewohnheit der Menge oder der Angesehenern unterwerfen. Moden geben aber nicht bloß den Sachen ihre Form, mit welchen wir angethan oder umgeben sind, sondern sie reguliren auch gewisse unsrer Handlungen. Das ist die zweyte Hauptgattung der Moden, welche auch mit dem Nahmen der Gebräuche bezeichnet werden. Diese theile ich wieder in zwey Unterarten ab. Wenn nähmlich die Menschen in Gesellschaft leben, so entstehen von selbst gewisse stillschweigende Verträge unter ihnen, wie sie die Sachen, die sie gemeinschaftlich vorzunehmen haben, auch gleichförmig thun wollen: andre Verabredungen werden vorsätzlich und mit Bedacht zum Besten der Gesellschaft gemacht. Eine zweyte, noch wichtigere Wirkung der Gesellschaft, und zugleich ein noch notwendigeres Hülfsmittel, die errichtete Gesellschaft aufrecht zu erhalten und zu vervollkommnen, ist, daß die Menschen eine Sprache unter sich einführen, wodurch sie sich einander die Gedanken und die Gesinnungen mittheilen, die, den Endzweck der Verbindung zu erreichen,| ein Mensch von dem andern erfahren muß. In der [157] besondern und engern Art der Verbindung, die wir den gesellschaftlichen Umgang nennen, der eigentlich zur Erhohlung bestimmt, aber bey den cultivierten Völkern des neuern Europa eine wichtige Angelegenheit des Lebens, für einen großen Teil, und vornehmlich für die höhern Classen der Menschen geworden ist, haben sich natürlicher Weise beyde Sachen gleichfalls eingefunden, Conventionen ‒, und eine eigne Sprache des Umgangs. Jene sind vornehmlich bestimmt, die Zeit, die Art und Weise, und die Folge der gesellschaftlichen Zeitvertreibe, die Ordnung und äußern Veranstaltungen bey den gesellschaftlichen Zusammenkünften zu reguliren: diese besteht aus allen den Formeln und Gebräuchen der Politesse, welche im Grunde nichts anders als Zeichen sind, wodurch Menschen, die mit einander umgehn, sich wechselsweise die Gesinnungen allgemeiner Liebe oder einer besondern Achtung, nach den Verhältnissen des Verdienstes oder des Standes, ausdrücken wollen. ‒ Beyde aber, jene gesellschaftlichen Gebräuche, und diese Sprache der Höflichkeit, da sie kleinere und veränderlichere Gegenstände betreffen, als die Conventionen des bürgerlichen und Geschäftslebens, oder als die eigentliche | Sprache, welche die [158] Mittheilung unsrer sämmtlichen Ideen zur Absicht hat; ‒ da sie zugleich zum Umgange, d. h. zu demjenigen Theile des menschlichen Lebens gehören, bey welchem man am meisten Schmuck und Anstand sucht, und nach dem Wohlgefallen andrer strebt, ‒ sind auch, unter verschiedenen Nationen sowohl, als in verschiedenen Zeiten, einer so großen Mannichfaltigkeit fähig; sie werden durch Beyspiel und Nachahmung, während gewisser Perioden, so gleichförmig bestimmt, und in auf einander folgenden Epochen so gleichförmig abgewechselt: daß sie mit Recht unter

90 | 2 Beiträge in Zeitschriften dem allgemeinen Nahmen der Moden begriffen werden und die Natur derselben annehmen. Beyspiele von jenen Conventionen sind folgende. Daß an dem einen Orte ein Fremder, der ihn zum ersten mahle besucht, und Bekannte darinn hat, nach seiner Anmeldung die Besuche derselben zuerst empfängt, an einem andern sie zuerst machen muß; daß zu der einen Zeit, unter der einen Classe, dieser Besuch nothwendig in Person gemacht und nicht ohne Unhöflichkeit versagt werden kann, in der andern eine mit dem Nahmen des Besuchers beschriebne und abgegebne Charte die [159] Stelle des Besuches vertritt; daß die Höflich|keit der alten griechischen Heldenzeit, wie wir aus dem Homer sehen, erforderte, daß der Wirth nicht eher nach dem Namen und Stande eines ihn besuchenden Fremden fragte, als bis er ihn gesättigt hatte, dahingegen bey uns schlechterdings der Besuch, welcher den Fremden bekannt macht, vor der Ausübung der Gastfreyheit gegen ihn vorhergehn muß; ‒ daß die Gesellschaften, in unsern großen Städten, des Abends ungefähr um dieselbe Stunde zusammenkommen; daß diese und keine andre Erfrischungen gegeben werden; daß die Zeit, die man der Unterredung, und die, welche man dem Spiele oder anderm Zeitvertreibe widmet, bestimmt ist, daß jedesmal und in jedem Orte gewisse Spiele und Zeitvertreibe herrschen, und selbst nach den Tages- und Jahreszeiten vertheilt sind; daß in der ganzen Art der Bewirthung, der Folge der Gerichte, der Anordnung der Speisen, in allen Häusern von guter Lebensart ungefähr dieselbe Regel beobachtet wird: das gehört unstreitig unter die Moden; aber es sind Moden für Handlungen, nicht für Sachen; es sind Arten von stillschweigenden Verträgen, welche die von allen wahrgenommene Bequemlichkeit veranlasset, ‒ oder es sind [160] Nachahmungen eines Beyspiels, welche das Ansehn der Person, die es gab,| allgemein gemacht hat. ‒ An dem einen Orte, in dem einen Jahre sind in der artigen Welt die Dejeuners, und in einem andern die Nachmittags-Collationen in Gebrauche. Von jeder solcher Zusammenkünfte ordnet die Mode nicht nur die Zeit, sondern auch die Art der Bewirthung und der Zeitvertreibe an, durch welche sie sich unterscheiden soll. In den großen Hauptstädten verbinden sich die öffentlichen Lustbarkeiten, des Schauspiels, der Opern, der öffentlichen Spaziergänge mit den Privat-Unterhaltungen: und die Mode ist es wieder, die alle diese Mannigfaltigkeit von Zerstreuungen in eine gewisse Ordnung bringt, und den Leuten, die nichts anders zu thun haben, vorschreibt, in welcher Jahres- und Tageszeit sie an jedem Orte erscheinen müssen, um sich allenthalben mit der so genannten guten Gesellschaft zusammen zu finden. Die zweyte Art der modischen Handlungen sind die Höflichkeitsbezeugungen, die, wenn sie durch Worte geschehn, Complimente heissen, und für welche das Gesetzbuch bald mehr bald weniger weitläuftig, aber immer nach den Örtern, Ländern und Nationen verschieden, ‒ von Zeit zu Zeit veränderlich, in jeder einzelnen Nation und Epoche hingegen bestimmt und entscheidend ist. [161] Schon lange haben die Moralisten wahrgenommen, daß, was wir allgemeine Höflichkeit nennen, nichts anders, als der Ausdruck der allgemeinen Menschen-

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liebe, oder derjenigen Gesinnungen sey, die wir gegen alle Menschen zu haben für Schuldigkeit erachten; daß zur Höflichkeit im engern Verstande die Beobachtung der verschiedenen Verhältnisse gehöre, in welchen wir gegen andre, als unsers Gleichen, als Höhere oder Niedere, nach allen Verschiedenheiten des Ranges, des Amtes und des Alters stehen; daß die Höflichkeit nur darauf abziele, nicht anzustoßen, nicht zu mißfallen, die Artigkeit aber noch einen Schritt weiter gehe, und auch gefallen wolle, welches nicht anders, als durch Beweise oder Äußerungen liebenswürdiger Eigenschaften des Verstandes und Herzens geschehn kann, besonders derer, die sich durch Aufmerksamkeit und Dienstfertigkeit gegen andre zeigen. Höflichkeit und Artigkeit bestehen also in den schicklichsten, und auch für den sinnlichen Anblick gefälligsten Ausdrücken derjenigen Gesinnungen gegen andre, die wir ihnen, als Menschen und Bürgern, schuldig sind, oder die sie wenigstens bey uns zu finden wünschen. Es sind Zeichen von geselligen Eigenschaften und Tugenden, welche bey uns vorausgesetzt werden und daraus erkannt werden sollen. In allen Arten von Zeichen aber ist etwas, welches sich auf die Natur der be- [162] zeichneten Sachen gründet, und etwas ist in ihnen willkührlich und blos die Sache einer Verabredung. ‒ Über die Geberdensprache der Höflichkeit, und ihren Zusammenhang mit den Gesinnungen, welche sie ausdrückt, hat Engel in seiner Mimik einige vortreffliche Anmerkungen gemacht. Eine ähnliche Beziehung findet sich bey allen Reden und Handlungen, die als höflich gefordert, oder als artig gelobt werden. Es sind entweder solche, die geradezu Liebe, Achtung oder Ehrerbietung anzeigen, und zwar in eben dem Maße, auch wohl in einem etwas größern, als der Mann, welcher der Gegenstand davon ist, die eine oder die andre dieser Gesinnungen von uns zu fordern berechtigt ist; ‒ oder es sind kleine Dienstleistungen, und Bezeugungen der Bereitwilligkeit, mit welcher wir ähnliche thun würden; ‒ oder es sind Zeichen der Aufmerksamkeit, die wir auf das Leben, die angenehmen und widrigen Vorfälle, das Interesse und die Ergötzlichkeiten unsrer Bekannten wenden; ‒ oder endlich, es sind feine Methoden, alles Unangenehme oder Auffallende von den Augen und Ohren der Gesellschaft, in der wir sind, zu entfernen, und hingegen alle Gegenstände, die ihnen vorzüglich wichtig, oder für sie ehrenvoll, oder | ihnen auf [163] irgend eine Art angenehm sind, auf eine natürliche Weise herbeyzuführen und ins Licht zu stellen. ‒ Alles das ist Natur, nicht Gebrauch und Mode. Indeß findet sich in den Formen der Handlungen und Reden, welche die jetzt angezeigten Absichten haben, eine so große Verschiedenheit bey verschiedenen Nationen, finden sich so große Abänderungen, wenn wir in entfernten Perioden eine Nation mit sich selbst vergleichen; daß wir wohl sehen, zufällige Ursachen müssen auf die Bestimmung dieser Formen Einfluß haben: so wie wir auf der andern Seite aus der Einförmigkeit, mit welcher zu einer und derselben Zeit die Menschen ganzer Länder und Erdstriche, oft in den willkührlichsten Stücken jener Formen, übereinstimmen, erkennen, daß das allgemeine Principium der Mode, der Nachahmungstrieb Vieler, und das Ansehn des Beyspiels Einiger, auch hier das Unbestimmte fixirt habe.

92 | 2 Beiträge in Zeitschriften Wir Männer im christlichen Europa entblößen das Haupt, wenn wir andern unsre Ehrerbiethung bezeugen wollen. Das Bedeutende in diesem Zeichen ist nicht schwer zu finden. Das entblößte Haupt nimmt dem Manne das ernsthafte, martialische Ansehn, welches uns die Bedeckung desselben giebt. Überdies stellen wir uns [164] [da]durch demjenigen gleich|sam schutz- und wehrlos dar, den wir über uns setzen. Dieser Zusammenhang ist dessen ungeachtet nicht so deutlich, noch so wesentlich, daß nicht ein andrer Gesichtspunct, in welchem andre Völker die Sache faßten, sie auf eine entgegengesetzte Art, ihre Höflichkeit zu bezeugen, hätte führen können. In der That bedecken die Orientaler ihr Haupt vor dem, welchem sie Achtung beweisen wollen. Ohne Zweifel, glauben sie das, was sie für das wichtigste Stück der Kleidung halten, weil es den edelsten Theil des Körpers bedeckt, am wenigsten dann weglassen zu können, wenn das Ansehn der Person, vor welcher sie erscheinen, fordert, daß sie ihren vollständigen Schmuck anlegen. Der Vorzug der rechten Hand vor der linken, und einer gewissen Stelle an der Tafel vor den übrigen; ‒ die verschiedenen Verbeugungen jedes Geschlechts, die Titel, durch die wir im Umgange die verschiedenen Stände unterscheiden, die mannichfaltigen Arten mündlicher und schriftlicher Begrüßung; und alles, was wir unter dem Nahmen der Complimente begreifen, gehört unter den Artikel, von dem ich handle. Unter diesen Sachen, ob sie gleich alle, so wie andre Gebräuche, von der Willkühr, die sie eingeführt hat, auch in ihrer Dauer abhängig bleiben, sind doch einige [165] den Veränderungen weit weniger,| als andre unterworfen, oder schreiten auf der Bahn ihrer Abwechselungen weit langsamer fort. So ist z. B. die Geberdensprache der Höflichkeit, die wir jetzt in Europa brauchen, sehr alt, und scheint vor merklichen Änderungen noch sehr lange sicher zu seyn. Das blos sinnliche und körperliche Ceremoniel des Umgangs ist aus eben den Ursachen beständiger, als die wörtlichen und deutlichen Ausdrucks-Arten desselben, um welcher willen auch die gottesdienstlichen Gebräuche länger dauern, als die eigenthümlichen Dogmen, oder Sitten der Religionspartheyen. Je weniger man, zur Einführung einer Sache, durch deutliche Begriffe bestimmt wird: desto weniger und desto später reflectirt man auch hintendrein darüber, nachdem sie einmahl eingeführt ist. Gewohnheiten, die mehr den Körper als den Geist beschäftigen, werden mechanisch, und setzen sich eben deswegen desto fester. Solche Conventionen mögen im Anfange größere Schwierigkeiten finden, ehe sie allgemein eingeführt werden, weil die Gründe, warum sie angenommen werden sollen, nicht einleuchten: aber nachdem sie einmahl herrschend geworden sind, wird es eben so schwer, sie abzuschaffen, weil alle eine große Bequemlichkeit darin finden, in diesen Nebensachen der Gewohnheit [166] blindlings folgen zu können; weil der Vernünf|tige gar nicht mehr sein Nachdenken damit beschäftigt, und der thörichte Neuerer selten Nachahmer genug findet, um eine Revolution zu bewirken. Titel hingegen, Complimente, alle diejenigen modischen Höflichkeitsbezeugungen, welche deutlicher unsre Verhältnisse gegen andre, oder die denselben gemäße Gesinnungen ausdrücken; die, bey welchen man sich immer, so oft man sie wieder-

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hohlt, des Endzwecks und der Bedeutung bewußt bleibt: diese werden auch öfter von neuem in Untersuchung gezogen, und leiden von Zeit zu Zeit Reformen oder Einschränkungen. Eine allgemeine Bemerkung, in Absicht dieses ganzen zweyten Hauptzweiges des Modischen, oder der Gewohnheiten, ist diese. Je zahlreicher und zusammengedrängter, und je verfeinerter zugleich dadurch die Gesellschaft wird; je mehr der Luxus und der Hang zu Vergnügungen zugleich mit dem Geschmacke und der Wissenschaft in denselben steigt: desto mannigfaltiger werden die Anordnungen und Conventionen, nach welchen Zeit, Form und Methode der gesellschaftlichen Verrichtungen und Zeitvertreibe bestimmt werden: ‒ desto einfacher hingegen, freyer, und geringer an der Zahl werden die Formen der Höflichkeit. Die Ursache ist klar. Da, wo viele Menschen sehr häufig zusammenkommen, [167] und durch Reichthum und Muße in den Stand gesetzt werden, ihre meiste Zeit dem Vergnügen zu widmen: da wird nachgesonnen, wie man am meisten in der kürzesten Zeit genießen könne. Überdies ist eine Regel der Ordnung um so viel nothwendiger, je eine größere Anzahl von Personen sich in gemeinschaftlichen Beschäftigungen vereinigen will. Endlich bey den beständigen Wiederholungen derselben gesellschaftlichen Auftritte werden Gewohnheiten eingeführt, theils, damit man sich die Mühe der Wahl erspare, theils, weil man nach und nach einsehn lernt, was das bequemste und beste sey. Daher sind es die großen Hauptstädte von Europa, und besonders ist es die vornehme Welt in denselben, wo diese Conventionen si[ch] am meisten vervielfältigen und am vollkommensten aufs Reine gebracht werden. Der Zusammenfluß von Menschen und die Menge sowohl der öffentlichen Ergötzlichkeiten, als der Kreise des Umgangs in den ersten, die beständige und ernsthafte Beschäftigung der andern, mit den gesellschaftlichen Zusammenkünften macht, daß dort die Nothwendigkeit entsteht, gewisse Regeln zu machen, und hier nach und nach die Einsicht erworben wird, welche Regeln dem geselligen Ver|gnügen die [168] angemessensten sind. ‒ In Paris hatte sonst, (denn bey der gänzlichen Umkehrung aller Dinge werden unstreitig die Moden, und vielleicht selbst der Charakter, welcher sie bestimmte, nicht mehr die alten bleiben) jede Jahreszeit ihre besondern Spatziergänge, so wie ihre besondere Kleidung. In diesem Monathe war die schöne Welt in den Thuillerieen, in einem andern im Garten von Luxemburg. Die Kirchen wie die Theater wurden zu bestimmten Tagen besucht. Die Bezeigungen der Höflichkeit hingegen müssen in einer Gesellschaft, wie die der großen Welt ist, deren Glieder unter einander fast gleich und dabey zahlreich sind, einfach werden. Schon die Menge derer, welchen man seine Höflichkeit bezeigen will, macht es nothwendig, daß man gegen jeden kurz sei. Nur in kleinen Gesellschaften kann das Beschwerliche und Lächerliche, das mit langen Komplimenten verbunden ist, verborgen bleiben. ‒ Ferner sind es die vielerley Unterordnungen und Abtheilungen des Ranges, welche das Gesetzbuch der Höflichkeit weitläuftig machen, sobald man es als Pflicht ansieht, dieselben im Umgange immer auf eine merkliche Weise zu respectiren. In der großen Welt sehen die meisten Personen, die

94 | 2 Beiträge in Zeitschriften dazu gehören, sich der Geburt nach ungefähr für gleich an: und | die, welche es nicht sind, werden, indem sie in dieselbe Zutritt erhalten, über ihren bürgerlichen Stand erhoben. Überdies lernen die Menschen, durch den Umgang selbst, die Hindernisse der Geselligkeit kennen und vermeiden, worunter die immerwährende Rücksicht, auf jede kleine Verschiedenheit des Ranges unter den Gesellschaftern eines der beschwerlichsten ist. Daher kömmt es, daß, in den obersten Kreisen der am meisten verfeinerten Nationen die Menschen endlich anfangen, einander mehr als bloße Menschen anzusehen, und, diesem Verhältnisse zufolge, alle andre Ausdrücke, als die der allgemeinsten Hochachtung weglassen, oder äußerst abkürzen. Sogar diejenigen wesentlichern Beziehungen, nach welchen man die eine Person besonders schätzt, eine andre zärtlicher liebt, werden dort bey Seite gesetzt, oder geflissentlich verborgen, und alle Glieder vereinigen sich durch kalte, aber gleiche Äußerungen einer bürgerlichen Achtung gegen einander. Dies alles verkürzt und vereinfacht die conventionellen Regeln, die unter dem Namen der Complimente den letzten Zweig des Modischen ausmachten. Nirgends bekommen diese Zeichen des Ranges und der Achtung, verbunden mit [170] der Anordnung der Gesellschaft, einen größern Umfang, eine fixere | Bestimmung, und eine höhere Wichtigkeit, als an den Höfen, wo sie unter dem Nahmen der Etiquette zugleich ein Gegenstand des Rechts geworden sind, worüber ernsthafte Streitigkeiten vor den ehrwürdigsten Tribunälen geführt werden, und ein Gegenstand einer Wissenschaft, welche man eines weitläuftigen Studiums würdig schätzt. ‒ Die Hoheit der Personen ist es nicht allein, die hier den Kleinigkeiten einen Glanz giebt, und Thorheiten, die wir bey Geringern verlachen, in unsern Augen ehrwürdig macht: sondern es giebt auch eine reelle Ursache, warum bey Personen, welche die Regierung eines Staats führen, oder an derselben mehr oder weniger Theil nehmen, die Bestimmung des Rangs der einen, und die Art, wie die andern ihn anerkennen sollen, ‒ besonders bey öffentlichen Gelegenheiten, wo das Volk Zuschauer und Theilnehmer ist, ‒ eine größre Aufmerksamkeit verdient, als bey Privatpersonen, die, ohne Auctorität, bloß Achtung in der Welt zu fordern haben und genießen. Die Etiquette, welche jene Rangordnung, und alle darauf sich beziehenden Höflichkeitsbezeugungen regulirt, hängt mit der Organisation des Staats, mit der Vertheilung der Macht, mit der Würde und dem politischen Einflusse der verschiednen Stände [171] und Ämter zusammen, oder scheint wenigstens da|mit zusammenzuhängen. Wenn die Ducs et Pairs in Frankreich sich versammelten, um gemeinschaftlich das ausschließende Recht ihrer Gemahlinnen, auf einem Tabouret vor der Königin zu sitzen, gegen eine neu errichtete Hofstelle, mit welcher der König die nähmliche Ehre verbinden wollte, zu vertheidigen; so hatten sie das Ansehn, gewissermaßen die Constitution des Staats aufrecht zu erhalten, von der die Vorrechte der Pairschaft, der obersten Classe der Nation, und eines integrirenden Theils des Parlaments, einen wichtigen Artikel auszumachen schienen. Eine gleiche Ursache hat die Etiquette der verschiedenen Höfe gegen einander, auf den Zusammenkünften ihrer Gesandten, so weitläuftig und so pünctlich gemacht. Durch sie sind alle die unseli-

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gen Rangstreitigkeiten entschuldiget worden, welche oft die wichtigsten Angelegenheiten verzögert, die Kriege verlängert, und Bündnisse rückgängig gemacht haben. Unter Unabhängigen nämlich scheint es, bey der Aufrechterhaltung und Ausübung eines Rechts, sehr auf die Achtung anzukommen, welche man von Seiten derjenigen genießt, gegen die man seine Rechte zu behaupten hat. Die Zeichen dieser Achtung, so frivol sie an sich seyn mögen, sind nicht mehr gleichgültig, so bald das dadurch ertheilte | oder von andern anerkannte Ansehn etwas zur Macht beyträgt, und Macht [172] zur Sicherheit nothwendig ist. ‒ Dieß ist in der That die Beschaffenheit der Dinge, ‒ besonders in Zeiten, wo der große Haufen der Menschen noch ganz sinnlich, nur durch den äußern Glanz zur Verehrung gewisser Personen bestimmt, nur durch sichtbare Zeichen ihres Vorzugs zur Respectirung ihres gesetzlichen Ansehns bewogen werden kann. ‒ Es ist indeß den Zeiten der Aufklärung und einer mehr angebauten Vernunft vorbehalten, das Überflüßige und Ausschweifende in dieser Etiquette, an den Höfen, und der Höfe gegeneinander, welches die Eitelkeit der Menschen, nicht die Nothwendigkeit der Geschäfte, noch die Natur der Verhältnisse, hervorgebracht hat, von demjenigen Ceremoniel zu unterscheiden, welches zur guten Ordnung nothwendig ist, und auch die Rechte der Menschen und Staaten sicher stellt, indem es durch die Rangordnung sie gleichsam mit einem Gehege umgiebt. Schon hat der größte König unsers Jahrhunderts durch sein Beyspiel gezeigt, wie viel ein Fürst von dieser Etiquette nachlassen kann, ohne irgend etwas von seinen Rechten außerhalb des Staats, oder von seinem Ansehn innerhalb desselben zu verlieren. Die Einfachheit seiner Le|bensart und der Gewohnheiten an [173] seinem Hofe hat unstreitig dazu beygetragen, das Gesetzbuch der Etiquette an allen Höfen von lästigen Anordnungen zu befreyen, und den Umgang an denselben angenehmer zu machen, indem er von der bloßen Beobachtung von Formalitäten, auf die wesentlichere Sache der Geistes-Unterhaltung zurückgebracht worden ist. ‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒ Die obige Eintheilung führt uns noch zu einigen andern Betrachtungen. 1. Unter den Sachen, welche die Mode regulirt, (insofern sie den Handlungen entgegengesetzt sind,) stehn keine so unmittelbar und so allgemein unter ihrer Herrschaft, als die Kleider. Gemeiniglich denkt man nur an Form und Farbe von diesen, wenn man von den Moden reden hört. In der That sind, im Putze der Menschen, die Abwechselungen weit schneller, und die Übereinstimmung zu jedem Zeitpuncte größer: zwey Sachen, die zu dem Begriffe des Wortes Mode zu gehören scheinen. Die Ursache, warum die Kleidung unter den modischen Sachen eine so vorzügliche Stelle ein|nimmt, liegt ohne Zweifel darinn, daß sie öfter erneuert, und daß sie [174] mehr gesehen wird. Auch die Neuerungssucht der Menschen muß zuerst durch Nothwendigkeit rege gemacht werden. Die Sachen, welche wir oft erneuern müssen aus Bedürfniß, weil sie sich schnell abnutzen, werden von uns auch in ihrer Form am öftersten, bloß unsers Geschmacks wegen, und aus Neigung verändert, es sey um ein erhöhtes

96 | 2 Beiträge in Zeitschriften Vergnügen an ihnen zu haben, oder um mehr damit zu gefallen. Das ihm bequeme Hausgeräthe, solange es ganz und reinlich ist, vertauscht auch der wohlhabende Mann nicht leicht: oder er erwartet außerordentliche Gelegenheiten, wo er dazu aufgefordert wird. Die mittlere und noch mehr die untere Classe ist froh, wenn sie nach und nach diejenigen Bequemlichkeiten und Verzierungen in die Hände bekömmt, deren die Reichsten und Vornehmsten überdrüßig geworden sind, oder die bey Sterbe- und andern Fällen zerstreut werden. Auf diese Weise wandelt die Begierde, sich neuen Hausrath, eine neue Anordnung oder Auszierung seiner Wohnzimmer zu verschaffen, nur wenige Personen, und auch diese nur selten an, und erstreckt sich, unter den Classen der bürgerlichen Gesellschaft, nicht über eine [175] bestimmte | Gränze. Die Erfindungskraft der Künstler wird nicht so sehr in Thätigkeit gesetzt, wo die Nachfrage nach ihren Producten nicht so ununterbrochen ist. Die Revolutionen der Moden in der Form der Gebäude, Hausgeräthe und Equipage gehn daher langsamer vorwärts. Nach dem Maaße, als diese Dinge sich den eigentlichen Kunstwerken nähern, als sie einen bestimmteren Zweck und festere Regeln der Schönheit haben, sind sie auch weniger den bloß eigensinnigen Veränderungen unterworfen, dergleichen, im Schnitt und Farbe der Kleider, wo fast alles willkührlich ist, die Mode machen kann. Und nur dieser Eigensinn, der etwas sonderbares sucht, aber nicht die Vernunft, welche wählt, kann unaufhörlich verändern. Was aber den Kreislauf der Kleider-Moden noch mehr beschleuniget, was diesem Wirbel die so weite Ausdehnung giebt, daß er alle Stände der Gesellschaft, nur den allerärmsten ausgenommen, mit sich fortreißt, ist, daß Kleider ein beständiger Gegenstand der Beobachtung und der Beobachtung aller sind. Was am meisten gesehn wird, das sucht der Eitle am meisten auszuzieren, und das kann der Liebhaber des Neuen am leichtesten copiren. An allen öffentlichen Orten, im Schauspiel[176] hause, auf den Spatziergängen, in den | Straßen der Stadt, stellt der Reiche und Vornehme seine Kleider und seinen Putz zur Schau aus. Ihn von dieser Seite seiner Pracht oder seines Geschmacks kennen zu lernen, dazu hat jeder Zutritt: dahingegen das Übrige seines Wohllebens, so wie seiner Gewohnheiten, nur denjenigen bekannt wird, die ihn in dem Innern seines Hauses sehen. Daher geht dort die Bewunderung, welche das Neue, besonders bey den Zuschauern der wohlhabenden Mittelclasse, erregt, bald in Bekanntschaft mit der Form und der Beschaffenheit der Sache, und diese in Begierde und Nachahmung über. Diese weniger unterbrochne, und schnellere Mittheilung jeder neuen Erfindung in der Form und Farbe des Kleiderschmucks, vom Höhern zum Niedrigern, vom Reichen zum Mittelmanne, reitzt auch die arbeitsame Classe mehr, auf solche neue Erfindungen zu denken. Man kann noch als eine dritte Ursache hinzusetzen, daß alles übrige, was nach dem Geschmack der Mode sich verändert, nur zu den Zierrathen der Dinge gehört, die uns umgeben, die Kleidung zur Ausschmückung unsrer Person selbst. Das Interesse, welches uns diese verschönern heißt, ist eben sowohl das größte als das allge[177] meinste. Eben in dem Verhältnisse wächst also auch die Aufmerksamkeit auf | das Neue, welches in dieser Gattung erscheint, und der Trieb, es nachzuahmen.

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Man könnte eine Stufenleiter von Dingen angeben, auf welcher der Eigensinn und die Willkühr der Moden, nach und nach, in die unwandelbaren Gesetze der Schönheit übergeht. Die Arbeiten des Schneiders und Putzmachers würden die ersten Glieder dieser Progression seyn, die Werke der bildenden Künste die letzten: zwischen beyden würden, in einer unabsehlichen Reihe, die Producte der Handwerker stehn, welche die verschiedenen Arten des Hausraths und der Werkzeuge liefern, und denen die Formen ihrer Werke von der Zeichenkunst, die Endzwecke von den menschlichen Bedürfnissen vorgeschrieben werden. Die Baukunst würde vielleicht in der Mitte dieser Reihe ihren Platz finden, da, wo Gesetze der Proportion, allgemeine Bedürfnisse des Lebens, und besondre Gewohnheiten der Zeit und der Gesellschaft, ihre Forderungen, fast in gleichem Grade, mit einander vereinigen. Man würde finden, daß der menschliche Geist allenthalben nach Schönheit und Zweckmäßigkeit strebet, aber sie nicht allenthalben mit gleicher Bestimmtheit finden kann. Da, wo er sie am unvollkommensten entdeckt, schwankt der Geschmack am meisten hin und her, durchläuft ohne Ende alle möglichen Abwechselungen von dem | einen Extrem zu dem andern, und sucht sich für das höhere Vergnügen an [178] Schönheit, das er vermißt, durch das niedrigere an Neuheit und Abwechselung schadlos zu halten. Zuweilen geräth er bey diesen Versuchen zufällig auf Formen, die eine größre innere Angemessenheit zur Absicht, oder eine dem Auge gefälligere Proportion haben: und dann steht auch das sich umwälzende Rad der Mode eine Zeit lang stille. Wir sehen daher Kleidungsstücke und Kopfzeuge dieser Art, zum Lobe der männlichen Vernunft und des weiblichen Geschmacks, noch immer im Gebrauche, indeß andre gleichzeitige Moden schon längst neuen Erfindungen Platz gemacht haben. In dem Maße, als die Natur der Sachen an sich bestimmter ist, oder das, was wahrhaft schön an ihnen ist, deutlicher eingesehen wird, in eben dem Maße treten sie aus dem Gebiethe der Mode heraus, und gehn in das der Kunst über. Aber die höchste Kunst selbst, die Nachahmung der Natur durch Bildnerey oder Zeichnung, macht sich eben so wenig ganz von dem Einflusse der Mode los, so wenig auf der andern Seite in den frivolsten Stücken des Putzes und bey den willkührlichsten Abänderungen desselben alle Rücksicht auf Kunst oder Proportion ausgeschlossen wird. Ist dies nicht viel|leicht selbst ein Beweis, daß in dem Wohlgefallen, welches [179] wir für eine Wirkung der objectiven Schönheit halten, etwas unsrer eignen Denkkraft, und, insofern diese durch freywillige Aufmerksamkeit geleitet wird, unsrer Willkür zuzuschreiben sey? 2. Vergleicht man die beyden Hauptgattungen der Moden, die in den Handlungen, oder die Gebräuche des Wohlstandes, mit denen der Sachen in Kleidung und Equipage: so findet man, daß jene bey weitem nicht so geschwind von den höhern Ständen zu den niedrigern übergehn, als diese. Augenscheinlich deswegen, weil die erstern in der Gesellschaft selbst, in welcher sie herrschen, gleichsam eingeschlossen bleiben, und denen nicht sichtbar werden, die zu ihr nicht Zutritt haben; die letztern aber auch außer dem Hause, auf allen öffentlichen Plätzen, in den Zusam-

98 | 2 Beiträge in Zeitschriften menkünften des größern Publicums gesehen werden, und der Beobachtung Aller ausgesetzt sind. In den Hauptstädten Europens ist daher der gute Bürgerstand von dem Adel, in seiner Kleidung, wie in seinem Mobiliar, wenig unterschieden, aber er weicht noch sehr in den Regeln der Höflichkeit von demselben ab. Die bürgerliche Dame fordert vielleicht, an eben dem Orte, den Handkuß von einem Fremden, als [180] eine allgemeine Höflichkeitsbezeugung, an welchem die adliche es ihm | als einen Fehler gegen den Wohlstand auslegt, wenn er dieses Zeichen einer besondern Vertraulichkeit mit einer bloßen Begrüßung verwechselt. Das ist auch die Ursache, warum, in der sogenannten guten Gesellschaft, ein Verstoß gegen das Übliche in Absicht des Wohlstandes, und gegen die hergebrachten Regeln des Betragens, mehr mißfällt, als eine unmodische Tracht. Die Gesellschaft setzt nothwendig einen größern Werth auf das, was ihr ausschließend zugehört. Überdies ist die Art, wie man handelt, ein sichereres Anzeichen von den Menschen, unter welchen man gelebt, von den Mustern, die man täglich vor Augen gehabt hat, als die Art, wie man sich kleidet. Gewohnheiten nimmt man unmerklich und fast unvermeidlich an, wenn man Sachen immer auf eine gleichförmige Weise machen sieht: aber in seiner Kleidung kann man aus Wahl und Vorsatz, von den Beyspielen derer, unter welchen man lebt, abgehn, oder auf der andern Seite, ohne es zu wissen, die Regeln des Üblichen verletzen, weil man darauf keine Aufmerksamkeit wendet. Jeder Mensch zeigt die Classe, zu der er gehört, durch den Wohlstand an, welchen er beobachtet. Und derjenige also, der unter der Gesellschaft der obersten Classe erscheint, und die Conventionen derselben übertritt, oder mangel[181] haft | und unschicklich beobachtet, kündigt sich bey ihr entweder als einen Menschen von niedrigerm Stande an, oder als einen, der freywillig sich mit schlechterer Gesellschaft verbunden hat, und in beyden Fällen verliert er von ihrer Achtung. Ich finde hierdurch zugleich einen Umstand erklärt, der von mehrern aufmerksamen Beobachtern der Sitten der verschiedenen Stände angemerkt worden ist, den, daß der Luxus in Kleidern in dem reichen Mittelstande mehr, als in dem vornehmen, herrscht, und durch jenen mehr, als durch diesen, zu einem gewissen Übermaße getrieben wird. Wenn die Modesucht ein den reichen Bürgerfamilien vorzüglich eigner Fehler ist: kömmt es nicht daher, weil die Eitelkeit derselben, die sich in andern Gegenständen des Luxus von dem Adel übertroffen sieht, und weder Mittel noch Gelegenheit hat, das Glänzende seiner ganzen Lebensart nachzuahmen, sich mit desto größrer Hitze auf den einzigen Zweig der Üppigkeit wirft, in welchem sie hoffen kann, es dem höhern Stande gleich zu thun, und selbst durch Geld und Aufwand einen Vorzug über ihn zu erhalten. So viel ist gewiß, daß in Handlungsstädten im Durchschnitte mehr Pracht mit Kleidern, und ihrer Menge und Mannichfaltigkeit [182] getrieben wird, als in Residenzen. Tafel und Dienerschaft | ist beym reichen Kaufmanne selten derjenigen gleich, die man in den Häusern der Großen findet: aber der Staat, mit welchem er und seine Familie erscheint, sticht oft gegen die Einfachheit des Anzugs der letztern ab. ‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒

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Es giebt einen Gesichtspunct, unter welchem die Moden dem Beobachter der menschlichen Natur einen noch wichtigern Gegenstand für seine Untersuchungen darbiethen. Ohne Zweifel ist diese Natur selbst, so wie sie sich in der Geschichte des ganzen Geschlechtes zeigt, nicht stillstehend, sondern fortschreitend. Ohne Zweifel gehn in den wichtigern Angelegenheiten der Menschheit, in Politik und Moral, in Wissenschaften und Künsten, eben so unaufhörliche Veränderungen vor, als in den Kleinigkeiten ihres Schmucks oder ihrer Zeitvertreibe. Aber jene Fortschritte des menschlichen Geschlechts mit eignen Augen zu beobachten, die Gesetze dieser Veränderungen aus selbst gemachten Erfahrungen zu abstrahiren: das ist für ein so kurzdauerndes und so kurzsichtiges Wesen als der Mensch ist, nicht wohl möglich. Die Revolutionen geschehen hier zu langsam, und können also eben so we|nig un- [183] mittelbar wahrgenommen werden, als die Bewegung der Sonne auf ihrer jährlichen Bahn. Nur aus der Geschichte, nur durch die Vergleichung mehrerer Menschenalter kann der Philosoph einige Data erhalten, woraus er auf den Ursprung und die Richtung der ihm erst nach längern Perioden sichtbaren Veränderungen muthmaßliche Schlüsse zieht. Aber wie sehr müßte er nicht wünschen, selbst Zeuge und Zuschauer eines Theils derselben seyn zu können! Hier kommen ihm nun die schnelleren Abwechselungen, die in den zufälligern und kleinern Eigenheiten der Menschen vorgehn, und die man unter dem Namen der Moden zusammenfassen kann, zu Hülfe. Im Grunde geschehen diese Abwechselungen nach eben den Gesetzen, welche bey den wichtigsten Revolutionen zum Grunde liegen. Eben der Charakter der menschlichen Natur im Ganzen, eben die Local- und National-Unterschiede, welche die Veränderungen in Staatsverfassung, Litteratur und moralischer Aufführung bestimmen, hier die Reformen beschleunigen, dort aufhalten, haben auch auf den Gang, und die bald schnellere bald langsamere Veränderlichkeit der Moden Einfluß. Hier im Kleinen kann also der Philosoph beobachten, was er beym Großen nur durch das Räsonne|ment erkennen kann. Man- [184] cher Umstand, der ihm hier von selbst in die Augen leuchtet, kann ihm Veranlassung werden, die Begebenheiten der Geschichte unter neue Gesichtspuncte zu fassen, oder aus denselben neue Resultate zu ziehn. Einige dieser Gesichtspuncte, die sich mir, bey meinem Nachdenken über die Abwechselungen der Mode dargestellt haben, will ich auch meinen Lesern zur Prüfung vorlegen. Zuerst erkennt man aus denselben, daß der große Haufen auch in Dingen, wo er frey zu seyn glaubt, regiert wird; und daß er größtentheils von einem oder wenigen Menschen regiert wird, selbst da, wo sein Recht, durch Mehrheit der Stimmen zu entscheiden, am unbestrittensten ist. Die allgemeinsten und größten Änderungen der Moden in Europa haben oft ihren Ursprung in dem Einfalle einer einzigen Person gehabt, die gerade an einem solchen Orte und in solchen Umständen lebte, daß ihr Beyspiel Eindruck zu machen, und Nachahmer in mehrern Ländern zu erwecken fähig war. Wie oft ist nicht ein Anzug, ein Kopfputz, der zufällig einer Favoritin am französischen Hofe wohlgestanden, und den Beyfall des Tages erhalten hatte, nach

100 | 2 Beiträge in Zeitschriften und nach in alle große und kleine Städte Eu|ropens durchgedrungen, und hat das Modell des modischen Putzes für lange Zeit abgegeben? Ganze Nationen, ganze Gesellschaften kommen nie zugleich auf einerley Gedanken. Der große Haufe würde ewig beym Alten bleiben. Alle Erfindungen, alle Neuerungen kommen immer von einzelnen Personen her: und die Nachahmungsbegierde, oder der Ehrgeitz breitet sie aus, wenn die Person Aufmerksamkeit erweckt, oder wenn die Neuerung gefällt. Es ist unglaublich, wie geschwind sich die Kette verlängert, und wie die Anzahl der Nachahmer sich in kurzem vermehrt. So wie es für ganz Europa fast immer einen Hauptsitz der Moden giebt, und einen Punct, aus welchem sie sich verbreiten: so giebt es wieder einen für jeden Staat, für jede Provinz, für jede Stadt, für jeden Stand. In jedem Kreise genauer mit einander verbundner Menschen finden sich gewisse dirigirende Personen, die den Ton angeben, deren Wahl von andern gemeiniglich gebilligt wird, oder deren Beispiel durch ihr Ansehn zur Nachahmung bewegt. Diese untergeordneten kleinen Partheyen mit ihren Anführern stehen unter dem Einflusse der größern: und das ganze System der Mode-Erfinder und der modischen Leute in Europa bildet eine Art [186] von großem Staate, der un|sichtbar, von unbekannten Obern, aus der Ferne regiert wird, in dessen mannichfaltigen Unterabtheilungen aber sich der Einfluß des allgemeinen Gesetzgebers mit der Autorität der kleinern Regenten und Dynasten jedes Districts vereinigt. Die Moden und ihre Geschichte zeigen uns zweytens, was die Verbindung mehrerer Nationen unter einander für Wirkungen auf die einzelnen Menschen in jeder habe, und welche Folgen daraus für das gesellige Leben der Privatpersonen entstehen. Eine von andern Völkern abgesonderte Nation ist fast immer in ihren Gewohnheiten unveränderlich. In der Nation selbst ist oft kein Muster so erhaben oder so beliebt, daß es gegen die Verehrer des Alterthums mit einer neuen Erfindung durchdringen könnte. Das Neue leuchtet aus der Ferne mit einem weit hellern Glanze. Die Nachahmung kostet unsrer Eitelkeit weniger, wenn das Modell entfernt ist: und sie schmeichelt ihr sogar, wenn dasselbe uns allein bekannt ist. Auf der andern Seite wird der Erfindungsgeist der die Mode beherrschenden Nation mehr belebt, wenn er für die Einwohner mehrerer Länder arbeitet. Bey der so genauen Verbindung, welche heut zu Tage unter den Europäischen [187] Nationen | obwaltet, sind es doch vorzüglich nur die vornehmern Stände, die durch dieses Band verknüpft werden, und der Zusammenhang verliert sich bey dem gemeinen Manne fast gänzlich. Die Höfe kennen einander am genauesten, durch die Nachrichten der Gesandten, und durch den Zusammenhang der Staatsgeschäfte. Briefe und Boten gehen unaufhörlich von einem Fürsten zu dem andern. ‒ Der Adel der verschiedenen Länder kennt sich durch Heyrathsverbindungen, durch Gesandtschaften, durch Reisen, durch die öffentlichen Geschäfte, an deren Verwaltung er Antheil nimmt, endlich selbst durch die Geschichte und das genealogische Studium. ‒ Die Kaufleute aller Länder machen ein anderes, aber minder verbundnes Corpus aus. Weniger bekümmert um die Person und die Familie, als um den Reichthum und [185]

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den Credit ihrer sogenannten Freunde, haben sie weniger Anlaß, weniger Reitz, fremde Sitten und Gewohnheiten, als fremde Waaren, kennen zu lernen. ‒ Der Handwerker eines Landes weiß von den Handwerkern andrer Länder nur, was wandernde Gesellen ihm mittheilen: der Tagelöhner und der eigentliche Pöbel weiß gar nichts von seines Gleichen in der Fremde. Diese Classen haben oft, unter den nächsten Nachbarn, die gröb|sten Vorurtheile gegen einander, weit entfernt, daß sie sich [188] nachahmen sollten. Dieser Zustand der Dinge macht, daß es ein Gegenstand der Eitelkeit wird, mit ausländischen Sitten und Moden bekannt zu seyn, und noch mehr, von allen darinn vorgehenden Veränderungen schnell Nachricht zu haben. Man sieht dieses als das Eigenthum und das Unterscheidende eines höhern Standes an, der sich dazu mehrere Hülfsmittel zu verschaffen weiß, oder man schließt daraus überhaupt auf die größre Bekanntschaft und einen weitern Wirkungskreis des Menschen; indem derjenige wahrscheinlich in fremden Ländern bekannt ist, der von dorther schnell Nachricht erhält. So haben die französischen Sitten, bey uns und bei vielen Nationen, größern Eingang gefunden, weil sie zuerst bloß adeliche Sitten unter diesen gewesen sind. Wenn sie den Beyfall der Nation, von welcher sie herkamen, um ihrer Bequemlichkeit oder Annehmlichkeit willen erhalten hatten: so erhielten sie den Beyfall derer, zu welchen sie gebracht wurden, auch durch den Glanz, welchen sie mittheilten. Sobald mehrere Nationen mit einander in beständigem Verkehr stehn, und eine Art von Gesellschaft ausmachen: so wird unter ihnen eben der Fall sich ereignen, der unter mehreren zu einem gesell|schaftlichen Ganzen verbundnen Individuen [189] eintritt. Eine oder etliche werden über die andern einen Vorzug und eine gewisse moralische Herrschaft erhalten. Durch welche Ursachen dieses geschieht, ist eine Frage, deren Untersuchung mich zu weit von meinem Zwecke abführen würde, und die zum Theile von denjenigen beantwortet worden ist, die den Gründen von der Ausbreitung der Französischen Sprache in Europa nachgeforscht haben, indem diese Superiorität einer Nation, von der ich rede, gemeiniglich die Sprache derselben zugleich mit ihren Sitten und Moden ausbreitet. So viel ist gewiß, daß, seitdem die Europäischen Nationen durch Religion, Politik und Handel in nähern und ununterbrochnen Umgang mit einander gekommen sind, immer eine unter den übrigen den Ton angegeben hat, und für sie in Dingen, die von einem willkührlichen Geschmacke und einer vielseitigen Beurtheilung abhängen, Muster gewesen ist. Eine solche Herrschaft einer Nation über andre hat auf dieselben einen ähnlichen Einfluß, als die Macht eines Monarchen oder das Ansehn eines Hofes auf die Sitten in der bürgerlichen Gesellschaft hat. In der Demokratie sind die Sitten unveränderlicher, und neue Gebräuche finden schwerer Ein|gang, weil, da jeder sich so gut dünkt, als der andre, auch jeder nur [190] seinen eignen Geschmack zu seiner Regel macht. In der Monarchie hingegen ist sowohl die Gleichförmigkeit der Mode zu derselben Zeit, als die Abwechselung der Moden in verschiedenen Zeiten, größer, indem

102 | 2 Beiträge in Zeitschriften Alle ihre Blicke auf die Obersten und Ersten des Staats richten, und Änderungen, die diese aus Einsicht oder Eigensinn machen, wie Gesetze befolgen. Auf gleiche Weise ist die Herrschaft der Mode bisher nirgends fester gegründet, und ihre Abwechselungen sind nie so häufig gewesen, als in Europa, und in dem Zeitalter, wo mehrere Nationen auf eine, als ihre Lehrmeisterin und ihr Muster, hingesehen haben, von deren Litteratur bezaubert, und für deren Geschmack mit günstigen Vorurtheilen eingenommen gewesen sind. Denn indem alsdann jede neugierig darnach forschte, was bey dieser geehrten Nation vorgehe, was bei ihr Sitte sey, was ihre Industrie oder ihre Kunst neues hervorbringe: bekamen insbesondre die Großen einer jeden einen neuen Bewegungsgrund, die von dort herkommenden Verfeinerungen der Lebensart und des Costume anzunehmen, weil sie sich dadurch von ihren geringern Landsleuten unterscheiden konnten. [191] Es erklärt sich aber aus dieser Schilderung der Sachen, warum nach dem Zeugnisse der besten Beobachter in Frankreich, dem Lande, aus welchem andre Völker ihre Moden so lange herholten, die Mode weniger gebieterisch herrschte, als bey denen, zu welchen sie durch Nachahmung überging. Dort fiel der Grund weg, welcher den Ausländern die ihnen zugeführten Erfindungen der Galanterie so sehr empfahl. Dort nahm überdieß jeder mehr oder weniger an dem Erfindungsgeiste Antheil, durch den sich die Nation auszeichnete, und durch den sie sich das Ansehn in Sachen des Geschmacks erworben hatte. Es gab bey ihr viele Erfinder und wenige Nachahmer; ‒ also weniger Gleichförmigkeit, welche das Wesen der Mode ausmacht. Endlich sind bey der Nation, deren Moden von ihr selbst erfunden worden, und bey welcher die Gewohnheiten der höhern Stände die allgemeinen nur verfeinerten Nationalgewohnheiten sind, diese höhern Stände in Tracht und Sitten von dem Mittelstande weniger unterschieden. Die Mode ist also hier weniger ein Kennzeichen des Ranges. Wenn demnach die Modesucht bey denjenigen Nationen, welche ihre Neuerungen aus der Fremde holen, durch zwey Triebfedern unterstützt [192] wird, durch den Stolz, der sich unterscheiden, und durch die Eitelkeit, welche | gefallen will: so hat dieselbe bey den Nationen, wo diese Neuerungen einheimisch sind, nur die letzte Leidenschaft allein zu ihrer Stütze. Wenn die alten Völker das, was Mode heißt, weniger gekannt haben; wenn die Asiaten sie noch nicht kennen: so liegt die Ursache darin, daß weder im Alterthum, noch je in Asien, ‒ daß überhaupt zu keiner Zeit und in keinem Welttheile, ein System so vieler, so gesitteter und so genau mit einander verbundner Staaten existirt hat, als in den letzten Jahrhunderten in Europa. So wie die öftere Mittheilung der Gedanken, und unter einer größern Anzahl von Menschen einen schleunigern Fortgang der Meynungen hervorbringt: so entstehn auch desto mehr Abwechselungen in Sitten und Sachen des Geschmacks, in einem je größern Bezirke sich die Menschen einander zum Muster dienen. Ein drittes Gesetz, welches man, für die Revolutionen der menschlichen Dinge überhaupt, von den Moden abstrahiren kann, ist, daß es in diesen, wie im Laufe der Gestirne, Perioden giebt, wo die Veränderlichkeit derselben stille zu stehn scheint,

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und andre, wo sie mit beschleunigter Geschwindigkeit forteilt. Zuweilen erhalten sich gewisse Moden lange: andre gehn schnell vorüber. Die Erfindungen in den Moden sind denen in den Künsten und Wissenschaften [193] ähnlich. Die Genies zu denselben werden nicht zu allen Zeiten in gleicher Anzahl geboren. ‒ Aber das ist noch nicht alles. Zuweilen sind die Wissenschaften bis zu einem gewissen Schlußpunct gebracht worden, wo sie gleichsam ruhen müssen. Man hat nämlich entweder die Aufgaben, welche seit geraumer Zeit die Welt beschäftigten, aufgelöset; man hat gefunden, was man suchte: und ehe man wieder neue Fortschritte thun kann, müssen erst wieder neue Fragen aufgeworfen, neue Beobachtungen gesammelt werden. Oder eine Reihe kleiner Erfindungen hat sich endlich mit einer großen, welche das Resultat von allen ist, geendigt; die Frucht ist aus ihrem Keime nach und nach hervorgewachsen. Aber nun gehört Zeit und eine Reihe neuer Vorbereitungen dazu, ehe ein neuer Keim sich entwickelt, ‒ ehe eben so merkwürdige neue Aufschlüsse können gefunden werden. Auf eben die Weise gelangen die Moden in Sitten und Kleidungen der Menschen, mitten durch ihre Abwechselungen hindurch, zuweilen auf einen fixen Punct. Man erkennt nähmlich, daß die Bequemlichkeit oder Annehmlichkeit der Sache, nach welcher man bey den mehrmahligen Abänderungen derselben strebte, ohne sie finden zu können, wirklich durch die letztre Neue|rung etwas gewonnen habe. Man ist vielleicht auf eine [194] Kleidung, auf eine Form des Hausgeräthes, auf eine Auszierung der Wohnung, eine Anordnung der geselligen Tafel gerathen, die bequem und schön zugleich ist. Bey solchen Moden ruht, so zu sagen, der veränderliche Genius derselben ein wenig aus, ‒ froh, in seinen zufälligen Würfen etwas wirklich schönes und dem Zwecke gemäßes getroffen zu haben. Es muß einige Zeit vorbeygehn, ehe man über die neue, allgemein gebilligte Tracht oder Gewohnheit so sehr von neuem [raissonirt], um Mängel an ihr zu entdecken, oder ehe man des Guten und des Bequemen selbst überdrüssig wird, und anfängt, nur nach einer Veränderung zu verlangen, wenn es auch eine Verschlimmerung sein sollte. Die Geschichte der Mode lehrt uns viertens, welchen Gang Neuerungen nehmen, wenn sie in einer Gesellschaft Eingang finden und das Alte verdrängen. Das erste ist, daß sie Aufsehn machen und Widerspruch erregen. Einem großen Theile der Menschen ist das Fremde, das Ungewohnte, an und für sich zuwider. Ein andrer mißbilligt die Eitelkeit, die unter immer veränderten Gestalten von neue[m] die Augen auf sich ziehn will. Ein dritter hat sich in die alte Mode so hineingeformt, und findet sie seinen besondern Bedürfnissen und Eigen|heiten so angemessen, daß er [195] sie sich, als ein Stück der ihm nothwendig gewordnen Bequemlichkeiten, nicht will rauben lassen. ‒ Diese Oppositionsparthey ist anfangs die zahlreichere: und die gesetztesten, vernünftigsten Leute gehören gemeiniglich zu derselben. Zwar ist es zuweilen auch bey diesen bloßes Vorurtheil, wodurch ihre Mißbilligung veranlasset wird; aber dieses Vorurtheil selbst steht mit der Vernunft in Verbindung. Der Weise nämlich wünscht Einförmigkeit und Beständigkeit in Kleinigkeiten, um seine Aufmerksamkeit ganz auf das Wichtigere beysammen haben zu können. In Gewohnhei-

104 | 2 Beiträge in Zeitschriften ten, die er sich einmahl zu eigen gemacht hat, läßt er sich nicht gerne stören, weil eine neue anzunehmen, ihm immer wieder einige Zeit und Mühe kostet. Indessen eben diese Widersetzlichkeit, welche die Neuerung bey dem größern Haufen findet, verbunden mit dem Beyfalle, den sie bey dem kleinern und eitlern erhält, setzt die Gemüther in die Bewegung, wodurch sie zu einer Änderung vorbereitet werden. Die Sache wird debattirt: viele berathschlagen sich darüber mit sich selbst und mit andern; und die noch nichts von ihr wußten, lernen sie zuerst durch den lauten Tadel ihrer Gegner kennen. Nun dürfen nur die, welche die Mode zuerst [196] | aufbrachten, standhaft bey derselben bleiben, ‒ vorausgesetzt, daß sie durch ihren Rang oder aus andern Ursachen im Ansehn stehn, ‒ oder das Neue mag etwas gefälliges und angenehmes haben, welches nach und nach die Vorurtheile besiegt: so wird sie am Ende um desto schneller um sich greifen, je mehr sie im Anfange angefochten wurde. Es geht mit andern Sachen, die zur öffentlichen Beurtheilung und Nachahmung ausgestellt sind, vollkommen auf gleiche Weise. Ich will die Werke der Gelehrten zum Beyspiele anführen. Diejenigen, welche keinen Streit erregen, welche keine Gegner und Tadler finden, ‒ diese sind es nicht, welche ein großes Glück machen. Allgemeine Aufmerksamkeit zu erwecken ist Streit und Zwistigkeit nöthig. Das kann erst von vielen gebilligt werden, was von vielen ist untersucht worden: und zur Untersuchung reitzt nichts mehr, als der Widerspruch, oder der Aufruhr, welchen ein Werk, oder eine Handlung des Menschen im Publicum erregt. Ich setze noch eine vierte Analogie zwischen der Abwechselung der Moden, und den Fortschritten der Politik, der Wissenschaften, und der Sitten hinzu. In Meinungen, die keiner Demonstration und keiner sinnlichen Evidenz fähig [197] sind, ‒ und in | Sitten, die keinen unwandelbaren Grund und keinen absoluten Maßstab des Guten in unsrer Natur haben, werden immer Verschiedenheiten unter den Menschen entstehn. Diese Verschiedenheiten werden Partheyen erregen: und diese Partheyen werden, nachdem der Gegenstand wichtig ist, oder nachdem die Leidenschaften einer Nation finstrer oder fröhlicher sind, sich entweder hassen, oder sich über einander lustig machen. In der Religion, in der Philosophie, in der Politik, in den moralischen Grundsätzen, ‒ endlich in den Moden, haben sich die Menschen immer in F[r]actionen getheilt, die mit Waffen der einen oder der andern Art gegen einander zu Felde gezogen sind. Die Folgen davon sind, wenn nicht allemahl verderblich, doch unangenehm, und den Genuß des Lebens und der geselligen Freuden zu vermindern fähig. Indeß sehen wir auch hier einen Fortschritt zum Bessern: und er ist eben aus der Vervielfältigung der Partheyen, und aus der ungebundnern Freyheit, mit welcher man vom Gewöhnlichen abweicht, entstanden. So lange man noch wenige theologische und philosophische Meinungen [198] kannte, und jeder über der seinigen, als der einzigen hielt, wobey Recht|schaffenheit und Glückseligkeit bestehen könnte: so lange war diese Verschiedenheit eine Quelle von Verfolgungen und bürgerlichen Kriegen. Nachdem man alles versucht,

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alle Arten von Meinungen, auch die ungereimtesten und die kühnsten behauptet, geprüft, wiederlegt, und von neuem hervorgesucht hat: ‒ hat man einzusehen angefangen, daß in dunkeln und speculativen Materien, gleich vernünftige und gut denkende Leute, sehr weit von einander abgehn, ‒ und daß mit allen Systemen ein ehrliches Herz und tugendhafte Gesinnungen bestehn können. Seitdem bringt diese Uneinigkeit der Menschen weniger Haß, und also weniger Unheil hervor. Auf gleiche Weise, wenn in einer Nation das gesellige Leben gleichsam aufzukeimen anfängt, und die Menschen zuerst auf Kleidung, Putz, Stellungen und Formeln der Höflichkeit, und alles was zum Wohlstande gehört, aufmerksam werden; so ist anfangs die Herrschaft der Gewohnheit sehr tyrannisch. Weil man noch wenig Verschiedenheiten in diesen Dingen kennt, wenig Abänderungen erlebt hat: so scheint das, was einmal in Absicht derselben eingeführt ist, so gut, als nothwendig zu seyn. Und es ist eine Folge hiervon, daß, wer diese für so heilig gehaltne Regeln des | Wohlstandes nicht kennt, oder übertritt, für einen verächtlichen, oder für [199] einen hassenswürdigen Menschen gehalten wird. Diesen Zwang, diese Pünctlichkeit des Wohlstandes finden wir in den frühern Perioden der Cultur bey allen Nationen, selbst bey der, von welcher wir die Regeln des guten Geschmacks bekommen haben, den Griechen. In Lucians Werken kömmt ein Aufsatz vor, ich weiß nicht, ob von ihm, oder von einem seiner Zeitgenossen, ‒ denn im Vortrage und Styl scheint er jenes Autors nicht würdig, ‒ wo der Verfasser sich gegen den, an welchen die Schrift gerichtet ist, mit den ausgesuchtesten Gründen darüber entschuldiget, daß er bei einem Morgenbesuche seinen Gönner nicht mit dem rechten Worte begrüßt hatte.1 Eben deswegen, weil die Sineser in ihrer Cultur, auf dem Puncte, wo das Ceremoniell des Umgangs sich ausbildet, aber noch steif und unnatürlich ist, stehn geblieben sind, haben sie so verwickelte Gesetze des Wohlstandes, und beobachten dieselben mit einer größern Genauigkeit, als die wesentlichsten Pflichten der Moral. Noch jetzt | werden wir in allen kleinen Orten, in allen abgelegenen Provinzen, ‒ [200] allenthalben, wo die Geselligkeit schwach, der Umgang eingeschränkt ist, und die Einwohner gegen andre ihrer Zeitgenossen zurück sind, gewahr, daß daselbst ein gegen die eingeführten Wohlstandsregeln begangner Fehler weit härter geahndet, und um nicht von dem Üblichen abzuweichen, eine weit größere Behutsamkeit angewandt wird, als in den feinsten Gesellschaften der Hauptstädte. In diesen, die gleichsam die Mittelpuncte der großen Geselligkeit sind, läuft das Rad der Moden und Gebräuche weit schneller um. Der Veränderungen, welche man hier einander folgen und sich verdrängen gesehen, ‒ der Versuche, die man zu Verfeinerungen oder zu Abwechselungen in Sachen des Geschmacks gemacht hat, sind schon so viele gewesen; man ist so oft von dem Natürlichen ins Gezwungne gerathen, und von dem Künstlichern wieder zu dem Natürlichen zurückgekommen: daß man endlich gegen alle Moden, Manieren, Kleidungen, und gegen alles, was keine wesentliche Schönheit oder Schicklichkeit in sich hat, gleichgültiger geworden ist. Aus allen 1 Er hatte υγιαίνειν für χαίζειν gebraucht.

106 | 2 Beiträge in Zeitschriften versuchten und wieder verlassenen Thorheiten ist, ‒ so wie in dem vorhergehenden Falle aus der Men|ge vertheidigter und vergessener Irrthümer, zuletzt, ‒ zwar nicht allgemeine Übereinstimmung, ‒ aber allgemeine Toleranz entstanden. Diese Toleranz beruht darauf, daß man in Beurtheilung der Menschen und ihrer Handlungen das Wesentliche vom Willkührlichen, und die Sachen von ihren Zeichen unterscheiden lernt. Man sieht mit der Länge der Zeit, durch die Vergleichung der sich häufenden Erfahrungen, ein: im geschäftigen Leben sey Klugheit und Rechtschaffenheit, ‒ im geselligen ein gebildeter Verstand und Menschenfreundlichkeit das wahre und einzige Nothwendige. Zwar müssen sich diese Eigenschaften durch gewisse äußre Formen, in Worten, Geberden und Handlungen ausdrücken. Diese Formen müssen schicklich und verständlich seyn, als Zeichen; sie müssen nicht mißfällig und unanständig seyn, insofern sie als körperliche Bewegung in die Sinne fallen: jenes, weil man sonst aus ihnen auf das Innere nicht richtig schließen kann; dieses, weil sonst der Eindruck der geistigen Schönheit, durch den sinnlich unangenehmen Anblick verdunkelt wird. Übrigens sind sie den Sprachen ähnlich, bey welchen vieles willkührlich ist. Je mehr Umgang jemand mit der Welt gehabt hat, desto leichter wird er diese Sprachen lernen, desto geschwinder wird er sich an [202] eine | ihm fremde Bezeichnung sittlicher Gedanken und Gesinnungen gewöhnen. Dies macht dann am Ende den Mann vom feinsten Wohlstande und der vollkommensten Höflichkeit, wenn, mit dem Besitze jener wesentlichen Gesellschaftstugenden, und der Fertigkeit, sie auf die anmuthigste Weise an den Tag zu legen, zugleich Nachsicht gegen andre, und die Bereitwilligkeit verbunden ist, ihren Reden und Handlungen die vortheilhafteste Auslegung zu geben. ‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒ Ich habe oben gesagt, daß der letzte Zweig der Moden, das Übliche des Wohlstandes und der Höflichkeit, eine Art von Sprache sey, mit welcher wir andern die günstigen Urtheile, die wir über sie fällen, die freundschaftlichen oder die ehrerbiethigen Gesinnungen, die wir gegen sie hegen, anzeigen. Diese Ähnlichkeit zwischen dem conventionellen Wohlstande und der Sprache, welche in Ansehung des Wesens und des Begriffs von beyden unläugbar ist, erstreckt sich auch auf ihre Geschichte, und die Abwechselungen, welche beyde unter den Menschen erfahren haben. Diese besondre Analogie verdient noch mit ein paar Worten entwickelt, und der vorhergehenden allgemeinern zwischen Moden und menschlichen Angelegenheiten überhaupt beygefügt zu werden. [203] 1. Die Sprachen sind von der Willkühr der Menschen abhängiger in ihrem Ursprunge, als die Formen und Regeln des Wohlstandes: aber sie sind weniger durch die Willkühr der Menschen veränderlich, als diese, wenn sie einmahl eingeführt sind. Das Willkührliche der Sprachen kömmt daher, daß zwischen den Tönen und den Gedanken kein nothwendiger Zusammenhang ist, ‒ daß dieselbe Idee durch [201]

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verschiedene Laute gleich gut ausgedrückt werden kann, sobald nur diese Verabredung erst allen bekannt ist, die mit einander reden wollen. Im Ceremoniell des Wohlstandes ist das Band zwischen Zeichen und Bezeichnetem an sich natürlicher und genauer, oder schon durch vorhergehende Conventionen festgeknüpft. Insofern es eine Art von Pantomime enthält, und das, was wir anzeigen wollen, durch Mienen, Stellungen und Bewegungen ausdrückt: so ist es durch die Natur des menschlichen Körpers, oder durch die Ausbildung, die derselbe von Erziehung und Lebensart, in jeder Nation, zu jeder Zeit empfängt, weit mehr bestimmt, als die Sprache es durch die Natur der Redewerkzeuge ist. Der Mensch kann über seine Zunge mehr gebiethen, als über die gesamten Glieder seines Körpers: er wird durch die Natur weit unwillkührlicher und unwiderstehlicher angetrieben, sich bey einer | solchen Gemüthsstimmung, bey solchen Leidenschaften so und [204] so zu geberden, als gewisse Töne auszusprechen, wenn er diese und keine andre Vorstellungen hat. ‒ Insofern der Wohlstand selbst den Wortausdruck zu Hülfe nimmt, (und die Regulirung des letztern macht bey allen gesitteten Völkern den größten Theil von dem Gesetzbuche des erstern aus): insofern ist er auf die schon eingeführte Sprache gebaut, und muß, da er nichts in ihr zu ändern vermag, ihre Regeln und Formen den seinigen zum Grunde legen. ‒ Man sieht daher auch, daß Vollkommenheit der Sprache, und Vollkommenheit des üblichen Wohlstandes, bey Nationen ungefähr gleichen Schritt hält. Diejenige Nation, welche überhaupt den Ausdruck ihrer Gedanken mehr aufs Reine gebracht, und ihrer Sprache mehr Deutlichkeit, Präcision und Entwickelung gegeben hat, ist auch im Stande, den Ausdruck ihrer geselligen Gesinnungen, und die Bezeichnung ihrer geselligen Verhältnisse, ausführlicher, bestimmter, und anmuthiger zu machen. Der Erfinder der Sprachen, (wenn es erlaubt ist, den allmählichen Beytrag vieler Generationen, und unzähliger Menschen, in der Idee zu vereinigen und einem erdichteten Individuum zuzuschreiben,) der Erfinder der Sprache konnte schaffen,| hervorbringen: der Erfinder der Wohlstandssprache konnte nur wählen. Jener [205] suchte die erste Vereinigung unter den Menschen zu stiften, indem er sie zur Übereinstimmung über gewisse Zeichen brachte, die noch niemand kannte, und durch welche Alle einander ihre Gedanken mittheilen sollten. Dieser nutzte nur die schon geschlossenen Verabredungen, zu einem bestimmtern Zwecke, wandte nur die schon allen verständlichen und von allen angenommenen Zeichen, in einer neuen Combination, zum Ausdrucke der Freundlichkeit, der bürgerlichen Achtung, oder der Ehrerbiethung gegen andre an. Aber wie verhalten sich nun beyde Sachen im Fortgange der Zeit? Wenn die willkührlichen Töne und Formen der Sprache einmahl Eingang gefunden haben, allgemein verständlich, und jeder Zunge geläufig geworden sind: dann macht es diese Willkührlichkeit selbst, verbunden mit der großen Menge dieser Zeichen, und der Unentbehrlichkeit eines gemeinschaftlichen Mittels sich einander verständlich zu machen, daß die Menschen nicht ohne die größte Noth, und nicht anders, als mit vieler Schwierigkeit, etwas in ihren Sprachen abändern können.

108 | 2 Beiträge in Zeitschriften Eben weil sich niemand aus den Tönen an und für sich erklären kann, welche Idee damit verbunden sey: muß die | einmahl geschloßne Convention unveränderlich bleiben, wenn nicht das Verstehen aufhören, oder sehr erschwert werden soll. Selbst Verbesserungen in der Wahl der Zeichen, wenn sie nicht außerordentlich wichtig sind, ersetzen den Schaden nicht, den jede Neuerung in der Sprache in Absicht ihrer Verständlichkeit thut. Hingegen die Formen sowohl, als die Formeln der Höflichkeit, sind entweder natürliche, oder es sind schon zuvor bekannte Zeichen. Es kostet also weniger Schwierigkeit, und es zieht weniger Unbequemlichkeit nach sich, etwas in denselben zu ändern. Und da sie nicht bloß dazu bestimmt sind, uns andern verständlich, sondern auch dazu, uns ihnen angenehm zu machen; der fixe Punct aber, wo in einer Zeichensprache der Endzweck der Schönheit und des Gefallens erreicht ist, sich nicht so bestimmt angeben läßt, als der, wo die Absicht der Deutlichkeit erfüllt ist: so liegt es in der Natur und der Abzweckung des conventionellen Wohlstandes, daß er mehr Abänderungen durch Zufall leidet, mehrere absichtliche Reformen erfährt, als die ihrem Ursprunge nach willkührlichere Sprache. Zu jenem Wohlstande gehört zuförderst eine gewisse Geberdensprache. Diese [207] hat das Eigenthüm|liche, daß sie von der Cultur, in dem Maße, als solche zunimmt, und theils den Körper durch künstlichere Übungen ausarbeitet, theils den Geist über dasjenige belehrt, was in Figur, Stellung und Bewegung schicklich und schön ist, schnell und sehr merklich veredelt wird, da hingegen die Töne der Wortsprache durch jene Fortschritte nur langsam und wenig verändert werden. Der gemeinste und der am besten erzogene Mensch reden einerley Sprache, und bedienen sich zur Bezeichnung ihrer einfachen Ideen derselben Ausdrücke; aber wie erstaunlich verschieden sind ihre Pantomimen und ihre Gesticulationen. ‒ Was die sogenannten Complimente betrifft, welche als der zweyte Bestandtheil der Höflichkeitsmoden anzusehen sind: so machen sie einen eigenen Zweig der Beredsamkeit, d. h. der Kunst aus, sich der Sprache aufs zweckmäßigste, zur Darstellung der Ideen oder Gesinnungen, die man mittheilen will, zu bedienen. Wie nun der Styl eines Volks, und seine Redekunst überhaupt, sich ausnehmend ändern, und um sehr vieles verbessern kann, indeß seine Sprache in ihren Grundzügen dieselbe bleibt, so wird auch der Styl und der Geschmack, welcher in den Formularen seines Wohlstandes herrscht, an allen Revolutionen in Geist und Sitten, weit mehr als die Sprache, Theil nehmen. [208] Die Erfahrung und Geschichte bestätigt auch hierüber, was uns die Natur der Sache vermuthen ließ. Mehrere Nationen haben ihre alte Muttersprache, aus der Periode der Barbarey in die der wissenschaftlichen Cultur mit hinübergebracht: aber keine hat ihre Sitten und ihren Wohlstand bey dieser Revolution unverändert behalten. Die Verbindung mit gebildetern und gelehrtern Völkern, und die Annahme ihrer Künste und Wissenschaften, hat immer die Moden und gesellschaftlichen Gewohnheiten dieser Völker bey der zuvor rohen Nation eingeführt, aber nicht deswegen deren Sprache zur Nationalsprache der letztern gemacht. [206]

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2) Jede Sprache hat einen gewissen bleibenden Fond, der in vielen Jahrhunderten sie immer als dieselbe Sprache kenntlich macht. Die Veränderungen betreffen nicht die Wurzelwörter; ‒ (neue zu erfinden, ist fast unmöglich,) ‒ sondern nur Beugungen, Ableitungen, Zusammensetzungen der alten. Auf gleiche Weise ist wenigstens in Europa seit mehrern Jahrhunderten etwas, welches unsre Sitten und Moden, als das Wesentliche in derselben auszeichnet, und daher auch in ihnen unveränderlich ist. Die Abwechselungen spielen nur, so zu sagen, wie aufgetragne Farbe auf einem einfärbigen Grunde, und betreffen nur Zufälligkeiten. 3.) Auch in den Sprachen, wie in den Moden, kommen die meisten Veränderun- [209] gen von dem Umgange und der Vermischung mehrerer Nationen mit einander her. Gemeiniglich sind es ausländische Wörter oder Redensarten, durch deren Aufnahme oder Nachbildung die Neuerungen in der vaterländischen Sprache geschehn. Einige solcher Neuerungen sind nothwendig, wenn mit einer bisher uns unbekannten Sache, zugleich das Wort für dieselbe, aus der Fremde uns zugeführt wird. Andre sind nützlich, wenn dadurch Begriffe, die wir zuvor schon hatten, deutlicher, genauer abgetheilt, und zur Anwendung in den Wissenschaften, oder zum Gebrauch in der Poesie geschickter werden. Noch andre sind überflüssig und affectirt, wenn neue Nahmen für alte längst bezeichnete Sachen die alten verdrängen, ohne etwas besseres an ihre Stelle zu setzen. Die Neuerungen der Mode sind, in Absicht ihres Ursprungs und ihres Werths, eben so unterschieden. ‒ Neue Verrichtungen erfordern neue Werkzeuge; und neue Bedürfnisse erfordern neue Vorkehrungen, ihnen abzuhelfen. Es ist der Gang der Natur, daß beyde zusammen von Nachbar zu Nachbar übergehn, wenn einmal die Staaten unter einander in Verbindung stehn. Aber der | Vorzug, den die Menschen [210] dem Neuen und dein Fremden geben, dehnt die Nachahmung des Ausländischen auch oft auf diejenigen Dinge aus, in welchen wir schon alles eben so gut wissen, als die Ausländer, und die vorgesetzte Absicht, so gut als sie erreicht haben. Und, so wie oft ein ausdrückendes vaterländisches Wort verlorengeht, oder unedel wird, indem wir eine ausländische nicht so bedeutungsvolle Redensart aufnehmen: so kömmt auch oft ein Nationalgebrauch, selbst manches Kleidungsstück und manches Hausgeräth aus der Mode, wovon der Nutzen augenscheinlich war; indeß die schlechtere Sitte oder Mode des fremden Landes Beyfall findet, und herrschend wird. 4. So wie sich endlich diejenigen Sprachen am geschwindesten verfeinern, die mit den schon cultivirten die größte Ähnlichkeit haben, weil sie ohne Zwang das meiste von diesen annehmen können: so werden auch diejenigen Nationen an gutem Geschmack, Bequemlichkeiten und feinen Sitten am schnellsten fortgehn, deren eigenthümliche Gewohnheiten und Trachten am wenigsten von denen der Nationen abweichen, welche früher gesittet geworden sind. Die Sprachen, welche, wie die Italiänische und Französische, aus dem Lateinischen abstammen,| haben, in Behandlung wissenschaftlicher Gegenstände, lange [211] Zeit einen unstreitigen Vorzug vor den barbarischen Stammsprachen gehabt, wor-

110 | 2 Beiträge in Zeitschriften unter die Deutsche gehört: weil sie für die von dem Genie und der Philosophie der Römer und Griechen gemachten Erfindungen, Unterscheidungen und Abstractionen weit eher Wörter in ihrem eignen Vorrathe auffanden, oder die Römischen ohne Übelstand aufnehmen und nachbilden konnten. Eben dieser Vortheil, ‒ die Möglichkeit einer ungezwungenen Nachahmung, ‒ erstreckt sich über alle christlich Europäischen Völker, nachdem unter ihnen einige die Lehrmeister und Muster der übrigen geworden sind. Warum haben die Türken, die so lange unter uns wohnen, und in so mannichfaltigem Verkehr mit uns stehn, doch noch so wenig an der Ausbildung ihres Geistes und ihrer Sitten durch uns gewonnen? Warum haben sich die rauhen nordische Völker durch die südlichen verfeinern lassen; so daß Italiänische Philosophie ihren Weg nach Kopenhagen, Stockholm und Petersburg gefunden hat: indeß jenes Volk, welches in dem glücklichsten, der Cultur der Künste und der Verschönerung des menschlichen Lebens günstigsten Klima wohnet, fast in seiner ersten Rohheit und Unwissenheit geblie[212] ben ist? Die Ur|sache ist wahrscheinlich keine andre, als daß zwischen jenen Europäischen Nationen, auch selbst in ihrem uncultivirten Zustande, eine größre Ähnlichkeit vorhanden war. Erstlich sind sie alle von einerley Religion, oder stimmen doch in Grundsätzen und Sitten, so weit sie von der Religion gebildet werden, mehr überein, als irgendwo die Einwohner eines gleich großen Erdstrichs übereingestimmt haben. Zum andern sind die meisten derselben Deutschen Ursprungs. ‒ Zwar ist auch der Sklavonische Völkerstamm, ‒ eine zweyte in Europa weit ausgebreitete Menschenrace, ‒ hier zu einem beträchtlichen Grade von Cultur gelangt. Aber er hat sich auch, in dem einen Europäischen Lande, den Menschen vom Deutschen Stamme unterworfen, in einem andern sich mit ihnen zu einem Staatskörper vereinigt, in einem dritten zahlreiche Colonien derselben unter sich aufgenommen. Vielleicht war er überdies, selbst in seinem ursprünglichen Zustande, den Celtischen Völkern nicht so unähnlich, als jene Hunnen. Und endlich hat er, in der That, in dem größern Abstande seiner vormahligen Gewohnheiten von denen der übrigen Europäer, ein solches Hinderniß seiner absichtlich vorgenommenen Reformen gefunden, daß Sittlichkeit, Industrie [213] und Kunst | bey ihm noch nicht so weit in die untern Volksclassen hat eindringen können, als dies bei den Nationen Deutschen Ursprungs geschehen ist. Was diese letztern betrifft: so fand sich zwar, in den mittlern Zeiten, ein großer Abstand, in Cultur, Moden und Sitten, zwischen denjenigen Deutschen Stämmen, die in den Römischen Provinzen neue Reiche errichtet hatten, und denen, die in ihren alten Sitzen geblieben waren. Der zum Franzosen gewordne Franke, der in den Italiäner verwandelte Longobarde oder Gothe, lief dem Deutschen, Normannen, Schweden, in allem, was zum Anstande, zur Bequemlichkeit und zur Kunst gehört, weit zuvor. Aber ganz verleugnete jener es nie, mit diesem aus gleichem Stamme entsprossen zu seyn. Es waren immer gewisse Grundzüge, gewisse erste Anlagen in allen diesen Nationen ähnlich. Es fehlte nichts, als daß die Wege eröffnet wurden, auf welchen die eine die Vorzüge der andern kennen lernen, und eine sich der andern mittheilen

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konnte: und sogleich kam der zurückgebliebne ältere Bruder dem mehr gebildeten jüngern nach. ‒ Aber eine Nation, die vom äußersten Ende Asiens zu uns gekommen ist, und sich durch Blutvergießen, Raub und Zerstörung unter uns festgesetzt hat; bey der die Unähnlichkeit so durchgängig ist, und so tief in das | Wesentliche [214] des Charakters hineingeht: eine solche Nation hat die Fortschritte ihrer Nachbarn sehn können, ohne weder zur Achtung noch zur Nacheiferung gereitzt zu werden. Die Grundlage ist nicht vorhanden, auf welcher sie fortbauen könnte. Und weiter thut die Nachahmung nichts, als daß sie fortbauet. Sie macht nie große Revolutionen: sie setzt nur hier und da etwas zu, oder schneidet etwas übelgestaltetes ab. ‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒ Noch ist der moralische Gesichtspunct übrig, unter welchem sich die Moden betrachten lassen. Erstlich, was ist der Nutzen oder Schaden, den sie und die Leidenschaften, die von ihnen erregt werden, ‒ die häufigen Abwechselungen derselben auf der einen, die Anhänglichkeit an ihre Vorschriften auf der andern Seite, ‒ den Menschen und den Staaten bringen? Zweytens, was ist das pflichtmäßige, oder, welches einerley ist, das vernünftigste Betragen der einzelnen Menschen in Absicht der Moden? Welches ist der National-Charakter, der, in Beziehung auf sie, einem Volke zu wünschen wäre? Die Antwort auf die erste Frage läßt sich aus folgenden Grundsätzen beurtheilen. Es ist sicher, daß jeder Mensch so viel vollkommner ist, je mehr er alles, was er [215] thut, nach seinem eignen Urtheile thut. Also, je weiter die Herrschaft der Mode um sich greift: desto mehr schränkt sie das eigne Urtheil des Menschen ein; desto weniger Wahl, Freyheit und Moralität bleibt in seinen Handlungen. Wenn der Codex der Höflichkeit bey den Sinesern wirklich so weitläuftig, und von so hohem Ansehn ist, als die Reisebeschreiber sagen; wenn er so viele ihrer Schritte und Handlungen, die bey uns einfach und willkührlich sind, bestimmten und zusammengesetzten Formalitäten unterwirft: so ist er gewiß eines der größten Hindernisse, welche diese so zeitig policirte Nation in ihrem Fortgange zur Vollkommenheit aufgehalten haben. Auf der andern Seite, da es dem Menschen nicht möglich ist, auf viele Dinge zugleich seine Aufmerksamkeit zu richten: so ist es eine Erleichterung für den denkenden Mann, und den, welcher mit wichtigen Dingen zu thun hat, wenn die unwichtigern schon zum voraus bestimmt sind, oder von der Gewohnheit regulirt werden. Er überläßt sich also gerne in gewissen Stücken einer blinden Nachahmung, um in andern desto ungetheilter seinen Verstand und seine Urtheilskraft anwenden zu können.| Moden billigt er also aus eben den Ursachen, aus welchen [216] ihm positive Gesetze überhaupt willkommen sind. Es ist in der That etwas äußerst seltnes, und es läßt sich auch kaum gedenken, daß sehr vernünftige, d. h. nachdenkende Männer (denn, wie kann die Vernunft sich thätig erweisen, als im Denken?) sehr modisch seyn sollten. Die Gelehrten und

112 | 2 Beiträge in Zeitschriften die Leute von Genie sind von je her der Vernachlässigung ihres Äußern, und besonders einer Unbekanntschaft mit den Sitten und Gewohnheiten der Zeit beschuldiget worden. Dies ist auch eine der Ursachen, durch welche sie oft von der Gesellschaft ausgeschlossen worden sind, als welche diese Mängel in Absicht des conventionellen Anständigen oft mehr verachtet, als sie die Vorzüge des Verstandes und der Wissenschaft schätzet. Es ist ein Hang zu Kleinigkeiten, und eine Aufmerksamkeit auf solche nöthig, wenn man, in Absicht der Stücke, welche unter der wandelbaren Herrschaft der Mode stehn, immer gehörig unterrichtet seyn, und ihre Vorschriften schicklich befolgen soll. Wichtige Geschäfte, ernsthafte Studien entfernen den Menschen immer etwas von den Schauplätzen, wo Luxus und Eitelkeit ihre Muster und ihre [217] neuen Erfindungen ausstellt. Sie | wenden überdies die Aufmerksamkeit des Geistes von denselben ab, indem sie das Gemüth mit Gegenständen und Bestrebungen ganz andrer Art anfüllen. Der Mensch, der die öffentlichen Angelegenheiten, oder seine eigne mit Ernst und Eifer verwaltet, der, welcher die Wissenschaften anbaut oder lehrt, und in irgend einem wichtigen, vom Staate ihm aufgetragnen, oder von seiner Lage ihm angewiesenen Berufe dem Publicum zu nutzen, arbeitet, behält unter diesen Umständen weder Gelegenheit, noch Muße, noch Unbefangenheit des Gemüths genug, um die Beobachtungen anzustellen, oder den Fleiß anzuwenden, welche der Mann nach der Mode nothwendig braucht, wenn er diesen Titel mit Ehren tragen soll. Nicht nur das geschäftige Bestreben, die neusten Moden kennen zu lernen, sondern auch die Nachgiebigkeit des Geschmacks, sie immer schön zu finden, kann nur in einem schwachen Geiste statt finden. Ein jedes selbst denkendes und lebhaft empfindendes Wesen hat seine Eigenheiten, und läßt sich nicht so schnell in seinen Neigungen durch Andrer Billigung oder Beyspiel lenken, ‒ es sey dann in den Gegenständen, welche außer seiner [218] eigentlichen Sphäre liegen, und gegen die es also gleich|gültiger ist. Aber eine Sache für wichtig halten, und doch in ihr sich ganz nach anderer, nicht nach eignem Urtheile richten; ‒ sich viel und lebhaft damit beschäftigen, und doch immer nur durch die herrschenden Meynungen regiert werden, zeigt Schwäche und Kleinheit an. Dieß gehört demnach unter die übeln Folgen häufig abwechselnder Moden, daß sie die Frivolität und den Leichtsinn nähren; daß sie eine unrichtige Schätzung des Werths der Menschen veranlassen; daß sie oft den Weisen von der Gesellschaft entfernen, und dem Thoren darin ein Ansehn geben. Wo Kleidung und Sitten einfach, gleichförmig und weniger veränderlich sind: da herrscht sicher unter den Bürgern Ernsthaftigkeit des Charakters, und ein gewisser Geist der Gleichheit; aber auch vielleicht weniger Geselligkeit und weniger Industrie. Was für eine reichhaltige Materie wird dem Gespräche entzogen, wenn niemand über die Moden und über die Etiquette Rath geben kann, oder sich Raths

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zu erholen braucht. Welcher Reitz fehlt den gesellschaftlichen Zusammenkünften, wo die Eitelkeit in neuem und wohlgewähltem Putze nicht mehr wetteifern kann! Und wie viel weniger Beschäftigung muß die arbeitende Classe haben, wo die [219] Distinctionen des Ranges und des Reichthums sich mehr durch dauernde Kostbarkeiten, als durch oft erneuerten und veränderten Schmuck zeigen! Ich habe schon oben noch eine andre schädliche Seite der Moden bemerkt, daß, da die Reichsten gemeiniglich die Mode bestimmen, (weil sie es sind, auf die der große Haufe sieht,) die Abänderungen derselben oft keine andre Absicht haben, als neue Mittel zu suchen, Reichthum zu zeigen. Daher die theurern Moden so oft die wohlfeilern, eben so guten, verdrängen. Und dies hat die schlimme Folge, daß sie die Glücksumstände des Mittelstandes immer mehr und mehr zerrütten, und bey einem zu eiteln Volke den Ruin vieler Familien hervorbringen. Wenn die Moden unverändert bleiben: so kann Reinlichkeit und Sorgfalt den Unterschied zwischen dem alten Kleide oder Hausgeräthe des Unbegüterten, das nur wohl erhalten worden ist, und zwischen dem neuen des Reichen unmerklich oder doch weniger auffallend machen. Ändert sich aber Schnitt und Form der Sachen: so wird es auf den ersten Augenblick sichtbar, welche von ihnen in der gegenwärtigen Zeit verfertigt worden | sind, und welche aus einer ältern herstammen: und [220] der Abstand zwischen dem Reichen, der seinen und seines Hauses Schmuck immer wieder erneuern kann, und dem weniger Vermögenden, der sich mit dem einmahl angeschafften lange Zeit behelfen muß, fällt sogleich ins Auge, als beyde zusammenkommen. Daher wird der Stolz des einen genährt, der andre findet sich gedemüthigt, und die Absonderung zwischen ihnen wird größer. Oder wenn der Ärmere der falschen Schaam die Klugheit und die Sparsamkeit aufopfert, und das noch Brauchbare seiner Sachen so oft vertauschen will, als es unmodisch wird: so zieht er sich wirkliche Noth zu, indem er einem Übel der Einbildung abzuhelfen sucht. Die Moden, ‒ um diese Betrachtungen unter einfache Gesichtspuncte zusammenzufassen, ‒ sind zu betrachten, entweder insofern sie ein Theil des Luxus, oder insofern sie Producte des Fleißes und der Erfindsamkeit, oder insofern sie Beschäftigungen für die Aufmerksamkeit und Gegenstände der Begierden für die modischen Menschen sind. In der ersten Beziehung kömmt es hauptsächlich auf die Fragen an. 1) in wiefern bey einer Nation die Veränderlichkeit der Moden selbst den Luxus befördere, und wie viel Schuld die erstre habe, wenn | der letztre seine Gränze überschreitet. [221] 2) ob der Luxus, der mit größern aber seltner zu erneuernden Kostbarkeiten getrieben wird, oder ob der, welcher seinen Glanz und seinen Genuß in der häufigen Abwechselung und Umgestaltung der Zierrathen findet, der bessere sey. Allerdings wird Prachtliebe von der Mode nicht erst erzeugt: aber sie hat ohne dieselbe weniger Nahrung, ‒ sie bleibt mehr eingeschlossen in den Ständen und Familien, die durch ihre Vorzüge im Staate zu schimmern verbunden sind, und vermöge ihrer ererbten Reichthümer alte Kleinodien besitzen. Da der Mensch, der seine alten, ihm längst bekannten Kostbarkeiten zur Schau ausstellt, selbst keinen

114 | 2 Beiträge in Zeitschriften Genuß von ihrem Anblicke haben kann, sondern lediglich, wenn ihn etwas dabey freut, durch die Eitelkeit vergnügt wird, andern seine Schätze zu zeigen: so wird der Trieb, dieselben zu vermehren, oder neuen Aufwand in Anschaffung ähnlicher zu machen, wenig erweckt. Auch dem Zuschauer und Bewundrer aus dem größern Haufen werden endlich diese Sachen alltäglich. Er sieht ohne das den Besitz derselben als etwas an, welches gar nicht für ihn gehört: und wenn er nie oder selten Veränderungen darinn bemerkt, so wird auch endlich seine Aufmerksamkeit auf [222] dieselben matt, womit seine Begierde also zu|gleich wegfällt. Hingegen wenn der Reiche an jeder neuen geschmackvollen, oder für geschmackvoll gehaltnen Form seines Putzes und der sein Haus schmückenden Gegenstände, schon im Anschauen derselben sich selbst vergnügt, indem er sich zugleich dadurch geschmeichelt findet, daß er andern zeigt, wie viel er aufwenden könne: so wirken zwey Triebfedern auf ihn, ihn zu einem immer größern und größern Aufwande zu bewegen. Und damit vermehrt sich zugleich der Reitz für andre, ihn nachzuahmen: ‒ wie dann jeder das, was andre seit undenklicher Zeit besessen haben, weit weniger beneidet, und weniger selbst zu haben wünscht, als das, was sie eben jetzt sich anschaffen. Aber eben hieraus kann man beurtheilen, welcher Luxus an sich der bessre sey. Der mit Ausstellung unveränderlicher, aber sehr kostbarer Dinge getriebne, ist der Luxus roher Völker und barbarischer Zeitalter. Er befriedigt weder die Sinne, noch beschäftigt er die Einbildungskraft. Gold, Silber und Edelgesteine aufzuhäufen, dazu gehört weder Verstand noch Geschmack; und sie vorzuweisen, kann weder ein angenehmes Gefühl erregen, noch das mindeste zu denken geben. Aber der Luxus, der mit den unaufhörlich sich verändernden Producten des Kunst- und des Hand[223] werksfleißes | getrieben wird, setzt voraus, daß man über seine Gefühle und Bedürfnisse [raissonirt] habe, und zieht einen wirklichen Genuß neuer Bequemlichkeiten oder Annehmlichkeiten nach sich. Er vergnügt das Auge durch schönere Gestalten, oder erquickt es wenigstens durch den Glanz der Neuheit. Er ist nicht nur ein Werk der Kunst, sondern bringt auch Kunstgefühl und die an dasselbe geknüpfte Geistescultur bey denjenigen hervor, für welche er arbeitet. In einem bloß prächtigen, goldreichen Pallaste kann ein ungebildeter, geschmackloser Mensch wohnen. Aber umgeben von allen den fein ausgedachten Bequemlichkeiten, und den mannichfaltig schönen Formen, welche unser modischer Luxus fordert, und immer aufmerksam darauf erhalten durch neue Erfindungen und eine unaufhörliche Veränderung der decorirten Scene, ‒ kann der Reiche unsers Zeitalters nicht ohne alle Bildung des Geistes bleiben, selbst wenn er sich nur dem Genusse des Vergnügens widmet. Es wird nicht ohne Grund von den Großen gesagt, daß sie alle Künste zu wissen scheinen, ohne eine gelernt zu haben. Indem der Kunstfleiß ihnen seine Producte zuerst und in der größten Menge und Abwechselung vorweiset, weil sie sie am besten bezahlen können, bringt er ihnen zugleich Begriffe von unzähligen Dingen bey, [224] die sie zuvor nicht | kannten, und bildet ihren Geschmack durch die mannichfaltigen Vergleichungen, zu denen er sie nöthigt. Nie wird also Eitelkeit und Prachtliebe bey einer Nation, die eine einfache und stets gleichförmige Lebensart, wenige Be-

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dürfnisse und unveränderliche Mittel zu deren Befriedigung, ‒ die, mit einem Worte, keine Moden hat, weder so hoch steigen, noch sich unter alle Stände so weit ausbreiten, ‒ als bey einer, wo der Luxus eben sowohl zusammengesetzter, als durch die Mode abwechselnder ist. Aber nie werden auch jene Leidenschaften der ersten Nation zu ihrer Aufklärung und Bildung so nützlich werden, nie sie zu so vielerley Beschäftigungen des Geistes veranlassen, noch das Fehlerhafte, das in ihrem Wesen liegt, durch gelegentliche gute Folgen so reichlich bey ihr vergüten. Dort trennt der Luxus die Stände, hier vereinigt er sie, indem die niedern bald für den Geschmack der höhern arbeiten und ihn bilden helfen, bald ihn nachahmen. Dort dient die Pracht der Großen, die nie verändert und selten zur Schau ausgestellt wird, nur ihren Stolz zu unterstützen, und selbst den Despotismus zu befestigen, weil das Volk von der Bewunderung des ihm ganz unbekannten und ihm unerreichbaren Prunks, zur Unterwürfigkeit unter den, welcher | darin erscheint, leicht über- [225] geht. ‒ Hier wird sie ein Zunder für den Ehrgeitz aller Classen, ein Gegenstand der Untersuchung oder der Nacheiferung, ‒ eine Veranlassung zur Arbeitsamkeit für die eine, zur Kenntniß und zum Geschmack für die andre. ‒ Kurz, wie die Unmäßigkeit im Essen, wenn der Mensch sich mit einer einfachen Speise überfüllt, zugleich unedler, und nach dem Zeugnisse einsichtsvoller Ärzte auch schädlicher ist, als wenn er, durch eine Mannichfaltigkeit von Gerichten und Zurichtungen gereitzt, das Maaß seines Bedürfnisses überschreitet: so hat die Unmäßigkeit im Aufwande auf die äußre Lebensart überhaupt an sich einen rohern und geschmacklosern Charakter, und einen minder vortheilhaften Einfluß durch ihre Folgen, wenn sie das Prächtige bloß in einzelnen wenigen und nie veränderten Kostbarkeiten, als wenn sie es in mannichfaltigen und stets abwechselnden Verschönerungen der täglichen Bedürfnisse sucht. Hieraus erhellet zugleich, daß unter dem zweyten Gesichtspuncte, ‒ als Producte der Kunst oder der Handarbeit betrachtet, ‒ die Gegenstände der Moden durch ihre Veränderlichkeit selbst der Gesellschaft Nutzen bringen, und den Individuen am wenigsten schädlich werden. Für das bloße Bedürfniß arbeiten nur wenige Hände. Um die wirklich verbrauch|ten Sachen wiederherzustellen, oder die abge- [226] nutzten Bequemlichkeiten zu erneuern: dazu reicht eine viel kleinere Anzahl fleißiger Menschen zu. Aber wenn auch für das bloße Vergnügen des Auges, das nach Salomo sich nimmer satt sieht, und nie lange an demselben Anblick sich ergötzt, erfunden und gearbeitet wird; wenn eine veraltete Form den Kleidungen und dem Hausgeräthe allen Werth in den Augen der Reichen und Modischen benimmt, so tauglich und unversehrt auch der Stoff seyn mag: so kann die industriöse Classe im Staate weit zahlreicher werden; sie kann weit ununterbrochner mit Arbeit beschäftigt seyn; und, welches ein Hauptmoment ist, sie gelangt in ihrem Gewerbe zu einer weit größern Geschicklichkeit. Sich noch weiter in die hiermit gränzenden Untersuchungen einzulassen, ‒ ob diese so große Vervielfältigung und Vertheilung der Handarbeiten auch glückliche Menschen mache, so wie sie viele Menschen ernährt: ‒ dies würde von dem Gegenstande dieser Abhandlung zu weit entfernt liegen. Im

116 | 2 Beiträge in Zeitschriften Allgemeinen darf man annehmen, daß, was die Bevölkerung vermehrt, und diese Vermehrung fortdauernd erhält, auch der Menschheit überhaupt nicht nachtheilig sey. Die beyden bisher betrachteten Beziehungen der Moden sind eigentlich politi[227] sche. Und unter densel|ben zeigen sie sich von ihrer vortheilhaftesten Seite. Der Gesetzgeber, welcher den Luxus aus seinem Staate nicht gänzlich verbannen kann, wird ihn lieber in mannichfaltige Arten, und unter eine große Anzahl von Gegenständen vertheilt, als ihn auf einige wenige concentrirt, ‒ ihn lieber in immer veränderten Gestalten sich gleichsam erneuern und fortpflanzen, als in einer einzigen unverändert fortdauern sehen. Er wird den Hang zu Dingen, welche die Kunst hervorbringt, und welche nur durch ihre Form und die Fabrication kostbar werden, bey seiner Nation lieber sehen, als die Begierde nach den bloßen kostbaren Naturproducten und Sachen, deren Werth lediglich in ihrem Stoffe liegt, dergleichen Gold, Silber und die edlern Steine sind. Und beyde Wünsche erreicht er leichter, wenn in den Bequemlichkeiten und in der Lebensart bey seinem Volke, die einen immer etwas neues erfinden, und die andern es nachmachen; alle aber einander ähnlich seyn wollen, indeß sie sich zugleich nach Veränderung sehnen: das heißt, wenn es Moden und modische Leute unter ihm giebt. Aber in dem Verstande und Herzen der einzelnen Menschen, welche von der Mode beherrscht werden, ist die Wirkung derselben zweydeutiger. Der erste Umstand, der hierbey in Betrachtung kömmt, ist, daß die Mode die [228] Dinge, welche die Begierden reitzen, so erstaunlich vervielfältigt. Bey jedem Wechsel in den Methoden oder in den Werkzeugen zu der Befriedigung unsrer Bedürfnisse, werden die letztern immer zugleich erweitert. Durch eben das Raffinement, welches neue Formen des alten Putzes ausfündig macht, kömmt man auch bald auf ganz neue Arten des Schmuckes. Indem wir die Geräthe unsrer Wohnungen und unsrer Tafeln oft erneuern, lernen wir Bequemlichkeiten und Zierrathen beyder Arten kennen, die wir zuvor gar nicht begehrten. Das Gefühl, das beym Alten nach und nach stumpf wird, erwacht und belebt sich wieder bey dem Neuen: und so wird es in der Nation, die stets neue Moden hat, nach und nach immer zarter und weichlicher, ‒ unterscheidet das Angenehme und Unangenehme immer genauer, und fordert immer vielfachere und sorgfältigere Anstalten zu seiner Befriedigung. Die Moden gehen daher immer von dem Einfachern zu dem Künstlichern und Zusammengesetztern fort: und die Menge der Dinge vermehrt sich täglich, welche zu besitzen, oder mit denen sich auszuzieren für den Mann nothwendig wird, der, auch im besten Sinne des Worts, ein Mann nach der Mode seyn will. Wie sehr werden dadurch die Gegenstände der sinnlichen Begierden vervielfäl[229] tigt, und wie sehr also auch die Veranlassungen zu allen den unsittlichen Leidenschaften vermehrt, zu welchen jene Begierden Anlaß geben, sobald sie entweder unzeitig, und den Glücksumständen des Menschen nicht angemessen, oder unmäßig sind! Die großen Vorwürfe der Habsucht und des Ehrgeitzes biethen sich nur selten dar. In Zeitaltern, und bey Nationen, wo die Menschen beynahe darauf einge-

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schränkt sind, sich Ländereyen und Geld, oder Herrschaft zu wünschen, und die in ihrer täglichen Haushaltung Einförmigkeit und Einfalt haben, kann das Gemüth der Menschen zuweilen ruhig werden, und hat, wenn edlere Anlagen der Wißbegierde oder der Tugendliebe in ihm sind, Zwischenzeiten, wo es, von niedrigern Wünschen ungestört, an der Erreichung dieser Endzwecke arbeiten kann. Aber in einer Nation, wo der Luxus der Moden eingeführt, und dieser in alle Theile des einsamen und des geselligen Lebens eingedrungen ist: da ist die Anzahl der Dinge, welche die Begierden der Menschen reitzen, unendlich; und jeder Tag biethet ihnen etwas neues dar, wonach sie entweder mit Heftigkeit streben, oder dessen sie mit Unzufriedenheit entbehren. Bald macht uns ein modisches neues Putzstück, bald ein geschmack|vol- [230] leres oder bequemeres Meubel lüstern und unruhig. Der, welcher heute mit der Auszierung seines Hauses, oder mit den Anstalten zu seinen künftigen Gastgebothen eben fertig geworden ist, lernt morgen vielleicht in den Häusern der noch reichern und vornehmern Leute, als er ist, oder in den Magazinen der Manufacturisten und Kaufleute schönere, oder doch neumodischere Modelle von allem dem, was er angeschafft hat, kennen: und nun ist ihm seine ganze Herrlichkeit auf einmahl verleidet. Er muß entweder durch neuen Aufwand die entdeckten Lücken seines Apparats ausfüllen und diese Flecken wegwischen, oder er muß mit Mißvergnügen und einiger Schaam dasjenige behalten und andrer Augen zeigen, was ihm nun weder selbst mehr das gehoffte Vergnügen macht, noch bey andern die erwartete Ehre bringt. Da nun, vermöge des unaufhaltbaren und nie versiegenden Stroms der Mode, dieser Veränderungen kein Ende ist; ‒ da alle diese mannichfaltigen Gegenstände der Begierden unsern Bestrebungen, sie zu erreichen, stets zuvorlaufen, indem die industriösen Menschen vieler Länder schon immer wieder arbeiten, neue Wünsche in uns zu erregen, indeß wir noch beschäftigt sind und Geld aufwenden, um die alten zu befriedigen: wie wäre es dann den Menschen, die in | dieser Atmo- [231] sphäre leben, und von dem Hange zu modischer Eleganz angesteckt sind, möglich, je ein ganz freyes und unbekümmertes Gemüth zu haben? Diese Gegenstände der Begierden, welche das modische System der Europäischen Lebensart aufstellt, sind erstaunlich zahlreich: und sie sind zugleich klein. Das ist ein zweyter Umstand. Sie beschäftigen den Geist der Menschen, deren Aufmerksamkeit einmal auf sie gerichtet ist, unaufhörlich, aber nie oder selten sehr stark und lebhaft. Sie entzünden alle Augenblicke kleine Aufwallungen von Begierde oder Unmuth, aber sie erregen selten große Leidenschaften. Sie machen also den Geist zugleich klein, indem sie ihn beunruhigen. Vielleicht vergüten sie den Schaden, welchen sie thun, indem sie noch größere Übel verhüten. Vielleicht ist es dieser zusammengesetzte und veränderliche Luxus unsrer Tage, welcher dazu beyträgt, uns andre Tugenden und andre Laster zu geben, als die Alten hatten. Er hat nämlich alle die Wirkungen aufs Gemüth, welche die auf vielerley Gegenstände zerstreute oder von einer Kleinigkeit zur andern übergehende Aufmerksamkeit hervorbringt. Dadurch werden zugleich die Begierden gleichsam | getheilt: und concentrirte, und also sehr gewaltsame und wüthende [232]

118 | 2 Beiträge in Zeitschriften Leidenschaften kommen seltner zum Vorschein. Auf der andern Seite aber wird das Gemüth auch eben so unfähig, sich den ernsthaftem Angelegenheiten des Berufs oder der Pflicht mit ungetheilter Kraft zu widmen; oder sich von der Herrschaft der Begierden, die der Verfolgung seiner edlern Endzwecke im Wege stehe, ganz los zu machen. Vielleicht giebt es in einer Nation, die mit Kleidung, Ameublement und Equipagen, und endlich mit der Etiquette sehr viel zu thun hat, ‒ wenigere Menschen von einem brennenden Ehrgeitze, oder von einer unauslöschlichen Rachsucht. Aber die ganz uneigennützigen und unbestechlichen Patrioten, die, welche ihr ganzes Leben dem gemeinen Besten aufopfern, und mit ihm allein beschäftigt sind, werden in derselben ebenso selten seyn. Die Mode ist aber nicht nur eine Verführerinn, die in uns beständig neue Begierden entzündet: sie ist auch eine Gesetzgeberinn, die uns vorschreibt, was wir thun oder lassen müssen, wenn wir auf einen gewissen Grad der Achtung in der Gesellschaft Anspruch machen; sie ist eine Richterinn, welche unsern und andrer Werth [233] in unsern Augen entschei|det. In diesem dritten Gesichtspuncte kann sie den Individuen nicht weniger nachtheilig werden. Schon ist überhaupt die Pünctlichkeit in Kleinigkeiten, (und das ist der Charakter des modischen Mannes,) etwas, welches den Geist der Menschen erniedrigt und verengt, indeß es sein Leben beschwerlich macht. Die menschlichen Handlungen sollen, von Rechtswegen, durch Pflicht und Gesetze nur in großen Sachen gebunden seyn, wobey es auf Wohl und Weh der Gesellschaft, auf Ausbildung oder Verschlimmerung des Gemüths ankömmt: aber bey kleinen sollen sie frey, und dem auf der Stelle gefällten Urtheile, und der individuellen Willkühr eines jeden überlassen bleiben. Der modische Luxus kehrt es um: er giebt sehr bestimmte Regeln für das Äußere des Anzugs, für die Anordnung der Zimmer, der Tafel, der Equipagen, für die Art der Bewirthung bey jeder feyerlichen oder fröhlichen Zusammenkunft und ‒ welches das schlimmste ist, ‒ er ändert diese Regeln oft ab, obgleich immer mit gleich strenger Forderung des Gehorsams gegen die, welche eben gelten; aber er macht dafür oft die öffentliche Meynung nur allzu nachsichtig gegen Handlungen, wobey wirkliche Gesetze des Landes oder der Moral übertreten werden. [234] Eine Sache, welche auf hunderterley Art geschehen kann, nur auf eine einzige Art thun zu müssen; eine, welche vielerley gleich zweckmäßiger Gestalten fähig ist, nur in einer einzigen sehen zu wollen: ist an sich ein Vorurtheil, und ein Eigensinn. Und wer an vielen solchen Vorurtheilen klebt, ist schon dadurch von der richtigen und soliden Denkungsart abgewichen, welche den vernünftigen Mann unterscheidet; hat dadurch schon sein Gemüth überhaupt dem leeren Wahne, der Einbildung und der Laune geöffnet. Aber wenn er nun noch in seinen Gedanken eine besondre Ehre damit verbindet, jene so willkührlich bestimmte Art und Gestalt zu wissen und nachzuahmen; wenn er sich deswegen über andre erhebt, weil er in diesen Puncten besser unterrichtet, und weil er in ihrer Beobachtung genauer ist; wenn er geneigt ist, diejenigen geringer zu schätzen, oder sich von denen zu entfernen, die, unwissender oder gleichgültiger in Absicht der Gesetze der Mode, sie öfter als er übertre-

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ten: dann verschlimmert er sowohl seinen Charakter, als seinen Zustand. Indem er sich einen ganz falschen Maßstab des Werths macht, hindert er sich in der Arbeit an seiner eignen Vollkommenheit, und beraubt sich des Genusses und des Vortheils, den ihm die Vollkommenheiten andrer gewähren würden. Aus dem Triebe der Geselligkeit sind, wie ich oben gesagt habe, die Moden [235] entstanden. Um andrer Menschen willen putzt man sich, nicht für sich selbst. Um der Gesellschaft willen, die man in seine Zimmer führen will, ziert man sie mit kostbaren Meubeln aus. Was soll uns mehr mit andern Menschen verbinden als unsre Tafel? Nur um ihnen einen angenehmen Anblick, oder uns vor ihnen durch unsre Einrichtung Ehre zu machen, nehmen wir zu ihrer Besetzung so viele Künste zu Hülfe, und sind dabey so genau in Beobachtung aller Gesetze der Mode. ‒ Aber eben diese mannichfaltigen Zierrathen und Vorkehrungen, welche bestimmt waren, das gesellschaftliche Leben angenehmer zu machen, und durch einen neuen Reitz, den sie dem Umgange geben, die Menschen öfter und näher zusammenzubringen, haben, indem sie zu zahlreich, zu künstlich, und besonders zu veränderlich geworden sind, und ein zu gesetzgeberisches Ansehn erworben haben, das gesellschaftliche Leben beschwerlich und mühsam gemacht, den Umgang von seinem wahren Endzwecke, der Austauschung der Ideen, abgelenkt, die Menschen von einander getrennt, und den Saamen zum Neide und zum Stolze, zwey der ungeselligsten Leidenschaften, unter sie ausgestreuet. Ich bemerke zuerst, daß zwischen den Menschen von verschiedenem Stande [236] und verschiedenem Vermögen dadurch eine größere Scheidewand aufgeführt worden ist. Reichthum und Rang geben dem, welcher sie besitzt, einen entschiedenen Vorzug in allen Artikeln des modischen Luxus: der Rang, insofern er den Menschen den besten und glänzendsten Mustern näher bringt; der Reichthum, insofern er ihn in den Stand setzt, sie nachzuahmen. Der Einfluß hiervon erstreckt sich, so wie der Luxus selbst, auf alle Theile des menschlichen Lebens, und erhält also den Abstand jener Classen beständig sichtbar. Diese Scheidewand, die durch lauter Kleinigkeiten, aber Kleinigkeiten, die in die Augen fallen, oft Leute von einander trennt, die nach ihren innern und wesentlichen Eigenschaften gemacht waren, Freunde zu seyn, ist ein großes Übel. Aber es ist dem Luxus nicht allein zuzuschreiben, da der Grund dazu schon in den Verfassungen der bürgerlichen Gesellschaft liegt. Die Hindernisse hingegen, die durch ihn der Umgang auch bey denjenigen Menschen leidet, welche Stand und äußere Verhältnisse mit einander verbunden haben, kommen ganz auf seine Rechnung. Er ist es, welcher die Zurüstungen dazu so weitläuftig und mühsam gemacht hat, daß die Sorge dafür oft das gesellige Vergnügen selbst, wozu sie abzwecken, vernichtet,| und fast immer vermindert. Wie viel hat [237] nicht der gastfreye Mann, welcher modische Leute in seinem Hause bewirthen will, ‒ zu bedenken, zu veranstalten, anzuordnen! ‒ Wie viel hat er nicht bey aller seiner Kenntniß des Üblichen, und bey seiner angestrengtesten Aufmerksamkeit, von der Nachlässigkeit oder Ungeschicklichkeit seiner Bedienten zu befürchten! Aus einem Gegenstande der Lust ist eine Sache der Eitelkeit geworden: und wo Eitelkeit ist, da

120 | 2 Beiträge in Zeitschriften ist Kummer und Sorge. Unter der Herrschaft der Moden und der Etiquette tritt jeder, wenn er in Gesellschaft erscheint, oder wenn er Gesellschaft zu sich einladet, gleichsam auf einen Schauplatz von Zuschauern auf, deren Beyfall er einerndten will, deren Tadel und Satyren er sich aber zugleich Preiß giebt. Jeder ist mit sich beschäftigt, um nicht Blößen zu geben, oder mit andern, um ihre Blößen auszuspähen. Die Aufmerksamkeit aller wird auf Nebensachen gezogen, und die Hauptsachen im Umgange, das vertrauliche Gespräch, die Mittheilung der Gedanken, die Ergießungen des Herzens, sind oft so gut als vergessen. Das gilt von dem Modischen in den Sachen, die man um und an sich hat, das gilt von dem Modischen in dem Anstande und dem Betragen, welches einen Theil [238] von uns selbst ausmacht. In der|jenigen Gesellschaft, die diesen Anstand am feinsten gleichsam ausgearbeitet, und ihn den meisten und den bestimmtesten Regeln unterworfen hat, wird es oft für ein größres Verdienst gehalten, diese Regeln zu wissen, und sie mit Geschicklichkeit und Leichtigkeit beobachten zu können, als einen ausgebildeten Verstand und ein gutes Herz zu haben. Man nennt das erstre, Welt haben. Zwar, wenn diese Conventionen wohl ausgedacht, wenn die Regeln des Üblichen so geschmackvoll gewählt sind, wie dies in den obersten Classen cultivirter Nationen am ersten zu erwarten steht, so bekömmt allerdings der Mann, dessen Sitten sich nach denselben gebildet haben, dadurch einen gewissen Glanz, der alle seine andern persönlichen Vorzüge ins Licht setzt, und auch, in Ermanglung derselben, an sich noch gefällt. Es ist also die Achtung nicht grundlos, die man jener Eigenschaft bezeugt. Aber die übertriebne Schätzung derselben ist ohne Zweifel ein Hinderniß größerer Tugenden. Indem die adliche Jugend den verdienstvollen Mann, dem es an diesem Firnisse der Weltsitten fehlt, zurückgesetzt, und Andre, dadurch allein, mitten unter dem Genusse aller Arten von Vergnügungen, ohne Wissenschaft und Arbeitsamkeit ihr Glück machen sieht: so wird ihr Hang zur Frivolität genährt; [239] das Motif, welches | sie zu ernsthaften Bemühungen antreiben sollte, wird geschwächt; und die feine, artige, modische Welt wird, eben durch das, was sie in allen diesen Puncten vollkommner macht, in dem, was den wahren Werth des Menschen bestimmt, unvollkomner und schlechter. Kein Stand aber ist, dem der Hang zum Modischen so sehr schadet, und bey welchem dieser Luxus dem Glücke und der Ruhe der Menschen so gefährlich wird, als der Mittel- oder der gute Bürgerstand. Die Galanterie, in den Moden sowohl, als in den Sitten, hat ihren eigentlichen Sitz an Höfen und beym Adel: wo ererbter Reichthum und ererbte Würde mit Muße und dem Triebe nach Vergnügen zusammenkommen. Hier kann sie sich am geschmackvollsten ausbilden, weil die vorzüglichsten Muster, die besten Producte der Kunst und des Fleißes dieser Classe von Menschen, die Geld und Ehre zugleich auszutheilen hat, am ersten zugeführt werden, und unter ihr, wegen des allgemeinen und ununterbrochnen Zusammenhangs derselben, geschwinder in Umlauf kommen. Hier kann die Beschäftigung damit weniger Übel anrichten und weniger Gutes stören, theils weil sie den Großen leichter wird, und ihnen weniger Mühe und

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| Zeit kostet, theils weil sie dieselben schon völlig müßig, oder nur mit den Angele- [240] genheiten der Haushaltung und der Regierung beschäftigt vorfindet, zwey Gegenstände, wovon der eine viele Unterbrechungen leidet, der andre vielen Umgang mit Menschen erfordert. Der höhere Bürgerstand, welcher jener oberen Classe nahe genug ist, um ihren Staat und Putz sowohl, als ihre Sitten kennen zu lernen, und dessen Eitelkeit immer aufgeregt wird, beyde nachzuahmen, ist doch in einer viel ungünstigern Lage, um in beyden zu einer gleichen Vollkommenheit, mit eben so wenigen Inconvenienzen, zu gelangen. Er ist auf der einen Seite nicht so leicht im Stande, sich von allem, was modisch und galant, was in jeder Sache die neuste Erfindung und die anständigste Sitte sey, zu unterrichten. Er sieht nicht so gute Muster, sieht sie nicht so beständig, und lernt die Veränderungen, die in den Meinungen der Menschen vom Anstande, oder in den Arbeiten und Producten ihrer Industrie vorgehen, nicht so geschwind kennen. Es sind also gemeiniglich bey seiner Einrichtung Lücken, es sind in seinen Sitten Widersprüche. Die verschiedenen Theile seiner Haushaltung, so wie die Gewohnheiten seiner Etiquette passen selten vollkommen zu einander.| Seine und der Seinigen [241] Kleider sind vielleicht prächtig und ausgesucht modern, und seine Wohnung ist gemein und altväterisch ausgeziert: oder seine Zimmer sind glänzend, und sein Tisch ist bürgerlich; oder die Tafel ist mit einem lästigen Überflusse besetzt, und die Gäste werden übel bedient. ‒ Gemeiniglich lernt der wohlhabende Bürger die Etiquette und den Luxus der vornehmen Welt erst nach und nach kennen; so wie sein wachsender Reichthum ihn in den Stand setzt, mehr zu kaufen, oder seine zunehmenden Verbindungen ihm Gelegenheit geben, mehr zu sehen. Eben so stufenweise also staffirt er sich und seine Haushaltung aus. Fast immer bleiben daher noch Spuren des ersten Zustandes, von dem er ausgegangen ist, zurück. Das Alte und das Moderne, das Gemeine und das Vornehme mischt sich bey ihm mehr, als bey demjenigen, der schon in einem üppigen und auf modischem Fuße lebenden Hause geboren und erzogen ist. ‒ So sind auch oft die Ausdrücke seiner Politesse. Er ist vielleicht pedantisch genau in Beobachtung gewisser Regeln guter Lebensart, und übersieht andre, oder verbindet zuweilen eine zu demüthige Höflichkeit mit einer falsch angebrachten Würde. Sobald eine bürgerliche Familie Anspruch darauf macht, genau modisch zu seyn: sobald ist die | größere Schwierigkeit, welche sie hat, dazu zu gelangen, und [242] das öftere Mißlingen der Bemühungen, die sie darauf wendet, für sie eben so wohl eine Quelle von Sorgen und Mißvergnügen, als eine Veranlassung zu Fehltritten. Entweder wird ihr häusliches und gesellschaftliches Vergnügen gestört, indem sie, bey der größten Aufmerksamkeit auf die Beobachtung des Anständigen und des Üblichen, sich doch alle Augenblicke in Gefahr sieht, dasselbe zu verfehlen; oder, wenn sie allen Rost des Alterthums und des bürgerlichen Wesens von sich abreiben, und sich durchaus und gänzlich modernisiren will, so wird sie zu einem Aufwande genöthigt, und zu Zerstreuungen veranlasset, die ihrem Wohlstande oder der Tugend ihrer Glieder nachtheilig sind.

122 | 2 Beiträge in Zeitschriften Denn nun kömmt noch der zweyte Umstand in Betrachtung, der dem bürgerlichen Mittelstande das modische Wesen nachtheilig macht. Der größte Theil dieses Standes hat seine Zeit mit Geschäften besetzt, die Brod bringen sollen. ‒ Er ist nicht dazu bestimmt, bloß seinem Vergnügen nachzugehn: er soll arbeiten, und ist zum Arbeiten gewöhnt. Bleibt er diesem seinem Berufe getreu, so wird seine Galanterie unfehlbar darunter leiden. Es bleibt ihm alsdann nicht Muße genug übrig, auf alle [243] Forderungen der feinen Lebensart zu denken, alle dazu | nöthigen Dinge anzuschaffen, oder sich die dazu nöthigen Fertigkeiten zu erwerben. Überdies geben alle bürgerlichen Geschäfte dem Menschen einen gewissen eignen und charakteristischen Geist, und Sitten, die damit zusammenhängen, ‒ die aber von den eigentlich modischen Sitten der feinern und vornehmen Welt abweichen. Mit den Sitten steht hinwiederum der Geschmack in Verbindung: ‒ und so wird der gute und seine Pflicht erfüllende Geschäftsmann, wenn er doch zugleich der Mann nach der Mode seyn will, sich selbst und seine Haushaltung immer mit Unzufriedenheit betrachten. ‒ Geht er aber aus seiner Sphäre gänzlich heraus, um sich in eine höhere zu erheben; entzieht er sich den Geschäften und widmet er sich der Frivolität und dem Luxus, um nur vollkommen artig zu werden: wie oft bereitet er alsdann nicht sein und der Seinigen Verderben vor? Oder, wenn er auch sein Vermögen nicht verschwendet, so bildet er doch selten seinen Geist auch nur so gut aus, als Üppigkeit und gesellschaftliches Wohlleben die Höfe und die vornehme Welt ausbildet. Der Mittelmann muß zwischen Arbeit und Gesellschaft seine Zeit theilen, oder er muß sich gefallen lassen, auch mit schlechten und sittenlosen Menschen umzugehen. [244] Seine Classe biethet nicht gnug wohlhabende und wohlerzogne Müs|siggänger dar, um einen großen Kreis von eleganter Gesellschaft auszumachen. Will er also immer unter modischen Zerstreuungen leben: so muß er auch die Unbesonnenen, die Verschwender, die Liederlichen seines Standes, oder die der vornehmern Stände, mit in seinen Umgang ziehn. ‒ Und so verschlimmert er sein Inneres, seinen Kopf und sein Herz, indem er sein Äußeres glänzend machen will. Die letzte Folge aus der Vervielfältigung modischer Bequemlichkeiten und modischer Zierrathen, und aus der auf den Besitz beyder gerichteten Sinnlichkeit und Eitelkeit des Menschen, ist die Liebe zum Gelde und die Hochschätzung des Reichthums. Wenn der Wünsche viele sind, die man mit Hülfe des Geldes befriedigen kann; wenn diese oft vorkommen; wenn deren Befriedigung eben so wohl den Weg zur Achtung und zum Ansehn, als den zum sinnlichen Genusse bahnt: so muß man nothwendig nach und nach anfangen, das Geld als das vornehmste Mittel zur Glückseligkeit, und als die solideste Basis der Ehre anzusehen. Jene Bedingung wird durch den Luxus der Moden erfüllt. Für Geld kann man alle die Sachen, welche zu einer eleganten Haushaltung gehören, haben. Mit Gelde, wenn man desselben viel [245] besitzt, kann man sich sogar den Geschmack gewissermaßen erkaufen,| indem man entweder die Künstler und Kenner bezahlt, die uns denselben lehren, ‒ oder indem man so vielmahl seine Einrichtung verändert, und so mannichfaltige Sachen an-

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schafft, bis man durch die immerwährende Vergleichung auch endlich sein Urtheil berichtiget. ‒ Modischer Luxus ist es hauptsächlich, der den Reichthum gleichsam sichtbar macht, und ihn aus den Kästen seines Besitzers vor die Augen des Publicums bringt. Dadurch allein aber kann er zu einem Mittel werden, sich Ansehn zu verschaffen. Die Bewegungsgründe sind also alsdann verdoppelt, welche der Liebe zum Gelde ihren Ursprung geben. Zwar finden wir, daß auch bey denjenigen Nationen die Geldbegierde statt findet, welche sich nur wenige Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten für ihr Geld zu verschaffen wissen, und weder in ihren Erfindungen noch in ihrem Geschmacke Fortschritte machen. So unverändert das Türkische Costume, so wenig zahlreich ihr Hausgeräthe, so einfach und abwechselungslos ihre ganze Lebensart und häusliche Einrichtung ist: so gehören demohnerachtet Geitz und Gewinnsucht unter die Charakterzüge dieser Nation. Selbst der Tartar, in dessen Gezelte, außer seinem Pferdeschmucke und seinen Waffen, wenig andre Dinge des Be|dürfnisses [246] oder der Pracht Platz finden, ist deswegen nicht ohne Begierde, Geld zu sammeln: und wenn er es nicht zu brauchen weiß, so vergräbt er es, und ist mit dem bloßen Bewußtseyn eines andern Menschen verborgnen und ihm unnützen Schatzes zufrieden. Vielleicht verhält sich die Sache so: daß die Begierde nach Eigenthum einer der ältesten und der natürlichsten Triebe des menschlichen Herzens ist, der sich zuerst bloß auf die Liebe zum Leben und die Furcht vor dem Mangel gründet. Dieser Habsucht des rohen uncultivirten Menschen macht die Entdeckung neuer Bedürfnisse gleichsam eine Diversion. Die Begierde wird auf mehrerley Gegenstände gerichtet, und verliert also etwas von ihrer ersten Heftigkeit, die ihr eigen war, da sie nur noch einen einzigen hatte. Auf dem Fortgange der Cultur giebt es einen Zeitpunct, wo die Menschen an Kunst, Schönheit und dem Anständigen Geschmack gewinnen, und doch noch einfach in ihrer Lebensart sind; ‒ wo sie den geselligen Umgang und Reinlichkeit lieben, aber noch die Pracht verschmähen, und ihr Wohlleben aus wenigen Genüssen zusammensetzen. ‒ In dieser glücklichen Periode, welche die Griechen um die Zeit des Sokrates erreicht zu haben scheinen,| ist der Umgang der [247] Menschen mit einander der freyste und traulichste, und der Genuß des geselligen Lebens am reinsten. Die Menschen gesellen sich dann zusammen nach den Ähnlichkeiten, die sich zwischen ihren Charakteren oder den Gegenständen ihrer Wißbegierde finden, nicht nach der Ähnlichkeit ihres Aufwandes, ihrer Moden und ihrer Etiquette. ‒ Der Geist wird unter ihnen, durch Ehrbegierde, Gefühl des Schönen, und gesellige Freuden abgelenkt von dem trocknen und seelenlosen Geschäfte des Geldsparens und Gelderwerbs: und wird doch noch nicht, durch eben diesen Ehrgeitz und eben diese Geselligkeit, wieder auf die Begierde nach Reichthum zurückgeführt. ‒ Dies letztre geschieht am Ende der verschiednen Perioden der Cultur, wenn während derselben sich der Luxus immer mehr vervielfältigt hat, indeß der Geschmack aufs äußerste verfeinert worden ist, nach welchem Verhältnisse dann auch die Moden häufiger abwechseln und ihre Herrschaft auf mehrere Dinge ver-

124 | 2 Beiträge in Zeitschriften breiten. Dann kann man mit andern Menschen nicht anders zum Umgange sich vereinigen, als wenn man in allem Flitter des modernen Putzes gleich ihnen schimmert. Der, welcher seiner Haushaltung diesen Glanz nicht geben kann, hält sich [248] selbst der Ver|traulichkeit mit denjenigen, welche davon umgeben sind, nicht würdig, oder wird von ihnen zurückgestoßen. Gleichviel eingebildete und erkünstelte Bedürfnisse, und einen gleich großen Vorrath von Hülfsmitteln zu ihrer Befriedigung haben: das ist das Band, welches die Menschen an einander knüpft, und von dem übrigen Haufen absondert. ‒ Diejenige Achtung, welche dem Menschen den Eintritt in die beste Gesellschaft seines Wohnorts verschafft, hängt, unter diesen Umständen, guten Theils von der modischen Eleganz und Artigkeit seines Äußern und seiner Haushaltung ab. Und da diese nur von dem, welcher den dazu nöthigen Aufwand zu machen im Stande ist, erlangt werden kann, von dem aber, welcher viel darauf wendet, auch leicht erlangt wird: so erwacht nun die Begierde reich zu seyn, von neuem in aller Herzen, selbst in den Herzen derer, welche den gebildetsten Verstand haben, und die Gegenstände geistiger Unterhaltung am besten kennen. Mit der Begierde nach Eigenthum fangen die Menschen ihre Thätigkeit an; die Begierde nach Gelde scheint unglücklicher Weise eine der letzten Leidenschaften zu seyn, in die sich alle andern auflösen. Noch ist unter den oben angegebnen Puncten der Untersuchung der letzte zu[249] rück, ‒ die Bestimmung der Regeln, welche die Vernunft ganzen Nationen und einzelnen Personen in Absicht der Moden vorschreibt. Zwar, Nationen in irgend einer Sache, und vornehmlich in dieser, Regeln zu geben, ist vergebliche Mühe. Es ist keine, in welcher die Entscheidung so ganz demokratisch geschähe, und so wenig durch die Vorstellungen einzelner Personen gelenkt werden könnte. In keiner kömmt es so sehr auf die allgemeine Denkungsart, und zwar auf die Denkungsart mehrerer Länder zugleich an. So wie die Moden, durch die Mittheilung der Gewohnheiten und Erfindungen des einen Volks an das andre, entstanden: so richtet sich auch der Geschmack an denselben, und die Leidenschaft, mit welcher sie gesucht werden, nach Gesetzen des Anstandes, in welchen die Meinungen und Gesinnungen dieser mit einander correspondirenden Nationen sich gleichsam vereinigen. Das Gesetzbuch der Mode ist, wie das der Ehre, ein allgemeines Gesetz für ganz Europa; und muß, wenn es Verbesserungen bedarf, in allen Ländern zugleich abgeändert werden. Die Reformen, die man in einem [250] Lande allein zu machen versucht, indeß die andern | dem alten System ergeben bleiben, werden auch in jenem nicht lange bestehn. Der Moralist kann also nur sagen, welcher Charakter, nach seiner Meinung, einer Nation zu wünschen wäre. Er kann sich das Ideal eines Volks entwerfen, welches zu gleicher Zeit Genie und Erfindungsgabe, mit Einfachheit in den Sitten und Mäßigung in den Begierden besitze, ‒ welches in allem, was wahre Bedürfnisse, und die Werkzeuge zu nützlichen Verrichtungen betrifft, neue und bessre Methoden ohne Unterlaß erdenke, und in dem, was bloßer Putz ist, und nur durch die Kostbarkeit gefällt, die Unveränderlichkeit und die Einfalt liebe; ‒ das Ideal eines Volks,

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das für seine Bequemlichkeiten, und denjenigen Sinnengenuß, der mit dem Wohlgefallen am Schönen, und mit den moralischen Empfindungen zusammenhängt, sehr große Empfindlichkeit habe, und für beyde viel arbeite, versuche, erfinde; ‒ aber das dem bloßen Eigensinne der Gewohnheit, der Prachtliebe der Eitelkeit, so wenig als möglich einräume, und auf ihre Erfindungen so wie auf ihre Entscheidungen wenig Werth lege. Er kann sich vorstellen, daß diese Nation frey und ungebunden in ihren Sitten, und doch zugleich artig sey, viel wahre Höflichkeit und wenig Etiquette ha|be; ‒ und das Anständige der äußern Sitten, mehr in dem wahren und [251] warmen Ausdrucke guter Gesinnungen, als in der Beobachtung conventioneller Regeln suche; ‒ daß bey ihr die Sitten und der Luxus der Großen keine solche Unterscheidung verursachten, wodurch der rechtschaffene und verständige Mittelmann von ihrer Gesellschaft ausgeschlossen würde; ‒ und daß endlich dieser letztre, weder durch den Mangel an modischer Eleganz gedemüthigt, noch durch übelgelingende Versuche, sie zu erlangen, beunruhiget, ‒ mit seiner einfachern Lebensart doch Würde zu verbinden wisse. Aber was kann er thun, um dieses Ideal realisiren zu helfen? Nichts, als auf sich selbst und die einzelnen Personen zurückzugehn, auf die er durch seine Vorstellungen Einfluß zu haben, hoffen kann, und zu untersuchen, was ihm und seines Gleichen die Pflicht befiehlt und die Klugheit anräth. Nur dadurch verbessert sich das Sittliche der Nationen, indem die Individuen, jedes für sich, das Ziel der Vollkommenheit aufsuchen, und darnach hinstreben. Die bekannteste, und in der That die nothwendigste Regel für diese, in Absicht der Moden ist, nicht zu langsam und nicht zu schnell den Abwechselungen derselben zu folgen; ‒ weder durch Alter|thum, noch durch Neuheit, sich in seinem Äu- [252] ßern auszuzeichnen. Es verräth eben so sehr einen Geist der Kleinigkeiten, ein Verdienst in den Widerstand zu setzen, den man der Einführung unbedeutender Änderungen, im Üblichen der Kleidung oder des Betragens thut, als sich mit der schnellen Nachahmung derselben zu brüsten. Ist es Eigensinn oder Nachläßigkeit, welche unsern Putz und unsere Sitten altväterisch macht: so vergiebt dies die Gesellschaft noch weniger, weil sie immer Aufmerksamkeit auf sich, und Nachgiebigkeit gegen ihren Geschmack und ihre Entscheidungen fordert. Es giebt nach meiner Beobachtung hierin einen dreyfachen Abweg, der von den Vernünftigen gemißbilligt wird. Der erste ist eine eigensinnige Anhänglichkeit an das Alte. Sie entsteht entweder aus Geschmacklosigkeit, oder aus Unzufriedenheit des Menschen mit seinem Zeitalter, oder aus Geitz, oder endlich aus bloßem Mangel der Aufmerksamkeit. Nachdem die Quelle ist, aus welcher das altmodische Wesen entsteht, nachdem sind auch die Modificationen desselben. 1. Das Neueste in den Moden ist nicht allemahl das Schönste. Aber in einem Zeitalter, das | in der Cultur allgemeine Fortschritte macht, gehn doch viele der [253] Veränderungen, welche durch den allgemeinen Beyfall, den sie erhalten, modisch werden, wirklich vom Schlechtern zum Bessern über. Unsre Kleidung ist in vielen

126 | 2 Beiträge in Zeitschriften Stücken bequemer geworden, als die unsrer Vorfahren; unsre Meubeln haben sich den reinen und eleganten Formen der Natur, und des Antiken mehr genäh[e]rt. Mitten unter diese hat die Phantasie und die Neuerungssucht, von Zeit zu Zeit, abentheuerliche, ausschweifende, und unnatürliche Moden gemischt, die aber gemeiniglich unter den übrigen die flüchtigsten sind, und am schnellsten vorübergehn. Der gesetzte Mann von gutem Geschmacke wird mit seinem Zeitalter fortgehn, aber er wird nicht jedem Einfall des Tages gehorchen; er wird, indem er sich nach den Gewohnheiten richtet, doch noch unter ihnen wählen; er wird die nützlichen Neuerungen mit Beyfall annehmen, und durch sein Beyspiel zu verbreiten suchen, die gleichgültigen, wenn sie fortdauern, mitmachen, die abgeschmackten unnachgeahmt vorübergehn lassen, oder wenn sie allgemein geworden sind, sie so weit mäßigen, daß er weder durch sein abstechendes Äußere andern auffallend werde, noch sich selbst durch die Nachahmung fremder Thorheiten mißfalle. [254] Der geschmacklose Mensch sieht von allen diesen Verbesserungen nichts, oder er findet wenigstens daran kein so starkes Vergnügen, daß seine Liebe zur Bequemlichkeit, ‒ eine Neigung, die immer für das Alte ist, ‒ dadurch überwunden würde. Er empfindet den Übelstand nicht, sich von den Personen, mit welchen er zusammenkömmt, auf eine auffallende Weise zu unterscheiden. Diese Art von altväterischen Leuten sind zugleich gemeine Köpfe, ohne Aufklärung, ohne feines Gefühl, ‒ und in ihrer innern Bildung hinter ihrem Zeitalter eben so weit zurück, als in ihrem Costume. 2. Was die Schwäche oder Verkehrtheit der Urtheilskraft bey dieser Classe thut: das thut das Vorurtheil und vorgefaßte Meynung bey der Classe der Unzufriednen. Sie entfernen sich mit Fleiß von den Trachten und Gebräuchen der gegenwärtigen Zeit, weil ihnen nichts von dem, was vorhanden ist, gefällt, und weil sie es einmal für allemal bey sich ausgemacht haben, daß ihre Zeitgenossen Thoren sind. Alte Leute finden sich oft in diesem Falle, und man vergiebt es ihnen am leichtesten. Sie haben so viele Ursachen, die Zeiten ihrer Jugend ihrem jetzigen Zustande vorzu[255] ziehn: daß man die kleine Täuschung übersieht, nach welcher sie die | Verschlimmerung, die nur in ihrer eignen Natur vorgegangen ist, in den Dingen und Menschen außer sich suchen. ‒ Überdies ist auch der Greis von derjenigen Nachgiebigkeit gegen die Meinungen und den Geschmack andrer, welche man von dem jüngern Manne fordert, losgesprochen. Aber wenn grämliches Wesen und allgemeine Tadelsucht, diesen letztern unmodisch macht: so thut der Fehler des Charakters, welcher sich dadurch offenbaret, dem tadelsüchtigen Sonderlinge in den Augen der Welt weit mehr Schaden, als der Übelstand seines altfränkischen Äußern. Es ist ein Zeichen der Heiterkeit sowohl, als der geselligen Gemüthsart, wenn der Mensch geneigt ist, in der Gesellschaft, worinn er sich befindet, mitzumachen, was die andern ihm vorschlagen, und woran sie Vergnügen finden, wenn es auch seinem eignen Geschmacke nicht vollkommen gemäß ist. Auf gleiche Weise wird der Mensch, der, gutlaunig und gutherzig zu gleicher Zeit, über die Welt, unter welcher er lebt, weder zu zürnen noch zu klagen Ursache hat, sich auch die Ge-

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wohnheiten derselben leicht gefallen lassen, und selbst sich mancher ihrer Phantasien, die er nicht billigt, unterwerfen. 3. Entsteht das altfränkische Wesen aus Geitz, welcher den Aufwand nicht machen will, den die | Anschaffung der neuen modischen Sachen erfordert, so hat es [256] wieder einen andern Charakter, der vielleicht nicht so mißfällig, aber verächtlicher ist. Um diesen Ursprung zu erkennen, muß man Stand und Vermögen eines Menschen wissen, und seine ganze übrige Aufführung mit diesem Theile derselben vergleichen können. Der Reiche hat einigermaßen die Verbindlichkeit, den Kunstfleiß zu unterstützen, indem er seine Producte ihm abkauft, ‒ und der Vornehme, welcher die Augen der Welt auf sich zieht, ist auch zu einer größern Sorgfalt verpflichtet, sich nach dem Geschmacke derselben zu richten. Wenn wir in den Häusern der Personen, welche beyde Vortheile vereinigen, von der einen Seite die Spuren von Stolz und Eitelkeit sehen, ‒ von der andern aber, einen altmodischen Geschmack finden: so können wir keck glauben, nicht, daß diese Menschen über die Kleinheit der modischen Galanterie erhaben sind, sondern daß sie von einer noch stärkern Geldliebe, als ihre Eitelkeit ist, beherrscht werden. Der, welcher mit Anstand altmodisch seyn will, muß sich im Ganzen gleichgültiger gegen den Beyfall der Welt zeigen. Der, welcher bey großem Vermögen, die dem Geschmacke des Zeitalters gemäße Auszierung seiner Person und seines Hauses vernachläßiget, muß durch die anderweitige wohl|thätige oder nützliche Anwendung seiner Reichthü- [257] mer, durch wichtige Beschäftigungen, oder durch einen Charakter von großer Würde, diesen Übelstand gut machen. Derjenige Reiche und Große hingegen, welcher nur ein gewöhnlicher Mensch ist, muß auch durchaus die üblichen Sitten haben, und sich dem allgemeinen Geschmacke, so wie den gewöhnlichen Anforderungen der Gesellschaft, in der er lebt, gemäß bezeigen, wenn er irgend etwas darinn gelten soll. Der, welcher der Welt nicht durch große Arbeiten oder wichtige Dienste nützlich ist, muß wenigstens sein Geld und seinen Fleiß, ihrem Vergnügen und der Beförderung der Industrie, durch einen geschmackvollen Luxus widmen. 4. Es giebt endlich Leute, die sich sonderbar kleiden, und in ihrem Anstande und ihrer häuslichen Einrichtung von allem abweichen, was durch die stillschweigenden Conventionen der Mode unter ihren Zeitgenossen zur Regel geworden ist, ‒ weil sie diese Conventionen gar nicht wissen, ‒ weil sie auf das Äußere der Menschen, unter denen sie leben, so wenig Achtung geben, daß sie unmöglich das ihrige darnach bilden können. Einige derselben leben von der Welt so entfernt, und sind, durch Unglücksfälle oder aus Wahl,| auf einen so kleinen Kreis von Gesell- [258] schaft eingeschränkt, daß sie weder Gelegenheit haben, die Moden und Sitten der Zeit zu erfahren, noch Ursache finden, es sich Geld oder Mühe kosten zu lassen, um dieselben anzunehmen. Andre sind, mit ihrem Geiste auch von den Dingen und Menschen abwesend, von welchen sie umgeben sind: oder werden wenigstens von ihrem sinnlichen Anblicke wenig gerührt. Entweder hat sich irgend ein interessantes Studium ihrer Aufmerksamkeit gänzlich bemächtigt, und sie für jeden Gegenstand, der nicht darauf Beziehung hat, blind und taub gemacht: oder es ist bloße Zerstreu-

128 | 2 Beiträge in Zeitschriften ung, welche sie hindert, auf irgend etwas Acht zu geben, ‒ ein Zustand, der immer eine gewisse Schwäche des Geistes verräth. Alle diese Menschen, die nicht wissen, was in dem Gebiethe der Mode Neues vorgegangen ist, bleiben natürlich beym Alten. Und je länger sie leben, und je mehr der Zeitraum anwächst, den sie so abwesend, dem Körper oder dem Geiste nach, von der menschlichen Gesellschaft zubringen: desto weiter wird der Abstand, der sich am Ende desselben zwischen ihrer Tracht, ihrer häuslichen Einrichtung, und ihren Complimenten, und zwischen der in [259] der übrigen Welt gewöhnlichen Art sich zu kleiden, zu | wohnen und sich zu betragen findet. Aus welcher Ursache auch diese Unwissenheit des Üblichen und des Modischen entstehe: so ist sie doch immer dem Menschen nachtheilig. Sie sey ein Unglück oder ein Fehler: so stört sie immer, mehr oder weniger, die Verbindung des Menschen mit seinen Zeitgenossen, in deren Umgange er doch allein sein Vergnügen, oder die Gelegenheit Gutes zu thun finden kann. Sie macht ihn bald verlegen und mißmüthig, bald verdrüßlich und ungesellig. Hängt er noch an dem Urtheile andrer, und wird er gewahr, daß über sein Äußeres ein nachtheiliges gefällt wird: so wird er durch die Unruhe, welche ihm dieses verursacht, gehindert, seine übrigen guten Eigenschaften zu seinem Vortheile zu zeigen. Vielleicht wendet er nun fruchtlose Bemühungen an, sich nach den Meinungen und Sitten der Gesellschaft zu fügen, und wird abgeschmackt und affectirt, weil er zu spät artig zu werden sucht. Oder ergreift er die Partey, das selbst zu tadeln und als lächerlich darzustellen, wovon er abgewichen ist: so ist er in Gefahr, der Gesellschaft, welche er doch niemals bekehrt, noch überdies lästig zu werden, da er ihr sonst nur mißfallen hätte. Den Gelehrten hat man in vorigen Zeiten den Fehler vorzüglich Schuld [ge]ge[260] ben, daß sie ihr | Äußeres vernachläßigten, und durch Sonderbarkeiten in ihrem Putze oder in ihren Höflichkeitsbezeugungen sich auszeichneten. Dies wird immer der Fall seyn, wenn entweder das gelehrte Studium auf keine Gegenstände geht, welche die übrigen Stände beschäftigen und vergnügen, oder wenn die Welt- und Geschäftsleute gar keinen Geschmack an den Wissenschaften finden. ‒ Durch beydes wird der Gelehrte natürlicher Weise von der Gesellschaft ausgeschlossen. Und in seiner Studierstube, oder in dem engen Kreise seiner Zunftgenossen, kann er nicht anders als altfränkisch und unmodisch werden. Dieser Zustand der Dinge hat sich heut zu Tage in Europa sehr geändert. Der Geschmack an Kenntnissen ist allgemeiner geworden: und die Wissenschaften haben alles in ihr Gebieth gezogen, was nur irgend einen beträchtlichen Zweig des praktischen Lebens ausmacht. Die Verbindung zwischen der Gelehrsamkeit und den Geschäften ist jetzt größer als jemahls: also auch die zwischen den eigentlichen Gelehrten und den Weltleuten. In eben dem Maße verliert sich also auch die altmodische Tracht und das linkische Wesen der ersten. Es ist gewiß, daß man unter den Sonderlingen, die sich lächerlich kleiden, und [261] in Sachen des Wohlstandes sich seltsam betragen, zuweilen Leute | von ausgezeichnetem Genie findet. Theils tritt bey ihnen der Fall ein, den ich zuvor berührte, daß die auf ihre eignen Ideen concentrirte Aufmerksamkeit, daß ihre mit lebhaften Dich-

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tungen angefüllte Imagination, oder ihr an eine Kette von Schlüssen geheftetes Nachdenken, die Eindrücke der Sinne schwächt, und sie deswegen sowohl unachtsamer gegen die äußern Verzierungen andrer, als gleichgültiger, in Absicht ihrer eignen macht. Theils ist mit der Originalität des Genies nicht selten ein Hang zum Außerordentlichen, und etwas Bizarrerie im Charakter und in der Handlungsweise verbunden. Der, welcher in sich natürliche Eigenschaften zu entdecken glaubt, welche Bewunderung erregen, spricht sich leicht von der Aufmerksamkeit und der Mühe los, welche es kostet, andern durch die Befolgung ihres Geschmacks, und durch die Nachahmung ihrer Sitten zu gefallen. Noch natürlicher scheint es, daß, wer mit seinen Ideen einen eignen Gang geht, oder in seiner Einbildungskraft ganz neue Gestalten der Dinge zusammensetzt, auch in seinem Geschmacke und seinen Neigungen etwas auszeichnendes habe, und daher auch in seinem Costume und in seiner Aufführung von dem Üblichen abweiche. Ein Geist, den die Natur nicht mit einem eignen Stempel bezeichnet hat, nimmt | eher das Gepräge der gangbaren [262] Sitten und der herrschenden Mode an: mit größern Kräften hingegen ist auch eine bestimmtere Form und Richtung derselben verbunden, wodurch diejenige äußre Bildung der Sitten, welche die Gesellschaft und die Nachahmung geben soll, weniger möglich wird. Es giebt daher sehr schätzbare Menschen in altfränkischer und geschmackloser Kleidung; vortrefliche Köpfe unter einem bizarren oder vernachläßigten Haarputze: und Geist und Herz eines Mannes können zu aller der Ausbildung gelangt seyn, deren sein Zeitalter ihn fähig macht, indeß die Moden, welche er trägt, und die Regeln des Wohlstandes, nach denen er sich richtet, noch aus vergangnen Jahrhunderten sind. ‒ Aber es würde sehr irrig seyn, aus der Vernachläßigung der Moden und Sitten der Zeit, auf jene höheren Geisteskräfte zu schließen, oder auch nur beyde oft vereiniget zu glauben. Die eigentlichen Genies, ‒ die, welche mit großem Verstande oder großer Einbildungskraft auch etwas so eigenthümliches verbinden, daß sie dadurch zur Erfindung des Neuen geschickt, aber zugleich zur Nachahmung des Üblichen unfähig werden, sind überhaupt selten. Auch unter den Genies giebt es immer noch viele, welche originell in ihrem Denken, und ganz gemein in ihrer | Kleidung und in ihrem Decorum sind; ‒ welche in den Werken ihrer Kunst, oder in [263] der Betreibung ihrer Geschäfte sich über die übrigen Menschen erheben, und in ihrem alltäglichen und geselligen Leben sich denselben völlig gleichstellen. Die Leute hingegen von bloß gesunder Vernunft, die jenes Eigenthümliche nicht haben, sind, eben durch ihren Verstand, auch zur Beobachtung der Regeln des Wohlstandes, welche die allgemeine Gewohnheit vorschreibt, sowohl geschickter als aufgelegter. Diese Classe, ‒ die schätzbarste und unentbehrlichste von allen, ‒ findet man also am ersten unter einem Äußern, welches sich weder durch Alterthum noch Neuheit auszeichnet. Der größte Theil derjenigen Menschen hingegen, welche, auf eine auffallende Weise, sich von der Gesellschaft, in welcher sie leben, in Sachen der Moden und der Gewohnheit, unterscheiden, zeigt sich eben so abgeschmackt in seinen Reden, und eben so widersinnig bey seinen Unternehmungen, als seine

130 | 2 Beiträge in Zeitschriften Kleidung oder das Ameublement seiner Zimmer gothisch, und als sein Wohlstand veraltert ist. Sey es Mangel des Beobachtungsgeistes, sey es Eigensinn und Steifheit des Charakters: dieselbe Mischung intellectueller und moralischer Mängel, die sie [264] so unfähig macht, das System modischer Sitten zu lernen,| und das Gute, welches in der Übereinstimmung mit ihren Nebenmenschen liegt, zu schätzen, ‒ eben diese Mischung hindert sie auch überhaupt, richtig zu denken, und bey ihren Handlungen mit sich selbst, oder mit den Regeln der gemeinen Menschenvernunft zusammenzustimmen. Der zweyte Abweg in Absicht der Moden ist, eine übermäßige Pünctlichkeit in Befolgung aller ihrer Veränderungen. Es giebt Personen, besonders unter dem weiblichen Geschlechte, welche glauben, ihre ganze Achtung bey der Gesellschaft stehe auf dem Spiele, wenn nur eine Falte ihres Kleides anders gelegt, und eine Nadel in ihrem Kopfzeuge anders gesteckt sey, als es die strengste Mode erfordert; ‒ Personen, die sich so sehr fürchten, mit einer neuen Mode etliche Tage zu spät zu kommen, als immer ein Feldherr nur fürchten kann, sich mit seinen Operationen zu verspäten, und sich vom Feinde, in Besetzung eines vortheilhaften Postens, zuvorkommen zu lassen. Eine Folge davon ist, daß auch die Wißbegierde und die Thätigkeit dieser modischen Schönen durch den Gegenstand völlig erschöpft wird, welcher ihren Ehrgeitz so sehr in Bewegung setzt. Ihre unaufhörliche Nachforschungen [g]ehen darauf, zu [265] erfahren,| was Mode sey: und ihr vornehmstes Geschäft ist es, das, was sie in dieser Absicht den einen Tag gelernt haben, den andern in Ausübung zu bringen. Jenes macht den Gegenstand ihrer Gespräche und ihrer Beobachtungen aus, wenn sie in Gesellschaft sind: und mit diesem füllen sie ihre einsamen Stunden aus. Sie sind immer in Berathschlagungen über ihren Putz, entweder mit ihren Gespielinnen, oder mit ihrem Schneider und Galanteriehändler. Das Studium der Mode ist weitläuftig und schwer, wenn es dieser eigensinnigen und veränderlichen Führerinn auf allen ihren Schritten und Tritten nachgehn, und ihre Vorschriften, bis auf ihre flüchtigsten Grillen, verfolgen will. Wie kann aber in einem Geiste, der ohne Nachlaß mit diesen Kleinigkeiten angefüllt ist, Raum zu dem Wichtigen übrig bleiben; ‒ es sey zu den Gegenständen der Erkenntniß, welche ihn selbst zieren und anbauen sollen, es sey zu den Geschäften des Lebens, welche seine Pflichten ausmachen? ‒ Und wie ist es möglich, daß nicht der ganze Maßstab, nach welchem der Mensch den Werth der Dinge bestimmt, verfälscht, und also seine Urtheilskraft mit seinem Geschmacke zugleich verdorben werde, wenn er sich gewöhnt, das Außerwesentlichste und Willkührlichste in den [266] Auszie|rungen seiner Person und seiner Sachen, für etwas unentbehrliches und gesetzliches zu halten? Es ist ein wirkliches Verdienst für ein Frauenzimmer, sich gut zu putzen. ‒ Da es zu den Endzwecken, welche die Natur sich mit diesem Geschlecht vorgesetzt hat, gehört, daß es gefallen soll, so ist jede Bemühung, die es anwendet, sich wirklich zu verschönern, seiner Bestimmung gemäß. Und es ist allerdings den Frauenzimmern

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erlaubt, mehr Zeit und Sorgfalt auf die Wahl und Anordnung ihrer Kleidung zu wenden, als wir Männer ihr widmen dürfen. ‒ Aber worinn besteht dieses Verdienst? Eben darinn, daß sie in dieser Wahl ihren Verstand und ihren guten Geschmack zeigen; ‒ nicht darinn, daß sie die Moden, ‒ sondern darinn, daß sie sich selbst kennen; daß sie wissen, was ihnen wohl, und was ihnen übel steht; daß sie Formen und Farben der Kleider nach ihrem Gesichte, nach ihrem Wuchse, auch ihrem Alter und ihren Umständen gemäß, wählen; daß sie ihre natürlichen Mängel geschickt zu verbergen, ihre schönsten Theile ans Licht zu bringen wissen, ohne Affectation zu verrathen; ‒ daß sie mit einem Worte ihrer Natur treu bleiben oder derselben zu Hülfe kommen, indeß sie doch von dem Üblichen auf keine | auffal- [267] lende Weise abweichen. ‒ Dieses Verdienst nun kann sich kein Frauenzimmer erwerben, welches strenge der Mode folgt. Ihm ist alles pünctlich vorgeschrieben. Alles was die Vornehmsten oder die Galantesten seines Geschlechts tragen, ist ein Gesetz, welches es befolgen muß, es mag dadurch verunstaltet oder verschönert werden. Die Modethörin urtheilt nicht über ihren Putz, sie wählt nicht: sie äfft nur nach. Sie schmückt sich nicht selbst, ‒ sie übergiebt sich nur ihrem Coeffeur und ihrem Schneider, sie auszustaffiren. Doch diese eigne Wahl seines Anzugs, welche einem Frauenzimmer sehr rühmlich ist, wenn es unter mehrern üblichen Trachten die ihm angemessenste aussucht; wenn es, ohne nach dem Neuesten zu haschen, bey dem an sich schönen, welches die Mode zuweilen hervorbringt, am längsten aushält, und am schnellsten wieder zu demselben zurückkehrt; wenn es weiß, sich nach der allgemeinen Gewohnheit zu richten, und doch etwas eigenthümliches beyzubehalten; wenn es, mit einem Worte, immer den klügsten und besten ihres Geschlechts ähnlich erscheint, indeß es doch keine knechtische Nachahmung verräth: diese Wahl, sage ich, gränzt an einen Fehler, der eben so, wie die bisher geschilderten, zu vermeiden ist. Er ist von den drey Abwegen, die ich | oben angekündigt habe, der letzte. Indeß der altfränki- [268] sche Sonderling das Costume der Vorwelt eigensinnig und geschmacklos beybehält, ‒ der Modethor sein Verdienst in der pünctlichen Gleichförmigkeit seines Äußern mit den neuesten Modellen der Galanterie setzt: sucht eine dritte Classe, der es mehr darum zu thun ist, die Augen auf sich zu ziehn, als zu gefallen, und die nur Aufsehn machen, nicht gerade Beyfall erhalten will, das Neue, welches die zweyte Classe von andern copirt, selbst zu erfinden, und andern zur Nachahmung aufzustellen. Das sind Sonderlinge einer andern Gattung, als jene Altmodischen. Sie weichen auch von allem Üblichen ab, ‒ aber durch das Neue und Außerordentliche. Entweder übertreiben sie die Moden auf eine ausschweifende Weise, und die ihnen nur allein eigen ist: oder sie selbst setzen Farben und Formen der Dinge zusammen, wie sie vor ihnen noch niemand sah, niemand trug. ‒ Reichthum und Pracht kann solche Thorheiten erträglich machen. Denn wenn das Ausschweifende nur glänzt, wenn es nur oft neu und verändert erscheint: so läßt die große Welt es sich gefallen, und der Pöbel staunt es an, obgleich die klugen Leute darüber lachen. Aber wenn Zeichen der Armseligkeit, oder auch nur eines mittelmäßigen Vermögens, sich mit solchen

132 | 2 Beiträge in Zeitschriften selbst erfund|nen, und ausschweifenden Moden verbinden: so ist die kahle, nackte Abgeschmacktheit der letztern so sichtbar, daß die Person, welche sie trägt, der allgemeinen Verachtung nicht entgehn kann. Für einen Mann ist es durchaus unschicklich, sich mit Erfindung von neuen Moden abzugeben. Einem Frauenzimmer hinwiederum thut alles Ausschweifende und Außerordentliche in der Kleidung und in dem Betragen deswegen mehr Schaden, weil es von den dem weiblichen Charakter unentbehrlichsten Tugenden mehr abweicht. Jener verräth durch eine solche Originalität in Kleinigkeiten, daß er nichts besseres zu thun hat; daß seine Aufmerksamkeit auf eben so unwichtige Gegenstände gerichtet ist, als sein Ehrgeitz; ‒ daß er sehr wünscht, bemerkt zu werden, und doch daran verzweifelt, durch seine persönlichen Eigenschaften oder seinen Rang in der Gesellschaft es zu erhalten. Wenn seine neuen Erfindungen, wie dies gemeiniglich der Fall ist, noch dazu auf eine widersinnige Art zusammengesetzt, seltsam in der Form, und grell in den Farben sind: so veranlaßt er zugleich ein nachtheiliges Urtheil über seinen Geschmack. Das Frauenzimmer hingegen, welches sich von seines Gleichen durch einen seltsam erfundnen und ihm eignen Putz [270] auszeichnet, erregt gegen sich entweder den Argwohn | der Coketterie, da man doch Sittsamkeit von ihm fordert, oder den einer Gleichgültigkeit gegen die Urtheile des Publicums, die man diesem Geschlechte weit weniger als dem unsrigen verzeiht. Das Weib soll sich nicht bemühn, Aufsehn zu machen, und der Mann soll es nur durch die Werke seines Verstandes oder seines Fleißes erregen. Jenes soll mehr das Schöne und das Gefällige, als das Originelle und Unterscheidende, suchen; dieser soll sich nur durch wichtige und persönliche Eigenschaften auszeichnen. Doch findet sich nicht immer durch die Erfahrung bestätigt, was man aus allgemeinen Gründen vermuthen sollte, daß nur schwache Köpfe, und Leute ohne Verstand, diesen Ehrgeitz haben könnten, Erfinder ausschweifender Moden zu seyn. Es vereinigen sich im menschlichen Character oft die widersprechendsten Züge. Die Thorheit mancher Menschen ist, wie der wirkliche Wahnwitz andrer, nur auf einzelne, oder wenige Gegenstände eingeschränkt. Sie reden und handeln klug, in allen Theilen ihres öffentlichen und Privatlebens: aber in einem einzigen Puncte betragen sie sich wie Kinder, oder wie Schwachsinnige. Bey dieser Art Thoren, von der ich hier rede, ist es oft eine verlängerte Kindheit, [271] die ihre Aus|schweifungen veranlaßt. Sie haben die Gränze zwischen dem Jünglings- und dem männlichen Alter nicht wahrgenommen: und was, ohne großen Tadel zu verdienen, das Spielwerk ihrer ersten Jugendjahre gewesen war, ist unvermerkt die Beschäftigung ihres Lebens geworden. Andre glauben vielleicht wirklich, am besten dabey zu fahren, wenn sie zuerst durch etwas Narrheit die Augen andrer auf sich ziehn, und dann sich den Gaffern als gescheite Leute zeigen. Indessen ist es mit einer Vernunft, die sich nicht auf die gesammte Aufführung erstreckt, immer eine mißliche Sache. Eine solche einzelne Thorheit ist, wie ein böser Schaden an einem äußern Theile des Körpers, der zwar mit der Gesundheit des Ganzen bestehen kann, aber doch immer dieselbe bedroht, und gegen sie bey andern Verdacht erregt.

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Der Schluß aus diesem allem ist folgender. Der Erfindungsgeist, wenn der Himmel einen Menschen damit begabt hat, soll nur auf das gerichtet seyn, was entweder sein Beruf von ihm fordert, oder was an sich groß und gut ist: in allem was klein ist, oder was für ihn zu Nebensachen gehört, ist die Nachahmung am rechten Orte. Besonders wenn der Endzweck dieser Nebensachen ist, sich auszuzieren, so muß man, da man sich nur für andre | putzt, auch den Geschmack andrer dabey zu Rathe [272] ziehn. Man beleidiget aber denselben durch jede auffallende Verschiedenheit, sie bestehe in der Beybehaltung des Alten, nachdem alle andre es abgelegt haben, oder in der Anlegung des Neuen, ehe es noch irgend eines Menschen Beyfall erhalten hat. Der Inhalt der bisher ausgeführten ersten Regel ist also, zwischen alten und neuen Moden die Mittelstraße zu halten. ‒ Nach ihr ist keine wichtiger als diese, daß man die Moden des Standes, zu dem man gehört, nicht überschreite. Derjenige, welcher sich hervorzudrängen sucht, und darnach strebt, höheren Classen der Gesellschaft, als in der er gebohren ist, näher zu kommen, begeht einen verzeihlichen Fehler, ‒ weil er einer gemeinen Schwäche der menschlichen Natur unterliegt. Er irrt, weil er glaubt, daß im höhern Stande, durchaus und im Ganzen, mehr Glückseligkeit oder mehr Vollkommenheit vorhanden sey. Aber er hat nicht Unrecht, daß er dahin zu gelangen strebt, wo er Vorzüge zu entdecken glaubt. Aber derjenige ist ein Thor, welcher diesen Übergang aus einer niedrigern Classe in eine höhere durch Nachahmung des Putzes und des Luxus dieser letztern sich zu erleichtern einbildet. ‒ Er ver|räth dadurch erstlich zu sehr seine Begierde. [273] Und sobald diese offenbar wird, so widersetzen sich derselben alle: seines Gleichen, aus Neid; die Höhern aus Stolz. Alle Veränderungen des Ranges in der Gesellschaft, sind Veränderungen der Meinung der Menschen von uns. Und diese müssen nach und nach erschlichen, oder sie müssen durch Verdienste erworben, aber sie können nicht ertrotzt werden. Das Glück und unsre persönlichen Vorzüge müssen uns den Weg bahnen: und wir müssen die Gelegenheiten brauchen. Aber seine Ansprüche ankündigen, ehe man die Macht hat, dieselben durchzusetzen, heißt ihnen auf immer ein Hinderniß in den Weg legen. Zum andern ist es klein und verächtlich, den Schein einer Sache anzunehmen, wovon die Wirklichkeit uns fehlt. Man lügt eben sowohl, wenn man sich über seinen Stand kleidet, oder die Moden eines höhern Standes an sich trägt, als wenn man sich einen vornehmern Nahmen giebt. Man kann in beyden Fällen nur die Absicht haben, Unbekannten eine falsche Idee von sich beyzubringen. Und wie unerlaubt, wie vergeblich selbst, ein solches Bestreben sey, leuchtet ein. Was die gesellschaftlichen Gewohnheiten, was insbesondre die Formen der Höflichkeit und des | guten Anstandes betrifft: so muß derjenige, welcher zur guten [274] Gesellschaft gehören, oder von ihr zugelassen werden will, auch die Sitten der höchsten Classe kennen, und eine Fertigkeit haben, ihre Regeln zu beobachten. ‒ Und da es unleugbar ist, daß, im Ganzen, der Wohlstand dieser Classe der beste, ihre Gewohnheiten am vernünftigsten ausgedacht, ihre Sitten dem geselligen Ver-

134 | 2 Beiträge in Zeitschriften gnügen am meisten angemessen sind: so ist es dem vernünftigen und cultivirten Manne aus jedem Stande sehr natürlich, sie vorzuziehn, und sehr erlaubt, sie selbst nachzuahmen. Indessen muß er sich wohl hüten, dieselben in alle Gesellschaften mitzubringen. Es ist ein besondrer Vorzug, wenn ein Mensch Biegsamkeit genug hat, sich in mehre[ren] Sitten und Gewohnheiten zu schicken; ‒ Aufmerksamkeit genug, um diese Verschiedenheiten zu bemerken, und genug Achtung für die Gesellschaft, in welcher er ist, um sich nie vor ihr auszeichnen zu wollen. Dies scheint mir die wahre Lebensart des Weltmanns, ‒ im besten Verstande des Wortes, ‒ zu seyn: wenigstens ist es die einzige, welche von ihm studirt seyn will, bey der er denken muß; und auf die also sein Geist und Herz einen Einfluß hat. [275] Denn das bloß mechanische Nachma|chen der Gewohnheiten und Sitten, die man von Jugend auf gesehen hat, wenn sie auch die vortreflichsten wären, kann keine große Tugend seyn, so wie es keine großen Talente fordert. Daß also ein vornehmer Mann die Sitten vornehmer Leute an sich trägt, das giebt von der Beschaffenheit seines Innern, worauf es doch beym Fürsten und beym Bettler zuletzt ankömmt, wenig oder nichts zu erkennen. Etwas mehr Verdienst ist bey dem Menschen von geringerem Herkommen, und einem seltnern Umgang mit der großen Welt, der doch den darinn schicklichen Wohlstand ohne Affectation beobachtet. ‒ Aber was einen höhern Grad sowohl von Beobachtungsgabe, als von feiner und menschlicher Empfindung anzeigt, ist, wenn man sich in gleichgültigen und willkührlichen Dingen, die doch zugleich in jeder Classe durch ihr eigne Conventionen ausgemacht sind, den Personen, unter denen man ist, gleichstellt, und verschiedene Rollen, höhere und niedrigere, auf eine gleich anständige, edle und natürliche Art zu spielen weiß; ‒ wenn man die bürgerlichen Sitten unter Bürgern beybehält, indem man das Gemeine davon absondert, ‒ und dem Adel durch adliche Sitten näher tritt, ohne die Anmaßungen zu zeigen, die der Stolz oft damit verbindet. [276] Noch einige zerstreute Anmerkungen über die ganze Materie, welche in den verschiedenen Abtheilungen der vorhergehenden Abhandlung nicht ihren bequemen Platz fanden, sey es mir erlaubt, am Ende derselben hinzuzusetzen. Die erste betrifft die modischen Sitten oder die Etiquette. Die Vollkommenheit derselben ist, dünkt mich, nach folgendem Maßstabe zu bestimmen: »je weniger sie künstlich und zusammengesetzt, und je angemessener sie zugleich dem Zwecke sind, die gesellige Einigkeit zu unterhalten und die Mittheilung des Vergnügens zu erleichtern; je weniger sie die Freyheit einschränken, und je mehr sie doch Geselligkeit und gesellige Tugenden ausdrücken, desto vollkommner sind sie.« Denn von der einen Seite muß der Umgang frey seyn, wenn er angenehm seyn soll: weil nur bey der Freyheit, der ungehinderte Gebrauch aller Seelenkräfte statt findet; und weil insbesondre lmagination, Witz und Zärtlichkeit, die drey Sachen, welche die Würze jedes gesellschaftlichen Vergnügens ausmachen müssen, durch Zwang getödtet werden. Auf der andern muß der Umgang artig seyn. Das heißt erstlich, er muß alles [277] vermeiden, was durch seinen sinnlichen Eindruck, oder durch seine | Nebenidee

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anstößig ist, was den Augen und Ohren mißfällt, oder was in der Imagination, (sey es aus welcher Ursache es wolle) unangenehme Bilder erregt. Das heißt zweytens, er muß alles enthalten, was als Ausdruck, oder als Zeichen des Wohlwollens und der Achtung nöthig ist, welche die Glieder der Gesellschaft gegen einander hegen sollen. So viele verschiedene Verhältnisse es in der bürgerlichen Gesellschaft giebt, so verschiedne Pflichten eines Menschen gegen den andern daraus erwachsen: so vielfach modificirt sich auch dieser Ausdruck. Um desto zusammengesetzter wird also auch die Wort- und Geberdensprache der Politesse. Aber eine gemeinschaftliche Gesinnung muß durch alle die mannichfaltigen Höflichkeitsbezeugungen hindurchschimmern, welche die Abtheilung der Stände, und die natürliche und gesetzliche Ungleichheit der Menschen so vervielfältiget hat: das ist die Gesinnung einer mäßigen Selbstschätzung, welche aus dem Bewußtseyn der Rechtschaffenheit entsteht; und die Gesinnung eines allgemeinen Wohlwollens, ‒ welches auch dem Respecte gegen Höhere zum Grunde liegen muß. Dadurch allein bekommen die abwechselnden und zusammengesetzten Formen der Politesse diejenige Einheit, durch welche sie einer wahren Schönheit fähig werden. Und derjenige ist der artigste | Mann, der in seinen Ausdrücken und in seinem ganzen Betragen, das, was er [278] jedem Alter, Range und Verdienste zu leisten hat, am besten mit dem zu vereinigen weiß, was er sich selbst als einem Manne von Charakter und Ehre, und was er der allgemeinen und großen menschlichen Gesellschaft schuldig ist, deren Glieder, trotz aller zufälligen Unterschiede, doch durch eine wesentliche Gleichheit und durch gemeinschaftliche Rechte verbunden sind. ‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒ Der Gang der Natur in Verfeinerung der Politesse ist sonderbar. Aber er befremdet weniger, wenn man ihn mit der Geschichte der Wissenschaften vergleicht. Denn fast durch gleich krumme Wendungen haben die Menschen sich dem Ziele in jeder Art der Vollkommenheit genähert. Zuerst sind die Sitten roh. Der Mensch ist natürlich, aber grob; ‒ er affectirt nicht, aber er ist unhöflich und ungefällig. Er ist in seinen Complimenten lakonisch und wahr; ‒ aber er läßt es auch an den nöthigen Zeichen von Aufmerksamkeit und Achtung ermangeln. Dann kommen die weitläuftigen Complimente, die Ziererey und das gezwungne Wesen. Das Gesetzbuch der Artigkeit wird sehr complicirt. Alle | Gradationen des [279] Ranges erhalten ihre eigne Sprache, sowohl für die, welche ihren Rang zu behaupten, als für die, welche den Rang andrer zu respectiren haben. Der Umgang wird steif, und das Wesen desselben, das Gespräch wird über der Form fast vergessen. Zuletzt vereinfachen sich wieder diese Regeln; die Forderungen der verschiedenen Stände werden weniger pünctlich und mannigfaltig; die Titel kürzen sich ab, die Geberden und Stellungen werden freyer, die Sitten nähern sich von neuem der ersten Einfalt, aber einer Einfalt, die, da sie mit einem feinen Gefühle aller Verhältnisse und aller Obliegenheiten des menschlichen Lebens verbunden ist, nun den Charakter der Eleganz bekömmt.

136 | 2 Beiträge in Zeitschriften Dieser schnelle Übergang der Sitten von grober Einfalt, zum Studirten, ‒ und vom Mangel aller Höflichkeit, zu einer sehr prunkvollen und beschwerlichen, würde, wie ich gesagt habe, mehr befremden, wenn wir nicht in der Succession der wissenschaftlichen Fortschritte des Menschen etwas ähnliches wiederfänden. In der Philosophie folgt die äußerste Subtilität fast unmittelbar auf die Unwissenheit; und das Grübeln über die unbeantwortlichsten Fragen, auf die völlige Gleichgültigkeit [280] gegen alle Erkenntniß. ‒ In allen menschlichen | Handlungsarten geht das Natürliche erst hinter dem Künstlichen her, und das Schwere und Zusammengesetzte muß dem Leichten und Einfachen Bahn machen. So ist es in den Formen von Kleidung, Hausgeräthe und Equipage, welche die eigentlichen Moden ausmachen, so in denen des Umgangs, welche zur Etiquette gehören. Der menschliche Geist ist wie eine elastische Feder. Wenn der Druck, welcher ihn zuerst in völliger Unthätigkeit erhielt, aufhört, und die Feder ihre Kraft zu äußern anfängt, so treibt sie den Menschen allenthalben, mit unwillkührlicher Gewalt, über sein Ziel hinaus. Es gehört Zeit dazu, daß er gleichsam Herr von sich selbst, von seiner Thätigkeit und von seinen Bewegungen werde. Dann erst mißt er seine Mittel gegen seine Zwecke ab: und nur dann lernt er eine Verrichtung und ein Studium mit den übrigen ins Gleichgewicht bringen: und nur dadurch schränkt er sie alle in gewisse Gränzen ein, und macht sie simpler, indem er sie zugleich zweckmäßiger macht. ‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒ Es giebt eine Art Menschen, die nicht so wohl der Mode in Befolgung aller ihrer [281] Veränderungen getreu, als nur sehr sorgfältig sind, die von ihnen | einmahl gewählte, in ihrer völligen Genauigkeit und Eleganz zu beobachten. Das sind die Leute, welche die Franzosen tirés à quatre epingles nennen. ‒ Sie geben auf ihre Kleidung, auf jede Kleinigkeit in der Anordnung ihrer Wohnzimmer und ihrer Tafel, auf ihre Stellungen und auf ihre Complimente, genau Achtung: nicht, um allen diesen Dingen die Formen der neuesten Erfindung und des modernsten Geschmacks zu geben; sondern um nur das Ideal von Artigkeit und gutem Ton zu erfüllen, welches sie sich selbst gebildet haben. Wenn dieses alte und im übrigen verständige Leute thun, so gefallen sie gemeiniglich; ‒ selbst wenn einige Schwäche dabey sichtbar wird. Man rechnet ihnen diese Aufmerksamkeit, andern zu gefallen, als ein Verdienst an, da sie selbige in einem Alter und unter Umständen beweisen, wo andre nur ihre Bequemlichkeit suchen. Die meisten talentvollen Menschen sind um ihr Äußeres unbekümmert, und die Greise werden es nach und nach. Wenn also die Gesellschaft, einen aus beyden Classen, von dieser Regel abweichen, und sich der Mühe unterziehn sieht, welche eine pünctliche Eleganz, sie sey alt- oder neumodisch, verlangt: so erkennt sie diese ihr bewiesene Achtung mit einiger Dankbarkeit. [282] Es ist auch wirklich ein angenehmer Anblick, einen, ohne Affecta|tion, nettgeputzten alten Mann, und einen in seinem Hauswesen elegant eingerichteten Philosophen zu sehen.

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Aber zu weit muß diese Sorgfalt nicht getrieben werden, oder zu sichtbar muß wenigstens diese Aufmerksamkeit nicht seyn: sonst verräth der Mensch entweder einen Geist der Kleinigkeiten, oder eine Eitelkeit, die sich weder mit wahren Verdiensten verträgt, noch dem Alter wohl ansteht. Reinlichkeit und guter Geschmack sind zwey Gesetze, wovon das eine unerläßlich für jeden Menschen ist, der in der Gesellschaft gelitten werden will, das andre von großem Ansehn für den seyn muß, der von ihr aufgesucht zu werden wünscht. Aber die Vorschriften derselben sind nicht genau bestimmt, sie können auf mehr als eine Art beobachtet werden; sie verlangen weder eine immer gleiche Regelmäßigkeit, noch machen sie eine ununterbrochne Aufmerksamkeit nothwendig. Sie schließen so gar nicht die gratam negligentiam aus, welche selbst der weiblichen Schönheit einen neuen Reitz giebt, aber dem männlichen Ernst und der männlichen Anmuth so vorzüglich angemessen ist. ‒ Wenn es, in Kunstwerken, der Zweck und der Triumph des großen Meisters ist, die Kunst zu verbergen: so ist es noch mehr nothwendig,| in dem, was das edelste [283] Werk der Natur, den Menschen, nur bekleiden und schmücken soll, die Zwanglosigkeit der Natur, und den Anschein der Zufälligkeit, den sie ihren Producten zu geben weiß, beyzubehalten. Das, was in der Kleidung, wie im Anstande, der Beobachtung allgemeiner, vorherbestimmter und unabänderlicher Regeln zu ähnlich sieht, es mögen Regeln seyn, welche uns bloß die Mode und die Etiquette aufgedrungen hat, oder solche, die wir selbst uns vorgeschrieben haben, ist ohne Anmuth und Grazie, so schön oder so zweckmäßig es an sich seyn mag: und nur das gefällt, in diesen kleinen Verschönerungen der Person oder des Betragens des Menschen, was auf der Stelle erfunden und gedacht, die Folge immer neuer Überlegungen, aber leichter und zwangloser Überlegungen zu seyn scheint. ‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒ Die Modesucht mit Prachtliebe verbunden, und von dem Reichthume, der ihr ein Gnüge thun kann, unterstützt, hat etwas verführerisch reitzendes: aber Modesucht im armseligen Gewande ist äußerst lächerlich. Das Neumodische muß durchaus auch | neu und schön sein, wenn es gefallen soll: und die Veränderung der Form [284] bey einem abgenutzten Stoffe, dient nur dazu, dessen Mängel mehr ins Licht zu setzen. ‒ Dieser Umstand, verbunden mit vielen andern, macht also für die, durch die Unterschiede des Reichthums, und der Würde abgetheilten Rangordnungen der menschlichen Gesellschaft, einen ähnlichen Unterschied ihrer Moral, auch in Absicht der Moden, nothwendig. Es giebt Stände und Lagen im bürgerlichen Leben, welche Pracht erfordern, weil, ‒ wenigstens nach der bisherigen Meinung der Menschen, und bey dem Unverstande des großen Haufens, ‒ von dieser Pracht ein Theil des obrigkeitlichen Ansehns abhängt, mit welchem diese Stände, zum Wohl des Staats und zur allgemeinen Sicherheit, bekleidet seyn müssen. Es sammeln sich ferner, in einem blühenden Lande, bey einzelnen Personen und Familien, so große Reichthümer, daß sie ohne irgend einer andern ihrer Pflichten den für sie nöthigen Aufwand entziehn zu dürfen, noch genug übrig behalten, ihrer äußern Lebensart den möglich größten Glanz zu geben. ‒ Diejenigen nun, denen vermöge des Ranges,

138 | 2 Beiträge in Zeitschriften welchen sie unter ihren Mitbürgern einnehmen, erlaubt, und fast gebothen ist, Pracht zu zeigen; und die durch ihr Vermögen dazu in den | Stand gesetzt sind, können sowohl mit mehr Recht, als mit mehr Ehre, allen Abwechselungen der Mode folgen, und jede neue Erfindung der Industrie, so wie sie aus den Werkstätten des Künstlers kömmt, annehmen und nutzen. Da sie dem Neuen immer zugleich Glanz geben: so erscheint es, wenn es wirklich schön ist, in seinem vortheilhaftesten Lichte: und selbst das Thörichte und Ausschweifende wird, bey dem Schimmer, der es umgiebt, weniger anstößig. ‒ Der Reiche von minderem Range, der vermöge seiner Einkünfte, den Luxus der Vornehmsten mitmachen kann, aber, vermöge seiner Lage im bürgerlichen Leben, dazu nicht aufgefordert wird, und zu einem gewissen Prunke nicht einmahl berechtigt ist, wird eben den Grad der Mäßigung in Absicht des Modischen beobachten müssen, mit welcher er überhaupt die Pracht seiner Kleidung, die seiner Wohnung und seiner Equipage einzuschränken verbunden ist. Das prunklose Schöne hat fixere Regeln, und ist wenigern Veränderungen unterworfen: so wie hingegen das Neumodische, von Pracht entblößt, oft allen seinen Werth verliert, und für den Anblick eben so wenig Anziehendes behält, als es beym Gebrauche Bequemes hat. Der Mann endlich, dessen Rang und Vermögen [286] gleich mittelmäßig sind, wird in allen den Dingen, die unter das Gebieth der | Mode gehören, aus Pflicht sowohl, als des guten Geschmacks wegen, oft beym Alten bleiben, wenn die vornehmere und reichere Welt Neuerungen macht. Nicht nur hat er etwas anderes und nothwendigeres zu thun, als sich um alle diese neuen Moden zu bekümmern, und für die Herbeyschaffung der dazu nöthigen Sachen zu sorgen: nicht nur hält ihn eine weise Ökonomie ab, sein mäßiges Einkommen auf das Überflüssige zu wenden, da vielleicht noch dringendere Bedürfnisse seiner selbst und der Seinigen unbefriedigt sind: sondern auch selbst die Begierde, Beyfall zu erhalten, wenn sie bey ihm von Überlegung geleitet wird, weiset ihn an, den Sachen seines Putzes und seiner Haushaltung, die er sich nicht kostbar an innerm Werthe anschaffen kann, auch ein bescheidnes äußeres Ansehn zu geben: wozu dieß mit gehört, daß sie sich nicht durch das Neumodische in Form und Farben unterscheiden. Eine Kleidung, ein Hausrath, eine Equipage, die wohlfeil und von gemeinem Stoffe sind, müssen auch einfach und gemein in ihrem Schnitt und Verzierungen seyn, sonst fehlt es ihnen an derjenigen Übereinstimmung, welche das Wesen des Geschmackvollen ausmacht. Der Mittelmann, welcher nicht im Stande ist, alles um sich herum schön und glänzend zu machen, muß doppelt sorgfältig seyn, Harmonie [287] | zwischen den verschiedenen Theilen seiner Haushaltung und seiner Lebensart hervorzubringen: ‒ welches er am ersten erreicht, wenn er nichts außerordentlich verzieret, also auch den Glanz der Neuheit an seinen Sachen zu vermeiden sucht, und nur alle Flecken des Schmutzes und der Vernachlässigung von ihnen abwischt. ‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒ Eine gewisse Nachsicht gegen die Thorheiten der Menschen gehört unter die schätzbaren Eigenschaften. Wer könnte wohl mit einiger Zufriedenheit unter den Menschen leben, der alles mit ihnen so genau nehmen, und über jeden unrechten [285]

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Schritt, den er sie thun sieht, bitter oder traurig werden wollte? Und wer könnte hoffen, der Gesellschaft, unter der er zu leben hat, angenehm zu bleiben, wenn er alle Augenblicke etwas an ihr zu tadeln findet? Und unter allen Thorheiten verdient vielleicht keine diese Nachsicht mehr, als die, welche die Menschen begehn, um herrschende Moden mitzumachen. Sie sind deswegen verzeihlicher, weil sie weniger | freywillig sind. Ich gebe es zu, daß der [288] Gehorsam, mit welchem sich viele Personen der Mode unterwerfen, sklavisch ist, und von ihnen nicht gefordert wird. Aber sich ihrer Herrschaft ganz zu entziehn, ist den meisten, die noch in der Welt zu leben gedenken, unmöglich. Niemand kann also mit Recht das Ausschweifende, welches sich von Zeit zu Zeit in Stücken des weiblichen Putzes findet, den Schönen allein zur Last legen, die mit denselben ausgeschmückt erscheinen. Vielleicht mißbilligte ihr erstes richtiges Gefühl, so wie das unsrige, die ungeheure Höhe ihrer Kopfzeuge und Hüte, die etwas wilde Unordnung ihres Haarputzes, die den Gang verhindernde Länge ihrer Schleppkleider, ihre bis an das Kinn aufgepaußten Halskrausen. Aber anfangs richteten sie sich, nur aus Gefälligkeit und Nachgeben, nach Gewohnheiten, die sie, trotz ihrer Mißbilligung, immer allgemeiner werden sahen. Endlich gewöhnte sich ihr Auge daran; der Übelstand verschwand, so wie die Unbequemlichkeit, bey genauerer Bekanntschaft mit der Sache: und die Nebenidee der Artigkeit oder des Ranges aller der Personen, welche sie einstimmig in diesen Anzügen erscheinen sahen, verband endlich, selbst in ihren Augen, eine gewisse Annehmlichkeit oder Würde damit, die sie dafür einnahm.| Warum haben wir, die wir uns zu ihren Richtern aufwerfen, uns der natürli- [289] chen Folge der Eindrücke, welche diese neuen Moden auf menschliche Augen und Gemüther machen, nicht eben so ungehindert überlassen? Was können die Schönen, die wir tadeln, dafür, daß unsre Entfernung von der Welt, unser Geschlecht, unser Alter, uns die mißfälligen Moden nicht so oft als sie sehen läßt, vielweniger unsre Eitelkeit eben so rege macht, sie nachzuahmen? In gleichen Umständen würden wir gerade so urtheilen, gerade so uns betragen, wie sie. Überdies, da es in dem Wesen der Mode liegt, veränderlich zu seyn, und stäte Veränderungen nur möglich sind, wenn die Sache durch alle Formen hindurchgeht, deren sie fähig ist, ohne ganz ihren Endzweck zu verfehlen: so ist es natürlich, daß in diesem ewigen Kreislaufe, das Unschickliche zuweilen auf das Passende, und das Ausschweifende und Übertriebne auf das Angemessene und Zweckmäßige folge. Immer bey dem Alten zu bleiben, ist wider die Natur des Menschen, wenigstens des Menschen in Zeitaltern der blühenden Industrie, und eines ausgebreiteten geselligen Verkehrs. Der Wunsch nach Neuheit | aber zerstört eben so oft das Schöne, das [290] wirklich gefunden war, als er, nach vollendetem Cirkel der Thorheiten, das Vernünftige wieder herbeyführt. ‒ Es fragt sich nun, welches fürs menschliche Geschlecht vortheilhafter, welches eine Anzeige größrer Vollkommenheit sey: ‒ ob diese Festigkeit des Urtheils und diese überwiegende Herrschaft des guten Geschmacks, welche machen würde, daß die Menschen bey dem Schönen und Zweckmäßigen, wenn sie es einmahl gefunden haben, fest hielten, und das Langweilige eines immer gleichen

140 | 2 Beiträge in Zeitschriften Anblicks um der wirklichen Proportion, oder der innern Güte der Sache willen, ertrügen; ‒ oder diese rastlose Thätigkeit des Geistes, welche sie immer nach neuen Ideen, und nach Hervorbringung veränderter Formen in den Dingen außer sich, lüstern macht, gesetzt auch, daß sie von richtigern Ideen zu verkehrtern, und von schönern Formen zu häßlichern übergehen sollten? ‒ Auf diesem letztern Wege sind die Menschen doch, in allen Sachen, ihrer Vollkommenheit immer näher gerückt; nicht auf einer geradlinichten Bahn, sondern in einer Art von Schneckengange. Sie entfernen sich immer, Periodenweise, von dem Puncte der Wahrheit und Schönheit, den sie schon erreicht zu haben schienen: aber auf ihrem Rücklaufe kommen sie [291] | demselben doch wieder um ein Stück näher. So hat der Kreislauf der Moden in Kleidungen und Meubeln, durch alle Abentheuerlichkeiten, durch welche er in der Reihe vergangner Jahrhunderte bis auf unsre Zeit hindurchgegangen ist, doch im Ganzen unsre Kleidung bequemer, und unsern Hausrath zweckmäßiger und einfacher gemacht, als beydes bey unsern Vorfahren gewesen ist. Giebt es irgendwo einen Endpunct oder ein Ziel der Vollkommenheit, wo der menschliche Geist, wenn er es erreicht, ruhen wird? Und wird er es je erreichen? Fragen, die aus der Erfahrung nicht beantwortet werden können, und die nach der Analogie verneint werden müssen. Wenigstens, glaube ich, daß das Zeitalter, in welchem die ewigdauernden und unwandelbaren Moden erfunden seyn werden, noch weit später eintreten wird, als das, worinn die Philosophen sich über allgemein geltende und unabänderliche Principien der Metaphysik und Moral vereinigen werden. ‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒ [292] Ich schließe mit einer allgemeinen Betrachtung, die allen vorigen zum Grunde liegt. Die Vernunft ist ein ehrwürdigerer Gesetzgeber, als die Gewohnheit: und die Einsicht des Guten ein höheres Princip als der Nachahmungstrieb. Diese Vernunft lehrt mich aber, die großen und fortdauernden Verhältnisse, in denen ich als Mensch, als Bürger, als Vater, als Ehemann, als Beamter des Staats, als Reicher oder Armer, ‒ stehe, und die Pflichten, die mir vermöge dieser Verhältnisse obliegen, den flüchtigen Verbindungen, die sich nur auf den Umgang beziehn, und den kleinern Obliegenheiten, die ich nur als angenehmer Gesellschafter zu beobachten habe, vorziehn. Alles aber, was die Mode regulirt, hat nur seinen Bezug auf das Gefallen in Gesellschaft, und auf die Erleichterung und Vermehrung des gesellschaftlichen Vergnügens. Alles hingegen, was den modischen Luxus einschränkt, und uns in Befolgung der modischen Veränderungen Mäßigung vorschreibt, hat seinen Bezug [293] auf Tugend | und Glückseligkeit, und ist zur Aufrechterhaltung der Ehre und des Glücks der Familien nothwendig, wodurch es mittelbar auch für das Wohl des Staates wichtig wird. Gewohnheit und Sitte muß allerdings, in unserm Leben, die Kleinigkeiten regieren, damit Vernunft und Überlegung für das Große übrig bleibe. Aber auch nicht

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mehr Zeit, und mehr Aufwand kosten, als andre wichtigere Endzwecke und Pflichten, denen wir unsre Kräfte, unsre Tage, und unser Vermögen zu widmen schuldig sind, erlauben. Endlich, da die Absicht, warum wir Moden mitmachen, keine andre ist, als weil wir zwischen uns und andern Menschen die Gleichförmigkeit, die der vertraulichen

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Verbindung mit ihnen günstig ist, zu erhalten wünschen: so ist klar, daß wir den Endzweck der Moden am besten erreichen, wenn wir uns nach den Gewohnheiten der vernünftigsten und gesetztesten Personen unsers Geschlechts richten. Da aber diese mit ihrem | Innern, als dem Wichtigern, stets mehr, als mit dem Äußern be- [294] schäftigt sind: so können wir ihre Mode nicht wohl anders befolgen, als indem wir

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die der Galanterie ein wenig vernachlässigen.

Über den Einfluß einiger besondern Umstände auf die Bildung unserer Sprache und Litteratur [Eine Vorlesung] Meine Herren, 5

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Wann wir die Fähigkeiten eines Menschen kennen, um zu wissen, was er thun kann, und seine besondern Umstände, um zu wissen, was er zu thun Gelegenheit und Bewegungsgründe gehabt: so können wir ungefähr voraussehen, welche Werke er unternehmen wird; wenigstens können wir diejenigen, die er bereits geliefert hat, uns erklären. Eben so, wie mit einzelnen Menschen, verhält es sich auch mit ganzen Nationen. Was man die Litteratur ei|nes Volks nennt, ist der Inbegriff der Werke, die [441] es in seiner eigenen Sprache besizt: und die Gestalt derselben hängt theils von dem Eigenthümlichen in dem Geiste der Nation, theils von den besondern Umständen ab, durch welche dieser Geist seine Richtung gegen gewisse Gegenstände, und mehr Hülfsmittel zu der einen als zu der andern Gattung erhalten. Das Eigenthümliche in dem Geiste der Nation selbst ist ausnehmend verborgen; es ist schwer, das Gemeinschaftliche in der Denkungsart eines Volks aus einer so unendlichen Menge von einzelnen Verschiedenheiten herauszubringen: und da man nur immer eine sehr kleine Anzahl von Fällen vor sich hat, so kann man fast nie einen allgemeinen Schluß machen, der nicht durch gegenseitige Beyspiele wankend würde. Die besondern Umstände aber, unter welchen die Aufklärung eines Volks sich angefangen, liegen mehr vor Augen, und lassen sich mehr außer Streit setzen: oder wann auch hier eine so vielfältige Verbindung mannichfach wirkender Ursachen statt | fände, [442] daß die Geschichte sie nicht alle angeben, noch die Philosophie sie alle errathen

142 | 2 Beiträge in Zeitschriften könnte; so giebt es doch darunter einige so merkliche und so mächtige, daß sich ihr Einfluß weder verkennen, noch auch unrecht verstehen läßt. Sie sehen leicht, meine Herren, daß diese Umstände von doppelter Art sind; daß sie entweder außer der Nation, von der die Rede ist, oder in ihrer eigenen innerlichen Verfassung liegen. Zu jenen gehört vornehmlich die Zeit, in der eine Nation an Wissenschaft überhaupt, und besonders an ihrer eigenen Sprache, Geschmack gewinnt, und dann die Beschaffenheit der Litteratur bey andern Nationen, die vor ihr aufgeklärt wurden, und ihr Licht ihr mittheilten. Was war es für ein Zeitpunkt, wo die Barbarey sich zuerst in Deutschland zu zerstreuen anfieng? Ein späterer allerdings, als bey den mittäglichen und westlichen Völkern. Italien ist das erste und fast das einzige Land, das zu eben der Zeit, wo es die Meisterstücke der alten Sprachen mit Mühe wieder kennen lernte, zu[443] gleich | Meisterstücke in seiner eigenen schuf. Das Licht, das dort aufgegangen war, kam in nicht gar langer Zeit darauf auch zu uns; aber es war ein fremdes Feuer, das uns nur erleuchtete, ohne zugleich unser eigenes anzuzünden. Wir lasen und lernten, ja wir schrieben so gar lateinisch und griechisch; viele gut, einige so gar vortreflich: aber doch konnte das noch lange keine Litteratur geben, keine uns eigene Litteratur, die ein treues Gemälde unsers besondern Geistes, unserer unterscheidenden Denkungsart gewesen wäre. Die Gelehrten machten in diesem Jahrhunderte gleichsam eine eigene, unter die andern zerstreute Nation aus, die allenthalben ungefähr dieselbige Denkungsart, denselbigen Ton hatte: und zwar deswegen, weil sie durchgängig auf einerley Art war gebildet worden. Da sie ihre eigene, dem übrigen Theil des Volks unverständliche Sprache redeten und schrieben; so hatten sie zwar unter sich selbst eine nähere, mehr unmittelbare Gemeinschaft, als die Gelehr[444] ten unsers Jahrhunderts: aber auf die Übrigen der | Nation hatten sie wenig Einfluß; auch nahmen sie eben so wenig von der besondern Denkungsart derselben und der eigenthümlichen Wendung ihres Geistes an. Denn sie schrieben nicht allein, sondern sie faßten auch ihre Ideen in einer fremden Sprache. Was damals Luther für die deutsche Sprache gethan hat, darf ich Ihnen, meine Herren, nicht sagen. Es ist wahr, seine Sorgfalt, seine Richtigkeit im Ausdrucke, seine Genauigkeit in der Wortfügung haben unsre Grammatik und unser Wörterbuch in einer größern Reinigkeit erhalten, vielleicht auch vollständiger gemacht, als es ohne ihn würde geschehen seyn: aber bey alle dem haben doch seine Werke unsre Litteratur nicht angefangen; sie haben es uns nicht leichter gemacht, Werke der Gelehrsamkeit oder Schriften zum Vergnügen in unserer Sprache zu liefern. Wer diese hervorbringen wollte, hatte noch alles zu thun; er mußte noch selbst die Ausdrücke, die Wendungen, die Zierrathen aus dem zerstreuten Reichthume der Spra[445] che zusammenlesen;| mußte noch selbst unbestimmte Wörter bestimmen, oder wenn er für seine Ideen gar keines hatte, bald durch Zusammensetzung und Abänderung neue finden, bald sich dadurch helfen, daß er fremde entlehnte; mußte noch selbst neue Verbindungen, neue Wendungen wagen, wo die Sprache zu ungelenk war: kurz, er mußte sich seinen Styl noch erschaffen. ‒ Doch war das nachfolgende

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Jahrhundert in aller Absicht weit dunkler und barbarischer, als das, worinn Luther lebte. Man vergaß sein Bischen ächtes altes Latein über den Zänkereyen, zu welchen sich eine verderbte, mit spitzfündigen Begriffen überladene Latinität am besten schickte; und deutsch lernte man auch nicht. Mit einem Worte: man hatte eigentlich gar keine Sprache. In dieser Zwischenzeit, am Ende des vorigen Jahrhunderts, machten unsre westlichen Nachbarn, die Franzosen, auf einmal ein gewaltiges Aufsehen. Sie eroberten und schrieben: und wer durch die Pracht des Königs und den Muth der Truppen auf die Nation war auf|merksam gemacht worden, der fand, wenn er näher [446] mit ihr bekannt ward, Schriftsteller und Künstler, die Hochachtung und Bewunderung verdienten. Die Veränderung war so plözlich, so groß, daß sie nothwendig so wohl die Franzosen selbst, als auch ihre Nachbarn in eine Art von Betäubung setzen mußte, in welcher beide nicht wußten, was sie von sich und was sie von den andern zu halten hätten. Jene glaubten getrost, daß sie die erste Nation auf der Welt wären, und in der That hatten sie einigen Anspruch auf diesen Namen. Die deutsche Nation war damals noch ein so zusammengeseztes, ungleichartiges Ganze[s], daß das Urtheil über jene sehr verschieden ausfiel. Alle, die durch ihren Rang oder ihre Theilnehmung an den öffentlichen Staatsgeschäften den Glanz dieses erobernden und witzigen Volks mehr in die Nähe sahen, und ihn mit der traurigen Dunkelheit ihrer eigenen Nation verglichen, welche nichts als Schulgelehrte aufweisen konnte; die alle beeiferten sich, an diesem Glanze Theil | zu neh- [447] men, suchten sich, so viel als möglich, dieser fremden Nation einzuverleiben, sich von ihrer eigenen durch Sprache und Sitten zu unterscheiden: und so waren sie herzlich zufrieden, daß die Deutschen von den Franzosen verachtet wurden, weil sie selbst glaubten, halbe Franzosen zu seyn. ‒ Unsre Gelehrten hingegen, die dem Spiel sehr in der Ferne zusahn, ließen sich noch wenig durch diese Verachtung der Fremden und ihrer eigenen Landsleute rühren, oder sie trösteten sich durch eine gegenseitige innige Verachtung der elenden Tändeleyen eines Volks, bey welchem, nach ihrer Meynung, die wahre Gelehrsamkeit auszusterben anfing. Von dieser Seite also war es nicht zu hoffen, daß Ehrgeiz und Eifersucht sehr rege werden und deutsche Schriftsteller mit den französischen um den Preis kämpfen sollten. Unterdessen verbreitete sich der Geschmack an dem Ausländischen in Sprache, Sitten und Schriften von den Großen bis zum wohlhabenden Bürger, und endlich bis zu der Klasse von Leuten, die zwischen den Gelehrten | und dem Weltmanne in der [448] Mitte stehen. Begierde, den Großen zu gefallen und sein Glück zu machen, Theilnehmung an ihrer Arbeit in gelehrten Bedienungen, Ehrgeiz, ihres Umganges gewürdiget zu werden, Handel mit den Franzosen, die die nützlichen Künste zugleich mit den angenehmen und schönen zur Vollkommenheit brachten: alles das trug zu der allgemeinen Ausbreitung dieses fremden Geschmacks bey. Nun dachten endlich auch wir Deutschen daran, daß wir eine Sprache hätten, die sich schreiben ließe; aber da wir hieran nicht eher dachten, als bis wir schon von den Schönheiten einer fremden Sprache gerührt, schon von der Politur fremder Schriftsteller eingenommen

144 | 2 Beiträge in Zeitschriften waren, so konnte es gar nicht anders seyn, wir mußten ihnen nachahmen, auch ohne die Absicht zu haben. Lassen Sie uns doch sehen, meine Herren, wie weit ungefähr diese Nachahmung sich erstreckt hat. Man muß hier die Gestalt unsrer Wissenschaften und den Charakter unsrer [449] jetzigen Schriftstellersprache wohl unterscheiden. In | jenen steckt, wenn ich so reden darf, mehr lateinischer Geist, in dieser hingegen mehr französischer und englischer. Beide zusammen machen eine Mischung, die, wenn man sie recht aus einander scheiden könnte, den Zustand unsrer Köpfe und unsrer Schriften am besten erklären würde. Wissenschaften und Philosophie fiengen nicht erst da bey uns an, wo wir anfiengen, deutsche Schriftsteller zu haben. Wir hatten schon einen großen Vorrath von Gelehrsamkeit, und zur Philosophie hatten wir viele und uns eigene Anlage. ‒ Den Stoff dazu hatten wir, wie alle europäische Nationen, von den Alten, theils unmittelbar durch ihre eigene Werke, theils mittelbar durch die unreinen Kanäle der neuern scholastischen Theologie und Philosophie bekommen. Sokrates, Aristoteles und Cicero, sammt dem guten Thomas Magister, haben vielleicht auf die Art und Weise, wie wir die Wissenschaften lehren, auf die Abtheilung und Hauptörter unserer Sys[450] teme, auf die Fragen, die | wir vorzüglich untersuchen, die Schwierigkeiten, die wir auflösen, und die Streitigkeiten, die sich immer von neuem bey uns entspinnen, weit mehr Einfluß, als wir uns vorstellen mögen. Aber nun unsre eigene Sprache. Die Unterscheidung dessen, was in ihr schön, edel, anständig seyn sollte, die Beeiferung, sich über allerhand Arten von Gegenständen in ihr auszudrücken, und gut auszudrücken; diese hat sich erst angefangen, als sich das jetzige Jahrhundert anfing. Und woher haben wir da unsre Regeln und unsre Muster genommen? ‒ Die alten Sprachen sind von der unsrigen zu entfernt, als daß sie viel zu ihrer Ausbildung beytragen könnten: überdieß sind die, welche deutsch schreiben, und gut zu schreiben sich Mühe geben, gerade nicht die größten Kenner der alten Sprachen. Es war also ganz natürlich, daß die schon verfeinerte Sprache unsrer Nachbarn, die wir alle eher gelernet hatten, ehe wir in der unsrigen arbeiteten, und deren eingebildete oder wahre Vortreflichkeit uns zuerst [451] gereizt hatte, auf eine | Verbesserung unserer eigenen zu denken; daß, sage ich, diese unsern Ausdruck oft ohne unsern Vorsatz bildete und bestimmte. Das Französische kam zuerst; das Englische folgte. Man merkt den Übergang von jenem zu diesem gar deutlich in unsern Schriftstellern. Unser Styl ist in der neuesten Zeit gedrungener, körnichter, reicher geworden, aber auch oft gewagter und zuweilen ausschweifender. Man drückt seine Gedanken vielleicht freyer und eigenthümlicher aus, und bey guten Köpfen gewinnt der Leser dabey allemal: aber man verzeiht sich auch seltsame Zusammensetzungen von Wörtern, ungewöhnliche Redensarten, und das artet dann bey schlechten Schriftstellern sehr oft ins Sinnlose und Abentheuerliche aus. Kurz, diese Art von Freyheit hat, so wie jede andere, ihren Vortheil und ihren Nachtheil. Die guten Schriftsteller werden dadurch vortreflich und die mittelmäßigen elend.

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Vielleicht, meine Herren, halten Sie es der Mühe werth, daß ich von dem Einflusse dieser | fremden Litteratur auf die unsrige noch etwas genauer rede, und zwar besonders, insofern er sich auf die Sprache erstreckt hat. Eine sich bildende Sprache nimmt von einer andern entweder einzelne Wörter, oder Wendungen, oder eine gewisse allgemeine Farbe an, die sich eher empfinden, als deutlich erklären läßt. Einzelne Wörter kann eine Sprache, wie die unsrige, eigentlich von keiner fremden borgen, die gar nicht mit ihr verwandt ist, die ihren Wörtern ganz andre Endungen giebt, sie mit ganz andern Tönen ausspricht, sie nach ganz andern Gesetzen abändert. Und doch hat sie dergleichen nicht wenige aus der französischen und englischen herübergenommen; oft, weil sie wirklich zu arm war, noch öfter aber, weil die Schriftsteller ihren ganzen Reichthum nicht kannten, oder aus Trägheit nicht erst lange durchsuchen wollten. Armuth ist es in einem doppelten Falle: einmal, wenn für die Sachen, die wir sagen wollen, ganz und gar keine Wörter in der Sprache vorhanden sind, entweder weil die Sache bey der | ersten Bildung der Sprache noch gar nicht da, oder weil sie der Nation noch nicht bekannt war; und dieser Fall kömmt in allen Sprachen vor, wo sich jeder, der von unbekannten Dingen zum erstenmal spricht, des Rechts bedient, ein neues ausländisches Wort zu brauchen: zweytens, wenn zwar die Sprache ein Wort hat, die Sache im Ganzen auszudrücken, aber keins, das edel und zu dem jeztgewählten Tone der Schreibart passend wäre, oder keins, das zugleich alle Nebenbegriffe ausdrückte, die wir eben jezt zu unserer besondern Absicht glauben nöthig zu haben. Dieses leztere ist es, was so viel fremde Wörter auch in unsre guten Schriftsteller gebracht hat. In der That muß der Fall bey einem guten Schriftsteller öfter vorkommen, weil bey diesem immer die Ideen genauer bestimmt sind, und er mehr auf die kleinen Schattirungen Acht hat, die ganz gleichscheinende Wörter noch unterscheiden. Schreibt er besonders über eine Materie, worinn die Ausländer viel gearbeitet und viel von ihm sind gelesen worden; so wird sich ihm | mancher Begriff gar unter keinem andern Worte, als unter dem fremden darbieten; mancher wird ihm nicht genau und stark genug gesagt scheinen, so bald er nicht mit eben demjenigen Worte gesagt wird, womit er zuerst ihn bekommen hat. Oft ist es bloße Einbildung, wenn uns das nicht mehr vollgültig dünkt, was durch den langen Gebrauch unscheinbar geworden, obgleich das Fremde und Neugeprägte in der That von keinem größern innern Gehalte ist. Oft aber ist es wahre Empfindung, und dann ist dessen Ohr nicht so wohl zärtlich, als verzärtelt, der weniger ein fremdes Wort, als eine halbgesagte, übel passende Idee dulden kann, weniger von der feinen Richtigkeit in den Gedanken, als von einer pedantischen Reinigkeit der Sprache gerührt wird. Eine Sprache, wenn sie für alle Klassen von Werken bequem seyn soll, muß einerley Sache auf mehr als einerley Art, nach den verschiednen Gattungen der Materie und den verschiedenen Absichten des Schriftstellers, ausdrücken können. | In diesen Gattungen der Schreibart giebt es unzählige mittlere Stufen: doch lassen sie sich überhaupt auf dreye bringen. Diese sind die eigentlich poetische und malerische, die populäre und dialogische, und die didaktische.

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146 | 2 Beiträge in Zeitschriften Sehen wir unsere Sprache an, so finden wir sie an Wörtern der ersten Art reicher, als vielleicht irgend eine andre. Namen, die die Dinge oder die Veränderungen von ihrer sinnlichsten Seite vorstellen, die so zu sagen, nur die sichtbare Erscheinung der Sache, nicht ihre innre Natur ausdrücken, solche Namen haben wir in Menge: und oft sind wir auch im Stande, neue zu machen, ohne daß wir der Sprache Gewalt thäten. Diesen Reichthum unsrer Sprache hat wohl niemand besser gekannt, besser genuzt, als Klopstock und Geßner, obgleich in zwo ganz verschiedenen Arten. Wie weit hier die französische hinter der unsrigen bleibe, das zeigen ihre eigenen Originalwerke, die immer, so bald es auf Schilderung der sichtbaren Natur an[456] kömmt, zu allgemein sind, und der Imagination das Bild mit | zu wenig Bestimmung, zu wenig Lebhaftigkeit vormalen; noch mehr aber zeigen es ihre Übersetzungen unsrer deutschen Dichter, besonders der beiden, die wir oben genannt haben. Klopstock verliert im Französischen ganz unendlich. Tausend im Deutschen genau bestimmte Wörter werden dort zu allgemeinen, denen die bedeutungsvolle Nüance fehlt; eine unzähliche Menge der malerischsten, ausdruckvollsten Beiwörter, die aus der schwachen dunklen Ferne dem Auge der Imagination das Bild näher und in die rechte Lage rückten, geht zum Theil ganz verloren, zum Theil werden sie durch solche ersezt, die weit abstrakter und eben deswegen weit leerer sind, zum Theil werden sie mit einem Schwalle von Wörtern umschrieben, worunter die ganze Idee erstickt. Oder wenn man die Übersetzung der Messiade für zu unvollkommen hält, um sie bey der Vergleichung zum Grunde zu legen; so vergleiche man die Übersetzung Geßners, die von so ausgemachter und vorzüglicher Güte ist, mit dem Originale. Was Wörter im gesellschaftlichen Style betrift, so wie er im Lustspiele, in der [457] Erzählung, in andern zur Ergötzung geschriebenen Werken vorkömmt, so möchten wir sie in hinlänglicher Anzahl haben; nur daß die Grenze zwischen dem Niedrigen, dem Komischen, dem Vertraulichen u. s. w. weniger genau bestimmt ist, oder oft das alte sehr ausdrückende Wort verächtlich und pöbelhaft geworden, ohne daß ein andres an seine Stelle gekommen. Bey einigen solcher Wörter ist alle Rettung verloren; besonders wenn man sich einmal bey ihnen an gewisse unanständige oder ekelhafte Nebenbegriffe gewöhnt hat: bey andern ist die Rettung noch möglich, wenn sich ihrer ein Schriftsteller vom ersten Range annimmt. Ein Mann, von dem schon die ganze Nation überzeugt ist, daß er mit der feinsten Auswahl und sorgfältigsten Überlegung schreibt; wenn so ein Mann ein mit Unrecht verachtetes Wort wieder gebraucht: so wird man vielleicht in dem ersten Augenblicke anstoßen; aber [458] bald wird man auf Gründe zu seiner Entschuldigung denken;| man wird das Wort an Stellen hingesezt finden, wo es so eigenthümlich und passend ist, daß man es für unentbehrlich halten muß; von dem Ansehen dieses Mannes unterstüzt, werden es andre Schriftsteller ihm nachgebrauchen, und bald werden wir eben so gewohnt seyn, es zu hören, als ob wir uns niemals davon entwöhnt hätten. Auf diese Art hat uns Ramler und Leßing schon manches Wort, manchen Ausdruck gerettet, und andre Schriftsteller von gleichem Ansehen, wie sie, sollten es auch thun. Die meiste

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Unbequemlichkeit findet man, wenn man Gespräche schreibt. Man möchte so gerne die Sprache rein erhalten, so gerne alles das deutsch sagen, was wirklich deutsch gesagt werden kann; und doch möchte man auch der Nachahmung das völlige Ansehen der Natur geben; man möchte gerne die Redensarten beybehalten, wie sie im Gespräche wirklich gehört werden. Wie will man aber beide Endzwecke vereinigen, wann sich von den unglücklichen Zeiten her, wo man weder Französisch noch Deutsch, sondern ein Gemengsel von beiden | Sprachen redete, noch eine so große [459] Menge fremder Wörter und Redensarten, besonders unter den Vornehmen, erhalten hat, wofür schlechterdings kein gleichgeltender deutscher Ausdruck da ist, der gemein und gebräuchlich wäre? Diese Unart hat indessen an den meisten Orten schon ziemlich nachgelassen; man bedienet sich schon weit mehr, als vordem, der Ausdrücke der Muttersprache: und wo diese noch nicht gewöhnlich sind, da hat der Schriftsteller das Recht, sie gewöhnlich zu machen. Er bildet, wenn er nur sonst vortreflich ist, die Sprache des Umgangs, wie die Sprache der Bücher; und schreibt der Nation vor, wie sie reden soll, wenn er ihr nicht nachschreiben kann, wie sie wirklich redet. Wenn es den Deutschen in irgend einer Gattung der Schreibart an Wörtern fehlt, so fehlt es ihnen in der didaktischen Gattung. Daher kömmt es, daß unsre Philosophen, oder die, welche auch in Werken anderer Art gerne philosophiren, entweder immer in Metaphern schreiben, oder eine Menge fremder Wörter | gebrauchen. Hier [460] nun hat die französische und englische Sprache einen augenscheinlichen Vorzug. Da unsere Wissenschaften, wie ich bereits gesagt habe, von den Lateinern zu uns gekommen sind, oder uns durch lateinisch geschriebene Bücher sind überliefert worden; so sind die meisten Wörter, die wir in den abstrakten Theilen der Wissenschaften nöthig haben, lateinisch. Diese haben nun natürlicher Weise in Sprachen, die von der lateinischen abstammten, leicht können aufgenommen werden: und die Franzosen, die sonst für die Reinigkeit ihrer Sprache so sehr besorgt sind, nehmen in dieser Art alle Tage noch mehr auf. Wir, die wir eine eigne Stammsprache haben, konnten diese Wörter durchaus nicht in deutsche verwandeln. Wir mußten also deutsche suchen oder machen, die mit jenen einerley Ideen bezeichnen sollten. So haben wir uns freylich zu helfen gesucht: aber wer in dieser Gattung schreibt, und noch mehr, wer darinne übersezt, der wird finden, daß für eine Menge | von Begrif- [461] fen immer nur Ein Wort vorhanden ist, wo die philosophische Genauigkeit deren mehrere verlangt, und unsre Nachbarn auch wirklich deren mehrere haben. Dieß, meine Herren, sey genug von den einzelnen Wörtern gesagt. Das Zweyte, was eine Sprache von der andern entlehnen kann, sind Redensarten, gewisse Verbindungen von Wörtern, die schon ganze vollständige Gedanken bezeichnen; gewisse eigene Wendungen und Übergänge. Und hier ist es nun, wo unsre Sprache unstreitig sehr viel von ihren Nachbarinnen angenommen hat, und auch künftig noch annehmen wird, so wie wir uns mit neuen Nationen bekannt machen, oder neue Bücher lesen und bewundern werden. Wie weit darinne der Gebrauch gehe, und wo der Mißbrauch anfange; das ist auch hier, wie in allen andern Dingen, un-

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endlich schwer zu bestimmen. Zum Unglücke hilft das Eifern sehr wenig, wenn auch der Mißbrauch augenscheinlich wäre. Die Sprachen haben ihre Revolutionen, wie die Völker, die sie reden; und diese Revolu|tionen mögen nun zur Verbesserung oder Verschlimmerung gereichen, so werden sie demjenigen allemal Verderbnisse scheinen, der an die Neuerungen noch nicht gewöhnt ist. Freylich würde unsre Sprache ganz anders seyn, wenn unsre Nation, als die erste an Kultur und Künsten, alles das aus sich selbst hervorgebracht hätte, was ihr jezt von andern ist überliefert worden[;] anders würde sie seyn, wenn die Griechen und Römer so unsre Nachbarn wären, wie jezt die Franzosen und Engländer; anders endlich, wenn die sprachverwandten nordischen Nationen entweder vor uns oder mit uns zu gleicher Zeit durch ihre Schriftsteller Aufsehen gemacht hätten. Vielleicht, wenn bey der Sache ja etwas zu bedauern ist, so ist es dieß, daß wir gerade am meisten mit Völkern in Verbindung gestanden, deren Sprache so wenig mit der unsrigen gemein hat, und uns niemals um diejenigen bekümmert haben, die unsre eigne älteste Sprache oder einen Dialekt derselben reden. Unter der Menge besonderer Anmerkungen, die ich machen könnte, will ich nur eine einzige machen, die mir vorzüglich wichtig scheint. Die französische Sprache gebraucht lange nicht so viel Verbindungswörter, als die unsrige; sie bringt die Ideen in keinen so genauen Zusammenhang, als die unsrige. Dadurch hat sie eine abgerissene sentenziöse Schreibart veranlaßt, worinne man Satz auf Satz einzeln hinwirft, und es dem Leser selbst überläßt, sich die Verbindung hinzu zu denken. Wenn der Mann, der so schreibt, in der That ein bündiger Kopf ist, der sich an eine strenge und genaue Ordnung seiner Gedanken gewöhnt hat, so mag für einen auch denkenden Kopf in einer solchen Schreibart viel leichte und schmeichelhafte Beschäftigung, und mithin viel Reizendes seyn. Aber sobald sich ihrer ein nicht so bündiger Schriftsteller bedient, so leitet sie ihn ohne Unterlaß von dem geraden Wege seiner Ideen ab; sie führt ihn in Versuchung, Sätze zusammenzuhäufen, die keine richtige Folge machen: und dann verliert sich der Schriftsteller oft | völlig von seinem Ziele, scheint uns die scharfsinnigsten Sachen zu sagen, und sagt uns im Grunde so viel als nichts. Die so geschriebenen schlechten Bücher sollten gar nicht übersezt werden; die so geschriebenen guten Bücher sollte der Übersetzer eben dadurch am meisten verdeutschen, daß er die wirklich vorhandene Verbindung der Ideen so viel als möglich angäbe; und keiner unsrer Originalautoren sollte der Sprache Gewalt thun, um sie eben so zerrissen und unzusammenhängend in ihren Gliedern zu machen, als die französische es geworden ist. Nichts ist einem guten Werke so wesentlich, als ein richtiger Gang und eine genaue Verbindung der Gedanken; und nichts an einer Sprache so schäzbar, als wenn sie durch ihr Genie diesen richtigen Gang und diese genaue Verbindung begünstiget. Sie sehen, meine Herren, daß meine Materie kaum angefangen, und nichts weniger als erschöpft ist; ich kann Ihnen daher aus den übrigen Theilen nur einige zerstreute Gedanken vorle|gen, deren Ausführung ich mir aufs Künftige vorbehalte.

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Die Provinz, in welcher die guten Schriftsteller zuerst zum Vorscheine gekommen sind, und der Dialekt dieser Provinz muß nothwendig mit in Betrachtung gezogen werden, wenn man wissen will, warum unsre Denkungsart und unsre Sprache gerade diesen und keinen andern Schwung genommen haben? Wäre die Dichtkunst in Schwaben, wo sie aufzublühen anfieng, zur völligen Reife gediehen, so würde sich unser Geschmack ganz anders gewöhnt haben; wir würden uns unstreitig von dem, was gut deutsch heißt, von dem, was in den Ausdrücken edel oder lächerlich seyn soll, ganz andre Begriffe machen, als jezt. ‒ Alle Sprachen, die in großen Reichen gesprochen werden, müssen Dialekte haben; aber nicht bey allen haben diese Dialekte gleiche Wirkung. Wenn jedermann, oder wenn wenigstens der Mann von Erziehung die Hauptdialekte seines Landes versteht, wie das in Griechenland war, und noch jezt in Italien ist; wenn | nicht jede Provinz den Dialekt der andern durch- [466] aus und absolut lächerlich findet; wenn der Athenienser, seines feinen und verwöhnten Ohrs ungeachtet, doch die Delikatesse und den Wohlklang des ionischen Herodots nicht verkennt: so kann davon die Dichtkunst und Beredsamkeit Vortheil ziehen. Uns aber, bey denen jene Bedingungen nicht statt finden, würde ein Dichter, wie Homer, der die verschiedenen Dialekte unsers Landes vereinigen wollte, nicht anders als abentheuerlich und abgeschmackt scheinen. Über den Mangel einer allgemeinen Hauptstadt ist schon vielfältig geklagt worden. Halb ist diese Klage gerecht, und halb ist sie ungerecht. Auf die Künste hat freylich eine allgemeine Hauptstadt einen sehr großen Einfluß; denn nur durch die gegenseitige Mittheilung der Einsichten und Erfindungen, und durch den Ehrgeiz, den die Nebenbuhlschaft erregt, können die Menschen ihre Werke zur Vollkommenheit bringen; und bey den Künsten findet diese Mittheilung anders nicht statt, als durch die Ge|genwart und den Anblick. Zur Kultur der schönen Wissenschaften ist [467] es in gewisser Absicht nützlich, daß die Schriftsteller beysammen wohnen, sich ihre Gedanken und Entwürfe mündlich mittheilen, einer des andern Rath hören, einer den andern entflammen und aufmuntern; aber so nothwendig ist es bey weitem nicht, als bey den Künsten. Es giebt hier schon Wege, wodurch sich Kenntnisse und Geschmack auch in entfernte Gegenden verbreiten können. Ja, vielleicht besäßen wir einige unsrer schönsten Werke nicht, die sich durch den originellen Charakter der einfältigsten und liebenswürdigsten Natur empfehlen, wenn unsere Schriftsteller nur dem üppigen Publikum einer allgemeinen Hauptstadt hätten gefallen wollen, und der gekünstelte Ton der vornehmen Welt einmal Mode geworden wäre. ‒ Wer am meisten Recht hat, über den Mangel einer Hauptstadt zu klagen, das ist der theatralische Dichter. Denn dieser vermißt damit ein gebildetes, bestimmtes, überall bekanntes Publikum, dessen Sitten er kopiren und das | ihn hinlänglich belohnen [468] könnte; er vermißt eine Bühne, die reich genug wäre, alle guten Schauspieler der Nation an sich zu ziehen, und eben dadurch vollkommen genug, ihn über das Praktische seiner Kunst zu belehren, und ihm Muth zur Überwindung ihrer unzähligen Schwierigkeiten zu geben.

150 | 2 Beiträge in Zeitschriften Es scheint, als wenn es unsern Schriftstellern bisher noch an der Beharrlichkeit gefehlt hätte, lange Zeit an einem Werke im Verborgenen zu arbeiten, und viele Jahre lang einen weitläuftigen Plan zu verfolgen, ohne die Frucht des Ruhms von der Bekanntmachung desselben zu genießen. Und doch sind die Werke der Montesquieu und der Ferguson nur auf diese Weise entstanden. Eine Hauptursache davon ist wohl die, daß bey den meisten unsrer jungen Köpfe der Ruf, den sie als Schriftsteller suchen, bloß das Mittel seyn soll, ihr Glück zu machen. Freylich können sie [469] alsdann nicht genug eilen, diesen Ruf zu erhalten; und es wäre sehr | unnatürlich, wenn sie nicht mit einer kleinern Vollkommenheit ihrer Werke zufrieden wären, wofern dieselben nur gut genug sind, Leute, die ihre Umstände verbessern können, auf sie aufmerksam zu machen. Man klagt darüber, daß unsre Großen unsere Bücher nicht lesen, und man hat Recht, darüber zu klagen. Aber auch dieß hängt so natürlich mit den Umständen unserer Nation und selbst mit der Beschaffenheit unserer Litteratur zusammen, daß man sich wenigstens nicht wundern darf, wenn man auch klagt. Keine Werke der Philosophie erlauben mehr Erhabenheit im Ausdrucke, mit mehr Scharfsinn in der Untersuchung verbunden, als die, welche von Verwaltung der Staaten handeln. Keine ziehen die Aufmerksamkeit der Staatsmänner und der Großen mehr auf sich. Wir haben bisher noch kein einziges Werk dieser Art, das wir den Schriften unsrer [470] Nachbarn an die Seite setzen könnten. ‒ Wenn es uns gelänge, unsern Für|sten einen deutschen Montesquieu in die Hände zu geben, vielleicht würden sie dann auch unsre Klopstocke und Geßner und Lessinge und Moses lesen. Ende.

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Von der Popularität des Vortrages Ich nehme das Wort populär in einem doppelten Sinne. Ich verstehe unter einem populär geschriebnen Buche entweder dasjenige, welches dem größern Publicum, und nicht bloß dem Gelehrten, verständlich ist und gefällt; oder das, welches für die niedern Volksklassen bestimmt, und deren Fassung angemessen ist.

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Die Fragen, die hierbey zu untersuchen vorkommen, sind: 1) welche Eigenschaften der Lehrart und des Styls dazu gehören, um ein allgemein lesbares und anziehendes Buch zu schreiben, und welche Eigenheiten eine Schrift haben müsse, um den untern Volksclassen brauchbar zu seyn; 2) ob es ein Verdienst, oder ein Tadel sey, populär zu philosophiren, und ob die Gabe der Popularität mehr ein natürliches [334]

Talent, oder ein Werk der Übung und der Kunst | sey; 3) endlich, auf welche Weise sich die Schriftsteller, in die schulgerechte und in die populäre Behandlung, zu theilen haben, – oder mit andern Worten, welche Arbeiten der Gelehrten, unter der

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einen oder der andern dieser beyden Formen des Vortrags, am glücklichsten von statten gehen? Die vollständige Beantwortung dieser Fragen könnte Stoff zu einer ziemlich weitläuftigen Abhandlung geben. In dem gegenwärtigen Aufsatze darf der Leser nichts anders, als einzelne Ideen, erwarten, welche dieser Beantwortung vorarbeiten können. Um dem größern Publicum in Schriften zu gefallen, dazu gehört eben das, wodurch man der Gesellschaft im Umgange gefällt. Das erste ist, daß man verstanden werde. Je mehr der Leser die Gedanken eines Schriftstellers, bis auf ihre kleinsten Züge, durchschaut: desto mehr wird er gewiß von ihnen angezogen. Denn jeder Mensch, – der von den gemeinsten Fähigkeiten so wohl, als der leichtsinnigste, – freut sich über jede Idee, die wirklich in seinen Kopf gebracht wird. Was beym Studiren verdrüßlich ist, und was die meisten davon abschreckt, ist die Bemühung Ideen in sich zu erwecken,| welche ihren Endzweck nicht erreicht. Hier fängt nun [335] der Unterschied unter den Menschen an. Der Wißbegierige, und der Mensch von größern Fähigkeiten hält, mit seiner Aufmerksamkeit auf den Vortrag des Lehrers, welcher ihm Unterricht ertheilen soll, an, auch wenn er nicht gleich die Ausbeute neuer und ihm völlig verständlicher Gedanken davon trägt: und es gelingt ihm vielleicht endlich, hinter den Worten, die anfangs nur Töne für ihn waren, einen Sinn zu entdecken, der seine Einsichten bereichert. Der Mensch von trägem Geiste hingegen, der durch mechanische Arbeiten ermüdet, oder zu sinnlichen Zerstreuungen gewöhnt ist, läßt mit seiner Aufmerksamkeit sogleich nach, so bald sie ihm nicht, auf der Stelle, mit einem hellern Blick in den Gegenstand der Betrachtung, belohnt. Der populäre Schriftsteller nun soll, auch für diese trägen Köpfe, für diese schwer begreifenden, oder flatterhaften Menschen, arbeiten. Er muß also einen höhern Grad von Deutlichkeit besitzen, – eine solche, wenn es möglich ist, welche das Nichtverstehen seiner Gedanken unmöglich macht. Dazu ist dann ein vollkommner Gebrauch der Sprache das erste Erforderniß. Der, wel|cher jedes Wort in dessen eigenthümlichen Sinne braucht, welcher alle [336] Regeln der Grammatik genau beobachtet, welcher auf die Zweydeutigkeiten, die oft durch Kleinigkeiten, in unsern Ausdrücken entstehn, aufmerksam ist, und sie zu vermeiden sucht; – der, welcher die Wörter, nach dem natürlichsten Zusammenhange der Ideen, und nach den bekanntesten Analogien der Sprache, zusammenordnet, das Überflüßige von jedem Satze wegschneidet, die Vorstellungen, welche zu zahlreich sind, um auf einmahl ausgedrückt werden zu können, von einander trennt, und diejenigen in einen Satz vereiniget, welche nothwendig zugleich übersehen werden müssen: der wird schon dadurch seinen Gedanken ein Licht geben, welches das Fassen derselben den Lesern aller Classen erleichtert. Und da diese Eigenschaften des Styls, zu einem guten Style überhaupt, erfordert werden; da dieselben nicht, von der Beschaffenheit der behandelten Gegenstände, noch von dem Geiste der Untersuchung, abhängen, sondern eben sowohl, bey gründlichen und tiefen Untersuchungen abstracter Materien vorhanden seyn, – als, bey seichten

152 | 2 Beiträge in Zeitschriften und oberflächlichen der gemeinsten Erfahrungssachen, fehlen können: so ist diejenige Popularität, welche,| durch den vollkommensten Gebrauch der Sprache, erhalten wird, in allen Arten von Schriften möglich, und ist auch eigentlich Pflicht aller Schriftsteller. Daher sehen wir auch, daß bey den Nationen, welche ihre Sprache am meisten ausgebildet haben, und unter denen die Fertigkeit gut zu schreiben am ausgebreitesten ist, – bey den Franzosen vorzüglich, – den Unterschied zwischen populären und zwischen bloß für Gelehrte geschriebnen Büchern, weniger, als unter uns, bemerkt wird. Man unterscheidet dort zwischen gut und schlecht geschriebnen Büchern. Und wenn diese letztern doch zugleich brauchbare Sachen enthalten: so werden sie freylich nur von denen gelesen, welche, aus dem darinn behandelten Erkenntnißzweige, ihr eigentliches Geschäfte machen, und von denen bey Seite gesetzt, welche, weil sie nur ihre Nebenstunden dem Unterrichte aus Büchern widmen, mit Leichtigkeit und Annehmlichkeit unterhalten seyn wollen. Sie sind also, dem Erfolge, – wenn auch nicht der Bestimmung ihrer Verfasser nach, – nur für Gelehrte geschrieben. Daß es aber bisher bey uns Deutschen mehr schlecht geschriebne Bücher von [338] nützlichem In|halte, als bey unsern südlichen Nachbarn, gegeben hat, – (bey welchen der gute Kopf sich fast immer gut ausdrückt, und, mit einem schlechten Vortrage, fast immer geringe Einsichten verbunden sind:) das kömmt, wie mich dünkt, davon her, daß, außer der Kenntniß und dem vollkommnen Gebrauche der Sprache, noch eine zweyte Eigenschaft zu einem angenehmen Vortrage erfordert wird, die sich bey jenen Nationen häufiger, als bey uns findet; – das ist Einbildungskraft.1 Ich rede noch nicht von den Bildern, mit welchen man die Rede aufhellt, oder sie ausschmückt. Ich rede nur von dem leichtern Flusse der Begriffe selbst. Mühsa[339] mes Nachdenken hat | einen andern Charakter im Ausdrucke, als Nachdenken, welches dem Redenden, oder Schreibenden leicht wird: und das Denken wird leichter, wenn die Imagination thätiger ist. Bey der Herbeyführung neuer Gedanken, bey dem Übergange von einer Ideenreihe zur andern, muß diese Fähigkeit immer mitwirken. Ist sie von Natur lebhaft, oder durch den Gegenstand erwärmt: so gesellen sich die verwandten Begriffe schnell zusammen, ein Funke zündet den andern. Die Perioden sind alsdann gedrängter und runden sich von selbst ab. Man bleibt bey keinem Gedanken länger stehn, als es nöthig ist, ihn ins gehörige Licht zu setzen. [337]

1 Als eine andre Ursache kann man annehmen, daß es bey uns noch nicht so gar lange her ist, daß noch andre Personen lesen, als die aus dem Lesen und Studiren ihr Hauptgeschäfte machen. So lange Schriftsteller gewiß sind, nur von Gelehrten vom Handwerke gelesen zu werden, und nur von deren Urtheil ihren Ruhm zu erhalten: so lange werden sie ihren Vortrag und Styl ein wenig vernachläßigen, und nur den Umfang und die Tiefe ihrer Kenntnisse zu zeigen suchen. Alle Künstler, – alle, die sich um das Schöne in ihren Werken bewerben, machen auf allgemeinen Beyfall Anspruch. Und sobald das Auge des ganzen Publicum auf ein Erzeugniß des menschlichen Fleißes gerichtet ist: sobald wird dasselbe auch ein Gegenstand des Geschmacks, in dessen Verschönerung seine Verfertiger wetteifern.

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Man läßt sich nicht in Grübeleien ein, sondern eilet zum Ziele. Selbst der eigenthümliche Ausdruck kömmt einem lebhaft bewegten Gemüthe eher ein, als dem kalt nachdenkenden Verstande. Nur der, welcher, auch bey seinen Meditationen, etwas leidenschaftlich ist, wird mit Leichtigkeit gut schreiben können. Was aber den populären Vortrag vielleicht am meisten auszeichnet, sind Bilder und Beyspiele. Alle allgemeine Sätze, mit abstracten Worten gesagt, machen, wenn ihr Inhalt etwas Bekanntes ist, kein Vergnügen mehr; und | sind, wenn sie neue [340] Gedanken enthalten, dem großen Haufen so lange unverständlich, bis sie ihm in einzelnen Fällen anschaulich geworden sind. Sind diese Beyspiele, mit welchen der populäre Philosoph seine Lehren erläutert, erdichtete Thatsachen: so machen sie eine Art von Poesie aus; und sie müssen, wenn sie ihre Wirkung thun sollen, poetische Wahrscheinlichkeit und einen bescheidnen Schmuck haben. Sind es historische, so müssen sie auf eine angenehme Weise erzählt werden. Um deßwillen muß Einbildungskraft und Witz dem Verstande des Schriftstellers, der für das größere Publicum arbeitet, zu Hülfe kommen. Er muß nicht blos das Talent seiner Gattung, sondern wenigstens einige allgemeine Welt- und Menschenkenntniß, besitzen. Wenn er seine Meditationen verfolgt, ohne sie auf die wirkliche Welt zurückzuführen; wenn er sie nicht mit dem praktischen Leben, oder doch mit den, jedermann vor Augen liegenden, Erfahrungen in Verbindung zu bringen weiß: so strengt er das Nachdenken der meisten Leser zu sehr an; er läßt ihre übrigen Geisteskräfte unbeschäftigt; er reitzt ihre Wißbegierde nicht, er ermüdet sie, ohne sie zu belehren. Also: diejenige philosophische Schrift ist gemacht, auf das größre gesittete [341] Publicum zu wirken, die, mit der Vollkommenheit des lehrenden Vortrags, einen natürlich leichten Fluß der Gedanken verbindet; und in deren Schlußreihen so viel Geschichte, oder Poesie eingewebt ist, als zur Aufhellung der abgezognen Begriffe, oder zur Bestätigung der allgemeinen Sätze erfordert wird. Aber ist dies auch genug für den Schriftsteller, der die untern Volksclassen belehren will? – Ich irre mich vielleicht: aber ich halte es für ein Vorurtheil, wenn man glaubt, daß man sich diesen Classen, im Style und in der Sprache, nähern müsse, um ihnen verständlich zu seyn. Der gemeine Mann versteht in Sachen, die an sich nicht über seinen Gesichtskreis sind, den guten deutschen Ausdruck, wenn er auch einen andern braucht. So wie man, in allen Provinzen eines gesitteten Landes, mit der allgemeinen Landessprache fortkömmt, wenn auch jede dieser Provinzen ihren eignen Dialekt hat: so kömmt man, unter allen Ständen der bürgerlichen Gesellschaft, mit der Sprache des gesitteten Standes fort, wenn auch unter den niedrigern eine andre Sprache geredet wird.| Es wird ein reines Deutsch geben, [342] welches dem Gelehrten untadelhaft scheint, und doch dem Bauer und Handwerker verständlich ist. Alles kommt darauf an, daß man bey dem, was man ihnen sagt, keine Kenntnisse voraussetzt, die sie nicht haben können. Diesen Irrthum kann man sowohl in Absicht der Sachen begehn, die man ihnen vorträgt, als in Absicht der Ausdrücke, in welchen man sie ihnen vorträgt. Dichterische und wissenschaftliche Wörter und

154 | 2 Beiträge in Zeitschriften Wendungen, – das sind die beyden Abwege, durch welche man seine Schreibart gemeinen Leuten unverständlich macht. Beyde setzen bey dem Leser voraus, daß er andre Bücher zuvor gelesen, und einen andern Unterricht, außer dem unsrigen, empfangen habe. Ein Buch, für den Bauern und Handwerksmann geschrieben, ist kein anders, als ein Buch, welches, für sich und durch sich selbst allein, zu verstehen ist. Ich bin deshalb auch ungewiß, ob es überhaupt nöthig sey, für diese Classe eigne Bücher zu schreiben. Mich dünkt, der Schriftsteller, welcher die Elemente der menschlichen Kenntnisse, über praktisch nützliche Gegenstände, aufs beste vor[343] trägt, ist ein Autor für | das Volk.2 Diesen Charakter verliert er nicht, wenn er auch, bey Verfertigung seiner Schrift, die unterrichtete und edlere Classe vor Augen gehabt hat. Ja es ist ihm sogar zu rathen, daß er mehr auf diese sehe, da er sie auch gemeiniglich besser kennt. Wenn ja der gemeine Mann von seinem Lehrer von etwas eigenthümliches fordert: so ist es nur ein höherer Grad von Klarheit und Leichtigkeit des Styls, nicht ein gewisser populärer Ton desselben. Dieser populäre, oder Volks-Ton, fällt sehr leicht ins Komische. Nicht sowohl an sich ist er lächerlich: aber er wird es, wenn er mit der edlern, oder lehrenden Schreibart, die doch, wenn man über wichtige Dinge Unterricht ertheilen will, nie ganz zu vermeiden ist, zusammengesetzt wird. Dieses Lächerliche wird der gemeine Mann selbst gewahr: und es verdrießt ihn mehr, daß der Autor eine Komödie mit [344] ihm spielet, um ihm ähnlich zu scheinen, als es | ihm angenehm ist, seine gewohnten Ausdrücke wieder zu finden. Dazu kömmt, daß der Volksstyl, in den verschiedenen Gegenden eines Landes, so mannigfaltig und abwechselnd ist. Der Autor, der z. B. unter den Reichs-Bauern das Muster für seinen Styl genommen hätte, würde dem Schlesischen dadurch nur desto unverständlicher werden. Die Büchersprache ist, in allen Provinzen, selbst dem Landmanne bekannter, als die Volkssprache der einen Provinz in der andern ist. Unter den drey oben angegebenen Erfordernissen einer Schrift, die für das große Publicum bestimmt ist, wird nur das dritte eine Abänderung leiden, wenn dieses Publicum aus den untern Ständen besteht. Bilder und Beyspiele werden anders gewählt werden müssen. Zwar nicht einzig und allein aus den Verichtungen und der Lebensart der Stände, für welche man schreibt. Nicht alle Erläuterungen, welche dem Bauern einen Vortrag aufklären sollen, müssen vom Felde und aus dem

2 Ich erkenne indeß doch, daß dieß insofern eine Einschränkung leide, als es nöthig oder nützlich seyn kann, die verschiednen Classen des Volks, jede in Rücksicht auf ihre besondre Beschäftigung, und auf die Gegenstände, mit welchen sie, vermöge ihres Berufs umgeht, zu unterrichten.

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Stalle hergenommen seyn.3 Diese geflissentliche Herablassung miß|fällt sogar den [345] Niedrigern, welche wohl wissen, daß der Schriftsteller sich dazu nur bequemt, weil er sie für unfähig hält, etwas anders zu begreifen. – Aber der Umkreis der Kenntnisse, welche man bey seinen Lesern voraussetzen kann, muß doch nicht überschritten werden: es sey dann, daß man, auf die Erklärung der Beyspiele, eben so viel Sorgfalt wenden wolle, als auf die Entwickelung der Begiffe selbst. Es wird sich nunmehr, auf die zweyte der obigen Fragen, die Antwort ergeben: daß der populäre Vortrag, da, wo er möglich ist, der vollkommenste sey; daß er aber nur dann möglich sey, wenn die vorzutragenden Ideen schon ihre völlige Entwickelung erhalten haben, und wenn sie auch vollständig und von ihren Elementen an vorgetragen werden. Populär kann also der Vortrag der Erfinder nie seyn, oder er ist es selten. Populär können auch alle die | Wissenschaften nicht vorgetragen werden, [346] die als Fortsetzungen andrer anzusehen sind, und die Bekanntschaft mit diesen schlechterdings voraussetzen. Der letzte Fall findet hauptsächlich bey den mathematischen Wissenschaften statt. Und je mehr eine Wissenschaft von Mathematik in sich enthält, oder ihr ähnlich ist: je weniger ist ein populärer Vortrag davon möglich. In ihr entspringt immer eine Idee aus der andern, und der nachfolgende Satz wird nur durch den vorhergehenden verständlich. Kein Mensch kann, in dieser an einander hängenden Kette, das zehnte Glied begreifen, wenn er nicht die neun vorhergehenden in ihrer Ordnung durchgegangen ist. Je weiter sich der Faden fortspinnt: je unmöglicher wird es, die höheren Sätze irgend jemanden verständlich zu machen, wenn dieser nicht die Wissenschaft, vom Anfange an, durchstudiren will. Die Physik ist mit der Mathematik, ihrem Inhalte nach, genau verwandt: sie ist also natürlicher Weise, in Absicht des Vortrags, mit ihr in gleichem Falle. Aber es giebt noch andre Wissenschaften, die ihr bloß ähnlich sind. Ich glaube alle Wissenschaften eintheilen zu dürfen, in solche, worin nur über [347] Erfahrungen reflectirt wird, – und solche, worin Ideen combinirt werden. Zu den ersten gehöret die eigentliche Philosophie, insbesondre die Seelenlehre und die Moral. Zu den letztern gehören, außer der Mathematik, alle die Wissenschaften, welche den mechanischen Künsten vorarbeiten. Erfahrungen machen, und über diese Erfahrungen reflectiren, ist der Antheil aller Menschen. Ideen oder Sachen auf eine eigne Art verknüpfen: und diese Composita als die Elemente zu neuen Zusammensetzungen brauchen, ist nur die Sache weniger, welche ein eignes Talent dazu, und einen bestimmten Zweck dabey haben. Wenn, mit der Länge der Zeit, sich eine

3 Ich füge der vorigen Einschränkung noch die mit ihr zusammenhängende bey, daß, ob gleich nicht aller Un|terricht, welcher den untern Volksclassen in Sittlichen und Wissenschaftlichen gegeben wird, seine Bestätigungen und Beyspiele aus der Lebensart einer jeden derselben hernehmen darf, doch auch Bücher nützlich seyn können, welche, da sie den Zweck haben, einen besondern Stand zu seinen Geschäften vorzubereiten, sich auf die Gegenstände, die ihm aus Erfahrung bekannt sind, in ihren Erläuterungen einschränken.

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156 | 2 Beiträge in Zeitschriften ganze Reihe solcher Ideen-Verknüpfungen in einander geschlungen hat: ist es keinem Menschen mehr möglich, die letzte derselben zu begreifen, der nicht die erste aus ihren einfachen Bestandtheilen, und so fort die folgenden aus den vorhergehenden, herzuleiten gelernt hat. Ein abgerißnes Stück aus der Moral, oder der Lehre von Menschen, ist jedermann verständlich. Man kann die Betrachtungen eines Rousseau [348] oder Shaftesbury, über einzelne Leidenschaften oder Tugenden, fassen | und nutzen, ohne je ein System der Moral schulgerecht studirt zu haben. Aber kein Mensch wird die Differentialrechnung oder den Bau einer neu erfundnen Maschine begreifen, der nicht die Algebra und Mechanik, bis auf den Punct, studirt hat, wo sich diese neuen Erfindungen an die alten Kenntnisse anschließen. Der Philosoph wendet sich unmittelbar an gemeine Erfahrungen, aus denen er seine Sätze herleitet. Der Mathematiker und Künstler kömmt auch zuletzt auf diese gemeinen Erfahrungen, als die ersten Materialien aller Kenntnisse, zurück, – aber erst durch stufenweise Auflösung der künstlichen Gewebe, welche er und seine Vorgänger aus denselben gesponnen hatten. Um deßwillen also kann der Philosoph populär in seinem Vortrage seyn, d. h. er kann sich unmittelbar und jedem verständlich machen. Der Lehrer der Mathematik und der Künste kann es nicht seyn: das heißt, er kann sich nur denen verständlich machen, welche die nöthigen Vorkenntnisse erlangt haben. Ich habe oben gesagt: die Erfinder neuer Ideen könnten selten im Vortrag derselben populär seyn. Dieß kömmt aus einer von zwey Ursachen her. Entweder ent[349] standen diese | Ideen in der Seele des Erfinders, als Eingebungen, als glückliche Einfälle, die sich ihm zwar, von einer gewissen Seite, in einem hellen Lichten zeigten, im Ganzen aber noch mit seinem übrigen Gedankensystem unverbunden blieben. In diesem Falle fehlt ihnen selbst noch der Grad von Deutlichkeit und Zusammenhang, der zum populären Vortrage nöthig ist. Oder sie entsprangen aus einem eigenthümlichen Ideengange ihres Urhebers, aus einer individuellen Form, in welche er, als Selbstdenker, alle seine Kenntnisse gebracht hatte, und unter welcher sie auf neue Folgerungen führten, ob sie gleich der Materie nach längst bekannt waren. In diesem Falle wird auch eine eigne Sprache nöthig seyn, um, von einer ganzen Reihe von Begriffen, diese charakteristische neue Form auszudrücken. Es wird nöthig seyn, ein so eigenthümlich bestimmtes System, von seinen Elementen an, mithzutheilen, wenn es verstanden werden soll. In diesem Falle, werden die philosophischen Erfindungen den mathematischen ähnlich seyn. Sie werden, wie diese, von vorne an, studirt werden müssen; und ein populärer Vortrag derjenigen Theile, [350] welche in der Reihe der | Meditationen die spätern waren, wird unmöglich seyn. Dessen ungeachtet giebt es, nothwendiger Weise, Grenzpuncte, wo diese esoterische Philosophie sich an die populäre anschließt. Irgendwo muß das künstliche System den Faden der Ideen, welchen der gemeine Menschenverstand darreicht, aufgefaßt haben. Und wer also von diesem Puncte anfängt, muß, wofern nicht jene eigenthümliche Form des Systems wirkliche Abweichungen von der allgemeinen Menschenvernunft enthält, – (in welchem Falle sie zugleich Irrthümer verbergen

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müßte;) die ganze Reihe wissenschaftlicher Begriffe in solche populäre, als die waren, woraus sie herstammen, auflösen können. Man kann also mit Recht sagen, daß der höchste Grad der Vollkommenheit und Ausarbeitung philosophischer Ideen dann erst erreicht ist, wenn sie sich allen Menschen von gebildetem Verstande, auf eine leichte Art, mittheilen lassen. Aber deßwegen kann doch das größere Verdienst denjenigen zugehören, welche entweder den Vorrath der menschlichen Ideen mit neuen, noch nicht ganz aufs Reine gebrachten, Zusätzen bereichern, oder ihn, vermöge des eigenthümli|chen Charakters [351] ihres Geistes, in eine neue, aber andern Menschen weniger faßliche Form und Ordnung bringen. Ich sage: das Verdienst dieser unpopulären Philosophen um die Wissenschaften überhaupt kann größer seyn, als das Verdienst derer, die, entweder, weil ihre Ideen vollständiger entwickelt sind, oder weil ihre Art zu denken eine größre Ähnlichkeit mit der gemeinen Fassungskraft hat, leichtere und angenehmere Schriftsteller für das größre Publicum abgeben. Noch eine Bemerkung muß ich in Absicht des unpopulären Systematikers hinzusetzen. Das Durchdenken einer Reihe alter Begriffe, unter einer solchen neuen Form, die von den persönlichen Eigenthümlichkeiten des denkenden Mannes herrührt und denselben entspricht, führt gewiß auf ungewöhnliche Folgerungen und Ideenverknüpfungen, und ist in so fern ein Weg zur Erfindung. Es ist aber diese individuelle neue Form, immer nur, als Vehikel, oder als ein neuer Gesichtspunct nützlich, unter welchem bekannte Gegenstände eine neue Ansicht darstellen. Ist diese Ansicht nicht ein bloßer Schein: so wird sie sich gewiß, nach und nach, auch denen zeigen, welche die Sache aus andern | Standorten, nur aufmerksam genug, betrach- [352] ten. Käme es nie dazu: so würde die entdeckte Wahrheit dem menschlichen Geschlechte unnütz seyn; weil sie nur unter einer so bestimmten Form denkbar, oder überzeugend wäre, die niemals der Natur aller Menschen angemessen seyn kann. Geschieht es aber: so wird alsdann das Gerüste des Systems abgebrochen, und die technische Sprache des Erfinders mit der gemein verständlichen vertauscht werden können. Wenn nur erst die Resultate rein, und von dem Zusatze des Individuellen, das immer etwas Fehlerhaftes enthält, gesäubert sind: so gelingt es gemeiniglich auch, die Prämissen auf gleiche Weise von der bloß subjectiven Form des ersten Erfinders zu entkleiden. Dann erst wird diese neue Philosophie eine wirklich objective Kenntniß, – und bekömmt alsdann, mit ihrer größern Brauchbarkeit, auch die Geschmeidigkeit, populär vorgetragen werden zu können. Es haben, seit einiger Zeit verschiedne Schriftsteller aus der Kantischen Schule, an den Nahmen eines Populärphilosophen, eine verächtliche Nebenidee geknüpft. Sie scheinen mir aber, sowohl in ihrem Gebrauche des Worts, von der wahren Bedeutung desselben | abzuweichen, als, in ihrem Urtheile über die Sache, sich eines [353] unrichtigen Maaßstabes zu bedienen. Populär-Philosophen heißen bey ihnen, so wie ich sie habe verstehen können, diejenigen, welche nicht bis zu den ersten Gründen der menschlichen Erkenntniß hinaufgestiegen sind, und diese in ihrem System

158 | 2 Beiträge in Zeitschriften nicht aufs Reine gebracht haben, ehe sie über andre Sachen zu philosophiren anfingen. Aber mich dünkt, das Wort Popularität soll nicht sowohl die Gegenstände bezeichnen, welche man behandelt, als die Art und Weise, wie man sie behandelt. Der, welcher seine Forschungen nur über die gemeine Natur, welche er vor Augen sieht, und die alltäglichen Veränderungen, welche er in seinem eignen Busen fühlt, angestellt, und sie nie bis zu jenen höchsten Speculationen fortgesetzt hat, kann demohnerachtet sehr unpopulär philosophiren. Sein Vortrag kann abstract, trocken, schwer, und nur für die Eingeweihten seiner Schule verständlich seyn. Hingegen ist es möglich, wie unter andern Humes Beyspiel gelehrt hat, über die ersten Elemente unsrer Erkenntniß auf eine faßliche und selbst auf eine anmuthige Art, zu schrei[354] ben. – Was aber die Schätzung der Sachen betrifft: so glaube ich,| daß es unbillig ist, Untersuchungen irgend einer Art zu verachten, weil sie nicht, bis auf die ersten Gründe aller Erkenntnisse, zurückgeführt worden sind. – Ist es etwa überhaupt nicht möglich, irgend etwas zu erkennen, so lange man nicht jene ersten Gründe entdeckt hat? – So ist das menschliche Geschlecht bis auf diesen Augenblick in einer gänzlichen Unwissenheit gewesen. Und da, aller Fortschritte der neuen Philosophie ungeachtet, doch jene Principien noch nicht, auf eine den Erfindern selbst genugthuende Weise, entdeckt wird: so bleibt es für jetzt noch ungewiß, ob der menschliche Geist je andrer, als solcher unphilosophischen, oder populär-philosophischen Untersuchungen fähig seyn werde. Indeß, da die gemeinen Kenntnisse, die man bisher in der Moral und Seelenlehre, ohne die Hülfe jener Grundprincipien, entdeckt hat, eben so wohl zu etwas brauchbar erfunden worden sind, als die Entdeckungen, welche man, dieses Mangels der ersten Gründe ungeachtet, in der Mathematik und den Künsten gemacht hat: so ist es ohne Zweifel auch erlaubt, in diese unvollständigen Bruchstücke von [355] Kenntnissen, etwas mehr Licht, Genauigkeit und Ordnung zu brin|gen, als, ohne eine besondre auf sie gewandte Sorgfalt, darin herrschen würde. Diese, mit mehr als gewöhnlicher Deutlichkeit, Bestimmtheit und Ordnung, vorgetragnen gemeinen Begriffe, hat man bisher Philosophie genannt. Will man ihnen diesen Titel verweigern, so liegt daran nichts. Aber daran ist etwas gelegen, daß jeder Gelehrter sein Feld anbaue, ohne den herabzusetzen, welcher auf eine andre Art, als er, dem Publicum nützlich zu werden sucht. Ich komme, nach dieser kleinen Abschweifung, auf den Gegenstand, welcher mich hier hauptsächlich beschäftigt, zurück: und ziehe aus dem Gesagten den Schluß, daß eine Untersuchung tief und gründlich, – und doch dabey allgemein faßlich, und selbst leicht sein kann. Es ist dies vielleicht nicht gleich anfangs möglich, während daß man die Untersuchung selbst anstellt; weil man sich nicht wohl zwischen zwey Arbeiten, – der auf die Sache, und der auf den Vortrag gewandten, – theilen kann. Es wird auch immer nöthig bleiben, daß, von einer zusammenhängenden Reihe von Begriffen, die frü[356] hern Glieder demjenigen zuvor | beygebracht worden seyn müssen, welchem die spätern verständlich seyn sollen. Aber alle Sätze, die aus solchen Erfahrungen ge-

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folgert werden, welche alle Menschen gemacht haben, müssen auch allen einleuchtend gemacht werden können. Finden sich dabey noch Schwierigkeiten: so muß entweder das Band, zwischen dem allgemeinen Satze und den Erfahrungen, woraus er geschöpft ist, noch nicht vollständig entwickelt seyn, – und dies ist bey Erfindungen der Fall, welche noch in ihrer Kindheit sind; oder es ist der vorzutragenden Wahrheit noch zu viel von den zufälligen Eigenheiten ihres ersten Erfinders, beygemischt; oder endlich die Sprache, das Werkzeug der Mittheilung, ist bey der Darstellung jener Wahrheiten nicht mit gehöriger Geschicklichkeit gebraucht. Nur an einer von diesen drey Ursachen kann es liegen, wenn Philosophie ein so räthselhaftes Ansehn hat, als wenn nur Eingeweyhte ihre Geheimnisse begreifen könnten. Diesen Betrachtungen zu Folge würde ich den Schriftstellern zurufen: »Laßt uns, in so fern Popularität von der Vollständigkeit und Richtigkeit der Begriffe, und von dem vollkommensten Gebrauche der Spra|che abhängt, alle auf Popularität hin- [357] arbeiten. Aber bey unsern Meditationen, während der Untersuchung selbst, laßt uns die Ideen auch in ihrer ersten rohen Gestalt, in der sie nur uns selbst verständlich sind, auffassen, und weder ihre Trockenheit noch Verwickelung scheuen. Auch einem Lichte, das noch nicht helle genug ist, um andern zu leuchten, müssen wir nachgehn, wenn wir nur selbst die Gegenstände dabey erkennen können. Bey dieser Arbeit laßt uns auch unsrer Eigenheit mehr nachgeben, und um das Publicum weniger bekümmert seyn. Die Denkkraft wird geschwächt, wenn ihr Zwang angethan wird: und die Bemühung, unsre Gedanken andern deutlich zu machen, ist eine Art von Zwang. Bey der ersten Hervorbringung der Begriffe muß der Ausdruck in gar keine Betrachtung gezogen werden: damit sie desto mehr unser eigen sind, und ihren freyen Gang behalten. – Doch, Achtung fürs Publicum, und selbst Achtung für die Wahrheit erfordert, daß wir auf diese, so ganz in unsrer Manier gedachten Sätze einen zweiten Fleiß wenden, um ihnen wo möglich dieses Manierte zu benehmen, und sie in der Gestalt der simpeln | und allen gemeinschaftlichen Natur darzustel- [358] len, in welcher allein sie auch zu den Gemüthern andrer Menschen Zugang finden, und mit ihrem Gedankensystem vereinigt werden können.«

Über die Gränzen des bürgerlichen Gehorsams, in Beziehung auf den Aufsatz von Kant über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig seyn, taugt aber nicht für die Praxis

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Es ist Ihnen, meine Herren,1 ohne Zweifel eben so stark, wie mir, die Äußerung Kants in einem Aufsatze der Berliner Monatsschrift aufgefallen; daß der thätige

1 Der gegenwärtige Aufsatz ist, so wie der folgende, über den Unterschied von Theorie und Praxis, eine vor einer Gesellschaft von Freunden gehaltene Vorlesung.

160 | 2 Beiträge in Zeitschriften Widerstand, auch eines ganzen vereinigten Volks, auch gegen einen wirklich tyrannischen Regenten, d. h. gegen einen, der den Grundvertrag mit seinem Volke gebro[392] chen | hat, und seine Gewalt zum Verderben desselben mißbraucht, unerlaubt sey. Dieser Satz kann nicht durch seine Neuheit und Paradoxie in Verwunderung setzen: denn es ist der alte orthodoxe Satz von dem göttlichen Rechte der Obrigkeit und von der von der obedientia passiva, die so lange auch in dem freyen England von der herrschenden Kirche ist gepredigt worden, der, mit andern Ausdrücken, von allen damahligen Rechtslehrern behauptet wurde, und den, in England, nicht der Fall Carls des ersten, und die kurzdaurende republikanische Verfassung, sondern erst die Vertreibung der Stuarte, und noch mehr die Philosophie unsers Jahrhunderts, die, in Absicht politischer Gegenstände, von England und von der Revolution ausgegangen ist, aus den Köpfen der Menschen und aus den Schriften der Staatsrechtslehrer verbannt hat. Aber das setzt in Verwunderung, daß eben jetzt, da diese Sätze endlich, nach vielen Streite, unter den denkenden Menschen Europens ausgemacht zu seyn schienen: daß ein König ein Mensch sey, daß er Rechte habe, wie alle andern Menschen, gegründet auf seine Natur, insofern diese Rechte ihm mit andern Menschen gemein sind, oder gegründet auf Verträge, insofern sie ihm eigenthüm[393] lich sind, – | daß, wenn er diese Verträge bricht, der andre contrahirende Theil eben so gut von der Erfüllung seines Versprechens losgesprochen, oder zu Erzwingung des Vertrags berechtigt sey, als dieß bey allen andern Verträgen Statt findet; ich sage, das ist auffallend, daß diese endlich allgemein geltend gewordnen Sätze gerade von dem ersten unsrer Philosophen bestritten werden, und daß wir die tiefste Speculation der am freysten denkenden Vernunft zu den Behauptungen zurückkehren sehen, die wir für die Auswüchse der Barbarey und der Geistes-Sklaverey voriger Zeiten hielten. Um desto mehr aber ist es billig, daß wir dasjenige noch einmahl prüfen, worüber wir zwey so große Autoritäten mit einander streitend finden. Fast alle aufgeklärten Männer unsers Jahrhunderts, wenigstens bis auf die Zeit der französischen Revolution, haben uns gesagt, daß das unbegränzte Recht der Fürsten oder des jedesmahligen Staats-Oberhaupts, und die Pficht des unbedingten Gehorsams bey dem Volke eine Schimäre sey, die aus unrichtigen Begriffen von dem Ursprunge der bürgerlichen Gesellschaft, und aus unrichtigen Religionsbegriffen entstehe; daß [394] dieses falsche Princip bürgerli|chen Unruhen nicht vorbeuge, die immer aus Leidenschaften, nie aus Principien entstehen, daß es aber die Berichtigung und Vervollkommnung der Staats-Theorie und die Verbesserung der Prinzen-Erziehung verhindere, von welchen beyden Stücken allein, in ruhigen Zeiten, ein Fortgang der Staaten an Glückseligkeit zu erwarten ist. Kant tritt dagegen auf und sagt, dieses Recht der Könige oder Staats-Oberhäupter, diese Pflicht der Völker, sey wirklich und wesentlich in den ersten Begriffen des Rechts und in der moralischen Natur des Menschen gegründet. Widerstand gegen den, der einmahl das Ruder der bürgerlichen Gesellschaft in Händen hat, sey unter allen Umständen unerlaubt; und es sey die

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gesetzgebende Vernunft, die Freyheit selbst, welche dieses strenge Geboth giebt, das der Sklaverey so ähnlich steht. Ich fordre Sie auf, meine l[ieben]. F[reunde]. mir in der kleinen Untersuchung, die ich über Kants Äußerung anstellen will, beyzustehn. Um ihren Beytrag dazu vorzubereiten, will ich zuerst die Vertheidigung derselben ganz in dem Geiste und Systeme Kants, so weit ich beyde gefaßt habe, versuchen: und dann will ich mir meinen eignen freyen Gesichtspunkt wählen, aus welchem ich die ganze | Sache so [395] gut beurtheilen will, als ich sie verstehe, so unparteyisch, als es möglich ist, wenn man alte eingewurzelte Ideen mit neuen zusammenhält. Wenn ich also zuerst als Kants Sachwalter und Stellvertreter auftreten sollte, so würde ich so sagen. So wie der letzte Zweck des Menschen nicht seine Glückseligkeit, sondern die Erfüllung seiner Pflicht ist: so ist der letzte Zweck der bürgerlichen Gesellschaft nicht das Wohl der Einzelnen oder des Ganzen, sondern der moralische Zustand derselben. – Die Natur des Menschen hat den Samen der Moralität und der Vernunft in sich: dieser Same aber kann durchaus nur in der bürgerlichen Gesellschaft aufgehn, die allein den wilden Trieben des thierischen Instincts entweder solche Schranken entgegensetzt, oder zu ihrer leichtern Befriedigung solche Hülfsmittel giebt, daß der satt und ruhig gewordne Mensch anfangen kann, auf die leisern Aussprüche seiner Vernunft zu hören, und die ersten Reime moralischer Ideen zu cultiviren. Der bürgerliche Verein bricht nicht erst Pflichten und Rechte hervor, die so alt sind, als die Menschen, und ihren Grund in der Na|tur der Vernunft haben, aber er [396] ist es, der es allein dem Menschen möglich macht, sich seiner vernünftigen Natur bewußt zu werden, und sich der thierischen Gierigkeit und Wuth zu entschlagen, womit er im Stande der Einsamkeit seine Bedürfnisse sucht, oder diejenigen bekämpft, welche sie ihm streitig machen; einer Gierigkeit und einer Wuth, die alle Kräfte der Seele verzehren, und niemahls die zum Nachdenken und zum moralischen Gefühle nöthige Stille in derselben bestehn lassen. – Der bürgerliche Gesellschaft also zu erhalten, ununterbrochen in ihr zu verharren, alles zu unterlassen, was auch nur auf eine Zeit lang das Band der bürgerlichen Vereinigung auflöset, ist die erste Pflicht des moralischen Menschen, welcher weiß, daß außer dieser Vereinigung auch die Möglichkeit verloren geht, Pflichten auszuüben. – Nun wird aber die bürgerliche Gesellschaft aufgelöset, die Staatsverbindung hört auf, der Bürger tritt in den Naturstand zurück, sobald dem eben jetzt bestehenden Oberhaupte auf eine thätliche Weise widerstanden wird. Augenscheinlich ist in diesem Augenblicke noch keine Form einer neuen Staatsverfassung gebildet; keine neue anerkannte Obrigkeit, keine Pflicht des Gehorsams ist vorhanden: denn alles dieß soll erst durch den Widerstand erschaffen | oder anders gebildet werden: erst am Ende des [397] Streits zwischen Volk und Regent soll eine neue verbesserte Ordnung der Dinge und der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehn. Also in der Zwischenzeit, während dieses Streites selbst, ist gar keine bürgerliche Ordnung, ist gar kein pflichtmäßig Befehlender und Gehorchender; der Staat ist auf eine Zeit lang vernichtet, damit aus dem

162 | 2 Beiträge in Zeitschriften Nichts eine neue Schöpfung hervorgehe. Aber eben diese Vermessenheit des Unternehmens ist es, welche dasselbe unerlaubt macht. Da außer der bürgerlichen Gesellschaft gar keine Pflichten anerkannt noch ausgeübt werden können, und der Widerstand des Volks gegen das Oberhaupt des Staats die bürgerliche Gesellschaft aufhebt: so hören in der That während eines solchen Streits die Menschen auf, als moralische Wesen zu handeln; die Ideen von Pflicht und Recht, die zwar in der Natur des Menschen liegen, aber, bey ihrer Schwäche, und bey der Stärke der ihnen widerstrebenden Sinnlichkeit, die Pflege und den Schutz einer gesetzmäßigen den Menschen umgebenden Ordnung erfordern, werden dunkel und schwankend: und das höchste Interesse des Menschen, seine Vernunft und Sittlichkeit, wird aufgege[398] ben, um ein viel geringeres, das vermeynte | Staatsbeste, zu vertheidigen, welches man von der Obrigkeit gekränkt zu seyn glaubte. Diese Gründe sind nicht unwichtig: und die Erfahrung, auf die sich Kant so ungern bezieht, scheint ihnen das Wort zu reden. Die Französische Revolution kann uns allerdings auf die Gedanken bringen, daß auch die aufgeklärtesten und gesittetesten Menschen, wenn sie aus der Zucht der bürgerlichen Subordination herauskommen, wieder zu wilden Thieren werden. Noch ein andrer etwas subtilerer Grund, der sich aber leicht deutlich machen läßt, scheint mir bey der Kantischen Behauptung vorausgesetzt zu werden. Da seine Gesetzgeberinn Vernunft alles aus sich selbst schöpfen, und auf Erfahrung keine Rücksicht nehmen soll: so muß sie in ihren Vorschriften absolut seyn, und diejenigen Modificationen vermeiden, oder verwerfen, die schlechterdings nur von den Umständen und von der wandelbaren Erfahrung hergenommen werden müssen. Gerade aber gehört die Erlaubniß, Widerstand gegen die Macht habenden Obrigkeiten zu leisten, unter diejenigen moralischen Bestimmungen, welche der meisten Modificationen und Rücksichten, besonders Rücksichten auf Gradationen nöthig [399] haben, bey denen ein genauer Maßstab nicht Statt | findet. Bey jeder Unzufriedenheit, auch nur eines Theils der Unterthanen, Widersetzlichkeit zu erlauben, heißt in der That die bürgerliche Gesellschaft vernichten. Zu dem Widerstande gegen die Tyranney, den Zeitpunkt abwarten, wo das ganze Volk in Corpore, ungetheilt aufsteht, ein allen Individuen gleich unerträglich gewordnes Joch abzuschütteln, heißt diesen Widerstand durchaus aufgeben, weil es nie geschehn kann und geschehn wird, daß eine große Mengen Menschen, von selbst, in einem Augenblick, in gleichen Gefühlen und gleichen Entschließungen übereinstimmte. Also ist, selbst nach der Theorie derer, welche Widerstand für erlaubt erklären, doch nur ein gewisser Grad des Drucks und der Tyrannen, nur eine gewisse Anzahl der leidenden und unzufriednen Bürger, bey welcher der Fall des rechtmäßigen Widerstandes eintritt. Aber welches ist dieser Grad und diese Anzahl? Welcher Mißbrauch der obersten Gewalt muß vernünftiger Weise ertragen, und welcher darf mit Gewalt hintertrieben werden? Welches Verhältniß muß der unterdrückte Theil des Volks zu dem begünstigten, oder zu dem unangetasteten haben, (denn auch bey der tyrannischesten [400] Regierung giebt es immer Günstlinge, und andre völlig vergessene | und deßwegen

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ungestört bleibende Unterthanen;) wenn er sich anmaßen darf, im Nahmen des ganzen Volks zu handeln. Alle diese Fragen sind durch Vernunftgesetze a priori nicht zu beantworten. Ja wenn sich Kant auf die Erörterung derselben einließ, wenn er sogar nur die Rechtmäßigkeit der Frage zuließ: so mußte er zugleich zugeben, daß in der Beurtheilung der Moralität der Handlungen uns in der That nichts leiten könne, als die Betrachtung unsers oder des allgemeinen Wohls; und daß eine Handlung rechtmäßig oder unrechtmäßig werden, nach den guten oder übeln Folgen, die sich nach vernünftiger Voraussetzung von ihr erwarten lassen. Um also sich in diese schlüpfrige Untersuchung, bey welcher die Strenge seiner Grundsätze nachgeben mußte, nicht einzulassen, scheint er mir den Knoten zerhauen zu haben, den er sich nicht zu lösen getraute. Er untersagte den Widerstand gegen die höchste Obrigkeit durchaus, weil er die Fälle, wo er Widerstand erlauben, und wo er ihn verbiethen sollte, nicht nach Vernunftprincipien zu bestimmten wußte. Und Scharfsinn besaß er genug, eine Behauptung, die nur Bedürfniß zu Aufrechterhaltung seiner Theorie war, in ei|nen aus dieser Theorie selbst hergeleite- [401] ten Satz zu verwandeln. Wenn ich nun, abgesehn von diesen Gründen und von der Beziehung, die der Kantische Satz auf sein ganzes Moralsystem hat, ihn mit meiner eignen Vernunft und nach meinen eignen Principen erwäge, so finde ich ihn zuerst in der Allgemeinheit, in welcher er vorgetragen ist, durchaus unhaltbar. Einmahl, die Obrigkeit, wie sie wirklich im Staate gefunden wird, das StaatsOberhaupt, das nicht in einer moralischen Fiction, sondern in der Reihe der Dinge existirt, ist ein Mensch und besteht aus Menschen, und kann also unmöglich übermenschliche Rechte haben. Man kann ihn als einen Gott verehren, um seinen Vorschriften mehr Heiligkeit und seiner Regierung mehr Kraft bey dem großen Haufen zu geben: aber man kann ihn nicht in der That zu einem Gott erheben; man kann die ewigen Verhältnisse der Natur bey ihm nicht abändern, auf welchen am Ende auch die ewigen und unveräußerlichen Rechte beruhen. Ihn aber von aller Verantwortlichkeit ohne Ausnahme frey zu sprechen, ihm lauter Rechte und der mit ihm verbundnen Nation lauter Pflichten zu geben: das heißt, ihn aus der gemeinen Sphäre der Mensch|lichkeit herausheben. Was wird aber daraus entstehen, als entweder, [402] wenn diese Ideen in den Gemüthern der Regenten und des Volks wirklich wurzeln, daß sie beyde ihrer wahren moralischen Natur ungetreu werden, daß sie beyde der Wahrheit zuwider denken und handeln, und daß also der Charakter des Fürsten sowohl, als der Nation, verschlimmert wird. Oder bleibt die Theorie von der Praxis getrennt; widerlegen die Thatsachen zu laut die angenommenen Principien und widerstehen ihnen die natürlichen Gefühle zu stark: so wird dadurch Widersetzlichkeit und Empörung nicht nur nicht verhütet, sondern die Explosion des lange verschlossenen Unwillens ist desto heftiger, je unbilligere Meinungen er zuvor zu durchbrechen hatte. Und nun kömmt die andere große Frage hinzu: wer ist als das wahre Staatsoberhaupt anzusehen, und wie weit kann er seine Gewalt seinen Agenten mittheilen?

164 | 2 Beiträge in Zeitschriften Ist der, der in der wirklichen Ausübung der Souverainetäts-Rechte ist, er mag dazu gelangt sey, wie er will, berechtigt, diesen leidenden Gehorsam zu fordern? – So ist ja alsdann die Usurpation eben so gesichert, als die königliche Würde: so hat ja die Empörung, wenn sie einmahl durchgedrungen und einen Anführer bekom[403] men hat, eben | die Consistenz und eben die Unverletzlichkeit, wie die Majestät, gegen welche sie sich auflehnte. Oder muß erst der Titel des Regenten, die Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche auf Oberherrschaft geprüft und richtig erfunden seyn, wenn die Pflicht des widerstandlosen Gehorsams eintreten soll? So hat also die Nation doch ein Recht des Widerstandes, das Recht, ihren Gehorsam so lange zu suspendiren, bis sie die Gültigkeit der Ansprüche dessen, der sie beherrschen will, untersucht und anerkannt hat. Aber wie viel ist der Nation nicht eingeräumt, wenn ihr zugestanden wird, an ihren Oberhäuptern das Recht zu regieren von der Ausübung der Gewalt in facto zu unterscheiden; wenn es ihr zugegeben wird, ihre Pflicht des Gehorsams von der Rechtmäßigkeit ihres Oberherrn abhängig zu machen! Wenn die Erlaubniß, Widerstand zu leisten, der Nation deßwegen versagt wurde, weil der Mißbrauch davon so leicht und so groß ist: ist nicht der Mißbrauch, der von der Erlaubniß, die Rechtmäßigkeit der Oberherrschaft zu prüfen, gemacht werden kann, eben so groß? Und ist nicht der Mißbrauch noch größer, der davon gemacht werden kann, wenn auch diese Prüfung untersagt und jedem als Pflicht aufgelegt wird, demjenigen unbedingt zu [404] gehorchen, welcher | sich in dem Besitze der Gewalt befindet? Oder ist es vielleicht nur das Alterthum der Regierung und die Verjährung, welche ihre Rechte unbestreitbar und allen Widerstand zum Verbrechen macht? Die Verfassung, welche in der Epoche ihres Ursprungs noch gleichsam ein weicher Thon war, welcher sich umformen und ändern ließ, wird mit der Länge der Zeit hart und unbiegsam, und erlaubt nicht, daß man irgend eine Gewalt dagegen anwende, ohne daß die ganze Maschine zu Grunde gehe. Aber gerade von diesen Perioden, wo neue Staatsverfassungen errichtet werden, ist die Rede, wenn von dem Widerstande einer Nation gegen ihr bisheriges Staats-Oberhaupt geredet wird. Unmöglich kann der Staatsrechtslehrer, der von den bestehenden Verfassungen redet, vergessen, daß die einmahl entstanden seyn mußten, – daß, nach der Natur der Dinge, auf demselben Wege, auf welchem die alten Verfassungen entstanden sind, auch noch neue entstehen werden, und daß für diese Perioden in der Geschichte der Menschheit auch noch Pflichten und Rechte seyn müssen, welche abzuleugnen nichts beyträgt, um diese gefährlichen Crisen zu verhüten, aber viel beyträgt, sie noch gewaltthätiger zu machen. Und wenn nur noch diese absolute Unterwerfung der Nationen unter ihre Ober[405] häupter auf die gemäßigte Monarchie eingeschränkt wäre, wie wir sie jetzt in dem größern Theile Europens bestehen sehn. Aber in seiner Allgemeinheit befestigt der Kantische Satz eben so auf ewig die zügelloseste Demokratie und die grausamste F[r]actionen-Herrschaft, als die in Verhältniß mit diesen immer gelinde und safte Monarchie. Also auch einem ganzen Volke, von welchem ein andres, nachdem es

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unterdrückt worden ist, beherrscht wird, darf dieses andre nicht widerstehen. Wenn das Centrum der Macht, fixirt in einer einzigen Person, dieselbe über alle Verantwortlichkeit erhebt, warum soll eine Volksversammlung oder eine herrschende Stadt, wenn sie der Souverain von Ländern und Völkern geworden ist, nicht eben so unbedingten Gehorsam fordern können? Aber welcher planmäßigen Unterdrückung wird das menschliche Geschlecht dadurch nicht preis gegeben? Ferner, wenn der Mißbrauch der Gewalt von Seiten des Souverains selbst ertragen und nie anders, als durch Vorstellungen, gehindert werden muß: ist dieß bey dem Mißbrauche, den seine Minister und deren Unterbediente von der ihrigen machen, gleichfalls der Fall? Ist jeder, der einen Theil | der öffentlichen Gewalt über- [406] kommen hat, eben dadurch unverletzlich? So wird in der That jede Nation in zwey große Haufen getheilt, in solche, denen alles zu thun erlaubt ist ohne von denen, die sie beleidigen, irgend etwas befürchten zu dürfen, und in solche, die alles leiden müssen, ohne irgend einen Schutz, die Hülfe der Zeit und die freywillige Besserung ihrer Unterdrücker, zu haben. In der Allgemeinheit der Theorie also, wenn nicht von dieser oder jener Nation, von dieser oder jener Epoche in den Annalen der Menschheit, sondern von Staaten, Oberhäuptern der Staaten und Nationen in abstracto die Rede ist, kann unmöglich, nach meinen Bedünken, der Nation das Recht, der Tyrannen zu widerstehen, und ihrem Untergange, wenn er ihr von Seiten ihrer Beherrscher droht, auch durch Anwendung der Gewalt vorzukommen, abgesprochen werden. Was würde aus den Menschen und Nationen geworden seyn, wenn gar kein Tyrann je wäre verjagt, wenn keiner despotischen Gewalt je wäre Widerstand geleistet, keine unvernünftig zusammengesetzte Verfassung je wäre zerstört worden, wenn die Vernunft und die Weisheit nie die Gewalt der Waffen gebraucht hätten, um eine übelthätige Ordnung der Dinge und der Gesellschaft umzuändern? Aber ganz anders wird die Beantwortung der Frage ausfallen, wenigstens ganz [407] andre Modificationen leiden, wenn von unsrer Zeit und von dem gesitteten Europa die Rede ist. Ist zu der Zeit, wenn die Staaten zu einer gewissen leidlichen Ordnung und die Menschen zu einem gewissen Grade der Aufklärung und Sittlichkeit gekommen sind; wenn Anstand, Gebräuche und Religion die unbändigsten Leidenschaften im Zaume halten, und Wissenschaften und Künste die Gemüther der Regenten und Unterthanen mildern und belegen: ist in einem solchen Zeitpunkte thätliche Widersetzung einer Nation gegen ein seine Gewalt mißbrauchendes Oberhaupt ein nothwendiges Mittel ihrer Errettung, oder ein heilsames Mittel zu Erlangung eines bessern Zustandes? Und ist nicht, unter obigen Voraussetzungen, wenn der Druck der Obern, schon vermöge der verfeinerten National-Sitten, nie bis zum Unerträglichen geht, und die Einsichten der Untern, – vermöge der erleichterten Mittel des Unterrichts, in Reden und Büchern, gewiß bis zu den Höchsten durchdringen: ist nicht, sage ich, ein geduldiges Ertragen der noch übrigen Übel, verbunden mit einer bündigen und eindringenden Vorstellung der Irrthümer, welche bey jedem Mißbrauche zum Grunde liegen, zugleich hinlänglich zu dem | vorgesteckten Endzwe- [408]

166 | 2 Beiträge in Zeitschriften cke der Staatenverbesserung, und rathsam wegen der Gefahren, die auf dem Wege der Gewalt dem Reformator aufstoßen? Ich gestehe es, ich bin geneigt, dieses zu glauben. Ich bin geneigt, anzunehmen, daß in unsrer Zeit und in Ländern, wie jetzt die Europäischen regiert werden, die Macht der Wahrheit und vernünftiger Gründe stark genug ist, die Hindernisse, die uns noch auf dem Fortgange zur Vollkommenheit von Seiten politischer Einrichtungen im Wege stehen, fortzuschaffen. Die Französische Revolution selbst hat mich gelehrt, daß die Gefahren zu groß sind, die mit einer offenbaren Widersetzlichkeit einer ganzen Nation gegen ihren Regenten und ihre Regierung verbunden sind, – Gefahren, die nicht bloß aus dem Verluste des Handels und der Industrie, sondern aus der Verwilderung und der Zügellosigkeit der Gemüther entstehen. Zuerst, wenn wir die ganze Weltgeschichte durchgehn, so finden wir nur wenige mit Gewalt durchgesetzte Revolutionen, die eine Nation dauerhaft glücklicher gemacht hätten. Von dem Übergange der ersten Griechischen Monarchieen zur republikanischen Form wissen wir zu wenig, um sagen zu können, wie viel die Gewalt, [409] wie viel der bloße Geist der Nation gewirkt habe. Aber von den | Römern wissen wir genau, wie sie ihre Könige verjagten und die Königswürde abschafften. Und wenn wir gleich keinen Maßstab der Glückseligkeit haben, um gewiß zu seyn, daß die Römer unter den Consuln besser daran waren, als unter den Königen: so wissen wir doch gewiß, daß sie nicht ärmer und ohnmächtiger, nicht geistloser und ungesitteter wurden. Mit einem Worte, wenn man nicht Spitzfindigkeiten in die Geschichte bringen will, wo sie am wenigsten hingehören, so muß man gestehen: »den Römern sey ihre Revolution gelungen.« Aber von da an finden wir in der That in der unabsehlichen Reihe von Empörungen und Regierungsveränderungen, die bis auf unsre Zeiten vorgefallen sind, keine von dem Volke veranstaltete, die irgend einen leuchtenden Erfolg gehabt hätte, als die, wodurch Holland ein Freystaat geworden und England unter das Haus Oranien und endlich an Hannover gekommen ist. Ich unterscheide sehr die Rebellion unter Carl dem Ersten von Revolution unter Jacob dem Zweyten. Jene war nichts weniger als glücklich. Sie brachte auf eine kurze Zeit eine Schein-Republik unter einem despotischen Oberhaupte hervor und endigte sich mit der Wiedereinsetzung der alten unbeschränkten oder unbestimmten königlichen [410] Macht. Aber die Revolution | unter Jacob dem Zweyten war glücklich. Nicht nur bestand ihr Erfolg: sondern dieser Erfolg war auch eine wahre Verbesserung. Genauere Bestimmung der Rechte, eine richtigere Vertheilung der verschiedenen Gewalten, eine solche Verbindung zwischen Autorität und Freyheit wurde dadurch in England eingeführt, daß noch bis jetzt die eifrigsten Anhänger der Monarchie die Vertreibung der Stuarte segnen müssen. Aber wenn die Anzahl glücklich ausgeführter Revolutionen, die mit der Verbesserung des Zustandes der Nation sich geendigt hätten, so gar geringe ist: muß dieß nicht allein jede Nation abschrecken, eine ähnliche zu versuchen? Und ich sehe auch deutlich in der Natur der Sache, die mir jetzt in einem so großen und so fürchterlichen Schauspiele deutlicher und näher vor Augen liegt,

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warum die Gefahren einer noch so billig scheinenden Revolution so groß und warum ihr Erfolg so mißlich ist. Zwey Umstände sind es, welche schon die Rechtmäßigkeit derselben im Allgemeinen zweifelhaft machen: erstlich, daß nie die ganze Nation die Revolution anfangen kann; – zweytes, daß sie nie, wenn sie angefangen worden, in bestimmten [411] | Schranken gehalten und nach einem Plane geleitet werden kann. Den Anfang jeder Widersetzlichkeit, die eine Nation gegen ihre Regierung ausübt, muß immer ein Theil der Nation machen, der entweder, den Mißbräuchen näher, sie besser einsieht, oder von ihnen mehr gedrückt, sie lebhafter verabscheut. Aber dieser Theil ist immer nur eine F[r]action, solange er die Einstimmung der Nation nicht erhalten hat: – und handelt auch im Geiste einer F[r]action. Ja, da diese Einstimmung nie vollständig erhalten wird: so bleibt auch bey dem Fortgange der Revolution ein Streit von F[r]actionen gegen einander. Nie hat sich eine Nation in corpore ihrem Regenten widersetzt. Immer hat ein Theil der Nation gegen den andern, mit dem Regenten verbündeten, Theil gestritten. Dadurch aber verändert sich die ganze Natur der Sache. Aus der Begierde nach Verbesserung des Staats wird nun, da einmahl Krieg entstanden ist, Begierde nach Sieg und Unterdrückung der Gegner. Und da, nach aller Erfahrung, die bürgerlichen Kriege grausamer, als die Nationalkriege, geführt werden: so sind auch die Leidenschaften, die in dem Laufe der Revolutionen bloß im Gefolge des Parteyenkampfes entstehen, von einer | so [412] wüthenden Art, daß sie alles Gute des zuvor aufgeregten Patriotismus zerstören kann. – Kann also einer ihre Gewalt mißbrauchenden Obrigkeit nie Gewalt entgegengesetzt werden, ohne daß diese Gewalt zugleich gegen viele Mitbürger gerichtet sey, und sind, wenn einmahl Krieg im Innern des Staats entsprungen ist, dessen Ausgang und Folgen nicht zu berechnen: so ist es gewiß höchst mißlich, das Übel einer fehlerhaften Ordnung durch die Übel einer absoluten Unordnung zu bekämpfen. Dazu kommt, daß, wie im Kriege, so bey dem Gebrauche der Gewalt überhaupt, auf Glück und Umstände alles ankömmt, und also das Wohl der Nation, welches durch die Vernunft und die Gesetzgebung erhöht werden sollte, dem Spiele des Zufalls Preis gegeben wird. Man sieht es als eine der größten Ungereimtheiten des Mittealters an, daß es seine Rechtsstreitigkeiten durch Duelle entscheiden ließ. Aber thut die Nation, welche eine Revolution anfängt, etwas anders? Tritt sie nicht ebenfalls ganz, oder in ihren Champions und Armeen, auf den Kampfplatz, um ihre Rechte und die Rechte ihrer Regenten durch die Stärke der Sehnen, die Geschicklichkeit zu morden und alle die Künste des Krieges entscheiden | zu lassen, welche [413] wohl zeigen, welche Partey die glücklichere oder die kühnere sey, aber nicht, welche Recht habe oder die weisere sey. Dazu kommt nun noch, was ich auch schon im Anfange gesagt habe, da ich Kants Satz zu rechtfertigen suchte: die menschliche Vernunft und die menschliche Tugend, so wie sie für jetzt sind, brauchen noch den Zügel der bürgerlichen Ordnung und die Verehrung nicht nur für die Gesetze, sondern auch für die Obrigkeit.

168 | 2 Beiträge in Zeitschriften Die Meinungen und Sitten der Menschen, losgebunden von allen Fesseln sichtbarer Autorität, scheinen ins Wilde und Ungeheure hineinzugehen. – Und was noch schlimmer ist, in den Zeiten bürgerlicher Unruhen, wo die Gemüther alle aufs äußerste gespannt sind, machen nur diejenigen Eindruck, die die Extreme vertheidigen; und diejenigen, welche die Mäßigung in Schutz nehmen und die Schranken der Wahrheit und Ordnung suchen, werden als Schwache verachtet, oder als laue Patrioten verabscheuet. So bekommt endlich in der Nation der schlechteste Theil, welches der in Meinungen und Denkungsart ausschweifende oder wüthende ist, die Oberhand. Der erste Zweck, das anfängliche Interesse, welches zur Revolution [414] führte, wird gänzlich vergessen, und die Gegenstände | der Begierden, welche die Revolution selbst erzeugt hat, werden rastlos verfolgt. Im Ganzen werden die Menschen unsittlicher und unverständiger, wenn sie lange Zeit des Friedens und der Ordnung in ihrem äußern Zustande entbehren. Sicher wird in einem Lande und in einem Clima, bey solchen Sitten, bey einem solchen Grade der Aufklärung, wie glücklicher Weise die unsrigen sind, der vernünftige Mann, der die Mißbräuche der Regierung am besten erkennt, sie am geduldigsten ertragen, weil er ihre Abstellung von der Kraft der Gründe, von der Zeit, und den immer wachsenden Einsichten der höhern und niedern Stände erwarten kann.

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Ein ernsthafter Commentar über einen Scherz In der Zeit, da Swift als Schriftsteller noch wenig bekannt, und als Geistlicher und Dorfpfarrer in einer entlegenen Gegend von Irland war, brachte er, nach der Gewohnheit der englischen Geistlichen, – welche eine Pfründe als ein Grundstück ansehen, das sie, nach Gefallen, entweder selbst anbauen, oder durch andre verwalten lassen können, – einen Theil jedes Jahres in London zu. Um aber doch die Pflichten seines geistlichen Standes nicht ganz zu vergessen, verrichtete er, während dieses Aufenthaltes, in dem Hause des Lord Berkeley, zu welchem er einen vertrauten Zutritt hatte, das Geschäft eines Capellans, wohnte den Andachtsübungen der frommen Lady bey, und las ihr gewöhnlich nachher eine moralische, oder [432] geistliche Abhandlung vor. Sie fand eben damahls viel Geschmack an Boy|les Betrachtungen, die aus allerley Gegenständen der Natur und Kunst moralische Nutzanwendungen ziehen, und war willens, sie sich alle nach der Reihe von Swift vorlesen zu lassen. Swift, den diese Lectüre nicht eben so gut, als die Gräfinn, unterhielt, suchte sich von diesem Auftrage durch einen Scherz loszumachen. Nachdem er eines Tages abermahls ihr eine Vorlesung aus ihrem Lieblingsautor gehalten hatte, nahm er das Buch heimlich mit sich nach Hause und nähete behutsam einige Blätter hinein, auf die er den folgenden Aufsatz (Betrachtungen über einen Besenstiel) geschrieben hatte. Darauf ließ er das Buch wieder unbemerkt an seinen Ort legen.

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Und als er beim nächsten Besuche von der Dame gebethen wurde, in den Betrachtungen Boyles fortzufahren, öffnete Swift das Buch da, wo die eingeschobnen Blätter waren, und fing sehr ernsthaft an zu lesen: Betrachtungen über einen Besenstiel. Die Gräfinn befremdete zwar Anfangs der sonderbare Titel. Indeß verlangte sie, daß Swift fortfahren sollte, weil, wie sie sagte, dieser bewunderswürdige Schriftsteller ihr schon so manchmahl wichtige Belehrungen, bey Betrachtungen unwichtiger Gegenstände, gegeben hätte, daß sie auch hier | mehr erwarten könnte, als der [433] undankbare Stoff verspräche. Swift fing nun an, mit pathetischer Stimme, so wie er sonst die Boylischen Betrachtungen zu lesen gewohnt war, seinen eignen Aufsatz abzulesen. Milady Berkeley ahndete noch immer den Betrug nicht: und ob ihr gleich zuweilen der Ton etwas fremd vorkam, so äußerte sie doch noch öfter über den großen Mann ihre Bewunderung, der so vortreffliche Sachen selbst über einen Besenstiel zu sagen wußte. Nach geendigter Vorlesung, trat Gesellschaft zur Gräfinn herein, und Swift eilte davon, um bey dem folgenden Auftritte, den er vorhersah, nicht gegenwärtig zu seyn. Die Gräfinn, voll von ihrem Autor, fragte jeden aus der Gesellschaft, ob er Boyles Betrachtung über einen Besenstiel gelesen hätte. Kein Mensch wußte etwas von dieser Betrachtung. Sie versicherte, daß sie in ihrem Exemplare stände, und daß Swift sie eben daraus vorgelesen hätte. Das Buch wurde herbeygehohlt: und man fand in der That die Betrachtung, aber von Swifts Hand geschrieben. Jedermann lachte, die Gräfinn nannte Swift einen Schalk, und niemand wurde dadurch geärgert. Aber beym Publikum fand das kleine Stück, als es in der Folge abgedruckt wurde, strengere | Richter: weil man es, wider Swifts ursprüngliche Absicht, für eine [434] Satyre auf Robert Boyle, einen wirklich verdienstvollen, und allgemein geschätzten Mann, ansah. Für uns ist es nichts mehr, als eine nicht geistlose Posse: die dadurch einiges Interesse mehr erhält, daß die Betrachtung, womit sie schließt, durch die Geschichte unserer Tage so sehr bestätiget wird, daß sie beynahe für diese geschrieben zu seyn scheint. Wie ich dieß verstehe, darüber will ich mich umständlicher erklären, wenn ich zuvor den Swiftischen Aufsatz selbst, in einer freyen Übersetzung, den Lesern werden vorgelegt haben. Swifts Meditation über einen Besenstiel. »Diesen jetzt, in einem staubigen Winkel, einzeln und vernachlässigt liegenden Stecken1 kannte ich einst als einen jungen Baumstamm, im Walde in einem blühenden Zustande. Er war voll Saft, mit grünenden Zweigen und Blättern bekrönt. Aber jetzt mag die geschäftige Kunst des Menschen immerhin mit der Na|tur wetteifern, [435] und an den vertrockneten Stamm ein Bündel eben so saftloser und dürrer Zweige anbinden: er ist doch, wenn es hoch kommt, nichts mehr, als das Entgegengesetzte von dem, was er zuvor war, ein umgekehrter Baum, der seine Wurzeln in die Höhe

1 Der S[w]iftische Besen war ein einzelner Stecken, mit daran gebundnen Birkenruthen.

170 | 2 Beiträge in Zeitschriften streckt, und mit seinen Zweigen den Boden kehrt. Jetzt ist er das Handwerkszeug jeder schmutzigen Stubenmagd, verdammt ihre Arbeit für sie zu thun, und dazu ausersehen, andre Dinge rein zu machen, indem er selbst schmutzig wird. Endlich, wenn er in dem Dienste der Mägde, bis auf den letzten Stumpf, abgebraucht ist: wird er vor die Thür hinausgeworfen, oder zu einem Gebrauche bestimmt, der seinem Daseyn zugleich ein Ende macht, Feuer damit anzuzünden. Ach, sagte ich, indem ich dieß betrachtete, bey mir selbst, mit einem tiefen Seufzer, wahrlich, der Mensch ist nichts besser, als ein Besenstiel. Die Natur schickt ihn in die Welt, munter und rüstig, mit Lebenskraft zu Wachsen und Gedeihen angefüllt. Sein Haupt ist dann mit seinen eignen Haaren geziert, die gleichsam die Zweige der mit Vernunft begabten Pflanze ausmachen. Dieß währt so lange, bis das [436] Bett der Zeit und der Unmäßigkeit sei|ne grünen Äste abgeköpft hat, und ihn dann, als einen vertrockneten Stamm, mit kahlem Haupte zurückläßt. Dann nimmt er seine Zuflucht zur Kunst, bedeckt sein Haupt mit einem unnatürlichen Bündel von Haaren, die niemahls auf demselben gewachsen sind, füllt sie mit Puder an; und ist noch stolz auf diesen geborgten Schmuck, denn er eine Perücke nennt. ‒ Und doch sollte dieser unser Besenstiel auftreten, und auf die geplünderten Birkenruthen, die er an sich trägt, da sie och nicht auf ihm gewachsen sind, stolz thun; indeß er über und über mit Staub und Schmutz bedeckt ist, [(]mag er ihn auch aus dem Zimmer der schönsten Dame ausgefegt haben:) gewiß, wir würden seine Eitelkeit verachten und lächerlich finden. ‒ Welche parteyische Richter sind doch wir Menschen, wenn wir über unsre eigne Vortrefflichkeit und andrer Fehler urtheilen wollen! Doch, der Besen, sagte ich, stellt einen umgekehrten Baum vor. Und ich bitte euch, was ist der Mensch anders, als ein Ding, bey dem das Oberste zum Untersten gekehrt, und der Kopf da ist, wo die Fersen seyn sollten. Die zur Regierung be[437] stimmte Vernunft liegt auf dem Boden und kriecht im Staube, indeß die | Sinnlichkeit, welcher es zukäme, zu gehorchen, die höchste Stelle einnimt und den ganzen Menschen beherrscht. Und mit allen diesen Fehlern wirft er sich doch zu einem allgemeinen Reformator auf, will alle Beschwerden in der Welt abthun und die Mißbräuche verbessern. Er guckt und stöbert in jedem Schmutzwinkel der Natur und der Gesellschaft umher, bringt allen darin versteckten Unrath ans Licht, macht einen gewaltigen Staub, wo zuvor keiner war; und bedeckt sich, während der Zeit, über und über mit eben dem Kothe, den er wegkehren zu wollen vorgiebt. Seine letzten Tage bringt er, wie sein Bruder, der Besen, in der Dienstbarkeit der Weiber zu: bis er endlich, so wie dieser, bis auf den Stumpf abgenutzt, zur Thür hinausgeworfen, oder dazu gebraucht wird, ein Feuer anzuzünden, wobey andre sich wärmen können.« Scheint diese letzte Betrachtung nicht recht dazu gemacht, die Helden der Französischen Revolution, diese kühnsten aller Reformatoren, zu schildern? Wer hat [438] mehr, als sie, in allen Winkeln des Staats und der Regierung, herumge|sucht, um den verborgensten Schmutz, von gemißbrauchter Gewalt oder von verschwendeten Finanzen, von Ungerechtigkeit oder Vernachlässigung, ausfindig zu machen? und

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wer hat mehr, mit eben dem Unrathe, welcher ausgefegt werden sollte, sich selbst besudelt, ‒ die willkührliche Gewalt höher getrieben, die öffentlichen Gelder unsinniger verschwendet, bey seinen Ungerechtigkeiten alle Gefühle der Menschlichkeit mehr unterdrückt, und sorgloser die Verwaltung wichtiger Staatsgeschäfte dem Zufalle überlassen, als eben die, welche in Frankreich sich seit sechs Jahren, nach ihrem Vorgeben, mit der Ausrottung aller dieser, in der alten Verfassung eingewurzelten Mißbräuche, beschäftigen? Wer hat mehr des fürchterlichsten Staubes gemacht, und das Land, welches er von erträglichen Übeln befreyen wollte, mehr mit Blut und Verbrechen bedeckt? Und dieser üble Erfolg von den Arbeiten derjenigen Menschen, welche Swift mit seinem Besenstiele vergleicht, wenn sie eine zu große Fläche von einem durch zu lange Zeit angehäuften Staube zu schnell reinigen wollen, hat sich nicht bloß bey den Französischen Staats-Reformatoren, in unsern Tagen, gezeigt. Swift hatte einen ähnlichen verunglückten Reformations-Versuch in | seinem Vaterlande, zwar nicht [439] selbst erlebt, aber doch von seinen Vätern beschreiben hören, und in manchen noch zu seiner Zeit vorhandnen Spuren beobachten können. Auch die Urheber der großen Staatsveränderungen zur Zeit Carls I., obgleich weit frömmer und in ihren ersten Schritten weit gemäßigter, als die heutigen Französischen, wurden doch zuletzt eben so gewaltthätig, eben so verschwenderisch, und für ihr Vaterland eben so Unheil stiftend, als diese. Einige zu willkührlichen Anmaßungen der Krone, einige despotischen Handlungen der Klerisey sollten weggeschafft, und für die Zukunft verhütet werden: und an deren Stelle trat die willkührlichste Gewalt eines einzigen Mannes, welcher König, Parlament, Kirche und Volk zugleich unterdrückte. Fast allenthalben, wo in der Welt große Reformen öffentlicher Mißbräuche plötzlich haben ausgeführt werden sollen, sind noch größre Mißbräuche erfolgt. Die Gracchen im alten, Arnold von Brescia und Rienzi2 im neuern Rom, Marcell, so wie Robertspierre in Paris, alle haben damit angefangen, den Staat säubern, und zu seinem alten Glanze, zu den Tugenden und dem Glücke voriger Zeiten, wieder erheben zu | wollen; und haben damit geendiget, ihn in noch größerm Verfall und mit [440] verdorbnern Sitten zurückzulassen. Selbst diejenigen Reformatoren, welche mit weniger Ungestüm zu Werke gegangen, und weise oder glücklich genug gewesen sind, etwas von den entworfenen Verbesserungen wirklich zu Stande zu bringen, haben doch nicht ganz den Vorwurf von sich ablehnen können, daß sie gerade eben die Fehler, welche sie an ihren Obern rügten und um derentwillen sie ihnen den Gehorsam aussagten, im hohen Grade selbst begingen. Um die Völker von einer tyrannischen Herrschaft zu befreyen, haben sich Privatbürger, wenigstens eine Zeitlang, einer despotischen Gewalt anmaßen müssen: und selten sind große Ungerechtigkeiten, welche Mächtige begingen, von den Schwächern auf eine andre Weise, als mit Begehung ähnlicher Ungerechtigkeiten, bestraft und weggeschafft worden. Selbst unsre protestanti2 Siehe die Anmerkung am Schlusse.

172 | 2 Beiträge in Zeitschriften schen Glaubensverbesserer, ob sie gleich gegen die Mißbräuche der Römischen Kirche mit keinen andern Waffen, als mit den Waffen der Gründe und der Überzeugung, zu Felde zogen, konnten sich doch nicht davor hüten, etwas von dem Gewis[441] senszwange, von der Unduldsamkeit und von der geistlichen Herr|schaft, gegen welche sie stritten, bey sich einzuführen. Woher kommt wohl diese sonderbare Erscheinung? Warum werden die, welche das Unrecht aus der Welt wegzuschaffen suchen, so leicht selbst ungerecht; und warum begehen diejenigen, welche große Verbrecher strafen wollen, so leicht ähnliche Verbrechen? ‒ Die Geschichte unsrer Tage giebt uns hierüber zwar nicht neue, aber für uns deutlichere Aufschlüsse, weil die Begebenheiten, woraus wir sie schöpfen, uns näher sind. Die erste Ursache von den Verbrechen und Unglücksfällen, von welchen große Reformen im Staate und in der Kirche begleitet werden, ist eben die, welche auch viele der Mißbräuche hervorbringt, die zu solchen Reformen die Veranlassung geben. Es sollten nähmlich die Regierer in der menschlichen Gesellschaft und die Verwalter ihrer Angelegenheiten von Rechtswegen nur eine einzige Sorge haben: das ist, die, ihr Geschäft gut zu verrichten, und den Zweck ihres großen Auftrags, das Wohl der Völker, zu befördern. Es ist ihnen aber gemeiniglich, vermöge ihrer Lage, noch eine andre Sorge unentbehrlich: das ist die, sich auf ihrem Posten zu behaup[442] ten und diese ihnen verliehene Macht, Gutes zu thun, die ihnen, bloß in so | fern es Macht ist, so viele gerne aus den Händen winden und sich zueignen möchten, ungeschwächt zu erhalten. So müssen zum Beyspiele die Könige selbst, wenn auch auf ihrem Throne noch so gesichert, doch immer darauf denken, bei ihrem Volke ihr Ansehen, und bey den Auswärtigen ihre Macht zu befestigen. Noch weit mehr sind ihre Minister, die nur eine geliehene Macht haben, genöthiget, einen großen Theil ihrer Aufmerksamkeit und ihrer Zeit auf die Mittel zu richten, wie sie sich in ihrem Posten behaupten, ihre Nebenbuhler entfernen, ihre Feinde überwinden oder gewinnen, ihrem Fürsten und dessen Günstlingen, von denen die Fortdauer ihres Ansehns abhängt, gefallen wollen. Diese Sorge der Männer, welche hohe Posten im Staate bekleiden, für die bloße Erhaltung ihres Ansehns, hindert ausnehmend den guten Gebrauch desselben; zuerst schon deßwegen, weil sie zu einer großen und weitläuftigen Beschäftigung wird, die nichts zum Wohl des Staats beyträgt. Sie erschöpft die Kräfte des Mannes in ganz eigennützigen Anschlägen und Unternehmungen, welche, wenn sie auch ungetheilt, seinen großen, gemeinnützigen Geschäften gewidmet wären, kaum zu denselben hinreichen würden. [443] Dazu kommt aber noch der wichtige Umstand: daß, bey den Mächtigen und Angesehenen im Staate, diese Sorge für ihre Selbsterhaltung auf nichts anders hinausläuft, als einen offenbaren oder geheimen Krieg mit ihren Gegnern zu führen, und sich zu dem Ende eine Partey zu verschaffen, welche diesen Gegnern gewachsen seyn könne. Die, welche ihnen übel wollen, müssen gewonnen oder gestürzt, ‒ die, welche ihnen wohl wollen, müssen empor gehoben und durch Dienstleistungen

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immer stärker gefesselt werden. Da diesen ihren Maßregeln von vielen entgegen gearbeitet wird, deren Widerstand sie überwinden, oder deren heimlich gelegten Schlingen sie durch List zu entgehen suchen müssen: so kommen sie gar leicht hierbey in Versuchung, von dem geraden Wege der Wahrheit und Gerechtigkeit abzugehen, und sich auch den Gebrauch unredlicher Kunstgriffe zu erlauben. Diese Art zu handeln aber, wenn sie ihnen einmahl bey demjenigen Theile ihrer Geschäfte eigen geworden ist, der auf die Behauptung ihres Postens abzielt, wird auch leicht bey dem andern Theile ihrer Geschäfte herrschend, dem nähmlich, wodurch sie die Pflichten ihres Postens erfüllen, und ihr Ansehn dem gemeinen Wesen wohlthätig machen sollen. Ein Fürst, welcher des zweydeutigen und oft unredlichen Spiels der Politik [444] gegen auswärtige Staaten gewohnt geworden ist, ‒ der, welcher seine Vorrechte gegen die Ansprüche und Freyheitsbegriffe seiner Unterthanen zu bewachen nöthig gehabt hat, wird leicht in seiner Staatsverwaltung selbst von denjenigen edlen und menschenfreundlichen Grundsätzen abweichen, die sonst einem obersten und unabhängigen Regenten so natürlich sind. Noch mehr wird ein untergeordneter Staatsverwalter, ein Minister, welcher eine von dem Fürsten ihm nur geliehene Macht besitzt, wenn er immer damit beschäftigt ist, sich Freunde zu erwecken und Feinden zu widerstehn, leicht dabey das sittliche Gefühl und den patriotischen Geist schwächen, die ihn in der Führung seines Amtes leiten sollen. Vergleichen wir nun mit den Gewalthabern der Staaten die Reformatoren derselben: so finden wir, daß sie in eben diesem unglücklichen Falle sind, zu ihrer Unternehmung Macht zu bedürfen, und diese Macht sich doch erst selbst schaffen, und gegen immer währende Angriffe vertheidigen zu müssen. Sie haben von der einen Seite die größte Veranlassung, von den strengen Vorschriften des Rechts abzuweichen,| weil sie mit großen Gefahren umgeben sind, und die bittern und oft unge- [445] rechten Feinden zu kämpfen haben; und sie haben von der andern Seite den scheinbarsten Vorwand, unregelmäßige Schritte, die sie zur Aufrechterhaltung ihres Ansehns thun, durch die großen Endzwecke des gemeinen Bestens, wozu sie dasselbe anwenden wollen, zu entschuldigen. Jeder Reformator muß, wenn es ihm gelingen soll, sich an die Spitze einer Partey stellen. Wie wollte er, bey dem Hasse und dem Widerwillen, welchen Neuerungen bey einem großen Theile der Menschen unfehlbar erregen, sich selbst schützen und seinen Plan durchsetzen können, wenn er nicht eine Menge Gehülfen hätte, und dieselben zu einer Einstimmung in seine Absichten, und also zu einem gewissen Gehorsam gegen sich zu bringen wüßte? Welche schwere und gefährliche Rolle aber die Rolle eines Parteyhauptes sey, und zu welchen unerlaubten Schritten sie auch den redlichsten Mann verleiten könne: davon hat niemand ein vollgültigeres Zeugniß abgelegt, als der Cardinal von Retz in seiner vortrefflichen Denkschrift über die Unruhen der Fronde, – in welchen er selbst diese Rolle gespielt hatte. »Welche Kleinigkeit« sagt er, »ist die Kunst, welche | ein Fürst oder ein Minister, in einer [446] schon befestigten Regierung, braucht, um ein, zu Verehrung dieser Nahmen schon

174 | 2 Beiträge in Zeitschriften lange gewöhntes Volk zu regieren, gegen die unendlich schwerere, deren ein Parteyhaupt nöthig hat, um bey Anhängern, die durch kein anderes Band, als durch die zufällige Übereinstimmung ihrer Meinungen und Leidenschaften, an ihn geknüpft werden, sein Ansehn zu behaupten.« Diese Schwierigkeiten sind bey der Beherrschung einer Partey, die bloß durch Meinung und Grundsätze zusammen gehalten wird, wie dieß der Fall bey der Partey eines Reformators ist, noch weit größer, als bey der Beherrschung einer solchen, die durch ein augenblickliches und nahes Interesse ihren Zusammenhang erhält, wie es die Partey der Fronde war. Die Anhänger jedes Neuerers, immer bereit ihn zu verlassen oder ihn selbst aufzuopfern, noch mehr geneigt, sich mit ihm zu entzweyen, sobald sich die geringste Verschiedenheit seiner und ihrer Meinungen und Absichten hervorthut, müssen von ihm gleichsam bewacht und immer von neuem gewonnen werden. Wie viel muß er also nicht oft ihren Launen, ihrer Unwissenheit und [447] ihren Leidenschaften nachgeben? Wie oft muß er nicht gegen ihre Feinde | härter und gewalthätiger seyn, als er es selbst für recht hält, um nur ihre Zuneigung nicht zu verscherzen! Wie oft muß er nicht über das Ziel, welches er sich bey seiner Reform gesteckt hatte, hinausgehen, weil er den Haufen, der ihn bey der Ausführung unterstützt, zwar in Bewegung zu setzen, aber nicht zu mäßigen weiß. Wie oft endlich muß er sich nicht zu Betrug und falschen Vorspiegelungen herablassen und die Wahrheit selbst durch Übertreibungen verfälschen, um nur den Muth seiner Partey zu erhalten, und ihre Thätigkeit nicht erschlaffen zu lassen. So viel findet der Reformator bey der ihm ergebenen Partey, bey seinen eignen Freunden und Verehrern zu thun. Aber welche noch weit größre Schwierigkeiten und Gefahren stehen ihm nicht von Seiten seiner Gegner bevor, die, zahlreich und erbittert, sich sehr bald zu einem offenbaren Kriege gegen ihn rüsten. Der ansehnlichste Theil dieser Gegner besteht aus den Anhängern des alten Systems, die, mächtig durch das noch bestehende Ansehn der alten Verfassung, auch durch ihre persönliche Würde furchtbar werden. Denn gemeiniglich sind, bey großen Neuerungen, die Begüterten, die Vornehmen, die, welche sich schon Ruhm erworben haben, [448] und die Personen vom | höhern Alter am wenigsten geneigt, ihnen beyzutreten. Außer diesen Gegnern findet der Reformator gar bald noch andre unter seinen Anhängern selbst; weil diese, durch die Abweichung von dem alten Systeme, zur Freyheit im Denken gewöhnt, leicht ebenfalls in ihren Urtheilen und Absichten von einander abweichen und also neue Parteyen bilden. Und diese streiten gegen einander mit desto größerer Erbitterung, je genauer sie zuvor mit einander verbunden waren. In diesen doppelten Krieg mit erklärten Feinden und mit aufrührerischen Anhängern verwickelt, ist der Reformator allen den Versuchungen zur Ungerechtigkeit ausgesetzt, welche der Krieg unglücklicher Weise mit sich führt. Von der einen Seite wird er für seine persönliche Sicherheit besorgt, von der andern wird durch die Größe des Unternehmens sein Ehrgeiz entflammt. Das Dringende der Umstände macht ihm ruhige Überlegung oft unmöglich: und Instinct oder Enthusiasmus muß

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daher in solchen kritischen Augenblicken seinen Entschluß bestimmen. Eben diese Umstände aber schwächen zugleich sein moralisches Gefühl, oder machen ihn gegen die Vorwürfe seines Gewissens taub. Da der Krieg, welchen er zu führen hat, ein bürgerlicher Krieg ist, da er mit Feinden rings umgeben, und | nicht immer im [449] Stande ist, sie von seinen Freunde zu unterscheiden: so wirkt alles das, was von jeher die bürgerlichen Kriege zu den grausamsten gemacht hat, – Argwohn gegen einige Personen, alter Groll gegen andre, und die Kränkung fehlgeschlagner Erwartung, – auch auf sein Gemüth. Wenn also die Mächtigen der Erde, auch im ruhigen Zustande der Dinge, durch nichts so sehr zum Mißbrauche ihrer Gewalt verleitet werden, als durch das, was sie zur Aufrechterhaltung ihres Ansehns thun müssen; und wenn die Urheber großer Reformen für die Erhaltung ihres Ansehns noch weit mehr besorgt zu seyn Ursache haben, und weit mehr Mühe finden, diesen Endzweck zu erreichen: so ist es kein Wunder, wenn sie nach und nach zu allen den Maßregeln, welche sie an den alten Gewalthabern so strenge getadelt hatten, verleitet werden, und sich sogar oft noch gewalthätigere Schritte erlauben. Dreyerley Lagen sind für die Sittlichkeit der Menschen vorzüglich gefährlich: ein Zustand persönlicher Unsicherheit, eine noch unbefestigte Herrschaft und der Krieg. In jeder dieser Lagen wird das Gewissen, bey Maßregeln, die es mißbilligt, durch die scheinbare Nothwendig|keit derselben eingeschläfert. Man vergißt entwe- [450] der die moralischen Gesetze, wenn so dringende physische Bedürfnisse und so heftige Leidenschaften auf uns einstürmen, und wenn man genöthigt ist, so plötzliche Entschlüsse zu fassen; oder man glaubt sich auch zu Ausnahmen von jenen Gesetzen berechtigt, wenn man sich, zwischen der Erreichung großer Zwecke und seinem Untergange, gleichsam in die Mitte gestellt sieht. Alle jene drey Versuchungen kommen bey den Urhebern großer Reformen zusammen. Zuerst, mit so viel Klugheit und Mäßigung sie auch im Anfange zu Werke gehn, – so rechtschaffene Gesinnungen und so löbliche Absichten sie auch bey ihrem Unternehmen an den Tag legen mögen: so sind die doch immer einem großen Hasse derer ausgesetzt, die von ihnen in dem ruhigen Genusse der Vortheile, welche die alten Mißbräuche ihnen brachten, gestört worden sind. Und dieser Haß setzt unvermeidlich ihr Glück, ihre Freyheit und selbst ihr Leben in Gefahr. Sie haben zweytens, wenn sie ihre Entwürfe durchsetzen wollen, unumgänglich nöthig, an der Spitze einer zahlreichen Partey zu stehen, die sie beherrschen und nach ihrem Willen regieren. Aber diese Herrschaft beruht auf einem äußerst schwankenden Grunde, auf dem guten Wil|len ihrer Anhänger, und wird ihnen, weder durch wirkli- [451] che Macht, noch durch Herkommen und Gewohnheit gesichert. Sie werden endlich in einen hartnäckigen Streit, mit den Anhängern des von ihnen angegriffenen Systems der Religion oder der Regierung, verwickelt; und hieraus allein erklärt sich, warum, wenn der Revolutions-Zustand einige Jahre fortdauert, der Geist der neuen Partey sich immer mehr zu verschlimmern, und das, was aus reiner Liebe der Wahr-

176 | 2 Beiträge in Zeitschriften heit, oder der Gerechtigkeit angefangen worden war, zuletzt eine Sache des Ehrgeitzes, der Herrschsucht und der Rachbegierde zu werden scheint. Die Erfahrung unsrer Tage hat uns noch eine zweyte Ursache entdeckt, warum Reformen, welche große Veränderungen im bürgerlichen und politischen Zustande der Menschen erfordern, die Übel, welche sie wegschaffen wollten, nur in andrer Gestalt, oft in größerer Menge, hervorbringen müssen: eine Ursache, auf welche wir schwerlich bey einer Untersuchung der Sache a priori gekommen seyn würden. Diese liegt darin, daß Revolutionen, auf ihrem Fortgange, natürlicher Weise, ihre Häupter und Anführer verändern, und daß bey Sachen, wo der große Haufe mit[452] wirkt, mit der Länge der Zeit List und Stärke das | Übergewicht über Vernunft und natürliche Absichten erhalten. Wir wollen zuerst, wie es billig ist, Reformations-Versuche im Staate, (von welchen hier allein die Rede ist,) vom bloßen Aufruhr oder solchen Unternehmungen unterscheiden, welche bloß den Ehrgeitz und selbstsüchtige Leidenschaften zur Quelle haben. Wir wollen annehmen, welches in der That oft der Fall ist, daß die ersten, welche den Muth fassen, sich alten und von der öffentlichen Macht beschützten Mißbräuchen entgegenzustellen, wirklich von der Liebe des Guten beseelt werden und die Absicht haben, ihre Nation glücklicher zu machen. Wir wollen sogar voraussetzen, – welches sich bey so wenigen aus der Geschichte bekannten Revolutionen findet, – daß diese ursprüngliche Uneigennützigkeit und Tugend der Reformatoren nicht nach und nach durch ihre so gefährliche Lage sey verdorben worden, und daß sie, trotz aller Versuchungen, die Ungerechtigkeiten der Menschen gegen sie durch ähnliche zu erwiedern, ihren ersten Grundsätzen treu geblieben sind. Aber dadurch ist der sittlich gute Gang der Revolution noch nicht gesichert, weil sie selbst, – diese ersten Urheber, – ihres fortdauernden Einflusses auf die Revolution [453] so wenig gewiß sind.| Es ist vielmehr nach unsern neuesten Erfahrungen nichts zuverläßiger zu erwarten, als daß sie die Regierung ihres eignen Werks ihren Händen in kurzem entrissen und weit schlechtern Menschen, als sie selbst sind, überliefert sehn. Die Ursache davon liegt schon in denjenigen Eigenheiten der Revolutionen, deren ich bey dem ersten Puncte erwähnt habe. Eben weil die Reformatoren zugleich Parteyhäupter seyn müssen, – eben weil sie einen Krieg zu führen haben, sind sie nur in sofern zu der Rolle, welche sie spielen, gemacht, als sie außer den Einsichten und dem Gemeingeiste, welche einen nützlichen Reformator leiten und beseelen müssen, auch noch den wahren Herrschergeist und das Talent eines großen Feldherrn besitzen. Weil nun diese letztern Eigenschaften mit jenen erstern so selten in einer Person vereinigt sind, und weil das ruhige Nachdenken und das zarte sittliche Gefühl, welches zu VerbesserungsEntwürfen nöthig ist, mit der Kühnheit, der Festigkeit des Willens und einer gewissen leidenschaftlichen Hitze bey der Ausführung, welche zum Herrschen und zum Kriegführen gehören, sich nur selten verträgt: so sind jene ersten vernünftigen und [454] wohlmeinenden Reformatoren, welche den Streit | mit den Mißbräuchen anfingen,

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selten im Stande, ihn auszufechten. Unter ihren Gehülfen und Anhängern finden sich bald Leute, die, mit der Kunst, die Gemüther des gemeinen Volks zu beherrschen, besser bekannt, oder durch ein feurigeres Blut, durch einen höhern Grad von Enthusiasmus und durch eine geringere physische und moralische Empfindsamkeit zu kühnen Unternehmungen mehr aufgelegt, – sie nach und nach des Vertrauens ihrer Partey und endlich auch alles Einflusses auf die Angelegenheiten derselben berauben. Wenn wir die Geschichte der Revolutionen untersuchen: so finden wir, daß sie, sobald sie durch eine geraume Zeit fortdauerten, eben denselben Gang, wie die Französische, genommen haben, und daß ihre Urheber und Stifter, je bescheidnere, vernünftigere und menschenfreundlichere Männer sie waren, desto eher von den wüthenden Zeloten ihrer eignen Partey unterjocht worden sind, und in dieser zweyten Revolution entweder ihren Untergang fanden oder zu bloßen leidenden Werkzeugen der neuen Machthaber herabgesetzt wurden. Diese zweyte Generation der Reformatoren, welche an die Stelle der ersten tritt, bringt zu ihrem Geschäfte ein weit geringe|res Maß von Einsichten und von moralischem Gefühle mit. Sie fängt [455] immer mehr an, die Sache als Parteysache zu behandeln, und die Erhaltung ihres Ansehns und die Überwindung ihrer Gegner zu ihrem letzten Zwecke zu machen; – ein Glück, wenn sie selbst nicht wieder von einem dritten Geschlechte noch heftigerer, noch tiefer zu den Gesinnungen des Pöbels herabsinkender, noch dreister sich über allen Anstand und alles sittliche Gefühl hinwegsetzender Parteyhäupter unterjocht oder verdrängt wird. Man hat demnach nicht Ursache, sich zu verwundern, daß große und plötzliche Reformen, sobald sie den Staat in große Parteyen theilen und nicht anders, als durch den von der einen Partey erfochtenen Sieg, vollendet werden können, oft mehr Übel anstiften, als sie verbessern wollen. Sie haben nämlich alsdann zu ihrer Unterstützung eine große Menge von Menschen, und also auch viele schlechte, unwissende und unsittliche nöthig. Diese, wenn sie zu gleich verschlagene, kraftvolle und auf ihren Vorsätzen beharrliche Menschen sind, kommen, bey längerer Fortdauer der Unruhen, sehr leicht in die Höhe und endlich an die Spitze der reformirenden Partey. Und indem sie allen Versuchungen zum Bösen, welche,| schon in [456] der alten Ordnung der Dinge, aus der Begierde zu herrschen und aus dem Kriege entstanden, zehnfach ausgesetzt sind, entbehren sie überdieß noch desjenigen Zaums, welcher den ehemaligen Herrschern durch eine feinere Erziehung und durch die ihnen eingeflößte Achtung für äußern Anstand angelegt wurde. Man kann es überhaupt zu einem Grundsatze annehmen, daß jede große Reform im Staate und in der Kirche, welche nicht in kurzer Zeit zu ihrem Endzwecke gelangt und daher nicht von denjenigen Personen, welche sie anfingen, geendigt werden kann, der Gefahr, in ihrem Geiste und ihren Endzwecken auszuarten, ausnehmend unterworfen ist. Dieß gielt, sage ich, selbst von Reformen in Absicht der Religion. Vielleicht ist diejenige, welche im sechzehnten Jahrhunderte einen Theil von Deutschland und

178 | 2 Beiträge in Zeitschriften Europa von dem Joche der Römischen Hierarchie befreyte, eben deßwegen glücklicher, als mehrere vorhergehende Versuche derselben Art, gewesen, weil Luther und Melanchthon, welche, in dem Geiste ächter Frömmigkeit und mit gründlichen Einsichten versehen, diese Reformation anfingen, glücklich genug waren, selbst noch [457] die Zeit zu erleben, wo dieselbe feste Wur|zel gefaßt hatte und zu einer dauerhaften und ruhigen Verfassung der kirchlichen Angelegenheiten gediehen war. Auch unter ihrer Partey gab es hitzige, überspannte Köpfe und wilde Neuerer, welche alle angefangnen Veränderungen auf das äußerste treiben wollten. Auch unter ihr gab es Schwärmer und Enthusiasten, welche, wenn sie die Oberhand behalten hätten, dem Werke der Vernunft und der Frömmigkeit das Ansehn der Thorheit und der Ausschweifung gegeben haben würden; es gab Ehrgeitzige und Verfolgungssüchtige, welche mit Feuer und Schwert sowohl gegen die alten Rechtgläubigen, als gegen alle Sektirer, die nicht in allen Punkten mit ihren Meinungen übereinstimmten, zu wüthen für erlaubt hielten. Glücklicher Weise behielt der gute und fromme Luther mit seinem Freunde Melanchthon über alle diese Reformatoren der zweyten Generation die Oberhand, und sein Ansehn überlebte das ihrige. Luther war gerade muthvoll und populär genug, um fortdauernd auf seine Partey zu wirken und seinen Feinden zu widerstehn. Er wußte sein Ansehn bey der erstern gegen neue sich emporhebende Demagogen zu behaupten und im Kampfe mit den letztern [458] aller andern Hülfe, als der | Hülfe der Wahrheit, seiner eignen festen Überzeugung, seiner populären Beredtsamkeit und seines eisernen Fleißes, zu entbehren. Wer weiß, ob die hundert Jahre früher von Johann Huß angefangene Religionsverbesserung nicht einen glücklichern Gang würde genommen haben, wenn er, welcher die Irrthümer des herrschenden Religions-Systems und die Mißbräuche des Kirchenregiments zuerst entdeckt und, unbesorgt für seine persönliche Gefahr, zuerst gerügt hatte, – wenn Johann Huß, sage ich, seiner Partey noch eine Reihe von Jahren hätte vorstehen und den von ihm ausgestreuten Saamen hätte zur Reife bringen können? Die Costnitzer Kirchenversammlung glaubte unbedachtsamer Weise, daß sie die ketzerische Partey nicht sicherer ausrotten könne, als wenn sie sie bey ihrer Wurzel, in ihrem Stifter und Urheber angriffe. Sie brachte also Johann Huß mit seinem Freunde Hieronymus auf dem Scheiterhaufen. Dadurch that sie aber nichts anders, als daß sie den Böhmischen Sektirern, anstatt eines frommen, gelehrten und allgemein verehrten Hauptes, mehrere bloß ehrgeitzige, unaufgeklärte und wildschwärmerische Anführer gab, die ihr zweifelhaftes Ansehn bey [459] ihrer eignen Partey nur durch eine ausschweifende Härte und | Grausamkeit gegen ihre Gegner aufrecht zu erhalten wußten. So artete das, was anfangs nur eine religiöse Verbesserung zu seyn schien, in eine bürgerliche Empörung aus, welche dem Lande Böhmen den Untergang drohte und die benachbarten Länder mit Verwüstungen und Blutvergießen anfüllte. Hätten in England unter Carl I. Hambden und die Patrioten, welche mit ihm vereinigt den Kampf gegen die despotischen Grundsätze der Krone und die Unduldsamkeit der Geistlichkeit zuerst anfingen, auch denselben zu Ende bringen können:

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so würde wahrscheinlich der gerichtliche Mord des Königs und der gänzliche Umsturz der Monarchie nicht die gute Sache der Freyheit, welche jene Männer verfochten, geschändet und das öffentliche Wohl, welches sie zum Zwecke hatten, aufs Spiel gesetzt haben. Aber auch hier löseten die Anführer und Häupter der Revolution einander mehr als einmahl ab, und immer war die nachfolgende Generation ausschweifender in ihren Freyheitsideen, selbstsüchtiger und herrschsüchtiger in ihrem Character, gewaltthätiger in ihren Maßregeln, als die vorhergehende. Auf die Presbyterianer, welche zuerst im langen Parlamente die Oberhand hatten, folgten die Independenten: die|se vertrieb Cromwell mit seinen Soldaten und setzte das [460] Rump-Parlament ein; dieses wurde von dem Kriegsrathe abgelöset, und die völlig militairisch gewordne Regierung endigte sich zuletzt mit der willkührlichen Herrschaft eines Einzigen. Können wir zweifeln, daß auch in Frankreich die blutigen Auftritte, welche alle gesitteten Menschen in Europa zugleich empört und mit Mitleiden für diese unglückliche Nation durchdrungen haben, nie erfolgt seyn würden, wenn die Häupter der ersten National-Versammlung, die Fayette, Lally-Tolendal, Clermont-Tonnerre, Mouniers, – und selbst Mirabeau, ihr Ansehn bey ihrer Partey behalten und die Bewegungen des Volks, deren Urheber sie waren, fortdauernd regiert hätten? Aber dieß ist eben das Unglück der Revolutionen, und dieß wird immer ihre Geschichte seyn, sobald sie eine geraume Zeit unentschieden fortdauern: daß ihre Direction den Händen ihrer ersten Stifter entzogen und weniger einsichtsvollen, weniger gutdenkenden, aber heftigern, schwärmerischern oder listigern übergeben wird. Wenn, um in der Allegorie Swifts fortzufahren, bey der vorgenommenen Reinigung, der Staub erst so dickt ist, daß niemand mehr recht genau seinen | Nachbarn erken- [461] nen kann,3 so reißt dem Reformator der erste, der beste, welcher mehr Kraft, als e[r] hat, den Besen aus der Hand, und anstatt damit bloß auszufegen, braucht er ihn, seine Feinde oder alle, welche ihm im Wege stehen, damit vor den Kopf zu schlagen. Für uns gemeine Erdensöhne, die mir den Welt- und Staaten-Reformen nur von weitem zuzusehen, nicht ihnen zu helfen oder zu widerstehen, berufen sind, enthält die Swiftische Allegorie und deren Auslegung nur eine Regel. Das ist die: daß wir uns genügen sollen, vor unsrer eignen Thüre zu kehren, und daß wir den Unrath daselbst nie so lange sich sollen anhäufen lassen, daß es nöthig wäre, viel Staub zu machen, wenn wir ihn endlich einmahl wegschaffen wollen. Anmerkungen

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Zu Seite 439. Tiberius und Cajus Gracchus, zwey Brüder und Volkstribunen in Rom, traten im 7ten Jahrhunderte nach Erbauung der Stadt nach einander auf, um sich der Rechte des Volks gegen die Anmaßungen und Bedrückungen der Großen anzunehmen. Beyde verfolgten diesen Endzweck durch Mittel, die von einer gewis-

3 [Siehe die Anmerkung am Schlusse.]

180 | 2 Beiträge in Zeitschriften sen Seite ungerecht waren, wie z. B. das Agrarische Gesetz; oder durch solche, die eine zu große Umkehrung | der Dinge veranlaßten, wie das Gesetz von der Übertragung der richterlichen Gewalt vom Senat auf den Ritterstand. Beyde verloren in dem Laufe ihrer Unternehmungen das Leben. Aber die Parteyen, welche sie gestiftet oder angeführt hatten, blieben: und durch die Gracchischen Unruhen wurde der Same zu den folgenden bürgerlichen Kriegen der Römer ausgestreut, deren letztes Ende die Alleinherrschaft des Augustus war. Arnold von Brescia lebte im zwölften Jahrhunderte nach Ch[risti]. G[eburt]., war ein Schüler des Abälard, und wurde durch das Eigenthümliche seiner religiösen Meinungen Theilnehmer und Stütze einer politischen Revolution zu Rom, deren Geist und Zweck mit seinen Begriffen zusammenhing. Er war einer der ersten im Mittelalter, welche den Muth hatten, öffentlich zu sagen, daß die gehäuften Ceremonien des Gottesdienstes eine Ausartung der einfachen und ganz moralischen Religion Christi, und daß die Macht und die Reichthümer der Geistlichkeit ein Hinderniß ihrer Amtsführung seyen. Diese Begriffe und dieser Muth waren zu Rom, wohin sie Arnold im Jahr 1139 brachte, zu einer Zeit sehr willkommen, da ein lebhaftes Freyheits-Gefühl und die Erinnerung an die Größe ihrer Vorfahren in den Einwohnern dieser Stadt erwacht waren, sie einen Senat errichtet hatten und mit nichts geringerem umgingen, als den Pabst, der bisher mit dem Kaiser die Herrschaft über sie getheilt oder um dieselbe gestritten hatte, auf seine geistlichen Würden und Verrichtungen herabzusetzen. Ob Arnold gleich durch den Bannstrahl Innocenz II. aus Rom vertrieben worden war: kam er doch unter einem schwächern Pabste im Jahre 1144 dahin zurück und stand bis 1155 an der Spitze derjenigen Partey, welche [463] die alte freye Verfassung von Rom wieder herstellen wollte. Unglückli|cher Weise gesellte sich bey den Römern zu dem Versuche, sich unabhängig zu machen, gar bald das schimärische Project, Macht zu erlangen und unter dem Nahmen des Kaisers über die Welt, oder doch über Italien, zu herrschen. Entwürfe der Art mußten wie Träume verschwinden. Schon Conrad III., dem die Römer die Oberaufsicht über ihre neue Republik auftrugen, verwarf ihre Anerbiethungen und wollte sich lieber mit alten Feinden, den Päbsten, als mit rebellischen Unterthanen verbinden. Friedrich I. ging noch weiter. Er half dem Pabste Hadrian das unsichere Gebäude der Römischen Freyheit zerstören und überlieferte Arnolden, der von neuem aus Rom geflohen war, in seine Hände, unter denen er den gewöhnlichen Ketzertod starb. Zweyhundert Jahre später (1346‒57) erweckte die lange Abwesenheit des päbstlichen Hofes, der in Avignon residirte, verbunden mit den Gewaltthätigkeiten, durch welche die Römischen Großen, bey ihren Befehdungen gegen einander, die öffentliche Ruhe störten, bey dem Volke Roms die Begierde nach Freyheit und republikanischer Verfassung von neuem. Diese Revolution, die mehr, wie die ehemalige, vom gemeinen Volke ausging und auf eigentliche Demokratie abzielte, wurde von Nicolaus Rienzi geleitet, einem Manne von niedriger Herkunft aber gelehrter Erziehung, der durch die Lesung der Classiker zur Nachahmung altrömischer Großthaten begeistert und durch seine, auf Sinne und Einbildungskraft stark wirkende, Beredt[462]

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samkeit zum Demagogen gemacht war. Die ersten Schritte auf seiner politischen Laufbahn in Rom that er, als Notarius des Pabstes, gewisser Maßen unter der Autorität desselben, und mit dem Beyfalle des größten Mannes seiner Zeit, des Petrarch. In kurzem erhob er sich unter dem Titel | eines Tribuns, den das Volk ihm ertheilte, zu [464] einem wirklichen Souverain und Gesetzgeber von Rom; wußte den unruhigen Adel zu unterjochen oder doch zur Ruhe zu bringen, nöthigte den Päbstlichen Hof zur stillschweigenden Anerkennung seiner Gewalt, und verschaffte, selbst bey den Italiänischen Staaten, sich Achtung und Ansehn. Aber eben dieser Mann, der im Anfange Gesetze gab, wie ein Weiser, handelte in der Folge, von seiner eignen Macht berauscht, oder weil er nun die Fehler seiner Natur ungehindert äußerte, als ein ausschweifender Mensch und ein Bösewicht. So wie sein Ansehn beym Volke sank, stieg die Macht des Adels wieder empor: und er wurde sehr leicht aus Rom vertrieben. Nach sieben Jahren, (1356) während welcher Zeit eine Reihe auf einander folgender Revolutionen Rom zu einem Schauplatze von Mord und Verwüstungen gemacht hatte, trat Rienzi von neuem auf, vom Päbstlichen Hofe selbst dahin gesandt und mit dem Namen eines Senators bekleidet. Als Tribun hatte er sein Ansehn nicht erhalten können; als Senator konnte er sich nicht einmahl in den Besitz desselben setzen. Der Tribun war von der Gegenpartey nur vertrieben worden; der Senator wurde von seiner eignen Partey, mit allen Beweisen des äußersten Hasses, ermordet. Aber lange nach ihm herrschten Krieg und Zerstörung in den Straßen Roms; wo bald die adligen Geschlechter gegen einander, bald alle gegen das Volk oder die Päbstlichen Legaten zu Felde zogen, bis endlich die Rückkehr der Päbste und die Herrschertalente einiger unter ihnen die geistliche Regierung befestigten, und den Ansprüchen des Volks und der Großen auf gleiche Weise ein Ende machten. Dasselbe vierzehnte Jahrhundert sahe auch in Frankreich, dem Sitze der uneingeschränktesten mo|narchischen Gewalt, Begierden nach einer ungewohnten Frey- [465] heit erwachen. Ein neuer, vor kurzem erst auf den Thron gekommener Zweig des königlichen Hauses, der Valois, und die gehäuften Unglücksfälle, welche die beyden ersten Könige desselben im Kriege gegen die Engländer betrafen, machten die Großen und das Volk beherzt, sich der Regierung zu widersetzen: aber sie machten sie weder einig noch weise genug, um ein dauerhaftes System der Freyheit zu gründen. Die Etats genéraux vom Jahre 1355 unter dem unglücklichen Könige Johann waren in der Einschränkung der Krone weiter gegangen, als es mit der nöthigen Thätigkeit der Regierung, besonders während eines auswärtigen Krieges, bestehen kann. Die unglückliche Schlacht bey Maupertuis und die Gefangennehmung des Königs Johann gaben den Neuerern noch freyeres Spiel und machten den Dauphin, den nunmehrigen Regenten des Reichs, noch abhängiger. Auch bey dieser Revolution oder bey diesem Versuche, eine zu stiften, war Paris an der Spitze des Bürgerstandes, und der im Terte genannte Peter Marcell als Prevôt des Marchands, (Vorsteher der Kaufmannschaft oder vielmehr Haupt des Magistrats) stand an der Spitze der Gemeinde von Paris. Dieser Mann, der schon in den Etats genéraux von 1355 eine Hauptrolle gespielt hatte, wurde, nach der Gefangennehmung des Königs und

182 | 2 Beiträge in Zeitschriften der Staatenversammlung von 1356, in Paris allmächtig. Seine Absichten schienen anfangs redlich, und sein Muth scheint groß gewesen zu seyn. Aber der Widerstand, den er fand, und der Geist seiner Zeit und seiner Partey machten ihn gewaltthätig; und indem er sich zu seinem Schutze den Beystand des Königs Carl von Navarra aufsuchte, dem die Geschichte den Beynahmen des Bösen gegeben hat, wurde er [466] | zuletzt nur ein Werkzeug in den Händen dieses ehrsüchtigen und ränkevollen Fürsten. Als solcher wurde er auch seiner Partey selbst verhaßt, und endigte sein Leben, wie Rienzi, durch den Dolch eines seiner ehemaligen Anhänger: worauf, nach vielen in Paris und den Provinzen verübten Gräueln, Stadt und Land, einer anarchischen Freyheit müde, sich demüthiger, wie zuvor, unter die willkührliche Macht des Monarchen beugten. Zu Seite 461. Auch dieß ist ein Unglück der Zeiten einer Revolution, welches zugleich zu großen Verbrechen führt, daß man nie so sicher, als in Zeiten der Ruhe auf die Gesinnung und die Handlungsweise der Menschen oder auf seine eigne Kenntniß von ihnen rechnen kann; daß man daher gegen seine Freunde selbst argwöhnisch wird, und also auch Verläumdungen und Anklagen gegen sie weit leichter Gehör giebt. In Zeiten der Ruhe herrschen das Gesetz und die Gewohnheit über den Menschen, und die Absichten und Regeln seines Eigennutzes und Ehrgeitzes sind bekannt. In Zeiten bürgerlicher Verwirrungen, und wenn große Änderungen in der Vertheilung der Macht und des Ansehens geschehen, handelt jeder mehr nach seinem eignen Instincte, nach seinem Character, oder nach seinen besondern Verbindungen, kurz nach unbekannten Motiven. Ehrgeitz und Eigennutz finden dann oft außerordentliche und kurze Wege, ihr Ziel zu erreichen, und man kann daher ihre Wirkung auf den menschlichen Willen nicht mehr berechnen. Dieß ist die Ursache von so vielen verrätherischen Freundschaften, die sich in dieser Periode bilden, und von eben so vielen ungerechten Anklagen des Verraths, wodurch Unschuldige in den Augen der neuen Partey verdächtig gemacht und gestürzt werden. Aus diesem doppelten Übel, aus der wirklichen Untreue Einiger und aus den fal[467] schen, aber | wahrscheinlichen Anklagen gegen Andre entstehen eben diese Spaltungen, – und zwischen den dadurch gebildeten kleinern Parteyen diese bittern Feindschaften, welche zu so unerhörten Grausamkeiten, als wir in Frankreich haben verüben sehen, Anlaß geben. Hierdurch wird überdieß die Aufmerksamkeit von dem ersten Zwecke der Unternehmung ganz abgezogen. Den Bösen wird ein großer Spielraum der Thätigkeit gegeben, die Guten werden muthlos gemacht und entweder selbst in Gegner der zuvor gebilligten Verbesserungen verwandelt, oder zum Stillschweigen und zur Unthätigkeit genöthigt.

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| 3 Aus den Übersetzungen

https://doi.org/10.1515/9783110647808-004

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Anmerkungen zur Übersetzung von Adam Ferguson: Grundsätze der Moralphilosophie

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Ich habe dieß Buch nicht übersetzt, weil ich es für das erste und vortreflichste Lehrbuch der Moral halte; ich bin zu wenig dieses Urtheil zu fällen; und beynah denke ich, daß bey so bekannten Wahrheiten jedes Lehrbuch gut seyn kann, nach der Absicht, wozu man es braucht: aber ich habe es übersetzt, weil ich es für das Werk eines rechtschafnen und großen Mannes halte; und weil ich glaube, daß es die Spuren davon trägt. Es giebt Bücher, die bloß verrathen, was der Verfasser gelernt hat; die meisten Kompendia sind von dieser Art. Es giebt andre, die zugleich anzeigen, was er sey, wie er selbst denke, wie er empfinde, und wie er handeln möge. Die erste Art von Büchern kann unterrichten; aber nur die letztre kann den Geist der Leser bilden oder verbessern; und zu dieser scheint mir diese Moral zu gehören. Ich habe einige Fehler dieses Buches bemerkt, diese will ich hier anzeigen. Ich [288] bin von einigen Stellen lebhafter gerührt worden, auf diese will ich den Leser aufmerksam machen. Die Gedanken des Verfassers haben einige bey mir selbst veranlasset. Die Sammlung derselben kann ohngefähr statt einer Anweisung dienen, wie man ein solches Buch lesen soll, oder statt eines Versuchs, wie ich es mit meinen jungen Freunden zu lesen wünschte. Von Seiten der Vollständigkeit hat das Buch einige sichtbare Mängel. Es sagt sehr wenig von der Freyheit; es sagt nichts von den Pflichten der häuslichen Gesellschaften. Dafür hat es eine lange Einleitung, die beynahe die ganze Philosophie enthält. – Einige seiner Erklärungen und Unterschiede scheinen mir willkührlich; einige seiner Entscheidungen unbewiesen; und in einigen Kapiteln vermisse ich den genauen Zusammenhang, der ohne das in der Aphoristischen Methode so leicht von dem Schriftsteller verfehlt, oder von dem Leser übersehen wird. Doch was die Auslassungen betrifft, so wollte ich ihm diese gern vergeben. Von [289] der Freyheit selbst wüßte ich nur sehr wenig zu sagen, wenn ich zuvor schon von dem Unterschiede der thierischen und der vernünftigen Begierden geredet hätte. Diese Materie ist von unsern Vorgängern schon erschöpft, oder vielmehr ihre Unergründlichkeit ist erwiesen; sie macht eine von den Gränzen unsers Verstandes aus. Dieß einzige wäre vielleicht noch zu thun, daß man dieß deutlicher zeigte, in wiefern sie eine solche Gränze ist. Zu dem Ende müßte man die beyden Systeme, die von der Freyheit möglich und herrschend sind, so ehrlich und unpartheyisch als möglich vorstellen; man müßte zeigen, daß in beyden Schwierigkeiten wirklich vorhanden sind; daß diese Schwierigkeiten sich nicht heben lassen; und daß alle Versuche, die man dazu gemacht hat, entweder bloß diese Schwierigkeiten verbergen, oder sie weiter hinausschieben. Man müßte aber auch zeigen, daß demohnerachtet die Empfindungen des Menschen von Recht und Unrecht, unwandelbar und gewiß, und von keinem | Systeme abhängig sind; und daß, wir mögen die Freyheit [290] des Menschen erklären können oder nicht, wir immer Glück von Verdienst, und die

186 | 3 Aus den Übersetzungen Empfindung der Lust an einer Sache, von der Empfindung des Beyfalls den wir einer Handlung geben, unterscheiden werden. Die Spur, der ich alsdann nachgehn würde, möchte ohngefähr folgende seyn. Alle unsre Theorien sind Empfindungen die wir entwickeln. Alle unsre Schwierigkeiten entstehen, wenn die Empfindungen, deren wir uns klar bewußt seyn, dennoch in ihrer Entwicklung mit einander zu streiten scheinen. Welches sind dann also die Empfindungen, die bey der Lehre von der Freyheit zum Grunde liegen; und welches sind diejenigen, welche die Schwierigkeit machen? Wir haben bey den Handlungen des Menschen, außer der Empfindung von Nützlichkeit und Schädlichkeit, noch die Empfindung von Verdienst und Schuld. Die erste Empfindung haben wir sonst noch bey vielen Dingen außer dem Men[291] schen; die letzte Empfindung haben | wir bey keinem. Was hat also der Mensch eignes, was weder die Maschine noch das Thier hat, warum er alleine gelobt und getadelt werden kann? Den Unterschied zwischen der Maschine und dem lebendigen Wesen, soll in den Schulen das Wort Spontaneität, und den Unterschied zwischen Thier und dem Menschen soll das Wort Freyheit ausdrücken. Jeder dieser beyden Unterschiede ist doppelt; der eine ist deutlich und leicht, der andere dunkel und schwer. 1. Die Maschine wirkt, weil sie so gestoßen wird; das Thier handelt, weil es die Sache so empfindet; der Mensch, weil er sie so denkt. Will ich die Wirkung der Maschine ändern, so muß ich ihr einen andern Stoß geben; will ich die Handlung des Thieres ändern, so muß ich ihm andre Objekte darstellen, oder in ihm andre Gefühle erregen; will ich die Handlung des Menschen ändern, so muß ich ihn anders denken lehren. Dieß sagt Basedow, wenn er die Freyheit, die Veränderlichkeit des Willens [292] durch moralische Mittel nennt. Lob und eine versprochene | Belohnung gehört nur für den Menschen, denn es sind bloße Ideen; unmittelbare Belohnung und Strafe gehört auch für das Thier, denn es sind Empfindungen; Ziehen und Stoßen gehört für die Maschine. 2. Die Maschine ist nur ein Werkzeug, ein andrer wirkt durch sie, um deswillen wird, wenn sie etwas nützliches hervorbringt, nicht sie, sondern der Künstler als der Urheber angesehen; und nur der Urheber wird gelobt. Das Thier ist ein Sklave; und wirkt durch seine eigne Kraft; aber die Anwendung dieser Kraft ist ihm vorgeschrieben, durch die Natur seines Körpers, und die Gegenwart der äußern Objekte. Der Mensch ist der wahre Urheber dessen, was er thut; aus ihm kömmt die Kraft, welche wirkt, von ihm kömmt die Richtung, welche er dieser Kraft giebt. – Dieß also soll dieser zweyte Unterschied seyn; der Mensch ist eine erste Quelle von Thätigkeit; das Thier ist nur eine abgeleitete; die Maschine ist gar keine. Dieser Unterschied führt auf Schwierigkeiten, wenn er mit den ersten verglichen [293] wird. – Denn | wenn in der Natur der Handlungen kein andrer Unterschied ist, als daß der Mensch denkt, und sich die Natur der Sachen vorstellt, das Thier hingegen bloß empfindet, und die Phänomene derselben sieht: was kann alsdann in dem

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Ursprunge der Handlungen für ein weitrer Unterschied seyn, als daß die Kraft des Thiers bestimmt wird durch die körperlichen Empfindungen, und die Kraft des Menschen durch die geistigen Vorstellungen? Also wird der Mensch nur insofern freyer seyn, als das Thier, insofern die Vorstellungen des Verstandes unabhängiger sind als die Empfindungen des Körpers? Sind sie dieses nun wirklich? – Die sinnlichen Empfindungen sind unmittelbare Folgen von dem Bau des Körpers, und den Eigenschaften der Dinge, die ihn berühren; hier ist gleich das erste Glied der Kette, woran die Handlungen des Thiers hängen, außer dem Thiere. – Die geistigen Vorstellungen sind Folgen eines vorhergegangnen Nachdenkens; dieses Nachdenken ist die Folge eines vorhergegangnen Entschlusses die Sache zu untersuchen; dieser Entschluß ist die | Folge neuer Vor- [294] stellungen; und so zurück, scheint es, muß ich zuletzt auf Vorstellungen kommen, die mein Nachdenken nicht hervorgebracht hat; die also in der Natur meines Geistes, meines Körpers, oder der Umstände liegen. Die Kette ist also hier lang, an welcher meine gegenwärtige Handlung hängt; sie geht lange innerhalb meiner selbst, und innerhalb meiner eignen Handlungen und Vorstellungen fort; aber endlich endigt sie sich doch mit einem Gliede das außer mir liegt; nämlich mit dem Wesen, das meine ursprüngliche Natur gebildet hat, oder mit der Ordnung und der Reyhe der Dinge, unter die ich gesetzt worden bin. Dieß ist nun eben die Schwierigkeit. Die eine Empfindung sagt mir: ich handle nach Vorstellungen; und eben darinn besteht meine Tugend, daß ich durch die Vorstellungen des Guten angetrieben werde es zu bewirken. Die menschliche Natur weiß von keiner andern Entstehung der Begierden, und die Natur der Tugend läßt keine andre zu. Denn eine gute, d. h. eine nützliche Handlung, wenn sie nicht grade | um der Bewegungsgründe dieses Nutzens willen geschieht, ist nicht mehr Tugend. [295] Eine andre Empfindung sagt mir: ich bin selbst der Urheber meiner Handlungen; und ich bin nur insofern tugendhaft, als ich Urheber des Guten bin was ich thue. Ich bin aber nur Urheber, wenn meine Handlung von nichts außer mir abhängt; also auch von meinen eignen Vorstellungen nicht, denn diese hängen zuletzt selbst von Dingen außer mir ab. Diesen Schwierigkeiten abzuhelfen, hat Ein Theil der Philosophen bloß die erste Empfindung sammt ihrer Theorie angenommen, und die andre Empfindung gänzlich als eine Illusion verworfen; das sind die eigentlichen Fatalisten. Ein andrer Theil, worunter scharfsinnige und rechtschafne Männer von jeher gewesen sind, haben sich bloß an die letztre Empfindung gehalten, und die erste entweder nicht bedacht, oder für trüglich gehalten. Dieß sind die, welche die Freyheit der Gleichgültigkeit annehmen. Ein dritter Theil hat beyde Empfindungen zugegeben, (und wer wollte sie läugnen, der auf | sich selbst Acht gegeben hat?) und hat ihre Theorien zu vereinigen [296] gesucht. Aber wie ist dieß möglich? Sollen unsre Handlungen ganz unabhängig seyn, so müssen sie es auch von unsern eignen Vorstellungen seyn, denn diese sind selbst zuletzt abhängig. – Sollen unsre Handlungen gut seyn; so müssen sie nach

188 | 3 Aus den Übersetzungen Gründen geschehn; so müssen sie von den Ideen abhängen, die diese Gründe in sich enthalten. Wenn ich schon in der Versammlung dieser, durch die Zahl und das Ansehn ihrer Glieder ehrwürdigen Partheyen, eine Stimme hätte, so würde ich zu ihnen sagen: lassen sie uns keine unsrer Empfindungen leugnen, weil wir sie nicht zu erklären wissen; aber vor allen Dingen, lassen sie uns keine unsrer Mitbrüder verdammen, weil sie unter zwey Empfindungen, die sich in der Theorie nicht vereinigen lassen, einer andern als wir den Vorzug geben. Es giebt einen Punkt der Vereinigung, der gewiß, und unschätzbar ist. Wir alle glauben das Daseyn der Tugend. Dieser Glaube ist früher als alle Systeme. Er hat sie erst hervorgebracht; um ihn zu [297] rechtferti|gen, haben wir sie erfunden; die Heftigkeit des Streits selbst ist aus dem Eifer für diejenge Sache entstanden, in welcher alle überein kommen. Die Empfindung, daß eine Handlung tugendhaft sey, enthält zwey Begriffe; den Begriff, daß sie in gewisser maßen unabhängig, und den, daß sie gut sey. Die Entwicklung das ersten ist unmöglich; die Entwicklung des andern ist leicht. Soll ich diese Theorie aufgeben; soll ich jenes Gefühl leugnen? Keines von beyden. – Ich soll gestehn; daß Tugend und Glück verschieden sey, aber daß ich diese Verschiedenheit nicht vollkommen zu erklären wisse. Diese Empfindung, so dunkel sie ist, werde ich heilig behalten, weil sie die Empfindung des menschlichen Geschlechts ist. Aber auf der andern Seite soll ich die Gründe meiner Handlungen so weit untersuchen als ich kann; denn dieß ist das einzige Mittel mich zu bessern. Die Untersuchung von der Unabhängigkeit meiner Handlungen, gesetzt auch, sie wäre nicht fruchtlos, dient [298] höchstens zu nichts, als mir die Natur der Tugend zu erklären; aber die | Untersuchung der Ursachen meiner Handlung, dient dazu, mir zum Besitz der Tugend zu verhelfen. – Ich weis nicht wie ich frey bin, aber ich weiß, wie ich vollkommen seyn soll. Die andre Lücke von den gesellschaftlichen Pflichten läßt sich nicht so leichte vollfüllen. – Ich denke demohnerachtet, daß dieser Theil der Moral ein eignes Ganze ausmache. Was ist die Pflicht der Ältern anders, als die Pflicht der Erziehung? Und was ist ein System der Erziehung anders, als ein System der Philosophie und Moral? Von der Ehe, ihrem Ursprunge und ihren Rechten, hätte billig etwas gesagt werden sollen. Wenn die Moral, wie d’Alembert sagt, hauptsächlich auf den Unterschied gebaut ist, der sich zwischen uns und den Thieren findet: so gehört die Ehe ganz vorzüglich mit hinein; denn welcher Unterschied ist merklicher, und hat größre Folgen? Aber es ist Zeit, daß wir auf die einzelnen Theile des Buchs kommen. Von den Naturgesetzen redet Ferguson, wie mich dünkt, zu weitläuftig für eine [299] so bekannte | Sache. Und doch ist das Gesetz nicht völlig richtig erklärt, wenn er sagt, es ist jeder allgemeine Ausdruck von dem, was in mehrern Fällen vorhanden ist. Die Körper sind schwer, ist ein solcher allgemeiner Ausdruck, aber es ist kein Gesetz; Die Schwere nimmt ab, wenn der schwere Körper sich von dem Mittelpunkte der Erde entfernt, ist ein andrer solcher allgemeiner Ausdruck, und heißt ein Gesetz.

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– Der Unterschied liegt, dünkt mich, darinnen. Ein einzelnes ganz einfaches Factum, in welchem noch nichts unterschieden, und welches noch mit keinem andern verknüpft ist, giebt kein Gesetz, wenn es auch noch so oft in der Welt wiederholt wird. Aber wenn zwey Facta immer beysammen gefunden werden; oder wenn ein Factum sich in gewisse Theile immer auf gleiche Weise zergliedern läßt: so wird daraus ein Gesetz. – Die Schwere ist ein einzelnes Factum. Der Satz, welcher dieses ausdrückt, ist bloß historisch, wenn er gleich noch so viel ähnliche Fälle unter sich begreift. Aber die Abnahme der Schwere bey der Entfernung, ist ein zweytes Factum, das immer mit dem er|sten unzertrennlich verbunden ist. Diese Verbindung drückt eben [300] das Gesetz aus. Die Geschichte des menschlichen Geschlechts ist ein Auszug aus dem größern Werke des Verfassers. Dieser Theil seines Werks ist ihm eigen, und ist eine wichtige Einleitung zur Moral. Ehe man untersucht, wie der einzelne Mensch vollkommen werden könne: muß man erst das ganze menschliche Geschlecht in seinen mannichfaltigen Abwechselungen und Stufen der Vollkommenheit übersehen; man muß auf den großen Schauplatz des menschlichen Lebens treten, um die verschiednen Ordnungen der Menschen, die Glückseligkeit der sie genießen, die Tugend die sie ausüben, und die Wege auf welchen sie dazu gelangt sind, zu kennen. Diese Methode, wenn sie recht befolgt würde, hat einen doppelten Nutzen. Zuerst hat der einzelne Mensch selten Gelegenheit genug, daß, was menschliche Vollkommenheit heißt, recht im Ganzen zu sehen und zu empfinden; aber wenn er alle Theile der Erde und alle Jahrhunderte vor sich sieht, dann entsteht vor seinen Augen das Bild, das der Mo|ralist sucht, das Bild eines Menschen, den die Natur zu seiner völligen [301] Reife gebracht hat. Die Vereinigung mannichfaltiger Vollkommenheiten, die er zerstreut unter den Menschen antrifft, giebt seiner Imagination ein Ideal, welches die bloße abstrakte Untersuchung der menschlichen Natur, oder die Beobachtung einzelner Menschen, ihm nicht würde gezeigt haben. – Überdieß so wie es den Philosophen, die einen vollkommen tugendhaften Mann haben beschreiben wollen, fast immer nothwendig gewesen ist, eine Art von vollkommnem Staate zu bilden, in die sie ihn setzen; weil der Mensch nur durch die Gesellschaft gebildet auch nur in ihr die Gegenstände seiner Tugenden findet: so ist überhaupt die Kentniß der menschlichen Pflichten nicht von der rechten Art, wenn man nicht den Menschen im Zusammenhange mit der ganzen Natur, und besonders mit dem menschlichen Geschlechte, betrachtet. Nur verliert unser V. zuweilen die Absicht aus den Augen, wozu er diese Geschichte des Menschen beybringt; und verfolgt bloß die Materie an sich. So ist in dem Kapitel, von der Be|völkerung, und noch mehr, in dem, Handel und Künste, die [302] Abhandlung zu speciell, und gehört mehr in die Politik, wo er sie auch zum Theil wiederholt. Den Unterschied zwischen qualitatibus primariis und secundariis, den Locke zuerst gemacht hatte, hat Ferguson wegen der Einwürfe, die nach Locks Zeiten gegen diese Theorie gemacht worden, auf eine neue Weise und scharfsinnig genug

190 | 3 Aus den Übersetzungen bestimmt; aber doch, wie mich dünkt, noch nicht richtig genug, um allen diesen Einwürfen zu begegnen. Nämlich: Lock sagt, einige der Eigenschaften, die wir den Körpern zuschreiben, sind wirklich in ihnen; und dieß sind Figur, Bewegung, Ausdehnung und Dichtigkeit: andre sind bloße Vorstellungen der Seele, die aus jenen Eigenschaften, wenn sie, auf gewisse Weise, auf ein künstlich gebautes Werkzeug wirken, entstehen; dergleichen sind Farbe und Geruch. Berkley kam nach ihm, und bewieß: auch die Dichtigkeit, auch die Figur, kann [303] in so weit wir sie empfinden, nicht im Körper seyn. Er | schloß: also sind alle Eigenschaften, die wir von den Körpern wissen, bloße Ideen; also giebt es keine Körper. Reid, den unser Verf. in Augen hat, giebt Berkleys Gründe zu, und leugnet die Folge. – Er führt erst weitläuftig den Satz aus, den unser Verf. annimmt: daß keine Sensation der Eigenschaft des Körpers, von der sie veranlaßt wird, eigentlich ähnlich seyn könne. Er schließt aber hieraus: weil keine ein Bild der Sache, in einem besondern Verstande, ist, so sind sie alle auf gleiche Weise willkührliche Zeichen der Sache, die die Natur bestimmt hat, uns Begriffe von den äußern Körpern zu geben. Daß wir uns also äußre Körper dabey denken, und, wir mögen wollen oder nicht, denken müssen, da doch eigentlich keine unsrer Empfindungen, den körperlichen Eigenschaften, wie Bildnisse dem Originale, ähnlich sind: eben dieß zeigt, daß Körper seyn müssen, weil sich sonst gar kein Grund von dieser nothwendigen und unwillkührlichen Vorstellung äußrer Dinge angeben ließe. Diese Theorie, welche den Unterschied zwischen den Grund- und abgeleiteten [304] Eigenschaften des | Locke aufzuheben scheint, nimmt unser Verf. an; aber er stellt diesen Unterschied wieder unter einer andern Gestalt her. Und wahr ist dieser Unterschied, auch wenn wir nicht zu entwickeln wüßten, worinnen er bestehe. Bey allen Empfindungen, sagt Ferguson, schreibe ich dem Körper gewissen Beschaffenheiten zu, von denen diese Empfindungen erregt werden sollen; dieß zeigt der allgemeine Sprachgebrauch, der dem Körper Wärme und Farbe zuschreibt. Aber bey einigen dieser Empfindungen supponire ich bloß eine solche Beschaffenheit, weiß aber nicht, worinnen sie bestehe, als bey der Wärme und Farbe; bey andern nehme ich sie nicht bloß an, sondern ich mache mir auch einen Begriff davon, als bey der Figur und Solidität. Diese Materie würde uns zu weit führen, wenn wir sie verfolgen wollten: denn in der That ist hier noch einige Dunkelheit, die vielleicht noch genauere Beobachtungen über die Sinne und ihre Werkzeuge erfordert. – Zwischen der Sensation, der Wahrnehmung einer körperlichen Veränderung, und der Perception, der Vorstel[305] |lung eines außer uns vorhandnen Dinges, ist auf der einen Seite ein Zusammenhang, der bey dem Gefühl, und auf der andern eine Verschiedenheit, die bey dem Gesicht augenscheinlich ist. Was es mit diesem Zusammenhange und mit dieser Verschiedenheit für eine Beschaffenheit habe, ist wirklich noch nicht recht deutlich. – Das indessen angenommen, was Reid ausgeführt hat: so, deucht mich, könnte der Unterschied, der sich zwischen den Empfindungen der Figur und zwischen den

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Empfindungen der Wärme und Farbe findet, am leichtesten so angegeben werden. Beyde sind auf gleiche Weise nicht Eigenschaften der Sache, sondern Wirkungen derselben; Wirkungen nämlich auf einen so organisirten Körper. Von diesen Wirkungen lassen sich einige weiter nicht erklären, und können nur als einfache Ideen angesehen werden. Wenn diese hingegen einmal bekannt und angenommen sind: so können andre auf diese zurückgeführt werden; d. i. es kann gezeiget werden, wie die Idee von Figur und Ausdehnung und Solidität, wenn sie durch den verschiednen Bau der Werkzeuge, auf welche jene Eigenschaften der | Körper wirken, modificirt [306] wird, sich in die Idee von Farbe, von Geruch und Geschmack verwandeln könne. – Wirkt der äußre Körper bloß als Materie, auf unsern Körper bloß als auf einen empfindlichen: so entsteht die Sensation, und die Wahrnehmung der Grundeigenschaften; und wirkt der äußre Körper vermöge seiner besondern Structur, oder durch ein auf besondere Art eingerichtetes Medium, und auf einen künstlich zusammengesetzten Theil unsers Körpers: so ensteht daraus die Perception der abgeleiteten Eigenschaften: so daß also diese Ideen nur Zusammensetzungen und Modifikationen von jenen zu seyn scheinen. In dem Theil, wo der Verf. von den Fähigkeiten des Verstandes handelt, thut er mir am wenigsten Gnüge; als Psychologie ist es nicht vollständig, nicht tief genug; als eine Einleitung der Moral ist es nicht interessant genug, nicht von der Seite gezeigt, von welcher dem Menschen diese Kenntnisse seiner Fähigkeiten zu seiner Verbesserung hilft. Zur moralischen Vollkommenheit des Menschen arbeitet jede Fähigkeit mit. Wir [307] wissen es selbst, daß, so oft wir gewisse Sachen mit mehr Muth, oder mit einem höhern Grade von Wohlwollen thun, wenn uns die Aufopferungen der Mäßigkeit leichter werden, auch unser Kopf in einem andern Zustande, als gewöhnlich, seyn, auch unsre Ideen einen andern Fluß haben müßen. Es fehlt uns noch eine Moral, worinn dieser Zustand des tugendhaften Menschen im Ganzen geschildert würde. Eine andre Seite von welcher die Untersuchung dieser Fähigkeiten der Moral näher gebracht werden könnte, wäre, wenn dabey genau gemerkt würde, wo unser Unterschied von den Thieren eigentlich anfängt; welches die eigenthümliche Art unsers Empfindens, unsers Erinnerns und unser Vorhersehens ist, durch welche wir des Begriffs von Vollkommenheit in uns, und Rechtmäßigkeit in unsern Handlungen, fähig werden. Man wird übrigens hier den einsichtsvollen Mann nicht ganz vermissen, wenn [308] man auch nicht immer den tiefsten Philosophen findet. Man wird hier wieder gewahr, was fast jede neue Abhandlung über die Fähigkeiten uns lehren kann, daß die Abtheilung derselben viel willkührliches habe, und daß es zum Theil von unsrer Sprache, und von dem Gebrauch unsrer Wörter abhänge, wie viel verschiedne Fähigkeiten wir annehmen sollen. Unsre deutsche Philosophen unterscheiden gemeiniglich zwischen Imagination und Gedächtniß so, daß jenes die bloße Erneuerung der alten sinnlichen Vorstellungen, und dieß die Wiedererkennung derselben, als ehemals gehabter, bedeutet. Aber alsdann bleiben doch noch sehr wichtige Unter-

192 | 3 Aus den Übersetzungen schiede ohne Namen. Diese Unterschiede würden so, wie ich sie jetzt einsehe, vollständig folgende seyn. Entweder fällt uns eine Idee bloß bey Gelegenheit einer andern ein, oder wir erinnern uns ihrer mit Fleiß und nach Absicht. Dieses ist der Unterschied, den Ferguson durch die Wörter leidendes und thätiges Gedächtniß ausdrückt. Im gemeinen [309] | deutschen Sprachgebrauch heißt Gedächtniß bloß das thätige. – Aber bey diesem Unterschiede, wenn er völlig deutlich gemacht werden soll, kömmt immer die schwere Frage vor, wie viel Gewalt wir über unsre eigne Ideen haben, und in wie weit es von uns abhänge, zu denken, was wir wollen. Man sieht leicht, auf welche Weise diese Untersuchung mit der Untersuchung von der Freyheit überhaupt zusammenhängt; und wir haben gesehn, daß die Schwierigkeiten hier unauflöslich sind. Der andre Unterschied ist: zwischen der bloßen Erneuerung der Ideen, und der Wiedererinnerung des ehemaligen Zustandes, in welchen wir diese Ideen hatten. Memorie und Reminiscenz. Der dritte Unterschied ist zwischen der Erneuerung eines bloß abstrakten Idee und mit Wörtern, und der Erneuerung der ganzen Empfindung durch ein Bild. – Dieß letztre ist, was unser Verfasser Imagination heißt, und was diesen Namen eigentlich verdient. Ein vierter Unterschied würde seyn, die Imagination, die sich körperliche Emp[310] findungen; und | die, welche sich geistige Empfindungen am lebhaftesten wieder vorstellen kann. Das erste ist die Imagination des Dichters und des Tonkünstlers; das andre ist die Imagination des Dichters und des Philosophen. 1. Th. 2. Kap. 8. Abschn. Raisonnement, für welches wir kein deutsches Wort haben, ist die ganze Ausübung der denkenden Fähigkeit. Ferguson bringt diese Ausübungen unter drey Klassen, der Erfindung, der Anordnung und des Argumentirens. Das verstehe ich so: Nachdem wir unsre Vorstellungen von den Sinnen und dem Bewußtseyn bekommen haben, so ist alles, was wir mit denselben vornehmen, entweder, dieselben, so wie wir sie empfangen haben, bloß in gewisse Reihen zu bringen, an einander zu hängen, und auf diese Weise sie in unsre Gewalt zu bringen; das thun wir, wenn wir unsre Bemerkungen in Geschichten sammlen, – oder aus denselben allgemeine Begriffe herauszuziehn; – oder diese allgemeine Begriffe selbst unter einander zu vergleichen, und zusammenzuhängen. Das erste ist Ar[311] ran|gement, das zweyte Investigation, das dritte Argument – Und in diesem Verstande erschöpfen, glaube ich, diese drey Wörter alles, was in unsern Wissenschaften vorkömmt; in den Wissenschaften sage ich, weil diese einigermaßen die Gränzen und die Verschiedenheit unsres Denkens angeben können. Wir beobachten, d. h. wir sehen und hören, aber genauer, als sie gewöhnlichen Menschen, mit schärfern Sinne, und mit einer größern Aufmerksamkeit. Wir sehen und hören was selten vorkömmt, oder was wir selbst veranstalten; diese Beobachtungen sammeln wir.

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Auf der einen Seite fassen wir die wirklichen Dinge nach ihren Ähnlichkeiten unter Klassen, auf der andern die Veränderungen und Wirkungen derselben unter Gesetze. Diese Klassen und diese Gesetze werden an und für sich, ohne Rücksicht auf ihre Wirklichkeit, betrachtet, und werden ein Gegenstand der eigentlichen Wissenschaft. Die Mathematik ist davon das vornehmste Beyspiel und Muster. Diese Wissenschaft wird wieder auf die wirklichen Gegenstände angewandt.| Diese Anwen- [312] dung vollendet und schließt den Zirkel der menschlichen Erkänntniß. Ebend. 9. Abschn. Aus der Vorhersehung würde ich keine eigne Fähigkeit machen: sie ist schlechterdings nichts weiter, als Raisonnement angewandt auf die Begebenheiten und die Vorfälle der Welt. Der Engländer hat hier in seiner Erklärung Wörter, die es schwer fällt, durch ähnliche deutsche zu geben, penetration und sagacity. Das erste ist die Gabe, mehr Umstände der Sachen und schneller zu sehen; dieß soll die Gabe seyn, zu errathen, was aus solchen Umständen wahrscheinlicher Weise folgen kann. – Aber so ist diese Sagacität im Grunde eben so viel als Vorhersehung. Eben das wollten wir noch deutlicher wissen, wie wir aus den gegenwärtigen Umständen diejeningen, die folgen werden, herausbringen; und warum dieß ein Mensch richtiger und geschwinder herausbringt? Ebend. 10. Abschn. Propensity soll nicht heißen Trieb, denn dabey denken wir beynahe bloß thierischen Instinkt;| nicht Neigung; denn dieß ist jede von Natur oder Gewohnheit ent- [313] springende Anlage zu Begierden. Es soll die in der Natur der Seele selbst liegende Arten der Thätigkeit bezeichnen, in so weit sie sich unterscheiden lassen, ohne noch auf die Gegenstände zu sehen, mit welchen diese Thätigkeit umgeht. Ein solcher Trieb, gesichtet gegen einen bestimmten äußern Gegenstand, ist Begierde. – Bey dem Thier ist jeder Trieb zugleich Begierde nach einer gewissen Sache. Bey dem Menschen tritt zwischen beyde noch das Urtheil, welches den Gegenstand bestimmt, der zur Stillung des Triebes, oder zur Beschäftigung der ursprünglichen Thätigkeit, das Mittel seyn soll. Dieses Urtheil ist nicht ganz unbestimmt und willkührlich: denn es giebt gewisse unveränderliche Eindrücke, welche andre Körper auf den unsrigen machen; und es giebt unveränderliche Wirkungen, welche sie in demselben hervorbringen, wenn sie mit ihm vereiniget werden. Kein Urtheil kann bitter süße, und Gift zu einem Nahrungsmittel machen. Aber es ist auch nicht so einfach und eingeschränkt, als bey den Thieren;| denn unsre Empfindungen von [314] den Dingen hängen sehr von unsrer eignen Gesinnung, unsrer Denkungsart, und der Gewohnheit des Körpers ab; und selbst die Wirkungen der Dinge auf unsre Erhaltung, können entweder durch ihre Bearbeitung, oder durch die Abhärtung und Gewöhnung unsrer selbst, weit mehr verändert werden, als es bey den Thieren möglich ist.

194 | 3 Aus den Übersetzungen Dieß wird uns den Unterschied zwischen thierischen und vernünftigen Trieben aufklären. Jene gehen nur auf ein gewisses äußres Ding, entstehen nur bey dem Anblick desselben, oder gehen nur mit der Aufsuchung desselben um. Diese gehen auf das Wesen selbst, welches diese Triebe hat. Das hungrige Thier sieht nur sein Futter; der hungrige Mensch sieht sich selbst und seine Ernährung; das Thier will die Sache, der Mensch will die Wirkung derselben; das Thier empfindet sich nur, insofern ein äußres Ding seinen Körper verletzt oder befriedigt; der Mensch empfindet sich selbst abgesondert von den äußern Dingen, und verlangt diese, nicht an [315] sich, sondern weil er den Einfluß derselben über sich einsieht. – | Wenn ich sage, der Mensch handelt so: so behaupte ich nicht, daß er nicht jene thierische Triebe auch habe, daß er bey dem Anblick der Speise oder der Lust nicht auch einen unmittelbaren Zug fühlt; aber ich behaupte, daß wenn er nichts weiter fühlt, wenn er sich selbst ganz aus den Augen verliert, wenn er ganz in dem Gegenstande seiner Begierde existiert: so sey er nur Thier. Ob nun alsdann die Eintheilung, die Ferguson von den thierischen und vernünftigen Trieben gemacht hat, die beste sey, die beste, das will sagen, welche die Sachen von der intereßantesten und treffendsten Weise vorstelle, (denn wahr sind fast hier die Vorstellungen jedes Menschen, der nur seinen eignen Empfindungen nachgeht) das mag der Leser beurtheilen. – Zuerst dünkt mich, daß bey diesen Eintheilungen erstaunlich viel willkührliches sey. Denn wie werden sie gemacht? Man nimmt die unter den Menschen herrschenden Begierden: man theilt die Gegenstände derselben in die allgemeinsten Klassen, die man finden kann; und nach den [316] Klassen derselben theilt man die Triebe ein. Hätte man sich allgemeinerer Aus|drücke bedient, so würden der Triebe weniger worden seyn; und hätte man speciellere, so würden ihrer mehrere. Überdieß scheint es mir, daß jedes Objekt einer thierischen Begierde, auch das Objekt einer vernünftigen Begierde werden kann. Nur in der Art des Begehrens ist ein Unterschied. In jener macht die Sache bloß einen unmittelbaren Eindruck, und äußert einen unmittelbaren Zug; in dieser wird sie erst auf den Menschen selbst bezogen, und äußert ihre Gewalt nur vermittelst des Vortheils, den sie diesem verspricht. Bey den thierischen Begierden, will der Mensch nur die Sache genießen, und vergißt sich selbst: bey den vernünftigen will er sich selbst und seine Vollkommenheit genießen, und denkt an die Sache, weil sie ihm diesen Genuß befördert oder hindert. Nur kömmt noch der Umstand dabey vor, daß gewisse Objekte einen solchen unmittelbaren Eindruck gar nicht machen, und also uns ganz gleichgültig seyn [317] würden, wenn wir sie nicht als Hülfsmittel zu unsrer Verbesserung ansähen, an|dre hingegen einen so gewaltsamen unmittelbaren Eindruck auf den Körper machen, daß es uns kaum möglich ist, die Beziehung derselben auf unser eigen Wesen zu denken. – Jenes würden alsdann die Gegenstände der bloß thierischen, dieses die vernünftigen Begierden, seyn.

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Ferguson zählt von jeden drey, den Hunger, den Trieb zur Fortpflanzung, und die Neigung zum Schlaf; von diesen vier, die Sorge für die Selbsterhaltung, die Zuneigung der Ältern und Kinder, die Neigung der Geschlechter gegen einander, die Geselligkeit, und die Begierde nach Vollkommenheit. – Er hätte die erstern kürzer und vollständiger so eintheilen können; Anfüllung und Ausleerung. Der gesunde, natürliche Zustand ist der, auf welchen der thierische Trieb überhaupt geht. Von diesem weicht der Körper aus, entweder, wenn Theile abgehen, oder wenn sich andre häufen. Die körperliche Lust entsteht, wenn jener Mangel ersetzt, oder dieser Überfluß weggeschafft wird; auf so vielfache Art dieß geschehen kann, so viel finde ich körperliche Triebe. Unter den letztern, scheint mir nur die Begierde nach Voll|kommenheit, eine ganz reine vernünftige Begierde zu seyn, weil sie ganz allein [318] auf den Menschen selbst geht; die aber niemals so unvermischt wirklich existirt, sondern sich immer mit dem sinnlichen Eindruck irgend eines Gegenstandes vermischt, einem Eindrucke, der von der Vollkommenheit, die durch ihn hervorgebracht oder befördert wird, ganz unterschieden ist. – So liegt in dem Triebe der Geselligkeit, erstlich der natürliche Zug, der durch die bloße Empfindung einer ähnlichen Gestalt und ähnlicher Bewegungen, in der ganzen thierischen Schöpfung, die lebendigen Wesen einander nähert; dieß ist die Geselligkeit der Thiere, die bloß in Heerden beysammen leben, ohne sich beyzustehen. Dann die aus den Vortheilen der Gesellschaft entspringende Neigung. Diese Vortheile beziehn sich nun entweder wieder auf gewisse andre bloß sinnliche Eindrücke; so ist diese Geselligkeit bey den Thieren, die gemeinschaftlich jagen oder bauen; – oder sie beziehn sich auf die Verbesserung des Menschen, die Ausbildung seiner Kräfte, die Beschäftigung seiner Thätigkeit;| und dann ist es die Geselligkeit des vernünftigen Geistes. [319] Anstatt dieser Einheilung also, die nicht evident genug gemacht, und bey der die Gränze nicht genau genug gezogen werden kann, würde, glaube ich, diese Materie besser seyn erklärt worden, wenn man, wie es die alten Philosophen thaten, die Geschichte erzählte, auf welche Weise nach und nach aus den thierischen Trieben die vernünftigen bey dem Menschen erwuchsen. So sagten diese wahrhaften Philosophen: Der Trieb der Erhaltung, und der Reiz der sinnlichen Lust, setzt zuerst den Menschen wie das Thier, in Thätigkeit; er lernt die Dinge andrer Menschen und seine Handlungen gegen sie erstlich dadurch schätzen, weil sie ihm Vergnügen verschaffen. So wie sich die Anzahl der Dinge erweitert, deren Wirkungen er erfährt, so breiten sich seine Begierden aus; so wie sich der Weg verlängert, auf welchem er zu diesen Wirkungen gelangt, so werden seine Begierden künstlicher. Hier ist die erste Gränzscheidung zwischen Mensch und Thier, und hier findet sich selbst ein Unterschied zwischen einer Thierart und der andern. Bey | wenig Thieren folgt die Handlung des Fressens unmittelbar auf die [320] Begierde des Hungers; die Hitze der Jagd, oder der Fleiß des Sammlens geht vorher. Aber bey keinem Thiere erfolgt die Befriedigung der Begierde so spät auf die Anstalten, die es zu diesem Ende macht als bey dem Menschen; bey keinem wird die Bestrebung des Thieres durch eine so lange Kette von Mitteln und Absichten fortge-

196 | 3 Aus den Übersetzungen führt, ehe sie bis an dieses letzte Glied gelangt. Wie weit sind die Arbeiten des Handwerksmannes oder des Ackerbauers, wenn sie gleich alle auf nichts weiter abzielen, als ihm Brod oder ein Kleid zu verschaffen, doch von diesem letzten Ziele entfernt? Aber das ist noch nicht alles. Wenn die Mittel der Erhaltung für den Menschen, durch Errichtung der Gesellschaft, reichlicher werden; wenn er Überfluß für sich findet, zu dessen Herbeyschaffung er nicht seine ganze Zeit und Kräfte braucht; wenn er zugleich durch die Mittheilung der Ideen aufgeklärt wird: dann fängt er an, einen Endzweck seiner Handlung in sich selbst zu finden; denn bemerkt er, daß, [321] wenn er auch völlig satt, bekleidet, unter einem guten Dach,| mit allem Hausgeräthe versehen ist: doch noch für ihn etwas zu thun übrig bleibe. – Er geht noch einen Schritt weiter; er wird gewahr, daß in diesen Handlungen selbst, wodurch der Mensch sich Nahrung und Bequemlichkeit verschafft hat, insofern sie aus gewissen Kräften eines Geistes entstehen, insofern sie diese Kräfte üben, ein höheres Gut liege, als in den äußern Endzwecken selbst, die durch sie erreicht werden. Von diesem Augenblicke an, arbeitet er zwar in Gesellschaft mit dem übrigen menschlichen Geschlecht, und mit dem Reich aller lebendigen Wesen, dazu, sich zu erhalten, und sich und seinen Freunden die Hülfsmittel des physischen Lebens zu verschaffen; – denn was wollte er anders thun? welche andre Sphäre von Thätigkeit könnte er sich schaffen, wenn er aus dieser herausgienge? Aber er weiß nun, daß die Natur nicht sowohl diese vielen Trieben im Menschen erweckt hat, um ihm jene Bequemlichkeiten zu gewähren: als ihn vielmehr den Reiz jener Vergnügungen und Vortheile aufstelle, um diese Triebe in Bewegung zu setzen; um einem denkenden [322] Wesen Materie zu Vorstellungen, ei|nem empfindlichen Geiste Stoff zu Empfindungen, einem wohlwollenden Geiste Mittel der Gutthätigkeit, einem thätigen Gelegenheit zu Beschäftigung zu geben. – Dann nimmt jede Sache, leblose und lebendige, eine andre Gestalt für ihn an. Die Gegenstände und Veränderungen wurden zuerst von ihm nur angesehen, in sofern sie ihm Vergnügen oder Verdruß machen; jetzo, insofern sie Handlungen und Äußerungen seiner Vollkommenheiten veranlassen. In jener Betrachtung sind die Vorfälle bald gut bald böse; in dieser sind sie alle auf gleiche Weise gut. Denn es ist keiner, wo nicht die Ausübung einer Tugend oder die Beschäftigung einer besondern Fähigkeit möglich wäre. – Zuerst liebte er die Menschen weil er glaubte, daß sie ihm nutzen können; jetzo liebt er sie noch mehr, weil er das Wohlwollen für den Zustand eines vollkommnen Geistes hält. Ein Wesen, welches die Dinge nur unter dieser einzigen Beziehung sähe, unter der Beziehung, inwiefern sie gewisse Handlungen erfordern und veranlassen; ein [323] solches Wesen müßte ein ganz | reiner Geist seyn. Dieses Wesen allein könnte ein durchaus immer gleich glückliches Wesen seyn. Wir kennen nur Ein solches Wesen. – Ein Wesen, das diese Beziehung gar nicht bemerkte, gesetzt daß sie auch existire, das nur allein den Unterschied der Empfindungen kennte, bey welchen es selbst leidend ist, ein solches Wesen müßte nothwendig oft elend seyn; denn die Wirkungen der Dinge sind verschieden und abwechselnd, weil die Natur mannichfaltig und zusammengesetzt ist. Solche Wesen sind, so viel wir wissen, die Thiere. – Wenn es

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zwischen diesen beyden ein mittleres oder ein aus beyden zusammengesetztes Wesen giebt; das zwar die Verschiedenheit der sinnlichen Eindrücke von den äußern Dingen empfindet, diese Verschiedenheit nicht aufheben, die Begierde oder den Abscheu nicht vernichten kann, welche aus dieser Verschiedenheit folgen; ein Wesen, das anfangs, und eine lange Zeit, ganz allein durch diese Verschiedenheit in Bewegung gesetzt worden; das aber doch zuletzt, wenn auch spät, wenn auch nur zuweilen, gewahr wird, daß es selbst und seine Handlungen mehr werth seyn, als | alle die Dinge, die es durch seine Handlungen sucht oder sich verschafft: – dieses [324] Wesen muß einer beständigen und umwandelbaren Glückseligkeit desto näher kommen, je lebhafter es die Vorstellung der letztern Beziehung der Dinge, und je schwächer es die ersten machen kann. Ein solches Wesen ist der Mensch. Die Vorsehung, (so scheint es mir) führt alles, was lebt, auf einem immer gleichen Wege, durch Übung ihrer Kräfte, zur Vollkommenheit. Das Thier, in dem sie es mit seinem Futter, seiner Gattinn oder seinen Jungen beschäftigt. Den Menschen, indem sie ihn zum Ackermanne, Künstler und Regenten macht. Aber einigen ihrer Geschöpfe, die noch nicht reif genug sind, ihre Geheimnisse zu verstehn, hat sie ihre wahre und letzte Absicht verborgen. Dem besten, dem edelsten, mit einem Worte dem tugendhaften Menschen hat sie etwas davon offenbart. Arbeite, sagt sie ihm, um dein Brod zu gewinnen, dein Vermögen in Sicherheit zu stellen, dein Ansehn zu vermehren; um deinen Freunden, deiner Stadt, deinem Vaterlande alle diese Vortheile zu verschaffen: aber wisse, daß | du selbst weit mehr der Endzweck bist, warum jene Sa- [325] chen von mir auf deinen Weg gelegt worden, damit du dich mit denselben bearbeiten, deinen Verstand brauchen, dein Herz mit Neigung anfüllen, deinen Fleiß und deinen Muth üben könnest; als daß die Erwerbung jener Sachen der Endzweck wäre, warum ich dich gemacht habe. Daher, wenn du alle diese Sachen verfehlst: so bleibt dir immer der höchste Endzweck unverletzt. – Noch einmal also, alle Begierden, welche auf die Dinge gehen, insofern sie bloß Empfindungen erregen, sind thierische Begierden; alle welche auf eben dieselben gehen, insofern sie gewissen Handlungen veranlassen, sind vernünftige Begierden. Ebend. 11. Abschn. Das Wort Empfindniß ist bey uns von Abbten zuerst gebraucht worden, und obgleich nicht ganz in dem Sinne, in welchem Ferguson sentiment sagt: so ist es uns doch wohl erlaubt, das Wort zu bestimmen; da sentiment selbst bey den Engländern nicht immer genau heißt, was Ferguson will. Hier merkt man in der That den Mangel unsrer und fast einer jeden Sprache, [326] wenn die Verschiedenheiten, die wir in dem Zustande der Seele gewahr werden, ausgedrückt werden sollen. Aber unsre Sprache ist darinn wirklich noch weiter zurück, als irgend eine; theils weil wir keine lateinische Worte aufnehmen können, und im lateinischen doch zuerst philosophirt worden; theils weil unsre Sprache nicht mit unsern Wissenschaften zugleich kultivirt worden ist, sondern dieselben so zu sagen schon ganz fertig aus den Händen einer fremden Sprache erhalten hat.

198 | 3 Aus den Übersetzungen Was drücken wir nicht z. E. alles durch das Wort Empfindung aus? Die Franzosen haben sensation und sentiment, die Engländer, perception, sense, sensation und sentiment; Aber diese Wörter sind auf der einen Seite ein überflüßiger Reichthum, und erfüllen auf der andern Seite noch nicht alle Forderungen. Folgendes sind die Unterschiede, wie mich dünkt, vollständig, für deren jeden, eine ganz philosophische Sprache, ein eignes Wort haben müßte. Die Wahrnehmung der körperlichen [327] Eigenschaften durch die Sinne; das ist, was sen|sation im Französischen heißt: und die Wahrnehmung der innern Veränderungen durch das Bewußtseyn unsrer selbst; das ist, was Locke reflexion, und unser Verf. consciousness nennt. Aber bey den Empfindungen der äußern Sinne, können wir noch sehr wohl, das Gefühl einer körperlichen Veränderung, und die Vorstellung von einem gewissen Gegenstande unterscheiden. (Das Gefühl, das ich habe, wenn mich die Sonne blendet, ist sehr wohl von der Vorstellung unterschieden, die ich von ihrer Farbe oder Figur bekomme) – Jenes ist, was durch das Englische sensation ausgedrückt wird; und dieß ist perception; Bey den innern Empfindungen kann es so viel Klassen geben, als es Zustände und Handlungen des Geistes giebt, die sich unterscheiden lassen. Die Anzahl derselben ist unbegränzt: aber zweye derselben lassen sich am leichtesten unterscheiden; der Zustand der Seele, wenn sie gleichgültig ist, und der Zustand, wenn sie von Lust oder Unlust bewegt ist. – Diese Lust oder Unlust entsteht entweder aus der sensation d. h. der körperlichen Veränderung, oder aus der perception [328] d. h. der Vorstel|lung der Eigenschaften der Sachen. – Das letztre ist eigentlich was sentiment heißt; und worüber gestritten wird, ob es eine ursprüngliche oder eine abgeleitete Klasse des Vergnügens und Schmerzens sey. Ist das erste: so entspringt aus gewissen Beschäftigungen der denkenden Kraft Vergnügen an und für sich; ist das andre, so entspringt es nur insofern daraus, als wir uns vermittelst derselben gewisser körperlicher Vergnügungen und Schmerzen erinnern, oder dieselben voraussehen; das meint Epikur. – Ohne uns jetzt in diesen Streit einzulassen: so sehen wir, daß wir die Empfindlichkeit des Herzens eigentlich dem Manne zuschreiben, welcher ohne körperliche Lust oder Schmerzen von Dingen gerührt wird. – Von diesen Empfindungen entstehen nun einige wieder aus den Eigenschaften der Körper, als Schönheit, andre aus den Handlungen der Geister; und dieß sind die sogenannte moralische Empfindungen. ____________________ [329]

Ich will bey dieser Gelegenheit noch einige andre Beyspiele von Verschiedenheit der Sprachen anführen, theils um mich zu erklären, oder | zu rechtfertigen, wenn ich dunkel oder vielleicht falsch übersetzt habe; theils um die Begriffe selbst zu erläutern, die durch die Übersetzung nicht völlig haben ausgedrückt werden können. Diese Materie ist an sich trocken und unwichtig. Aber sie hat eine sehr angenehme und intereßante Seite. Wir lernen wozu die Kenntniß der Sprachen nutzen kann, wenn wir sehen, wie sich unsre Begriffe erweitern und verändern müssen, indem wir sie aus einer Sprache in die andre übertragen wollen. Überdieß

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wenn wir die genauen Unterschiede merken, die sich zwischen den Wörtern unsrer Sprache und den fremden befinden, so bereichern wir in der That unsern Kopf mit allen den Ideen, deren Zeichen uns die fremde Sprache anbietet, und die in der unsrigen fehlen. Die Schwierigkeit die beym Übersetzen überhaupt vorkömmt, ist beym Übersetzen eines Lehrbuchs noch größer. In einem rednerischen Stil kann man ein einzelnes Wort, dessen gleichbedeutendes man nicht hat, umschreiben; aber in dem didaktischen Stile, noch mehr, in einer Definition, wo eben dieses unübersetzliche | Wort das Definitum ist: da ist es schwer den Mangel zu ersetzen. Einige Beyspiele [330] werden die Sache deutlicher machen. Ridicule soll die Empfindung der Mißbilligung mit Fröhlichkeit vermischt seyn. – Das Scherzhafte und das Hohngelächter sollen die Unterarten davon seyn. Aber in dieser Allgemeinheit haben wir kein Wort. Lachen drückt bloß die körperliche Handlung, und gar nicht das Urtheil von der Sache aus, wodruch diese veranlaßt wird. Verlachen heißt schon mit Verachtung lachen. Belachen ist immer noch die Handlung, und nicht die Empfindung. Public spirit, welches Ferguson unter die Begierden zählt, ist nicht Patriotismus, denn er erstreckt sich auf jede Gesellschaft, deren Glied man ist, und am meisten auf das menschliche Geschlecht; es ist nicht Menschenliebe, denn die äußert sich auch gegen einzelne Personen, und der öffentliche Geist nur gegen ganze Partheyen: es ist der Hang der Seele immer sich als ein Theil eines Ganzen zu betrachten; es ist die Fähigkeit des Geistes, sich dieses Ganze lebhaft vorzustellen; es ist | die [331] warme Theilnehmung an allem dem, wovon wir sehen, daß es eine größre Anzahl unsrer Nebenmenschen beschäftigt. Keine Tugend, kein Charakter ist in der That bey uns seltner. Denn es gehören zwey Eigenschaften dazu, die beyde entweder dem Temperament unsrer jetzigen Deutschen weniger eigen sind, oder durch ihre Umstände schwerer gemacht werden: eine große Wärme und Ausdehnung der Imagination; und eine gewisse Festigkeit und Abhärtung des Geistes. Das erste; weil nichts uns rühren kann, was wir uns nicht vorstellen: – derjenige, welcher mit der Sorge für seine Stadt, für sein Vaterland oder für das menschliche Geschlecht, erfüllt seyn soll, muß auf gewisse Weise das Bild derselben mit sich herumtragen; dieses Bild muß unwandelbar und lebhaft seyn, wenn daraus eine herrschende Neigung der Seele entstehen soll. Das andre; weil wenn wir von unsern eignen Freuden und Schmerzen sehr gerührt werden, diese allemal das Herz ganz einnehmen, und fremden Empfindungen und einem entferntern Intresse keinen Platz lassen. Der Mann von öffentlichem Geiste, muß | sich selbst vergessen, und er muß an die [332] Stelle von sich, die Gesellschaft setzen können. Um sich selbst zu vergessen, muß er gegen Lust und Schmerz in seiner Person gleichgültiger, muß er von Hofnung und Furcht, in Absicht seines eignen Schicksals, frey seyn: diese Leidenschaften fesseln die Aufmerksamkeit des Menschen, und erlauben ihm keine fremde Idee. Um die Gesellschaft an seine Stelle setzen zu können, muß er abwesende Gegenstände sich

200 | 3 Aus den Übersetzungen gegenwärtig machen; muß er seine Imagination bis auf einen hohen Grad befeuern können. Um deswillen ist der öffentliche Geist nur die Tugend großer Seelen. _____________________ Wir haben kein Wort für Interesse. Es ist nicht Vortheil, denn dieß zeigt bloß den Gegenstand an, der Intereße erregt; nicht Eigennutz, denn dieß ist der Hang der Seele, immer durch sein Intereße regiert zu werden. Was ist es also dann? – Es ist die Theilnehmung an jeder Sache, insofern sie unmittelbar auf unsre Person, und [333] auf diese allein Einfluß hat. – Jede | Sache, die uns rühren soll, muß mit uns in Verbindung stehen, aber nicht jede unmittelbar; viele erst vermittelst der menschlichen Gesellschaft, auf welche sie, und die hinwiederum auf uns einen Einfluß hat. Jede Sache, die wir begehren sollen, muß uns nützlich seyn; aber nicht jede, insofern sie auf uns wirkt, und unsern Zustand angenehmer macht, sondern viele auch, insofern wir auf sie wirken, und unsre Natur dadurch vollkommner machen. Wer nun von demjenigen Einfluß der Dinge gerührt und getrieben wird, welchen sie unmittelbar auf ihn haben; und welchen sie auf die Veränderung seines äußern Zustandes, nicht auf die Veranlassung seiner Handlugen haben, der ist eigennützig. – Wenn der Eigennutz so bestimmt wird, so würde es leichter seyn, zu entscheiden, in wie weit alle unsre Handlungen aus der Selbstliebe entstehen, und wie sie demohnerachtet uneigennützig seyn können. _____________________ Emulation ist, wie es der Verfasser erklärt, nicht Nacheiferung, denn dieß ist eine Art zu | handeln, und jenes ist eine Empfindung, eine Verfassung der Seele; nicht Eifersucht, denn dieß ist theils durch den Sprachgebrauch bloß auf die Liebe eingeschränkt, und theils ist es mehr der Unwille über die Theilnehmung an einem unsrer Rechte, welches wir für ausschließend hielten, als Verdruß über den Vorzug des andern. Was ist dann also Emulation? Es ist die Schätzung der Vollkommenheiten und der Güter die wir besitzen bloß durch Vergleichung; es ist die Neigung sich hervorzuthun. Alles was ein Mensch in größrer Menge, oder in höherm Grade haben kann, als ein andrer Mensch, das kann ein Gegenstand des Wetteifers werden: – also auch die Tugend selbst, wenn ich auf die äußern Wirkungen derselben, und die Größe der Folgen sehe, die sie hervorbringt. Alles was auf den Menschen gar keinen Einfluss hat, außer einzig und allein durch die Idee des Vorzuges, die es ihm geben kann; das muß der Gegenstand des Wetteifers werden, oder es kann gar keine Leidenschaft erregen. Dasjenige nur allein, was ein vollständiges und untheilbares [335] Ganze | ist; dasjenige, welches allenthalben gleich ist, und also keinen Vorzug gewähren kann, aber auch der Idee des Vorzuges nicht bedarf; nur dieß kann lebhaft begehrt, und mit Eifer gesucht werden, ohne emulation zu erregen: dieß ist die Tugend als die Beschaffenheit eines Geistes betrachtet. Die Menschenliebe des Einen Menschen kann größre Folgen haben, als die Menschenliebe des Andern; aber die Liebe selbst ist dieselbe, oder hat wenigstens keinen gemeinschaftlichen Maasstab. Wem es nicht bloß darauf ankommt, zum Besten andrer zu wirken, son-

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dern auch darauf, das Verdienst zu haben, es ausgerichtet zu haben: der kann oft durch seine Umstände gehindert werden; er muß andre sehen die glücklicher sind als er; und muß elend seyn. Wem die Bemühung selbst, Gutes zu thun, so weit sie von ihm abhängt; wem die Neigung seiner eignen Seele, woraus die Bemühung herstammt, mehr werth ist, als der Erfolg, so gut er auch seyn mag: der arbeitet niemals umsonst, er sieht niemanden über sich, und er ist glücklich. _____________________ Probity wird durch Rechtschaffenheit ziemlich genau übersetzt. Aber wenn [336] Ferguson von dieser Tugend sagt, daß sie in einer mitleidigen candiden und liberalen Gemüthsfassung (temper) ihren Grund habe: so ist etwas entweder in den Begriffen unrichtig, oder in den Wörtern zweydeutig. Erstlich ist schon schwer zu bestimmen, was temper hier eigentlich heiße. Gemüthsfassung? Aber probitaet oder Menschenliebe selbst, insofern sie sich nicht in einzelnen Handlungen äußert, ist eine Gemüthsfassung, ein fortdauernder Zustand der Seele. Und dann, was sind Mitleiden, Candeur, Liberalitaet anders als Äußerungen der probitaet. Wie kann ich sie also als den Grund davon ansehen? Ohne Zweifel wollte Ferguson dieß sagen: der Mensch, welcher die Rechte anderer immer heilig halten soll, kann es nicht bloß aus Achtung für das Gesetz, sondern kann es nur aus Liebe für die Person thun. Wer den Armen nicht unterdrücken soll, muß nicht bloß daran denken, daß es Unrecht sey, ihn zu unterdrücken, sondern | er muß mit dem Armen selbst Mitleiden haben. Wer das Glück andrer beför- [337] dern soll, kann nicht bloß von der Pflicht getrieben werden, Gutes zu thun, er muß an dem Glück andrer selbst Vergnügen finden. Die Gemüthsfassung also, in der man an der Noth und dem Vergnügen andrer am meisten Theil nimmt, dieß ist auch die Gemüthsfassung, in der man ihre Rechte am höchsten achtet, und seine Pflichten gegen sie am strengsten beobachtet – Das Wort Candeur kömmt im 6ten Theile, unter den einzelnen Tugenden, die aus der Rechtschaffenheit fließen, wieder vor; und ich weiß nicht, ob ich es richtig genug durch ein ofnes Herz übersetzt habe. Ein deutscher Moralist würde sicher keine eigne Tugend daraus gemacht haben, weil er kein eignes Wort dafür in seiner Sprache gefunden hätte; dagegen würde er vielleicht von der Sanftmuth geredet haben, die beym Ferguson als eine besondre Art der Pflichten nicht vorkömmt. Aber auch selbst das Englische Candour heißt, glaube ich, im ordentlichen Sprachgebrauch etwas mehr, als was Fergu|sons Erklärung sagt. Es ist, spricht er, die Bereit- [338] willigkeit, dem, der Rechte auf mich, oder Vorzüge über mir, zu haben glaubt, diese Rechte und diese Vorzüge leicht zuzugestehen. – Das ist in der That, was das ofne Herz thut: es verstattet fremden Verdienste leicht Eingang; es läßt sich leicht durch das was schätzbar an andern ist, zur Hochachtung, oder durch das was liebenswürdig ist, zur Freundschaft bewegen. Nur das ofne Herz thut noch mehr: es theilt sich auch selbst mit; es läßt keine Gesinnungen sehen; es zeigt selbst hinwiederum, was es edles oder schönes in seinem Schatze verwahrt. – Candeur aber in der gewöhnli-

202 | 3 Aus den Übersetzungen chen Bedeutung ist von einem noch weitern Umfange. Nach dem lateinischen Ursprung zeigt es eine reine, unschuldige, heitere Seele an. Bewußtseyn der Unschuld, Freyheit von stürmischen Leidenschaften, und Wohlwollen, kommen in diesem Charakter zusammen. Offenherzigkeit ist davon eine natürliche Folge: denn wer hat nöthig sich zu verbergen, wenn das vergangne ihm rühmlich, und seine jetzige [339] Gesinnung dem andern vortheilhaft ist.| Ein zuvorkommendes Herz, das Candour unsres Verf. ist eine zweyte Folge. Denn was den Menschen von dem Menschen entfremdet, ist Eigennutz oder Stolz; und beydes sind verdrüßliche, gehäßige Leidenschaften: es sind eben die Flecken, welche die natürliche reine Farbe des Herzens verstellen. – Pleasure (Vergnügen) fast Ferguson, ist enjoyment (Genuß) ohne Bestimmung der Art und der Wichtigkeit des Genußes. Ich weiß keine zwey deutschen Wörter, die von einander völlig so unterschieden wären wie pleasure und enjoyment. Und ich gestehe sogar, daß ich diesen Unterschied noch nicht völlig gefaßt habe. – Ohne die Erklärung des Fergusons, würde ich ihn darinnen gesucht haben, daß pleasure die Sache welche ergötzt, zugleich mit der Beschäftigung der Seele anzeigt, in welcher die angenehme Empfindung eigentlich enthalten ist: enjoyment aber nur den Actum des Vergnügens selbst anzeigt. Aber dieses macht Fergusons Definition nicht deutlicher. – Ich verstehe die Sache, wenn ich auch von den Wörtern nicht Rechen[340] schaft zu geben weiß. Ver|gnügen oder Lust, will Ferguson sagen, wäre allerdings ein Wort, das für Glückseligkeit gelten könnte, wenn man auf das, was in jedem Actu des Vergnügens thätiges ist, eben so wohl sähe, als auf das leidende. Ich will deutlicher reden. Alles angenehme entspringt entweder aus Empfindungen, die andre Dinge oder wenigstens unser Körper in uns hervorbringen, oder aus Handlungen, die wir selbst thun; oft ist beydes vermischt. Gemeiniglich verstehen wir unter dem Wort Vergnügen, bloß das, was in unserm Zustande angenehmes ist, durch den Genuß, wobey andre Gegenstände auf uns wirken; nicht durch die Arbeit, wobey wir selbst wirken. – »Aber bey jedem Genuß ist auch eine Beschäftigung.« – Ja, insofern wir den Gegenstand gewählt haben; insofern wir die Zeit und das Maaß bestimmen; insofern wir durch unsre eigne deutlichen Ideen die dunklen Eindrücke der sinnlichen Lust begleiten. Wenn also in der ganzen Veränderung, durch welche uns die angenehme Empfindung verschaft wird, das was wir dabey thun und denken, abge[341] sondert wird, von dem das wir | bloß genießen: so ist nur das letztere die eigentliche sogenannte Lust. Man sieht, warum er pleasure so bestimmt. Er will nicht, daß Vergnügen Glückseligkeit seyn soll. Das würde nur ein Wortstreit seyn, wenn es bloß darauf ankäme, was Vergnügen bedeuten soll. – Aber das ist keiner, welches der letzte Endzweck ist? Ob wir alle Handlungen thun, bloß um uns Gegenstände zu verschaffen, die uns angenehme Empfindungen beybringen; oder ob die Dinge deswegen geschickt sind, in uns angenehme Empfindungen zu erregen, damit sie uns in einen Zug von Handlungen und Geschäftigkeit verwickeln soll. Ist der thätige Theil unsrer selbst bloß um des leidenden willen da; sind wir nur deswegen mit Kräften versehen, die auf

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andre Dinge wirken, damit wir gewisse Wirkungen dieser Dinge auf uns wieder erhalten und andre vermeiden sollen: oder ist es umgekehrt; sind die Wirkungen der Dinge auf uns deswegen mannichfaltig, damit wir Gegenstände, nach denen wir trachten, und Gegenstände, denen wir widerstehen könnten, finden sollen. Ist die Materie das erste und einzige Wesen, so ist das erste gewiß: ist das erste [342] und vornehmste Wesen ein Geist, so ist das andre wahrscheinlich. – Denn wenn es von der Welt einen geistigen Urheber giebt, so muß es eine Absicht geben; und wo es eine Absicht in der Welt giebt, so muß in den Geistern diese Absicht liegen. Also was diese Geister selbst sind, was aus ihnen wird, wie sie sich verbessern: darauf muß in der ganzen Natur am meisten ankommen. Die materielle Welt kann der Vollkommenheit nur fähig seyn, insofern sie zur Vollkommenheit der Geister beyträgt. Und wie kann sie das? – indem sie der Gegenstand, die Gelegenheit, die erste Veranlassung zu den Handlungen der Geister wird. Und wie kann sie diese Gelegenheit werden? – indem sie Lust oder Schmerz erregt. Die Erlangung der Lust ist die erste Absicht, um derenwillen der Mensch handelt; die Handlungen des Menschen selbst sind die letzte Absicht, um welcher willen die Natur ihm Lust gewährt. ____________________ Unter den Sanktionen der Gewissenspflicht (duty) zählt Ferguson auch public [343] repute; öffentlichen Ruf habe ich es gegeben, aber ohne daß ich dieß Wort für ein gleichbedeutendes halte. Es ist nämlich für die Erklärungen Fergusons zu eingeschränkt; es zeigt bloß den guten Namen oder den Ruhm an. Besser würde es in der populairen Schreibart, die gemeine Sage heißen: denn dieß ist es eigentlich; die Meinungen, die Urtheile andrer Menschen, es sey von den Handlungen überhaupt, (dieß ist der Einfluß herrschender Meinungen und Beyspiele wovon Ferguson in der Erklärung redet:) es sey von unsern Handlungen insbesondre, (dieß ist der Einfluß von Lob und Tadel.) Das was die Menschen sagen, es sey von uns, es sey von dem menschlichen Betragen überhaupt, das bestimmt größtentheils unsre Aufführung. Einmal, durch Nachahmung; indem wir unmerklich, und ohne es selbst zu wissen, die Meinungen, die Sitten an uns nehmen, die jedermann um uns herum hat. Zum andern durch Ehrbegierde; indem wir uns um das, was | andre loben bestreben, und [344] von dem zurückhalten was sie tadeln. »Aber wie kann dieß eine Sanktion der Tugend heißen? Wenn die herrschenden Meinungen falsch, die Sitten verdorben sind, und Lob und Tadel falsch ausgetheilt werden: so wird die Gewalt, die jene über uns, und die Achtung, die wir für diese haben, eben sowohl das Principium des Lasters seyn können?« Demohnerachtet zeigt es noch die Erfahrung, daß auch in verdorbnen Völkern und Zeitaltern, das Was werden die Leute sagen? als ein Verstärkungsmittel zu den Bewegungsgründen der Pflicht, oder als ein Abschreckungsgrund von den Reizungen des Unrechts gebraucht wird. Und wie das? – Ohne Zweifel, weil die Menschen von Handlungen andrer, bey welchen sie nicht intereßirt sind, gemeiniglich recht urtheilen; weil auch aus den verdorbensten Zeitaltern das Böse was geschah, doch

204 | 3 Aus den Übersetzungen als Böse uns ist überliefert worden; weil diejenige Gesinnungen der Menschen, welche sie öffentlich an den Tag legen, zu welchen sie sich gegen jedermann bekennen, gemeiniglich rechtmäßige Gesinnungen sind. [345] Bey dem allen aber würde ich diesen öffentlichen Ruf, nicht sowohl als ein Mittel ansehen, uns zu den einzelnen Pflichten aufzumuntern, als vielmehr uns zu lehren, daß es überhaupt einen solchen Unterschied in der Natur giebt, als zwischen Pflicht und Verbrechen ist. Wenn man fragt: wie wird bey den Menschen die Wahrnehmung dieses Unterschiedes hervorgebracht? so ist die vollständige Antwort diese. Es muß dieser Unterschied, wenn er keine Schimäre ist, in der Natur jedes Menschen liegen; es muß ihn also auch jeder Mensch in sich selbst finden können. Aber der Weg dazu ist lang. Erst muß er den Unterschied von Vergnügen und Schmerz kennen lernen; dann den Unterschied von Nutzen und Schaden, d. h. von der Kraft der Dinge, Vergnügen oder Schmerz zu machen; dann muß er diesen Nutzen oder Schaden weit auf die Zukunft voraussehen, und das jetzt schon wählen oder verwerfen lernen, was zu einer ungewissen Zeit eine noch unbestimmte Lust verspricht, oder einen unbestimmten Schmerz droht; dann muß er insbesondre den Nutzen oder Schaden ein[346] sehn, der ihm aus an|drer Menschen Handlungen zuwächst; von dem Nützlichen oder Schädlichen der einzelnen Menschen muß er zur Erkenntniß, oder vielmehr zur Empfindung (denn zur Einsicht ist dieß Objekt schon zu weitläuftig) der Vortheile fortzugehen, die ihm aus der menschlichen Gesellschaft überhaupt zuwachsen; von da muß er nun weiter seine Handlungen unterscheiden, insofern sie diese Gesellschaft erhalten, oder zerrütten; von Handlungen, die einzeln der Gesellschaft vortheilhaft sind, muß er zu solchen hinaufsteigen, wovon keine allein genommen einen merklichen Einfluß hat, sondern die nur zur Erhaltung der Gesellschaft beytragen, insofern sie allgemein angenommen und ausgeübt werden: Und dann ist er endlich bey dem Begriff Gerechtigkeit. Aber er ist noch nicht bey dem Begriff Tugend. Nun muß er noch diese Handlungen die er bisher betrachtete nach ihren Folgen, auch betrachten nach ihrem Ursprunge; er muß empfinden, daß der Zustand seiner Seele, in welcher er die gerechten Handlungen am leichtesten am öftersten thut, zugleich der Zustand der Vollkommenheit und Glückseligkeit sey. [347] Diesen Weg nun gieng das menschliche Geschlecht, um zu diesen kostbaren Ideen, unserm Eigenthum und unserm Ruhm in der thierischen Schöpfung, zu gelangen; aber der einzelne Mensch geht ihn nun nicht mehr. Der findet in der Sprache schon Wörter; in den Reden seiner Ältern und Gespielen Urtheile; in ihrem Betragen beobachtete Regeln: welche ihm die Begriffe von Recht und Unrecht beybringen, ehe er sie selbst noch aus seinen Empfindungen hat entwickeln können. – Den Unterschied von Vergnügen und Verdruß lehrt ihn die Natur; den Unterschied von Nutzen und Schaden erfindet er bald selbst. Aber er sieht, daß sich jene Wörter und jene Regeln noch aus diesen Unterschieden nicht gänzlich verstehen lassen. Er nimmt sie also an, als Merkmale, daß noch Verschiedenheiten bey den menschlichen Handlungen vorkommen, die er zwar noch nicht empfindet, von denen er aber

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auf das Ansehen der übrigen Menschen glaubt, daß sie vorhanden sind. Er beobachtet diese Regeln, ob er gleich den Trieb dazu in sich selbst noch nicht fühlt, und ihren Grund nicht einsieht. Vielleicht bleibt | ein großer Theil der Menschen hiebey [348] stehen: und in einem gesitteten Lande, bey guten Gesetzen, und einem vernünftigen äußern Gottesdienste kann man bey diesen bloß auf Treu und Glauben angenommnen Regeln des Rechts ein ehrlicher und gutthätiger Mann seyn; aber ein tugendhafter glückseliger Mensch kann man nicht werden. Dazu gehört, daß man den Ursprung jener Begriffe, und die Ursachen zu der Festsetzung jener Regeln in seiner eignen Natur aufsuche; daß man sie da finde; und daß man diese anfangs erkünstelte Neigung, wenn ich so sagen darf, die Neigung zur Tugend, in eine natürliche verwandele, indem man sie mit den uns immer beywohnenden Grundneigungen unsrer Natur in Zusammenhang bringt. – Aber auch alsdann wird diese public repute, ein gutes und oft ein nothwendiges Mittel seyn, diese Begriffe zu unterstützen. Auch der Gute und der Weise wird zuweilen, um sich zu überzeugen, daß Recht und Tugend wahre Begriffe sind, darauf zurücksehen müssen, daß es Begriffe des ganzen menschlichen Geschlechtes sind, und daß es also wenigstens Folgen der Ge|setze seiner Natur, wenn auch nicht wirkliche Unterschiede der Dinge wären. Um [349] sich zu Beobachtung der Regeln, die er sich dem zufolge von einzelnen Handlungen gemacht hat, immer aufzumuntern, wird er zuweilen des Gedankens nöthig haben, daß diese Handlungen von allen oder den besten Menschen für etwas lobenswürdiges und edles erkannt werden. – Irrthum und Laster also können zwar so allgemein werden, daß, sich nach einzelnen Urtheilen oder Beyspielen seiner Zeitgenossen richten, so viel heißt, als sich verderben. Aber daß es einen Unterschied zwischen Recht und Unrecht gäbe; daß in den menschlichen Handlungen etwas Tugend und etwas Laster heißen könne; daß jenes etwas achtungswerthes und dieß etwas verabscheuenswürdiges seyn soll: das werde ich immer aus den Urtheilen der Menschen lernen können. ______________________ Das Wort Tendency drückt einen sehr richtigen philosophischen Begriff aus, der uns schwer fällt deutlich zu machen, und der doch besonders bey dem Beweise von dem Daseyn Gottes aus | den Absichten der Dinge wichtig ist. Dieser Beweiß sagt [350] man, ist ein Zirkel, weil er schon durch die Benennung der Phänomene die Erklärung voraussetzt, die erst aus den Phänomenen geschlossen werden soll: und man hat Recht, wenn man Absicht in seinem eigentlichen und genauesten Sinne nimmt. Aber man hat nicht Recht, wenn man darunter diese Tendency, die Abzielung der Dinge versteht. Nämlich: Tendency ist nicht so viel als Wirkung; denn das ist ein bloßes Factum: was die Sache wirkt, das erkennen wir sobald wir sie das erstemal sehen; aber wohin sie tendirt, dazu gehört wiederholte und lange Erfahrung. Tendency ist nicht Absicht, denn das setzt schon einen Willen und einen Verstand bey dem Dinge oder seinem Urheber voraus; und davon sagt tendency nichts. Es ist also nichts als die Erfahrung, daß viele Dinge zu einerley Wirkung zusammenstimmen;

206 | 3 Aus den Übersetzungen oder daß entfernte Ursachen durch einen gewissen Lauf sich immer gleichförmig in denselben Folgen endigen; es ist die Erfahrung, daß es in der Welt gewisse Mittel[351] punkte gebe, gegen welche von allen Seiten | Strahlen zusammenlaufen, die, so verschieden sie in ihrer Natur sind, doch immer durch diese Vereinigung etwas ähnliches wirken. Solche Mittelpunkte sind alle lebendige Wesen. Daß die übrigen Dinge die Absicht haben, ihnen zu nutzen, wissen wir nicht: daß sie die tendency haben sie zu erhalten, wissen wir gewiß. Wir sehen eine Menge Kräfte in ganz verschiednen Dingen, mehrmalen so zusammen sich vereinigen, daß daraus die nämlichen Vortheile oder Vergnügungen für die lebendigen Wesen entstehen; wir sehen ganz unähnliche Operationen der Natur, die nach einer ganzen Reihe von Mittelursachen immer gleichförmig sich in denselben Empfindungen oder Veränderungen der Geister endigen. – Diese Tendency nun aller Veränderungen der leblosen Dinge gegen die lebendigen – welcher Art der Wirkungen sieht sie am ähnlichsten? einer bloß mechanischen, die in den leblosen Dingen selbst ihren Grund habe; oder einer geistigen, die von einem Wesen außerhalb derselben herkomme? Diese Frage giebt keinen Zirkel; und sie ist eben welche man beantwortet, wenn man aus den Absichten der Dinge das Daseyn eines Gottes schließt. Aber wir kommen von dieser Untersuchung der Wörter zurück, um noch einige [352] Anmerkungen über die Sachen selbst zu machen. Im 2ten Theil im 4ten Kap. wird Eitelkeit erklärt, aber wie mich dünkt, nicht hinlänglich vom Stolz unterschieden. Sie ist, sagt Ferguson, die Einbildung von persönlicher Wichtigkeit. Aber Wichtigkeit (importance) ist doch nur ein ander Wort für Vorzug (excellency.) Stolz also würde nur die Begierde nach Vorzug, und Eitelkeit würde die Einbildung davon seyn. Und doch ist dieß nicht so. Zwar auf die Bedeutung der Wörter kommt es nicht an. Aber es giebt wirklich zwey ganz unterschiedene Charaktere, für welche, wenn diese Namen nicht gelten, wir doch andre suchen müssen: einen der zur Verachtung andrer, zur Unterdrückung, zur Tyranney führt, der gebiethrisch und insolent macht, das ist Stolz; einen andern der zur Prahlerey, zur ängstlichen Betteley um Lob und Bewunderung, zu Lügen führt, der beschwerlich und lächerlich macht, das ist Eitelkeit. Begierde nach Werth und Einbil[353] dung ihn zu besitzen, ist | bey beyden. Aber diese Begierde und diese Einbildung hat bey dem Stolze mehr den Charakter der Leidenschaften, die aus dem Zorne entspringen, und bey der Eitelkeit mehr den Charakter der Leidenschaften, die aus der Wollust entspringen. Die Griechen würden gesagt haben: der Stolz gehört zu θυμὸς, und die Eitelkeit zu ἐπιθυμία. – Stolz ist eine weit gefährlichere Leidenschaft: denn wenn die Verachtung allgemein wird, so verlöscht das Wohlwollen; und der welcher das menschliche Geschlecht verachtet, ist zu keiner guten Handlung mehr fähig. Aber Stolz kann doch die Leidenschaft einer großen und starken Seele seyn: er kömmt oft aus einem Gefühl seiner Kräfte; und er zeigt immer eine gewisse Unabhängigkeit von andern an. Eitelkeit hingegen kann mit einem ziemlichen Grade von Gutherzigkeit bestehen: aber sie ist das sichre Zeichen eines kleinen und schwachen Geistes;

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sie ist immer mit Zaghaftigkeit verbunden, und unterwirft den Menschen der Gewalt aller derer die über ihn urtheilen. ______________________ 915

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Das ist nicht ganz deutlich wenn Ferguson sagt: 1) »die moralische Billigung ist das Haupt|factum, aus welchem wir die Wirklichkeit des Gesetzes der Selbstschät- [354] zung schließen. – 2) Es kann andre Principia geben, die uns veranlassen, unsre Hochachtung oder Verachtung auf gewisse Gegenstände auszutheilen: aber nur dieses die moralische Billigung kann uns erklären, warum wir überhaupt etwas hochachten und verachten können.« Das verstehe ich so: Etwas hochachten ist unstreitig etwas anders als sich an etwas ergötzen; aber es ist nichts anders mehr, wenn es keine moralische Billigung giebt. Ich will so viel sagen. Wenn in den Handlungen des andern, insofern sie aus gewissen Eigenschaften und Neigungen des Geistes entspringen, kein Unterschied liegt, oder keiner von mir empfunden wird: so beurtheile ich also die Handlung bloß nach den Wirkungen die sie auf mich thut. Aber was sind diese Wirkungen? keine andre, als daß sie mir das Leben erhält, oder zerstört, mich gesünder oder kränker, mich reicher oder ärmer, geehrter oder verachteter macht; mit einem Wort, daß sie meine äußre Umstände so verändert, wie | sie auch vom Wasser, vom Feuer, von der [355] Luft, oder von einem wilden Thiere verändert werden können? Warum achte ich also den Menschen hoch, der mich, wenn ich durstig bin, tränkt, und nicht das Wasser, welches ich trinke. Der ganze Unterschied ist bloß, daß dieß die unmittelbare Ursache meines Vergnügens ist, und der Mensch das entfernte. – Aber es wäre eine Ungereimtheit, den Unterschied zwischen dem Ergötzenden und dem Achtungswürdigen darein zu setzen, daß das erste Lust macht, das andre sie nur von weitem zubereitet. – Also besser: Vergnügen ist die Empfindung, welche aus der Wirkung selbst, der Verbesserung unsers Zustandes entsteht; Hochachtung ist die Empfindung, welche aus der Vorstellung des Urhebers entsteht, wenn dieser Urheber ein Geiste ist. – Aber warum empfinden wir bey einem Vergnügen, das uns von einem Geiste verschafft worden, mehr? Was kömmt zu dem Eindruck einer uns labenden Frucht hinzu, wenn sie uns von der Hand eines Menschen gereicht wird. – Dieß, daß wir bey der Frucht selbst nur auf unsern Zu|stand sehen, der verbessert worden ist; [356] bey dem Menschen sehen wir zugleich seinen Zustand, als den Zustand eines vollkommnern und bessern Geistes. Hochachtung ist die Sympathie mit der Glückseligkeit dessen, der etwas Gutes gethan hat. Noch ein Umstand ist merkwürdig. Leblose Dinge können wir nur lieben, wenn sie uns wirklich Gutes thun; Menschen können wir auch hochachten, bloß weil sie uns nicht Schaden thun. Denn was ist die Gerechtigkeit anders? und wer schätzt nicht den vollkommen gerechten Mann hoch? Wie kann eine bloße Negation eine positive Empfindung erregen? Wie kann ich gegen das, was gar keine Wirkung gegen mich äußert, doch eine gewisse bestimmte Gesinnung bekommen? – So kann ich es, weil ich allenthalben, wo es auf Menschen ankömmt, nicht von den Verände-

208 | 3 Aus den Übersetzungen rungen bloß gerührt werde, die er in mir macht, sondern von der Verfassung, der Neigung, dem Zustand seines Geistes, die er mir anzeigt. Und diesen kann er mir [357] eben sowohl durch das entdecken, was er unterläßt, als | durch das was er thut. Also ist es doch die Verfassung des Geistes aus der die Handlung stammt, die ich billige, nicht bloß die Wirkung, welche sie hervorbringt. – Aber dieß eben wollen wir sagen, wenn wir von moralischen Unterschieden reden. ____________________ Das ist nicht eine ganz richtige Vergleichung, wenn Ferguson, um zu zeigen, daß auch die Abgötter an einen Gott glauben, sagt: so wie man einen Homer glauben kann, und doch ihn für ein schlechtes Genie halten, so kann man das Daseyn eines Gottes glauben, und unwürdige Begriffe von ihm haben. Der Fall ist nicht derselbe. Vom Homer wissen wir doch noch etwas, wenn wir ihn auch nicht als einen großen Dichter kennen; diese eine Eigenschaft macht nicht den Begriff des ganzen Menschen aus. Ferner sind die Beweise, daß ein Homer gelebt habe, nicht einerley mit den Gründen, daß er ein großes Genie gewesen ist. Aber von Gott haben wir 1) gar keine Idee mehr, wenn wir ihn nicht als das vollkommenste Wesen be[358] trachten; der Begriff seiner Substanz ist für uns einerley mit dem | Begriff einer gewissen Vollkommenheit. Und 2) wissen wir aus keinem andern Grunde daß er sey, als weil wir ein vollkommenstes Wesen zur Erklärung der Dinge nöthig haben. Wir nehmen seine Existenz ohne Grund an, sobald wir sie von der höchsten Güte und dem größten Verstande entblößen. Aber die Frage selbst ist allerdings wichtig: was macht den allgemeinsten Unterschied zwischen dem Atheisten und dem Deisten aus? Welche Irrthümer können noch mit dem Glauben an einen Gott bestehen, und welche heben ihn auf? – Wenn erst diese Frage beantwortet ist: so wird sich besser entscheiden lassen, ob dieser Glaube allgemein sey; und inwiefern diese Allgemeinheit ein Beweiß seiner Wahrheit sey. Mich dünkt, die Frage, ist ein Gott? wenn sie auf die ersten Grundbegriffe zurückgeführt wird, woraus sie entstanden war, ist keine andre als diese: ist das Denken der Grund aller Bewegung, oder ist die Bewegung der Grund des Denkens? sind die mechanischen Kräfte die Quelle der geistigen; oder die geistigen Kräfte die Quelle der körperlichen? [359] Nämlich, wir kennen nur zwey Haupterscheinungen in der Natur; die Bewegung der todten Masse um uns herum; und die Vorstellungen lebendiger Wesen, wie wir sind. Beydes ist jetzt zugleich da; beydes hat einen gewissen Einfluß auf einander, unterstützt oder verändert sich wechselweise. Von diesen beyden Erscheinungen nun, welche ist die älteste? welche Kraft wirkte zuerst? Gab es schon ein Wesen, das dachte und empfand, ehe noch sich irgend etwas bewegte; oder waren die Wesen die ohne Leben und Bewustseyn sich bewegen, schon vorhanden, da noch der erste Gedanke gedacht werden sollte? Der welcher glaubt, daß es eine Zeit gab, wo in der Natur alles tod ohne Empfindung und ohne Bewustseyn war; wo keine Thätigkeit

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sich äußerte, als Veränderung des Orts; wo bloß eine körperliche Masse, still, oder in einer unbewußten Gährung lag; welcher glaubt, daß aus dieser unbelebten Masse, durch irgend eine Anordnung ihrer Theile und eine Vermischung ihrer Bewegungen, Leben und Gedanken entstanden sey: das ist der vollkommne Atheist. Der | welcher glaubt, daß der Geist und die denkende Kraft das erste und älteste [360] war; daß diese Kraft ursprünglicher und unabhängiger ist, als die Kräfte der Materie; daß durch sie die Bewegungen der Körperwelt ihren Ursprung nahmen: der ist der Deist im allgemeinsten Verstande. – Denn er muß, außer den denkenden Kräften, die menschliche Leiber bewegen, noch irgend eine oder mehrere andre annehmen, andre die höher und stärker sind als jene, weil die Wirkungen so weit die Wirkungen des menschlichen Denkens übertreffen. Noch kann er zwar der Materie ein unabhängiges Daseyn geben; noch kann er diese ersten Gedanken, die vor der Bewegung vorhergiengen, in viele von einander verschiedne Wesen vertheilen: aber Atheist ist er nicht mehr. Der Irrthum der Vielgötterey ist der Irrthum eines Menschen, der schon überhaupt den Ursprung der Dinge, aber noch nicht die Einheit der Welt kennt; der die verschiednen Erscheinungen der Natur noch als vollständige Ganze betrachtet; nach deren Ursachen er insbesondre nachforschen muß. Dieß also dünkt mich: wer das Daseyn eines Geistes glaubt, muß das Daseyn [361] eines Gottes glauben. – Wäre das Denken eine Folge von gewissen Bewegungen: so hielt ich es für begreiflich, daß wenn einmal Ein Theil der Materie blind so zusammengekommen ist, daß das denkende Wesen selbst daraus entstund: auch die Bewegungen der übrigen großen Masse der Welt so zusammengetroffen seyn könne, daß sie jenes Conkretum eine Zeitlang aufrecht erhalten, und den künstlichen Mechanismus desselben unterstützen. Ist hingegen das lebendige und denkende eine eigne Klasse der Wesen: so ist es unbegreiflich, wie sich die übrige Materie so geformt habe, als es für diese von der Materie ganz verschiedne Wesen nothwendig und erwünscht war; wofern nicht ein ähnlicher Geist, dem am Leben und Denken etwas gelegen ist, der Materie diese Form vorschrieb. Dieß ist alsdann die Theologie welche sich hierauf gründet: Denken und Leben ist nicht ein bloßer Zustand der Materie, es ist das Daseyn eines eig|nen Dinges; es ist nicht eine Modifikation der Bewegung, es ist die Wir- [362] kung einer eignen Kraft. Also 1) bloße Materie konnte niemals allein da seyn. Wenn es irgend eine Zeit gegeben hätte, wo nichts lebte, und nichts dachte: so würde ewig nichts gelebt haben. Aber 2) das Leben und Denken, welches wir jetzt durch uns selbst kennen, ist zwar von Bewegung verschieden: aber es braucht doch derselben; es braucht unendlich viel, mannichfaltige, und sich auf eine sonderbare Art vereinigende Bewegung. Ich, der ich mich selbst empfinde, bin nicht Materie, aber ich bedarf der Materie, und zwar einer gewissen ganz eignen Anordnung derselben. Eine kleine Portion Wasser, Öl, Erde, Feuer muß sich zu einen menschlichen Körper zusammenfügen: und die unendliche Menge dieser Elemente die außer demselben ist, muß diesem

210 | 3 Aus den Übersetzungen Körper, nicht bloß die Ergänzungen zuführen, durch die er erhalten wird; sondern ihm auch die Erschütterungen beybringen, durch die er mir Vorstellungen ver[363] schafft. Eine Sonne mußte leuchten;| und ein Auge mußte die Stralen derselben auffassen, oder ich entbehrte alle die Ideen, die vom Gesicht herkommen; diese Erde mußte eine solche Atmosphäre und mein Körper mußte ein Ohr haben; oder ich wußte nichts vom Schall. – Tausend Dinge, die nichts davon wissen, denen nichts daran gelegen ist, daß ich durch sie denke, müssen doch so sich zusammenschicken, nicht bloß daß mein animalisches Leben fortdaure, sondern daß meine denkende Kraft sich äußern kann. Was ist es nun, was die Materie in diese Ordnung brachte? Wenn ich selbst erst aus der Materie durch eine gewisse Form derselben entsprung: so mag vielleicht diese Form einer unter den nothwendigen Zuständen seyn, in welche die Materie, kraft ihrer ersten Bewegungsgesetze, auf dem Laufe ihrer Revolutionen geräth. So befremdet mich die Zusammenstimmung zwischen dem Bau meines Körpers und dem System der Welt nicht mehr. – Dunkel ist mir alsdann zwar alles; aber alles auf gleiche Weise dunkel, und mein Nachforschen ist zwar nicht befriedigt, aber gehemmt. Aber wenn ich ein eignes Wesen bin; wenn ich nicht entstund, da dieses Ge[364] bäude von Knochen, Adern und Nerven zusammengesetzt wurde: wie kann ich es begreifen, daß Dinge, die mit mir nichts gemein haben, sich in die Ordnung finden, in der ich sie brauche? Sobald ich also glaube, ich trage nur meinen Körper, ich brauche ihn als eine Maschine; er ist todt, und ich belebe ihn: so bald wird es auf der einen Seite der Dinge helle; und ich kann die Finsterniß auf der andern nicht mehr ertragen. Dieser Bau der todten Materie, der dem lebendigen und denkenden Wesen nothwendig war, kann nur von einem ähnlichen Wesen herkommen. Das Auge, das nicht sieht, und doch einem andern von ihm ganz verschiednen Wesen zum Sehen, das diesem so nothwendig ist, verhilft, kann sich nicht von selbst zu ihm gefunden haben. Wenn Geister vorhanden sind, und immer vorhanden waren: so muß diese Ordnung von ihnen herkommen. – Aber nicht von denen selbst, die ohne diese Einrichtung nicht bestehen können: – Also giebt es noch andre Geister. [365] Aber in der Welt hängt alles zusammen: jeder Theil der Materie wird durch alle übrigen bewegt. Der Geist, welcher Einen menschlichen Körper bauen sollte, mußte die ganze materielle Welt in seiner Gewalt habe. Der Geist, welcher Einem Atom seiner Richtung geben wollte: mußte zuvor die Richtung aller übrigen Atomen dem ersten gemäß geordnet haben. Ich kann mir also nur Eine einzige thätige geistige Kraft vorstellen, welche der Grund alles Lebens der einzelnen Wesen, und der Grund alles Lebens der einzelnen Wesen, und der Grund aller der Ordnung in der Materie ist, die zur Unterstützung und Äußerung des Lebens gehört. Diese Kraft ist es, die wir Gott nennen.

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Indem wir aber sagen, ein Geist hat diese Ordnung bewirkt, so sagen wir mit andern Worten so viel: sie ist nach einer vorhergegangnen Idee; sie ist vermöge eines Willens oder zufolge einer Neigung; und sie ist kraft eines thätigen Einflußes, den diese Idee und dieser Wille über die materielle Welt hatte, hervorgebracht worden. – Dieß Wesen also wär fähig, eine solche Idee zu haben; wir schreiben ihm den höchsten Verstand | zu: es hat die Neigung alle Sachen für empfindende und den- [366] kende Wesen geschickt und brauchbar zu machen; wir schreiben ihm die höchste Güte zu: die Ordnung der Dinge, welche es sich dachte und wollte, ist wirklich vorhanden; wir schreiben ihm die höchste Macht zu. ____________________ »Die Meynung von der Vielheit der Götter ist eine Ausartung des ersten Begriffs.« Das versteht Ferguson dem nächsten Satze zufolge so: der erste natürlichste Begriff von Gott war der Begriff von Einem Gotte. Mehrere Nationen hatten diesen Begriff. Sie theilten sich ihn einander mit. Jede hatte dem ihrigen durch einen andern Namen, vielleicht durch eigne Traditionen und Geschichte, das Ansehen eines ganz andern Dinges gegeben. Sie wußten diese Begriffe nicht zu vereinigen. Sie machten so viele Götter, so vielmal der Begriff von einem einigen Gott von verschiednen Menschen in verschiednen Umständen, und auf verschiedne Weise war gedacht worden. Ich weiß nicht, ob dieses historisch wahr ist; wenn wir von dem Menschen reden, der sich ganz | selbst überlassen ist. – Das ist ohne Zweifel sein erster Ge- [367] danke, und den man als gleich alt mit seiner Natur ansehen kann: es müssen unsichtbare Wesen seyn, die auf eben die Weise wie die Menschen denken und handeln, von welchen die Erscheinungen der Natur herkommen. Dieses dachten sie, so oft sie von einer Veränderung oder von einem Gegenstande der Natur merklich gerührt wurden; und besonders wenn diese Veränderung neu und fürchterlich war. Diesen Gedanken von einem unsichtbaren Wesen, erneuerten sie, so oft solche Erscheinungen sich wiederholten. Aber ob es das nämliche Wesen sey, welches sie schon vorher sich gedacht hatten, oder ein eignes, das konnten sie ohne Zweifel nicht bey sich ausmachen: oder vielleicht dachten sie auch nicht daran. Der Begriff der Einheit Gottes hat einen doppelten Ursprung; einen in der Unwissenheit, den andern in der Einsicht. Ich will so viel sagen. Ohne Zweifel dachten sich die Menschen eher einzelne Theile und Erscheinungen der Natur, ehe sie sich die ganze Natur dachten. Also ent|stund auch bey ihnen eher den Begriff von einem [368] unsichtbaren Urheber einzelner Theile, als von einem unsichtbare Urheber des Ganzen. Aber dieser Begriff, ob er gleich von ganz verschiednen Gegenständen und Vorfällen erregt wurde, und deren Verbindung unter sich sie noch nicht eingesehen hatte, war doch immer derselbe. Denn was konnten sie sich für Verschiedenheiten bey Wesen denken, die sie nur durch ihre eigne Schlüsse von denselben, kannten. Gesetzt also auch, daß sie der Sonne, den Planeten, den Bäumen, den Strömen,

212 | 3 Aus den Übersetzungen verschiedne Namen von Gottheiten gaben, so war es doch immer nur Ein Begriff den sie dabey hatten. Das, was sie wirklich wußten, war, daß ohne ein lebendiges und geistiges Wesen sich der Ursprung der Dinge, welche entstehen, und die Phänomene der Dinge, welche sich verändern, nicht begreifen lassen. Das, was sie nicht wußten, war, daß alle diese Dinge und diese Phänomene zusammengehören, daß sie nur Ein Ganzes [369] ausmachen. Sie kannten die Sonne, den Mond,| den Himmel, die Erde; aber sie hatten noch keinen Begriff von der Welt. Nachdem aber einmal diese große erhabne Idee, die Idee des allgemeinen Zusammenhangs, in einen menschlichen Kopf gekommen war; nachdem die Menschen eingesehen hatten, daß es nur Ein Phänomen gebe, welches zu erklären, nur Ein Werk, dessen Urheber zu finden sey, nämlich die ganze Natur: so verändert sich zwar nicht die Idee von Gott; – es blieb die Idee eines Geistes, der unsichtbar Dinge hervorbringt und regiert; aber es war jetzt nur eine einzige Anwendung von dieser Idee möglich. Die Menschen erkannten nur Einen Gott, weil sie einsahen, daß es nur Eine Welt gebe. Diese Idee wurde zugleich größer indem sie einfacher wurde. Wer von einem Baumeister schlechterdings nichts als seinen Pallast kennt, der wird von jenem besser oder schlechter urtheilen, nachdem er diesen sorgfältiger oder nachlässiger untersucht. Überdieß, so lange die Menschen in ihren Göttern nur die Urheber und [370] Regierer einzelner Theile der Welt sahen: so lange | mußten sie ihnen alle die Unvollkommenheiten und Unordnungen zuschreiben, die in diesen Theilen sichtbar sind, und die sich nicht heben lassen, so lange man diese Theile getrennt von einander betrachtet. Aber sobald sie Gott für den gemeinschaftlichen Urheber und Regierer des ganzen Zusammenhangs aller Dinge erkannten: sobald mußten sie ihn ohne alle Unvollkommenheit annehmen, weil sich in diesem Zusammenhange kein Übel, keine Unordnung mehr entdecken läßt. ____________________ Der Glaube an Gott, sagte ich, gründet sich auf den Glauben von dem Daseyn der Geister. Aber ist denn dieser Grund auch fest? Unser Verfasser handelt von der Immaterialität der Seele in einem eignen Kapitel. Aber er scheint sich mehr auf die allgemeine Empfindung der Menschen in diesem Stücke zu berufen, als seine eigne Empfindung zu zergliedern. In dem Bewustseyn, das wir von uns selbst haben, muß freylich das Bewustseyn, daß wir nicht Materie sind, enthalten seyn, – oder wir wissen davon nichts. Aber nur das ist die [371] Schwierigkeit, in einer so ein|fach scheinenden und doch so zusammengesetzten Empfindung, als die von unsrer eignen Existenz ist, diesen Theil zu bemerken, herauszuziehen, ihn von den übrigen, so zu sagen, abzulösen. Mich dünkt, die Einbildung, daß Ich, der ich mir meiner bewust bin, etwas materielles seyn könne, mußte sogleich wegfallen, sobald die Täuschung wegfiel, die mir jeden Körper als Ein Ding vorstellt.

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Was ich Materie nenne, ist ein Haufen vieler Dinge; und ich bin eines. Was ich Zusammensetzung nenne, ist bloß eine Lage der Dinge gegen einander; und ich bin ein Ding selbst. Wenn ich frage, ob die Seele immateriel sey? so frage ich nicht, ob sie ausgedehnt oder unausgedehnt sey; ich weiß es nicht, ob es Dinge geben könne, die untheilbar und doch räumlich sind. Sondern das frage ich: entstund das Denken, als eine Anzahl von Dingen, welche nicht dachten, in eine gewisse Nähe gegen einander traten, und sich in eine gewisse Lage setzten? Was entsteht durch die Zusammensetzung neues? Zehn Elemente, will ich setzen, haben | vorher in der Welt an zehn verschiednen Orten existirt. Jetzt existiren [372] sie in einem beysammen: so nahe beysammen, daß mein Auge nicht mehr weiß wo ihre Gränzen sind. In dieser Nähe gegen einander dauren sie fort, durch die Kräfte, die ich nicht weiß, und die ich die Cohäsion nenne. – Bisher also ist noch nichts als der Ort jedes Elements verändert worden. – Aber der Einfluß, den der Ort immer über die Sache hat, den hat er auch hier; er bestimmt nämlich, welches die Gegenstände seyn sollen, auf welche die Sache zunächst wirkt, und von welchen auf sie gewirkt wird. Jedes der zehn Elemente also ist durch die neun andern etwas umgebildet worden, jedes hat wieder etwas beygetragen, die neun andern umzubilden. – Aber noch ist immer keine Eigenschaft, die so zu sagen aus der Mitte von allen hervorspränge, allen gemeinschaftlich wäre, und in keinem der Elemente besonders existirte. Es ist also kein neu Ding entstanden; es ist nur an jedem der Dinge die vorher da waren, etwas geändert worden. Wo soll ich mich dann nun also unter den Elementen, die mich zusammenset- [373] zen, finden? Nicht in den einzelnen Theilen, denn die denken nicht; nicht in etwas, was aus ihrer Zusammensetzung derselben entstanden ist, denn das sind nur neue Eigenschaften dieser einzelnen Theile, – Eigenschaften, die ebenfalls viele und von einander getrennt sind, wie die Theile selbst, denen sie zukommen; nicht in der bloßen Lage der Theile ohne Rücksicht auf ihre Einwirkung, denn wenn ich hievon abstrahire, so ist die Lage eine bloße Idee, die der Verstand sich macht, welcher die Dinge anschaut. Was vor der Zusammensetzung da war, das sind mehrere einzelne Dinge, jedes mit seinen Kräften und Eigenschaften; was nach der Zusammensetzung vorhanden ist, das sind eben diese mehrere Dinge, aber jedes mit andern Handlungen, weil es andre Vorwürfe hat gegen welche es handelt, jedes mit einem andern Zustande, weil es andre Einflüße bekömmt. Wo ist dann nun der Punkt der Vereinigung? wo ist das dem ganzen Composito gemeinschaftliche,| das entstanden ist? wo ist das aus den [374] vielen erwachsende Neue? Wenn also aus zwey Dingen, welche zusammen kommen, in Ewigkeit kein drittes wird; sondern immer nur zwey bleiben: so bin ich entweder gar kein wirkliches Ding, oder ich bin eines der einzelnen, welche zusammenkamen. Und das kann sehr wohl mein Fall seyn. Ich kann vielleicht Kräfte haben, die ich aber nicht anders äußern kann, als wenn andre Dinge zu mir hinzukommen, gegen welche ich sie

214 | 3 Aus den Übersetzungen äußre; ich kann eines Zustandes fähig seyn, in den ich doch erst durch die Wirkung andrer gesetzt werden muß. Dieß alles sagte Leibnitz, wenn er die Materie Phänomen hieß; dieß alles entwickelte Moses in seinem vortreflichen Phädon: aber ich will auch hier nichts neues gesagt haben; ich will nur diese uralte Gedanken wieder auf meine eigne Art denken. Vielleicht giebt es einige Geister, die dem meinigen mehr ähnlich, von diesen Ideen unter dieser Gestalt mehr gerührt werden. ____________________ Sehr gut ist nach meinem Urtheil, in meinem V. der Abschnitt von der Güte Gottes, wo er die Vorsehung wegen des Bösen rechtfertigt. Was ist eigentlich die Natur des Übels? Das physische Übel bezieht sich ganz auf Schmerz und Tod. Aber wo geht eigentlich die Änderung vor, wenn ich Schmerz leide? – in den materiellen Theilen meines Körpers. Die, welche beysammen waren, trennen sich; die, welche mit andern untermischt waren, kommen zusammen; die Elemente, welche bisher Fleisch, Blut, Adern ausmachten, nähern sich dem Zustande, wo sie wieder unter ihrer ursprünglichen Gestalt von Wasser, Erde, Öl, fort existiren werden. – Die Dinge, welche diese Veränderung eigentlich angeht, leiden kein absolutes Übel: denn was liegt diesen Elementen daran, an welchem Orte sie da sind, oder mit welchen andern sie vermischt sind. Aber ich leide. – Das heißt, ich werde einen Zustand eines andern Dinges, das [376] mit mir | verbunden ist, gewahr, der mir mißfällt, vielleicht aufs äußerste mißfällt; aber mein eigner Zustand wird eigentlich nicht geändert; ich empfinde nicht Schmerz, weil ich schlimmer werde, sondern weil ich glaube, daß etwas außer mir schlimmer wird. Aber dieser mit mir verbundne Körper, dessen Auflösung mir Schmerz macht, ist die Sphäre meiner Aktivität. Alle meine Gedanken wurden durch die verschiednen Zustände desselben erregt, alle meine Kräfte wurden durch die Empfindungen, die ich von diesen Zuständen hatte, aufgeboten. Wenn ich nicht für seine Erhaltung zu sorgen gehabt hätte: so hätte ich keinen Trieb der Thätigkeit, keine Begierde, kein Leben gehabt. – Aber wenn ich für seine Erhaltung sorgen sollte: so mußte ich erfahren, in was für einem Zustande er sich befindet; ich mußte Wohlgefallen finden an der Empfindung, die mir sagt, daß er fortdauren werde, und Mißfallen an der Empfindung, welche mir sagt, daß er sich auflösen werde. Wäre kein Abscheu in [377] meiner Seele, so wäre auch keine Begierde; und ohne | Begierden bin ich kein lebendiges Wesen mehr; aber Abscheu setzt Schmerz voraus. Mehr Beschäftigungen der Seele, mehr Einsicht des Verstandes, mehr Stärke des Geistes, mehr Tugend wird darauf verwandt, Schmerz zu vermeiden, als Vergnügen zu erwerben; und wenn es keinen Schmerz gäbe, so wäre nichts mehr zu vermeiden.

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Es bleibt also noch das moralische Übel. – Wir wollen das größte Laster nehmen, was wir kennen; den Mord. Man kann ihn in zwey Gesichtspunkten betrachten; in seinen Folgen und in seinem Ursprung. In seinen Folgen ist er nichts ärgers als der Tod eines Menschen, der doch durch Krankheit oder Alter würde getödtet worden seyn; den auch ein Wetterstrahl, oder der Einsturz eines Hauses hätte umbringen können. In seinem Ursprunge ist er ein Zustand eines hassenden, übelwollenden, rachgierigen, mit einem Wort der Zustand eines unvollkommnen Geistes. Aber nicht eines durchaus unvollkommnen: denn eben dieser Mensch hat noch viele Ideen, die richtig sind, viel Triebe die gut,| viele Thätigkeiten die edel sind; also nur [378] eines minder vollkommen. Demnach, wenn bey dem Laster auf das Übel gesehen wird, welches es in der menschlichen Gesellschaft anrichtet: so sehen wir, daß es ein physisches Übel sey, d. h. eine Veränderung, die auch ohne Laster, durch den natürlichen Lauf der Dinge, durch die heiligste und gütigste Veranstaltung der Vorsehung doch erfolgt seyn würde. Wenn bey dem Laster auf die Verfassung des Menschen gesehen wird, der das Laster thut, so finden wir ihn auf der Leiter der Geister weiter zurück. Laster ist nur ein ungewöhnlich geringer Grad der moralischen Vollkommenheit; so wie Tugend ein ungewöhnlich großer ist: aber wer kann sagen, ob nicht jeder Geist erst durch die niedern Stufen hindurch muß, ehe er sich zu den höhern erheben kann? ____________________ Der Unterschied zwischen dem stoischen und peripatetischen System ist, glaube ich, von unserm Verf. mit Genauigkeit und Wahrheit angegeben. Man verliert die Vorurtheile, die man gemeiniglich | gegen das erstre hat; und man sieht, [379] wie leicht die Ideen wirklich großer Männer ungereimt scheinen können, wenn sie von kleinen Geistern kommentirt, oder bestritten werden. Es kömmt nämlich darauf an: ob etwas außer der Tugend, d. h. außer der Beschaffenheit des Geistes, Gut, genannt werden könne. Alles, worauf dem Menschen etwas ankömmt, ist sein Leiden oder sein Thun; seine Empfindungen oder seine Handlungen. Zu beyden concurriren zwey Sachen, die Beschaffenheit des äußern Dinges, welches die Empfindung erregt, und die Handlung veranlaßt; und die Beschaffenheit seiner selbst, welcher die Art des Eindrucks bestimmt, und die Art der Handlung entscheidet. – Wenn irgend etwas, es sey die Beschaffenheit des Menschen selbst, es sey die Beschaffenheit und die Dinge außer ihm gut heißt; so ist es insofern, als in ihnen die Ursache liegt, daß seine Empfindungen angenehm, und seine Handlungen vollkommen sind. Nun fragt es sich, durch welches von beyden wird es nun eigentlich bestimmt, wie die Empfin|dungen und wie die Handlungen des Menschen seyn sollen; kömmt [380] es darauf an, was er selbst sey, oder darauf, was für Objekte ihn umgeben? So viel sehen wir, daß dieselbe Sache bald Vergnügen und bald Schmerz machen kann, nachdem sie auf einen anders gebauten Körper, oder eine anders gesinnte Seele wirkt; daß derselbe Vorfall bald eine tugendhafte, bald eine lasterhafte

216 | 3 Aus den Übersetzungen Handlung veranlassen kann, nachdem die Neigungen des Geistes sind, welcher handeln soll. Nur sind die Empfindungen, welche jede Sache erregen soll, weit mehr durch ihre Natur selbst bestimmt, als die Handlungen, welche sie veranlassen soll. Auf der andern Seite hingegen sehen wir, daß die Beschaffenheit des Menschen selbst, nur Eine Art von Folgen hat, und immer gleichförmige. Sie ist es, welche macht, daß der Mensch in jeder Lage gut oder böse handelt; sie ist es, welche macht, daß der Mensch von allen Vorfällen auf gleiche Weise weniger leidet, oder [381] mehr ergötzt wird. – Nur ist ihr Einfluß nicht so | groß über die Eindrücke, die der Mensch bekömmt, als über die Thätigkeit, die er äußert. Dieß nun also macht die Verwirrung und den Streit. – Läge es eben so in der Natur gewisser Vorfälle, ob sie eine boshafte Handlung aus uns erzwingen, als ob sie ein widriges Gefühl in uns erregen sollen: so hätten die Peripatetiker durchaus Recht. Es gäbe auch ein Übel außer dem Laster. Hienge es auf der andern Seite eben so wohl von der Beschaffenheit der Seele ab, was für Eindrücke die Dinge auf sie machen sollen, als es von derselben abhängt, wie sie gegen dieselbe handeln soll: so hätten die Stoiker ohne alle Ausnahme Recht, es gäbe kein Gut als die Tugend. Aber da es nun auf der einen Seite Dinge außer uns giebt, die unveränderlich und gleichförmig auf alle Menschen, und bey jeder Beschaffenheit derselben, Eindrücke der Lust oder des Schmerzens machen; und da es auf der andern Seite einen Zustand der Seele giebt, der unveränderlich und gleichförmig bey allen Vorfällen [382] | die beßre Handlung hervorbringt: wie soll dieser Streit entschieden werden. Ohne Zweifel so, indem man 1) untersucht, welcher von den beyden Endzwecken, auf welche alles sich vereinigt, Empfindungen und Handlungen, der höchst Endzweck ist; 2) ob die Beschaffenheit der Seele mehr Gewalt habe, die Empfindungen zu ändern und Schmerz in Vergnügungen zu verkehren; oder ob die Beschaffenheit der Vorfälle mehr Gewalt habe, die Handlung zu ändern, und den Tugendhaften lasterhaft zu machen. Und da sagen nun die Stoiker: 1) die Handlungen, die der Geist thut, sind das letzte und höchste, die Empfindungen, welche er bekömmt, sind von der Natur als Mittel bestimmt, jene zu veranlassen. Jene (die Handlungen) entspringen eigentlich aus dem Zustande des Geistes selbst, kündigen ihn an, oder machen vielmehr denselben aus; diese (die Empfindungen) entspringen immer aus dem Zustande des Körpers, und sind bloße Anzeichen von gewissen Veränderungen einer materiellen [383] Natur, in der an und für sich nichts gut und nichts böse seyn kann. – | 2) Was das zweyte betrifft: so ist klar, das Gewohnheit des Körpers und Abhärtung der Seele, die Eindrücke der nämlichen Dinge sehr abändern kann; daß die Geduld und der Muth, den Schmerz bis auf einen gewissen Grad mildern; und männliches Wesen und Gelassenheit die Lust mäßigen kann. – Ob nun gleich der Grad, bis wie weit der Mensch indem er sich selbst ändert, auch die Empfindung der äußern Dinge ändern könne, unausgemacht ist: so ist es doch gewiß, daß der Tugendhafte mehr Gewalt

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über seine Umstände habe, sich dieselben angenehm, als die Umstände über ihn, ihn böse zu machen. Überdieß wenn auch die Tugend nicht die Steinschmerzen wegnehmen, oder machen kann, daß man auf glühenden Kohlen so sanft als auf einem Bette von Rosen liege: so hat sie doch dadurch mehr Recht zu dem Namen Gut, als jedes Ding, was man außer ihr so benennt; weil sie allein immer gleichförmige Wirkungen, jedes andre zuweilen entgegengesetzte Wirkung thut. – Den Schmerz kann die Tugend nicht wegschaffen, aber sie wirkt allemal zur Linderung des|selben: alle Art Lust [384] kann sie nicht gewähren; aber sie wirkt durchaus immer zu einem fröhlichern Genuß derer, welche man hat. Alle andre Dinge hingegen wirken bald zur Glückseligkeit und bald zum Elend; nutzen dem einen und schaden dem andern; geben Gelegenheit zu guten und verleiten zu bösen Handlungen. Aber noch scheint in der Sache eine Zweydeutigkeit zu seyn. Freylich, kann man sagen, hängt die Glückseligkeit des Menschen mehr von seiner Beschaffenheit als von seinen Umständen ab. Aber nicht diese ganze Beschaffenheit ist moralisch, auch von den natürlichen Gaben des Menschen, auch von seinem Temperament hängt die Glückseligkeit ab. – Wenn man behauptet, die Tugend macht allein und macht immer glücklich, so vermischt man die Vollkommenheit des Geistes überhaupt, sie mag natürlich oder erworben seyn, mit der selbst erworbnen Vollkommenheit, die allein Tugend heißt. Darauf könnte, glaube ich, der Stoiker mit Recht antworten. Tugend ist allerdings weiter nichts als Vollkommenheit des Geistes, insofern er [385] Geist ist; d. h. insofern ich ihn vom Körper getrennt, und von der Organisation desselben unabhängig denke. Freylich giebt es auch natürliche Unterschiede, die sich unter den menschlichen Geistern, wenigstes so lange sie in dem Leibe wohnen, äußern; – und diese Unterschiede werden auch auf ihre Tugenden einen Einfluß haben. Man mag Tugend erklären wie man will: so gehört ein gewisser Grad von Aufklärung des Kopfs dazu; und zur Aufklärung des Kopfs gehören Naturgaben. – Dieß ist es eben, was die Frage veranlaßte, die in der sokratischen Schule so berühmt ist, ob die Tugend gelehrt werden könne. Sokrates selbst entschied es, daß sie ein Geschenk der Götter sey. Das heißt, um den vollkommensten Menschen hervorzubringen, muß die Vorsehung viele Umstände veranstalten. Alle Menschen können durch sich der Vollkommenheit näher kommen; diese Annäherung ist der eigentliche moralische Theil: aber wie nahe sie derselben schon jetzt seyn soll, das hängt von mehr als ihren moralischen Hand|lungen, das hängt vielleicht von ihren vorhergesehenden Zustän- [386] den ab; das ist mit einem Worte eines der Geheimnisse der Vorsehung. Aber auf der andern Seite ist klar, daß, was in der Beschaffenheit der Seele, im Verstande und im Herzen, nicht eigentlich moralisch ist, beynah ganz im Körper seinen Grund zu haben scheint, und also insofern nicht zur Vollkommenheit des Geistes selbst gehört. – Der Unterschied der Talente scheint vornämlich in der ver-

218 | 3 Aus den Übersetzungen schiednen Organisation, und der Unterschied der Temparamente in der Verschiedenheit der Spannung der festen, oder der Mischung der flüßigen Theile seinen Grund zu haben. Bin ich also ein Wesen, das Eigenschaften und Kräfte hat, die der Körper nicht hervorbrachte, sondern die er bloß übet; so würde auch eigentlich nur der Theil meines Zustandes, der in mir selbst und nicht im Körper seinen Grund hat, für mich wichtig seyn: und dieß ist Tugend. Was ist also die Summe von diesem allem? Diese: wenn alle Vorfälle in Absicht der Gelegenheit, die sie uns geben, Gutes zu thun, gleichgültig; in Absicht der sinn[387] lichen Empfindungen, die | sie erregen, veränderlich und schwankend sind; wenn hingegen die eigne Beschaffenheit des Menschen selbst, in beyder Absicht, unwandelbare und gleichförmige Folgen hat; und wenn unter den Eigenschaften, die dem Menschen selbst zugeschrieben werden, keine ihm als einem vom Körper abgesonderten Wesen mehr zugehören, als die moralischen: so sind diese im eigentlichen Verstande gut. Was für ein Urtheil kann nun wohl ein unpartheyischer Mensch, der bloß seinen Empfindungen nachgeht, über das System des Epikurs fällen? Ich schätze diesen Mann hoch. Nach allem was wir von seiner Geschichte wissen, war er ein rechtschafner Mann; und nach allem was wir von seinen Schriften haben, war er ein wirklicher Philosoph. So klein die Stücke sind, die uns Diog. Laert. von ihm aufbehalten hat; so übel sie geschrieben, und so verstümmelt sie zum Theil sind: so haben sie doch das Gepräge eines Mannes, der selbst denkt. – Aber bey dem allen scheint mir sein System nicht sowohl ein gefährliches, als ein trostloses System. Es [388] hat | eben so viel und noch größre Paradoxa, als das stoische System, dem es nichts so sehr entgegensetzt als daß es paradox ist. Es ist vielleicht möglich, den Menschen auf diesem Wege alle seine Pflichten zu lehren; aber es ist nicht möglich ihn auf diesem Wege, so zu erwärmen, seine Seele so zu erheben, als es zur Ausübung dieser Pflichten nöthig ist. Bayle sagt: alle übrige Philosophen haben das Materielle der Glückseligkeit angegeben, die Quelle, woraus sie fließt, die Ursachen, welche sie wirken; Epikur giebt das Formelle der Glückseligkeit an, ihr eigentliches Wesen, ihre letzte Wirkung. Tugend, oder was man sonst will, kann Glückseligkeit hervorbringen, aber nur Vergnügen kann Glückseligkeit seyn. Das ist ganz scharfsinnig gesagt; aber ich zweifle, ob es richtig ist. Nicht darüber ist der Streit, ob das, was Gut seyn soll, empfunden, d. h. wahrgenommen werden müsse. Freylich Glückseligkeit, die ohne Bewustseyn, und, wenn man dieses immer Empfindung nennen will, die ohne Empfindung wäre, ist keine Glückseligkeit. Aber darüber wird eben gestritten, ob diese [389] Empfindung einen gewissen | Zustand der Seele, der nun eben Tugend heißt, immer begleite, mit ihm zugleich, und mit demselben, so zu sagen, verwebt sey; oder ob sie durch diesen Zustand, und durch die Handlungen die er veranlaßt, durch die äußern Veränderungen, die aus diesen Handlungen entstehen, und durch die Eindrücke, die zuletzt von diesen Veränderungen wieder auf uns zurückfließen, erst hervorgebracht werde.

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Sulzer kömmt, glaube ich, der wahren Beurtheilung dieses Systems näher, wenn er sagt: das Vergnügen, das eine Handlung macht, ist allerdings ein richtiger Maasstab seiner Güte; aber es ist kein Maasstab für den Menschen. Denn von welchem Vergnügen redet Epikur? Von dem, welches wir bey der Handlung mit Gewißheit voraussehen, und mit Lebhaftigkeit uns vorstellen können? So haben seine bittersten Gegner gewiß Recht; und was die ganze Welt als schändlich empfindet, wird er als rechtmäßig erweisen können. Oder redet er von dem gesammten Vergnügen und Schmerz, das aus einer Handlung folgt, von der ganzen Reihe aller Folgen in der ganzen Zukunft? Aber wel|ches menschliche Auge kann diese Reihe überse- [390] hen; oder welches, wenn es sie auch erblickte, würde nicht, von dem Glanze der nahen Zukunft geblendet, der entferntern vergessen? Wo ist der Mensch, der die Rechnung des Vergnügens und des Schmerzens, den eine Handlung bis ins Unendliche hinaus nach sich ziehen wird, anstellen, oder die Summe unpartheyisch ziehen könnte? Was hilft eine Regel, sie sey auch noch so richtig, wenn ich sie nicht anwenden kann? Aber ich denke, was Epikur selbst vom Vergnügen sagt, das, was er nach seinem System von demselben sagen mußte, läßt uns noch genauer urtheilen, ob seine Moral die Moral der besten und edelsten Menschen sey. Alles Vergnügen, (dieß ist die Grundsäule seines Systems) ist ursprünglich körperliches Vergnügen. – Man hat gezweifelt, ob dieß wirklich seine Meynung sey. Aber man hat mit Unrecht gezweifelt. Erstlich, er sagt dieß an so vielen Orten mit so ausdrücklichen Worten, daß gar kein Mißverstand möglich ist. Überdieß, was konnte der Mann, der von keinem andern | Wesen als von dem Körper etwas wußte, [391] der keine andre Ideen als Empfindungen kannte, bey welchem wir nichts weiter sind, als Augen und Ohren, und ein Gehirne, in welchem alle diese Werkzeuge zusammenkommen: was konnte der für eine Quelle der Vergnügungen annehmen, als den Körper und seine Bewegungen? Wie konnte er einem Wesen, dessen Daseyn er gar nicht zugab, eine eigne Art von Vergnügungen geben. Aber er redet doch so viel von geistigen Vergnügungen; er zieht sie so ausdrücklich den körperlichen vor; er selbst ward nur durch diese glücklich. Ja, allerdings redet er davon, aber man höre nur weiter. Also noch einmal, das Gefühl des Körpers, so sagt Epikur, ist meine einzige Empfindung. Sein Zustand ist die einzige Quelle meiner Glückseligkeit und meines Elends. – Aber erstlich dieser Zustand ist verschieden, und die Art der Vorstellung desselben ist verschieden. Das Wohlbefinden des ganzen Körpers ist die eine Quelle des Vergnügens, (das ist die Schmerzlosigkeit, die | indolentia, worüber beym Cicero [392] so sehr gestritten wird, ob sie auch Vergnügen heißen solle;) die ergötzende Bewegung einzelner Glieder ist die andre (das ist die voluptas in motu, die eigentlich sinnliche Lust.) Ferner ich stelle mir den Zustand und die Bewegungen meines Körpers vor, entweder, wie sie jetzt sind, oder wie sie gewesen sind, oder wie sie seyn werden; ich genieße, ich erinnere mich, oder ich hoffe. Der Genuß des gegenwärti-

220 | 3 Aus den Übersetzungen gen ist das körperliche; die Erinnerung und die Hofnung sind die geistigen Vergnügungen. Nämlich, fährt Epikur fort, nachdem der Mensch einmal den Reiz der gegenwärtigen Lust empfunden hat, kann er sich dieselbe auch abwesend vorstellen. Die Begierde ensteht. Die Aufmerksamkeit wendet sich von dem Endzweck auf die Mittel; der Mensch scheint das sinnliche Vergnügen zu vergessen; er denkt nach, er erforscht, er arbeitet, er wird sogar tugendhaft; aber alles, um den einzigen Gegenstand seiner Begierden, die körperliche Gesundheit oder Lust, deren er gerade zu nicht habhaft werden konnte, auf diesem längern Wege zu verfolgen. Er ist indessen [393] | bis er dieses Ziel erreicht, nicht ohne Vergnügen. Die Idee dessen, worauf er arbeitet, und was er zu erreicht hofft, unterhält und ergötzt ihn. Die sinnliche Lust ist alleine die Sonne, die durch sich selbst leuchtet und wärmt; alle übrigen Gegenstände sind dunkel und kalt: aber sie können auch erleuchtet und erwärmt werden, wenn sie mit ihr in eine solche Verbindung treten, daß sie die Strahlen derselben bekommen können. So also wie der Mensch mehr Mittel findet, die ihm zur sinnlichen Lust verhelfen können, so breitet sich seine Neigung aus; so wie er mehr über diese Mittel [raissonirt], so verändert sich ihre Gestalt. Das äußerste [Raissonement] dieser Art hat die Tugend hervorgebracht. Der Unmäßige überfüllt sich, weil es ihm heute wohlschmeckt; der Mäßige enthält sich, weil er morgen, und über ein Jahr, und wenns möglich ist, in vielen Jahren, noch mit Vergnügen essen will. Der Ungerechte betrügt, weil er dadurch reicher, und durch den Reichthum vermögender wird, etwas ergötzendes zu sehen, zu hören, zu schmecken. Der Gerechte enthält sich fremden [394] Eigenthums,| weil er dadurch andre zur Gerechtigkeit aufmuntert; und durch die Gerechtigkeit, wenn sie allgemein ist, die menschliche Gesellschaft erhalten wird; und durch die Gesellschaft ihm die Mittel zur sinnlichen Ergötzung dargereicht werden. ‒ Tugend ist also eine künstliche und feiner ausgedachte Bestrebung nach der sinnlichen Lust, die der Lasterhafte gerade zu, und ohne Umschweife sucht. Sie ist für sich nichts werth, als einmal, weil sie ein Mittel zu einem Endzweck ist, der alles werth ist; zum andern, weil sie, wie alle Beschäftigungen zu gewissen Absichten, uns die Idee dieser Absicht lebhafter vor Augen hält, uns mit dem Bilde der Lust, deren Sicherheit sie uns schon gewährt, lange vor dem Genuß erquickt. Ja, dieses Schattenbild der Lust, ist mehr werth als der Körper selbst. Der Genuß währt wenig Augenblicke: das Bestreben die Hofnung kann immer dauren. So also kann ein Mensch es wirklich dahin bringen, daß er die sinnlichen Vergnügungen selbst wenig mehr schätzt, und immer nur sich mit der Tugend, dem Mittel dazu, abgiebt; [395] daß er so wie der Geizhalz, immer nach einem einzi|gen Ziel arbeitet, und doch diesem Ziele freywillig aus dem Wege geht: dieser Mann ist eben der glückselige Mann. Um nun diesem System alle Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen: so ist es unstreitig, daß es unendlich besser ist, als das Aristippische. Wer sagt, bloß die Lust, die in der Kützlung eines gewissen Sinnes ihren Grund hat, ist Gut: der kann

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die Tugend auf keine Weise aus seinem System hervorbringen. Der, welcher sagt, auch die Empfindung der Gesundheit des ganzen Körpers ist ein Gut, kann Tugend darauf gründen. Ich würde sagen, ein Mensch, der nur so weit ist, daß er für seinen Körper, aber für diesen im Ganzen sorgt; nicht für seinen Gaum, oder irgend ein ander Glied, sondern für den ganzen Bau dieser wunderbaren und künstlichen Maschine; nicht für den jetzigen Augenblick, sondern für ein ganzes Menschenalter: ein solcher Mensch ist schon der Tugend sehr nahe. Ferner, es ist wahr, daß es in der menschlichen Natur liege, die Mittel mit dem Endzweck zu vertauschen; daß es möglich sey, das Geld um | des Aufwandes willen [396] zuerst schätzen zu lernen, und doch diesen Aufwand niemals zu machen. Aber dieß ist eine wahre Zerrüttung unsrer Begriffe, es ist eine Verfälschung unsrer Neigungen. Und so eine Verfälschung wäre also auch die Tugend? Sie wäre eine Arbeit, die zu nichts taugte, als die Gegenstände, die unsern Körper heilen oder ergötzen können, um uns herum zu versammeln; sie gefiele uns bloß, weil sie uns in einer dunkeln Zukunft diese Ergötzung voraussehen läßt: und doch wäre sie besser als diese? doch könnte sie auch ohne uns diese zu gewähren, uns glücklich machen? Welches Paradoxon der Stoiker ist ärger als dieses! Aber noch einen Schritt näher zur Sache. Ein Mensch, der einen Geist glaubt: kann der dieses System annehmen? Wenn ich ein eignes Wesen bin; muß ich dann nicht auch meine Eigenschaften, meinen eignen Zustand haben? Und müssen nicht eben diese Eigenschaften, dieser Zustand, das einzige seyn, was mir eigentlich zugehört, und das letzte worauf ich arbeite? Ist es möglich, daß Ich, das einzige Wesen, welches | alle andern Dinge [397] empfindet, sich selbst nicht empfinde? oder daß, da die Beschaffenheiten aller andern Dinge nur durch mich selbst erst geschätzt und rangirt werden, meine eigne Beschaffenheiten für mich gleichgültig seyn sollten? Und was sind diese Beschaffenheiten, oder was sind diese Unterschiede, wenn es nicht Tugend und Laster sind? Das epikurische System scheint dazu erfundenden gemeinen Meynungen der Menschen näher zu kommen; und es ist das künstlichste unter allen, wenn es sich mit der Tugend endigen soll. ‒ Denn welche Arbeit ist es nicht, so viel rechtschaffene und große Handlungen, für welche ohne alle Theorie sich das Herz jedes Menschen, der sie sieht, mit Beyfall und Hochachtung erwärmt ‒ welche Arbeit ist es nicht, sie mit dem Vergnügen in Verbindung zu bringen; das künstliche Blendwerk zu zeigen, das der Mensch sich selbst macht, der alles um seines äußern Vortheils willen thut, und doch alle seine Vortheile aufopfert? In dem entgegengesetzten System hängt alles zusammen; und wenn es in Einem Theile nicht richtig ist, so muß es ganz verworfen werden. Ist Tugend nicht für sich und ohne die äußern Fol|gen die sie hat, etwas gutes, so sind also meine eigne [398] Beschaffenheiten mir gleichgültig. Aber wie das bey einem Wesen, das empfindet? Also habe ich keine eigne Beschaffenheiten; also bin ich kein eignes Wesen; also

222 | 3 Aus den Übersetzungen giebt es nur Materie; also ist der Ursprung aller Dinge in der Bewegung. Es ist kein Gott und keine Zukunft. Hingegen, bin ich selbst etwas, das seine Natur, seine eigne Einichtung, seine Vollkommenheit, seine Mängel unabhängig vom Körper hat: so muß auch meine Glückseligkeit eigentlich davon abhängen, was ich selbst für ein Wesen sey. ‒ Dieses mein Wesen abgesondert vom Körper empfinde ich jetzt noch nicht rein; ich vermische mich noch immer mit meinem Blut und meiner Haut. Nur in meinen Handlungen, insofern sie moralisch sind, finde ich eigentlich mich selbst. Eben deswegen gebe ich diesen Handlungen den Namen Tugend und Laster, weil ich nur in ihnen meinen eignen Zustand als den Zustand eines Geistes erkenne. Ich begreife nun, daß wenn ein Geist zunächst und hauptsächlich auf einen Körper wirkt; der vollkommnere Geist auch gewöhnlichere Weise so wirken werde, wie es diesem [399] Körper am vortheilhaftesten ist. Ich be|greife, daß ein ruhiger, mäßiger, wohlwollender, muthiger Geist auch seinen Körper am gesündesten erhalten, sich die meisten Freunde verschaffen, die größte Sicherheit und den meisten Beystand in Absicht seines physischen Lebens erlangen werde. Aber ich begreife auch, daß nicht diese Sicherheit, dieser Beystand, das physische Leben selbst, mit allen seinen Erhaltungsmitteln, die Ursachen sind, warum jene Eigenschaften schätzbar seyn; daß sie selbst etwas höheres, etwas länger daurendes, etwas mir inniger zugehörendes sind, als das Leben; daß ich sie in jede neue Verknüpfung, in die mich die Vorsehung setzen wird, mit mir nehmen werde; daß mit einem Worte, Vergnügen, Nutzen, das Verhältniß andrer Dinge gegen meine Glückseligkeit ausdrückt, die von mir getrennt werden können, und die zu einer Zeit getrennt werden müssen, Tugend aber das Verhältniß, das ich selbst zu meiner Glückseligkeit habe, ich, das Wesen, von dem ich niemals abgesondert werden kann. Wenn ich annehme, das menschliche Leben ist die Veranstaltung eines Geistes, und hat eine Absicht: so ist das Epikuräische System ein unerklärlicher Zirkel, in [400] welchem ich mich ohne Ende | herumdrehe ohne einen Ausgang zu finden. Das sinnliche Vergnügen ist ganz augenscheinlich eine Anzeige gewisser Zustände des Körpers, und hat also (wenn überhaupt bey der Natur des Menschen von Absicht geredet werden darf,) die Absicht, den Menschen zur Erhaltung aufzumuntern. Aber wozu erhält er sich, wozu lebt er? Um sich Vergnügen zu verschaffen. Und wozu dieses Vergnügen? Damit er sich wieder von neuem erhalten könne. So also hat die unendliche Weisheit eine Menge Wesen hervorgebracht, deren gegenwärtiges Daseyn zu nichts nütze ist, als damit sie für ihr künftiges Daseyn sorgen können; die heute mit der ganzen Natur in einer unermüdeten Wirksamkeit sind, bloß damit sie morgen wieder da seyn mögen. Das System von der innern Güte der Tugend hat der Religion gefährlich geschienen, weil man glaubte, daß es die Belohnungen unnöthig machte. Aber man sage mir: welches sollen diese Belohnungen seyn, die man der Tugend in einem künftigen Leben verspricht? Sind es Vergnügungen die uns von außen zufließen; Eindrü[401] cke, die andre Dinge auf | uns machen, so wie es die sinnlichen Empfindungen jetzt

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sind? nun so sage irgend jemand, warum diese Vergnügungen nicht hier schon geschätzt und gesucht werden dürfen; warum sie der Tugend zu Ehren aufgeopfert werden sollen, da die Tugend uns nichts bessers anzubieten hat? Überdieß da sich alle diese Vergnügungen auf einen Körper beziehen, so können wir sie uns nicht anders als in Raum und Zeit eingeschränkt vorstellen. Bestehen aber diese Belohnungen in einer größern Ausbreitung unsrer Wirksamkeit; sind es neue Gelegenheiten, die uns zu Handlungen verschafft werden; ist es ein höherer Posten, der uns anvertraut werden soll: nun so muß doch wahrhaftig in der Handlung selbst etwas gutes liegen; so muß es auch schon in den guten Handlungen liegen, die wir hier thun; so muß die Tugend um ihrer selbst willen gewählt werden, weil nur die Tugend die Belohnung der Tugend seyn kann. Die ganzen Kapitel des 4ten Theils von Vergnügen und Schmerz, von Vollkommenheit und Mangel, von Glückseligkeit, von den Meynungen die glückselig und elend machen; sind nach | meinen Gedanken vortrefliche Kapitel. Meine Seele er- [402] hebt sich, wenn ich sie lese. Ich emfpinde ihre Wahrheit, und ich empfinde daß auch ich glückselig seyn kann. Nur die Eintheilung der Vergnügungen in solche, die aus Meynung, Zuneigung und (exercise) Thätigkeit entspringen, scheint mir zwey Sachen zu verwirren. Erstreckt sich nicht die Macht der Meynung und des Vorurtheils über alle Klassen? sind dieß nicht zwey ganz verschiedne principia diuisionis? Besser deucht mich also so: Die Vergnügungen können eingetheilt werden 1) nachdem sie entweder bloß die Wirkung der Dinge auf uns, oder unsre eigne Wirkung bey Gelegenheit der Dinge sind. 2) Nachdem sie durch die Anwendung der einen oder der andern Fähigkeit des Geistes genossen werden. Nach der ersten Eintheilung sind einige Vergnügungen nothwendig und natürlich; sie hängen ganz ab von dem Bau unsrer sinnlichen Werkzeuge, und der Natur der äußern Dinge; dieß sind die Eindrücke die alle Menschen auf gleiche Weise und gleich bey dem erstenmale von den Sachen erhal|ten. Es fragt sich, wie viel solcher [403] Empfindungen es giebt? Andre sind mehr willkührlich und veränderlich; sie hängen ab von den Ideen, die wir uns entweder von dem Gegenstande selbst machen, oder von andern Ideen, die durch denselben erweckt werden; es sind die eignen Beschäftigungen des Menschen mit den Objekten, die nach seinen Fähigkeiten und seinen Umständen auf tausendfache Art abwechseln können. Nach der andern Eintheilung giebt es Vergnügungen, die aus Beschäftigungen des Verstandes, aus Neigungen des Willens, aus Bewegungen des Körpers entstehen. Jede Fähigkeit, die angewandt wird, jede Leidenschaft, die ein ihr schickliches Objekt findet, jede körperliche Geschicklichkeit, die sich zeigt, ist auf gewissen Weise ergötzend. Die erste Eintheilung führt auf eine wichtige Frage: wie viel thun bey Lust und Schmerz die äußern Dinge, welche wir ergötzend oder verdrüßlich nennen; und wie viel thun wir? wie viel liegt davon in unsern Umständen, und in den umwandelba-

224 | 3 Aus den Übersetzungen ren Gesetzen, nach welchen solche We|sen wie wir, von Dingen dieser Art so und nicht anders gerührt werden können; und wie viel liegt in unsern Gewohnheiten, unserm angestellten Nachdenken, unserm Betragen gegen die Dinge? Wie viel müssen wir in gewissen Fällen, bey der Gegenwart gewisser Objekte, leiden oder geniessen, weil wir Menschen sind? Und wie viel leiden oder geniessen wir, bloß weil wir solche Menschen sind: und auf diese Weise handeln? Diese Frage kömmt unter tausendfacher Gestalt in den Untersuchungen der Menschen vor. Sie verwirrt die Regeln der Schönheit, weil sie uns ungewiß macht, wie viel wir von dem Wohlgefallen an sichtbaren Gegenständen, der Gestalt selbst, und wie viel wir unsrer Art sie zu sehen, zuschreiben sollen. Sie verwirrt bey Leuten, welche die Tugend nur durch erlernte Spekulationen kennen, selbst die Regeln des Guten, weil sie die Verschiedenheiten und Widersprüche der Menschen über den Werth der Dinge und Handlungen veranlaßt. Vermöchten die Dinge alles über uns; so wären wir bloß leidende Geschöpfe, [405] bloße Maschine; keiner Tugend und keiner eigenthümlichen | Glückseligkeit, wir wären nur bloß des Glücks und des Unglücks fähig. Vermöchten wir alles über die Dinge: so wären alle Beschaffenheiten der Dinge uns gleichgültig; es gäbe keine Gesetze mehr, wornach eine Sache auf eine andre wirkte; es wäre keine Ordnung mehr in der Natur, in unsern Handlungen fände keine Wahl statt; und so wäre die Tugend wieder zerstört. Aber ist auf der einen Seite etwas in unsern Empfindungen unabhängig von unsern Meynungen: so hat unser Verstand in der Wahl der Gegenstände einen festen Punkt vor, wo er ausgehen kann. Und ist auf der andern etwas in unsern Empfindungen unabhängig von der Beschaffenheit der äußern Dinge: so hat unsre Besserung einen Zweck. Wir wissen, daß wenn wir selbst anders geworden sind: auch die ganze Welt für uns eine andre Gestalt annehmen wird; ‒ so hat unsre Glückseligkeit einen festen und dauerhaften Grund. ____________________

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Ferguson sagt; ein sinnliches Leben (a life of sensuality) ist entweder ein Zustand einer großen Unempfindlichkeit, oder nichtswürdiger Vergnügungen. Was versteht er unter dieser Unempfindlichkeit? ohne Zweifel die Trägheit und Schläfrigkeit der Orgons. Er will soviel sagen: ein Mensch, der viel empfindet, viel Thätigkeit des Geistes hat, kann sich mit dem Essen und Trinken und dem übrigen kleinen Zirkel sinnlicher Ergötzungen nicht befriedigen. Denn warum? sie nehmen, wenn sie am ausschweifendsten genoßen werden, doch nur einen kleinen Theil der ganzen Zeit jedes Tages ein. ‒ Wer nun die übrige Zeit ohne Verdruß müßig seyn kann, der kann mit dem sinnlichen Vergnügen ausreichen: wer aber nach Stillung der Begierden, die auf seine Erhaltung abzielen, noch andre in sich wach fühlt, der muß entweder lebhaftere Beschäftigungen des Verstandes und des Herzens suchen, er muß arbeiten, er muß Gutes thun; oder er muß auf Zeitvertreibe denken.

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Was sind sie dann aber diese Zeitvertreibe? Sie sind solche Beschäftigungen, die [407] etwas zu thun, zu denken, zu verfolgen geben, was doch ohne beträchtlichen Endzweck ist. Was ist wohl der Unterschied zwischen der Arbeit des Geistes beym Spiel, und bey dem Studieren? Ich sehe keine andre als diese: 1) Beym Studieren müssen wir die Ideen selbst in uns erwecken, beym Spiel werden sie uns angeboten; dort müssen wir den Gegenstand, so zu sagen, selbst in unsrer Seele hervorbringen, hier werden die Gegenstände durch die zufälligen Verbindungen des Spieles hervorgebracht. Zu sehen ist leicht; etwas aufsuchen ist schwer. Allenthalten, wo Begriffe in uns abwechseln, durch die Abwechselung der Dinge selbst außer uns, da wird unsre Kraft geschont; wo Begriffe in uns abwechseln sollen, durch das Fortrücken unsrer eignen Aufmerksamkeit, da wird unsre Kraft angestrengt. 2) Bey der Arbeit muß eine gleichförmige Reihe von Ideen verfolgt, ein einziger Gegenstand muß unverwandt angesehen werden; beym Spiel ist eine beständig veränderte Reihe;| immer neue [408] Auftritte. 3) Bey der Arbeit ist gemeiniglich entweder die Einförmigkeit zu groß, oder die Mannichfaltigkeit zu verwickelt; beym Spiel, beym Kartenspiel insbesondre, geben die Regeln, die man einmal weiß, Einförmigkeit, die veränderten Fälle, auf welche man sie anwendet, Mannichfaltigkeit. 4) Bey der Arbeit ist der Zweck entfernt, und der Erfolg lange zweifelhaft; beym Spiel ist der Zweck nahe, und der Erfolg wird bald entschieden. Das Spiel ist also 1) eine Reihe kleiner abwechselnder Aufgaben, die man erstlich nicht suchen darf, sondern die uns gegeben werden: zweytens deren Auflösung nicht ganz neu erfunden, sondern nur nach gewissen bekannten Regeln bestimmt werden darf; es ist 2) eine Reihe kleiner zufälliger Begebenheiten, die uns in Erwartung setzen, ehe sie erfolgen, und in einige Verwunderung, wenn sie geschehen sind. Ich rede nicht von dem Ehrgeiz und der Gewinnsucht, weil diese Leidenschaften sich mit allen Beschäftigungen zusammengesellen lassen. ____________________ Eine der schönsten Stellen des Fergusons ist diese: (4. Th. 3. Kap. 3. Abschn.) [409] »Der Zustand einer Seele, die bis auf den Grad erleuchtet ist, daß sie den Plan der göttlichen Vorsehung im Ganzen vor Augen hat, ist der Zustand der glückseligsten Seele« ‒ Wenn es einen Menschen gäbe, der auf einmal nur die ganze Erde, oder alle Geschlechtsfolgen der Menschen übersähe; der die Empfindungen und Handlungen aller lebendigen Wesen nur in diesem Augenblicke, oder die Reihe aller Empfindungen und Handlungen nur eines einzigen mit Einem Blicke umfaßte: für diesen Menschen würde kein Übel mehr seyn. Die Ordnung des Ganzen würde die Unordnungen der einzelnen Theile verschlingen; das Wenige Übel würde unter dem Großen Guten verloren gehen; er würde nicht mehr seine abgesonderte Existenz empfinden, sondern sich mit dem ganzen System der lebendigen Wesen zusammenfassen; er würde, wie Ferguson sagt, jedes Geschöpf lieben, und sich an jeder Bege-

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benheit erfreuen. ‒ Dieß ist | die Glückseligkeit des Schöpfers. ‒ Aber diesem Zustande näher kommen, den Kreis seiner Empfindung und seiner Theilnehmung zu erweitern; sich aus seinem Zimmer und der gegenwärtigen Stunde, in die weite Welt, und in die Reihe der immer fortgehenden Jahrhunderte zu setzen: das ist die beständige Beschäftigung des Tugendhaften und des Weisen, wenn er mit seinem Schicksal oder mit seinem Nebenmenschen zufrieden seyn will; es ist beyläufig zu sagen, auch die Beschäftigung des Mannes von Genie. Dieß ist die wahre Erhabenheit des Geistes, ohne welche niemals etwas großes hervorgebracht, niemals eine standhafte Glückseligkeit genossen worden. ____________________

(4. Th. 3. Kap. 5. Abschn.) »Wenn eine wohlwollende, weise und muthige Seele die höchsten Freuden und den geringsten Schmerz hat: so ist diese allein für glücklich zu halten.« Also nicht darauf kömmt es an: ob Tugend allen Schmerz aufhebe; ob sie alle [411] angenehme Empfindungen verschaffe: sondern 1) ob sie das einzige im menschlichen Leben sey, was durchgängig auf Lust und Schmerz diesen gleichförmigen Einfluß hat, daß sie jenes erhöhe oder verlängere, und dieses mildere oder abkürze. 2) Ob sie das einzige im menschlichen Leben sey, was wir selbst zu unsrer Glückseligkeit thun können. Gesetzt, es gäbe eine Art und Weise, ein ganzes menschliches Leben mit sinnlichen Vergnügungen auszufüllen; gesetzt ein solches Leben wäre glücklich: ist aber dieß eine Glückseligkeit, deren Untersuchung uns etwas angeht? Ist es eine, die dem menschlichen Geschlecht gemein seyn kann? Eine, zu der wir selbst viel thun können? Wenn wir fragen: was ist Glückseligkeit? So heißt dieß mit andern Worten; was sollen wir zur Glückseligkeit thun? ‒ Der, welcher uns antwortet, die Glückseligkeit [412] ist sinnliches Vergnü|gen; sagt uns zugleich: ihr könnt zu eurer Glückseligkeit nichts thun, oder wenigstens nichts, dessen Ausgang gewiß wäre. ‒ Um glückselig zu seyn, müßt ihr gesund, reich, angesehen seyn; ‒ und ihr müßt es abwarten. ‒ Kann es eine Antwort geben, die trostloser und niederschlagender wäre? ____________________ Der 5te und 6te Theil, der von den einzelnen Rechten und Pflichten handelt, ist bey weitem nicht so gut, als der, welcher das Wesen der Tugend überhaupt schildert. ‒ Aber was ich hier zu sagen hätte, ist zu vielfach, und erstreckt sich zu weit: ich will bloß einige wenige Punkte berühren. Der Ursprung der Rechte und besonders des Eigenthums ist nur unvollkommen erklärt. ‒ So, denke ich, entsprang bey dem Menschen zuerst die Empfindung daß er etwas von andern sondern dürfe: Ich will leben, sagte er zu sich selbst, und mich erhalten. Ich liebe die andern; [413] ich will, daß auch sie erhalten werden sollen. In diesen mei|nen eignen Empfindungen erkenne ich das gemeinschaftliche Gesetz der menschlichen Natur. Ich sehe

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voraus, daß andre zu leben wünschen, wie ich es wünsche; daß sie mich nicht hassen wie ich sie nicht hasse. Die Empfindungen meiner eignen Natur treiben mich an, nicht zu schaden, wo ich nicht muß; meine sympathetische Empfindung von der Natur andrer überredet mich, daß auch sie mir nicht schaden werden, wenn sie nicht müssen. Diese gegenseitige Erwartung, diese in den Empfindungen meiner Natur gegründete Voraussetzung, daß andre mir nicht schaden werden, so lange ich ihnen nicht schade; dieß ist mein Recht. ‒ Dieß ist die Art von Daseyn, welche die Rechte der Menschen haben, so lange sie ruhen, so lange sie nicht geübt werden. Und sie werden eigentlich nur geübt, wenn sie gekränkt worden sind. Alsdann aber ist es eben diese Natur, welche macht, daß ich meine Erhaltung als das erste | und vornehmste ansehe; und den Menschen, der mir schadet, nicht [414] mehr als einen Menschen betrachte, der mir ähnlich ist, und den ich liebe, sondern als ein mir schädliches Wesen, das ich wegschaffen und zerstören muß. Er verliert seine moralische Beschaffenheit; und wird bloß zu einer physischen Quelle des Übels. Ich vernichte ihn, wenn ich desselben nicht anders los werden kann. Aber woher entsteht der Unterschied zwischen Rechten, die ich erzwingen kann, und solchen, die ich erbitten muß? 1) Zu Unterlassungen kann ich zwingen; wirkliche Handlungen (den Fall des Vertrags ausgenommen) muß ich erbitten. Alle Zwangspflichten gehen bloß darauf, daß wir nicht schaden, daß wir uns ruhig verhalten, daß wir nichts thun sollen: alle Gewissenspflichten darauf, daß wir nutzen, daß wir uns thätig erweisen, daß wir etwas hervorbringen. Jenes hängt bloß vom Willen, dieß hängt auch von den Kräften und Umständen ab. 2) Die Pflicht von der ich gewiß, in allen Fällen gewiß überzeugt seyn kann, daß [415] sie dem andern obliege, die darf ich auch mit Gewalt fordern. Die Pflicht, deren Verbindlichkeit von solchen Umständen abhängt, die niemand wissen kann, als der, welcher sie thun soll: eine solche Pflicht darf nicht erzwungen werden. Daß ich jetzt eben die Schuldigkeit habe, Allmosen zu geben: wie kann dieß der Bettler beurtheilen? Er müßte meine ganzen Umstände, mein Vermögen, die Armen, denen ich schon gegeben habe, und denen ich geben muß, er müßte meine ganzen Verhältnisse kennen. Daß ich jetzt eben die Schuldigkeit habe, diesen Bettler nicht zu mißhandeln, das kann er wissen, ohne meine Umstände im geringsten zu kennen, wenn er nur weiß, daß er und ich Menschen sind. 3) Wenn irgend jemand die Erlaubniß hat, zu schaden, so kann die Gesellschaft nicht bestehen; wenn aber auch viele sind, die andern nicht nutzen, so können diese andre doch noch für sich selbst sorgen. Ohne Wohlthätigkeit bey bloßer | Ge- [416] rechtigkeit, behält jeder noch seine eignen Kräfte, um seine Wohlfarth zu schaffen: die Ungerechtigkeit hingegen hebt alle Möglichkeiten auf, daß Menschen bestehen können.

228 | 3 Aus den Übersetzungen 4) Es giebt Handlungen, deren einzelne Ausübung nützlich ist, und die um dieses besondern Nutzen willen, den sie jedesmal stiften, Schuldigkeit werden: es giebt andre Handlungen deren allgemeine Gewohnheit nützlich ist; die nicht so wohl um der Vortheile willen, die jede derselben hervorbringt, als um des Nutzens willen, den die allgemeine Gewohnheit so zu handeln hervorbringt, für gut gehalten werden. ‒ Alle Gewissenspflichten sind von der ersten, alle Zwangspflichten sind von der andern Art. ‒ Warum bin ich verbunden, einer nothleidenden Familie Geld zu geben? weil ich einsehe, daß diese Handlung, diese einzelne Handlung an und für sich der Gesellschaft nützlich ist. Warum bin ich verbunden, meinem Gläubiger seine Schuldforderung zu bezahlen? Nicht weil ich einsehe, daß es, in diesem be[417] sondern Fall für mich und für ihn, und für die | ganze Gesellschaft nützlich ist, daß er diese Summe bekömmt und ich sie verliere, ‒ denn vielleicht bin ich höchst arm und bedarf sie, er ist reich und verschwendet sie, vielleicht lasterhaft und mißbraucht sie: sondern weil ich einsehe, daß es der Gesellschaft sehr nützlich ist, daß die Gewohnheit, seine Schulden zu zahlen, allgemein sey. Wo ich also von der Pflichtmäßigkeit meiner Handlung bloß nach der Nützlichkeit derselben urtheilen muß: da bin ich allein Richter darüber. Da, wo ich die Pflichtmäßigkeit aus der Nothwendigkeit der allgemeinen Regel, worunter sie steht, erkenne: da kann auch die andre Parthey Richter seyn. Aber wo kömmt eigentlich das Recht her, welches ein Versprechen giebt? Es liegt, sagt Ferguson richtig, in der Erwartung, welche das Versprechen erregt. Diese Erwartung, da sie für den andern ein Grund wird, wornach er schon im voraus han[418] delt, ist also ein Theil seines Eigenthums. ‒ Deswegen | fordern die Lehrer des Rechts zur Gültigkeit des Vertrags, die acception, die Annahme des Versprechens. Nicht als wenn diese eine magische Kraft hätte, Verbindlichkeiten hervorzubringen: sondern weil eher nicht klar ist, ob eine wirkliche Erwartung bey dem andern sey erregt worden, und ob er seine Umstände nach dieser Erwartung einrichten werde. Ferguson sagt von den Ausnahmen der Gewaltthätigkeit und der List, daß im bürgerlichen Leben und im Frieden Verträge dadurch ungültig gemacht werden; unter Nationen aber, und im Kriege nicht. Aber den Grund giebt er nicht an, warum dieses so sey. Die Sache ist, glaube ich, diese: die moralischen Unterschiede überhaupt haben ihren Grund nicht bloß in dem Nutzen; aber die einzelnen Regeln der Gerechtigkeit haben ihn darinnen. Jene sind deswegen unveränderlich und allgemein; diese sind veränderlich und beziehen sich auf gewisse Umstände. [419] Daß eine Seele in dem Zustande, in welchem sie zu lauter gerechten und wohlthätigen Handlungen aufgelegt ist, eine bessere und vollkommnere Seele sey; weiß ich, ohne Rücksicht auf die Vortheile, die Gerechtigkeit und Wohlthun zur Erhaltung und zum Vergnügen des menschlichen Lebens haben. Daß es aber eine gerechte Handlung sey, einen Vertrag nicht zu halten, zu dem ich bin gezwungen worden, weiß ich nur daraus, weil es nützlich ist, daß solche Verträge gebrochen werden.

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Wo nun also dieser Nutzen aufhört, da hört auch die Gerechtigkeit der Sache auf. ‒ Die Kriege würden ewig seyn, wenn ein erzwungnes pactum ein ungültiges seyn sollte. Die Erhaltung des menschlichen Geschlechts also, welche sonst die Aufhebung dieser Verträge fordert, befiehlt sie hier zu halten. ____________________ Ich schließe hier diese Anmerkungen, die ich vielleicht zuweilen länger gemacht habe, als sie zur bloßen Erläuterung meines Autors nöthig | gewesen wären. [420] Aber wenn nur das, was ich gesagt habe, etwas wahres und nützliches ist: so steht es immer an seiner rechten Stelle. Noch ein Wort muß ich von der Übersetzung sagen. Ich denke, daß sie größtentheils richtig seyn wird; aber ich glaube nicht, daß sie allenthalben vortreflich ist. Ich habe sie wieder durchgelesen, und ich habe den Ausdruck zuweilen dunkel gefunden. Liegt es am Autor, liegt es an mir? ich weiß es nicht. Aber das weiß ich, daß es weit leichter ist, Gedanken, die man selbst gehabt hat, aufs vollkommenste auszudrücken, als solche, die man von andern überliefert bekommt. In dem einen Falle entsteht die Idee und der Ausdruck zugleich. Sie bilden einander, und haben also auch die genaueste Übereinstimmung. In dem andern Falle ist die Idee schon da; und die Wörter sollen für dieselbe gesucht werden. Der Mensch muß selbst den Ausdruck nach der Idee bilden; diese Übereinstimmung ist immer mangelhaft.

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https://doi.org/10.1515/9783110647808-005

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Laokoon, oder über die Gränzen der Mahlerey und der Poesie mit beyläuftigen Erläuterungen verschiedenem Punkte der Alten Kunstgeschichte, von Gotthold Ephraim Lessing

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Mit der Gesinnung mit der ein Mann der weder ein Künstler noch Kunstrichter ist, vor eine Statue tritt nicht um neue Schönheiten zu entdecken, noch neue Gegensätze herauszu|ziehen, sondern nur das auch vor seinen Theil zu empfinden, was [329] andere Leute von gutem Gefühl von ihm empfunden haben, nicht um erzählen zu können, was er gesehen hat, sondern um sich mit dem Anblick zu sättigen und wenn es möglich ist gedankenreicher wegzugehen, als er gekommen war, in der Verfassung lese ich jetzt den Laokoon. Das Buch ist so längst bekannt, gelobt, bewundert, beurtheilt, getadelt worden, daß eine Kritik, die blos bekannt machen sollte, viel zu spät käme, und die Stimme einer einzelnen Person der einem Werk, das schon das Urtheil der Nation ausgehalten hat, in keine Betrachtung mehr kommt. Noch vor kurzem hat ein Mann von Tiefsinn und Gelehrsamkeit über dieses Werk ein neues geschrieben. Man kann also nicht erwarten, daß auch für den denkenden Kopf viel Seiten übrig gelassen sind, von denen diese Gegenstände sich betrachten liessen. Aber das ist noch vielleicht übrig, der Reihe der Lessingschen Ideen unverwandt nachzugehen; sie so wie sie sich in seinem Kopf entwickelt haben: (denn in der That ist sein Buch mehr eine Geschichte seiner Meditation, als das bloße Resultat derselben) sich auch in seinem entwickeln zu lassen; blos den Faden, wenn er, um durch angenehmere Wege zu führen, Krümmungen macht; abzukürzen und grader zu leiten; so wurde die Übersehung des ganzen Weges die einzeln Abweichungen zu berichtigen, und wenn es möglich ist, anstatt Irrthümer aufzusuchen, die zu den einzelnen Stellen Anlaß geben könnten, durch den Zusammenhang des Ganzen zu widerlegen. Keine Werke sind so fähig uns über die Art der Operationen der menschlichen Seelen aufzuklären, als die, wo uns nicht die Ideen, nachdem sie hervorgebracht, und in ein gewisses vollständig scheinendes Gebäude geordnet werden, blos gezeigt werden, son|dern wo wir sie selbst hervorbringen sehen. Fast jeder Mensch, der [330] selbst denkt, muß eine Erfahrung bey sich gemacht haben, die wie mich deucht, auch die Werke unsers Verfassers bestätigen. Es giebt eine gewisse Veränderlichkeit der Meynungen, eine Art von Widersprüchen, deren nur ein solcher Kopf fähig ist. Wenn man das Vergnügen zu denken einmal genossen hat; wenn man im Stande ist es sich zu verschaffen: so ist man immer bereitwilliger eine neue Reihe von Reflexionen anzufangen als sich seiner alten wieder zu erinnern. Ohne daran zu denken wo uns diese Reihe hinführen könnte, überlassen wir uns blos dem Hange und der Beugung die unsre Ideen nahmen. Kommen wir an demselben Ziel an, wo wir ehemals auf einem andern Wege, von einer andern Seite hintrafen: Gut, wir freuen uns unsre ehemaligen Meynungen als alte Freunde unvermuthet wieder zu finden und empfangen sie mit desto brünstigeren Zuneigung. – Aber wir suchen sie nicht auf, wir sind nicht zum voraus schon vorbereitet, keine andre Ideen aufzunehmen, als

234 | 4 Rezensionen die sich zu denselben passen, wir sind nicht unzufrieden, wenn wir die Wahrheit in einer andern Gestalt wider treffen, als in der sie sich uns ehemals darbot. Um auf dem Wege des Raisonnements gleichförmig fortzugehen ist nothwendig, sich schon das Ziel wo man hindenke, vorgestellt zu haben; es immer im Gesicht zu behalten und seine ganze Ideen dahin zu lenken, wo sie am Ende eintreffen sollen. Aber eben das ist der Weg sich ewig in einen engen Kreys von Begriffen einzuschliessen, sich alle Mittel, Vorurtheile abzulegen, oder neue Wahrheiten zu entdecken, zu benehmen und Irrthümer zu verewigen, die sonst nur Einfälle gewesen wären. – So wie die Übereinstimmung in den Meynungen mehrerer Personen beynah sobald weg[331] fällt, als diese | mehrere Personen nicht blos nachsprechen sondern würklich denken, so ist gemeiniglich diese völlige Übereinstimmung mit sich selbst nur alsdann möglich, wann man über jede Sache nur einmal denkt, und einmal gemachte oder angenommene Grundsätze ewig zu dem Maaße aller seiner künftigen Einsichten und Urtheile macht. Dieser freye ungehinderte zügellose Lauf der Meditation; diese mehr auf gerathewohl als zu einem besondern Entwurf angefangene Untersuchung; diese Entwickelung der Ideen durch ihre natürliche Fortschreitung, ohne vorher bestimmten Endzweck; diese Erweiterung des Plans mit jeder Stuffe der Entwickelung; mit einem Wort, diese vor den Augen des Lesers selbst angestellte Untersuchung, die ist der Charakter beynah aller Lessingscher Werke, und auch dieses insbesondre. Wenn sich in einem reichen Kopfe aus der Menge von Vorstellungen, die in demselben schlummert, eine hervorhebt; so wirft sie auf einmal einen Glanz auf eine ganze Reihe andrer, die er alsdenn erst gewahr wird. Von dieser Entdeckung gereizt, und durch das Vergnügen des Arbeitens selbst, mehr als durch irgend eine Belohnung der vollendeten Arbeit selbst angetrieben, bringt er die Begriffe so nach einander zur Klarheit, wie eine zuerst auf die andre ihr Licht fallen ließ. Sein Buch wird eine Erzehlung seiner eigenen Veränderungen. – Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, wird für den Leser, der auch die Operation kennt, die hier vorgeht, der selbst zuweilen die Versuche macht, die er hier ausgeführt sieht, für den wird das Buch richtiger seyn, als ein ausgearbeitetes ganz vollendetes Werk von längst gesammelten Ideen. Nicht der Nutzen der Sachen, selbst nicht die Richtigkeit der Begriffe, sondern die [332] Kraft der Seele, mit der sie hervorgebracht werden,| wird ihn für den Schriftsteller einnehen, er findet in ihm ein Muster seines Nachdenkens, wenn er auch keine Principia zu denselben finden sollte. Meinen Geist, ich gestehe es, hat eben deswegen keine Lectüre so genährt, keine so sehr meinen Kopf in der Disposition zu denken zurückgelassen, keine mir selbst mit einer so großen Idee meiner Fähigkeit geschmeichelt, als die Lessingsche Werke. Noch ein andrer Vorzug ist ihnen eigen, der grade dazu gehört, wenn man gerne einem denkenden Kopf während der Arbeit des Nachdenkens selbst zu sehen soll, eine Genauigkeit und Kraft des Ausdrucks, eine Vollständigkeit und eine gewissen Rundung aller Theile jedes Begriffs, eine immer genau bezeichnete Folge von einem Begriff zu dem andern; eine gewisse lebende anschauende Rede, die die

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ganze Idee mit allen ihren Schattierungen durchscheinen läßt, und der Art dieser Vorstellung so genau anpaßt, daß man zweifelhaft ist, ob es Gedanke oder Ausdruck ist, welcher zuerst den andern hervorgebracht hat. – Unsere Sprache erlaubt einem Schriftsteller, der eine gewissen Gewalt über sie hat, so einen weiten Umfang der Freyheit; sie läßt sich in so viele und so mannigfaltige Wendungen beugen, sie giebt den Ideen des Schriftstellers so nach, daß es in ihr mehr als in einer andern möglich ist, jeden leichten Riß, jede nur halbe entworfene Spitze der Gedanken doch verständlich und einnehmend zu machen. Herr Lessing kennt, so sehr nur irgend ein andrer, diese Vortheile. In jedem Gedanken durch den Ausdruck grade die Idee am lebhaftesten in die Seele zu bringen, die die vornehmste des Gedankens seyn soll, die Aufmerksamkeit allemal grade auf den Punct rege zu machen; den er am meisten will gesehen wissen; fremde oft gemeine Redensarten und Wörter durch die Stelle in der sie | sezt, entweder einleuchtend zu machen oder zu veredeln; das [333] ist ein Verdienst, das ihm unter unsern Schriftstellern vorzüglich eigen ist. Aber eben dieses Talent, so nothwendig es jedem denkenden Geist ist, so ist es doch auf der andern Seite auch im Stande ihn zuerst, und dann seine Leser zu verblenden. Eine schwache Verbindung der Begriffe, entfernte Ähnlichkeiten können uns, wenn sie durch einen glücklichen Ausdruck in ein helleres Licht gesezt worden, so sehr rühren, daß wir sie für sehr starke und innre Verhältnisse halten. Die Gedankenwerden einigermaßen durch die Zeichen derselben bestimmt, und das was einfältig der schlecht ausgedrückt, uns selbst unrichtig oder zweifelhaft geschienen hätte, kommt uns unter der passendern und einleuchtendern Bezeichnung, die wir ihm gegeben haben, wahr und ausgemacht vor: so wird die Seele oft von ihrem eignen Lichte geblendet. Man muß uns diese allgemeine Betrachtungen bey einen Werke und einem Schriftsteller erlauben, bey dem es nicht der geringste Nutzen seiner Leser ist, die menschliche Seele in einer vorzüglichen Größe und die Ausübung ihrer besten Fähigkeiten kennen zu lernen. Wir setzen uns also mit ihm zu dem Buche des Winkelmanns und lesen. Winkelmann vergleiche den Laokoon des Virgils mit dem Laokoon des Künstlers. Der erstre schreyt, der leztre seufzt nur. Das Factum ist richtig. Aber wie erklärt es Winkelmann? Es ist, sagt er, der Ausdruck einer großen Seele eines mit dem Schmerzen ringenden Geistes, es ist der natürliche Ausdruck von dem Leiden eines Helden. Wie; (so stelle ich mir vor, hat Lessing gedacht da er diese Stelle las) diese Mäßigung in dem Ausdruck der Leidenschaft, soll bey dem Künstler blos dem | Zweck [334] haben, die Größe und die Weisheit der Seele bezeichnen? Aber das ist ja ein Zweck, der Künstlern und Dichtern gemein ist. Warum wollte denn Virgil seinen Laokoon nicht auch als einen Helden erscheinen lassen, warum Sophokles nicht seinen Philoctet, denn bey dem finde ich doch nicht bloß unterdrückten, sondern auch lauten, unverstellten, schreyenden Schmerz. – Wenn dieser Ausdruck einer grossen Seele blos den Künstlern eigen ist, so muß der Grund davon wohl mehr in dem Eignen ihrer Kunst als in dem Gemeinschaftlichen der menschlichen Natur liegen. – Und

236 | 4 Rezensionen dann, das ist nicht einmal wahrer Ausdruck einer großen Seele nach griechischen Begriffen. Ihre Helden, so wie sie uns von ihren vornehmsten Dichtern beschrieben werden, empfinden den Schmerz lebhaft und drücken ihn ohne Rückhalt aus. – »Aber ist denn das geduldige Ertragen des Leidens nicht auch Stärke der Seele?« Nicht sowohl Stärke der Seele als Unempfindlichkeit und Abhärtung; und eben diese vernichtet den Werth der Tapferkeit mehr, als sie sie erhebt; das ist die Tapferkeit der Wilden. – Aber den Schmerz zu fühlen, und ihn für das Gute des Endzwecks übernehmen; das ist griechischer Heldenmuth. – Also, wenn der Ausdruck des höchsten Schmerzens doch noch mit der Größe der Seele bestehen kann, so muß es eine andre Ursache geben, warum die Künstler ihn vermieden haben. Und welche ist diese? Der höchste Ausdruck der Leidenschaft ist allemal eine gewaltsame Bewegung der körperlichen Theile, er verstellt oder vermindert also die Schönheit der Gestalt, indem er die Verhältnisse derselben zerrüttet; und der Künstler will Schönheit. Wenn dieser Grund aber befriedigen soll, so muß also Schöheit vor Ausdruck [335] gehen; so muß die An|nehmlichkeit der Form ein höherer Endzweck der Kunst seyn, als die Vorstellung der Leidenschaft. – Grade so war es auch bey den Griechen. Das beweisen ihre Gesetze und die Übungen ihrer Künstler. Die einen verbieten die Nachahmung häßlicher Gegenstände, und schränken auf alle Weise die Nachbildung bloß einzelner Gegenstände ein. Diese verminderten den Ausdruck der Leidenschaft, um die Schönheit der Form durch eine zu heftige Bewegung der Theile nicht zu stören; und sie verbargen diesen Ausdruck sogar wo er der Verfassung der Person nach nothwendig gewesen wäre. Das war der eigentliche Zweck des Timanthes, da er seinen Agamemnon verhüllte, nicht die Unfähigkeit der Kunst, den höchsten Grad des Schmerzens auszudrücken. Aber wenn auch Schönheit nicht durch den Ausdruck der heftigsten Leidenschaft gestöhrt würde: so hätte doch der Künstler noch Ursache ihn zu vermeiden. Der Künstler noch Ursache ihn zu vermeiden. Der Künstler macht für das Auge nur einen einzigen Augenblick. Die Imagination allein kann diesen Augenblick vervielfältigen, indem sie sich de vorhergehenden und die nachfolgenden hinzudenket. Aber wenn das geschehen soll, so muß es nachfolgende Augenblicke geben; so muß das, was der Künstler von der ganzen Action zeigt, nicht das seyn, was in der Succeßion der darunter begriffnen Veränderungen das äusserste ist. – Ferner das Werk des Künstlers ist unveränderlich und fortdaurend; also muß er auch die Gegenstände, die ganz augenblicklich sind, vermeiden; und der höchste Schmerz ist es. Dieses Gesez bestätigt sich, indem es zugleich den Poeten rechtfertiget, der demselben entgegen handelt. Durch die höchste Leidenschaft wird die Schönheit veranstaltet. Aber Schönheit des Körpers ist nicht das, wodurch die Dichtkunst [336] gestalten will; es ist Schön|heit der Seele durch Handlungen ausgedrükt, hier also ist der Ausdruck ein höher Gesetz als die Schönheit. – Leidenschaft ist nur augenblicklich. – Aber die Poesie braucht nicht blos einen Augenblick zu schildern, sondern ganze Succeßionen; bey ihr dauert also das Bild nicht länger als bis der Dichter

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ein neues darauf folgen läßt, und das kann mit eben der Geschwindigkeit geschehen, mit der die Natur diese Zustände selbst auf einander folgen läßt. Aber wie in Dramatischen, wo für Auge und Einbildungskraft zugleich gemahlt wird? und doch hat Sophokles sich des Vorrechts der übrigen Dichter in diesem Stücke bedient. Ganz gewiß liegt der Grund in dem Unterschiede des sich bewegenden Gemähldes auf der Scene, und des stillstehenden auf der Leinwand: Philoctets Schmerz ist nicht eine Krankheit sondern eine Wunde. Darüber hat die Imagination schon mehr Gewalt, es sich lebhaft vorzustellen. Es ist nicht bloß Schmerz, sondern Verlassung, Hülflosigkeit, Einsamkeit, lauter Leiden der Seele, die aber alsdenn nur recht empfindlich werden, wenn das körperliche Leiden, die Bedürfnisse des Trostes und des Beystandes vergrössert. – Es ist wahr; der Dichter erreicht seine Absicht in dem körperlichen Schmerzen am wenigsten, wenn es blos seine Absicht ist, in uns ähnliche Empfindungen hervorzubringen. Aber sein Zweck ist der gar nicht. Er will Hochachtung und Liebe für seine Helden einflössen, und was kann das mehr, als alle Zeichen des äussersten Schmerzens, und doch keine einzige Bewegung, keine Begierde, keine Handlung sehen, diesen Schmerz durch unanständige Mittel wegzuschaffen; wie kann man anders die Größe der Kraft zeigen, als wenn man zuerst die Größe des Widerstandes zeigt, den man durch diese Kraft überwinden läßt. Endlich der Künstler erregt seine Bewegungen in dem Gemüthe der Zuschauer [337] nur immer unmittelbar; die Situation des Helden selbst ist das einzige was sie hervorbringt, sie sind also nur einfach wie diese. Der Dichter kann auch eine Art von abgeleiteten Bewegungen erregen; er kann die ersten Zuschauer von den Handlungen und Begebenheiten seiner Helden selbst wählen; diese durch ihre besondre Verfassung auf so mannigfaltige Art durch die Leiden des erstern rühren lassen; in ihrer Seele das allgemeine sympathetische Gefühl des Schmerzens auf so vielfache Art modificiren; daß bey dem letzem Zuschauer, für den endlich das ganze Werk bestimmt ist, durch die Vermischung ganz andre Empfindungen entstehen, als die durch die bloß Zeichen des Leidens erregt werden können. Ist also ein Grund, warum der Künstler seinen Laokoon nicht schreyen ließ, kein Grund, warum nicht der Dichter ihn auch hätte seufzen lassen: so wird, wenn das eine ja die Copie des andern seyn soll, das am ersten die Nachahmung seyn, wo die Änderungen des Originals am begreiflichsten und nothwendigsten sind. Virgil hätte ohne Noth geändert, wenn er die Künstler nachgeahmt hätte. Das Schöne für den Anblik ist auch schön für die Imagination. Aber der Künstler änderte aus Überlegung und aus Bedürfniß der Kunst. Beym Virgil windet sich die Schlange zweymal um Brust und Hals; auf der Statue windet sie sich um die Schenkel. Das leztere wäre für den Dichter ein eben so schönes Bild gewesen; aber für die Künstler was das erste schlecht, weil Brust und Hals offen verstekt sen mußten, wenn nicht ein großer Theil des Ausdruks verlohren gehen sollte.

238 | 4 Rezensionen Wenn also der Dichter und der Mahler in der Bearbeitung einerley Gegenstandes oft von einander abweichen müssen: so ist es abgeschmakt vorauszusetzen, daß sie sich einander nothwendig nachgeahmt haben müssen, und sie nach dieser Voraussetzung zu erklären. – Aber es herrscht doch zwischen den Gegenständen der Dichter und Mahler eine so handgreifliche Ähnlichkeit. Und woher diese, als weil die Mahler ihre Süjets aus den Werken der Dichter nehmen? – Ihre Süjets allerdings, aber nicht das Muster ihrer Bearbeitung. Wenn sie Begebenheiten mahlen wollten: so mußten die Begebenheiten irgendwo aufbehalten worden seyn; und von den ältestens, den Götter- und Helden-Geschichten waren nur die Dichter die Bewahrer. Also zusammentreffen mußten sie nothwendig, so oft sie beyde einerley Stoff vor sich hatten; aber in der Art der Behandlung, in dem Gebrauch dieser Materialien mußten sie eben so verschieden seyn, als sie in der Wahl derselben gleichförmig waren. Dichter und Mahler haben beyde Götter und Göttinnen vorzustellen. Aber bey den leztern ist das erste Augenmerk, sie überhaupt kenntlich zu machen; bey den ersten nur ihre gegenwärtige Handlung zu zeigen. Bey den lezten ist es nothwendig, den allgemeinen Character, wodurch der Gott zu dem Gott wird, allenthalben auch in ihren besondersten Handlungen und Begebenheiten beyzubehalten; bey dem ersten wird der Character schon durch das bloße Wort und die Idee, die dies rege macht, erhalten. Der Dichter hat voll Freyheit, das Wesen, das einmal in unsrer Imagination bestimmt ist, in noch so abwechselnde Veränderungen zu setzen. So bald wir einmal wissen, wer die Person ist, so daurt ihre Identität der Person in [339] unsrer Idee fort, der gegenwärtige Zu|stand mag von einem alten schon vorher uns bekannten Zustande noch so sehr unterschieden seyn. Aber eine Unbekannte muß man uns nicht in einer andern Situation, unter andern Umständen zeigen, als in der wir sie schon zum voraus erwarten, oder wir verkennen sie gänzlich. Venus kann beym Dichter zürnen, denn wir verlieren doch die schöne gefällige liebkosende Venus nicht aus den Augen, die nur für eine Zeitlang diese ihre fremde Gestalt angenommen hat. Bey dem Künstler wäre sie nicht Venus mehr. Also wo es vornemlich darauf ankam, gewisse Personen und Wesen kenntlich zu machen, da mußte oft der Künstler von seinem höchsten Gesetz Ausnahmen machen, und das Charakteristische dem Schönen vorziehen. Die Religion machte eine solche Nothwendigkeit. – Also ist es kein Einwurf gegen dieses Gesetz, wenn bey Werken, die für Tempel gemacht waren, dasselbe nicht beobachtet ist. Um zu beständigen sichern Begriffen von den alten Kunstwerken zu gelangen, wird man den Umfang dieses Worts einschränken müssen. Nur wo der Künstler nichts als seine Kunst zum Zweck und zur Regel hatte; wo ihn keine äussre Ursachen einschränkten: nur die werden Beyspiele und Erfahrungen für den Kenner werden können, seine Regeln daraus zu abstrahieren. Was aber der Künstler durch beygelegte Sinnbilder erst kenntlich machen muß, das sagt der Dichter blos durch das Wort, und hat also diese allergorischen Kennzeichen nicht nöthig. – Es ist also Fehler, wenn er das, was der Künstler aus Armuth [338]

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und Noth, als eine Schönheit nachahmt, wenn er seine Götter oder allegorische Wesen wie Statuen mit ihrem ganzen Rüstzeuge auffstellt, anstatt sie wie belebte Wesen handeln zu lassen. Caylus ist so sehr besorgt dem Künstler und Mahler neue Sujets zu geben. Aber [340] zuerst verlangt der Künstler nicht diesen Reichthum, und zum andern ist er ihm unbrauchbar. Er verlangt ihn nicht, weil überhaupt bey ihm die Erfindung das kleinste Verdienst ist; und noch mehr, weil er gerne alte bekannte Gegenstände macht, um gleich bey dem ersten Anblick verstanden zu werden. – Er ist ihm unbrauchbar; weil ihm Nachahmung der schönsten Gemählde des Dichters oft durch das Wesen seiner Kunst unmöglich gemacht, auch öftrer durch die Absicht derselben verboten wird. Unmöglich gemacht wird ihm zum Beyspiel, der Unterschied zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, zwischen dem Göttlichen und Menschlichen. Der Dichter nimmt diesen Unterschied an, ohne ihn genau zu bestimmen. Er läßt es der Imagination frey, ihn sich nach der Verschiedenheit der Würkungen so groß zu denken, als es ihr gefällt. Aber der Mahler muß diesen Unterschied fixiren, ihn auf ein gewisses Maaß bringen, und eben dadurch das, was in dem dichterischen Bilde groß war, entweder erniedrigen, oder ungeheuer machen. Das Unsichtbare ist bey dem Dichter eine bloße Idee, bey dem Künstler wird es eine Art von Mumerey. Die Wolke, die bey dem ersten diese Unsichtbarkeit blos andeutet, ohne die Art und Weise derselben zu bestimmen, wird bey dem andern eine wirkliche Hülle, die dem grade widerspricht, was sie andeuten soll. Sind es noch dazu Götter, die unsichtbar gegenwärtig sind, so wird eine Wolke, die sie verbirgt, doppelt unschiklich, weil sie grade da zu seyn scheint, um das Daseyn eines Wesens merklich zu machen, das sonst keiner Natur nach unsichtbar seyn würde. Unmöglich gemacht wird ihm die Nachahmung, aller der sich bewegenden [341] fortgehenden Gemählde, die nicht eine einzige Situation, sondern die eine ganze Folge derselben schildern, und die das Eigenthum des Dichters sind. Malen heist bey dem Dichter eine so lebhafte Vorstellung in der Imagination erregen, daß man die Sache zu sehen glaubt. Zu diesem Bilde, das die Imagination sich machen soll, kann der Dichter nur immer einige, aber die Hauptzüge geben; er kann den Gegenstand nur durch gewisse Eigenschaften und Bestimmungen characterisieren. Wenn er nun grade die zu wählen weis, die die Imagination am meisten in den Stand setzen, die übrigen hinzu zu setzen, und so zu sagen, das ganze Individuum vollständig machen; wenn er sie in dem Licht zu zeigen weis, daß er die Einbildungskraft würklich ins Spiel bringt und rege macht, diese übrige Bestimmungen hervor zu bringen: so hat er gethan, was er sich vorsetzte, er hat Illusionen erregt, und diese Illusionen sind keine Gemählde. Alle diese Bestimmungen, durch die er der Einbildungskraft so zu sagen nur den Weg weist, wo man sie hinsehen soll, ihr gleichsam nur die Data giebt, und woraus sie ihre Geschöpf zusammen zu setzen hat; können aber so wohl auf einander folgende Veränderungen als zugleich seyende Bestimmungen seyn; und die erste sind eigentlich sein Eigenthum. Wo also der Dichter am

240 | 4 Rezensionen meisten mahlt, d. h. die Sache durch die meisten Handlungen und Veränderungen der Einbildungskraft bezeichnet, da wird der Mahler am wenigsten Stoff für sich finden. Und eine einzige Situation, die der Dichter nur mit einem Worte anzeigt, bey der er gar keine Arbeit und kein Verdienst hat, als daß er sie nennt, kann die reichste mahlerische Composition geben. [342] Dieser Unterschied dichterischer und mahlerischer Schilderungen hat noch einen höhern Ursprung. Die Zeichen der Mahlerey sind coexistent. Also nur das coexistirende, nur Körper kann sie eigentlich nachahmen; und Handlungen nur, insofern die gegenwärtige Stellung eines Körpers eine vorhergegangene Bewegung desselben, und diese Bewegung eine Handlung andeutet, durch die sie ist hervorgebracht worden. – Die Zeichen der Dichtkunst sind successiv. Also ist ihr Gegenstand eigentlich das Successive. Veränderungen, und insofern diese gewürkt werden, Handlungen. Körper, nur insofern die Handlungen Subjecte haben müssen, und diese Subjecte durch die Handlungen bestimmt werden. – So schildert Homer die körperlichen Gegenstände durch die Veränderungen, die mit ihnen vorgegangen sind, durch die Art ihrer Entstehung. Aber der Dichter kann doch Körper beschreiben, und Homer thut es würklich. Beschreiben? Allerdings; denn wie wäre es sonst möglich irgend eine Kenntniß der Körper zu haben, wenn man nicht ihre Eigenschaft mit Worten auszudrücken wüßte? Aber durch diese Beschreibung täuschen, der Imagination ein vollständiges Bild des Ganzen verschaffen; eben die Art des Eindrucks machen, als wenn man die Sache oder ihr Gemählde sähe: das kann er nicht, und das sollte doch eigentlich sein Zweck seyn. Wo Täuschung erregt werden soll, muß der Eindruck der Empfindung ähnlich seyn. Empfindung unterscheidet sich von allen übrigen Arten der Vorstellung, durch die schnelle augenblickliche Übersehung des Ganzen; durch die Theilheit und Untheilbarkeit der Idee, in der die Eindrücke jedes Theils, enthalten und vermischt sind, ohne sich zu unterscheiden. Bey der Beschreibung der Körper [343] mit | Worten ist weder die Geschwindigkeit noch diese Vollständigkeit möglich. Die Vorstellungen der Theile folgen einzeln auf einander; und dann ist unter alle nur immer die Vorstellung des letzern die klare; die übrigen sind verloschen oder schwach und das Ganze wird niemals vollendet. Hier sind wir also bey den Gränzen der Poesie und Mahlerey; zwey aufeiander folgende Zustände einer Sache zu gleicher Zeit zu zeigen; zwey Zeitpunkte in einem Gemählde zu vereinigen, ist ein Eingriff in die Rechte der Poesie. Theile eines Gegenstandes, die zugleich gesehen werden müssen, Stückweise nacheinander zuzuzehlen, ist ein Eingriff in die Rechte der Mahlerey. »Aber Homer schildert doch Körper[.]« Zuerst giebt es an diesen Gränzen gewisses gemeinschaftliches Gebieth; und zwar für die Poesie noch ein weiteres. Der Mahler darf zuweilen durch die Stellung seiner Körper den Zustand in dem sie den Augenblick vorher gewesen sind, mit dem gegenwärtigen zugleich anzeigen.

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– Der Dichter kann zuweilen Körper, wenn er sie kurz charakterisiren kann, beschreiben. Zum andern, wenn Homer alle seine Beschreibungen in Geschichte verwandelt, wenn er erzählt anstatt zu beschreiben, so ist eben dieses Beyspiel ein Beweis, daß er blosse Beschreibungen für unfähig gehalten hat, zu gefallen. So ist es mit dem Schild Achills. Erstlich anstatt es uns selbst zu beschreiben, erzählt er uns die Handlungen, durch die es zusammengesetzt worden ist. Zum andern, jedes Gemählde auf dem Schilde selbst verwandelt er in eine Geschichte; er erzählt nicht blos was der Künstler aufs Schild gemacht hat, sondern die ganz Handlung aus der jener einen einzigen Augenblick geschildert hatte. So haben wir zugleich den Vortheil, daß viele Gemählde des Achillischen Schil- [344] des sich in ein einziges zusammen ziehen, und daß wir nicht mehr so ängstlich nach Raum zu so vielen Bildern suchen dürfen. Das Gegenwärtige und Zukünftige, was der Künstler muste errathen lassen, das beschrieb Homer. Aber deswegen durfte es nicht ein neues Gemählde auf dem Schild seyn. Unter allen körperlichen Gegenständen ist körperliche Schönheit, das was am meisten des augenblicklichen unmittelbaren Anschauens bedarf, was am nothwendigsten mit einem einzigen Blick gefasset werden muß, wenn es Illuson errege soll; also ist es grade das, was der Dichter am wenigsten schildern muß. – Der Dichter kann nichts als: (so wie Ariost bey seiner Alcina) abstracte Begriffe von gewissen Theilen der Schönheit geben, die für die Imagination viel zu vage, viel zu unbestimmt, und zu unvollständig sind, um die ganze Gestalt daraus herzustellen. – Aber erstlich die Schönheit ist nicht bloß eine Verhältniß der körperlichen Welt. Sie ist in der moralischen einen Kraft die würkt. Diese Würkung zeige der Dichter, und aus der Größe der Würkung lasse er uns auf die Größe der Kraft schliessen. – Zweytens, die Schönheit ist nicht blos in der Lage der Theile, sondern auch in ihrer Bewegung. Diese Schönheit ist Reitz, und der ist der Gegenstand des Dichters. Aber grade hier, wo die Schwäche der Poesie ist, da ist die Stärke der Kunst; und sie würde sich ihres größten Vortheils begeben, wenn sie die Schönheit durch irgend etwas anders, als durch sie selbst, schildern wollte. Also kennt Cylus diese Vortheile nicht, wenn er dem Mahler, da wo er selbst Schöpfer der Schönheit seyn könnte, es auflegt, nur was der Dichter aus Noth | ist, [345] ein Erzähler ihrer Thaten zu seyn. – Die Homerische Scene ist also kein schreckliches Sujet für den Mahler. Erstlich warum soll die Kunst das nur in seinen Würkungen zeigen, was sie aus seinen eignen Bestandtheilen zusammensetzen kann? Und zum andern; diese Würkung bleibt nicht mehr ein Gemählde, was sie beym Dichter war. Das was wir sehen, sind nichts als verliebte Geberden einiger Greise; un dieses ist unangenehm, eckelhaft. An die Schönheit, die sie in diese unnatürliche Verfassung bringt, und die im Stande wäre, das Unangenehme dieses Augenblicks zu mildern oder vergessen zu machen, müssen wir uns blos erinnern; – Diese Erinnerung ist nur unbestimmt und schwach. Also macht grade das den stärksten Eindruck, was bey der Geschichte das unwichtigste, beynah das Hinderlichste zu der

242 | 4 Rezensionen Absicht ist, (denn selbst der Dichter würde nicht wünschen, daß wir an die Geberden der Greise zuerst dächten, die doch das erste und einzige seyn mußten, was der Mahler ausdrücken könnte,) und das was die Hauptsache ist, wodurch sich die ganze Sache erklärt und interessant machet, das ist unsichtbar. Ganz anders nuzten die alten Artisten die Schilderungen Homers. – – Sie suchten zuerst nach Geschichten und Situationen; wo körperliche Schönheit eine Triebfeder oder ein wichtiger Theil der Begebenheiten gewesen war. – Hier schilderten sie die Schönheit selbst. Sie brauchten alsdann die Erzählungen Homers nicht sie nachzuahmen; das wäre oft unmöglich und öftrer noch unschicklich gewesen, sondern ihre Imagination mit der Schönheit oder der Größe des Gegenstandes zu erfüllen; die Kraft ihrer eignen Seele zur Hervorbringung der körperlichen Bilder [346] rege zu machen; die Gestalten der Helden oder | Götter sich aus dem was sie sagen oder thun, anschauend zu machen. Wenn alle körperliche Gegenstände beym Dichter, dunkler und schwächer werden; und es einen körperlichen Gegenstand giebt, dessen Eindruck geschwächt und verdunckelt werden muß, wenn er in der Vermischung mit andern angenehm werden soll: so wird dieser grade am meisten für den Dichter und am wenigsten für den Mahler seyn. Ein solcher Gegenstand ist die Häßlichkeit. Bey dem Dichter kann das ungestaltete der Form bald Mitleiden erregen, wenn es Ursache des Leidens und der Einschränkung für eine sonst vollkommne und schöne Seele wird; bald die Person lächerlich machen, wenn es mit dem Ungereimten und Wiedersinnischen im Character und Handlungen verbunden ist, und noch dazu mit der Schönheit und Vollkommenheit contrastirt, die die Person in ihrer Idee sich selbst zuschreibt; bald Schrecken, wenn die Häßlichkeit nur gleichsam die Verkündigerin und der Vorbote von Unglück und Laster ist. Bey dem Mahler hingegen ist der Eindruck, den das Sichtbare macht, immer so stark, daß er sich mit den Vorstellungen, die das Geistige und Unsichtbare erreget, wenn dieses ungleichartig mit jedem sind, nicht vermischt. Bey ihm also bringt Häßlichkeit nur immer eine einfache Würkung hervor, und diese Würkung ist ein Gefühl das mit dem Eckel verwandt ist. Der Eckel würkt durch die Vorstellung selbst, nicht durch die Überredung von der Würklichkeit des Gegenstandes. So mißfällt das Häßliche, der Gegenstand mag würklich oder nachgeahmt seyn. Also was sonst Dinge die in der Würklichkeit unangenehm sind, in der Nachahmung angenehm machen kann; die Überlegung die uns den Betrug zeigt; und die Wißbe[347] gierde, die uns denselben als ein Mittel zur Kennt|niß der Gegenstände vorstellt; beydes ist bey dem Mahler unkräftig, die nachgeahmte Häßlichkeit zu verschönern. Hier schließt sich eigentlich bey Hrn. Lessing die Reihe aneinanderhängender Betrachtungen, und das was folgt sind mehr zerstreute Anmerkungen über Winkelmanns Geschichte der Kunst. Hier sind kurz seine Gründe, warum Laokoon aus einem spätern Zeitalter seyn möchte, als in das er gesezt wird. Erstlich ist wenigstens der Grund für das Alterthum der Statue gewiß falsch, daß Athenodorus Polyklets Schüler gewesen wäre; zweytens: der bloße Werth der

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Statue kann ihr Alter nicht unterscheiden. Die Werke aus Augusts Zeitalter wurden den alten gleichgeschäzt; drittens: Plinius redet in der ganzen Stelle wo er des Laokoons gedenkt, von Künstlern, die die Tempel und Palläste der Kayser geziert, das heißt, ihre Werke für dieselben bestimmt hatten; also lebten sie zu ihrer Zeit. Viertens: unter den drey Werken aus dem ersten goldenen Zeitalter der Künste, von denen Plinius sagt, daß sie allein mit dem Wort, das eine vollendete Arbeit ausdrückt, wären bezeichnet gewesen, ist Laokoon wahrscheinlich nicht. Und doch steht auf ihm dieses Wort. Nun also die Summe aus dieser Reyhe von Betrachtungen gezogen; so sind deucht mich die Haupt-Ideen, die im ganzen Werke herrschen, diese zwey. Erstens. Schönheit ist der bildenden Künste höchstes Gesez, und wenn die Gestalten auch zugleich Zeichen von gewissen Bewegungen der Seele sind, so müssen dieselben entweder so gewählt oder so gemildert werden, daß die Veränderung in die sie die äusre Form setzen, ihr Verhältnisse nicht zerrütte. Zweytens. Die Veränderungen eines Gegenstandes sind das eigentliche Süjet des Dichters; seine | Bestandtheile das Süjet des Mahlers. Das was mit der Sache [348] vorgeht, ihre auf einander folgende Zustände und die Handlungen, wodurch sie in dieselben versezt wird, ist das Gebiet des ersten; das was die Sache ist, ihre neben einander existirenden Theile, und die Lage und Verhältnisse, die sie gegen einander haben, ist das Gebiet des andern: – Daraus entstehen dann als Folgen: daß körperliche Schönheit nur für den Künstler gehört, daß das Emblematische in den Gemählden, bey dem Dichter zu Fabel und Mythologie werden muß; und daß das lebende, sich verändernde Bild des Dichters von dem Mahler anders nicht als nur in seinen einzelnen Theilen nur in den Anzeigen, die er von gewissen Situationen giebt, zu nutzen ist. u. s. w. Noch eine dritte Idee könnte man dazu rechnen; die aber mehr angedeutet, als ausgeführt ist. – Man hat nicht gnugsame Gründe, den besten Werken der Kunst, die wir aus dem Alterthum haben, ein so hohes Alter zu geben; und Winkelmanns Geschichte der Kunst, die zum Theil auf diese Voraussetzung gebaut ist, braucht wenigstens mehr Befestigung, wenn sie auch völlig richtig wäre. Das ist der Weg den unser Verfasser geht; der Observation, und des freyen durch kein System eingeschränkten Raissonnements. Auf diesem Wege sind immer die neuen Wahrheiten erfunden worden; aber auch niemals sind sie auf demselben mit allen den Einschränkungen und Bestimmungen erfunden worden, die sie erst vollkommen wahr machen; und die nur die Folgen von der Mannigfaltigkeit der Methoden seyn können, mit welchen mehrere Köpfe hintendrein eben die Wahrheit denken. Ausserdem, daß uns jede neue Idee mit dem Bewustseyn der Fähigkeit schmeichelt, durch die wir sie hervorbrachten, und wir | schon eben deswegen [349] geneigt sind, ihr eine größre Allgemeinheiten zu geben, weil uns das Vergnügen über sie nur blos auf ihre brauchbare Seite und die Möglichkeit ihrer Anwendungen aufmerksam mach; ausserdem, sage ich, bekommt noch jeder Saz, den wir durch Schlüsse herausbringen, seinen Umfang oder seine Gränzen durch die Ideen selbst

244 | 4 Rezensionen die uns darauf leiteten. So lange also, als wir nur noch eine einzige von den Ketten, durch die jeder Begriff mit dem ganzen System der übrigen Wahrheiten zusammenhängt, übersehen; nur seine Verbindung mit einer einzigen Reihe von Begriffen durch gedacht haben: so lange kennen wir seine Gränzen auch nur von dieser Seite. Ein neuer Zusammenhang bringt auch eine neue Einschränkung hervor, und eben indem andre die Sätze durch neue Beweise bestätigen, gelangen wir dazu sie genau zu bestimmen. Also verringert es in meinen Augen der Werth dieser Grundsätze nicht im geringsten, daß sie vielleicht ein wenig zu allgemein sind. Zuerst also: Ist das Gesez der Schönheit das höchste Gesez für alle Künstler. Um zu sehen, wo in den Künsten Schönheit das nothwendige, und wo es das einzige Mittel sey, Wohlgefallen zu erregen: müssen wir erst wissen, welche Sachen sind es in der würklichen Welt, wo wir Schönheit verlangen; und welche können uns auch ohne sie einnehmen. Zuerst, in den Geschäften des Lebens, in den Augenblicken, wo wir nicht mit dem Genusse gewisser Vernügungen sondern mit der Erreichung gewisser Endzwecke umgehn, ist es blos die Brauchbarkeit der Personen, die uns vorkommen, zu diesen Zwecken; blos diejenigen ihrer Eigenschaften oder Handlungen durch die unsere Absichten befördert oder gehindert werden, [350] welche das Gefallen oder | Misfallen an denselben bestimmen. Schönheit und Häßlichkeit der Seele oder des Körpers kommt in gar keine Betrachtung. Hier werden also die Handlungen gleichsam von den Personen abstrahiert; und das was sie selbst sind, ist uns völlig gleichgültig, wenn nur das für uns vortheilhaft ist, was sie thun. So bald es aber auf den wirklichen Genuß der Glückseligkeit, nicht blos auf Erlangung der Mittel dazu ankömmt, so fangen nun an die Eigenschaften, nicht blos die Handlungen des Menschen, der uns zu diesen Genuß verhilft, in Betrachtung zu kommen. Das Vergnügen entsteht nicht aus einer einzigen Würkung des andern, wie der Nutzen, sondern aus einer ganzen Reihe von Würkungen, die alle aus einer gemeinschaftlichen Quelle fliessen und die wir also, um zum voraus davon versichert zu seyn, in dieser gemeinschaftlichen Quelle aussuchen. Welche Eigenschaften es nun vornemlich seyn sollen, auf welche wir acht haben, das wird darauf ankommen, in welcher Verbindung wir mit der Person stehn; ob der Einfluß den sie auf uns hat, augenblicklich oder fortdaurend ist, ob wir von ihr nur einen einmaligen oder ob wir viele auf einander folgende und also abwechselnde Eindrücke zu erwarten haben. Wo es eine ganze Folge von Begebenheiten und Veränderungen giebt, die eine Person in uns veranlassen kann; wo unser Zustand würklich durch ihren Einfluß bestimmt wird: da werden wir diejenigen Eigenschaften vorziehen, die zugleich die Principien von Handlungen seyn können, durch die unser Zustand wirklich verbessert wird; und die Gestalt wird nicht an und für sich, sondern nur als Zeichen, nur insofern sie die Fähigkeiten oder die Gesinnungen, die wir verlangen, ausdrückt, in Betrachtung kommen. Je kürzer aber der Genuß ist, den wir von einer [351] Person haben, in je weniger würkliches | Verhältniß sie mit uns kommt; je mehr wir blos ergetzt, nicht eingenommen seyn wollen: desto mehr heben sich die Eigenschaften hervor, die keiner langen Untersuchung, keiner wiederholten Erfahrung,

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sondern nur eines augenblicklichen Anschauens bedürfen. So ist uns in dem Gesellschafter für einen Abend der Witz lieber als der Verstand; aber in einem Gefährten unsers Lebens der Verstand unendlich lieber, als der Witz. Kommt aber endlich eine Person gar in keine solche Verbindung, in der irgend eine Handlung von ihr uns berühren könte; ist gar keine Art des Einflusses ihrer Seele auf die unsrige vorhanden: so ist die Gestalt das einzige, wovon wir einen Genuß haben können; und nichts als die Schönheit kann uns einen Augenblick bey ihr aufhalten. So ist die Person, die ich bey mir vorübergehn sehe. Nur ihre Bildung kann sie mir auf einen Augenblick erheblich machen. Also überhaupt: Je genauer ein Mensch mit unsern würklichen Interesse verbunden ist, je mehr er zu unserm Bestne oder Vergnügen handeln kann; jemehr der Genuß, den wir von ihm haben, aus seiner eignen freywilligen Thätigkeit entsteht: um destoweniger sehen wir auf die bloße Form. Je stillstehender und unthätiger hingegen er für uns ist; je weniger er uns durch seine Handlungen die Quelle von Vergnügen werden kann; je augenblicklicher endlich der Genuß ist: desto nothwendiger ist die Schönheit der Gestalt. Das nun also auf die schönen Künste angewendet; so sehen wir: Erstlich, je mehr ihre Nachahmungen dem würklichen Leben nahe kommen; je mehr sie menschlichen Handlungen, Reden, Begebenheiten vorstellen können; je mehr sie in uns das Vergnügen oder den Verdruß erneuern, den eine menschliche Seele in der andern erwecken kann: Zum andern je fortdaurender mannichfaltiger abwechselnder der Zustand | des Gegenstandes ist, durch den sie uns das Vergnügen gewähren: [352] desto entbehrlicher ist die Schönheit der Gestalt. Je weniger hingegen leben und Handlung da ist; und je augenblicklicher der Zustand ist, in dem sie uns gefallen sollen, desto nothwendiger ist sie. Also erstlich die Bildhauerey, die nur einzelne Figuren oder nur kleine Gruppen ohne Bestimmung des Orts, ohne die begleitenden Umstände zeigt, bleibt in Absicht des ersten Stücks am weitesten zurück. Menschliche Handlungen, Begebenheiten, Geschichte kann sie am wenigstens auf eine wahrscheinliche Art vorstellen; der Anblick einer Statue ist nicht fähig uns in die würkliche Welt zu versetzen, und uns durch eingebildete Handlungen und Veränderungen der Subjects, die wir vor uns sehen, zu täuschen. Der Zeitpunct selbst, in dem sie uns die Figur zeigt, ist wie bey der Mahlerey nur ein Augenblick – Also bey ihr muß Schönheit das höchste Gesez ohne Ausnahme seyn; weil eine einzelne unbekannte Person, die wir zum erstenmal und nur in einer einzigen Stellung zu sehen; uns selbst im Leben durch nichts anders als durch ihre Schönheit interessiren könnte. Es sey immerhin, daß der Bildhauer Helden und Situationen aus Geschichten oder Dichtern hernehme, die wir kennen. Alsdann ist das Vergnügen, das uns die Handlung selbst macht, immer mehr Erinnerung als Anschauen; und ohne das Angenehme des Anblicks kann es keine Gewalt über uns haben. Eine Statue redet wenig unmittelbar zu unserer Imagination oder zu unserm Herzen, sie muß also zu unsern Augen reden. Die Mahlerey hat mit der ersten das Augenblickliche der Verfassung, in der sie jedes Object zeigt, gemein; – Aber sie hat eine weit größere Kraft durch ihre Vorstel-

246 | 4 Rezensionen lungen zu täuschen; bey ihr ist die Scene bestimmt, die Personen mehr mit einander und mit | allen ihren übrigen Umständen, die sie individuisiren können, verbunden; alles der Würklichkeit näher, alles lebendiger, thätiger, mehr fähig die Einbildungskraft in Umstände, die sie selbst ehemals gesehen und erfahren hat, zurück zu führen, und in ihr die Bewegungen zu erneuren, die diese Scenen in ihr erregten. Hier tritt also die Gestalt und die Form schon in eine mehrere Dunkelheit zurück, und die Seele braucht sie nur, um durch sie auf das Innre der Bewegungen des Herzens und der Handlungen der Seele, die diese Gestalt belebt, durchzuschauen. Allerdings ist das Auge der erste und schnellste Richter über Personen wie über Gemählde. Bleiben diese Personen ohne weitere Verhältniß mit uns, so ist es auch der einzige. Aber so bald die Person zu reden oder zu handeln anfängt, so bald wird unsre Aufmerksamkeit getheilt, und sie wird endlich ganz von der Gestalt abgezogen, wenn irgend eine hervorstechende Eigenschaft uns an sich zieht. Dieses Verschwinden der Gestalt, dieses unmittelbare Anschauen der Seele des andern, wenn ich so sagen darf, kann in gewissem Grade durch Gemählde gewürkt werden; abder nicht durch alle Gattungen von Mahlerey auf einerley Art. Der Mahler kann so wie der Bildhauer nur eine einzige Figur aufstellen; und uns mit Fleiß ganz bey der Gestalt fest halten wollen. – Dann ist Schönheit der einzige und das höchste Gesez. – Und in der That ist er alsdann am meisten Mahler. Aber so bald er Geschichte und Begebenheiten mahlt, Begebenheiten die uns schon an und für sich für die handelnden Personen einnahmen, auch ehe wir die Gestalt derselben kannte; wenn er alsdann nur die Ideen, die wir von ihren Geistesfähigkeiten, oder ihren sittlichen Eigenschaften hatten, durch einen solchen Körper ausdrückt, der fähig ist die Züge anzunehmen, [354] die wir bey diesen | Eigenschaften voraussetzen; wenn er uns die unvollkommne schwache Idee, die wir von der Gestalt eines Menschen haben, so bald wir irgend eine von seinen merkwürdigen Handlungen wissen, zur völligen Bestimmung und Individualität bringen kann: so werden uns die Gestalten schön seyn, auch wenn keine das Ideal einer körperlichen Schönheit wäre. Die Dichtkunst endlich, die die Abbildung nicht einer einzigen Scene des menschlichen Lebens, sondern des würklichen Laufs desselben ist; die vollständig vor uns die ganze Reyhe von Begebenheiten, Veränderungen, Handlungen vorübergehen läßt, aus welchem aller Liebe und Haß, alle Neigungen und Widerwille gegen andre in der würklichen Welt entspringen; die hat unmittelbar mit unserm Herzen zu thun, und bedarf als keiner andern Hülfsmittel uns für oder gegen jemanden einzunehmen als seiner Handlungen und Begebenheiten selbst. Die Personen des Dichters werden in unserm Auge immer das seyn, was sie thun. Ihre Schönheit und ihre Größe wird in unsrer Imagination ganz und gar durch die Umstände, unter denen sie erscheinen, die Begebenheiten, in die sie eingeflochten sind, durch die, welche sie selbst würcken oder veranlassen, bestimmt. Jede Art zu handeln, zu denken und sich auszudrücken, wenn sie nur Wahrheit und Ähnlichkeit genung hat, giebt schon der Person in unsern Augen eine gewissen Gestalt; [353]

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und je richtiger die Schilderung die Reden und Handlungen ist, desto bestimmter wird uns auch Mine und Geberde der Person, welche redt. Gränzt also die Mahlerey an die beyden Enden der bildenden Künste, an die, welche nur Gestalten und Körper und die, welche nur Seelen und ihre Bewegungen schildert, so kann sie auch oft die Gesetze | beyder mit einander vermischen, und [355] bald durch das täuschende ihrer Vorstellungen, bald durch ihre Schönheit entzücken. Man könnte überhaupt den Grundsaz (vielleicht auch einen zu allgemeinen, wie fast alle die sind, die das Raisonnement hervorbringt) daraus ziehen: Bey den Künsten, die das Vergnügen durch die Illusion würken, ist der Ausdruck; bey denen, die es durch den hervorgebrachten Gegenstand selbst unmittelbar ohne Beziehung auf das, was er vorstellt, würken, ist die Schönheit das höchste Gesetz. Je mehr also eine Kunst im Stande ist, Illusion zu würken; je mehr ihre Werke nur blos beziehungsweise auf die Sachen, nach denen sie gebildet sind, gefallen; desto mehr Ausnahmen wird es von dem Gesez der Schönheit zum Vortheil des Ausdrucks geben können. Je weniger uns aber eine Kunst täuschen kann; und je mehr ihr Werk an und vor sich, auch ohne Vergleichung, auch ohne das Verhältniß mit der vorgestellten Sache gefällt, desto allgemeiner und nothwendiger ist es. Eine schöne Gestalt von Marmor, ist an und für sich eine schöne Gestalt, und wenn sie gar nichts nachahmte. Die menschliche Bildung ist nur deswegen das Muster, weil unter allen Gestalten keine der Schönheit fähiger ist. – Aber in einem Gemählde werden uns schon die Figuren als Figuren unwichtiger; wir verlangen die Menschen zu kennen, die sie vorstellen: Beym Dichter ist alles blos bezeichnetes; gar kein von dem nachgeahmtem Object abgesondertes Vergnügen an der Nachahmung. Ist aber die Mahlerey in gewissen Gattungen nur eine Bezeichnung der Gegenstände, die wir schon sonst kennen, und an die wir lebhaft anschauend erinnert seyn wollen: so werden sich eben dadurch die Schranken, in die sich durch das zweyte Gesetz eingeschlossen wird,| ein wenig erweitern. Einmal, die Mahlerey, als [356] Vorstellung von Begebenheiten und Handlungen kann uns nicht anstatt einer Geschichte dienen, woraus wir diese Begebenheiten und Handlungen erst kennen lernen. Sie setzt also immer schon voraus, daß der Zuschauer Person und Geschichte kennt; sie arbeitet nothwendig auf einen Grund, den zuvor Dichter und Geschichtschreiber gelegt haben müssen. Also zweytens, wenn sie es nicht blos wie der Bildhauer mit dem Auge, sondern wie der Dichter auch mit der Imagination zu thun hat Scenen in ihr hervor zu bringen, die das Auge nicht sieht; wenn sie schon annehmen darf, daß die Imagination die Bilder fertig habe, aus denen diese Scenen zusammengesezt werden sollen; und sie also nur gleichsam das erste Licht zu einem Vorrath von Vorstellungen und Empfindungen bringen darf, die sich einander schon selbst alsdann aufklären werden: so kann sie allerdings auch Gegenstände nachmachen, die ohne diese Vorbereitung unverständlich und unbedeutend seyn würden; so kann sie also auch Begebenheiten vorstellen, wo sie nicht eigentlich durch sich selbst, sondern nur durch die Eindrücke einer verschwisterten Kunst, die sie wieder erneuert, gefällt; mit einem Worte, es können Werke von ihr, für das

248 | 4 Rezensionen bloße Anschauen ohne Würkung, vielleicht für das Auge nur im geringen Grade angenehm und doch für das verständige Anschauen dessen, der die Sache schon kennt, ergötzend seyn. Auf der andern Seite wird die Poesie, die blos über die Imagination Einfluß hat, und alle ihre Würkung durch die Kraft des Lesers selbst hervorbringt, die sie nur in Activität setzt; – Sie wird, sage ich, der Imagination auch körperliche Gegenstände durch eben das Mittel, obgleich nicht auf eine so täuschende Art, vorstellen können. [357] Sie wird nemlich durch die | Vorstellungen gewisser einzelner Theile und Beschaffenheiten des Subjects, die grade so gewählt, so vorgestellt werden müssen, daß sie das Ganze auf gewisse Weise determiniren, die Seele auf das Object in der Natur oder ihre mahlerische Abbildung aufmerksam machen. Anstatt aber den Körper aus den einzelnen Zügen, die der Dichter nach und nach giebt, zusammen zu setzen; sollen diese Züge blos der Imagination die Mühe erleichtern, in sich das Bild selbst nach dem Original, das sie ohnedem schon kennt, hervor zu bringen. Wir sehen also mit dieser Ausnahme von der Regel zugleich die Grenzen dieser Ausnahmen. Erstlich, jemehr eine gewisse Art von Gedichten Illusion zum Zweck hat, desoweniger findet Beschreibung körperlicher Schönheit darinn Plaz; wo es aber blos auf angenehme Eindrücke der Begriffe selbst, nicht auf die Überredung von ihrer Würklichkeit ankommt; da können und dürfen sie uns vorgestellt werden. – Zum andern, die körperlichen Gegenstände, die uns der Dichter schildert, müssen uns vorläufig schon eben so bekannt seyn, wie die geistigen, die der Mahler vorstellt. – Da die Imagination des Lesers selbst den Gegenstand erschaffen soll; da die nicht ihn ganz, sondern nur einige und immer die wenigsten Theile vom Dichter erhält, so ist das durchaus unmöglich, wenn nicht schon ein solches Bild in ihr vorhanden ist, das durch die Beschreibung nur wieder erweckt werden darf. Anders also sind die Beschreibungen des Frühlings und seiner Veränderungen überhaupt, anders die Beschreibungen gewisser Pflanzen und Blumen. – Die ersten können uns wenigstens an ähnliche Aussichten erinnern, und durch sie die Empfindungen würken, die der Dichter bey den seinigen gehabt hat; und das ist dem Dichter genug: die andern [358] lassen uns leer; es sind Portraite,| die man uns zeigt, deren ganzes Verdienst Ähnlichkeit ist, und wir kennen nicht die Originale. Wenn es die Ehre und der eigentliche Endzweck eines philosophischen Werks ist (ein solches ist Laokoon und von der Seite ist kein Werth am größten) die trägere Vernunft seiner Leser aufzuwecken und ihre Kraft zu denken in eine Bewegung zu bringen, die auch noch alsdann eine Zeitlang fortdauret, wenn der unmittelbare Stoß aufgehört hat: so denke ich, ich habe den Verfasser auf so eine Art gelobt, wie er von allen seinen Lesern gelobt zu seyn wünscht.

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Da uns dieses Buch eigentlich nicht in unser Feld zu gehören schien, so hielten wir anfänglich eine bloße Anzeige und Empfehlung in unsrer Bibliothek für zureichend genug. Eine reifere Überlegung und ein wiederhohltes Lesen führet uns aber wieder darauf zurück. Unsere Absicht ist nicht ein Buch bekannt zu machen, welches jedermann kennt, und welches unsre fleißigen Leser, (die aus einem rühmlichen Eifer alle Bücher zu lesen, mit einem jeden so geschwind fertig zu werden suchen als sie können,) vielleicht schon wieder bey Seite gelegt haben; noch weniger über den Werth einer Sache ein Urtheil zu fällen, die das Publicum schon längst entschieden hat, und die beynahe der bloße Name des Herrn Verfassers entschieden hätte; sondern uns | und einer gewissen andern Classe von müßigen Lesern, die Zeit genug [81] haben, sich bey einem guten Buche zu verweilen, sich durch einen jeden auffallenden Gedanken in ihren Lesen stören lassen, zuweilen gar ihren Autor verlassen, und auf dem Wege, den er ihnen einmal gewiesen hat, ohne Führer herumschwärmen, diesen das Vergnügen wieder eingedenk zu machen, das sie hatten, als sie das Buch lasen, und sie wieder auf die guten oder schlechten Einfälle zu bringen, die es in ihnen veranlaßte, und die bey dieser Gattung von Lesern immer der beste Theil ihres Vergnügens sind. Aber auch dieß ist nicht die Ursache allein. Das Buch selbst ist von zwo Seiten merkwürdig. Einmal die Ansehung der Materie, als ein wichtiges Fragment von Philosophie. Zum andern in Ansehung der Form, als eine Ausübung der sokratischen Methode, oder als Dialog. Die Philosophie und die schönen Wissenschaften haben nicht soweit auseinander liegende Gränzen, daß sie nicht in einem gewissen gemeinschaftlichen Gebiete zusammen kommen sollten. Wenigstens auf einige Producte des menschlichen Geistes sind ihre Ansprüche getheilt. Die Philosophie giebt alsdann den Stoff, und bestimmt den innern Bau, die schönen Wissenschaften nehmen für sich die äußere Gestalt und die Schönheit. Die Philosophie sammlet aus der Natur die Elemente, und setzt daraus nach den bloßen Gesetzen der Richtigkeit und des Nutzens den Bau des Körpers zusammen, der Geschmack überzieht | diese [82] regelmäßige aber verwirrende Mannichfaltigkeit von Ideen mit einem einfachen und durch sanftre Übergänge abwechselnden Ausdrucke; der durchsichtig genug ist, die Stärke und die Richtigkeit der innern Zusammenfügung sehen zu lassen, aber doch den scharfen Ecken und den rauhen Fugen des Skelets mehr Rundung und eine gewisse Ausfüllung giebt. Der philosophische Dialog hat, außer diesen gemeinschaftlichen Rechten, noch andre auf die Aufmerksamkeit des Kunstrichters, oder besser eines jeden denkenden Kopfs, die ihm ganz eigen sind; nicht bloß daß er unter unter uns so selten ist; daß seine Regeln noch so sehr im Dunkeln liegen; daß der Originale unter den Alten selbst, in dieser Art nur wenig, und der guten Nachahmer unter den Neuern noch weniger sind; sondern vornehmlich, weil unter allen Methoden, in die sich die Philosophie von einem Jahrhunderte zum andern

250 | 4 Rezensionen geformt hat, der Dialog zum Unterrichte die beste, und zur Bildung eines philosophischen Genies fast die einzige ist. Wenn man einmal ein System von Erziehung für gute Köpfe finden wird, so wird es auf diese Kunst zu dialogiren erbaut seyn; und wenn irgend einmal wieder unter einer Nation ein Sokrates aufstehen sollte, der mit ihm gleichen Geist, gleiche Rechtschaffenheit, und gleichen Muth, und eine Mischung von ebenderselben oder einer ähnlichen Laune hätte; der dieser Kunst eben so mächtig wäre, und den Ideen andrer die Geburtshülfe mit eben der Geschicklichkeit leisten könnte; der ohne ein einmal angenommenes System, auf welches er [83] alles zurück|bringt, bey jeder vorgelegten Materie immer eine neue Untersuchung anstellte, und seine eigne Erfindung so oft wiederholte, als er andre davon unterrichten will; der wie Sokrates, durch einen göttlichen Wink, oder vielmehr durch das Bewußtseyn seiner Kräfte, und eine alles überwiegende Menschenliebe dazu aufgefodert würde, diese Dienste jedermann unangeboten und unbezahlt zu leisten, und mit einem jeden, der ihm dazu Gelegenheit giebt, die philosophischen Ideen, die als gewiß und unausgemacht in Grundsätze des Betragens und der Sitten verwandelt worden, von neuem zu untersuchen: dieser Mann sagen wir, würde zur Aufklärung seiner Nation im Ganzen, und zur Glückseligkeit und Tugend des Volks unter dem er lebet, mehr thun, als die größten Dogmatiker, und selbst als die tiefsinnigsten Moralisten. Die Methode des Unterrichts gehört also eigentlich für uns. Aber diese Form ist von der Materie unzertrennlich, wie die Schönheit der organisirten Körper von ihrer innern Structur; die Schönheit ist nur, wie Mengs sagt, diejenige Einrichtung einer Sache, durch die ihre Absicht am besten erreicht wird. Man wird uns also einige kleine Ausschweifungen auf das Gebiete der Philosophie verzeihen. Zuerst müssen wir den Gesichtspunkt festsetzen, aus dem wir diese Gespräche anzusehen haben. Sind es Übersetzungen des Plato, oder sind es Originale im plato[84] nischen Geiste? Ohne itzt auf die | Erklärung zu sehen, die uns der Verfasser selbst in der Vorrede macht, vergleichen wir seinen Phädon mit dem platonischen, und finden; Erstlich, den Theil des Dialogen, der Geschichte ist; der die Scene, die Personen, die Begebenheiten und die Umstände enthält, unter denen er ist gehalten worden, größtentheils übersetzt, doch mit Freyheit, so daß oft blos die Idee, nicht ihre Wendung übergetragen ist; im Ganzen billigen wir dies, und wenn auch Phädon eine Übersetzung wäre. Wenn man einem Übersetzer eines Alten, besonders des Plato, mehr aufleget, so wird er ganz gewiß unter der Last erliegen, und wenn wir keine andre als ganz vollkommene Übersetzungen zulassen, so werden wir gewiß elende oder gar keine bekommen. Es ist vielleicht ein Fehler philosophischer Begriffe, aber gewiß ist es die Eigenschaft der platonischen, daß sie in ihre Sprache so eingewebt sind, daß man sie entweder mit ihrer Hülle übertragen, und in die andre Sprache einkleiden, das ist, den Ausdruck, nicht den Gedanken, ausdrücken muß, – wie oft aber wird nicht alsdann die Idee völlig versteckt oder verunstaltet? ‒ oder wenn man diese Schaale zerbrechen, den Begriff auskleiden, und für ihn ein neues Gewand in der andern Sprache finden will; so muß man ihm selbst eine etwas andre

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Form geben. ‒ Aber wenn dem Übersetzer dieses Recht, zuweilen nur ein Nachahmer zu seyn, zugestanden wird, erlaubt man es ihm auch deswegen seinem Originale ganz unähnlich zu werden; z. B. der Dialog hat in jeder Sprache seinen eignen Dialect, seine Aus|drücke, die oft in den verschiednen Sprachen, nicht zusammen- [85] passen; ‒ aber jede Sprache hat doch die ihrigen? Gut! Unser Übersetzer mag also sein Original verlassen, so oft dessen Ausdruck in seiner Sprache, der Sache, den Umständen, der Gattung des Stils vollkommen angemessen, in die unsrige übersetzt, zu andern Sachen, und in eine andre Gattung des Stils gehören würde. Aber er muß in unsrer Spache einen Ausdruck wählen, der eben so richtig, so angemessen, und, in unserm besondern Falle, eben so dialogisch ist, das ist die Genauigkeit, die wir immer fordern würden. Von unserm Verfasser ließ sich nichts weniger vermuthen, als daß er sie größtentheils beobachten würde. Vielleicht hätte er sie niemals verfehlt, wenn er blos seine eigne Gedanken auszudrücken gehabt hätte. Aber es ist seltsam, daß es uns viel leichter wird für eine Idee, für die noch gar keine Worte da sind, die richtigsten und angemessensten zu finden, als für eine solche, die schon von einem andern ausgedrückt ist, aber mit Worten, die wir verändern müssen. Diese Theilung unsrer Aufmerksamkeit zwischen dem Ausdruck, den wir suchen, und dem, den wir vor uns haben, mag die Schwierigkeit hervorbringen. Je vortrefflicher das Original ist, desto größer ist sie: denn desto stärker ist der Eindruck, den des Verfassers Ausdruck gemacht hat, und desto eingeschränkter unsre Freyheit unsern eignen zu wählen. Den Theil des Dialogen, der wirklich philosophisch ist, und in Erklären und Beweisen besteht, hat | unser Verfasser blos mit einer gewissen Art von Rücksicht [86] auf die Platonischen, aber doch ganz selbst ausgearbeitet. Es sind zween Wege, die neben einander laufen, sich an gewissen Stellen vereinigen, und sich zuweilen beyde krümmen, um an einem erfrischenden Bache oder einem schattichten Gebüsche Theil zu haben. Die Eingänge, einige eingestreute moralische Reflexionen, die Verzierungen sind übergetragen, entweder an ihrem eignen Orte oder an einem andern, der eben so glücklich für sie gewählt ist. Die Beweise sind neu, aber sie sind wie schöne in voller Blüte stehende Bäume, die aus dem Saamen der Alten hervorgewachsen sind. Wir werden uns eine Pflicht daraus machen, diesen ausgestreuten Saamen zu bemerken. Wir können uns hier nicht einen Wunsch versagen, der vielleicht thöricht, oder unmöglich ist. Wir wünschten zween Phädons vom Moses, den einen, ganz sein eigen, wo die Anordnung des ganzen Dialogen, der Gang des Gesprächs, der Character jedes Unterredenden, selbst der Scherz, der diese Gattung von Stil beleben muß, von ihm abgehangen hätte; ‒ den andern ganz des Platos, wo alles, selbst bis auf die Spitzfündigkeit, und vielleicht das Kindische gewisser Beweise wäre beybehalten worden. Welch ein Vergnügen wäre die Vergleichung dieser Übersetzung mit ihrem Originale gewesen! Wie würden wir der Kunst nachgespürt haben, mit welchem er dem Dunkeln in den Ideen | einen gewissen Grad von Deutlichkeit im Ausdrucke zu [87]

252 | 4 Rezensionen geben, und dem Seichten und Mangelhaften in der Beweisung den Schein von Richtigkeit und Folge zu erhalten gewußt hätte, den sie im Originale haben. Wenn wir diesen Wunsch rechtfertigen müßten, so wäre es Grund genug, weil dieß zwey großen Geschenke für das Publikum gewesen wäre, und nun haben wir nur eines. Aber noch ein andrer ist der: das Alterthum hat seinen Geschmack im Beweisen, wie im Erzählen; und ihre Art zu schließen ist ihnen so eigenthümlich wie ihre Art zu empfinden. Unsre neue Metaphysik ist ohne Zweifel für die Wahrheit nützlicher und für den Verstand beruhigender; aber sie erfordert doch nothwendig ein Zeitalter, eine Denkungsart, und vielleicht eine Nation, die der unsrigen ähnlich ist. Der Gang, den die Seele nimmt, um über den großen Abgrund, der das Sinnliche von dem Abstrakten trennt, hinüberzukommen, ist immer sehr verschieden, nachdem die Stellen verschieden sind, von welchen man zuerst das Sinnliche betrachtet hat; nachdem es das Empfindungsvermögen ist, auf welches es zu wirken hat; und nachdem der Weg, den man von der Empfindung aus schon zurückgelegt hat, lang oder kurz ist. Die Alten waren der Epoche des blos empfindenden Menschen ein Stück näher, und die Spuren davon trägt ihre Philosophie, wie ihre Dichtkunst. Bey dem Plato gieng die Einbildungskraft der raisonnirenden Vernunft immer zur Seite. [88] | Viele seiner Beweise sind blos auf Ähnlichkeiten gebaut, oder sind vielmehr nichts als fortgesetzte Allegorien. In unsrer Philosophie, haben wir, zu großen Vortheile für die Wahrheit, die Einbildungskraft nicht mehr zur Führerinn, nicht einmal zur Begleiterinn. Diese Änderung aber muß den Ideen des Plato, und selbst seinem Stile fremd seyn; man muß den Übergang von der alten in die neue Schule unausbleiblich gewahr werden, und die angesetzten Stücke müssen sich zu sehr von dem alten Stoffe absondern. ‒ Wenn man einen großen Maler das Werk eines alten Meisters übermalen sieht, sollte man nicht wünschen, daß er uns selbst Originale, oder eine ganze Kopie des alten Stücks lieferte? Itzo könnten wir also die Lectüre mit unsern Lesern anfangen, wenn wir ihn nicht vorher auf einige Bemerkungen, in Ansehung der Natur des Dialog überhaupt, aufmerksam machen wollten, die wir uns selbst bey dieser Lesung abstrahiert haben, und die uns also bey einer zwoten zum Leitfaden dienen können. Der philosophische Dialog ist mit zwey ganz verschiednen Werken des menschlichen Geistes verwandt, vereinigt in sich ihre Regeln, und erfordert in seinem Verfasser, in gewissem Grade, das Genie von beyden. Von der einem Seite betrachtet ist er ein Drama, von der andern eine philosophische Untersuchung; als Drama erfordert er einen bestimmten und durchaus beybehaltnen Character seiner Person, eine gewisse [89] Handlung,| oder eine Art von Fabel, die zugleich die Zeit, den Ort, die Situation der unterredenden Personen und das Übliche bestimmt; endlich den dialogischen Stil. Als philosophische Untersuchung, erfordert er eine Entwicklung der Ideen, die durch lauter unmittelbare Folgen fortschreitet; die aber dadurch jede Antwort schon durch die Frage vorbereitet; und die, indem sie ihren Weg verlängert, und seinen Ausgang versteckt, mit der Überzeugung gleichsam überrascht, und sie eben da-

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durch unwiderstehlich macht. Wir wollen diese Begriffe nur mit den Mustern vergleichen, von denen sie abgezogen sind. ‒ Wenn wir zuweilen von uns selbst Rechenschaft von dem Vergnügen gefordert haben, welches Plato und Xenophon fast über alle übrige alte Prosaisten ihren Leser machen, von der Süßigkeit, die Cicero dem Stil des letztern zuschreibt, und von der Erhabenheit, die dem ersten von dem ganzen Alterthume durch den Namen des Göttlichen bestätigt wird: so haben wir keine andre Ursache gefunden, als daß ihre Werke nicht blos die Aufklärung großer und wichtiger Wahrheiten, sondern auch die Schilderungen menschlicher Sitten, Leidenschaften und Handlungen enthalten. Wir sehn nicht blos einen Geist überhaupt denken, obgleich dieses schon immer ein sehr einnehmendes Schauspiel ist: sondern wir sehn menschliche Geister, von einer bestimmten Gattung, von dieser und von keiner andern Denkungsart, von diesem Charakter, von dieser Erziehung, von diesen Gesinnungen, unter die|sen Umstän- [90] den, denken; und indem wir uns unterrichten, werden wir zugleich mit denen Personen bekannt, bey denen wir uns unterrichtet haben. Wir genießen alle Vortheile des Umgangs und des Hörsaals; indem sich unser Verstand erleuchtet, wird unsre Einbildungskraft zugleich beschäfftigt und zuweilen unser Herz gerührt; wir sehen wirkliche menschliche Wesen vor uns, die wir lieben, hassen, verachten, hochschätzen, an deren Aufklärung und Verbesserung oder an deren Beschämung uns was gelegen ist, die uns intereßiren. Das Mittel dazu muß auf dem Theater und im Dialoge immer einerley seyn. ‒ Die Natur muß richtig gewählt, getreu kopiert seyn. In der Natur sind keine ganz gleichen Charaktere, und diese Verschiedenheit hat auf ihren Kopf einen Einfluß. ‒ Also müssen sich die Personen des Dialogen eben so unterscheiden. In der Natur bleibt jeder Mensch immer derselbe, und an seiner Art zu denken und zu handeln erkennt man ihn unter den verschiedensten Umständen wieder. Also muß die Rolle eines jeden Unterredenden, sobald sie einmal angegeben ist, sich immer gleich seyn, und die Eigenthümlichkeit, die ihm gleichsam als ein Kennzeichen beygelegt ist, durchaus beybehalten. ‒ In der Natur ‒ aber zu was wiederholen wir Regeln, die schon hundertmal sind gegeben worden, und die doch alle zusammen nicht so viel werth sind, als ein einziger Blick eines beobachtenden Geistes auf die Natur selbst. Wer nicht das Vermögen hat, das, was um ihn herum in dem beständigen Umgange vor|geht, zu bemerken, und das Unterscheidende [91] gleichsam zu ergreifen; nicht die Einbildungskraft, es sich eben so richtig wieder darzustellen, als er es empfunden hat; nicht so viel Abstractionskraft, als nöthig ist, dieses Bild in Ideen zu verwandeln, und diese Ideen auszudrücken; nicht Macht über seine Sprache, um in dem Ausdrucke seine ganze Idee zu erhalten: der wird niemals ein guter Dialogist werden, er mag Begebenheiten oder Wahrheiten zum Stoffe machen. In unserm Gespräche des Plato sind außer dem Sokrates, Simmias und Cebes die wirklich unterredenden Personen; und ob sie gleich nur selten reden; ob sie gleich alsdann nur blos Einwürfe machen, und obgleich also der Ton dieses Gesprächs weit dogmatischer und weniger dramatisch ist, als irgend eines andern, so erkennt man doch, daß Simmias mehr Einbildungskraft, und Cebes mehr Tief-

254 | 4 Rezensionen sinn verräth; der erstere sich geschwinde beruhigt, und eher wieder zweifelt, der andre sich schwerer überzeugt aber die Überzeugungen fester erhält; Simmias sieht einem jungen feurigen Kopfe, und Cebes einem ältern bedachtsamen Philosophen ähnlich. Criton hat nur die häuslichen Geschäffte über sich, und nimmt an dem Gespräche selbst keinen Antheil. Der Charakter des Apollodorus ist angegeben, aber er erscheint nicht auf der Bühne. Aber dieses Charakteristische der Personen ist in andern Dialogen noch weit merklicher. Kann es irgend eine vollkommnere Schilderungen eines eitlen, stolzen [92] und unwissenden Gelehrten geben, als | Hippias oder Protageras in den Gesprächen, die ihre Namen führen. Ein Mensch, der von seinen eignen Verdiensten, und seinem von jedermann anerkannten Ruhme so innig überzeugt ist, daß er treuherzig die Spöttereyen des unwissenden Sokrates für Lobeserhebungen annimmt; und der, weil die hohe Meynung, die er von seinem eignen Verstande hat, schon im voraus bey ihm die Meynung von dem Verstande andrer sehr verringert, den Schein der Einfalt, und der unwissenden Lehrbegierde, die sein Gegner annimmt, für ehrlich hält; und sich selbst durch die Siege des andern, die alle Umstehende zum Gelächter und zum Theil zur Verachtung bewegen, in seiner Hochachtung für sich selbst und der Zuversicht zu seiner Gelehrsamkeit nicht stören läßt. ‒ Man müßte wenig in der gelehrten Welt bekannt seyn, wenn man nicht für diese Kopie noch immer Originale finden wollte. ‒ Ein junger Mensch von hoher Geburt, von großen Hoffnungen, von noch größern Begierden, von einem weit aussehenden Ehrgeize, und von Fähigkeiten, die ihn zu rechtfertigen scheinen; stolz auf die Vorzüge des Glücks, aber noch viel stolzer auf seine persönlichen Eigenschaften; dabey lehrbegierig und demüthig gegen die, deren höhere Einsichten sein guter Verstand gewahr wird, und deren Hülfe er zur Erreichung seinem ersten Gespräche, und wenn die Geschichte uns sein Leben vorenthalten hätte, so würden wir seinen Charakter doch eben so gut kennen. [93] In einem andern Gespräche, das die Liebhaber heißt, sind zwey junge Leute einander entgegen gestellt, deren einer von gutem natürlichen Verstande, aber ohne Geschmack für die Wissenschaften, und ohne die Anmaßung ist, sie zu besitzen; man wird sich erinnern, hundertmal solche junge Leute gesehen zu haben, die gemeiniglich zugleich für die Leibesübungen Neigung und Geschicklichkeit haben, denen alles gelingt, wozu der Körper nöthig ist, und die in Geschäfften klug, in dem Umgange verständig, alles, nur nicht gelehrt werden. Gerade so ist der eine von diesen Liebhabern; der andre, mit einem geringern Antheil von Mutterwitze, aber mit mehr auswendig gelernter Philosophie, mit der zuversichtlichen Mine und der Eitelkeit eines jungen Gelehrten, voll von vorgegebner, aber nicht eben so stark empfundner Hochachtung für die Schönheit der Wissenschaften; von einer großen Fertigkeit in Beantwortung der Fragen, deren Sinn er noch nicht versteht, und in Erklärung der Sachen, von denen er keinen Begriff hat; endlich von einer großen Verachtung des Ungelehrten; ein ehrlicher guter Vater, der Neigung, aber nicht Einsicht genug hat seinem Sohne die beste Erziehung zu geben, die er selbst nicht

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bekommen hat, er scheint ein Theages mit seinem Sohne, einem lehrbegierigen, feurigen und ungestümen Jünglinge, der von Grunde des Herzens wünscht, weise zu werden, ohne diesen Gegenstand seiner Begierden selbst noch recht zu kennen. Aber unter allen diesen Charakteren ist keiner bestimmter, mehr ausgemalt, [94] und zugleich so interessant, als der Charakter des Sokrates selbst. Plato und Xenophon sind gleichsam die Lebensbeschreibung dieses Mannes. Montagne, ein weit unerheblicherer Mensch, hat dem unerachtet, seine Versuche dadurch so anziehend zu machen gewußt, daß sie die geheime Geschichte seiner selbst enthalten. Man würde sich vielleicht keinen Charakter erdenken können, der an sich einnehmender und liebenswürdiger, und zugleich für den Dialog angemessener wäre. Mit allem, was ein Geist Großes und ein Herz Edles haben kann, verbinde man eine gewisse Stille und Sanftmuth des Charakters; eine wirkliche Demuth, die noch durch den Vorsatz sich in andrer Augen zu verkleinern, versteckt wird; einen Scharfsinn, der die Schwachheiten der andern gleich gewahr wird, ohne von dieser Bemerkung Gebrauch zu machen, und ohne deswegen im geringsten aus dem Charakter der Niedrigkeit und der Simpicität herauszugehen, den er sich einmal aufgelegt hatte; ein Genie, welches andre menschliche Geister überwältiget, ohne sie im geringsten die Kraft gewahr werden zu lassen, mit welcher er sie zu Boden wirft; eine Stärke der Einsicht, die ihn bey einer jeden Unterredung gleich zum Meister der übrigen macht, und ihn in den Stand setzt, aus ihnen zu machen, was er nur will, und die doch zugleich durch die feinste Ironie, ohne Beleidigung, das Ansehn der bloßen Lehrbegierde bekommt; eine Tiefe der Reflexion, die sich unter einem gemeinen | und geringscheinenden Ausdrucke verbirgt; Größe und Adel der Sache in einem [95] beständigen Contraste mit dem Kleinen und Widrigen des Scheins ‒ dieser Mann ist Sokrates; welcher Mensch kann den Streit zwischen Stolze und demüthigem Verdienste, zwischen einer eitlen Unwissenheit und einer bescheidenen Weisheit sehen, ohne sich über den Sieg der letztern, den sie in der Welt so selten erhält, zu freuen? Wo kann man einen ehrwürdigen Greis von Jünglingen, die seine Freunde sind, umgeben sehen ‒ ihn, ohne das angemaßte Ansehn und den aussprechenden Tons eines Lehrers, ‒ sie, ohne den unverständigen Beyfall oder den unbescheidnen Vorwitz von Schülern, beyde, als gemeinschaftliche Freunde der Wahrheit, die sich durch einander aufzuklären suchen; wo kann man diese sehen, ohne sie lieb zu gewinnen, und ihre Gespräche mit innigster Lust anzuhören? ‒ Xenophon schränkt sich, zu Folge seiner Absicht, fast ganz auf den Charakter des Sokrates ein. Seine übrigen Personen kommen nur dazu, den ersten in Bewegung und gleichsam ins Spiel zu bringen. Die Ironie des Sokrates ist bey ihm versteckter und feiner, und die Naivetät, die er im Plato hat, verwandelt sich bei ihm oft nur in Ehrlichkeit. Die Reflexionen sind nicht so tiefsinnig, sie liegen gleichsam mehr auf der Oberfläche. Aber eben deswegen lassen sie sich unmittelbarer mit den Erfahrungen zusammen halten, ihre Richtigkeit leuchtet stärker ein, und man genießt öfter das Vergnügen, seine eigne Gedanken in dem | Lichte, welches wir ihnen nicht zu geben wußten, [96] wieder zu finden. Beym Plato ist Sokrates ein wirklicher Philosoph, seine Raisonne-

256 | 4 Rezensionen ments subtil, oft spitzfindig. Im Xenophon sind sie die bloße gesunde Vernunft, mit aller Deutlichkeit und Stärke, deren er fähig ist. Der Dialog also hat nicht bloß Ideen, die er zergliedert, sondern Menschen, die er uns unter diesem Geschäffte schildert. Aber so wie der Charakter, eben so haben die Umstände, in denen wir uns befinden; die Gegenstände, die uns vor Augen sind; die Begebenheiten, mit denen wir uns itzt eben am meisten denken wollen, den Weg, den wir nehmen, um zu diesen Materien zu gelangen, und in dieselben einzudringen; die Seiten, die sich uns von den Gegenständen am ersten darbieten; die Gestalt, und so zu sagen die Farbe, die unsre Reflexionen annehmen; die kleinen Ausfälle, die wir von Zeit zu Zeit auf uns selbst, unsern Zustand und auf das Individuelle thun, alles dieses wird durch die Situation bestimmt, in der wir unsre Betrachtungen anstellen. Dieses ist das, was wir die Fabel des Dialogen nennen, und welches den Personen ihren Standort, und ihren Gedanken und Ausdrücken die verhältnißmäßige Richtigkeit giebt. Ebenderselbe Weise wird bey einem Gastmahle, oder vor einem Sterbebette, nicht gleiche Gegenstände zu seinen Betrachtungen [97] nehmen, oder er wird über | einerley Sache nicht eben dasselbe und nicht auf eben die Art denken. Ein Spatziergang in dem Garten der Akadamie, und ein Gefängniß wird seiner Einbildung nicht dieselben Bilder darbieten, seinen Begriffen nicht einerley Schwung, und seiner ganzen Rede nicht denselben Ton geben. Jeder Begebenheit, jeder Stellung im menschlichen Leben liegen so zu sagen gewisse Reflexionen am nächsten; diese wird die Seele, wenn sie sich einmal auf eine Zeitlang von den Banden des Sinnlichen und von den Eindrücken, die die äußern Umstände auf sie machen, loszuwickeln suchet, am ersten ergreifen, an diese wird sich die nächstgränzende knüpfen, und sie wird sie sich endlich ganz von sich selbst und ihrem gegenwärtigen Zustande, mitten unter das unsichtbare Reich geistiger Ideen verlieren; aber doch auf einem Wege, auf welchem man die Spuren finden kann, durch die die Seele von der bloßen Empfindung ihres Körpers und ihres Zustandes bis zu diesen entfernten Regionen des reinen Verstandes durchgedrungen ist. ‒ Es ist dieses nicht jedem Dialog wesentlich, aber er ist desselben überhaupt fähig, und es ist immer ein Vorzug, wenn es ihm zukömmt. In diesem Falle also kann das Problem, welches der Dialogist aufzulösen hat, zwiefach seyn. Entweder ist ihm die Begebenheit gegeben, wie hier der Tod des Sokrates, und er soll nach dem Charakter des Philosophen, den er darein setztet, die Betrachtungen finden, die bey ihm dadurch am ersten konnten veranlaßt werden, und das Individuelle, was Gedanken, [98] die er auch zu andrer | Zeit haben konnte, von dem besondern seiner itzigen Lage annehmen mußten. Oder er bestimmt seine Materie und die Methode zuerst, und sucht alsdann Personen, Umstände und Örter, die zu denselben am schicklichsten sind und am ersten darauf leiten konnten. ‒ Nach dieser einmal festgesetzten Verfassung, bestimmt er alsdann den Ton des ganzen Stücks, besonders denjenigen Theil, der Erläuterung oder Schmuck ist, und wo also die Einbildungskraft, da sie die Bilder freyer wählen kann, als der Verstand die Gründe, sie wahrscheinlicher Weise aus dem Theile der sinnlichen Welt hernimmt, welcher zu der Zeit eben der

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Seele am meisten gegenwärtig ist. Unser Gespräch, und das Gastmahl des Plato können als Muster dieser Lehre angesehen werden. ‒ Nichts kann schöner seyn als die Einleitung des Dialogs, die Rückgänge die er von Zeit zu Zeit von seiner Theorie auf sich selbst machet, und die stille aber ruhige Schwermuth, mit welcher, wie mit einer dunklern Farbe, das Ganze überzogen ist. ‒ Man hatte den Sokrates am Tage seiner Hinrichtung von Fesseln loß gemacht; diese süße Empfindung einer abgenommenen Last, und eines erleichterten Schmerzes, brachte in einem Geiste, wie dem seinigen, keinen Gedanken natürlicher hervor, als den, daß Schmerz und Vergnügen unzertrennlich miteinander verbunden sind, und sich einander wechselweise hervorbringen; er kleidet diese Bemerkungen in eine äsopische Fabel ‒ diese erinnert den Cebes an die Fragen, die ihm von Evenus | und andern wegen der Gedichte waren gemacht worden, die Sokrates im Ge- [99] fängnisse sollte verfertigt haben, und die größtentheils in äsopischen Fabeln bestanden, die er in Verse gebracht hatte. Sokrates erkläret ihm die Sache, saget ihm die Bewegungsgründe und beschließt mit dem Auftrage an den Evenus, er solle ihm, wenn er weise wäre, bald folgen. Nunmehro ist das Gespräch eröffnet. ‒ »Evenus wird das für kein Glück ansehen, was du ihm wünschest.« ‒ Wie? Sollte er nicht wissen, daß des wahren Weisen ganzes Leben eigentlich nichts als eine Vorbereitung zum Sterben und eine Art von fortgesetztem Tode sey? ‒ Aber wie kann ein Weiser das Leben gern verlassen, wenn er mit ihm zugleich die treusten und besten Aufseher verläßt? ‒ Weil er sie auch nach dem Tode noch behält. ‒ Also dauert die Seele fort. Das sind ungefähr die Schritte, durch welche die Unterredung bis zu der Untersuchung der Gründe der Unsterblichkeit geführet wird. Wir dürfen unsern Lesern nicht erst vorgreifen, und ihnen in dem Dialog, selbst die Stellen anzeigen, wo sich der Einfluß der Situation auf die Vorstellungen äußert; uns dünkt, ein Greis wie Sokrates, im Gefängniße, unschuldig, und selbst der Tugend wegen verurtheilt, wenig Stunden vor seinem Tode, mitten unter seinen jüngern Freunden, ‒ konnte von keiner andern Sache, und konnte von ihr auf keine andre Art reden. ‒ Wenn es dieses Vergnügen an der richtig getroffnen Natur nicht wäre,| was hätte den Phädon [100] bey allen den Veränderungen unsrer Metaphysik erhalten, die seine Beweise umgestürzt haben? Das letzte, welches Drama und Dialog gemeinschaftlich haben, ist der Stil und die Sprache; man kann keinen Unterschied merklicher fühlen, als den, zwischen der Sprache des Umgangs und des Lehrstuhls, und ihn doch weniger erklären. Dieser Zusatz oder diese Veränderung, die unsre Gedanken bekommen, wenn wir sie in einer gewissen Ferne von einer ganzen Versammlung von stummen Zuhörern, auf einmal auslegen, und wenn wir sie in einem engern Raume einer einzeln Person, oder einigen wenigen, die uns unterbrechen dürfen, stückweise mittheilen; diese Veränderung ist von einem weit größern Einfluße auf die kleinsten Theile, als diese bloße Erklärung errathen ließ. Etwas von dieser Verschiedenheit liegt freylich schon in dem Individuellen der Personen, des Verhältnisses und der Umstände, das auf

258 | 4 Rezensionen die Unterredung einen Einfluß hat, und nicht auf die Rede. Aber dieses abgerechnet, so bleibt doch noch für den Dialog eine gewisse größre Simpicität und weniger anscheinende Wahl in den einzelnen Ausdrücken, in ihrer Zusammensetzung mehr Ruhepunkte und weniger Rundung; ein starkes und helles Licht in dem simpeln Ausdrucke, aber weniger Ausdehnung im Erklären; im Beweisen eine unmittelbare [101] Folge der Gründe, aber ohne bestän|dige Anzeige der Mittelbegriffe; eine gewissen Wendung, die der Wohlstand und die Gewohnheit eingeführt haben, und die man schlechterdings in dem Umgange selbst erlernen muß; ‒ und über alles das, eine beständig richtige Abwechslung der Parthien. Der Dichter im Drama, und der Philosoph im Dialog, muß erstlich genau die Absicht dessen kennen, der itzo spricht. Sobald diese erreicht ist, so höret der Mensch auf zu reden, oder er müßte sich denn blos zeigen wollen. Er muß zum andern, genau den Punkt kennen, wo die Rede des einen gerade eine solche Wirkung auf das Gemüthe des andern thut, daß er jenen unterbrechen muß. Von beyden Personen, wovon die eine spricht und die andere zuhöret, müssen ihm die Seelen mit der ganzen Reihe ihrer succeßiven Veränderung gegenwärtig seyn. Sobald diese Veränderungen den Grad und die Stärke erreichen, daß sie sich der Natur nach anfangen müssen zu zeigen, so ist das der Augenblick, wo diese Person zu reden anfängt. Sobald das Bedürfniß wieder kleiner, oder die Veränderungen ruhiger und unmerklicher werden, so bald verschließen sie sich wieder blos in der Seele, und der Mensch schweigt. Diese Regel ist freylich im Drama merklicher, weil das Interesse der Personen bey Begebenheiten stärker, als bey Wahrheiten ist; weil hier auf die Folge des Gesprächs die Wahl fast gar keinen Einfluß hat, und sie durch die bloße Folge der Eindrücke bestimmt wird, und überhaupt der Dialog dort gedrengter, freuriger und dem wirklichen Leben ähnlicher ist. [102] Aber | man wird demunerachtet auch im philosophischen Dialog die Beleidigung derselben gewahr werden. ‒ Eine Person, die noch immer erkläret, was schon alle verstehen, immerfort beweist, was alle glauben, niemals der Sache wegen, die sie spricht, sondern blos ihrer selbst wegen redet; die im Gespräche an Perioden denkt, und sich an einem volltönendem Numerus vergnügt, ist in dem Umgange und an jedem Orte unerträglich, wo sie nicht als ein mit Fleiß gemachtes Gemälde aufgestellet wird. Man kann diese Lehre nicht besser erklären, als aus dem Beyspiele des Fehlerhaften, daß uns Plato in der Person der Sophisten zeigt; ὄιει ἂν ἀδίκως πληγὰς λαβεῖν (sagt er zu einem von ihnen, der in einem langen und tönenden Perioden lauter nichts bedeutende oder die Materie nichts angehende Dinge gesagt hatte) ὅστις δϊϑύραμβον τοσοῦτον ἄσας οὕτως ἀμούσως πολι ἀπῆσας ἀπὸ τοῦ ἐρωτήματος. Das verlangt also der Dialog, in so fern er eine Gattung von Drama ist. ‒ Als eine Methode zu philosophiren erfodert er noch andre Kunstgriffe, die die Briefe der Litteratur schon ein wenig berührt haben, und die zu weit aus unserm Wege liegen, um sie stückweise durchzugehn. Wir begnügen uns blos mit einigen Anmerkungen. ‒ Die erste betrifft die Entwickelung der Ideen, die zum Grunde liegen muß. Der Philosoph will entweder Begriffen, die der andre schon klar gehabt hat, zur Deut-

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lichkeit verhelfen, oder er will seinen Begriffen | neue anknüpfen, und ihn, von da [103] aus, wo er itzt in Erkenntniß der Wahrheit steht, weiter führen. Im ersten Falle muß er ihn zuerst auf individuelle Fälle aufmerksam machen, in welchen der Begriff klar vorhanden ist, und in welchen der deutliche, so zu sagen, eingewickelt liegt. Er wird aber nicht die Abstraction des ganzen Begriffs augenblicklich vornehmen, die gemeiniglich alsdann eine vorher schon gemachte Definition voraussetzt, welche blos auf die Fälle zurückgeführet wird. Er wird seinen Schüler, oder seinen Freund, zuerst nur auf eine, und zwar die sichtbarste Ähnlichkeit in den Fällen aufmerksam machen; er wird also eine Erklärung von ihm veranlassen, die nichts als ein einziges Merkmal von dem Begriffe, und vielleicht dieses weder ein allgemeines noch beständiges enthält. Er wird dieses Merkmal mit neuen Fällen vergleichen. Er wird die Anwendung auf diese unmöglich finden, und ihn also auf eine neue Seite und ein neues Merkmal des Gegenstandes führen; er wird die alte Prüfung wiederholen, bis er endlich den andern entweder blos mit der Überzeugung seiner Unwissenheit zurück läßt, wie Sokrates den Eut[h]yphron oder ihn auf den Begriff bringt, den er ihn als den wahren lehren will. ‒ Man kann vielleicht diese Art der Methode nirgends so deutlich sehen, als in dem Gespräche Menon, wo Sokrates, um seine Lehre von der Erlernung der Sachen durch die Wiedererinnerung zu beweisen, ein ganz unwissendes Kind zur Antwort bringt, die nichts anders als geometrische Lehrsätze sind; Sokrates liegt | ihm den Fall vor, und nöthiget ihm sein Urtheil ab. Natürlicher [104] Weise saget es das, was nach dem ersten Anblicke, ohne Reflexion den Sinnen am wahrscheinlichsten vorkommt. Er bringt seine Antwort auf die Probe; sie wird als falsch befunden. Schon ist der andre von der Sinnlichkeit einen Schritt abgeführet. Er sieht, der erste Schein kann nicht entscheiden. Er setzet also von neuem an, und selbst die Verbesserung seines ersten Fehlers veranlaßet den zweyten, aber jeder Irrthum, den er begeht, ist immer ein Schritt näher zur Wahrheit; so findet man endlich den rechten Weg, indem man jeden Irrweg so weit fortgeht, bis man auf Spuren kommt, daß er nicht die rechte sey, und nun bewogen wird, umzukehren. Von dieser Methode ist die in unserm Dialogen im Parmenides, und in denen, die dogmatisch sind, wirklich unterschieden. Eine Wahrheit bis zu ihren ersten Grundlinien zergliedert, von diesen angefangen, ohne den Gebrauch anzuzeigen, den man davon zu machen gedenkt; dann immer nur die nächsten Folgen daraus gezogen, die dem andern unmittelbar einleuchten, und die er also zugeben muß, wenn er nicht den Grund läugnet. Diese Kette immer von Glied zu Glied, ohne eines zu überspringen, fortgeführet, bis sie sich endlich bey der Wahrheit endiget, die man befestigen wollte: dieses ist ungefähr der Riß, welchen Sokrates ausführet. Und eben hieraus entspringt unsre 2te Anmerkung. Es ist ein Kunstgriff, und zugleich | ein Vortheil der dialogistischen Methode, daß sie den, dessen Unterricht eigentlich [105] der Endzweck ist, in einer Art von Erwartung und Suspension erhält, die seine Aufmerksamkeit schärft, und zuweilen seinem Eigensinne zuvor kömmt. Eine lange gerade Straße, bey deren Eintritt man schon den Ort sieht, wo man hin will, ist langweilig und ermüdend. Krümmungen, die unsern Weg zwar verlängern, aber uns

260 | 4 Rezensionen durch die Abwechslung der Gegenstände unterhalten, und uns zuletzt auf einmal, den Ort unsrer Bestimmung weisen, indem wir schon bey ihm anlangen, machen die Reise angenehm und die Zeit unmerklich. Der Dialog ist diesem Wege ähnlich. Er scheint nichts angestelltes, nichts verabredetes zu seyn; man setzet blos auf Gerathewohl einen Schritt vor den andern, wo der Weg hinführet; der gegenwärtige Schluß scheint immer die letzte Absicht zu seyn, aber er führet zu einem neuen ‒ so wird die Seele, indem ihre Aufmerksamkeit ganz auf die gegenwärtigen Ideen zusammengehalten wird, die sich sonst zwischen ihr und der Vorhersehung ihrer entfernten Folgen theilet, zugleich vor der Widersetzlichkeit bewahrt, mit der sie sonst gerne die Überzeugung der Gründe, die auf sie wirklichen Eindruck machen, aufhält, blos um des Gebrauchs willen, den sie davon befürchtet. Unser Dialog beym Plato giebt ein Muster von dieser Art. Sokrates will dem Cebes beweisen, daß die Seele nicht blos länger als der Körper, sondern ewig daure, und er fängt unge[106] fähr auf folgende Art an: »Ich war,« sagt er, »in meiner Jugend | sehr begierig, die Ursache der Dinge zu wissen. Aber ich war dieser Untersuchung nicht gewachsen. ‒ Endlich fand ich den Anaxagoras, der mir sagte, ein Geist wäre der Urheber von allen. Also sagte ich zu mir, werden die Ursachen der Phänomene in ihren Absichten zu suchen seyn, und die Ursachen zu finden, wird nichts anders heißen, als zeigen, daß die Sachen so am besten sind. Aber ich fand mich hier von meinem Führer verlassen. Endlich gerieth ich darauf, daß es gewisse Wesen geben müße, um welcher willen wir jede Sache schön, gut und groß nennen, und daß also die Theilnehmung an diesem Wesen, die Ursachen der Beschaffenheiten der Dinge sey. Diese Wesen fand ich, sind ewig und unveränderlich; und nicht blos sie, sondern auch sinnliche Dinge, die mit ihnen unzertrennlich verbunden sind. Nicht nur die Wärme kann niemals Kälte werden, sondern auch das Feuer, ob es gleich nicht die Wärme selbst ist, kann, weil es das Wesen, daß wir Wärme nennen, beständig an sich trägt, und allenthalben mit sich bringt, wo es hinkommt, von der Kälte nicht verändert, sondern nur verjagt werden. Eben so ist es nicht nur unmöglich, daß das Leben Tod seyn könnte, sondern die Seele, die mit dem Leben, wie das Feuer mit der Wärme unzertrennlich verbunden ist, indem sie es allen den Körpern mitteilet, zu denen sie hinzu kommt; kann den Tod nicht in sich aufnehmen, sondern sie muß bey seiner Annäherung, wie das Feuer von der Kälte verschwindet.« [107] Der Beweis an sich ist höchst schwach, aber die Wendung die er nimmt, und die unvermuthete plötzliche Rückkehr von blos allgemeinen Betrachtungen auf den eigentlichen Gegenstand, drängt den Gegner, kommt seinen Entwürfen zuvor, und würde unausbleiblich die Überzeugung hervorbringen, wenn sie überhaupt eine Wirkung solcher Gründe seyn könnte. [313] Wir haben uns eine sehr lange Zeit von unserm Herrn V. verlohren; aber ohne ihn deswegen aus dem Gesichte zu lassen. Indem wir die einzelnen Anmerkungen, die wir bey gewissen Stellen würden haben machen müssen, gesammlet haben, so haben wir uns nur unsre folgende Arbeit verkürzt, und alle Unterbrechungen verhindert. Der erste Theil des ersten Gesprächs (denn das Leben und den Charakter

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des Sokrates übergehen wir gänzlich) | ist nach dem Plato und ob wir gleich keine [314] Genauigkeit fordern können, so ist doch die Vergleichung nicht ohne Nutzen. Wir gestehen es, unser Verfasser scheint uns untadelhaft, wenn wir ihn ohne Original ansehen. Wir vergleichen ihn, und finden ihn noch schön, aber wir bewundern den Plato, dessen Ausdrücke so sehr die Natur selbst sind, daß fast jede Veränderung eine weggebliebne Schönheit seyn muß. In unserm Verf. thut Echecrates S. 74 eine Menge Fragen, die wegen ihres gleichen Anfangs zu gesucht, oder wegen ihrer Menge zu heftig zu seyn scheinen. Der Affekt scheint für eine bloße Neubegierde zu stark. Im Griechischen ist mehr Ruhe und Mäßigung. ‒ Gleich darauf ist es umgekehrt; Echecrates sagt im Griechischen, mit einer Art von Hitze, »o dies alles erzähle mir aufs genaueste, wenn dich nicht sehr wichtige Geschäffte hindern; ‒ S. 75. »Ich habe niemals Geschäffte, wenn ich vom Sokrates rede,« ist eine Art von kleiner Übertreibung, die in unserm heutigen Umgang nothwendig geworden ist, in dem alten fehlt. Beym Plato sagt Phädon weiter nichts, als: »Ich habe keine Geschäffte und es ist mir immer eine Freude an den Sokrates zu denken. ‒ S. 75.« Die Rede des Phädo, und die Beschreibung der vermischten Empfindung, die der Tod Sokrates in ihm verursacht, ist an sich schön: dem unerachtet scheinen die Ausdrücke aus einer etwas höhern Sphäre, als des Dialogen, zu seyn, es ist mehr Zu|rüstung und viel- [315] leicht etwas mehr Pathos als Plato ihm geben wollte, und als ein ruhiger Erzähler haben soll. ‒ »In unsern Armen erblasset,« Plato hätte gewiß gesagt, stirbt; ‒ die Zusammensetzung mehrerer Beywörter ohne Bindewort ist bey unsern Gesprächen selten, und so sind es viele von den Wendungen die Phädon seinen Gedanken giebt, S. 77. Apollodorus machte die seltsamsten Bewegungen. Ist dieses der Ausdruck einer größern Empfindlichkeit, die dem Apollodor beygelegt wird? Die Anlage zu der Beschreibung »er empfand alles weit feuriger etc. etc.« ist im Plato kurz: »Einer von uns, Apollodorus, weinte mehr als die andern alle.« ‒ Die Erzählung die Phädon S. 79 von ihrem Eintritte in den Kerker, und ihrer ersten Unterredung macht, ist untadelhaft ‒ bis auf die kleine äsopische Fabel: S. 82. »Die Götter (sagt das Deutsche) knüpften zwischen Ihnen ein festes Band.« Das folgende macht dieses Bild unrichtig. Denn wenn sie blos zusammengeknüpft sind, so können sie nicht auf einander folgen, sie müssen beysammen seyn; nach dem Griechischen συνῆψε τάς χοϱυφας, er knüpfte ihre Ende oder ihre beyden Spitzen an ein ander. Nunmehr hat die Allegorie die genaueste Übereinstimmung. – Die Erzählung des Traums ist schön. Aber dazu liegt die Idee im Griechischen nicht, daß Sokrates den Lobgesang von den Gedichten ausschlüßt. Die Hymnen sind beständig als eine Gat|tung von Poesie angesehen worden, und sie sind auch [316] voll von Begebenheit und Handlung, welches eigentlich das Wesentliche vom μύϑος ist, insofern er dem λόγῳ der bloßen Reflexion entgegengesetzt wird. ‒ S. 86. Denn es ist unerlaubt, wie jedermann weiß. οὐ γὰϱ φασὶ ϑεμιτὸν εἶναι. ‒ Dieses φασὶ ist ein Ausdruck der Sokratischen Bescheidenheit. Es gehört mit zu seinem Charakter, daß er seine Sätze nur unter dem Schutze der Meynung andrer vorträgt; nicht aber daß er mit Zuversicht seine Meynung zum Urtheil aller übrigen macht. ‒ S. 87. Eben so

262 | 4 Rezensionen scheint das ‒ »Wohlan, so mache dich gefaßt, jetzt ein mehreres davon zu hören,« für den Sokrates, der niemals zu lehren, sondern nur immer zu untersuchen schien, zu stolz. Wenigstens ist er beym Plato weit bescheidner, ἀλλὰ πϱοϑυμεῖσϑαι χϱὴ τάχα δἀν καὶ ἀκούσαιο. ‒ »Nun dürfte es dich befremden.« Die Platonische Idee ist hier etwas ungegründet, und wir wissen nicht, ob vollkommen richtig. Die Heiligkeit der Sitten hat bey uns eine etwas andre Bedeutung, als daß man die Unrechtmäßigkeit des Selbstmordes unmittelbar daraus herleiten könnte, ὅσιον ist damit nicht völlig einerley, es bedeutet eigentlich die Beobachtung unsrer Pflicht gegen die Götter. Über dieß, im Deutschen setzt Sokrates als gewiß voraus, daß es Leute giebt, denen der Tod besser ist als das Leben; wenn dieses wahr wäre so würde es nicht blos befremdend, sondern falsch seyn, daß der Selbstmord unerlaubt bey ihnen sey. ‒ [317] Aber das Griechische | trägt es nur als einen Zweifel vor. Es wäre doch wunderbar, sagt er, wenn es mit Tod und Leben nicht eben so beschaffen seyn sollte, wie mit allen übrigen Sachen, deren eins bald besser bald schlechter ist, als das andre. Wäre aber dieß, so wäre es noch wunderbarer, daß einem solchen Menschen nicht erlaubt seyn sollte, sein eigner Wohlthäter zu werden, und sich das beßre zu verschaffen. ‒ S. 88. »Das mag eine Stimme vom Jupiter erklären,« wir wissen nicht, ob dazu das Griechische Anlaß gegeben hat; τῆ ἁυτοῦ φωνῇ εἰπὼν, ist ein bloßer Zusatz des Erzählers und bezieht sich auf das ἴττῳ, welches eine Interjection, aber kein Wort der allgemeinen griechischen Sprache, sondern blos des Boeotischen Dialects war. ‒ ebendas. [»]scheinet mir etwas zu hoch und unbegreiflich.« Aber was kann leichter und begreiflicher seyn? μεγας δέ μιο τις φαινεται και οὐ ϱᾴδιος δυ δεῖν; ist ein Sokratischer Ausdruck, wodurch er sagen will, daß es dem Gegner schwer werden würde darauf zu antworten. Es gehört diese Art von Heimlichkeit, vermöge deren er nur halb seine Meynung von den Sätzen saget, die er vorbringt, als wenn er lieber andre darüber wollte entscheiden lassen, mit unter die kleinen Züge der Ironie. Mit der Antwort des Cebes verläßt unser V. den Plato. Ohne das Original zu Rathe zu ziehen, erkennet man die Veränderung an einer größern Stärke der [318] Schlußfolge, und an einem freyen, aber neuererm Ausdrucke. Die | Gründe sind die stärksten, die man haben kann, und sie sind in ihrem vollen Lichte. Wir können die Absichten Gottes mit uns nicht anders, als aus der Natur der Dinge, und der Begebenheiten erkennen, die mit uns vorgehn. Ob also Gott will, daß wir leben sollen, können wir aus nichts anders wissen, als daraus, daß er uns die Kräfte des Lebens erhält, und die Mittel zur Fortdauer desselben verschafft; nur der einzige Befehl zum Aufbruche kann die wirkliche Zuschickung des Todes seyn. ‒ Die Idee: »die Kräfte der Natur sind Wahrsager, die uns den Willen der Gottheit verkündigen,« ist wahrhaftig platonisch. An der Stelle dieses Beweises hat Plato hier einen blos überredenden Grund. ‒ »Der Mensch zürnet, wenn man ein lebendiges Ding, was zu seinem Eigenthum gehöret, tödtet; und wir sind das Eigenthum der Gottheit.« Man sieht, daß es hier darauf ankam die Vergleichungsstücke auszumachen, in denen das Eigenthum

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unter den Menschen, mit unserm Verhältnisse gegen Gott übereinkömmt, und zu zeigen, daß eben dieses, woraus er schlüßt, mit zu diesem gehöre. Aber nichts ist natürlicher und entspringt ungezwungner aus der Sache als der Einwurf des Cebes; ‒ Ich wollte, daß Sokrates ihn auf eine empfindlichere Art gelobt hätte. »Cebes kann schon einem zu schaffen machen, der gegen ihn etwas behaupten will. Er hat beständig Ausflüchte.« Im Griechischen ernsthafter und weni|ger zwey- [319] deutig. Ἀεὶ λόγους τινὰς ἀνεϱευνᾶ καὶ οὐ πάνυ εὐϑέως ϑέλει πείϑεσϑαι ὅ, τι ἄν τις εἴποι. ‒ Dieses ganze Stück von dem philosophischen Tode ist wieder aus dem Plato, und im Ganzen schön. S. 100. Die Athenienser insbesondre könnten dir sagen etc. etc. Man sieht hier die Folge nicht augenscheinlich genug. ‒ Darum lassen die Athenienser die Weltweisen sterben, weil sie wissen, wornach sie sich sehnen? Also ist es die Absicht ihnen etwas Gutes zu erzeigen? Aber sie hassen sie ja. – Nach den Griechischen (ϑανατᾷν heißt nicht blos den Tod wünschen, sondern auch ihn erwarten); ‒ »Ich glaube, daß dir unsre Athenienser sehr Recht geben, und vollkommen darein einstimmen würden, daß die Weltweisen immer den Tod vor Augen haben, weil sie es sich bewußt sind, daß sie ihn verdienen.« Die Hauptvorstellung des Plato ist: der Körper stört uns in der Untersuchung der Wahrheit, einmal indem er uns eine Menge Beschäftigungen auflegt, zum andern, indem er durch die Sinne wirkliche Irrthümer veranlaßt. Die letzte Idee berichtigt Hr. M. Die Sinne sind nicht die Urheber unsrer Irrthümer, aber sie lehren uns auch keine einzige Wahrheit; sie geben uns blos eine Folge von Eindrücken, aus denen der Verstand die Wahrheit finden soll. ‒ Plato redet immer von einer gewissen selbstständigen wesentlichen Vollkommenheit, Schönheit, Güte, deren Erkänntniß er der Seele allein zuschreibt, und aus denen er ihre höhere | Natur folgert. Bey ihm [320] sind diese Vollkommenheiten nichts anders als die Abstracta, die er, wie bekannt ist, zu existirenden Dingen macht, und Ideen nennt. Herr Mendelsohn hat darauf eine andre, aber richtigere, Vorstellung gebaut. Bey ihm ist diese selbstständige Vollkommenheit Gott. Die Folge bleibt dieselbe, aber der Grund ist fester. ‒ Aber woher kommen wir zu dem Begriffe von einem höchsten Wesen? Philolaus sagt, wir lernen andre Wesen aus uns selbst kennen. Aber wie? auch höhere? ja, blos durch die Absonderung unser Schwachheiten, und die Vervielfältigung unser Vorzüge, (S. 105. 113.) Diese kleine Ausschweifung ist vortrefflich, ob sie gleich dem Leser den Faden ein wenig aus der Hand nimmt, und ihn auf einige Zeitlang ungewiß macht, ob wir den Zweck der ganzen Vorstellung richtig gefaßt haben. ‒ Dieser Zweck, auf den er S. 113. wieder zurückkommt, ist, zu zeigen, in wie weit die Philosophie die Vorbereitung zum Tode ist, und aus was für Gründen die Furcht vor dem Tode bey einem wahren Weltweisen ungerei[m]t sey. ‒ Die Sache selbst ist einnehmend und wahr, die Vorstellung davon erhaben, der Ausdruck simpel und edel, und die Wirkung des Ganzen vortrefflich. – Nur aus dieser Philosophie kann die wahre Mäßigkeit, die wahre Tapferkeit, und mit einem Wort die wahre Tugend entstehen, die sonst nur ein Tausch der Laster ist; alles dieses ist nach dem Plato, und die Ideen haben im Deutschen ihre ganze Stärke behalten. Die Sachen selbst sind hier mit

264 | 4 Rezensionen dem eige|nen moralischen Gefühl so nahe verwandt, sie erregen in einem Herzen, das des [R]edenden seinem ähnlich ist, so angenehm sympathetische Bewegungen, daß kein Theil der Aufmerksamkeit für die Kritik einzelner Wendungen und Ausdrücke übrig bleibt. S. 128. fangen die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele an; und die beyden Wege theilen sich. ‒ Wir wissen nicht, ob es uns unsre Leser Dank wissen werden, wenn wir ihnen die Beweise des Plato kurz vorstellen, und sie mit unsers Verfassers seinen vergleichen. ‒ Der erste Platonische ist eine philosophische Erklärung der Seelenwandrung. ‒ In der Natur entstehen alle Dinge aus ihrem Gegentheile, das Große aus dem Kleinen, das Gute aus dem Schlechten, zwischen diesen äussersten sind gewisse Übergänge, durch welche eines aus dem andern hervorkommt, so ist zwischen dem Großen und Kleinen, das Wachsthum und die Abnahme; zwischen Schlafen und Wachen, das Einschlafen und Erwachen, ‒ Tod und Leben ist eben so einander entgegengesetzt. Wir sehen, daß alles was todt ist, aus dem Lebenden entsteht, und der Übergang davon ist das Sterben. Sollte nun bey dieser einzigen Sache eine Ausnahme von der allgemeinen Regel der Natur seyn, die niemals ein entgegenstehendes allein aus dem andern entstehen läßt, sondern immer wieder den Rückweg zur Hervorbringung des ersten nimmt. Wenn alles große klein würde, und nichts kleines wieder groß, so wird endlich alles klein seyn. Eben so, wenn alles [322] lebendige stirbt, und | nichts was todt ist wieder auflebt, so muß zuletzt gar kein Leben mehr da seyn. ‒ Also muß es eine Veränderung geben, die dem Sterben correspondirt, wie das Wachsthum der Abnahme, und diese ist das Lebendigwerden. ‒ Also geht die Seele nicht unter. ‒ Man sieht den Grad von Stärke, die diese Gründe haben, leicht; aber nicht so leicht sieht man, daß sich ein Gebrauch machen läßt, der weit über die Absicht ihres Urhebers ist. Moses führt uns darauf. In der Idee, die ein bloßes Spielwerk zu seyn scheint: jedes Ding entspringt aus seinen Entgegengesetzten, und auf jeder Seite ist ein Mittelzustand, durch welchen eins in das andre übergeht, liegt wirklich das Wahre zum Grunde, 1) daß es in der Natur kein absolutes Entstehen und Vergehen giebt, sondern daß das, was wir mit diesem Namen belegen, nichts als beständige Auflösungen und Zusammensetzungen, eine Hervorbringung neuer Gestalten aus denselben Theilen, und eine fortgesetzte Veränderung des Zustandes der Dinge sey, der im Grunde niemals derselbe bleibe; 2) daß von zwei äußersten Zuständen das Ding niemals aus dem einen in den andern, ohne durch gewisse mittlere Zustände, kommen kann, die jene zusammenhängen. Diese Begriffe liegen wirklich in den Fällen, die Plato anführt, und zum Theil in seinem Raisonnement, sind aber dunkel. H. Mendelsohn zeigt sie in der völligen Klarheit, und in ihrer besten Anwendung. ‒ Der Plan von dem darauf gebauten Beweise ist ungefähr dieser: Alle Veränderungen in der Natur geschehen stetig, d. h. es giebt [323] nicht zween verschied|ne Zustände, aus deren einen das Ding in den andern ohne einen gewissen Übergang versetzt werden könnte; wir nennen aber das Ding eher nicht verändert, bis dieser Fortgang groß genug ist, um von uns sinnlich empfunden zu werden. So ist Geburt und Tod nichts anders als Entwiklung von Veränderungen, [321]

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die unaufhörlich in dem Menschen vorgehen, und die alsdann erst den Namen bekommen, wenn sie uns in die Augen fallen. Zwischen Seyn und Nichtseyn sind keine solche Mittelzustände, keine Stuffen, kein Übergang. Also kann auch diese Veränderung nicht durch die Natur bewirkt werden. Durch Gott auch nicht, denn die Vernichtung eines Geistes wäre die Vernichtung seines letzten Endzwecks. Also wird die Seele nicht vernichtet: Also handelt sie, also hat sie Begriffe, und also ist sie der Glückseligkeit fähig. Wir bemerken bey diesem Beweise. 1) Die Einrichtung desselben ist von der einen Seite vollkommen in dem Geiste der Sokratischen Methode. Der Anfang in einer gewissen Ferne vom Ziele, und bey Begriffen gemacht, die außer allem Widerspruche sind; der Fortgang stuffenweise und unmerklich; der andre bey jedem Schritte festgehalten und seine Überzeugung gleichsam gebunden; Klarheit und Gewißheit in einer allmähligen Erhebung, bis sie sich auf den Punct sammlen, wo sie ihre ganze Wirkung haben sollen. Aber von einer andern scheint uns der Ton zuweilen zu dogmatisch, die Erklärung zu ausgebreitet, und endlich der schwerste Theil des Beweises kürzer als der leichtre. Denn 2) entweder wird in dem Beweise | schon vorausgesetzt, was im zweyten Gespräche bewiesen werden soll, [324] daß die Seele nicht ein Theil des Körpers oder das Denken eine bloße Wirkung seiner Organisation sey, ‒ und alsdann ist es schon für sich klar, daß sich aus der Zerstörung des Körpers auf sie nichts schlüssen läßt, ‒ oder dieses ist noch ungewiß; und dann beruhiget der Beweis nicht, daß in der Natur keine Zernichtung statt finde. Aber der Satz, daß die Zernichtung den göttlichen Eigenschaften widerspreche, und daß das Daseyn der Seele mit ihrer Wirksamkeit, und zwar mit dieser Art der Wirksamkeit, die im Denken besteht, unzertrennlich verbunden sey, das wünschten wir von ihm noch mit einer größern Schärfe erwiesen. Die Disjunction: »Entweder die Seele muß vernichtet werden, oder sie muß Begriffe haben,« enthält sie alle Glieder? So lange es nicht bewiesen ist, daß das Ding, was in uns denkt und will, außer Denken und Wollen gar keiner andern Art der Wirksamkeit fähig ist, so lange läßt sich aus der Nothwendigkeit zu wirken nicht auf diese bestimmte Art der Action schlüssen. 3) Die Schwierigkeit, daß die Seele sich hier nach dem Zustande des Körpers richtet, mit ihm wächst, abnimmt und leidet, ist berührt und in aller Stärke vorgestellt, S. 158. aber nicht gehoben. Jetzo ist dies eine bloße Episode, welches sonst ein Theil des Beweises geworden wäre. Der 2te Beweis des Plato ist der bekannte von der Widererinnerung. Die Seele, die, sobald sie hier anfängt zu denken, die eine Sache als schön,| die andre als gut [325] sich vorstellt, muß die Begriffe des Schönen [und] des Guten schon vorher erlangt haben, um jetzt die sichtbaren Dinge mit ihnen vergleichen zu können. Also muß die Seele vor der Geburt schon da gewesen seyn. ‒ Dieser Beweis ist von unserm Autor völlig verlassen worden, und mit Recht. ‒ Der dritte Beweis des Plato. Alles, was wir durch die Sinne empfinden, ändert sich beständig und vergeht. Das einzige Unveränderliche und Ewige der Dinge sind die Wesen, die wir nicht sehen, sondern blos mit dem Verstande begreifen. Von diesen beyden Gattungen der Dinge, hat die

266 | 4 Rezensionen Seele mit der unsichtbaren die größte Ähnlichkeit; sie muß also nothwendig den Körper an Unveränderlichkeit und Dauer übertreffen. Hier kommen nun wieder die verschiednen Wege unsrer Verfasser zusammen. Das zweyte Gespräch ist, nach unserm Bedenken, das schönste wegen der Bündigkeit der Gründe, ihrer Deutlichkeit und ihrer Anordnung, und wegen des glücklichen Gebrauchs einiger von Plato blos hingeworfner Gedanken. ‒ Die Einwürfe, die Simmias von der Ähnlichkeit des Verhältnisses zwischen Seele und Leib, mit dem zwischen der Leyer und der Harmonie macht, sind ganz dieselben, die er beym Plato macht. Das System des Materialisten kann nicht deutlicher und bündiger vorgetragen werden. Aber der Eingang dazu ist verschieden. ‒ Wozu hatte Simmias nöthig Einwürfe zu entschuldigen, (S 175) ohne die keine Untersuchung möglich war. Un[326] erach|tet diese ganze Stelle mehr des Ansehn einer Abhandlung als eines Gespräches hat, so würde man sie doch sehr ungern vermissen. Man lernt sowohl die Natur des wahrscheinlichen Beweises überhaupt kennen, der in der Vereinigung vieler für sich unzureichender Gründe besteht, als auch die Gründe von dieser Art für die Unsterblichkeit selbst. ‒ Die Stelle, S. 179. Ein Hauch der ausbleibt etc. erschüttert den Leser, und erregt in ihm selbst diesen Schauer vor der Vernichtung, der gewiß der größte Bürge ihrer Fortdauer ist. Man kann diese längeren Reden einer Person im philosophischen Gespräche mit dem Monologen des Drama vergleichen. Es kann in beyden Fälle geben, wo die Wichtigkeit und des Interesse der Sache, und die Menge der Ideen, die sich in der Seele häufen, der Person einige Augenblicke die Aufmerksamkeit auf die Personen und Sachen die um sie sind, entzieht und sie, ohne alle Betrachtung, blos so reden und handeln läßt, wie sie jetzt denkt. Es kann alsdann allerdings in den Vorstellungen mehr Feuer und mehr Enthusiasmus, und in den Ausdrücken ein erhabnerer Ausdruck herrschen, als es sonst im Gesprächsstil erlaubt ist. Dieser Enthusiasmus der redenden Person selbst, wird sich den übrigen Personen mittheilen, und wird also ihr Stilleschweigen wahrscheinlicher machen, Aber diese Monologen müssen immer selten, und die Sache selbst muß, so wie hier, des Affects und eines gewissen Interesse fähig seyn. ‒ Der andre Einwurf, den Cebes macht, ist in dem alten und neuen Phädon verschieden; beym Plato sagt [327] er un|gefähr folgendes: »Sokrates hat nur bewiesen, daß die Seele fortdauere; aber wie, wenn diese Dauer ohne Bewußtseyn, und nichts als ein ewiger Schlaf wäre?« Cebes selbst führt schon einige Vermuthungsgründe an, daß es höchst unwahrscheinlich wäre, daß die Seele bey ihrer unaufhörlichen Veränderung, von dem Augenblicke des Todes an, nur immer tiefer sinken, und sich nie wieder erheben sollte. Aber er wünscht einen Beweis. Sokrates fängt bey beyden Schriftstellern die Widerlegung des ersten Einwurfs, mit der Betrachtung von der Ähnlichkeit der Vernunft, und des Menschenhasses an, die nach unsrer Empfindung eine von den schönsten Stellen in dem ganzen Werke ist. Die Erfahrung ist so wahr, und so glücklich angewendet. ‒ Die platonische Widerlegung ist an sich schwach, aber sie konnte fruchtbar seyn. Plato trägt den Gedanken blos im Vorbeygehn vor, »daß das Zusammengesetzte nicht anders wirken

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und leiden kann, als die zusammengesetzten Theile es zu lassen,«‒ mit andern Worten, »daß die Wirkung des Ganzen nicht eine andre Wirkung, als die Wirkung der Theile, sondern blos die Summe dieser Wirkungen seyn kann, diejenigen ausgenommen die durch einander zerstöret werde[n]«; auf diesen baut Herr Moses. Plato verläßt ihn, und fällt auf einen andern Beweis, der eben den Fehler hat, den er selbst kurz zuvor getadelt hatte, daß er blos auf einer Vergleichung beruht. Was würde, sagt er, das Gute und das Böse in einer Seele seyn, die nur Harmonie ist? kann es eine disharmonische | Harmonie oder eine neue Harmonie in der Harmonie [328] geben? ‒ Man sieht, daß es ein bloßes Sophism ist; wenn es darauf ankäme ihn mit ähnlichen zu bestreiten, so könnte man sagen: Die Seele ist nicht sowohl die Harmonie, als der Ton überhaupt, den die Leyer giebt. Dieser Ton kann angenehm oder verdrüßlich, harmonisch oder mißstimmend seyn. ‒ Den Beweis gegen den Cebes haben wir schon oben berührt. Wir wollen jetzo nur blos eine einzige Stelle herausheben, wo wieder eine Spitzfündigkeit der Saame einer Wahrheit ist. ‒ Durch was für eine Veränderung geschieht es, sagt Sokrates, daß eins zu eins gesetzt, zwey wird? Welches von diesen beyden ist die Ursache, daß diese Zwey entsteht; und wie ist es möglich, daß das Zertheilen und Absondern, eine dem Zusammensetzen gerade entgegenstehende Ursache, doch eine gleiche Wirkung hervorbringt, und eben sowohl als dieses Eins in Zwey verwandelt? ‒ Wie weit ist das wohl noch von dem Gedanken, den Hr. Moses in ein so helles Licht setzet, daß alle Theile in der Natur nur einzeln und abgesondert existiren, und daß die Zusammenfassung, die eine bloße Menge in ein Ganzes verwandelt, lediglich die Vorstellung eines vernünftigen Geistes sey. Bey unserm Verfasser ist die Hebung des Einwurfs des Simmias und der Beweis der Einfachheit der Seele ein Meisterstück. Alles was in einem Zusammengesetzten seyn kann, was nicht auch in den Einfachen ist, ist entwe|der eine gewisse Lage und Verhältniß der Theile; aber dieses setzt [329] schon ein Wesen voraus, das sich diese Theile vorstellt; oder die zusammengesetzte und durch einander eingeschränkte Wirkung der Grundkräfte. ‒ Ist also die zusammengesetzte Wirkung ein Gedanke, so sind entweder die einzelnen Wirkungen, aus denen sie besteht, etwas vom Gedanken verschiedenes; aber diese Vermischung von einzelnen Wirkungen in ein von ihnen verschiednes Ganze ist eine bloße Illusion einer Vorstellungskraft, die die Theile nicht so, wie sie in der Natur getrennt sind, unterscheidet; ‒ oder sie sind auch wieder Gedanken, und die Vorstellungen sind also unter die Theile, die die Seele zusammensetzen, vertheilt; aber alsdann muß noch irgendwo ein Theil seyn, der die Vorstellungen aller übrigen kennt, vergleicht, und unter sich verbindet; ‒ dieser Theil wird ungetheilt seyn müssen, oder die alte Schlußfolge erneuert sich wieder. ‒ Und dieser Theil also ist die Seele. ‒ Diesem Hauptbeweise, (der, wenn er nicht ohne alle Schwierigkeit, doch gewiß der stärkste ist, den man für die Einfachheit der Seele führen kann) werden noch einige Nebenbeweise hinzugefügt. ‒ S. 322. Ausdehnung und Bewegung sind die Gründe aller Eigenschaften die wir von den Materien kennen. Aber das Denken läßt sich aus

268 | 4 Rezensionen keinem von beyden erklären. S. 232. Die Vorstellung von der Ordnung, in der die Gegenstände unsrer Erkänntniß in der Seele auf einander folgen; daß wir das Da[330] seyn der Körper durch gewisse Veränderungen in unsrer Seele, und | also das Materielle erst aus dem Geistigen erkennen, ist auffallend, weil sie zuerst befremdet, und bald hernach durch ihre augenscheinliche Wahrheit beruhiget. Drittes Gespräch. Unter allen wahrscheinlichen Beweisen für die Unsterblichkeit hat uns immer der von dem beständigen Fortgang der Vollkommenheit der stärkste geschienen. Man kann den Umfang dieses Satzes vielleicht noch erweitern, und ein Philosoph würde Dank verdienen, der den Grad von Wahrscheinlichkeit untersuchte, den eine solche Vorstellung, wie die ist, die z. E. Hr. Wieland in seinem Lehrgedichte von der Natur der Dinge macht, für sich hat. Eine Analogie der Natur scheint uns darauf zu führen. Jedes Ding, wenigstens jedes empfindende Wesen, wächst eine Zeitlang durch unmerkliche Stufen, bis es zu einer großen Revolution gelangt, die man als die Epoque ansehen kann, wo diese kleinen Veränderungen reif geworden sind, um den sichtbaren Zustand des Dinges zu verändern. Bey diesen Revolutionen fängt sich immer eine neue Wirksamkeit, die Entwicklung einer neuen Kraft, oder vielmehr die Anwendung der alten auf eine ganz neue Art von Gegenständen, an. Dieser großen Umkehrungen können vielleicht, in der ganzen Existenz eines Geistes, von der erster Äusserung des bloßen Empfindungsvermögens an sehr [331] viele seyn; ‒ und könnte es also nicht eine Art von Metempsychose | geben, die den meisten Begriffen der Religion, und der aufgeklärtesten Vernunft gemäs wäre. Unser Autor hat den Beweis mit der größten Schärfe und zugleich mit einer starken und fortreißenden Beredsamkeit geführt. Er bekommt durch die Vorstellung noch ein neues Leben, daß alle denkende Wesen zu dem letzten Zwecke der Schöpfung gehören. ‒ Aber nicht einen gleichen Eindruck hat auf uns der letzte Beweis in diesem Gespräche gemacht, der von der Collision der Pflichten hergenommen ist. »Wenn die Seele nicht unsterblich ist, sagt unser V., so ist die Erhaltung des Lebens der höchste Endzweck des Menschen; also ist er verbunden alles, Freunde, Gesetze, Vaterland der Erhaltung seines Lebens nachzusetzen, ‒ und doch giebt es wirkliche Pflichten, welche die Aufopferung des Lebens fordern. Dieser Widerspruch zeigt, daß irgendwo ein Irrthum ist, und der kann nirgends anders seyn, als in der angenommenen Vergänglichkeit der Seele.« ‒ Der Beweis hat mehr Schein als Stärke: Alle moralische Sätze sind die Folge von gewissen metaphysischen, diese also aus jenen beweisen wollen, muß schon im voraus einen Zirkel befürchten lassen. Und er findet sich auch bey einer nähern Betrachtung wirklich. ‒ Daß es eine Pflicht sey, für irgend jemanden der Erhaltung unsers Lebens zu entsagen, wissen wir ja nirgends anders her, als weil wir höhere Endzwecke als das Leben zu kennen glauben; [332] würde dieses als ein Irrthum bewiesen, so fielen jene Pflichten | weg, und mit ihnen zugleich der Widerspruch. Der Verfasser läßt seinen Sokrates fragen: »Denn hat das Vaterland nicht ein Recht, von jedem Bürger zu verlangen, daß er sich dem Wohl des Ganzen aufopfre?« ‒ Wir antworten: Nein, dieses Recht hört auf, sobald auf der Seite des Bürgers die Pflicht aufhöret. Oder man müßte denn von den Rechten des

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einen ein Principium anführen können, was von dem Principio der Pflichten der andern unabhängig wäre. ‒ Diese Sache ist wahr, der Satz muß nothwendig vor dem andern vorhergehn, diese Sache ist recht. Der Rückweg von dem letzten auf den ersten kann als nichts anders, als ein Schluß von der Folge auf den Grund seyn. Wir sehen hiebey nämlich voraus, daß unser Verfasser das moralische Gefühl nicht als ein unabhängiges Principium der Pflichten zuläßt. Der Grund, der von der ungleichen Austheilung der Güter dieses Lebens, und ihrem unrichtigen Verhältnisse mit dem moralischen Zustande, hergenommen ist, ist alt, aber in einer Seele, die ihn selbst denken, und in einem Herzen, das seine Folgen empfinden kann, wird er immer noch eine neue Gestalt, und eine verstärkte Kraft annehmen. Das Ende des Dialogen ist jedermann bekannt. Die Geschichte selbst ist traurig, und noch empfindlicher für uns, weil sie uns zugleich aus der Gesellschaft von Personen wegreißt, unter denen es uns so wohl gefiel, und unsre Seelen, die eine Zeitlang von ei|nem höhern Genie erhoben wurden, wieder ihre [333] eigne Schwäche und Einschränkung fühlen läßt. ‒ Nachdem diese Recension geendigt und zum Theil abgedruckt ist, bekommen wir die neue Ausgabe des Phädon. Weder die Veränderungen noch die Zusätze sind so beträchtlich, daß wir viel davon zu sagen nöthig hätten. Indessen wollen wir sie doch noch anzeigen, und was uns dabey einfallen möchte, hinzuthun. S. 77. ist eine Anmerkung dazu gekommen, die nicht sowohl, als ein Theil, in die Reyhe der Vorstellungen des Gesprächs selbst hinein gehört, als vielmehr durch dieselbe blos veranlasset worden ist. ‒ In wie weit ist es richtig, daß unsre Begriffe von Gott blos verneinend sind? Sie sind es zum Theil blos scheinbar, indem wir zwar etwas von Gott verneinen, aber eine Unvollkommenheit und eine Einschränkung verneinen, welches eben so viel ist, als ihm eine wirkliche Vollkommenheit beylegen; zum Theil sind sie es nur, in sofern als sie nicht anschauend bey uns sind. Aber die Begriffe von unsern eignen Vollkommenheiten, die die Grundlage bey den Begriffen von unendlichen Vollkommenheiten machen, die sind doch anschauend, und wenn der Zusatz von Unendlichkeit, durch den wir Eigenschaften, die wir in uns selbst haben kennen lernen, zu Eigenschaften der Gottheit erheben, blos symbolisch erkannt wird, so ist er doch für uns eben so gewiß, als die Gesetze der Optik einem Blinden seyn können, – Man könnte noch hinzuse|tzen, daß der Mensch [334] nicht nur eine unendliche Vollkommenheit, sondern auch jede, die von der seinigen unterschieden ist, blos auf diese verneinende Art erkennen kann. Jedes Individuum nämlich nimmt seine Begriffe von Vollkommenheit nicht aus den Eigenschaften her, die im menschlichen Geschlechte, sondern nur aus denen, die von ihm selbst sind. Das ist das Einzige, was er durch ein Selbstgefühl erkennet, ‒ folglich in den Vollkommenheiten andrer auch gerade nur das, was diesen seinen eignen Vollkommenheiten gleich ist. Alles übrige, was er verändern oder zusetzen muß, um aus dem Begriffe von sich, den Begriff von andern hervorzubringen, ist so gut blos symbolisch, als das Unendliche bey den Eigenschaften Gottes. Das was jeder Mensch in den übrigen anschauend erkennt, ist blos sein eignes Gemählde. Die Verschieden-

270 | 4 Rezensionen heiten kann er durch Gründe beweisen, aber nicht empfinden. ‒ Diese Materie, ob sie gleich von vielen bearbeitet ist, ist dem unerachtet noch nicht erschöpft: In wiefern bey jedem Menschen die Kenntniß seiner selbst der Grund und das Wesentliche seiner ganzen Erkänntniß ausmacht: und durch was für Modification sich die Begriffe, die aus dem Selbstgefühl entstehn, in Begriffe von andern Dingen und Eigenschaften verwandeln. ‒ Im dritten Gespräche sind einige Anmerkungen zu dem Beweise der Unsterblichkeit aus der sonst unvermeidlichen Collision der Pflichten hinzu gekommen. Die erste ist gegen den Satz aus des Beccaria seiner Schrift von den Verbrechen und [335] Strafen gerichtet: daß alle Todesstrafe unerlaubt sey.| Unser Autor, der die Verbindlichkeit eines Verbrechers, die Todesstrafe zu leiden, mit unter die Fälle rechnet, welche zeigen, daß wahre Verbindlichkeiten aufgehoben werden, sobald man die Fortdauer der Seelen leugnet, sucht diesen Satz, der eine solche Verbindlichkeit in diesem Falle aufhebt, zu widerlegen. ‒ Seine Gründe sind die: Schon vor Errichtung einer bürgerlichen Gesellschaft hat jeder Mensch das Recht gehabt, Beleidigung andrer auf gewisse Weise zu bestrafen, wenn man unter der Strafe nämlich nichts anders versteht, als physikalische Übel, die jemanden um einer begangenen Ungerechtigkeit willen zugefügt werden. Dieses Recht erstreckt sich so weit, als es die Sicherheit vor künftigen Beleidigungen erfordert; und die Strafe kann also mit Recht so groß seyn, als es nothwendig ist, diese Beleidigungen zu verhüten. Diese Rechte der einzelnen Menschen sind in der Gesellschaft vereiniget. Also muß auch hier jede Strafe rechtmäßig seyn, die zur Verhütung der Verbrechen nöthig ist; ‒ und wenn die Todesstrafe mit dazu gehört, auch die Todesstrafe. ‒ Wenn es uns erlaubt wäre, uns in eine Materie, die von dem Gegenstande der Gespräche selbst so weit entfernt ist, einzulassen: so würden wir es freymüthig gestehen, daß diese Gründe uns noch nicht überzeugen. Zuerst ist es gewiß, daß das Recht der Wiedervergeltung in dem natürlichen Zustande, und das Recht zu strafen in der bürgerlichen Gesellschaft, in der That zwey verschiedne Rechte sind. Das erste bezieht sich blos auf die Person, [336] die beleidigt hat, ihr das Vermögen | und den Willen zu benehmen, uns künftig wieder zu beleidigen; das andre geht auch auf alle übrigen Personen der Gesellschaft, die uns nicht beleidigt haben, sie von dem Verbrechen, durch die Erfahrung der physischen Übel, die sie daraus zu erwarten haben, abzuschrecken; das erste gründet sich lediglich auf das Recht sich zu vertheidigen, oder ist vielmehr mit demselben einerley; bey diesem aber bleibt dem Beleidiger selbst das Recht, sich auch unsrer Rache wieder entgegen zu setzen; das andre gründet sich auf die freywillige Übertragung aller seiner vollkommnen Rechte an die Gesellschaft; wodurch also auf der Seite des Beleidigers das Recht aufgehoben wird, sich gegen die Rache zu vertheidigen, die von der ganzen Gesellschaft herkömmt. ‒ Die Frage also bleibt immer so, wie sie Beccaria bestimmt hat: hat ein Mensch das Recht, über sein Leben mit andern ein Pactum zu schließen? Hat er dieses nicht, so kann auch kein andrer eines über ihn haben, weil dieser andre es blos durch ein solches Pactum bekommen könnte. ‒ Wenn ich aber von dem Rechte über das Leben rede: so verstehe ich

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das Recht jemanden das Leben zu nehmen, ohne daß der andre dagegen berechtigt wäre, sich zu vertheidigen. Das hat der Beleidigte im natürlichen Zustande über seine Beleidiger nicht. Zum andern müßte nun erst bewiesen werden, daß es Fälle giebt, wo die Todesstrafe das einzige Mittel ist künftige Beleidigungen zu verhüten.| Beccaria leugnet [337] dieses. Und in der That sind die Gründe sehr wahrscheinlich, die er dafür anführt. Die andre Anmerkung betrifft blos den Satz: daß Pflichten und Rechte sich wechselsweise auf einander beziehen, und einander voraussetzen. ‒ Daran ist gar kein Zweifel; Pflicht folgt aus dem Rechte. Aber woraus folgt das Recht? ganz gewiß aus der Natur der Dinge, welche dieses Recht angeht? Kann ich aber wohl diese Natur der Dinge selbst aus dem Rechte beweisen, das ohne diese Einrichtung aufhören würde, ein Recht zu seyn? Das hätten wir in einer Anmerkung aufgeklärt gewünscht. Der Anhang enthält zuerst eine Beantwortung verschiedner Einwürfe, die man dem Verfasser gegen seinen Beweis, daß die Kräfte der Natur nichts zernichten können, gemacht hat. Uns deucht, daß diese Vertheidigung dem Verfasser ungemein leicht seyn muß, da beynahe kein Satz eines Philosophen so allgemein angenommen, oder allen unsern Begriffen so gemäß ist. ‒ Daß dieser Satz nicht neu sey, wenn es auch die wären, aus welchen ihn unser Verfasser beweist, ist gewiß daraus offenbar, daß die alten Philosophen die Hervorbringung und die Vernichtung eines Dinges nicht blos durch die Kräfte der Natur, sondern schlechterdings und an sich für unmöglich hielten. Eben um deswillen nahmen sie alle eine ewige Materie an, weil sie eine Entstehung aus nichts, aus keiner, auch nicht einer unendlichen Krafft zu erklären wußten. ‒ Uns | freuet es, daß wir richtig gemuthmaßet haben, und daß [338] in der That die Ideen des Plato von den entgegengesetzten Zuständen, die Ideen unsers Verfassers veranlasset haben. Daß Plato zuweilen äußerst spitzfindig sey, das könnte man schon aus seinem Phädon alleine wissen. Der Unterschied zwischen Xenophon und Plato, so wie ihn der Verfasser angiebt, stimmt vollkommen mit den Empfindungen überein, die wir bey dem Lesen derselben gehabt haben. In dem andern Theile des Anhanges erzählt der Verfasser, durch was für Betrachtungen, er zu dem Beweise, den er im zweyten Gespräche von der Immaterialität der Seele gegeben hat, ist gebracht worden. Plotinus hat diesen Beweis, aber noch unausgearbeitet; ‒ wenn die Seele zusammengesetzt wäre, sagt dieser: so denken entweder schon die einfachen Theile dieses Compositi, alsdann aber wird es nicht eine Seele, sondern eine Sammlung von vielen; oder diese einfache Theile denken nicht, als dann aber kann aus der Summe von Wirkungen, die nicht Gedanken sind, kein Ganzes entstehen, das ein Gedanke ist. Man sieht leicht wie unsers Verfassers Beweis in diesem liegt und was er thun mußte, um ihm Vollständigkeit und Schärfe zu geben. ‒ Nämlich alles kam darauf an, zu zeigen: das Denken könne nicht eine Wirkung seyn, die aus der Summe vieler Wirkungen, die nicht Gedanken sind, entsteht. Zu dem Ende mußte er untersuchen: was sind das für Wirkungen in

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den Zusammengesetzten, die von den Wirkungen der Theile verschie|den sind? – und er bewieß, daß dieser Unterschied ein bloßes Phänomen, eine bloße Vorstellungsart sey, die also nur in sofern statt finde, als man sich schon ein denkendes Wesen vorstellt, welches diese Wirkungen, die in der Natur getrennt sind, in der Idee vereinigt. ‒ In Ansehung des Beweises im dritten Gespräche haben wir unsere Meynung schon gesagt. Wenn die Methode dieses Beweises an sich richtig ist, so liegt nichts daran, ob der einzelne Fall, der von den Todesstrafen hergenommen ist, wegfällt oder nicht. Es bleiben noch genug Pflichten übrig, die ohne Aufopferung des Lebens nicht ausgeübt werden können, und die also, wenn sie auch die Unsterblichkeit der Seele nicht beweisen, dem unerachtet zeigen, daß der Begriff derselben in der menschlichen Natur zum Grunde liege, und daß eine Überzeugung von derselben in der Seele seyn müsse, die von metaphysischen Beweisen unabhängig ist.

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Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen Dieses Buch, wenn man alles das daraus hinwegnimmt, was blos Streitschrift ist, enthält doch immer noch wichtiges genug, um der | Durchlesung und des Nachdenkens eines vernünftigen Mannes werth zu seyn. In der That hätten wir gewünscht, daß ein Schrifsteller von so viel Tiefsinn und Kenntniß, uns seine Gedanken allein gegeben hätte, ohne sie immer den Gedanken andrer entgegen zu stellen. Nicht blos deswegen, weil der Eindruck, den die Richtigkeit und der Scharfsinn vieler Betrachtungen unsers Verfassers natürlicher Weise machen würde, bey dem ganzen Haufen von Lesern geschwächt wird, deren Interesse (es sey ihr eignes oder ein fremdes an dem sie Theil nehmen) er beleidiget; sondern noch vielmehr, weil es in der That auch der Nützlichkeit des Buchs schadet, wenn man in den Untersuchungen, wo man wirklich unterrichtet wird, sich immer durch die Führung eines Processes muß stören lassen, an welcher der unpartheyische und lehrbegierge Leser fast niemals Theil nimmt, und wodurch nur eben der Partheygeist noch mehr genährt wird, welchem sich diese Angriffe entgegen setzen sollen. Es ist wahr, wenn man nicht von einem gewissen Gegenstande selbst ganz erfüllt ist, so wird es nicht so leicht, den Faden der Meditation anzuspinnen, als ihn fortzusetzen, nachdem er uns von einem andern in die Hände gegeben worden. Die schwerste Arbeit des Geistes ist die, sich für seine Materie zu erwärmen, und diese schwerste hat schon der Schriftsteller übernommen, den wir lesen. Die ersten Schritte werden wir von ihm geführt; [22] wir kommen mitten in die Sache hinein, und dürfen nur der Kraft der Seele,| die nun schon gespannt ist, Freyheit lassen. Aber gesetzt auch, daß es von dieser Seite sehr nützlich sey, Bücher über Bücher zu schreiben, so ist es doch vielleicht nicht eben [21]

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so nützlich, jedem Gedanken, den wir haben, die Veranlassung desselben hinzuzufügen, besonders wenn diese Veranlassung bloß in der Unzufriedenheit mit der Ausführung eines andern Schriftstellers, oder in einem Widerspruche mit den Ideen desselben besteht. ‒ Der Stil des Verfassers ist gedrängt und stark: aber oft mit Metaphern und Anspielungen überladen, zu gesucht und zu gekünstelt. Die besten Stellen in dem Buche sind diejenigen, wo er untersucht: die, wo er blos durch die Wendung gefallen will, sind ihm fast durchgehends mißlungen. Die nachdenkenden und scharfsinnigen Schriftsteller sollten gegen den Witz ein wenig auf ihrer Hut seyn. Es giebt ihrer wenige, denen er so günstig ist, daß er ihre gute Sache empfehlen sollte. Gemeiniglich macht er sie entweder selbst irre, oder er kleidet sie wenigstens schlecht. Ein vortreffliches Raisonnement kann sehr oft durch einen schlechten Einfall, der darauf folgt, ganz in Vergessenheit gebracht werden. Noch ein andrer Fehler, in den diese bilderreichen Schriftsteller so leicht verfallen, ist, die Vergleichung, durch welche sie zuweilen ihre Ideen bekommen, entweder zu weit zu treiben, und sie dadurch unrichtig zu machen, oder sie zu lange fortzusetzen, und auf diese Weise zu ermüden.| Der Hang zur Allegorie, der dem Geiste [23] der Untersuchung oft zur Hülfe kommt, wird ihm alsdann schädlich, wenn er entweder ihn blos auf die allgemeinsten Betrachtungen führet, die sich am ersten in solche Bilder einkleiden lassen, oder wenn er einer alten Idee immer wieder den Schein der Neuheit giebt, so oft sie unter einem andern Bilde vorgestellt ist, und also den Schriftsteller durch einen falschen Glanz des Reichthums blendet, der dem Leser Armuth zu seyn scheint. Das erste Stück fängt mit einer Vergleichung zwischen Herrn Lessing und Winckelmann an, die im Ganzen richtig, und im Ausdruck kräftig, und voll Feuer ist. Das Resultat davon ist ungefähr folgendes. ‒ Winckelmann sah und dachte als ein Kenner des Schönen in der Kunst; Herr Lessing als ein Kenner des Schönen in den Werken des Geistes. Der erste hatte eigentlich nur Gefühl für körperliche Schönheit, und jede andre mußte entweder diese Gestalt annehmen, oder darauf eine Beziehung haben: Lessing hingegen erklärt vornehmlich die dichterische; die Kunstwerke selbst zeigen sich ihm nur von der Seite, wo sie mit den Werken der Dichter gränzen, oder auf dieselben führen können. Dieser Vergleichung, ob wir sie gleich, so wie die meisten Vergleichungen, weder für durchaus richtig noch für vollständig genug halten, führt uns auf einen Gedanken, der bey vielen solchen Vergleichungen, auch der größten Geister, wahr befunden wird, und der wenigstens etwas dazu beytragen könnte,| uns in den For- [24] derungen, die wir an sie thun, billiger, und in den Urtheilen über sie bescheidener zu machen. ‒ Was Helvetius von der Hochachtung gegen die Talente andrer sagt, das könnte man von der Schätzung aller Vollkommenheit und Schönheit überhaupt sagen. Eine Art von Schönheit schätzen wir hoch aus Empfindung, die übrigen auf Treu und Glauben. ‒ Bey jedem Menschen giebt es eine gewisse Gattung des Schönen und des Guten, welches er unmittelbar durch den Eindruck des Vergnügens, den es auf ihn macht, dafür erkennt. Zu diesem darf er nicht erst gereizt, und bey

274 | 4 Rezensionen diesem darf er wenig angeführt werden. Der Gegenstand, so bald er empfunden ist, zeigt sich der Seele gleich mit allen Proportionen oder Mißhelligkeiten seiner Theile, und erregt also mit der Vorstellung von sich zugleich Gefallen oder Mißfallen. Das Bild, so wie es die Sinne der Einbildungskraft überliefern, muß alsdann schon das Licht und Schatten haben, wodurch die Aufmerksamkeit auf den gehörigen Punkt geleitet wird. Es giebt eine andre Art des Schönen, die wir für uns allein in den Gegenständen nicht finden würden. Der allgemeine Ruf, die Empfindung und die Schätzung andrer müssen uns erst darauf aufmerksam machen. Hier sagt uns der mittelbare Anblick der Sache nicht, wo eigentlich die Schönheit liege, man muß sie uns erst zeigen, und wir müssen unsre Aufmerksamkeit erst durch Nachahmung [25] und Überlegung auf das leiten,| was uns die Sache als angenehm darstellen soll. Und dann kommen wir doch mit aller dieser Anstrengungen weiter nicht, als eben das schön zu finden, was das allgemeine Urtheil oder die Achtung der Kenner uns als schön angepriesen hatte. Wenn irgend eine Fähigkeit in der menschlichen Seele eingeschränkt, und nur auf gewissen Gegenstände determinirt ist: so ist es, glauben wir, die Fähigkeit das Schöne zu fühlen. Wenigstens für den größten Theil menschlicher Geister giebt es nur Eine solche Sache, deren Vollkommenheit und Schönheit sie durch ein wirkliches Gefühl erkennen. Die Schönheit der übrigen Dinge erklären und empfinden sie ungefähr so, wie der Blindgebohrne die Farbe; sie suchen die Ähnlichkeit derselben mit der wirklich empfundenen Schönheit, und je größer die Analogie ist, desto ähnlicher wird auch ihre Achtung und ihr Beyfall der wahren Empfindung seyn. Giebt es solche Ähnlichkeiten nicht, so ist die ganze Beschäfftigung ihres Geistes eine solche, wie Saundersons seine, da der die Optik lehrte. Sie empfangen die allgemeinen Begriffe, die andre durch einen gewissen Sinn haben, durch Mittheilung, ohne von dem Eindrucke der Empfindung selbst etwas zu wissen. Und oft kann ein solcher Mann die Theorie dieser Begriffe, und also auch die Theorie dieser Empfindung, in sofern sie darauf beruht, eben so vollständig wissen, und sie oft mit eben so glücklichem Erfolge bearbeiten, als wenn er selbst an dem [26] Gefühle Theil hätte, das der Ursprung | dieser Begriffe war. ‒ Also ist es von der einen Seite ungerecht und thöricht, einen verständigen Kopf blos auf Arbeiten über die Gattung einzuschränken, in der er, so zu sagen, seinen Sinn hat; er kann für die übrigen auf gewisse Weise blind seyn, und doch die Wissenschaft des Sehens erweitern. Ja es ist so gar ausserordentlich, daß da, wo die Empfindung am stärksten und am unmittelbarsten ist, die allgemeinen Begriffe oft am schwersten und am undeutlichsten werden. Man kann nicht immer das am besten erklären, was man am besten fühlt. Allgemeine Ideen, die uns zuerst durch Zeichen und durch Unterricht bekannt worden sind, die wir hernach durch Vergleichung mit den Empfindungen aufgekläret haben, sind oft der Zergliederung und der Combination fähiger. Auf der andern Seite aber ist dieß ein Mittel, jedem Schriftsteller und jedem Werke die Art seiner Brauchbarkeit und seines Werthes zu bestimmen. Für den Künstler, für den, der die Sache hervorbringen will, gehört mehr Empfindung als Idee, mehr Anschauen als Deutlichkeit. Für diesen also werden gemeiniglich die Werke solcher

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Männer brauchbar seyn, die selbst diese Empfindung hatten. Diejenigen Beschreibungen, die andern nur weitscheifige und schwankende Begriffe zu geben scheinen, die geben ihnen genaue und bestimmte, weil sie bey ihnen nur Erinnerungen an den ähnlichen Eindruck sind, den die Sache auf alle so organisirte Geister macht. Ein Bild,| eine Metapher macht es ihnen eben so deutlich als die genauste Zergliede- [27] rung. Aber die Betrachtungen über das Schöne gehören nicht blos für den Künstler, der es nachahmt. Sie sind auch der Stoff von Wissenschaften. Denn welche unsrer Ideen kommt nicht ursprünglich aus einer Empfindung her, auf welche man des Vergnügens wegen Acht hatte, und die also eben so gut den Saamen zu einer Kunst, als zu einer Wissenschaft enthielt? Uns scheint in der That bey Winckelmann und Lessing dieser Unterschied merklich. Wenn man von einem fremden und noch dazu von einem so großen Geiste urtheilen darf: so glauben wir, inneres eignes Gefühl habe Lessing eigentlich nur bey der Schönheit, die er selbst in einem so vorzüglichen Grade hervorbringen kann. Sein Auge und sein Ohr würde ihm unmittelbar, wenn es nicht durch Kunst und Regeln wäre gebildet worden, wenig gesagt haben. Die Begriffe von diesen Schönheiten sind bey ihm vielleicht mehr symbolisch, als anschauend. ‒ Aber mit welcher Überlegenheit weiß er dieselben zu brauchen, die Regeln und die Grundsätze zu finden, nach welchen andere diese Schönheiten empfinden müssen. Wenn der Kenner der Kunst blos den Künstler unterrichtet, und für die übrigen Menschen entweder unverständlich oder unbrauchbar ist; so unterrichtet ein solcher Mann, auch wenn er gleich kein Kenner durch Empfindung ist, die Menschen. Er sondert die Begriffe aus, die von jedem Geiste gefaßt und auf | seine Classe von Gegenstände und Empfindungen können angewendet werden. [28] Bey Winckelmann scheint uns sehr der Litterator mit dem Kunstkenner vermischt zu seyn. Seine Kenntniß der Kunst fieng nicht mit der Empfindung an, sondern er untersuchte zuerst, und der wirkliche Geschmack, zu dem ohne Zweifel die Anlage schon vorhanden war, bildete sich erst durch Unterricht. Und bey dem allen sieht man in seinen Werken, wie viel die Kenntniß der Alten, seine Bemühung, das Unbekannte in ihnen und durch sie in den Antiken zu erklären, dazu beygetragen hat, ihn bey dem Anblicke der Werke des Alterthums festzuhalten, und seinem Geiste eine Nahrung und Beschäfftigung zu geben, die er vielleicht in dem simplen Gefühle ihrer Schönheit nicht würde gefunden haben. ‒ Dieß sind die Hauptstücke des Verfassers im Fortgange seines Buchs: des Sophokles Philoctet ist allerdings auch ein Held, der seinen Schmerz unterdrücket. Seine Klagetöne sind nicht lautes Geschrey eines sich ganz überlaßnen und unbestrittnen Schmerzes, sondern die erpreßten Seufzer einer lange innegehaltenen und zugewaltigen Empfindung. ‒ Das Schreyen der fallenden Helden beym Homer ist nicht so wohl ein allgemeiner Ausdruck eines jeden Leidenen, als vielmehr das Kennzeichen eines besondern Charakters. Wenn man die Art des sanftern menschlichen Gefühls, das aus Schmerz und Betrübniß entsteht, die | Elegie nennen will, so [29] macht es einen eignen Theil der Geschichte des menschlichen Geistes aus, zu untersuchen, in welcher Nation sich am meisten von diesem Gefühle gefunden; durch

276 | 4 Rezensionen welche Ursachen es ausgebildet oder unterdrückt worden; und wie es sich mit andern Empfindungen, Tugenden, oder Schwachheiten vereinigt, und wechselweise sich von ihnen genähret, oder sie hinwiederum verstärkt hat. Bey einigen Nationen kann eine gewisse Härte in dem Baue des Körpers, die Abhärtung, die durch Übung erworben wird, das Beyspiel einiger großen Helden, die mit ihren Verdiensten zugleich ihre Unempfindlichkeit zum Muster ihrer Nation nachliessen, endlich die Meynung von der Unanständigkeit, dieses Gefühl unterdrückt haben. Aber so bald diese ausserordentlichen Ursachen, dieser Druck, der der natürlichen Empfindlichkeit entgegen strebet, und sie entweder vernichtet oder verschließet, aufhöret zu wirken: sobald bekömmt das menschliche Herz seine Weiche und Elasticität wieder; die große Seele wird auch die zärtlichste, und der größte Held auch der empfindlichste Mensch. In Ossians Gedichten reden die eheliche Liebe, die Liebe zu seinem Stamme, die Vaterliebe in der süßesten und eindringendsten Sprache einer feyerlichen Melancholie. Es giebt einen gewissen Zeitpunkt in dem Fortgange der Sittlichkeit und der [30] Gesellschaft, in welchen diese Empfindungen am lebhaftesten seyn,| und sich am meisten mit der Größe und Erhabenheit der Seele vertragen können. Dieser Zeitpunkt giebt zu elegischen Empfindungen einen mannichfaltigen Stoff, der für die nachfolgende Welt meistens verloren ist. ‒ Da noch jedes Bürgers Schicksal von dem Schicksale seiner Nation abhieng, und die Liebe zum Vaterlande noch Leidenschaft war; da mußte der Verlust des Patrioten und des Helden, dem Bürger schmerzlich seyn. Als die Bande der Ehe und der Blutsfreundschaft enger und zum Wohl der einzelnen Menschen noch nothwendiger waren; als noch Freundschaftsbündnisse zwey Menschen auf zeitlebens zu einer beständigen Theilnehmung an allen Unternehmungen und Gefahren verbanden; als die Liebe des andern Geschlechts, noch nicht Artigkeit, sondern Gefühl, und durch mannichfaltige Ideen, die die Religion selbst darbot, feyerlicher gemacht war; endlich, als noch jeder den Mann von Verdienst erkannte, weil das Verdienst in lauter Handlungen bestund, die vor jedermanns Augen geschahen, und von denen jedermann Richter seyn konnte: da waren eben so mannichfaltige Quellen der innigsten Wehmuth bey dem Verluste dieser Güter, als Quellen von wirklichen Neigungen in ihrem Besitze. In folgenden Zeiten wird ein Mensch dem andern weniger nothwendig, jeder schränkt sich mehr in sich selbst ein, die Verbindungen werden ausgebreiteter, die Verhältnisse vielfa[31] cher, aber eben dadurch die Neigungen allgemeiner und un|kräftiger. ‒ Die Empfindung des körperlichen Schmerzens hingegen muß bey der Weichlichkeit der Sitten wachsen; und das kann also unmöglich der Charakter der Homerischen Helden seyn, ihn stärker als wir auszudrücken. Diese Stelle, eine der vorzüglichsten im ganzen Buche, ist mehr Philosophie als Geschichte; und es würde vielleicht schwer seyn, bey irgend einer Nation diese Epoquen zu finden. Wie es scheint, so hat die Philosophie am liebsten mit den ältesten Zeitaltern zu thun, aus denen die wenigsten Denkmäler übrig sind. Sie ist alsdann in ihrer eigentlichen Sphäre, wenige Ideen durch bloße Zergliederung zu

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vervielfältigen; überdieß hat sie so zu sagen, freyere Hand, und darf weniger fürchten, von einem Fackto, das sie dabey nicht gewußt, oder aus der Acht gelassen hat, in die Enge gebracht zu werden. Freylich sind dieß alsdann gemeiniglich Gemälde von Dingen, die vielleicht nie so in der Welt vorhanden gewesen sind: aber das ist auch nicht eigentlich ihre Bestimmung. Wir sehen sie blos als eine Sammlung von zusammengehörigen Beschaffenheiten eines möglichen Zustandes an; und wenn diese vollständig genug und mit einander übereinstimmend sind: so sind sie, so zu sagen, so viele Classen, in die man seine Ideen über die wirkliche Begebenheit ordnen kann; es ist eine Art zu geben haben, um die wahre Beschaffenheit derjenigen | Sache in der wirklichen Welt kennen zu lernen, von der uns nur die möglichen sind [32] angegeben worden. Ohne Zweifel sind die Bande, mit denen die Menschen an einander hängen, niemals stärker als die Bedürfnisse, bey denen sie einander brauchen. Also ein Zustand, wo dieser Bedürfnisse mehr, wo der Gefahren mehr, wo die Mittel, sich einen andern Beystand, als den Beystand seines Freundes oder seiner Verwandten, zu verschaffen, seltener waren; da mußten nothwendig stärkere Neigungen entstehen, und um so viel stärker, je ausschliessender sie waren. Sie concentrirten sich in die Familie oder in den Stamm so sehr, daß für die übrigen Menschen nur Haß und Widerwille übrig blieb. Aber nach eben diesem Verhältnisse waren auch die Leidenschaften des Menschen stärker, die ihn selbst angiengen. Es konnte nicht so viel mit andern beschäfftiget seyn, weil er noch für seine eigene Erhaltung zu sehr zu sorgen hatte. So lange man seinen Freund hatte, so konnte man ihn nicht anders genießen, als indem man ihn brauchte; ‒ die Vergnügungen des eigentlichen Umgangs, die eine minder heftige, aber eine beständige Nahrung für Zuneigung und Zärtlichkeit sind, fanden damals noch nicht statt, da man sich einander noch keine Ideen, sondern blos Empfindungen mitzutheilen hatte. Ihre ganze Zeit war also unter denen Thaten, die sie mit einander ausführten, und unter den Erinnerungen an dieselben getheilt. Hatte man seinen Freund verloren, so machte bald die | Betrübniß der Rache Platz. Die Gefahren, die die Menschen enger [33] vereinigten, mußten auch diese Bande schneller und ungestümer zerreissen. Ein einziger gewaltsamer Ausbruch von Zärtlichkeit, der beynahe mehr dem Unwillen, als der sanften Betrübniß glich: und dann war man wieder bey seinen eignen Bedürfnissen und Gefahren. ‒ Das ist eine Philosophie gegen die andre, und man kann für beyde einige Beyspiele anführen, die ihr den Schein der historischen Gewißheit geben, so lange man Beyspiele einer andern Art verschweigt. ‒ Am besten ist es vielleicht man vereiniget sie beyde mit einander. Und alsdann wird so viel daraus folgen. Die menschlichen Empfindungen sind in den verschiedenen Zeitpunkten und bey den verschiedenen Nationen einander sehr ähnlich. Der gesittete Zustand, der weniger Gegenstände einer grossen Neigung darbeut, macht dafür das Herz des Menschen auch für kleinere Eindrücke empfindlich; und der noch rohe Zustand, der die Seele durch die heftige Erschütterung, in die er sie setzt, gegen seinere Empfindungen abhärtet, erhöht dafür die Kraft der Ursachen, die auf die Seele wirken sollen, nach dem Maaße, nach welchem sie selbst schwerer zu bewegen ist. Also

278 | 4 Rezensionen bleibt endlich der größte Unterschied in den Ideen, in die sich diese Empfindungen ausbreiten, und in dem Ausdrucke, durch den sie sich äussern. Über einen verlornen Gatten oder Freund traurig zu seyn, ist eine allgemeine Eigenschaft der Mensch[34] heit. Aber dieser Schmerz veranlaßt nicht bey allen Men|schen eben dieselben Vorstellungen. Ist bey dieser Empfindung die Idee des Übels stärker, als die Erinnerung des verlornen Guts, so verwandelt sie sich in die Begierde, die Ursache derselben zu vernichten oder zu bestrafen; die Betrübniß wird alsdann Muth und Rache. So ist es bey den Thieren, bey den ganz sinnlichen Menschen, und so ist es in dem ersten Zustande. Ist die Idee des genoßnen Vergnügens, das Andenken an die Güte der verlornen Sache stärker, so wird sie die Seele mehr niederschlagen als aufbringen; und diese Empfindungen sind eigentlich elegisch. Man sieht aber, daß diese nur statt finden, wo die Nutzbarkeit eines Menschen schon mannichfaltiger, und seine Vollkommenheiten ausgebreiteter sind, uns einen Stoff zur Erinnerung und zu Betrachtungen geben zu können. Im Philoctet, sagt unser Verfasser, soll nichts weniger als der körperliche Schmerz das Hauptmittel der Rührung seyn. Wir lernen den Philoctet erst als einen Menschenfreund, als einen redlichen, empfindlichen, offenherzigen, tapfern Griechen kennen, wir nehmen erst an der Verfassung und dem Seelenleiden desselben Theil, wir sind schon für ihn und wider seine Feinde eingenommen, wir haben ihn schon mit seinem Schmerze ringen und denselben besiegen sehen, als er auf eine kurze Zeit unterliegt. ‒ So richtig uns dieses scheint, (nur Lessingen hat hier der [35] Verfasser nicht widerlegt, denn der sagt gar nicht das | Gegentheil, er sagt sogar selbst einen Theil davon), so bleibt noch immer diese Schwierigkeit. Wenn gleich der Ausdruck des körperlichen Schmerzens der kleinste Theil des Stücks, wenn er auch an der glücklichen Stelle angebracht ist: wie konnte dieser kleinste Theil ausgeführet werden, ohne ins Lächerliche oder ins Ekelhafte zu fallen? Das Moralische rühret uns zwar beym Philoctet am meisten, aber das Körperliche ist doch Ingredienz, und wie konnte es das seyn, ohne die Wirkungen des andern aufzuheben? »Richtig verstanden,« sagt der Verfasser, »ist ohne Zweifel der Satz richtig, daß die Griechen in ihren Nachahmungen dem Schönen einen höhern Werth, als dem Ähnlichen gegeben haben. Aber nun entsteht noch die Untersuchung: warum dieser Geschmack an Schönheit den Griechen so vorzüglich eigen gewesen?« Uns dünckt, einzelne Data zu Beantwortung dieser Frage sind schon oft gegeben worden. Es fehlet nur noch ein Mann, der sie sammlet, und den Einfluß jeder Ursache bestimmt. Eine Nation, die die schönsten Gestalten vor sich hatte; die durch eine gemäßigte, aber doch feurige Imagination, regelmäßige Zusammensetzungen am lebhaftesten denken konnte, und sie der Natur ihres eigenen Geistes am gemäßesten fand; die frühzeitig zu einer Unabhängigkeit und zu einem Ansehen gekommen war, das ihren Neigungen Freyheit gab, sich ihre Befriedigung zu su[36] chen, und das | ihren Stolz reite, sich über ihre Nachbarn in ihren Werken zu erheben; eine Nation, deren erste Bildung, und deren Wissenschaft, so wie ihre Religion durch Dichter war gegründet worden, deren Spuren jede folgenden Künstler nach-

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giengen; endlich eine Nation, die von der einen Seite weder durch Meynung noch durch Vorschrift genöthiget wurde, Gegenstände für ehrwürdig zu halten, die ihrem Eindrucke nach abentheuerlich oder abgeschmackt waren, und von der andern weit mehr Hang dazu hatten, in öffentlichen großen Denkmälern, als in den kleinen Bequemlichkeiten und Zierrathen des häuslichen Lebens, ihre Größe zu suchen; eine solche Nation mußte nothwendig dem Gefühle für das Schöne, das jedem Menschen natürlich ist, und nur durch andre Empfindungen, oder noch öfter durch Meynungen und Gewohnheiten zurückgehalten wird, getreuer bleiben. Sie hatten viel Schönes zu sehen; sie hatten nichts, was sie abhielt, es recht zu betrachten; sie hatten viel, was sie reizte, es nachzuahmen. »Keine Gottheit, fährt unser Verfasser fort, mußte durchaus häßlich vorgestellt werden. In den Begebenheiten ihrer Mythologie kömmt Häßlichkeit nur in den Nebenfiguren vor. Ihre Helden hatten zugleich den Character einer erhabenen Schönheit, die sie selbst im Schmerz noch beybehielten. Züge, die den Helden würden entehret haben, wurden nicht abgebildet,| oder wurden (wie in des Timanthes [37] Gemälden) verhüllet.« ‒ Alles scheint uns wahr, bis auf die Auslegung der Stelle des Plinius. Digne scheint uns hier durchaus nicht zu seyn, was der Würde des Anführers und des Königs anständig, sondern was dem vollem Schmerz eines Vaters gemäß ist. Erstlich ist das die ursprüngliche Bedeutung des Wortes dignus, das Übereinstimmende, das Gleichförmige, das Gemäße, und daraus ist eben der Begriff der Würdigkeit abgeleitet, und in jenem ersten Sinne kommt es an sehr vielen Stellen vor. ‒ Zum andern ist die Stelle des Cicero im Orator wider die neue Erklärung, und diese Stelle des Cicero ist doch übrigens der Stelle des Plinius vollkommen ähnlich. Cicero giebt ausdrücklich die Ursache von der Verhüllung des Agamemnons an, die der Verfasser läugnet, quoniam summum illum luctum penicillo imitari non potuisset. Und endlich drittens ist die Erklärung des V. wider den Zusammenhang. Wenn er blos deswegen die Traurigkeit des Agamemnons verbarg, weil sie ihn verunehrte, was that das zur Sache, daß er die Züge der Traurigkeit in den umstehenden Personen so zu sagen, schon verbraucht habe. Auch wenn Agamemnon ganz allein am Altare gestanden hätte, hätte er verhüllt vorgestellt werden müssen. Im Grunde ist über des Timanthes Gemälde schon zu viel gesagt worden. Wenn jeder Gegenstand aus der Natur und der Kunst, noch darzu ein solcher, den wir nur vom Hörensagen kennen,| uns so viel von unsrer Zeit und von unserm Nachdenken wegnimmt; wo [38] wollen wir vermögend seyn, nur einigermaßen den Umfang von wichtigen Gegenständen zu umfassen. Unser Verfasser fährt fort: »Die Griechen bekamen ihre theologischen und mythologischen Begriffe unter Bildern, die bedeutend nicht schön waren, aber sie verließen bald diese hieroglyphischen Gestalten, und banden den Begriff der Gottheit an kein andres, als das Zeichen einer vorzüglichen menschlichen Schönheit.« ‒ Wir übergehen ganz die Vergleichung des Virgils in der Beschreibung des Laokoons mit der homerischen Erzählung von den getödteten Sperlingen. Uns scheint in der That zwischen beyden wenig andre Ähnlichkeit zu seyn, als die natürlicher Weise,

280 | 4 Rezensionen ohne Nachahmung von irgend einer Seite, bey Dichtern seyn mußte, die einen ähnlichen Stoff mit ähnlichen Religionsbegriffen, und mit gleichen Traditionen zu bearbeiten hatten. Diese Aussprüche; »Virgil muß Nachahmer seyn, weil er es schlechter gemacht,« sind eben so schwankend, so ungewiß zuweilen die Urtheile über das Bessere und Schlechtere selbst sind. War es wohl natürlich, daß uns Virgil sehr viel von dem Leiden des Laokoon zeigte, da er uns diese Begebenheit gar nicht, in so fern sie diese einzelne Person betraf, sondern in so fern sie eine Vorherverkündigung der Schicksale des ganzen Volks war, erzählte. Und in dieser Betrachtung [39] mußte | das Wunderbare, das Seltne der Erscheinung, und wenn es auch nur in der Größe und den Windungen der Schlange bestund, eben weil in diesem Ausserordentlichen das Bedeutende lag, sowohl den gegenwärtigen Trojaner, als den Dichter der sich in dessen Stelle setzte, mehr beschäfftigen, als der Ausdruck des Schmerzens, den Laokoon mit jedem andren Leidenden gemein hatte. ‒ »Der Grundsatz ist richtig,« sagt unser Verfasser, »der Maler soll nicht den äussersten Grad des Affects ausdrücken.« Aber dieß kann nicht die Ursache davon seyn, weil sonst ein augenblicklicher Zustand verewigt werden würde, und noch weniger kann aus dieser Ursache eine allgemeine Regel gemacht werden: der Künstler darf nichts transitorisches nachahmen. Erstlich ist alles in der Natur transitorisch; kein Zustand irgend eines Dinges, besonders eines lebendigen Dinges, währet ewig. Jede Stellung des Körpers, jede Idee der Seele ist immer nur ein Glied aus der Reihe der fortgehenden Veränderungen. Also auch der Zustand der scheinbaren Ruhe, auch diejenigen Augenblicke einer Handlung oder Leidenschaft, wo die Veränderung am wenigsten schnell ist, haben doch ihre Gränze, wo sie wieder mit andern abwechseln; und der unveränderliche Anblick der künstlichen Nachahmung wird doch zuletzt etwas Transitorisches in etwas Bleibendes verwandeln. Zweytens, [40] allenthalben wo Handlung ist, da ist Veränderung. Die thätige, die | sich bewegende Natur ist auch zugleich die abwechselnde, sich verändernde Natur. Folglich mit dem Transitorischen verliert die Kunst zugleich alle Gegenstände, wo Leben und Thätigkeit ist. ‒ Was ist denn also die Ursache von dem höchsten Gesetze der Schönheit? ‒ Alle Werke der Kunst wirken entweder durch einen einfachen unmittelbaren Anblick; oder durch eine Reihe von auf einander folgenden Eindrücken, wovon keiner den Endzweck des Künstlers erreicht, sondern jeder nur einen Beytrag dazu thut. Bey dem ersten ist die Wirkung, die gesucht wird, so zu sagen ein augenblicklicher Stoß, bey dem andern ein fortwährender Druck. ‒ Da nun, wo der ersten Augenblick gleich die ganze Wirkung thun soll, und alle folgenden nur den ersten Eindruck klärer machen, nicht abändern können: da muß auch die Kraft, die in diesem Augenblicke wirkt, die größte mögliche seyn, und eine solche lange fortwirkende Kraft ist in den Körpern die Schönheit, in dem Geiste die stille sanfte Begierde, die Fortschreitung von Ruhe zur Thätigkeit. Hingegen wo es auf keinen einzelnen Eindruck ankömmt, sondern jeder nur gleichsam da ist, um den folgenden vorzubereiten; da darf in keinem Augenblick der Eindruck der höchste werden;

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der Fortgang zu einem neuen würde dadurch gehindert, und eben in diesem Fortgange besteht der Endzweck des Dichters. So weit unser Verfasser. Diese Begriffe scheinen uns in der That von den Lessingischen mehr in der Art [41] der Vorstellung als in der Sache selbst verschieden zu seyn. Aber wir geben ihm zu, daß diese Art der Vorstellung sie vielleicht noch fruchtbarer mache. Wir setzen blos noch diese einzige Anmerkung hinzu: Das, was man bey den Dichtern Interesse nennt, besteht beynahe in nichts anderm, als in einer gewissen begierigen Erwartung der Folge der Begebenheit und des Fortgangs der Handlung. Als würde in einer gewissen Betrachtung die Dichtkunst und Malerey gerade entgegenstehende Absichten haben. Die erste will eine beständige abwechselnde Reihe von Ideen und Empfindungen in der Seele hervorbringen; sie will den Leser bey keinem Gegenstande ruhen lassen, sie will ihn von Veränderung zu Veränderung fortreissen. Je schneller diese auf einander folgen, je mehr die Seele diesen Fortgang gewahr wird: desto weniger ist sie mit dem gegenwärtigen Augenblicke gesättigt, desto geschwinder will sie ihn wieder mit einem folgenden abgewechselt sehen; und dann hat der Dichter seinen Zweck erreicht. Die Kunst will hingegen die Seele bey einem einzigen Gegenstande fest halten, sie will einer einfachen Empfindung eine Stärke geben, durch die sie sich, ohne Abwechselung, blos durch die mannichfaltigen Ideen, auf welche sie die Seele führt, erhalten kann. Die folgenden Betrachtungen sind von dem poetischen und malerischen Gebrauche mythologischer Figuren. Die Dichter, sagt unser Verfas|ser, sind die Erfin- [42] der und die Herren der Mythologie. Das Wesen dieser ihrer Geschöpfe besteht also nicht in der abstracten Idee, aus der man ihren Charakter gemacht hat, sondern in der Verbindung aller der individuellen Handlungen und Eigenschaften, in welcher sie der Dichter vorstellt. Dieser Charakter ist erst aus diesen Handlungen herausgezogen worden, er ist das, was in den Begebenheiten oder in den Handlungen einer Gottheit das Gemeinschaftliche ist. Die Maler, die diese Sujets von dem Dichter bekommen, die diese Geschichte und Handlungen schon als bekannt voraussetzen müssen, wenn sie sie bearbeiten wollen, können also auch eben so gut diese Wesen in Handlungen und Wirksamkeit zeigen, als die Dichter, und sobald sie uns durch ihre Handlungen kenntlich werden, sobald brauchen wir auch im Gemälde keine Symbolen mehr. Das individuelle Wesend der Gottheit ist schon einmal durch den Dichter bestimmt, der Künstler führt nur wieder darauf zurück. In dieser Ordnung vorgestellt, scheint uns die Folge der Ideen einleuchtender, und das, was in denselben eigen ist, mehr ausgesondert. Die Hauptidee, die hierbey zum Grunde liegt, noch allgemeiner gemacht, würde diese seyn. Die bildenden Künste können Handlungen und Begebenheiten nur in sofern ausdrücken, als diese uns schon zuvor durch Dichter oder Geschichtschreiber bekannt sind. Der Dichter muß immer dem Künst|ler vorarbeiten. Sind aber diese Wesen und Begebenheiten [43] einmal bekannt: so kann auch der Maler eben den Weg wählen, um verstanden und empfunden zu werden, als der Dichter. Nur alsdann sind die Attribute zur Charakterisierung nöthig, wenn diese Figuren ausser aller Begebenheit; einzeln, wie in der

282 | 4 Rezensionen Bildhauerkunst; oder wenn sie in einer ganz unbekannten Begebenheit vorgestellt werden. Das erste ist eine Einschränkung der Kunst. Das andre ist ein Fehler des Künstlers. Eine Reihe von Gestalten, Stellungen, Gesichtszügen, ist ein Phänomen, das nothwendig aus mehr als einer Ursache erklärt werden kann. Man muß diese schon zuvor kennen, wenn man sie soll aus der Wirkungen errathen können. Die Ode des Horaz an die Göttinn des Glücks ist, sagt unser Autor, nicht eine Ode an die abstracte Idee des Glücks, sondern eine an die Göttinn, die zu Antium verehret ward; die Attribute und die Begleiter, die er ihr giebt, sind vielleicht die, mit denen sie auf dem Gemälde der Fortuna in diesem Tempel vorgestellet war. Die Handlungen, die er ihr beylegt, sind die allgemeinen, die der Gewalt und dem Einflusse dieser Göttinn gemäß sind, aber auf diese Weise individuisiert, wie es die allegorische Vorstellung dieser Göttinn in dem Tempel veranlaßte. ‒ Dieser Voraussetzung würde sinnreich und zur Erklärung der Ode brauchbar genug seyn, wenn [44] | sie mehr Beweise hätte. Einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit können wir ihr unterdessen nicht absprechen. Die ganze Schilderung der Fortuna sieht so sehr einem beschriebenen Gemälde ähnlich; die Symbole, die gewählt worden, sind so wenig die allgemeinen, unter welchen jeder Dichter und Maler das Glück characterisiren würde; die Zusammensetzung besteht so durchaus aus lauter Gegenständen des Gesichts: daß man wenigstens sich nicht besser in die ganze Vorstellung finden kann, als wenn man es sich als ein Werk des Pinselns denkt, das der Dichter beschreibt, und darüber er, so zu sagen, philosophirt. Aber auf der andern Seite ist es schwer, die Erklärung von der Säule, die das Glück nicht umstürzen soll, für etwas mehr als eine allgemeine Allegorie anzunehmen. ‒ Wenn diese Säule vor dem Bilde der Göttinn des Glücks stund, so mußte sie etwas anders, als das Glück des römischen Volks, sie mußte, so zu reden, den römischen Staat selbst vorstellen; ‒ und dieß glauben wir, würde dem Verfasser schwer werden, zu beweisen, daß man eine Säule für das Bild einer Republik und ihrer Fortdauer gebraucht habe. Aber das sey! so bleibt es doch immer noch unbegreiflich, warum Scythe und Dacier und die Mutter barbarischer Könige den Umsturz dieser Säule fürchten sollen. ‒ Die Art, wie unser Verfasser dieser Schwierigkeit auszuweichen sucht, ist, daß er die ganze [45] Stelle: Te Dacus asper ‒ ‒ tyranni für ein bloßes Einschiebsel hält, und sich | die Worte: iniurioso ne pede etc. auf die lange vorhergegangene Bitte des Landmanns und des Carpathischen Schiffers beziehen läßt. Dieß ist in der That hart und gezwungen. Man muß also annehmen, entweder daß Horaz bey der damaligen Größe und dem Einflusse des römischen Reichs und seiner Veränderungen, auch barbarischen Völkern eine gewisse Theilnehmung an dessen Schicksal, ein Interesse an der Erhaltung desselben zuschreibe, oder diese Säule muß überhaupt die Festigkeit und die Fortdauer eines Zustandes bezeichnen, der für alle wünschenswerth seyn konnte. ‒ ‒ Daß er das Glück als eine Schutzgöttinn von Antium anredet, kann eben so wenig die Vermuthung bestätigen, daß keine Bilder aus dem Tempel von Antium genommen seyn müssen. Man weiß, wie gewöhnlich es allen alten Dichtern, und

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dem Horaz insbesondre ist, die Gottheit, die sie besingen, durch die Örter, die ihnen vorzüglich heilig oder angenehm waren, zu characterisiren. Um eine Gottheit unsichtbar zu machen, sagt der Verfasser, hüllt sie der Dichter in eine Wolke. Bey dem Künstler wird diese Wolke lächerlich, weil sie die Person, die hinter ihr steht, nicht verbirgt, sondern vielmehr darauf aufmerksam macht. Aber will der Dichter deswegen gar keine Wolke gedacht haben? soll es blos ein andres Wort seyn, um Unsichtbarkeit oder eine plötzliche Entrückung anzuzeigen? Einmal braucht | Homer niemals seine Bilder als Metaphern, allgemeine Ideen anzu- [46] zeigen. Ferner gründet sich diese Behauptung auf eine andre: daß die mythologischen Götter ihrer Natur nach unsichtbar wären, daß sie also nicht verhüllt werden dürften, um nicht gesehen zu werden, weil sie sogar nicht anders als durch ein Wunder gesehen werden könnten. Aber können Götter, die man wider ihren Willen überfallen kann, vor deren plötzlichen Anblick als für einer Gefahr man gewarnt wird, Götter, die zwar fremde Gestalten annehmen konnten, aber auch in ihren thaten und litten, was uns die Mythologie von den ihrigen erzählt, konnten die wohl unsichtbar seyn? ‒ Der Künstler, sagt Lessing, bleibt in der Vorstellung unsichtbarer höherer Wesen, auch in Absicht der Größe und der Gestalt hinter dem Dichter zurück. Die Einbildungskraft kann sie so weit über das gewöhnliche Maaß menschlicher Größe erhöhen, als es die Erhabenheit, oder die Stärke des Gottes erfodert. Der Künstler muß innerhalb der Grenzen derselben bleiben, wenn er nicht ungeheuer werden will. ‒ Aber diese Riesengestalten, sagt unser Verfasser waren kein Character der Homerischen Götter. Sie konnten es nicht seyn, weil sie bey gewissen Gottheiten, deren Character Schönheit war, schlechterdings dieselbe, auch in dem Bilde der Imagination, aufgehoben hätten; sie konnten es nicht seyn,| nach der Natur dichte- [47] rischer Erhabenheit, die durch die Größe der Wirkungen, nicht durch die Größe der Gestalt ausgedrückt wird; ‒ sie waren es endlich nicht bey den Homerischen Göttern, bey denen selbst nicht die Stärke ein wesentliches Stück ihres Characters war. Die beyden folgenden Bemerkungen über die eigne Manier des Homers sind vortrefflich; aber sie scheinen uns nicht mit derjenigen Klarheit ausgedrückt zu seyn, die sie verständlich machte, wenn man sie nicht schon selbst wenigstens dunkel wahrgenommen hat. In der That sind keine Empfindungen schwerer in allgemeine Ideen zu verwandeln, als die, von dem Eigenthümlichen eines Schriftstellers oder einer Sprache. Das Gefühl, das wir deutlich machen wollen, kömmt aus einer so großen Menge von Ursachen zugleich her; und es verliert oder verfälscht sich so leicht, wenn wir darüber nachdenken wollen, daß man beynahe mit niemanden anders darüber sich ausdrücken kann, als der diese Empfindungen auch gehabt hat. Und dem wir sie nur eingedenk machen, nicht beybringen dürfen. Dieß sind die Bemerkungen: »Homers Gemälde sind fortschreitend. Er läßt den Leser gleich anfangs das ganze Subject sehen, bestimmt den Gegenstand vollständig, und dann führt er ihn von einer Beschaffenheit dieses Subjects zur andern, aber so, daß jedes mal der Sinn und das Bild etwas Vollständiges, etwas für sich Bestehendes ist, und

284 | 4 Rezensionen das folgende nur die Idee | weiter führet, und nicht nothwendig ist, sie zu ergänzen. Sind es Handlungen, die er beschreibt, so wird jeder Theil nach dem andern in der Ordnung und Folge angezeigt, wie einer die andern hervorgebracht oder veranlaßt hat, und seine Erzählung geht in gleichem Schritte mit den Begebenheiten selbst fort. In unsern Sprachen, wo die Eigenschaften gemeiniglich dem Subject vorausgeschickt werden müssen; wo die einzelnen Ideen unvollendet bleiben, bis erst am Schluß des Perioden der Sinn des Ganzen zugleich und geendiget wird; wo die einzelnen Beschaffenheiten eines Subjects vorausgeschickt werden müssen; wo die einzelnen Theile einer Veränderung nicht blos nach einander in ihrer natürlichen Folge schlechtweg angezeigt, sondern zum Theil in ganze Bilder ausgedehnt, zum Theil mit einander zusammen geflochten werden müssen, wenn sie Wirkung thun sollen: in unsern Sprachen ist dieser Vorzug nicht zu erhalten.« ‒ Uns scheint dieser Vorzug des Homers, im Grunde, mehr ein Vorzug seiner Sprache, als sein eigner, oder vielmehr der Vorzug einer jeden Sprache zu seyn, an der noch nicht Redner und Philosophen gearbeitet haben. Im Ossian finden wir ihn eben so wieder. Und so bringt es auch die Natur der Sache mit sich. So lange man in einer Sprache nur noch Empfindungen, und zwar größtentheils äussere Empfindungen; Gegenstände fürs Gesicht und fürs Gehör auszudrücken gehabt hat; so lange entstehen natürlicher Weise die Ideen einzeln, von einander getrennt, und werden eben so stückweise [49] | dem andern zugezählt, wie die Theile der Sache oder der Begebenheit sich uns nach einander darstellen. Die Erzählungen des gemeinen Mannes nähern sich in jeder Sprache dieser Methode. Die Rede zerfällt alsdann in lauter einzelne Stücke, die weiter nicht unter sich zusammenhängen, als in sofern die Sachen beysammen waren, oder auf einmal folgten, die dadurch sollten ausgedrückt werden. Aber sobald man anfieng, die Ideen abgesondert von den Gegenständen, durch die sie ursprünglich waren hervorgebracht worden, zu betrachten und zu verbinden; sobald man diesen Ideen so zu sagen, eine gewisse eigene Existenz, eine eigne Vollkommenheit, eigne Gesetze gab, die ihnen nicht mehr, in sofern die Bilder sinnlicher Dinge, sondern in sofern sie Operationen eines Geistes sind, zukamen: sobald verlangte man auch in der Nebeneinanderstellung der Ideen einen stärkern und mannichfaltigern Zusammenhang, als der von dem bloßen Nebeneinanderseyn, oder Aufeinanderfolgen der äußern Objecte abhieng; nach und nach nahm auch die Sprache eine solche Wendung an, daß diese Verbindungen der Begriffe in ihr nothwendig wurden; man ordnete die Theile eines Satzes nicht mehr so, wie sich in dem Dinge selbst die Theile nach einander darstellten, sondern so, wie sich die Ideen der Wörter, mit welchen man sie ausdrückte, aus einander entwickelten. Diese hinzugekommenen künstlichen Verbindungen mußten nothwendig der ersten natürlichen [50] Gewalt anthun. Und vielleicht | besteht eben in dieser ganz einfachen Verbindung der Ideen die Farbe des Alterthums, die uns die ältesten Schriftsteller in ihrer eigenen Sprache so ehrwürdig macht, und die uns mißfällt, wenn wir sie in unserer Sprache nachahmen wollen. In dieser sind wir einmal daran gewöhnt, die Begriffe, auch wenn sie körperliche existirende Dinge und Folgen ausdrücken, doch, ausser [48]

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der Verbindung der Zeitfolge in den Sachen, noch durch gewisse innere Verhältnisse verbunden zu sehen. Und das ist die Ursache, warum bey uns die Antithese oft nothwendig ist, von der die ältesten Schriftsteller so wenig wußten. Man verlangt eine immer merkliche, stark auffallende Verbindung unter den Begriffen. Wenn sich diese in dem Innern der Begriffe selbst nicht finden läßt: so sucht man sie in den äußern Verhältnissen, in der bloßen Stellung und in dem Contrast. Das andre Eigenthümliche des Homer ist in dem Zurückkommenden seiner Bilder. Wenn er eine gewisse Eigenschaft oder Handlung eines Gegenstandes erst angegeben hat, so braucht er gemeiniglich, wenn er den Gegenstand wieder nennt, ein Wort, welches uns auf diese Eigenschaft, oder diese Handlung zurückführt. Zuerst erweckt er die Idee als Hauptidee, und dann bringt er sie als Nebenidee in der nächstfolgenden zurück. ‒ In Ansehung des Unterschieds zwischen Poesie und Malerey, der den wichtigsten Theil von | dem Lessingischen Werke ausmachte, sind des Verfassers Haupt- [51] ideen folgende: Malerey und Poesie sind allerdings in Absicht der Zeichen verschieden, durch die sie die Gegenstände nachahmen, die eine durch Farben im Raume, die andre durch Worte in der Zeitfolge. Aber das Verhältniß dieser Zeichen gegen die Sache ist bey beyden nicht gleich. Bey dem Maler sind es natürliche; die Farben, und die Art wie sie im Raume neben einander geordnet sind, veranlassen nicht blos die Bilder der Sachen, sondern sie bringen sie auf eben die Weise hervor, wie sie von den Sachen selbst hervorgebracht werden. Zwischen den Zeichen und der Idee ist nicht blos der Zusammenhang der Ähnlichkeit. Bey der Dichtkunst hingegen sind die Zeichen willkührlich. Die Wörter haben gar nichts mit den Begriffen gemein, die sie vorstellen; sie wirken nur mittelbar; sie erregen erst Begriffe im Verstande, und durch diese erwecken sie die Imagination, sich das Bild der Sache selbst hervorzubringen. Also muß die Malerey durch die Natur ihrer Zeichen mehr als die Poesie durch die Natur der ihrigen eingeschränkt werden. Der Maler kann nichts als existirende Dinge auszudrücken, weil er sie durch Zeichen ausdrückt, die den Dingen selbst ähnlich sind, die also keine andern Erscheinungen vorstellen können, als die in der Natur selbst, durch Farbe Figur und Stellung hervorgebracht werden; ‒ der Dichter hingegen kann das Coexi|stirende und das Successive zugleich schildern, [52] weil bey ihm alles auf der Geschäfftigkeit der Einbildungskraft des Lesers beruht; und seine Worte nur dazu wirken sollen, Begriffe in der Seele zu erwecken, die die Imagination zu dieser Geschäfftigkeit bringen können. Diese Begriffe können auf einander folgen, und doch kann die Sache, deren Bild durch diese Begriffe in der Imagination rege gemacht worden ist, aus coexistenten Theilen bestehen. Folglich, nur da wo diese Wirkung nicht mehr zu erhalten steht; wo alle Ideen, die durch Worte erregt werden können, der Einbildungskraft es nicht möglich machen, das ganze Object zum Anschauen zu bringen: nur da muß der Dichter nicht mehr schildern. Diese Art der Wirkung die der Poesie eigen ist, heißt unser Verfasser Kraft. ‒ Man schränkt demnach in der That alle Gattungen der Dichtkunst auf die Regeln einer einzigen ein, wenn man durchaus nichts als Handlung zum Gegenstande

286 | 4 Rezensionen derselben will gelten lassen. Anschauende Bilder in der Einbildungskraft zu erregen, dieß ist der allgemeine Endzweck der Dichtkunst: es mögen nun Handlungen, oder Empfindungen ohne bestimmte Begebenheit, oder bloß Reihen Bilder der Vorwurf seyn. Körper zu schildern kann freylich nicht der Hauptgegenstand der Dichtkunst werden, weil sich bey diesen, Begriffe nicht so leicht in Bildern Poesie völlig zu versagen, das würde einen Theil ihrer vornehmsten Äste auszuschließen, [53] und andre | nur auf eine gewisse Manier einschränken. ‒ Die Poesie wirkt nicht erst nach der Vollendung ihres Gemäldes, durch die Sammlung und die Zusammensetzung aller derjenigen Begriffe, die sie erregt; sondern während der Schilderung selbst, durch die fortgehende Reihe von Eindrücken, die an die Begriffe gebunden waren, und die sich zu einen allgemeinen ganzen Eindruck vermischen. Jeder einzelne Zug der Beschreibung, ist also bey ihr nicht, so zu sagen, ein Datum, aus welchem so lange sich nichts herausbringen läßt, bis erst alle die übrigen hinzukommen sind: er ist vielmehr das Element einer Bewegung, ein einzelner Stoß, der die Seele erschüttern, und zu einem nächstfolgenden, und durch diesen wieder zu einem dritten vorbereiten soll: das heißt, sie wirkt durch Energie. Also wird auf diese Weise auch eine Schilderung körperlicher Schönheit erlaubt seyn. Nicht als wenn die Beschreibungen der einzelnen Theile der Schönheit die Gestalt genau genug bestimmten, um sie darnach zu zeichnen, sondern weil jeder Zug in der Imagination einen Eindruck machen kann; aus dem zusammen eben der Eindruck, eben die Art von Wohlgefallen entsteht, die die Schönheit durch ihren unmittelbaren Anblick erregt. Man denkt sich die Gestalt nicht bestimmt, aber man denkt sich doch eine sehr schöne Gestalt: und man fühlt eben das, was man bey einer wirklichen Schönheit fühlen würde. ‒ So haben wir die Gedanken unsers Autors gefaßt. [54] Diese Betrachtungen führen uns aber auf einen gewissen Unterschied der Künste und der Poesie, auf den man weniger Acht gehabt hat. Man schreibt beyden die Wirkung zu, Bilder hervorzubringen; die Gegenstände, die sie schildern auf gewissen Weise gegenwärtig zu machen; und also die Empfindungen und Leidenschaften zu erregen, die die Folgen der wahren Existenz der Sachen seyn würden. Aber man bemerkt nicht, daß das Wort, Bild bey der einen Kunst in der That ganz etwas anders sagt, als bey der andern; und daß die Veränderungen in der Seele bey jeder in einer ganz verschiednen Ordnung auf einander folgen. Die Kunst wirkt unmittelbar auf den Sinn; und das, was sie den Sinnen darstellt, ist eben gerade das, wodurch uns die Natur die Dinge selbst zeigt, ‒ Körper, und von den Körpern, Gestalt, Farbe, Größe und relative Entfernung. Von dieser Seite betrachtet, ist ihre Wirkung der Wirkung der Gegenstände selbst weit gleichförmiger. Bey dem wirklichen Menschen, so wie auf seinem Bilde, sehen wir die Gestalt und die Züge zuerst, und wir schließen erst auf das, was er denkt oder empfindet. ‒ Die Dichtkunst hingegen wirkt eigentlich nur auf den Verstand. Ihre Zeichen sind Wörter, und Wörter sind nur für abstracte Begriffe; sie drücken nicht die Eigenschaften und Verhältnisse der einzelnen Dinge aus, wie sie der Sinn empfindet; sondern die Ähnlichkeit vieler, [55] so wie sie die Reflexion absondert. Also ihr erster Eindruck hat nichts mit | demjeni-

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gen gemein, den die Gegenwart der Objecte erreget. Die Poesie giebt wie jede Rede, gleichsam nur alle die Classen an, unter die das Ding gehört; die allgemeinen Beschaffenheiten, an denen es Theil hat; und durch die Menge derselben soll erst der Verstand das Object selbst bestimmen. ‒ Die erste Triebfeder, durch die beyde Künste die Seele in Bewegung setzen, ist verschieden; die ganze Succeßion von Bewegungen wird es auch seyn müssen. Bey den Künsten wird der Gegenstand zuerst von den Sinnen bemerkt; von ihnen empfängt ihn die Imagination: sie hat folglich hier gar nicht nöthig, diese Bilder hervorzubringen, aber sie muß denselben Leben, Bewegung und eine Art von fortschreitender Dauer geben. Das Ding in dem einen Zustande ist sichtbar; das Ding in dem nächstvergangenen und nächstfolgenden ist Imaginativ; und doch müssen diese hinzukommen, wenn aus Stellungen Bewegung, und aus Bewegung Handlung werden soll. Das sinnliche Bild der Gestalten mit dem imaginativen Bilde von der Entstehung und dem Fortgange dieser Stellungen zusammen genommen, bringt in dem Verstande entweder die Erinnerung an die besondre Begebenheit, welche vorgestellt wird, oder an die Art von Begebenheiten überhaupt, aus welchen solche Bewegungen entstehen können. ‒ Bey der Dichtkunst hingegen müssen zuerst durch die Wörter, im Verstande Begriffe erweckt wer|den. Jeder allgemeine [56] Begriff setzt, nach dem Maaße, nach welchem er in der Seele der Menschen, entweder mit vielen sinnlichen Bildern in Verbindung steht, oder nach dem er durch seine Klarheit und Stärke den Verstand geschwinder auf den Gegenstand selbst, und auf die Empfindungen zurückführt, aus welchen er entstanden war; nach diesem Maaße, sage ich, setzt er die Einbildungskraft in Bewegung. Nehmlich jeder, auch der abstracteste Kopf, muß bey seinen Ideen etwas haben was einem Bilde ähnlich ist; und so wie die Begriffe des Verstandes aus den Empfindungen zurück, wofern sie nur selbst, und nicht blos ihre Wörter dem Verstande gegenwärtig sind. Je mehr nun solcher Ideen zusammenkommen, die sich alle auf einerley Empfindung beziehen, aus einerley Gegenstande, aus denselben Erfahrungen geschöpft wurden; und je klärer jede ist: um desto leichter wird auch das ihnen zugehörige Bild in der Imagination rege. Jeder Mensch hat seine eigene Welt, woraus er seine Begriffe erhalten hat. Auf diese führen sie ihn also auch wieder zurück, wenn er sich den Begriff deutlich machen will. Freylich werden alsdann eben dieselben Ideen ganz verschiedne Bilder bey verschiednen Menschen veranlassen; aber diese Verschiedenheit kommt nicht in Betrachtung, weil es unmöglich ist sie auszudrücken. ‒ Hieraus also entstehen folgende Unterschiede zwischen Poesie und den Künsten. 1) Die Künste und die Malerey stellen uns eben die sinnlichen Erscheinungen [57] vor, die die Natur als Zeichen braucht, uns die Existenz äußrer Objecte zu lehren; die Poesie giebt uns blos die aus solchen Erscheinungen entstehende Ideen. Jene zeigen uns das Äußre der Objecte, so wie sie sich selbst den Sinnen darstellen, und lassen uns auf die innern Beschaffenheiten und Verhältnisse derselben schließen; diese zeigt unserm Verstande die innere Beschaffenheit, und überläßt es der Einbildungskraft, sich aus denselben die äusserliche Form, den sinnlichen Anblick, mit

288 | 4 Rezensionen einem Worte, die Wirkung, die die Sache auf die Sinne thun würde, vorzustellen. Wenn nun beyde menschliche Handlungen vorstellen, bey denen das was in der Seele vorgeht, das Hauptwerk ist, so wird ihr Verfahren gerade entgegengesetzt seyn. Keine von beyden kann uns den Zustand eines Geistes selbst schildern; keine seine Empfindungen unmittelbar in den unsern übertragen. ‒ Also müssen sie uns entweder die Ursachen der Empfindungen zeigen; oder ihre Wirkung: Das erste thut die Poesie, das andere die Kunst. Jene fängt von den Begriffen an, die dem Zustande der Seele seine Bestimmung geben, und indem sie in uns die Reihe von Vorstellungen erweckt, die mit Empfindungen einer gewissen Art immer begleitet sind, so erregt sie diese Empfindungen selbst; unsre Einbildungskraft denkt sich einen solchen Zustand, aus dem diese Vorstellungen begreiflich sind; und dieser Zustand, [58] wenn | er lebhaft und bestimmt genug gedacht wird, giebt zugleich dem Menschen, den wir uns in demselben vorstellen, eine Gestalt. Jede Leidenschaft, jede Gesinnung, jeder Gedanke hat keinen Ausdruck in dem Gesichte, und in den Bewegungen; jeder Character hat seine Züge, die für die Einbildungskraft eines jeden Menschen anders, aber doch für jeden genau bestimmt sind. Also wenn wir einen Mensch blos durch eine gewisse Reihe von Handlungen und Begebenheiten kennen lernen, und diese Handlungen, diese Verfassungen haben nur eigenthümliches, characteristisches genug; so stellt sich die Seele zugleich einen gewissen Körper, gewisse Gesichtszüge, einen Gang, Geberden mit einem Worte, den ganzen Anblick des Menschen vor. Die Kunst hingegen beobachtet die Handlung des Geistes in ihrer letzten Wirkung, in den Bewegungen und Stellungen des Körpers, die sie veranlaßt, und in diesem äussersten Ausbruche ahmet sie sie nach. Bey ihr also schließt man die Handlung aus der Gestalt und der Stellung, so wie man in der Poesie die Gestalt und die Bewegung aus der Handlung erräth. Hier hat nun die Poesie augenscheinlichen Vortheil. Der Schluß von gewissen Bewegungen und Stellungen des Körpers auf gewisse Gedanken und Handlungen der Seele ist weit ungewisser und zweydeutiger, weil unendlich mehr Verschiedenheit und Abänderung in den Handlungen des Geistes, als in den Bewegungen seyn kann, die dadurch veranlaßet werden; ‒ [59] zwar ist der | Schluß von den geistigen Handlungen auf die körperliche Gestalt nicht viel sicherer. Aber Stellung und Gestalt ist auch hier nicht die Hauptsache. ‒ Hieraus folgt ein zweyter Vorzug der Poesie. Das was bey ihr am genausten bestimmt, und am unmittelbarsten erkannt wird, ist die Handlung der Seele; gerade der Theil des Ganzen, an dem uns das meiste gelegen ist. Sie erzählt uns freylich oft nur die Gedanken ihrer Helden, und Gedanken sind noch nicht die Empfindung, nicht die Handlung selbst, aber sie haben doch ein weit unmittelbares und nothwendigeres Verhältniß damit. Mit einer gewissen Reihe von Vorstellungen kann nur eine einzige Begebenheit, eine einzige Handlung verbunden seyn. Der Übergang von den Vorstellungen zu Handlungen ist schnell und unmittelbar, und wir können sie also als gleichgeltend damit ansehen. ‒ Das, was sie am unvollständigsten am wenigsten anzeigt, ist das Körperliche und Sichtbare; ‒ Noch ein dritter Vorzug von ihr ist es, daß da es einen großen Theil menschlicher Handlungen giebt, die eigentlich im

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Reden bestehen, oder mit Reden begleitet seyn müssen, daß, sage ich, sie diese Handlungen unmittelbar darstellen kann. Dahingegen die Malerey niemals mehr zurückbleibt, als wenn sie Begebenheiten und Thaten vorstellen soll, bey denen das was der Held der Geschichte sagte, dem was er that, erst Wichtigkeit, Interesse und Größe gab. Und wie viel große Handlungen blieben wohl in der Geschichte übrig, wenn | man alle diejenigen wegnehmen wollte, wo der Ausdruck großer Gesinnun- [60] gen durch Worte ein nothwendiger, und beynahe der wichtigste Theil der Handlung ist. ‒ Aber an allen diesen Vorzügen nimmt die Kunst Theil, so bald sie Begebenheiten, Handlungen, Reden vor sich hat, die schon der Dichtkunst oder der Geschichte sind beschrieben worden. Sie wirkt alsdann durch den unmittelbaren Eindruck, und durch die Erinnerung zugleich. Auf der andern Seite hat die Malerey einen eben so unbetrittnen Vorzug, wenn es eigentlich darauf ankommt, Gestalten, nicht Handlungen zu schildern. Was die Poesie in diesem Falle thun kann, ist: daß sie entweder durch die Begriffe, die sie von einigen Theilen der Sache giebt, an den ehemals gehabten Anblick des ganzen Objects erinnert; oder daß sie durch allgemeine Merkmale einer gewissen Art von Gestalten, die Einbildungskraft erweckt, sich überhaupt ein Bild dieser Art vorzustellen, so wie ihre Erfahrungen dasselbe geben. Es geht demnach der Poesie in Absicht der körperlichen Gestalten, gerade so wie der Malerey in Absicht der geistigen Handlung. Keine dichterische Beschreibung wird mir zum Bilde eines Körpers verhelfen, den ich niemals gesehen habe; und kein Gemälde mich eine Begebenheit errathen lassen, die ich gar nicht zuvor weiß. Würde irgend ein Bild uns die Geschichte des Eudamidas oder des Scipio haben er|halten können? Die Kräuter, die [61] Haller beschreibt, mögen für den, der sie oft in der Natur gesehen hat, sehr kenntlich seyn; und bey diesem wird das Gemälde seine Wirkung thun. Aber sie daraus kennen zu lernen, das ist unmöglich. Unterdessen da es gewisse körperliche Gegenstände giebt, die durchgängig bekannt sind, und von denen man also voraussetzen kann, daß in jedes Menschen Seele ein Bild ihrer Art vorhanden sey, so wird auch der Dichter dieselben schildern dürfen. Unter diese Gegenstände gehört, deucht uns, die Schönheit. Jeder Mensch hat doch gewiß einige schöne Bildungen gesehen. Wenn er nun sich diese auch ohne Dichter wieder vorstellen kann, warum sollte ihn nicht also auch der Dichter daran erinnern können? warum sollte er nicht die Bilder erwecken können, die schon in seiner Imagination liegen. Wenn Ariost die Alcimna, mit der Nase ohne Fehl, etc. schildert: so verlangt er nicht, daß wir uns eben die Alcimna vorstellen, die er selbst in Gedanken hatte; nicht, daß wir aus denen Zügen, die er uns giebt, dieses sein Bild zusammensetzen: er verlangt blos, daß wir uns die schönste weibliche Gestalt vorstellen sollen, die wir jemals gesehen haben. Seine Beschreibungen soll uns ihre Züge nur eingedenk machen. Das Individuelle einer ganz fremden Gestalt darf also der Dichter nicht schildern: und der Maler nicht das Individuelle einer ganz unbekannten Handlung. Der erste muß bey | Schilderungen von Körpern, entweder in bekanntes Bild des Gegen- [62] standes, wenn es ein Individuum ist, oder eine allgemeine Kenntniß desselben,

290 | 4 Rezensionen wenn es ein unbestimmter Gegenstand ist voraussetzen können; und wenn die Malerey Handlungen vorstellen will, so müssen diese entweder aus der Geschichte schon bekannte, oder es müssen ganz allgemeine Handlungen seyn. Wir haben vielleicht diese Betrachtungen zu lange verfolgt; zumal, da sie sich mit nichts anderm endigen, als die Praxis der Künstler und Dichter zu rechtfertigen, ohne denselben neue Regeln zu geben. Unterdessen ist dieß vielleicht die einzige Absicht, die sich die Philosophie bey den Künsten vorsetzen darf; und diese Absicht ist nicht verächtlich, wenn es nicht alle Untersuchungen sind, wodurch Begriffe, die schon klar waren, deutlich werden. ‒ Dieser erste Theil unsers Buchs endigt sich mit der Untersuchung, wie weit sich Häßlichkeit mit dem Schrecklichen und Häßlichen vermischen könne, und was der Ursprung und die Wirkung des Ekels sey. Häßlichkeit erregt Unwille. Mit ihr kann die Schädlichkeit verbunden seyn, die Schrecken erregt; aber dieses Schrecken wird von der Häßlichkeit nicht vermehrt; es wird sogar dadurch geschwächt, wenn die Widrigkeit des Anblicks stärker wirkt, als die die Schädlichkeit des Kraft. ‒ Das Lächerliche entsteht allemal aus einen Contraste. In sofern also das Häßliche mit andern Eigenschaften contrastiret, ohne den Begriff [63] von | Schädlichkeit zu erregen, in sofern kann es ein Mittel geben lächerlich zu machen; ‒ und wir setzen noch hinzu, eben weil das Häßliche am meisten und mit den mehresten Eigenschaften in Contrast gesetzt werden kann, eben deswegen ist es am öftersten ein Ingredienz des Lächerlichen. Eine Art von Mißhelligkeit, von Nichtübereinstimmung erfordert das Lächerliche immer, und diese sobald sie sichtbar ist, wird wenigstens in gewissem Grade häßlich. Aber es giebt demunerachtet lächerliche Contraste, ohne Häßlichkeit. Wenn aber das Häßliche durch den Contrast lächerlich werden soll: so muß das was mit demselben contrastirt wird, eben so sinnlich klar seyn, als das Häßliche selbst; und eben deswegen ist der Künstler von dem Gebrauche des Häßlichen größtentheils ausgeschlossen; weil bey ihm der Eindruck, den die Gestalt macht, jeden andern zu sehr überwiegt. Ekel ist eigentlich das, was unserm Geschmacke widrig ist. Der Geruch nimmt daran Theil, weil er nur eine feinere Art von Geschmack zu seyn scheint. Jeder andrer Sinn könnte Ekel nicht anders, als durch die Association von Geschmacksideen erregen. Er ist unbrauchbar für den Dichter, wie für den Maler, weil er sich mit keiner andern Empfindung vermischt. [250] Wir sind nicht mehr die rechten Richter über Homers Werke, sagt der Verfasser im Anfange des zweyten Theils. ‒ Das ist sehr wahr; und die Gründe sind es auch, die er dafür anführt, nur das Beyspiel ist es vielleicht nicht, worauf er diese Gründe anwendet. ‒ Wenn es unmöglich ist, den ganzen vollen Sinn des Dichters durch seine Worte zu überkommen: so ist es auch unmöglich, alle Übereinstimmungen, alle Schicklichkeiten der Begriffe unter sich, und der Ausdrücke mit den Begriffen gewahr zu werden, worinn die Vortrefflichkeit eines Dichters eigentlich besteht ‒ so ist es also auch ungerecht, ihm diejenigen Unschicklichkeiten beyzumessen, die sich unter den Begriffen finden, so wie sie bey uns nach unsrer Denkungsart, Verfassung und Sprachkenntniß durch seine Ausdrücke sind erregt worden. ‒ Wenn

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wir sagen, den ganzen Sinn des Dichters fassen, so heißt das nicht bloß, Vorstellungen haben, die den einzelnen Vorstellungen des Dichters gemäß sind. ‒ Das ist möglich, obgleich auch selten bis auf die feinern unmerklichen und in der Wirkung doch oft sehr erheblichen Bestimmungen: sondern es heißt auch, zu dem Ganzen der Rede die correspondirende Reihe von Empfindungen und Erinnerungen in | sich [251] finden, aus welchen dieselbe entsprungen war; und das ist im eigentlichsten Verstande nur denen möglich, die mit dem Dichter einerlei Natur, und Menschen und Sitten vor Augen gehabt haben, deren Begriffe durch eben solche Erfahrungen, wie seine eigne waren, sind gebildet worden, deren Gedächtniß oder deren Einbildungskraft also schon diejenigen Objekte oder ihres gleichen enthält, die der Dichter schildert. ‒ Selbst alsdann, wann die Sprache des Dichters noch eine lebende Sprache ist, kann dieser Sinn desselben verloren gegangen seyn. Denn obgleich alsdann dasjenige, was seine Worte und Ausdrücke sagen wollen, durch eine innere Empfindung erkannt wird: so giebt diese Empfindung doch oft nicht mehr dasselbe an, was sie zur Zeit des Dichters hießen. Die Ideen, die mit den Worten verbunden sind ändern sich; die Worte bleiben. Man bildet sich ein, noch immer das Alte zu sagen, und man denkt sich in der That etwas verschiednes. Könnte man diese Abänderungen gewahr werden, indem sie geschehen, so könnte man sie auch schätzen; man könnte die hinzugesetzten oder umgewechselten Bestimmungen angeben, und so den alten Begriff wissen, ob man gleich den neuen gebrauchte. Aber wir werden diese Änderungen nicht gewahr. Einmal deswegen, weil der bloß gesunde Verstand sich die Bedeutungen der Wörter nicht durch Auflösungen in ihre Bestimmungen, sondern durch schleunige Anwendung auf das Einzelne, auf ein Beyspiel, einen Fall, aufklärt; man nimmt jedesmal das Wort in der Bedeutung, in welcher es | auf [252] das Beyspiel paßt. Wenn sich nun der Gegenstand selbst unvermerkt ändert: so ändert sich auch der Begriff des Worts ohne unser Bewußtseyn, wofern man ihn nur in der Anwendung, niemals abgesondert und einzeln gedacht hat. Überdieß ‒ Dasjenige, wodurch man sonst am leichtsten Veränderungen, die mit unsern Ideen vorgegangen sind, gewahr wird, indem man nämlich ihre Verschiedenheit von anderer ihren bemerkt, die indessen unverändert geblieben sind, dieses, sagen wir, fällt weg, wo die Änderung durchgängig und allgemein ist. Der Maaßstab, und die Größe die wir messen wollen, hat sich zugleich geändert. Aber ob nun dieses von γελοῖον statt habe; ob hier wirklich Veränderung der Sitten und der Denkungsart eine solche Verschiedenheit des Begriffs habe hervorbringen können; ob γελοῖον das Angenehme, und γέλως die ewige ungestörte Heiterkeit der Götter heißen könne: daran zweifeln wir. Zuerst gehört das Lachen kaum unter die Klasse von Begriffen, die einer solchen Änderung fähig sind. Wenigstens, wenn sich die Bedeutung dieser Wörter geändert hätte, so würden sie sich auf eine ganz entgegenstehende Art haben ändern müssen. Und wie uns deucht, bestätigen dieß die Beyspiele. Das Lachen ist eine körperlich sichtbare, immer gleichförmige Handlung; man kann sich niemals dabey irren, was ein Wort bedeute, das einmal | zum Ausdrucke [253]

292 | 4 Rezensionen dieser Handlung ist gewählt worden. Überdieß ist es der merklichste, der sinnlichste Ausbruch der Freude. Es ist also schon zu vermuthen, daß man diese Art des Vergnügens am ersten wird bemerkt und benennt, daß man alle andre Arten anfangs damit wird vermischt haben, und daß das Lachen und die Freude in der ältesten Sprache gleich viel bedeute; die Gattung, der Grad des Vergnügens, welcher sichtbare Wirkungen hat, wird die Stelle des Vergnügens überhaupt einnehmen. Die Begriffe von Ruhe und von Lust, von stiller Befriedigung, und von rauschender Frölichkeit liegen noch vermischt bey einander; eine genauere Beobachtung wird sie erst absondern, und ihre Gränzen durch Wörter festsetzen müssen. Wenn also γέλως das Gelächter, und γελοῖον das Lächerliche in der jüngern Sprache heißt, da die Begriffe des stillen Vergnügens schon vorhanden, und von der lachenden Freude abgesondert waren: so hat es wahrscheinlich in der ältesten Sprache noch weit mehr dieses bedeutet; da jener erste Begriff noch beynahe fehlte, und man deutlich kaum eine andre Freude kannte, als das Lachen. ‒ Der Übergang in den Begriffen einer Sprache geschieht größtentheils vom Sinnlichen zum Moralischen, vom Besondern zum Allgemeinen, vom Concreten zum Abstracten. Es wäre also natürlicher, wenn aus dem, was zuerst Gelächter hieß, in spätern Zeiten die Freude, als daß aus der Heiterkeit das Lachen, und aus dem Angenehmen das Lächerliche geworden seyn sollte. [254] Und so verstanden es auch alle Ausleger des Homers; so versteht es Plato, der dieses Lachen der Götter, als eine ihrer Natur widersprechende Handlung, den Dichtern seiner Republik nachzuahmen verbietet. So verstund es Eusthatius, der freylich die Sprache des Homers, so gut wie wir, als eine todte Sprache gelernt, aber der sie doch wenigstens sorgfältig studirt hatte. Ohne die Erklärung des γνέλως ἄσβεςτος zu rechtfertigen, die er schon als unstreitig voraussetzte, bemerkt er nur bloß die Verschiedenheit, die Homer unter den Charakteren seiner Götter beobachtet. Jupiter ist still und unbewegt, Juno lächelt, die übrigen Götter lachen laut. So läßt Homer den Jupiter im 4ten Buche nur lächeln, als Minerva der verwundeten Venus spottet. ‒ Diese Anmerkungen mögen vielleicht dem Homer mehr Absicht bey der Wahl seiner Wörter geben, als er selbst gehabt hat; aber sie zeigen doch wenigstens so viel, daß seine Sprache selbst noch einen andern auch sichtbaren Ausbruch der Freude zu nennen wußte, der aber dem innern stillen Vergnügen schon näher kam; und wenn er also diesen hier nicht gewählt hat: so ist es wahrscheinlicher Weise, weil er hier an diese innere Freude weniger dachte. Uns ist vorgekommen, als wenn man durch die Vergleichung der frühern und spätern Schriftsteller, die Folge der Begriffe, die das Wort γελοῖον gehabt hat, auf [255] folgende Art fände. Zuerst hieß es lächerlich, alles was Lachen erregt ohne Be|stimmung, ob es bloß Vergnügen mache als neu und außerordentlich, oder ob es zugleich Verachtung errege als mißhellig und unschicklich. Nach der Zeit sonderte sich γελοῖον von γελαςτὸν ab; und bedeutete nur das Belachenswerthe, das Lächerliche durch Ungereimtheit. Zuletzt verlor es sogar zuweilen den Begriff des Lächerlichen, und behielt bloß den Begriff des Ungereimten, des Widersprechenden.

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Aber deswegen ist Homer nichts schwerer zu rechtfertigen; oder vielmehr eben diese Versetzung in sein Zeitalter und in seine Begriffe kann uns zeigen, daß wir ihn gar nicht zu rechtfertigen brauchen. Denn wenn das heftige Lachen bey uns unanständig ist, war es deswegen auch nach der Meynung her damaligen Zeit? wenn es bey uns wirklich das Zeichen der Ausgelassenheit oder der Schwäche des Geistes ist: konnte es niemals aus andern Quellen entspringen? Zuerst, warum schämen wir uns zu lachen, wenigstens laut und lange zu lachen? ‒ Weil das Gelächter gemeiniglich durch Kleinigkeiten erregt wird; weil wir einem Geiste, der sich lange bey Kleinigkeiten verweilt, von Kleinigkeiten heftige und daurende Eindrücke bekömmt, nicht viel Stärke, wenig Aufmerksamkeit auf große und wichtige Gegenstände zutrauen; weil es gemeiniglich eine Leere von andern Vorstellungen anzeigt, von einer einzigen, die etwas sonderbares und neues hat, so stark gerührt zu werden. ‒ Ferner um laut und lange | zu lachen, muß man in [256] einem Rausche, in einem gewissen Taumel seyn; die denkende Kraft muß ruhen; die Einbildungskraft muß allein geschäfftig seyn, und zwar nur die, welche flatterhafte und groteske Bilder zusammen setzt. Ein solcher Zustand ist immer eine Zerrüttung der Seele, eine Erschütterung, die sie aus ihrer gehörigen Lage bringt; ‒ und in dieser Betrachtung mißbilligte ihn Plato. Aber muß das nothwendig immer so gewesen seyn? In einem weniger cultivirten Zustande waren die Ausbrüche aller Empfindungen heftiger. Die Freude lachte laut, der Schmerz schrie, die Betrübniß heulte, und wälzte sich im Staube. So lange die Seele noch nicht durch eine Menge ihr immer gegenwärtiger Ideen und Anschläge, von dem Anblicke des Wirklichen abgezogen und zerstreut wurde: so lange mußte sie von jeder neuen außerordentlichen Sache lebhafter gerührt werden. Und so lange der Mensch noch durch nichts zurückgehalten wurde, seine Eindrücke ungemessen und so wie sie wirklich waren, zu erkennen zu geben: so äußerte sich auch diese lebhaftere Rührung in gewaltsamern Bewegungen. Er konnte sich stärker über einen kleinen Umstand freuen; und er ließ es ungescheuter sehen, wie sehr er sich freute. Damals also waren zum Theil jene Fehler, die uns das Lachen verächtlich machen, noch keine Fehler, weil die entgegenstehenden Vorzüge noch nicht dem Zustande des menschlichen Geschlechts angemessen waren; zum Theil wurden sie nicht als Fehler erkannt und vermieden. Wenn also die Helden sich des lauten Lachens nicht schämten, so konnte Ho- [257] mer seine Götter sehr wohl laut lachen lassen. Die ewige allgenungsame Seligkeit war ein Begriff, den man noch nicht kannte. Aber die Frölichkeit und das Lachen kannte man. Was konnte man den Göttern bessers geben, als sie an der Glückseligkeit der Menschen Theil nehmen lassen. Diesem besondern Beyspiele fügt der Verf. einige Anmerkungen über das Lächerliche in der Epopee überhaupt bey. Ist es durchaus seiner Würde entgegen? ‒ Entweder sind es die Personen selbst, oder es ist der Leser, welcher lacht. Im ersten Falle kann das Anständige dieses Lachens eben so mannichfaltig seyn, als es die Ursachen desselben sind. Wenn es überhaupt eine menschliche Handlung ist, wenn

294 | 4 Rezensionen es auch zuweilen die Handlung eines Helden seyn kann: so darf auch der Dichter, der den Menschen und den Held schildert, ihn in dieser Handlung nachahmen. Aber es muß nicht Hauptcharakter desselben seyn. ‒ Sind wir es selbst, bey denen Lachen erregt wird: so ist es entweder ein Lachen des Vergnügens, oder der Verachtung. Wer kann zweifeln, daß das erste erregt werden dürfe; und das andre bey gewissen Personen und Umständen erregt werden müsse? Bewunderung soll die Epopee wirken; aber nur im Ganzen, nicht durch Theile, die einzeln wieder auch weiter nichts, als Bewunderung erregen. [258] Die Bewunderung, könnte man sagen, ist nicht, wie der Zorn, das Mitleiden, die Freude, eine Empfindung, die unmittelbar aus dem Eindrucke der Sachen selbst entspringt; sie ist nur die Begleiterinn, die Folge, das Resultat andrer Empfindungen. Sie ist die Wahrnehmung eines Verhältnisses, sie setzt eine Vergleichung einer Wirkung mit der Ursache, einer Handlung mit der Kraft, oder einer Größe mit einem gewissen Maaßstabe zum voraus. Sie kann also aus einer Reihe ganz von ihr verschiedner Eindrücke entstehen, wenn diese nur in ihrer Vereinigung der Seele das Bild der Größe der handelnden Personen oder des hervorbringenden Geistes zurücklassen. Die zwote Untersuchung des Verf. ist: Wie weit kann die Mythologie in einem christlichen Gedichte statt finden? Gleich anfangs muß man von dieser Untersuchung ausschließen, ‒ einmal die Dichter, welche lateinisch geschrieben haben; bey diesen ist das Eigenthümliche der Sprache und das Eigenthümliche der Begriffe und der Meynungen des Alterthums zu sehr unter einander gemischt; es ist schwer zu bestimmen, wie weit man die römische Denkungsart und ihre Begriffe annehmen müsse, wenn man im Geiste ihrer Sprache schreiben will. ‒ Zum andern die Dichter, die zur Zeit der Wiederherstellung der Wissenschaften schrieben, und ihren Stoff selbst aus einer Religion nahmen, die voll von Ungereimtheit und Aberglauben war. Das erste vergrößerte [259] den | Einfluß der alten Denkmäler und Schriften, weil sie das einzige Muster, und die Ähnlichkeit mit ihnen der einzige Zweck war. Das zweyte verbarg die Ungereimtheit der heidnischen Religion, oder vertrug eher eine Vermischung von beyden. ‒ Also wird nur hier gefragt, was bey aufgeklärten Religionsbegriffen, ein Dichter der in seiner Sprache schreibt, von der Mythologie brauchen könne? Er kann nicht aus derselben handelnde Personen seines Stücks nehmen, und sie mit Personen aus der Religion, als gleich wirkliche Wesen auftreten lassen; eben so wenig in seiner Person mit dem Schein eines gleichen Glaubens von beyden reden. Aber sehr wohl wird er den Theil der Mythologie brauchen können, der entweder als Geschichte ein Beyspiel seyn, oder als Allegorie abstracte Begriffe sinnlicher ausdrücken, oder als schon bekannte Dichtung erhabne oder angenehme Ideen in der Einbildungskraft rege machen kann. Diese Bilder sind bereits in jeder Phantasie vorhanden, sie drücken also die Sachen fast eben so aus, wie die Beschreibung; nur kürzer, nur begleitet mit der Erinnerung an alle die großen und schönen Gemälde, die wir aus der Lesung der Dichter damit zu verbinden gewohnt sind.

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So weit ist alles wahr und gründlich. Aber nur in den Beyspielen scheint unser Verf. nicht richtig zu seyn. Wenigstens die Portia und der Salomon gehören sicher nicht hieher. Denn wer kann es wohl jemals geläugnet haben, daß, wenn | in einem [260] Gedichte eine heidnische Person aufgeführt wird, sie von ihren Göttern mit Glauben und Überzeugung reden dürfe; daß wenn eine Römerinn spricht, sie vom Sokrates, wenn ein abgöttischer König, daß der von Moloch und seinen Geistern reden dürfe. Davon kann, bey der Frage ob Mythologie in einem christlichen Gedichte erlaubt ist, unmöglich die Rede seyn; und davon war sie es auch nicht in den vorhergehenden Regeln. Aber kann die Mythologie wohl auch dem Dichter zu Ideen verhelfen, Gott abzubilden? Unser Gott kann schlechterdings gar nicht abgebildet werden: Denn wie will man ihn vorstellen? In Wirksamkeit und mit Äußerung von Kraft? Aber jede Wirksamkeit kann sichtbar nur durch Bewegung, und die Kraft nur durch Anstrengung angedeutet werden. Und Gottes Wirksamkeit ist sein unveränderlicher Wille. ‒ Oder in Ruhe? ‒ Aber wie läßt sich die Unthätigkeit davon trennen? Auch die biblischen Ausdrücke, die Gott körperliche Gliedmaßen zuschreiben, können hier nichts entscheiden. Sie sind mehr eine symbolische Sprache, aus welcher der Verstand die Eigenschaft schließt, als eine bildliche Vorstellung, unter welcher die Einbildungskraft sie sich sinnlich machen könnte. Noch ein Wort vom Homer, und von der Nothwendigkeit oder Unmöglichkeit, (jedes in gewissem Verstande,) sich in die Verfassung zu setzen, in der seine Zeitgenossen ihn lasen. Die Frage ist, dünkt uns, nunmehro völlig entschieden, ob jeder | Dichter Schönheiten habe, die derjenige nur fühlt, dessen Muttersprache die Spra- [261] che des Dichters ist, der die Begriffe zu den Wörtern schon in sich, und die Gegenstande zu den Begriffen ringsum sich her, oder in seinem Gedächtnisse findet. Aber die Frage ist es noch nicht: Was muß man thun, um sich in diese Verfassung zu setzen? ‒ oder wenn dieses nicht durchaus möglich ist, welche Schönheiten bleiben noch übrig, und was für ein Gebrauch läßt sich von diesen machen? Über die erste von diesen beyden Fragen wären unsre Gedanken ungefähr diese: Es ist gewiß, daß unter die unbenannten, und eben deswegen weniger wahrgenommnen Vorzüge gewisser menschlicher Geister, auch eine Fähigkeit gehört, die wir nicht besser als die Biegsamkeit zu nennen wüßten, und die in der Leichtigkeit besteht, viele analogische Begriffe nach dem Muster einiger weniger zu machen. Es ist ferner gewiß, daß es eine solche Analogie, eine allgemeine Ähnlichkeit unter den Umständen, den Sitten, den Begriffen, den Ausdrücken jeder Zeit und jedes Volks giebt; daß in denselben jedes Stück von den übrigen abhängt, und auf die übrigen einen Einfluß hat; und daß wie in der Leibnitzischen Welt, ein Geist, der diese Verbindungen vollständig einsähe, der die Wirkung auf alle ihre Ursachen zurückzuführen, und aus der Ursache die ganze Wirkung zu schließen wüßte, aus einem einzigen Zuge, aus einer Rede, aus einer Handlung vielleicht das ganze | System von [262] Denkungsart und Sitten, und die gesammte Verfassung der Person oder der Zeit und des Volks würde herausbringen können. So weit können wir nun freylich nicht

296 | 4 Rezensionen kommen. Aber wenn es doch in den Dingen eine solche Übereinstimmung, und in uns eine Fähigkeit giebt, die diese Übereinstimmung gewahr wird, sie dunkel erblickt, nach ihr sich neue Bilder zusammmensetzt, auch ohne sich der Regel dieser Ordnung bewußt zu seyn; wenn nahe verbundne Dinge in der Natur eine ähnliche Form eine gemeinschaftliche Farbe, und wir das Vermögen haben, diese Form, diese Farbe zu empfinden, sie so zu sagen selbst anzunehmen: so ist es auch in der That möglich, sich durch das bloße Lesen des alten Dichters selbst, einen weit ausgebreitetern Begriff von seines Volks und seiner Zeit Sitten und Denkungsart zu erwerben, als der lediglich auf die Begebenheiten und die Reden eingeschränkt wäre, die uns in ihm erzählt werden. Dazu nun ist das Lesen in der Originalsprache, aber ein öfters wiederholtes Lesen, das sicherste. Auf deutliche Begriffe können wir zwar die Bedeutungen der Wörter, und oft auch den Sinn ganzer Sätze nicht immer bringen, ohne denselben etwas fremdes unterzuschieben: Aber empfinden können wir wohl, daß sie noch etwas andres sagen wollen; und durch die Zusammenstimmung der Begriffe unter welchen sie stehen, ihren Mitklang ihren wahren Ton vernehmen, wenn wir auch ihn weder zu beschreiben, noch ihn einzeln anzugeben [263] vermögend wären. Und hat man nun einmal das | Eigenthümliche der Ideen des Autors in seiner eignen Sprache, obgleich auch nur dunkel, gefaßt: so stellen sie der Seele weit richtigere und genauere Muster vor, wornach sie sich die fehlenden Theile ergänzen kann; so geben sie ihr weit mehr den Ton, in welchem sie zur Nachbildung des Ähnlichen geschickt ist: als alles, was man auch in den besten Übersetzungen an die Stelle dieser Ideen setzen könnte. Jungen Lesern des Homers würden wir folgenden Rath geben: Wenn ihr euch eine allgemeine Kenntniß der Sprache erworben habt: so lernet nunmehr das, was dem Homer und seiner Sprache eigen ist, bloß durch ihn selbst kennen. Zuerst zwar wird die Menge des Unbekannten zu groß seyn; und es ist nothwendig, den Sinn der Wörter und Ausdrücke nur erst im Groben, so wie ihn Auslegungen und Wörterbücher geben können, zu wissen. Diese erste Lectüre ist für den Endzweck, den ihr jetzt habt, verloren. Aber ihr werdet sie auch nicht durch das ganze Werk fortsetzen dürfen. Des Bekannten wird in kurzem so viel seyn, daß ihr das Fremde eben so richtig daraus werdet schließen können, als ihr es in den Auslegern würdet gefunden haben. Fanget alsdenn diese Lectüre wieder von vorne an: unterbrechet sie so wenig als möglich, weder durch Erklärungen, die ihr suchet, noch durch Betrachtungen, die ihr darüber anstellet. Mischet keine fremde Absicht, die sich bloß auf euch, eure Gelehrsamkeit und euren Ruhm bezieht, unter die Eindrücke, mit denen [264] ihr | leset, und die bloß von dem Dichter herkommen müssen. Seyd so wenig als möglich selbstthätig, und überlasset euch mit eurem ganzen Geist der Führung des Autors. Lasset jedesmal die zweyte Lectüre folgen, wenn ihr noch von der ersten erwärmt seyd. Nur müsse eure Einbildungskraft genau den Bildern nachgehn, die euch der Dichter vorzeichnet. Verlasset keine Stelle eher, bis ihr das Gemälde in derselben erst ganz und sicher gefaßt habt. Erhaltet in euch immer genau die Empfindung von dem Zusammenhange der Begebenheiten unter einander, oder der

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Reden mit den Begebenheiten und Personen; und glaubet nur gewiß, daß es Dunkelheit oder Irrthum in dem Sinne ist, den ihr dem Dichter beyleget, so oft ihr diesen Zusammenhang verlieret. ‒ Wenn Begriffe von einer fremden Art in der Seele Platz nehmen sollen, so ist es nothwendig, daß man ihnen Raum machen, daß man der Seele Zeit lassen muß, sich bey ihnen zu verweilen. Sie müssen auf eine Zeitlang die herrschenden seyn. Am meisten wahre brauchbare Philosophie herrscht in dem zweyten Abschnitte dieses Theils von der Schamhaftigkeit. Aber warum muß eben dieser Theil durch die Sonderbarkeit des Ausdrucks am meisten entstellt werden? Wir empfinden ungefähr, woher der Fehler kommt, und es ist gewiß der Fehler eines guten Kopfs, aber eines solchen, der seine Begriffe noch nicht bis zur genausten Deutlichkeit gebracht hat. ‒ | Ein schlechter Schriftsteller, der nur Wörter und [265] Redensarten zusammensetzt, und durch diese erst die Begriffe in sich erweckt, wird immer bey dem Gewöhnlichen bleiben, weil er nur für Zeichen, die er schon andre hat brauchen sehen, Gedanken, nicht für noch unausgedrückte Gedanken Zeichen sucht. ‒ Derjenige, welcher seine Ideen bis auf den Grund durchgesehen, sie von allen angränzenden Ideen abgesondert hat, wird sich zugleich mit der Idee auch einen Ausdruck denken, der derselben auf einmal genug thut, der keinen weitern Zusatz, keine Vergrößerung braucht, um ihren ganzen Umfang zu erfüllen. ‒ Wenn aber die Vorstellung noch dunkel im Grunde der Seele liegt, und durch den Ausdruck, den man sucht, so zu sagen, erst herausgezogen, und ans Licht gebracht werden soll: dann ist nichts gewöhnlicher, als die Ausdrücke zu häufen. Man bringt den Gedanken nur stückweise hervor, und weil also nach unsrer Meynung kein Ausdruck die ganze Idee erschöpft, oder ihre volle Stärke sehen läßt: so sucht man ihn immer mit einem neuen zu ergänzen oder zu verstärken. Metaphorische Ausdrücke wechseln mit eigentlichen ab; man verliert darüber das rechte Maaß und die Gränze der Idee selbst; und von Satz zu Satz wird man immer gesuchter, unnatürlicher und zuletzt abentheuerlich. Das System des Verfassers in dem Lichte, in welchem wir es sehen, ist folgendes. Die Ausdrücke sind unser; aber die Begriffe werden, wie wir denken, seine seyn, oder solche, die aus den seinigen folgen. Die Schaam überhaupt bezieht sich allemal auf den Begriff von etwas Unanstän- [266] digem. Das Lasterhafte einer Handlung erweckt Abscheu, der Schaden, den sie bringt, erweckt Reue und Betrübniß; ihre Unanständigkeit erweckt Schaam. ‒ Aber worinnen besteht nun diese Unanständigkeit? Es giebt vielleicht keinen moralischen Begriff, der so schwer im Allgemeinen zu entwickeln wäre, wenn alle besondre Fälle unter demselben enthalten seyn sollen; oder vielmehr die Beschaffenheiten der Dinge, aus welchen derselbe entsteht, sind so sehr verschieden; die Ursachen, die diese Empfindung erregen, sind einander so unähnlich, daß man am besten thut, die Klassen dieser Dinge und dieser Ursachen bloß anzuzeigen, ohne sie unter einen gemeinschaftlichen Hauptbegriff zu vereinigen.

298 | 4 Rezensionen Es giebt eine natürliche Schaam, und davon ist eine Art diejenige, welche uns die Handlungen zu verbergen lehret, die zur Befriedigung eines der vornehmsten unsrer Triebe gehören. Diese Schaam mag nun entweder eine ursprüngliche unmittelbare Bewegung der Natur, oder sie mag auf den Reiz gegründet seyn, den unser Vergnügen durch Widerstand erhält; oder sie mag den Ausschweifungen vorbeugen sollen: so ist es gewiß, diese Empfindung ist allgemein, und ihr Grund liegt in der Einrichtung unsrer Natur. ‒ Es giebt eine gesellschaftliche Schaam, die uns über gewisse Sachen als unanständig zu erröthen gewöhnt, bloß weil wir sie bey allen [267] andern dafür angenommen sehn.| Diese Empfindung entspringt nicht aus der Vorstellung der Sache selbst, sondern aus den Vorstellungen, die andre von dieser Sache haben. Durch Unterricht lernten wir zuerst dieses Unanständige kennen; Beyspiel und Nachahmung machten, daß wir es zuletzt selbst dafür ansahen. Aber so wie alle gesellschaftliche Einrichtungen auf die natürlichen sich gründen, so auch hier. Es würde kaum unanständige Dinge durch Verabredung geben, wenn es nicht unanständige Dinge an und für sich selbst gegeben hätte. Es giebt einen Übergang von dem einen zu dem andern, durch den man das Verhältniß zwischen beyden kennen lernet. Die Naturempfindung verlangt die Handlungen des Instincts zu verbergen; ‒ also werden auch die Theile des Körpers verhüllt werden müssen, die zu diesen Absichten bestimmt sind ‒ also wird man auch diese Handlungen und diese Theile nicht in seinen Reden anzeigen dürfen, ‒ also wird man auch die Ausdrücke vermeiden müssen, die an dieselbe nur durch gewisse Nebenideen erinnern können; ‒ also wird zuletzt, wenn man auf diese Nebenbegriffe mehr Acht gehabt hat, jedes Wort, jede Redensart unanständig seyn, die durch den Schall, oder sonst irgend eine zufällige Beschaffenheit die Vorstellung des Unehrbaren veranlassen kann. So ist von Stufe zu Stufe der Fortgang und die Erweiterung dieses Begriffs sichtbar; aber die Gränzen sind vermischt, wo die natürliche Empfindung sich verliert, und die bloße Gewohnheit an ihre Stelle tritt. [268] Eine andre Quelle natürlicher Schaam ist der Ekel. Was diesen erweckt, das lehrt uns unsre Empfindung vermeiden oder verbergen. ‒ Und hier hat die Einbildungskraft und die Willkühr eben so viele und eben so aneinander hängende Zusätze gemacht. Wenn es natürlich ist, Handlungen, die Ekel erwecken, nicht zu thun, so wird es auch noch natürlich seyn, sie nicht zu nennen, wenn es nicht durchaus nothwendig zur Absicht des Redenden ist; man wird also auch diejenigen Gegenstände in der Natur entfernen und verschweigen müssen, die mit dem natürlich Ekelhaften eine Ähnlichkeit haben, oder daran erinnern können. Die Anzahl dieser Dinge nimmt immer mehr zu, je mehr unsre Achtung durch unsre Erziehung und unsre Lebensart auf eine kleinere Anzahl von Dingen eingeschränkt wird. Zuletzt wird eine freywillig angenommene Delikatesse daraus, die sich bey tausend Sachen einen Ekel angewöhnt, an denen unsre Empfindung nichts widriges bemerket. Von beyden Arten der Schaam ist die moralische ganz unterschieden, dieser Verdruß über das Zeichen von Unvollkommenheit und Verderben, das wir durch

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eine lasterhafte Handlung gegeben haben. Der gemeinschaftliche Name ist vielleicht mehr auf das Ähnliche in ihren Äußerungen und Folgen, als auf das Gleichförmige in den Empfindungen selbst gegründet. Es ist also nun die Frage: Was kann es in diesen Empfindungen für Unterschiede nach Zeit und | Ort und Umständen jeder Gesellschaft geben; und wie müs- [269] sen wir diesem Unterschiede zu folge das, was in den Dichtern und Schriftstellern jeder Nation unanständig sey, beurtheilen? Zuerst also nach den verschiedenen Zeitpunkten des menschlichen Geschlechts. Je mehr der Trieb der Natur noch einfach und mit dem Endzwecke der Natur unmittelbar verbunden war; je weniger noch der Mensch die Gränzen, die dieser Endzweck dem Triebe setzet, überschritt; je minder künstliche Reizungen demselben zugesetzt waren, und ihn dadurch zu Ausschweifungen veranlaßten; mit einem Worte, je unschuldiger der Mensch war: um desto unverhohlner wird er von seinen Begierden und ihren Gegenständen geredet haben. Ein Bedürfniß galt bey ihm noch eben so viel, wie das andre. Warum sollte man eine Sache nicht nennen, die gedacht werden mußte, und bey der man keine Gefahr voraussehn konnte, da man sich selbst keines Fehlers dabey bewußt war? Die Absicht, entweder bey sich selbst einer sträflichen Begierde durch solche Reden zu schmeicheln, oder sie bey andern zu entzünden, kannte man noch nicht. Die Nacktheit ist allemal die Begleiterinn der Unschuld. Sobald aber diese ersten natürlichen, mit neuen selbst gemachten und künstlichen Begierden sich verstärkten; sobald der Instinkt zu einer moralischen Neigung wurde, die durch Erinnerungen geschmeichelt, durch Bilder der Imagination aufgebracht,| durch Vorstellungen des Witzes und der Reflexion selbst, unterhalten und [270] genährt wurde: dann fieng man an bey seinen Reden von dieser Sache eine geheime Absicht zu haben. Man wollte entweder seiner eignen Lust eine Nahrung geben, indem man das Andenken derselben erneuerte, oder man wollte die Begierde andrer reizen. Das, was man dachte, was man von andern wollte gedacht wissen, gieng über das hinaus, was man sagte. Und gerade deswegen mußte man das, was man sagte, verstecken und einschränken. Je mehr Einbildungskraft und Herz von diesen Gegenständen angefüllt wurde, um desto mehr mußte man ihnen in seinen Reden auszuweichen suchen. Einmal, weil es nun schon einen übermäßigen Hang zur Befriedigung dieses Triebes, mit einem Worte, einen Grad von Lüderlichkeit und Ausschweifung voraussetzte, wenn man davon ohne Rückhalt sprach; zum andern, weil die Begierde deren sich jeder bewußt war, wenn er redete, ihn die voraussehen ließ, welche er bey andern veranlassen werde. Man mußte also entweder ein Wollüstling, oder ein Verführer seyn wollen. ‒ So wie das Verderben einer Nation zunimmt: so werden die Ausschweifungen mit ihrer Größe zugleich geheimer gehalten, sie sind mehr Verderbniß des Herzens, als Trunkenheit der Sinnen; die Wollust verbirgt sich unter der Gestalt der guten Lebensart, verschwistert sich mit dem Witze, und nimmt ihren Rang unter den gesellschaftlichen Tugenden ein. Um desto anständiger wird also auch die Sprache,| um so feiner die Anspielungen, um so [271]

300 | 4 Rezensionen versteckter die Winke, wodurch man beyden, der Sinnlichkeit und dem Wohlstande, ein Genüge thun will. Es ist natürlich, daß ein Kopf, der von Ideen dieser Art am meisten erfüllt ist, auch am ersten durch jede Ähnlichkeit des Schalls oder der Sache auf seine Lieblingsgegenstand zurückgeführt wird, und daß also der Wollüstling in tausend Ausdrücken einen geheimen Sinn entdeckt, bey welchem der Unschuldige an nichts weiter zu denken veranlaßt wird, als was ihre unmittelbare Bedeutung ist. Weil man also diese Wörter nicht eher vermeidet, bis man sie zuvor entdeckt, bis man ihre mögliche Nebenbedeutung ausfindig gemacht hat; weil man dieß nicht thun kann, ohne viel Aufmerksamkeit auf die Sache zu haben, die man allenthalben findet; weil diese Aufmerksamkeit nur von der Heftigkeit der Begierde herkommen kann: dieß ist die Ursache, warum in einem verderbten Volke die Anzahl der verbotnen Ausdrücke am größten ist. Es wird übrigens einem aufmerksamen und selbst unschuldigen Leser sehr leicht seyn, die Freyheit mit der sich ein Alter ausdrückt, und die von seiner Unwissenheit des Bösen herkömmt das bey der Sache seyn konnte, von der Ausgelassenheit des Neuen zu unterscheiden, der eben dieses Böse kennt und zur Absicht hat. Zum andern, in Absicht der verschiednen Nationen ist klar: Erstlich daß, wo das weibliche Geschlecht von dem männlichen ganz abgeson[272] dert ist, wo es eigentlich | gar keinen Theil der Gesellschaft ausmacht, auch diejenigen äußern Tugenden weit weniger geschätzt oder geübt werden, die sich auf dasselbe beziehen, in so fern sie entweder vorzüglich von dem andern Geschlechte, oder um ihm zu gefallen, ausgeübt werden. Die Schamhaftigkeit gehört unter diese Tugenden. Eine Gesellschaft von Männern darf dreuster von gewissen Gegenständen reden, die die Gegenwart des Frauenzimmers unanständig machen würde. Aus diesem Grunde also wird der orientalische Schriftsteller den Wohlstand nicht kennen, den bey uns die Vermischung beyder Geschlechter eingeführt hat. ‒ Zum andern ein kriegerisches Volk, dessen Körper durch die beständigen Übungen hart geworden, dessen Triebe heftig, dessen Empfindungen stark, aber ohne fremden künstlichen Reiz sind, wird seine Neigungen weniger verbergen; auch die Römer also durften unsre Anständigkeit nicht kennen. Zwischen beyden stehen die Griechen. Von der einen Seite machte ihr Klima, ihre Regierungsform, die ganze Einrichtung ihrer Gesellschaft, ihre Empfindungen feiner, und mischte unter die Lust des befriedigten Bedürfnisses die Vergnügungen der Einbildungskraft und des geistigen Gefühls der Schönheit. Von der andern stellten ihre Künstler und ihre Kämpfer ihnen beständig das schöne Nackende vor, und benahmen ihnen die Scheu, die eine beständige ängstliche Verhüllung vor einem [273] nackten Anblicke giebt. Ihre Dichter mußten | also nothwendig mit ihren Künstlern gleiches Recht haben. Feine Wollust und ungezwungner Wohlstand vermischen sich bey ihnen mit einander. ‒ Sie machen das mittlere Glied zwischen der einfältigen Unschuld, die nichts verschweigt, und der wollüstigen Delikatesse, die nichts sagt, und alles versteht.

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In Absicht der Sachen, die Ekel erregen, herrscht ein gleicher Unterschied. Der Sachen, die durch sich Ekel machen, sind wenig, und keine andre kannte das erste Alter der Welt; dererjenigen die ihn durch anklebende Nebenbegriffe machen, sind unzählig; und diese verändern sich nach Zeit und Umständen und Personen. Jeder solcher Nebenbegriffe aber formiret sich erst durch eine gewisse Begebenheit; durch einen Umstand, in welchem sich das Hauptobjekt mit der Empfindung des Ekels zusammenfindet, und sich also in der Imagination vereiniget. Diese Zufälle haben sich nur nach und nach so häufen können, und die alte Welt mußte also nothwendiger Weise weniger von solchen Verbindungen der Begriffe kennen, die nur aus Zufällen entstehen. Überdieß gab man noch mehr auf die Hauptsache, auf die Absicht und den Gebrauch jedes Dinges Acht, und man kehrte sich also weniger an den Anlaß, den man zugleich von demselben zu lächerlichen oder ekelhaften Begriffen bekam. Also werden sich auch hier wieder unsre Schriftsteller viele Sachen zu nennen schämen, von denen die Alten mit Anstand und selbst mit Würde reden konnten. Eine andre Verschiedenheit bringen hier die Sitten und Übungen einer Nation [274] hervor. Der Grieche, der, nachdem er mit Öl gesalbt war, sich im Staube wälzte, fand in der Vorbereitung zu einer Übung, die ihm von der größten Würde und Wichtigkeit zu seyn schien, nichts ekelhaftes. Das Resultat von diesem allen demnach ist: Die Schaamhaftigkeit befiehlt die Reden zu vermeiden, die entweder Wollust oder Ekel erwecken. Entstehen diese Empfindungen also nicht immer durch einerley Gegenstände, durch einerley Vorstellung derselben: so wird es auch nicht zu allen Zeiten einerley Schaamhaftigkeit geben. Um zu wissen, wer dieselbe beobachtet, wer gegen sie sündiget, müssen wir erst untersuchen, was jeder bey dem, was er schrieb, dachte, und woran er diejenigen zu denken veranlaßte, für welche er schrieb. Die Wirkung, die er voraussah und suchte, nicht die, welche er bey uns veranlasset, ist das Maaß seiner Tugend. Die Anwendung dieser Grundsätze auf den Virgil übergehen wir ganz, und dieß um desto lieber, weil der Verfasser noch mehr seinen Charakter, als seine Schriften zu retten sucht. Aber was er von dem Horaz sagt, verdienet noch einige Augenblicke unsre Aufmerksamkeit. Er erklärt die erste Ode. Horaz, sagt er, wollte in derselben seinen Enthusiasmus für die Dichtkunst, seine hohen Begriffe von der Ehre,| welche dieselbe geben [275] könnte; seine Beeiferung nach diesem Ruhme, rechtfertigen. Er sucht also die Neigungen andrer Menschen auf, und zeigt, wie ähnlich sie der seinigen sind. »Jeder Mensch hat irgend einen Gegenstand, den er über alles liebt, irgend eine Absicht, die er verfolgt, irgend eine Beschäfftigung, von der er sich Ruhm und Glückseligkeit verspricht. Und auch bey jedem mischt sich unter diese Neigung eine geheime Thorheit. Warum sollte ich mir nicht also auch einen Liebling wählen dürfen; gesetzt, daß ich ihn auch zuweilen bis zur Ausschweifung liebte? Warum sollte mir die Muse

302 | 4 Rezensionen und der Dichterkranz nicht eben das seyn dürfen, was andern ihre Reichthümer, das Consulat oder der Preiß in den Olymp. Spielen sind?« Daß diese Erklärung von der Hauptidee dieser Ode die richtige sey, daran zweifeln wir nicht. Sie ist so natürlich, und liegt so offenbar im Ganzen der Ode, daß wir nicht sehen, auf was man eher und leichter fallen könnte. Aber was diese Erklärung Neues und Eignes enthalte, das möchte vielleicht schwerer seyn, ausfindig zu machen. Denn so viel haben fast alle Ausleger gesagt, daß Horaz sich rechtfertigen wolle. Und wie das anders, als durch Vergleichungen? Alles, was der Verfasser mehr sagt, ist nur eine Ausbildung dieses Gedanken. Also nicht in Absicht des Plans, sondern in Absicht der einzelnen Theile müßte es seyn, worinnen er von den übri[276] gen Auslegern abgienge. Und so sehen wir das Ding auch an. Von den | einen nämlich geht er ab, indem er in gewissen Stellen die Absichten verwirft, die sie darinnen finden; von den andern, indem er zu der allgemeinen Absicht des Horazes, die er mit ihnen gemeinschaftlich annimmt, seine Thorheit zu rechtfertigen, noch die besondre bey den einzelnen Stellen hinzusetzt, die Thorheit der andern zu bestrafen. Der eine findet in der Ode nur die Rechtfertigung des Dichters. Rechtfertigung im Ganzen, sagt unser Verf. aber eine vorübergehende feine flüchtige Satyre in den Theilen. Der andre sieht die Satyre für das Hauptwerk an; ‒ und gegen diesen vertheidigt er die alte Bestimmung des Plans. Er vereinigt also beyde: nur daß er die Zwecke einander unterordnet, die man von einander getrennt, und als die letzten angesehen hatte. So weit wäre alles gut. ‒ Aber was nun weiter vom Bentley gesagt wird, scheint uns einen weniger aufmerksamen Leser zu verrathen, als der seyn sollte, der so geneigt ist, mit Bitterkeit zu tadeln. Bentley mag vielleicht kein sehr empfindungsvoller Leser vom Horaz gewesen seyn; aber ein scharfsinniger war er gewiß. Er sagt niemals Unsinn. Seine Betrachtungen gründen sich immer auf etwas richtiges, wenn auch ihr Resultat falsch seyn sollte. Als hier zum Beyspiel: ‒ Kann wohl die Empfindung des ganzen Tons der Ode etwas dazu thun, uns die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der einzelnen Ideen zu zeigen: oder vielmehr kann es eine solche Empfindung des Ganzen geben, wenn man nicht zuvor in den einzelnen Vorstellun[277] gen | was verständliches und zusammenhängendes hat. Und darauf sieht ja hier nur Bentley. Empfindungen erregt der Dichter nur durch Begriffe. Warum sollte ich es mit Mitleiden lesen, wenn diese Begriffe zergliedert werden; wenn man untersucht, ob sie wahr und schicklich sind? ‒ Die Sache ist: es soll eine Lesart ausgemacht werden. Zu dem Ende werden die Verbindungen, die unter den Ideen nach der alten Lesart möglich sind untersucht, und geprüft, ob es passende Verbindungen sind. Und da ist es nun in der That wahr, was er sagt: daß der Dichter mit größrer Richtigkeit von den olympischen Siegern sagen konnte, daß sie zu den Göttern erhoben würden, weil in der That das Alterthum solche Begriffe und solche Ehrenzeichen mit diesem Siege verband, als von den Reichen, deren Vorzüge man sich gar nicht auf diese Art oder unter solchen Symbolen vorstellte; es ist wahr, daß es etwas bemerkenswürdiges und seltnes ist, wenn der arme Landmann, der sein Feld mit eigner

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Hand pflügt, sich durch Hoffnung königlicher Schätze nicht reizen läßt, aufs Meer zu gehen; und daß es hingegen etwas unbedeutendes und kleines sagt: wenn der Reiche oder der Große, der Mann der schon mehr hat, als er auf dem Meere und durch Handlung suchen könnte, jenes scheut und diese verachtet. Das, was er von der Horazischen und Pindarischen Ode überhaupt sagt, die Erklärung einer Ode des Pindars im 3ten Theile dazu genommen, gehört nicht zur Hauptabsicht des Verfassers: aber in | der That ist es der brauchbarste Theil dieses [278] Stücks. Überhaupt gefällt er uns immer besser in allgemeinen Betrachtungen, als in Erklärungen des Einzelnen. Diese Ideen gesammlet und in Ordnung gestellt, würden ein kleines System der Ode veranlassen, das uns aber zu sehr über die Gränzen eines Auszugs hinausführen würde. In dem 3ten Theile werden wir unserm Verf. nicht folgen. Er ist hier in einem Felde, das uns ganz fremde ist, und vielleicht ihm selbst nicht weniger. Mit gesundem Verstande, Scharfsinn und ein wenig Kenntniß kann man sich aus allen Sachen herausziehen. Aber der Kenner unterscheidet doch wohl die Philosophie, die auf einen lange gesammleten Stoff von Wissenschaft und eine vollständige Kenntniß des Gegenstandes baut, von derjenigen, die bloß einige allgemeine bekannte Ideen desselben ausspinnt und zergliedert. ‒ Daß unser Autor sehr viel gutes und wahres auch über die Münzen sagt, das ist unstreitig; aber daß er etwas sagt, das man auch ohne alles Studium dieses Theils, bloß nach den gemeinen Begriffen, die jeder von Münzen und alten Münzen hat, nicht hätte sagen können, das deucht uns nicht. Und in diesem Falle würden wir doch lieber die Philosophie auf solche Gegenstände einschränken, bey welchen keine vorläufige Gelehrsamkeit nöthig ist; wo Aufmerksamkeit das vor Augen liegende zu beobachten, und Scharfsinn es zu zergliedern alles ausrichten kann, wo man so zu sagen, Schöpfer seines eignen Stoffes ist, indem man denselben bearbeitet. Der aufmerksame Leser wird übrigens manche treffliche Anmerkung aus diesem [279] Theile sich auszeichnen. Darunter gehört z. E. diese: »Der Geschmack soll nur die Pforte zur Wissenschaft und der Weg zur wirklichen Kenntniß seyn.« Das sagt unstreitig so viel: Beynahe in allen Sachen ist die Empfindung des Schönen vor der Untersuchung des Wahren vorhergegangen, und hat darauf geführt. Alle natürliche, philosophische und politische Kenntniß war zuerst Poesie, ehe sie Wissenschaft wurde. So ist der Gang des menschlichen Geistes noch. Man entdeckt in einem Gegenstande eine neue Quelle von Vergnügen; man wird aufmerksam; man sucht das Vergnügen durch Nachahmung selbst hervorzubringen; man zergliedert endlich die Ursachen desselben, und findet eine Quelle von Wissenschaft. Man kann also sagen, der Geschmack ist die unentwickelte Summe von Vorstellungen aller der Beschaffenheiten und Verhältnisse eines Dinges, aus welchen das Vergnügen entspringt, und die, wenn sie der Verstand von einander absondert und deutlich macht, zur Kenntniß des Objects werden.

304 | 4 Rezensionen In einer andern solchen Anmerkung untersucht er die Ursachen von den Vorzügen der Griechen in ihrem Geschmacke auf Münzen. Ausser ihrer Liebe für das Schöne, gaben ihre reiche Bildersprache, ihre Religionsbegriffe, die einer sinnlichen [280] Vorstellung | und Schönheit zugleich fähig waren; die Einfachheit ihrer Symbolen von Städten und Ländern, wodurch sie nur den Ort bezeichnen, nicht alle Rechte und Ansprüche des Besitzers ausdrücken wollten; endlich das weniger Umständliche und Individuelle, das sie bey ihren Begebenheiten ausdrückten: alles das, sage ich, gab dem Künstler schönere Ideen, mehr Freyhelt und mehr Größe. ‒ Ein Schriftsteller wie unsrer ist, wird viel ausrichten, wenn er erst über seine rechten Gegenstände kömmt; und wenn er mit mindrer Heftigkeit und in Ruhe, seine eignen völlig durchgedachten Begriffe in aller der Einfalt vortragen wird, die die Ideen eines vortrefflichen Kopfs annehmen, wenn sie bis zu ihrer vollkommensten Ausbildung gelangen.

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in dem Stande der Natur] der Naturzustand ist eine schon in der Antike vorgeprägte, vor alle aber in der politischen Philosophie der Neuzeit (insbesondere durch Hugo Grotius [1583‒1645] und Samuel Pufendorf [1634‒1694]) entwickelte Reflexionsfigur, die den Menschen unter Bedingungen, die vor bzw. unabhängig von staatlicher Vergemeinschaft gedacht wird. In den meisten Fällen, so bei Thomas Hobbes (1588‒1679), dem späten Jean-Jacques Rousseau (1712‒1778) oder Immanuel Kant (1724‒1804) hat dieser Zustand lediglich einen Fiktionscharakter, um aus ihm die Notwendigkeit staatlicher Herrschaft zu legitimieren; während des 18. Jahrhunderts wird der Naturzustand aber auch häufig als realer Zustand gedacht und mit außereuropäischen Gesellschaften in Verbindung gebracht; vgl. hierzu u. a. Hasso Hofmann: Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung. In: Reinhard Brandt (Hg.): Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposion Wolfenbüttel 1981. Berlin, New York 1982, S. 12–46 sowie Jan Rolin: Der Ursprung des Staates. Die naturrechtlich-rechtsphilosophische Begründung von Staat und Staatsgewalt im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts. Tübingen 2005, S. 15–32. 31f. nur sich selbst zu ihren Richtern haben] Hobbes geht in Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil (London 1651) davon aus, dass im Naturzustand jeder als sein eigener Richter auftreten könne und müsse, d. h. ohne Rücksichtnahme auch auf das Lebensrecht seiner Mitmenschen (vgl. Leviathan, XIV; vgl. auch De Cive, I.9), ebenso ist nach John Locke (1632‒1704) der Menschen im Naturzustand berechtigt, über seine Person zu verfügen, wie es am besten scheint, und zwar ohne eines anderen Menschen Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen eines anderen abhängig zu sein, vgl. Two Treatises of Government (London 1689), II.ii.4. 35 Der Souverain] als Souverän wird seit Jean Bodin (1529/30‒1596; Six livres de la République, 1572) diejenige innerstaatliche Instanz bezeichnet, die die höchste Macht innehat und sich dabei, um der Despotie zu entgehen, der Gesetze bedient; bis ins 18. Jahrhundert war es selbstverständlich, dass diese souveräne Macht entweder durch einen Monarchen oder eine adeliges Gremium ausgeübt wird; mit Rousseau, der in Du contrat social ou principes du droit politique (1762) die Vorstellung einer Volkssouveränität entwickelt und begründet, ändern sich die Debatten über die souveräne Instanz im Staate, wobei der Begriff der Volkssouveränität entweder heftig bekämpft, so von Isaak Iselin (1728‒1782) oder Christoph Martin Wieland (1733‒1813), oder aber weiterentwickelt wird, so von Immanuel Kant. https://doi.org/10.1515/9783110647808-006

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Depositarius einer fremden Macht] ein Depositarius ist entweder eine Person, bei der etwas hinterlegt bzw. in Verwahrung gegeben wird, oder eine solche, die etwas hinterlegt oder in Verwahrung gibt. 37 Corporis] die metaphorische Übertragung des (menschlichen) Körpers als Abbild des Staates findet sich schon in Platons (428/27‒348/47 v. Chr.) Dialogen Politeia und Timaios, ebenso in der Politika des Aristoteles (384‒322 v. Chr.); spätestens seit Hobbesʼ Leviathan ist die Analogisierung von Körper und Staat fester Bestandteil staatsphilosophischer und -theoretischer Debatten. 44‒46 Diese Materie vom Naturstande [...] ob derselbe je unter einzelnen Menschen statt gefunden habe.] Hobbes definiert in De cive (Paris 1642) und im Leviathan den Naturzustand als einen ›Krieg aller gegen alle‹, wobei er aber nicht davon ausgeht, dass es diesen vorzivilisatorischen Zustand wirklich gegeben habe, sondern ihn v. a. als Folge von Notsituationen erwägt; demgegenüber geht etwa Locke von der historischen Realität eines Naturzustandes aus, vgl. Two Treatises of Government, II.ii.14f. 53 den Handlungen moralischer Personen] im Gegensatz zu juristischen Personen (etwa Körperschaften) umfassen moralische Personen auch solche Personenzusammenschlüsse, die nicht zuvor ausdrücklich von einer Rechtsgemeinschaft, z. B. dem Staat als solche genehmigt werden müssen, etwa die Familie. 74f. Erstlich, jeder muß nicht nur für seine Sicherheit selbst sorgen, sondern jeder ist auch allein Richter darüber, was zu seiner Sicherheit gehört.] vgl. etwa Hobbesʼ De cive, I.9f. 76f. die Gewissens- und die Zwangspflichten sind in Absicht des wirksamen Grundes ihrer Verbindlichkeit, nicht unterschieden] Gewissenspflichten sind solche Pflichten, die nur dem Gewissen eines anderen Menschen überlassen werden müssen, wohingegen Zwangspflichten Verbindlichkeiten darstellen, deren Leistung notfalls erzwungen werden kann. 80f. das Eigenthumsrecht wird nicht durch so deutliche und so unverletzliche Regeln bestimmt] vgl. dazu neben Lockes Two Treatises of Government, II.v.25ff. u. a. Georg Friedrich Meier (1718‒1777): Recht der Natur. Halle 1767, §§ 278ff., S. 536ff.; vgl. auch Reinhard Brandt: Eigentumstheorien von Grotius bis Kant. Stuttgart 1974. 98f. Die allgemeine Regel ist: beleidige niemanden zuerst.] Beleidigung heißt im naturrechtlichen Sinne eine Verletzung der Rechte anderer, u. a. das Recht auf das »natürlich Seine« wie etwa »Gesundheit, und unverletzte Beschaffenheit unseres Leibes und aller Theile und Glieder desselben« und die Rechte auf das »erlangte Seine«, wozu »gemeinschaftliche Sachen«, das heißt solche Sachen, die entweder »allen und jeden Menschen« (gesamte Menschheit) oder »einigen Menschen, und wenn es auch nur ihrer zwey seyn sollten, gemein sind« (Eheleute, Gilden etc.) ebenso zählen wie »eigenthümliche Sachen«, die »in Absicht einer gewissen Anzal der Menschen, nicht zu dem Seinen aller und jeder

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in dieser Anzal begriffenen einzeln Menschen gehören«, also nur einem einzigen Menschen »eigenthümlich« zugehören; vgl. Meier: Recht der Natur, §§ 110ff., S. 223ff. und §§ 279ff., S. 358. 144 in meiner vorigen Abhandlung] vgl. Garve: Einige zerstreute Betrachtungen über die Moral der Politik. In: ders.: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’ s Büchern von den Pflichten. Breslau 1783 (GGW X), »Anmerkungen zu dem Dritten Band«, S. 155‒211. 158f. Diejenigen welche gesagt haben, daß vor Errichtung einer bürgerlichen Gesellschaft die Menschen gar keine Pflichten gegen einander hatten] u. a. Hobbes betont, dass es im Naturzustand außer der Pflicht zur Selbsterhaltung faktisch keinerlei Pflichten gebe, vgl. De Cive, I.9f.; Leviathan, XIV. 186 durch Wohlwollen] wie auch Moses Mendelssohn (1729‒1786; Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum, 1783), so bedient sich Garve des Terminus ›Wohlwollen‹ als korrelativem Begriff zur Selbstliebe; beide Empfindungen gelten als moralische Gefühle, die zugleich den Charakter von Maximen haben sollen. 195‒198 Nach unserm jetzigen System des Naturrechts […] den Angreifer zu seiner Schuldigkeit mit Gewalt zurückzuführen.] sowohl nach Christian Wolff (1679‒1754; Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle 1754 [WGW I.19], $$ 762ff., S. 552ff.) als auch nach Gottfried Achenwall (1719‒1772; mit Johann Stephan Pütter [1725‒1807]: Anfangsgründe des Naturrechts. (Elementa iuris naturae). Hg. u. übers. von Jan Schröder. Frankfurt a. M. 1995, S. 149ff.) dürften Eigentümer in Naturzustand die Verletzung ihres Eigentums mit Waffengewalt verteidigen. 257 wie Lessing sagt] vgl. Gotthold Ephraim Lessings (1729‒1781) Lustspiel Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück (Berlin 1767), III.2: »O, man ist auch verzweifelt wenig, wenn man weiter nichts ist, als ehrlich.« 358‒362 Wenn man also frägt, »giebt es ein Eigenthum im Naturstande?« [...] des Gebrauchs desselben sich zu enthalten?«] vgl. dazu etwa Locke: Two Treatises of Government, II.v.25ff. 389‒393 Ich habe in meiner ältern Abhandlung gesagt: »Der Begriff […] welches beydes ohne Verkehr und Verabredung nicht möglich ist.«] vgl. Einige zerstreute Betrachtungen, S. 163. 491 Die ersten Tractaten waren Friedensschlüsse] vgl. etwa Hobbes: De cive 1. 13f.: »Wer also meint, daß man am besten in dem Zustande geblieben wäre, wo allen alles erlaubt war, der widerspricht sich selbst; denn jeder verlangt aus natürlicher Notwendigkeit nach dem Guten, und niemand wird einen solchen Krieg aller gegen alle, welcher diesem Zustande notwendigerweise anhaftet, als etwas für ihn Gutes ansehen. Dadurch kommt es, daß man infolge gegenseitiger Furcht es für ratsam hält, aus einem solchen Zustande herauszutreten und Genossen zu suchen, damit, wenn Krieg sein muß, er doch nicht gegen alle und nicht ohne Hilfe geführt werde. Man verschafft sich Genossen entwe-

310 | 5 Erläuterungen der durch Gewalt oder durch Vereinbarung: durch Gewalt, wenn der Sieger nach dem Kampf den Besiegten durch Androhung des Todes oder durch angelegte Fesseln zwingt, ihm zu dienen; durch Vereinbarung, wenn Menschen mit Übereinstimmung beider Teile ohne Gewalt eine Gesellschaft bilden zum Zweck gegenseitiger Hilfeleistung« (Elemente der Philosophie II/III. Vom Menschen. Vom Bürger. Eingel. und hg. von Günter Gawlick. Hamburg 1994, S. 84). 579f. Ein positives Recht muß in allen Angelegenheiten der Menschen sich zu dem natürlichen gesellen, oder dieses wird unanwendbar] da das natürliche Recht nicht in gleicher Weise wie das positive Recht feststeht und als Maßstab für menschliche Handlungen von allen angenommen wird, bedarf es bei Überschreitungen positiver Gesetze der Sanktionierung, vgl. etwa Locke: Two Treatises of Government, II.ix.127. 647f. probationem diabolicam] ›probatio diabolica‹ (›teuflische Beweisführung‹) bezeichnet im klassischen römischen Recht die Schwierigkeiten eines mit der ›rei vindicatio‹, der Klage auf Herausgabe von Eigentum, Klagenden, sein Eigentum an der entsprechenden Sache zu beweisen. 685f. Das höchste erdenkliche Gesetz aller menschlichen Handlungen ist, zu thun, was dem Menschengeschlecht im Ganzen genommen am nützlichsten ist.] vgl. Marcus Tullius Cicero (106‒43 v. Chr.): De legibus 3, 3.8: »Ollis salus populi suprema lex esto«; ebenso Hobbes: Leviathan, XXX und Locke: Two Treatises of Government, II.xiii.158. 804‒807 Konten die Holländer es Heinrich dem vierten verdenken [...] ob er sie gleich dadurch einer größern Gefahr bloß stellte?] da der seit 1574 regierende französische König Heinrich III. (1551‒1589) ehe- und kinderlos blieb, wäre im Falle seines Todes die Krone an seinen jüngeren Bruder Herzog Franz Herkules von Anjou (1555‒1584) übergegangen; dieser starb aber bereits 1584, die Erbfolge ging daher auf den hugenottischen Heinrich III. von Navarra (1553‒1610), den Schwager des Königs (verheiratet mit Margarete von Valois [1553‒1615]) über, aber auch Herzog Heinrich von Guise (1550‒1588) machte Ansprüche auf den Thron geltend; im sich darauf entfachenden (Bürger-)Krieg ging Heinrich von Guise 1585 ein Bündnis mit Spanien ein und konnte den König so dazu drängen, Heinrich von Navarra von der Thronfolge auszuschließen; 1588 konnte Heinrich von Guise den König aus Paris vertreiben, in einem Vergleich (Union von Rouen) sicherte Heinrich III. die Thronfolge dem aus dem Hause Valois stammenden Kardinal Charles de Bourbon de Vendôme (1523‒1590) zu ‒ und ließ Heinrich von Guise ermorden; bei der Belagerung von Paris 1589 verübte der Dominikaner Jacques Clément (1567‒1589) ein Attentat auf den König, dieser sicherte auf dem Sterbebett Heinrich von Navarra die Thronfolge zu, doch wurde der Kardinal von Bourbon als Karl X. zum König ausgerufen, dieser erkannte aber bereits ein Jahr später Heinrich von Navarra als rechtmäßigen König an, der nunmehrige Heinrich IV. konnte sich den Thron aber nur durch Konversion zum Katholizismus sichern; unterdessen verbündete sich

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Philippe-Emmanuel de Lorraine, Duc de Mercœur (1558‒1602), der die Bretagne als unabhängigen Staat aus dem Königreich herauszulösen suchte, mit dem spanischen König Philipp II. (1527‒1598), der daraufhin spanische Truppen aus den Niederlanden in Frankreich einmarschieren ließ; dies nutzte Moritz von Oranien (1567‒1625), Statthalter der Vereinigten Niederlande, um die spanische Voherrschaft im Land zu brechen; den sich nun zum nationalen Krieg ‒ Heinrich IV. verbündete sich mit England ‒ ausweitende Konflikt beendete 1598 der Friede von Vervins, innenpolitisch brachte das Edikt von Nantes das Ende der eigentlichen Hugenottenkriege. 808‒810 Wurden Bolingbrocke und die Minister der Königin Anna [...] wirklich Verräther an diesen?] als 1700 mit Karl II. (1661‒1700) der letzte Habsburger auf dem spanischen Thron kinderlos starb, entbrannte um seine Nachfolge ‒ Karl hatte Philipp V. von Anjou (1683‒1746) als Erben eingesetzt ‒ der Spanische Erbfolgekrieg, 1701 schlossen in der Haager Großen Allianz Kaiser Leopold I. (1640‒1705), England, die Vereinigten Niederlande und Preußen ein Bündnis gegen Frankreich unter Ludwig XIV. (1638‒1715), um die französische Einflussnahme in Spanien ‒ Philipp war ein Enkel Ludwigs ‒ zu verhindern; Henry St. John, 1. Viscount Bolingbroke (1678‒1751), seit 1710 Minister Königin Annes (1665‒1714), nahm 1711 getrennte und geheime Verlandlungen mit Frankreich auf, schloss 1712 einen separaten Waffenstillstand und zog die englischen Truppen ohne Kenntnis der Verbündeten aus Frankreich ab; 1713 beendete der Friede von Utrecht den Krieg zwischen England und Frankreich, der Spanische Erbfolgekrieg fand, da der Kaiser (seit 1711 Karl VI. [1685‒1740]) den Utrechter Vertrag zunächst nicht anerkannte, erst 1714 mit den Friedensschlüssen von Rastatt und Baden ein Ende. 816 Chotusitzer Schlacht] in der Schlacht bei Chotusitz in Böhmen besiegten am 17. Mai 1742 preußische Truppen unter Friedrich II. (1712‒1786) die Österreicher; die Schlacht führte unmittelbar zum Frieden von Breslau (vgl. Erl. zu 816), der den Ersten Schlesischen Krieg (1740‒1742) vorläufig beendete. 816 Breßlauer Frieden] der (Präliminar-)Frieden von Breslau beendete am 11. Juni 1742 den Ersten Schlesischen Krieg zwischen Preußen und Österreich und wurde am 28. Juli 1742 durch den Frieden von Berlin bestätigt; im Zuge dieses Friedens fiel fast ganz Schlesien an Preußen. 850f. Wenn man unter Wohl des Staats Glückseligkeit aller oder der meisten Individuen versteht] vgl. dazu etwa Platons (428/27‒348/47 v. Chr.) Dialog Politeia, IV, 420b. 870f. Sie sind wie die Flußgötter, die aus ihrer Urne zwar Wasser ausgiessen] seit der Antike werden den (anthropomorphen) Flussgöttern in der bildenden Kunst, aber auch in der Literatur bauchige Wassergefäße als Attribut beigegeben, vgl. zeitgenössisch etwa Johann Christoph Gottscheds Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste (Leipzig 1760): »Nach der Fabel ward jeder Fluß von einem Gotte regieret. Die Maler

312 | 5 Erläuterungen und Dichter schildern die großen wie verehrungswürdige Greise, mit einer Schilfkrone auf dem Kopfe. Sie liegen mitten im Rohre, auf eine Urne gelehnet, woraus das Wasser stürzet, was den Fluß ausmachet. Sie werden als Greise gemalet, anzuzeigen: daß das Wasser so alt sey, als die Welt« (Sp. 697). 884f. was man gemeinhin Staats-Interesse und Staatsräson nennt] Niccolò Machiavelli (1469‒1527; Il Principe. Rom 1532) und insbesondere Giovanni Botero (um 1544‒1617; Della Ragion di stato libri dieci. Venedig 1589) fassen Staatsraison als Orientierungs- und Handlungsprinzip auf, welches die Erhaltung des Staates bzw. der staatlichen Autorität und deren Erweiterung sicherstellt. 909 Flor] hier svw. Blüte. 957‒961 War es im dreyßigjährigen Kriege für die Österreichischen Regenten [...] ihnen das Thal, wodurch diese Staaten getrennt wurden, einzuräumen.] 1529 wurde im sog. ›Damenfrieden von Cambrai‹ der Verzicht der französischen Krone auf alle Ansprüche in Italien festgeschrieben, womit v. a. das Herzogtum Mailand unter direkten Einfluss der Habsburger kam und das seit 1512 den ›Drei Bünden‹, einem Freistaat im Gebiet des heutigen Kantons Graubünden, untertane Veltlin höchste strategische Bedeutung als Verbindung zwischen Oberitalien und Tirol erhielt; die Habsburger suchten zunehmend konfessionellen Einfluss zu nehmen, in den ›Bündner Wirren‹ (1618‒1639) intervenierten sie militärisch (auch gegen die ebenfalls die Kontrolle anstebende Koalition Frankreich-Venedig), 1620 verloren die ›Drei Bünde‹ das Veltlin an die Habsburger, erst 1639 gelangte es im Mailänder Kapitulat, einem Friedens- und Allianzvertrag zwischen Spanien und den Bünden, an letztere zurück. 962‒966 Konte im Jahr 1535, Franz der erste die Italiänische Gränze seiner Staaten gegen Karl den fünften nicht vertheydigen [...] durch die Nothwendigkeit vollgültig.] Franz I. (1494‒1547), seit 1515 König von Frankreich, suchte nach dem Tod des mailändischen Herzogs Francesco II. Sforza (1495‒1535) seine Ansprüche auf das Herzogtum Mailand, aus dem Kaiser Karl V. (1515‒1558) die Franzosen 1522 verdrängt hatte, erneut geltend zu machen, um die Oberhoheit in Italien zu erlangen; da auch Karl V. Mailand beanspruchte, annektierte Franz I. 1536 das Herzogtum Savoyen, erst 1557 konnte Savoyen nach der Schlacht bei Saint-Quentin der französischen Besatzung wieder ledig werden. 995‒997 Alle Regeln aber müssen der Absicht der Regel untergeordnet seyn. Und es ist also unstreitig wahr, »alles ist Recht, was dem menschlichen Geschlecht im Ganzen ersprieslich ist.«] vgl. Erl. zu 685f. 1027‒1029 Zadig warf sich voll Ehrfurcht vor dem Engel Jezrad als Gesandten der Vorsehung nieder, den er als Eremiten, nach seinen Handlungen, für einen Räuber und Mörder gehalten hatte. mit Anm. 1] vgl. Voltaire (i. e. François-Marie Arouet; 1694‒1778): Zadig ou la destinée. Histoire orientale, zuerst erschienen unter dem Titel Memnon. Histore orientale London 1747, unter dem Titel Zadig ou la destinée. Histoire orientale s.l. 1749; die Geschichte eines babylonischen Adligen, der durch überragende geistige Fähigkeiten und Herzensgüte in

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höchste Gesellschaftsschichten aufsteigt, den gesellschaftlichen Widernissen wie Neid, Eifersucht, Habgier, religiösem Fanatismus etc. aber nichts entgegenzusetzen weiß, in Elend und Sklaverei fällt und erst durch die Liebe einer Frau und die Unterstützung seines Freundes Cador den ihm gebührenden Königsthron Babylons erringt, ist eine der frühen ›philosophischen‹ Erzählungen Voltaires. ‒ Garve nutzt die von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais (1732‒1799) veranstaltete Ausgabe der Œuvres complètes de Voltaire (70 Bde., Kehl 1784ff.), Bd. 56: Romans, S. 3‒126, die im Gegensatz zu früheren Ausgaben 21 Kapitel enthält, hier das 20. Kapitel, S. 111‒120 (die Ausgabe von 1749 beinhaltet nur 18 Kapitel, hier findet sich die Episode [»Jesrad«] im 17. Kapitel [S. 170‒186], in den Romans et Contes de M. De Voltaire [Bd. 1, Bouillon 1778] etwa ist der Zadig in 19 Kapitel unterteilt, hier findet sich die Passage [jetzt »Jezrad«] im 18. Kapitel [S. 97‒105]). 1110 Dieß sind die Gewissenspflichten.] vgl. Erl. zu 76f. 1163‒1166 Der Verdacht daß Ferdinand der erste den Cardinal Martinusius in Ungarn hat umbringen lassen [...] und sein immerwährendes Kriegführen.] Georg Utiešenović, genannt Martinusius, auch Martinuzzi (1482‒1551) war nach dem Tod des 1526 zum König von Ungarn gewählten Johann Zápolya (1487‒1540) offiziell Berater der Königin-Witwe Isabella Jagiellonica (1519‒1559) und des zwei Wochen vor Johanns Tod geborenen, aber bereits zum König gewählten Johann Sigismund Zápolya (1540‒1571), de facto aber führte er die Regierung; da sich Johann bereits 1528 unter den Schutz des Osmanischen Reiches gestellt hatte, um seine Krone gegen den ebenfalls 1526 zum König von Ungarn gewählten späteren Kaiser Ferdinand I. (1503‒1564) zu sichern, hielt Martinusius zunächst das enge Verhältnis zu den Osmanen bei, nachdem aber 1541 Ferdinand versucht hatte, die ungarische Hauptstadt Ofen (heute Budapest) einzunehmen und nur mit osmanischer Hilfe geschlagen werden konnte, woraufhin die Osmanen Ungarn bis an die Theiß beanspruchten und Isabella zum Rückzug nach Siebenbürgen zwangen, näherte sich Martinusius der Position Ferdinands an, im von ihm initiierten Vertrag von Weißenburg trat Isabella Siebenbürgen gegen das schlesische Herzogtum Oppeln und eine hohe monetäre Entschädigung an Ferdinand ab; die veränderten Machtverhältnisse in Siebenbürgen führten zu Einmarschvorbeitungen der Osmanen, die Martinusius zu verhindern suchte, was Verdächtigungen einer Konspiration im Kreise Ferdinands hervorrief, der dem die habsburgischen Truppen in Siebenbürgen befehligenden General Giovanni Battista Castaldo (1493‒1563) die Erlaubnis erteilte, Martinusius wenn nötig zu töten, in der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember 1551 dragen Castaldo und einige Gefolgsleute in das Schloss von Winzenburg (Vințu de Jos), der Residenz Martinusiusʼ ein und ermordeten diesen auf grausame Weise; vgl. Ognieslav Utiešenović-Ostrožinski: Lebensgeschichte des Cardinals Georg Utiešenović, genannt Martinusius. Wien 1881. ‒ Karl V. (1500‒1558), seit 1520 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, führte aufgrund

314 | 5 Erläuterungen seines Anspruches, das habsburgische Kaisertum als übergeordnete europäische Ordnungsmacht durchzusetzen, während seiner gesamten Herrschaft Kriege vor allem mit Frankreich und dem Osmanischen Reich, aber auch im Innern, etwa den Schmalkaldischen Krieg (1546/47) gegen den protestantischen Schmalkaldischen Fürstenbund; die Suche nach Verbündeten ließ ihn insbesondere in seiner Religionspolitik immer wieder lavieren (Augsburger Interim 1548, Augsburger Religionsfrieden 1555). 1166f. Wir billigen in der Verwaltung des Richelieu nicht, die List und Gewalt die er angewandt hat, seinen König mächtig zu machen] Armand-Jean du Plessis, 1. Duc de Richelieu (1585‒1642), bekannt als Kardinal Richelieu, seit 1624 Premierminister und seit 1629 ›Lieutenant-général du royaume‹, Stellvertreter des Königs in Krisenzeiten, entmachtete u. a. im Gnadenedikt von Alès 1629 die Hugenotten in Frankreich und mit dem ›Journée des Dupes‹ (Tag der Geprellten) 1630 den französischen Adel und ging gnadenlos gegen die Opposition der ›Parti dévot‹, der von der Mutter Ludwigs XIII. (1601‒1643) und dessen Bruder im Parlament geführten religiös-katholischen Partei vor; da Richelieu die Vision eines neu geordneten Europas unter der Hegemonie der französischen Krone hatte, erhielt u. a. Schweden im Vertrag von Bärwalde 1631 finanzielle Untertstützung durch Frankreich, 1635 übernahm auf seine Veranlassung hin die französische Staatskasse die Finanzierung des Heeres Herzog Bernhards von Sachsen-Weimar (1604‒1639; Vertrag von Saint-Germain-en-Laye; in einem geheimen Artikel wurde Bernhard das Elsaß unter der Bedingung versprochen, die katholische Religion dort nicht zu verdrängen). 1197 Die Abentheuer Carls des zwölften] nachdem im März 1700 eine Allianz aus dem russischen Zarenreich, Sachsen-Polen und Dänemark-Norwegen das Königreich Schweden in den Großen Nordischen Krieg (1700‒1721) um die Vorherrschaft im Ostseeraum gezwungen hatte, konnten die zunächst siegreichen Schweden unter König Karl XII. (1682‒1718) ein Ausscheiden DänemarkNorwegens (1700) und Sachsen-Polens (1706) aus der Allianz und dem Krieg erreichen; im Januar 1708 suchte Karl XII. in einem Feldzug gegen Moskau Russland zu besiegen und ihm den Frieden aufzuzwingen, scheiterte aber mit der verheerenden Niederlage in der Schlacht bei Poltawa in der Ukraine im Juli 1709, die nicht nur eine Wende des Krieges, sondern letztlich die Niederlage Schwedens im Großen Nordischen Krieg herbeiführte. 1198 Die Eroberungssucht Ludewigs] Ludwig XIV. (1638‒1715) führte u. a. expansive Eroberungskriege gegen Spanien (1667/68, um die Spanischen Niedelande) und die Vereinigten Niederlande (1672‒1678). 1234 den Gerechtsamen] unter ›Gerechtsame‹ versteht man »die in einem Rechte oder Gesetze gegründete Befugniß«, bzw. ein Nutzungsrecht oder ein Vorrecht auf etwas (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Aus-

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gabe. 4 Bde. Leipzig 1793‒1801, Bd. 2, Sp. 582); zum rechtlichen Status vgl. Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. von Albrecht Cordes u. a. Bd. 1. Berlin 22008, Sp. 1265‒1267. 1239‒1244 Die glücklichsten Änderungen der Englischen Verfassung [...] die Territorial-Hoheit der Stände je durch eine völlig freye Verabredung zwischen Kayser und Reich ihre Wirklichkeit bekommen haben?] treibende Kraft der ›Glorious Revolution‹ (vgl. Erl. zu 2092‒2094) war die ›Whigs‹ genannte parlamentarische Gruppierung, die die Rekatholisierungsversuche Jakobs II. strikt ablehnte und damit auf breite Zustimmung unter der Bevölkerung stieß. ‒ Hier die Reichsstände, die als reichsunmittelbare Fürsten etc. zwar direkt dem Kaiser untergeben und reichssteuerpflichtig waren, aber Sitz und Stimme im Reichstag und die Landeshoheit (superioritas territorialis) über ihr Territorium besaßen. 1258‒1264 War des Churfürsten Moritzens Unternehmung gegen Carl den fünften, da er ihn in Inspruck überfiel [...] ohne Kriegserklärung gegen ihn kehren durfte?] Moritz von Sachsen (1521‒1553), seit 1541 Herzog des (protestantischen) albertinischen Sachsen, stand im Schmalkaldischen Krieg 1746/47 auf Seiten Kaiser Karls V. (1500‒1558) gegen den protestantischen Schmalkaldischen Bund, dem auch sein ernestinischer Vetter Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen (1503‒1554) angehörte; nach der Niederlage des Bundes in der Schlacht bei Mühlberg (24. April 1547) übertrug Karl V. Moritz die Kurwürde, der hessische Landgraf Philipp I. (1504‒1567), neben Johann Friedrich I. Hauptmann des Bundes, wurde in den Spanischen Niederlanden in kaiserliche Haft gesetzt, aus der er erst 1552 entlassen wurde; 1548 suchte Karl V. mit dem Augsburger Interim seine religionspolitischen Ziele im Reich durchzusetzen, Moritz ließ noch 1548 eine neue Kirchenordnung ausarbeiten (Leipziger Interim), die sich die freie Reichsstadt Magdeburg, Zentrum des Widerstandes gegen eine Rekatholisierung, anzunehmen weigerte ‒ und damit auch das als Reichsgesetz erlassene Augsburger Interim; mit der Exekution der daraufhin über Magdeburg verhängten Reichsacht wurde ‒ neben Georg von Mecklenburg (1528‒1552) ‒ Moritz betraut, der die Stadt mit einem kaiserlichen Herr seit September 1550 belagerte; schon im Mai 1551 schloss Moritz in Torgau ein Bündnis mit mehreren nordostdeutschen protestantischen Fürsten, das den Protestantismus gegen Karls V. Rekatholisierungsversuche verteidigen, aber auch Philipp I. aus kaiserlicher Haft befreien sollte, und in Verhandlungen mit dem französischen König Heinrich II. (1519‒1559) trat, der im Herbst desselben Jahres dem Kaiser den Krieg erklärte; nach der ‒ friedlich ausgehandelten ‒ Kapitulation Magdeburgs im November 1551 eroberteten die Truppen der verbündeten Fürsten die süddeutschen, noch kaisertreuen Städte und drangen im März 1552 bis nach Tirol vor und besetzten am 23. Mai Innsbruck, das der Kaiser fünf Tage zuvor fluchtartig verlassen hatte; der von Moritz initiierte ›Fürstenaufstand‹ endete mit dem Passauer Vertrag vom 2. August 1552, der die

316 | 5 Erläuterungen formale Anerkennung des Protestantismus darstellte und im Augsburger Religionsfreiden von 1555 reichsrechtlich festgeschrieben wurde. 1269f. Wer verdient als Mensch, als König, als Held, mehr die Dankbarkeit von Europa, und besonders von Deutschland, als Gustav Adolph?] das Eingreifen des schwedischen Königs Gustav II. Adolf (1594‒1632) in den Dreißigjährigen Krieg verhinderte einen Sieg der kaiserlich-katholischen Armee, wodurch er indirekt die Existenz des deutschen Protestantismus sicherte. 1342 der unverhehlte Bewegungsgrund der Convenienz] unter Convenienzrecht vestand man im Völkerrecht die Befugnis eines jeden Staates, im Falle kollidierender Interessen mit anderen Staaten so zu verfahren, wie es dem eigenen Interesse am angemessensten erscheint; vgl. etwa Friedrich Heinrich Struben: Abhandlung von der Krieges-Raison und dem Conveniezrecht. In: Sammlung auserlesener juristischer Abhandlungen das Teutsche Staatsrecht betreffend. Leipzig 1768, S. 31‒86, vgl. auch Johann Jakob Moser: Erste Grundlehren des jezigen Europäischen Völcker-Rechts, in Fridens- und Kriegs-Zeiten. Nürnberg 1778 (Auszug aus Johann Jakob Moser: Versuch des neuesten Europäischen Völker-Rechts in Friedens- und Kriegszeiten. 10 Bd. Frankfurt a. M. 1777–1780). 1351f. die Rechtsansprüche die jetzt vor jedem Kriege in Manifesten ausgeführt werden] »Ansprüche, oder Prätensionen, seynd Forderungen, die ein Staat an den andern, in Ansehung gewisser Lande oder Gerechtsamen, machet. […] Es wird aber zu unserer Zeit mehr als jemalen Mode, daß, wann ein Souverain glaubt, es seye ein bequemer Zeitpunct vorhanden, seine Lande und Macht vergössern zu können, unvermuthet solche Ansprüche zum Vorschein kommen, an die Niemand gedacht hätte. Aber nicht nur dises; ſondern, wann der andere Theil selbige nicht so gleich als gültig erkennen will, glaubt man berechtiget zu seyn, seine Ansprüche durch die Gewalt gelten zu machen« (Moser: Erste Grundlehren des jezigen Europäischen Völcker-Rechts, S. 209‒211 [Kap. 17, §§ 2, 10f.]). 1398‒1403 Dieß ist das erste Gesetz der Vernunft und des Gewissens [...] in einer ungewissen Hoffnung künftiger Vortheile, für jetzt elend zu machen.] Anspielung auf die innenpolitischen Maßnahmen v. a. Ludwigs XIV. (1638‒1715). 1423f. Hat er nun in der Entfernung nichts weiter vor sich, als sich persönlich eine größre Erhabenheit, mehr Gewalt, einen berühmtern Namen zu erwerben] vgl. Erl. zu 1398‒1403. 1444f. Wenn Mancocapac Peru wirklich in der Absicht eroberte, um es gesitteter zu machen] Manco Cápac ist der Mythologie der Inka zufolge der Sohn des Sonnengottes Inti, der ihn aus dem Schaum des Titicacasees schuf und gemeinsam mit seiner Schwester Mama Ocllo auf die Erde sandte, um dort die Welt zu verbessern; auf einer Insel im See gründete Manco Cápac die Stadt Qusqu (Cusco) und lehrte die späteren Bewohner den Ackerbau; inwiefern dieser u. a. in den Kommentaren zum Reich der Inka des peruanisch-spanischen Chronisten Inca Garcilaso de la Vega (1539–1616) aufgezeichnete Mythos mit dem

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Leben des legendären Manco Cápac oder Manco Inca, der im frühen 13. Jhd. mit der Gründung Cuscos das Reich der Inka in Peru aufbaute, in Beziehung steht, ist umstritten. 1517f. Die ersten Eroberungen Ludwigs des vierzehnten in den Niederlanden, kosteten wenig Blut] im sog. Devolutionskrieg 1667/68 besetzten französische Truppen bis zum Oktober 1667 weite Teile der Spanischen Niederlande; im Januar 1668 schlossen die Vereinigten Niederlande, die durch den territorialen Machtzuwachs Frankreichs Interventionen auf eigenem Gebiet fürchteten, mit England eine Allianz (der wenig später auch Schweden beitrat [›Triple-Allianz‹]), die Frankreich und Spanien zum Friedensschluss bewegen wollte und, falls Frankreich den Eroberungsfeldzug in den Spanischen Niederlanden fortsetzen sollte, militärisch eingreifen werde; Frankreich besetzte im Februar 1668 die ebenfalls spanische Franche-Comté, wodurch sich der französische König Ludwig XIV. eine bessere Basis für einen Friedensschluss erhoffte, da er einsehen musste, dass Frankreich im Falle weiterer Feldzüge in den Spanischen Niederlanden der Koalition von Spanien, England, Schweden und den Vereinigten Niederlanden nicht gewachsen war; nach einem Waffenstillstand Ende März 1668 wurde am 2. Mai des selben Jahres der Friede von Aachen unterzeichnet, Frankreich musste sich sowohl aus der Franche-Comté wie auch ‒ mit Ausnahme weniger strategisch wichtiger Städte ‒ aus den Spanischen Niederlanden zurückziehen. 1520f. Der siebenjährige Krieg wurde eigentlich noch um Schlesien geführt] nachdem im Ersten Schlesischen Krieg 1740‒1742 zwischen Preußen und Österreich weite Teile, im Zweiten Schlesischen Krieg 1744/45 ganz Schlesien an Preußen gefallen war, suchte Österreich, nachdem sich der seit Anfang 1754 schwelende Konflikt zwischen Großbritannien und Frankreich in Nordamerika Ende Mai des selben Jahres zum offenen Krieg ausgeweitet hatte und auch auf Europa überzugreifen drohte, durch geschickte Diplomatie Preußen im militärischen Bündnissystem zu isolieren und sich selbst des Bündnisbeistandes etwa Russlands zu versichern, um so Schlesien zurückerobern zu können; Friedrich II. (1712‒1786) gelang es jedoch 1756, Bündnisse mit Großbritannien und Kurhannover sowie einigen kleineren deutschen Territorien einzugehen, im Herbst des selben Jahres eroberte Preußen das mit Österreich verbündete Kurfürstentum Sachens, woraufhin im Januar 1757 der ›Reichskrieg‹ gegen Preußen erklärt wurde und österreichische Truppen in Schlesien einmarschierten, doch gelang es Preußen, bis zum Dezember die Österreicher aus Schlesien hinauszudrängen; 1760 und 1761 drangen erneut österreichische Truppen in Schlesien ein, wobei Teilgebiete unter die Herrschaft Österreichs fielen; am 15. Februar 1763 beendete der Frieden von Hubertusburg zwischen Preußen, Österreich und Sachsen den Siebenjährigen Krieg in Deutschland mit einem status quo ante bellum.

318 | 5 Erläuterungen 1548‒1550 Nie ist dieser Zusammenhang auf einer so großen Erdfläche und unter so vielen Staaten vorhanden, und nie ist er unter verbundenen Staaten so genau gewesen, als er es in unserm Europa ist.] vgl. dazu etwa Moser: Versuch des neuesten Europäischen Völker-Rechts in Friedens- und Kriegszeiten, Bd. 1, S. 1ff.; auszugsweise in Moser: Erste Grundlehren des jezigen Europäischen VölckerRechts, Kap. 2: »Von Europa, als gewisser massen einigen Staats-Cörper« (S. 18ff.). 1554‒1556 Wo häufige Total-Revolutionen vorgehn, und ganze Staaten oft verschlungen werden, wie dieß in Asien, und vorzüglich in Hindostan noch bis auf unsre Zeiten geschehen ist] das seit 1526 gegründete Mogulreich etwa, das um 1700 beinahe den gesamten indischen Subkontinent und Teile des heutigen Afghanistans umfasste, wurde im 18. Jhd. durch innerstaatliche Konflikte, kriegerische Auseinadersetzungen mit dem zentralindischen Reich der Marathen, seit Mitte der 1730er Jahre durch Feldzüge der persischen Afschariden und nicht zuletzt durch die Expansion der Britischen Ostindien-Kompanie ab 1757 so geschwächt, dass das Territorium des letzten Großmoguls Alam II. (1728‒1806) seit 1772 nur noch Delhi und seine unmittelbare Umgebung umfasste, wie ein zeitgenössisches (persisches) Sprichwort verdeutlicht: ›Das Reich von Shah Alam reicht von Delhi bis Palam‹ (heute eine Vorstadt NeuDelhis). 1563‒1568 Eine Universal-Monarchie, oder eine ihr nahe kommende Macht […] wodurch erst die Begriffe von dem was Recht ist, aufs Reine gebracht worden sind.] die Debatten über eine Universalmonarchie beherrschen die politiktheoretischen, aber auch politischen Debatten in Europa seit Karl V. (1500‒1558), Kardinal Richelieu (Armand-Jean du Plessis, 1er Duc de Richelieu; 1585‒1642) befürchtete lange Jahre, Spanien strebe dieses Ziel unmittelbar an; auch im 18. Jahrhundert fungiert die Diskussion über eine mögliche Universalmonarchie häufig als Argument gegen die Jesuiten; gleichwohl erwirken die Probleme des Völkerrechts auch weiterhin eine theoretische Debatte über Notwendigkeit und Möglichkeit eines Weltstaates; vgl. hierzu u. a. Franz Bosbach: Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit. Göttingen 1988. 1592f. das System des Europäischen Gleichgewichts] vgl. zum »Gleichgewicht in Europa« Mosers Erste Grundlehren des jezigen Europäischen Völcker-Rechts: »Die mehreste Europäische Staaten seynd dahero darauf bedacht, zu verhüten, daß 1. nicht ein einiger Herr, oder ein einiges Haus,eine solche überwiegende Macht bekommen möge, welche denen übrigen Staaten nachtheilig seyn könnte, oder daß sie 2. wenigstens sich derselben nicht würcklich zu ihrem Nachtheil gebrauchen doͤ rffe. […] Neben disem allgemeinen Gleichgewicht in Europa, ist man besonders auch bemüht, 1. um die Erhaltung des Gleichgewichts in dem westlichen Theil von Europa; und zwar zwiſchen Franckreich und Spanien einer- ſodann Großbritannien und Portugall anderer Seits. 2. Um

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die Erhaltung des Gleichgewichts in Norden, zwischen Rußland, Preussen, Dänemarck und Schweden; besonders auch auf dem Baltischen Meer; so auch 3. in Teutſchland; besonders a) zwischen der Kayserlichen Macht und denen Reichsständischen Freyheiten, so dann b) denen beederley Religionsverwandten« (Kap. 2, §§ 46, 52, S. 29, 31). 1667f. Unser großer Friedrich fand sich vor dem Anfange des Krieges von 1756, gegen den Österreichischen Staat und seine Verbündeten in dem ersten Falle] im Frieden von Aachen wurde 1748 die Rückgabe aller im zuvor geführten Österreichischen Erbfolgekrieg (1740‒1748) eroberten Gebiete vereinbart, einzig Preußen wurde der Besitz Schlesiens bestätigt. 1668‒1670 die Königin Elisabeth gegen Philipp den zweyten [...] in dem letztern] 1559, kurz nach der Krönung Elisabeth Tudors (1533‒1603) als Elisabeth I. zur Königin von England, beendete der Frieden von Cateau-Cambrésis zwar den seit 1557 geführten Krieg gegen Frankreich, doch verlor England mit Calais auch die letzte Besitzung auf dem Festland; Aufstände in Schottland führten seit 1567 zum Konflikt mit der schottischen Königin Maria Stuart (1542‒1587), die sich französische und spanische Hilfen zusicherte, 1586 aber der Verschwörung angeklagt und ein Jahr später hingerichtet wurde; dieses Ereignis und die Kaperfahrten englischer Freibeuter gegen die spanische Silberflotte führten seit 1588 zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit Spanien, in Irland, wo es seit 1568 immer wieder zu Aufständen kam, brach 1595 ein offener Krieg aus, der erst 1603, kurz vor dem Tode Elisabeths, beendet werden konnte. 1774‒1776 Die Partheyen welche Frankreich bey Erlöschung des Valesischen Stamms theilten [...] die streitige Succession zu reguliren] mit dem Tod Heinrichs III. (1551‒1589) am 2. August 1589 während der Belagerung von Paris erlosch die legitime Linie des Hauses Valois, dem seit 1328 die französischen Könige entstammten; da Heinrich III. kinderlos war, entbrannte bereits nach dem Tode seines Bruders und Thronfolgers François-Hercule de Valois (1555‒1584) der Kampf um die Nachfolge, nachdem der König diese Heinrich IV. von Navarra (1553‒1610) übertragen hatte; vgl. Erl. zu 2051f. 1823‒1825 Es kostete das Deutsche Reich die drey Lothringischen Bisthümer, daß Frankreich sich der Freyheit seiner Fürsten, und der verbesserten Religion zu Carls des fünften Zeiten annahm.] im Vertrag von Chambord hatte Moritz von Sachsen (1521‒1553) im Januar 1552 die ›Trois-Évêchés‹ Metz, Toul und Verdun, die Grenzbistümer des Erzbistums und bedeutendsten geistlichen Territoriums innerhalb der Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, zur Vorbereitung des protestantischen Fürstenaufstands gegen Kaiser Karl V. gegen Zahlung von Hilfsgeldern und Waffenhilfe an den französischen König Heinrich II. (1519‒1559) verkauft, woraufhin Frankreich das Herzogtum Lothringen besetzte; der Krieg zwischen dem Reich und Frankreich um Lothringen endete, da sich Karl V. wie auch sein designierter Nachfolger Ferdinand I. (1503‒1564;

320 | 5 Erläuterungen seit 1531 römisch-deutscher König) militärisch nicht durchsetzen konnten, 1556 mit der Abtretung von Metz, Toul und Verdun an Frankreich, die Bistümer verblieben jedoch nominell bis zum Westfälischen Frieden 1648 noch im Reich. 1825‒1829 Die Schweden und Franzosen erhielten zur Belohnung ihrer schiedsrichterlichen Theilnehmung [...] ihnen nicht mehr hätten einbringen können.] den Vereinbarungen des Westfälischen Friedens zufolge erhielt Schweden ganz Vorpommern, die Insel Rügen, das Gebiet der Odermündung, die Stadt Wismar sowie die Bistümer Bremen und Verden, wobei die Gebiete Reichslehen blieben und Schweden somit als deutscher Reichsstand Sitz und Stimme auf Reichstagen besaß; an Frankreich trat das Reich neben Metz, Toul und Verdun das gesamte Elsass ab. 1850‒1853 Jacob der erste that Recht [...] für gleichgültig für Englands Sicherheit und für die Wohlfahrt von Europas hielt.] Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz (1596‒1632) heiratete 1613 Elisabeth Stuart (1596‒1662), eine Tochter Jakobs I. (1566‒1625) von England; dieser missbilligte die Wahl des protestantischen Friedrich als unnötige Provokation des Kaisers. 1869‒1876 Es wird ein ewig glänzender Schmuck in der Krone der preußischen Monarchie bleiben [...] gleich uneigennützig ausgeführten Theilnehmung an fremden Angelegenheiten angefangen hat.] im auch ›Kartoffelkrieg‹ genannten Bayerischen Erbfolgekrieg 1778/79 vereitelte Friedrich II. (1712‒1786) die Bestrebungen Kaiser Josephs II. (1741‒1790), nach dem Tod des bayerischen Kurfürsten Maximilian III. Joseph (1727‒1777) aus dem Hause Wittelsbach und dem Übergang des Kurfürstentums an den Wittelsbacher Karl Theodor von der Pfalz (1724–1799), seine Ansprüche auf Niederbayern und die Oberpfalz durchzusetzen, indem er am 3. Juli 1778 Österreich den Krieg erklärte; ohne nennenswerte militärische Auseinandersetzungen endete der als letzter Kabinettskrieg geltende Bayerischen Erbfolgekrieg am 13. Mai 1779 mit dem Frieden von Teschen, der die Vereinigung der Kurwürden Bayerns und der Pfalz bestätigte. ‒ Friedrich Wilhelm II. (1744‒1797) intervenierte 1787 ‒ nachdem der mit quasi monarchischen Rechten ausgestattete Erbstatthalter Wilhelm V. Batavus (1748‒1806), ein Schwager Friedrich Wilhelms 1786 von den republikanischen ›Patriotten‹ abgesetzt worden war ‒ militärisch in den Niederlanden, in denen ein Bürgerkrieg drohte; nachdem die ›Patriotten‹ noch im selben Jahr geschlagen und Wilhelm V. wieder als Erbstatthalter eingesetzt worden waren, verherrlichte Friedrich Wilhelm II. die Wiederherstellung des Friedens in den Niederlanden mit dem Bau des Brandenburger Tors. 1972 Ferdinand und die Ligaisten oder die Protestanten?] zu Ferdinand II. (1578‒1637) vgl. Erl. zu 1973‒1975. ‒ Als Reaktion auf die Folgen der Ereignisse in Donauwörth (vgl. Erl. zu 1979) und der erfolglosen Bemühungen um Bestätigung des Augsburger Religionsfriedens von 1555, der die Gleichberechtigung des katholischen und des lutherischen Glaubensbekenntnisses gewährleistete, gründeten auf dem Reichstag von Regensburg 1608 mehrere protestantische

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Fürsten (u. a. Pfalz, Württemberg und Ansbach) noch im selben Jahr ein Schutzbündnis, die ›Protestantische Union‹, dem später weitere Fürstentümer und Freie Reichsstädte beitraten. ‒ Ein Jahr später schlossen sich unter Vorsitz Maximilians I. von Bayern (1573‒1651) nahezu alle süddeutschen katholischen Stände in der ›Katholischen Liga‹ in einem Defensivbündnis gegen die Protestanten zusammen; nach zwischenzeitlicher de facto-Auflösung gründete sich die Liga 1619 neu und sicherte im Münchner Vertrag mit Ferdinand II. das militärische Eingreifen der katholischen Stände auf der Seite des Kaisers im Kampf gegen das aufständische Böhmen zu; nach dem Prager Frieden 1635 wurde die Liga und deren Heer aufgelöst. 1974‒1976 Das Recht der Böhmen einen König zu wählen, war nicht ausgemacht, der Titel des Churfürsten von der Pfalz zu dieser Krone war also zweydeutig.] noch vor dem Tod Matthiasʼ von Böhmen (1557‒1619), seit 1611 König von Böhmen und seit 1612 Kaiser, wurde dessen Vetter, der spätere Kaiser Ferdinand II. (1578‒1637) zum König von Böhmen gekrönt; als Matthias 1619 starb, weigerten sich die protestantischen Stände Böhmens, Ferdinand als König anzuerkennen und schlossen die Böhmische Konföderation, ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Habsburger, das das politische System Böhmens grundlegend änderte, u. a. wurde die seit 1526 bestehende habsburgische Erbmonarchie gemäß des Vertrages in eine Wahlmonarchie umgewandelt und Ferdinand so des Throns verlustig erklärt, die Stände wählten statt seiner Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz (1596‒1632) zum König von Böhmen; nach der für die Böhmen verheerenden Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg (1620) hob Ferdinand die Confoederatio Bohemica unverzüglich auf und herrschte bis zu seinem Tod auch als König von Böhmen. 1980 den Donauwerthschen Tumult, und die gegen die Stadt erkannte ReichsAcht] am Markustag (25. April) 1606 zog eine kleine katholische Prozession durch die ‒ vornehmlich lutherische ‒ Reichsstadt Donauwörth, was zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten führte; Kaiser Rudolf II. (1552‒1612) drohte nach einer Klage des Bischofs von Augsburg beim Reichshofrat der Stadt daraufhin mit der Reichsacht, wenn sie die Rechte ihrer katholischen Bürgerschaft nicht respektiere; nachdem am Markustag des darauffolgenden Jahres eine ‒ wohl provokative ‒ Prozession wiederum zu gewalttätigen Tumulten führte, verhängte der Kaiser am 3. August 1607 die Reichsacht über Donauwörth, der mit der Reichsexekution beauftragte Herzog Maximilian I. von Bayern (1573‒1651) belagerte ab Ende November 1607 die Stadt, die sich am 17. Dezember ergab und aufgrund der nicht zu bewältigenden gegen sie verhängten Kosten in bayerischen Pfandbesitz und damit de facto in bayerischen Besitz fiel. 1982 den Jülich- und Bergischen Successionsstreit] der Jülich-Klevische Erbfolgestreit brach 1609 nach dem Tod Johann Wilhelms von Jülich-Kleve-Berg (1562‒1609) aus; da dieser kindelos verstorben war, erhob der Markgraf von

322 | 5 Erläuterungen Brandenburg Johann Sigismund (1572‒1620) als Vormund seiner Frau Anna von Preußen (1576‒1625), einer Nichte Johann Wilhelms, Anspruch auf das Erbe, ebenso Philipp Ludwig von Pfalz-Neuburg (1547‒1614), der seit 1574 mit Anna von Jülich-Kleve-Berg (1552‒1632), einer Schwester Johann Wilhelms, verheiratet war, sowie Johann II. von Pfalz-Zweibrücken (1584‒1635), ein Enkel Johann Wilhelms, auch Kurfürst Christian II. von Sachsen (1583‒1611) meldete Ansprüche an; der aufgrund der territorialen Größe und strategischen Bedeutung das Interesse auch der europäischen Großmächte (Johanns II. von PfalzZweibrücken Mutter stammte aus dem Hause Habsburg) erweckende und in konfessioneller Hinsicht ›problematische‹ Konflikt wurde zwar noch im selben Jahr im Dortmunder Rezess zwischen Johann Sigismund von Brandenburg und Philipp Ludwig von Pfalz-Neuburg beigelegt, der die gemeinsame Regierung des Territoriums vorsah, Kaiser Rudolf II. (1552‒1612) erkannte diese Lösung jedoch nicht an und ließ Truppen einmarschieren, die 1610 Jülich einnahmen; Philipp Ludwig von Pfalz-Neuburg sicherte sich die Unterstützung Englands, Frankreichs und der Niederlande gegen die Habsburger zu, ein nun drohender europäischer Krieg wurde aber durch die Ermordung des französischen Königs Heinrich IV. (1553‒1610) abgewendet und der Konflikt vorerst beendet; in den folgenden Jahrzehnten kam es immer wieder zu Spannungen und kriegerischen Auseinandersetzungen (vor allem durch die Intervention Brandenburgs), mit dem Vertrag von Kleve (auch ›Erbvergleich zu Kleve‹) 1666 fielen das Herzogtum Kleve und die Grafschaften Mark und Ravensberg an Brandenburg, Pfalz-Neuburg erhielt die Herzogtümer Jülich und Berg, entgültig wurde der Erbfolgestreit aber erst 1714 beigelegt; vgl. dazu auch Heinz Ollmann-Kösling: Der Erbfolgestreit um Jülich-Kleve (1609–1614). Ein Vorspiel zum Dreißigjährigen Krieg. Regensburg 1996. 1983 den Mauern von Ilium] »Iliacos intra muros peccatur et extra« (›Es wird innerhalb und außerhalb der Mauern von Ilium [Troja] gesündigt‹), d. h. überall (auf beiden Seiten) werden Fehler gemacht; Zitat aus Horazʼ (Quintus Horatius Flaccus; 65‒8 v Chr.) Epistulae 1, 2,16, häufig auf die Form ›peccatur intra et extra‹ verkürzt. 2009f. der mit Spanien verbundne Kayser Ferdinand] Ferdinands II. (1578‒1637) Sohn Ferdinand (1608‒1657), Erzherzog von Österreich und als Ferdinand III. später Kaiser, heiratete 1631 die Infantin Maria Anna von Spanien (1606‒1646), die Tochter des spanischen Königs Philipp III. (1578‒1621). 2023‒2025 Welche vor kurzem durch eine kühne Handlung […] die Freyheits-Rechte einer Nation behauptet hatten] Christian II. (1481‒1559), König von Dänemark und Norwegen und seit 1520 auch von Schweden, wurde 1523 vom dänischnorwegischen Adel zur Flucht in die Niederlande gezwungen, im Juni 1532 wurde Gustav I. Wasa (1496‒1560), der seit 1520 mit einem zunächst vornehmlich aus Bauern und Bergleuten bestehenden Heer gegen die neue Herrschaft gekämpft hatte, auf dem schwedischen Reichsständetag in Strängnäs zum

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König gewählt; auf dem Reichstag von Västerås 1544 wurde das Wahlkönigtum in Schweden abgeschafft und durch das Erbkönigtum ersetzt. 2029f. Hatte wohl Philipp der zweyte eben so viel Recht sich in die bürgerlichen Kriege Frankreichs zur Zeit der Ligue, als Gustav sich in den deutschen Krieg zu mischen?] zu Philipp II. von Spanien (1527‒1598) vgl. Erl. 2051f.; zu Gustav II. Adolf (1594‒1632) vgl. Erl. zu 1269f. 2039f. war Heinrich von Navara der unstreitige Erbe der Französischen Monarchie] vgl. Erl. zu 2051f. 2047 eine Gvise in Frankreich herrschte] Marie de Guise (1515‒1560), Tochter des ersten Herzogs von Guise, Claude de Lorraine (1496–1550), heiratete 1538 König Jakob V. von Schottland (1512‒1542); die aus dieser Ehe hervorgegangene Maria Stuart (1542‒1587), nach dem Tode ihres Vaters als Maria I. Königin von Schottland (bis 1567), heiratete 1558 den französischen Dauphin und späteren König Franz II. von Frankreich (1544‒1560), dessen Herrschaft 1559/60 aufgrund seines Alters vornehmlich unter dem Einfluss von Marias Onkeln Charles de Lorraine-Guise (1524‒1574) und François de Lorraine-Guise (11519‒1563) stand und durch innenpolitisch-konfessionelle Auseinandersetzungen geprägt war; Charles de Lorraine-Guise hatte noch vor dem Tode Heinrichs II. (1519‒1559) den Frieden von Cateau-Cambrésis (April 1559) mit Spanien ausgearbeitet, der Frankreich zwar außenpolitisch absicherte, mit dem Verzicht aller französischen Ansprüche in Italien aber Spanien die Vormachtstellung in Europa zusicherte. 2051f. da er Frankreich als ein abgesondertes Reich seiner Tochter und ihrem Gemahl zueignen wollte] Philipp II. von Spanien (1527‒1598) erhob nach dem Tod des französischen Königs Heinrich III. (1551‒1589) und dem damit einhergehenden Erlöschen des Hauses Valois für seine Tochter Isabella Clara Eugenia (1566‒1633), Nichte Heinrichs III. und bereits seit 1569 mit dem späteren Kaiser Rudolf II. (1552‒1612) verlobt ‒ eine Ehe kam nicht zustande, da Rudolf die Verlobung 1589 löste ‒, Ansprüche auf den französischen Thron, die jedoch aufgrund des französischen Erbrechtes ‒ das Frauen von der Erbfolge ausschloss ‒ erfolglos blieben; nachdem der protestantische Heinrich III. von Navarra (1553‒1610) als Heinrich IV. den französischen Thron bestiegen hatte, verschärfte sich der konfessionelle Konflikt in Frankreich erneut und Philipp II. griff 1590 auf Seiten der Katholiken in den Religionskrieg ein, der ‒ außenpolitisch ‒ 1598 mit dem Frieden von Vervins beendet wurde. 2083f. der Bekehrung Heinrichs, und der Lossprechung desselben vom Banne] König Heinrich IV. (1050‒1106) wurde im Februar 1076 aufgrund der durch ihn erfolgten Investitur, der durch weltliche Macht angewiesenen Einsetzung von Klerikern, von Papst Gregor VII. (Hildebrand von Soana; 1025/30‒1085) exkommuniziert; sein ›Gang nach Canossa‹ im Januar 1077, seine Niederwerfung vor dem Papst und die folgende Absolution beendeten den Investiturstreit jedoch nicht, Heinrich investierte weiterhin Bischöfe und wurde 1080 erneut exkom-

324 | 5 Erläuterungen muniziert; in der Folge kam es zu kriegerischen Auseinadersetzungen im Reich und der Wahl von Gegenkönigen, Wibert von Ravenna (1020/30‒1100) wurde 1084 als Clemens III. zum Gegenpapst gewählt, der Heinrich im selben Jahr zum Kaiser krönte. 2092‒2094 den Beystand den er dem abgesetzten Jacob dem zweyten leistete, ihn wieder auf den Thron Großbrittaniens zu setzen] die rigorose katholische Religionspolitik Jakobs II. (1633‒1701) seit 1685, die auch weite Teile des Parlaments schwächte, führte 1688 zur ›Glorious Revolution‹, in deren Verlauf der Statthalter der Vereinigten Niederlande und Schwiegersohn Jakobs, Wilhelm III. von Oranien-Nassau (1650‒1702) auf Bitten eines großen Teils des englischen Parlaments mit einer Invasionsflotte in England landete und Jakob zur Flucht nach Frankreich zwang; die Flucht wertete das Parlament 1689 als Abdankung ohne erklärten Nachfolger, die Krone ging daher durch die im selben Jahr erlassene Bill of Rights, die nicht nur die weitere Thronfolge regelte, sondern auch Jakob des Machtmissbrauchs beschuldigte, auf Jakobs Tochter Maria (1662‒1694) über, die im Frühjahr 1689 gemeinsam mit Wilhelm von Oranien-Nassau zur Königin von England, Schottland und Irland gekrönt wurde; Jakob, dem Ludwig XIV. (1638‒1715) bereits 1688 Unterstützung angeboten hatte, landete 1689 mit einem französischen Heer in Irland, wo er vom irischen Parlament als König bestätigt wurde, doch musste er 1690 nach der Schlacht am Boyne erneut nach Frankreich fliehen; 1692 plante Ludwig eine Invasion Englands, doch scheiterte diese an der Seehoheit der Engländer im Ärmelkanal, 1696 scheiterte ein Attentat auf Wilhelm; Ludwig bot noch im selben Jahr Jakob an, sich als Nachfolger Johanns III. Sobieski (1629‒1696) mit seiner Unterstützung zum König von Polen wählen zu lassen, was Jakob aber ablehnte, woraufhin Ludwig jede weitere Hilfe verweigerte. 2130f. Also war das Recht Jacobs, das Unrecht des Wilhelms und der Maria, nicht erwiesen] vgl. Erl. zu 2092‒2094. 2170f. das that Elisabeth in Holland, ehe sie sich noch öffentlich für die vereinigten Provinzen erklärte] 1581 sagten sich die nördlichen Provinzen der Spanischen Niederlande im ›Plakkaat van Verlatinghe‹ offiziell von der spanischen Monarchie los und setzten Philipp II. von Spanien (1556–1598) als ihren Souverän ab; um die Provinzen im Kampf gegen die Habsburger zu unterstützen, trugen die Niederländer Elisabeth I. von England (1533‒1603) die Staatsgewalt an, woraufhin diese 1585/86 mit die Einsetzung Robert Dudleys, 1. Earl of Leicester (1532‒1588) als Generalgouverneur die Provinzen de facto zu einem Protektorat Englands machte. 2171f. das that Richelieu in Deutschland, ehe er an dem dreyßigjährigen Kriege directen Antheil nahm] vgl. Erl. zu 1166f. 2200‒2202 »Die Sorge für die Sicherheit des Staats« habe ich gesagt [...] um ihn mit den übrigen Mächten in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen.«] vgl. Garve:

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Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Ciceroʼs Büchern von den Pflichten. Anmerkungen zu dem Dritten Buche. Breslau 1783, S. 156. 2202‒2207 Ferner: »Es kann Eroberungen geben, welche nicht nur dem erobernden Staate [...] oder der Verkehr derselben erleichtert wird.«] vgl. Garve: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen III, S. 157. 2208‒2210 »Der großen Zerstöhrung in der politischen Welt,« sage ich an einem dritten Orte [...] bis zu gewissen natürlichen Gränzen ausgedehnt haben.«] vgl. Garve: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen III, S. 158. 2238‒2242 Wenn also auch Philipp August, Carl der siebente und Heinrich der zweyte [...] ihrem Staate wieder einzuverleiben] der französische König Philipp II. August (1165‒1223) sicherte sich im Waffenstillstand von Thouars (13. Oktober 1206) mit dem englischen König Johann Ohneland (1167‒1216) sämtliche seit 1066 im Besitz der englischen Krone befindlichen Gebiete nördlich der Loire (Normandie, Maine, Anjou und Touraine) als Krondomäne; Karl VII. (1403‒1461) gelang in der Endphase des Hundertjährigen Krieges (1337‒1453) die Rückeroberung der Guyenne und der Gascogne, dem Kerngebiet des englischen Besitzes in Südwestfrankreich; das seit 1347 englische Calais wurde im Januar 1558 in Folge des spanischen Italienfeldzugs ‒ Philipp II. (1527‒1598), der 1554 Maria I. von England (›Bloody Mary‹; 1516‒1558) heiratete, suchte seine Interessen v. a. gegenüber Papst Paul IV. (Gian Pietro Carafa; 1476‒1559) zu sichern, der ein Bündnis mit dem französischen König Heinrich II. (1519‒1559) schloss ‒ von französischen Truppen erobert. 2245‒2247 der Versuch Ludwigs Holland im Jahr 1672 zu erobern [...] von seinen Reunions-Cammern ausgeübten Räubereyen] im Zuge seiner Reunionspolitik, die auf die Annexion jener Gebiete des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zielten, die nach seiner Auffassung rechtlich mit bestimmten unter französischer Souveränität stehenden Territorien verbunden waren, griff Ludwig XIV. (1638‒1715) 1672 in Allianz mit England, dem Fürstbistum Münster und dem Fürstbistum Lüttich die seit 1648 unabhängigen Vereinigten Niederlande an (Holländischer Krieg, 1672‒1678); im September 1681 nahm Ludwig ohne Kriegserklärung die Freie Reichsstadt Straßburg ein; den Spanischen Niederlanden bürdete Ludwig 1783 hohe Zwangssteuern zum Unterhalt einer Besatzungsarmee auf, was zum Reunionskrieg 1683/84 mit Spanien führte. 2248f. Es ist ein Glück für die Einwohner der Gruppe von Inseln, die der Schöpfer in dem Atlantischen Ocean, nahe an einander, ausgesäet hat] hier die Britischen Inseln. 2251‒2257 Wenn die Einwohner Irlands in unsern Zeiten mehr den Druck fühlen [...] da er ohne gegründete Ansprüche sich diese Insel unterwarf.] der anglonormannische König Heinrich II. (1133‒1189) entsandte 1169 ein von Richard Fitz Gilbert de Clare, genannt Strongbow (1130‒1176) geführtes Heer nach Irland, um Dermot MacMurrough (1110‒1171), König des dortigen (Teil-)Leinster, in seinem Kampf gegen irische Rebellen und um den Titel des ›Hochkönigs‹ von

326 | 5 Erläuterungen Irland zu unterstützen; Strogbow eroberte weite Teile des heutigen Nordirland, heiratete MacMurroughs Tochter und wurde nach MacMurroughs Tod dessen (anglonormannischer) Nachfolger; Aufstände der Iren nötigten Strongbow 1171 jedoch, Heinrich um Hilfe zu bitten, der daraufhin in Irland einfiel und die Herrschaft für sich beanspruchte; 1172 wurde Hugh de Lacy (um 1125‒1186) zum Gouverneur der Lordschaft Irland (Chief Justiciar of Ireland) ernannt. ‒ Wilhelm III. von Oranien-Nassau (1650‒1702), seit 1689, dem Ende der ›Glorious Revolution‹ (vgl. Erl. zu 2092‒2094) König von England, Schottland und Irland, brachte nach Aufständen katholischer Iren 1690 ganz Irland unter seine Kontrolle, in der Folge erließ er mehrere Gesetze (›Penal Laws‹), die zu einer Entrechtung der katholischen Iren führten, die Katholiken u. a. vom aktiven wie passiven Wahlrecht, vom Universitätsbesuch, vom Militärdienst, vom Landerwerb und vielem anderen mehr ausschlossen und erst gegen Ende des 18. Jhds. aufgehoben wurden. 2260f. Es war wider das Recht des Staats-Eigenthums daß Ferdinand und Isabella sich des letzten Maurischen Königsreichs Granada bemächtigten.] das von Muhammad I. ibn Yūsuf ibn Nasr (um 1194‒1273) 1212 gegründete Sultanat von Granada stand als mehr oder weniger unabhängiger Staat unter der Vasallität Ferdinands III. von Kastilien und León, genannt der Heilige (1199‒1252) und seiner Nachfolger; Heinrich IV. von Kastilien und León, der Unvermögende (1425‒1474) unternahm einige erfolglose Kriegszüge gegen Granada, dessen Nachfolger, die ›Katholischen Könige‹ Isabella I. von Kastilien (1451–1504) und Ferdinand II. von Aragón (1452–1516) erneuerten zunächst die Verträge mit Granada, doch war bereits vor deren Eheschließung 1469 der Kampf gegen die Mauren als zukünftiges Regierungsprogramm vereinbart worden; als 1481 als Reaktion christlicher Übergriffe maurische Truppen die andalusische Stadt Zahara einnahmen, begann der Kampf um das Sultanat von Granada, der 1492 mit der Einnahme Granadas durch spanische Truppen endete, das Sultanat wurde als ›Reino de Granada‹ (Königreich Granada) in die Reiche der Krone von Kastilien eingegliedert. 2262f. der verrätherischen Theilung von Neapel, die Ferdinand zehn Jahre darauf mit Ludwig dem zwölften verabredete] im November 1500 schlossen Ferdinand V. von Kastilien und León (Ferdinand der Katholische; 1452–1516) und der französische König Ludwig XII. (1462–1515) einen geheimen Vetrag zur Teilung des Königreiches Neapel, woraufhin unter dem Vorwand eines Kreuzzuges gegen die Türken die Spanische Flotte nach Neapel entsandt und 1501 das Königreich besetzt wurde; dessen König Friedrich von Aragon (1452–1504) verbündete sich daraufhin nicht nur mit Ludwig XII., sondern trat diesem seine Rechte an Neapel ab; in der Folge kam es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Ferdinand und Ludwig nicht nur um Neapel, sondern um ganz Italien, die mit dem Waffenstillstand von Lyon im Februar 1504 und im Juni 1507 mit dem Vetrag von Savona die Aufteilung Italiens in einen fran-

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zösischen Norden und einen spanischen Süden zur Folge hatte – Neapel blieb bis 1700 in kastilisch-leónischer bzw. spanischer Hand. 2266f. wenn sich die Castilianer begnügt hätten, die Mauren bloß ihrer Unabhängigkeit zu berauben] vgl. Erl. zu 2260f; den Muslimen wurde im Vertrag von Granada 1491 zwar Religionsfreiheit zugesichert, doch wurde nach Aufständen der Muslime gegen Zwangskonvertierungen zum katholischen Glauben der Vertrag 1501 aufgehoben; vor die Wahl gestellt, etweder zu konvertieren, ins Exil zu gehen oder ermordet zu werden, wanderte v. a. die politische, wirtschaftliche und religiöse Führungsschicht nach Afrika oder in den Vorderen Orient aus, die verbleibenden zwangsbekehrten Muslime (Morisken) wurden schließlich zu Beginn des 17. Jhds. des Landes verwiesen. 2278f. Daß ein Herzog von Masovien im dreyzehnten Jahrhundert einen fremden Ritterorden herbeyrief, um die Preußen zu bezwingen] Konrad I., Herzog von Masowien (1187/88‒1247), bat im Zuge seiner Expansionspolitik gegen das von Pruzzen besiedelte Kulmerland in Pommern den Deutschritterorden um Unterstützung, doch die zeitgleiche Vertreibung des Ordens aus dem siebenbürgischen Burzenland (1225) durch den ungarischen König Andreas II. (um 1177‒1235) ließen Konrad an dessen Schlagkraft zweifeln, woraufhin er einen eigenen Ritterorden, die ›Brüder von Dobrin‹ gründete und zum Kreuzzug gegen die heidnischen Pruzzen aufrief, nach einer vernichtenden Niederlage sicherte Konrad dem Deutschen Orden das Kulmerland und alle weiteren Eroberungen des Ordens ›auf ewige Zeit‹ als Geschenk zu, wenn er die Pruzzen besiege ‒ was 1234 auch geschah. 2279f. daß die Engländer die Oberherrschaft über die Schotten zu erhalten suchten] nachdem der englische König Eduard I. (1239‒1307) 1290 nach dem Tod Alexanders III. (1241‒1286) bzw. seiner nie inthronisierten Enkelin und letzter Nachfahrin Margarete (Maid of Norway; 1282/83‒1290) Schottland anektiert hatte, gelang es den Schotten nach langen Kämpfen gegen die Besatzer 1320 die ‒ erneute ‒ Unabhängigkeit von England zu erlangen; mit der Inthronisation des aus dem Hause Stuart stammenden schottischen Königs Jakob VI. (1566‒1625) als Jakob I. von England wurden beide Kronen zwar in Persnalunion vereinigt, doch blieben Schottland und England separate Königreiche; die schottische Opposition gegen Jakobs Sohn Karl I. (1600‒1649) trug maßgeblich zum Ausbruch des Englischen Bürgerkriegs bei, der mit der Hinrichtung Karls und der Abschaffung der Monarchie endete; nach der ›Glorious Revolution‹ und der Absetzung Jakobs II. (vgl. Erl. zu 2092‒2094) suchten dessen schottische Anhänger, die Jakobiten die Kontrolle über Schottland zu erlangen, doch wurde Schottland 1707 formal mit England zum Königreich Großbritannien vereinigt, das schottische Parlament wurde aufgelöst; ein letzter Versuch der jakobitischen Schotten unter Führung Charles Edward Stuarts (Bonnie Prince Charlie; 1720‒1788) zur Rückgewinnung der Unabhängigkeit scheiterte 1746 mit der Schlacht von Culloden, in deren Folge es nicht

328 | 5 Erläuterungen nur zu zahlreichen Massakern an der schottischen Führungsschicht und auch der einfachen Bevölkerung kam ‒ für die v. a. ›the Butcher‹, der Duke of Cumberland Wilhelm August (1721‒1765) verantwortlich war ‒, mit repressiven Gesetzen (›Act of Proscription‹, 1747) suchte England die nationale Identität der Schotten ‒ etwa durch Verbot des Tragens der traditionellen Kleidung (›Act of Dress‹) ‒ zu eleminieren. 2280f. daß die Russische Kayserinn in unsern Tagen die Krimischen Tartarn ihrem Scepter unterwarf] unter Katharina II., genannt die Große (Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst; 1729‒1796), seit 1762 Kaiserin von Russland, eroberten russische Truppen 1771 im (fünften) Russisch-Osmanischen Krieg (1768‒1774) die Krim, wobei das seit Mitte des 15. Jhds. bestehende krimtatarische Khanat aber in der Folge weitestgehende Unabhängigkeit genoss; nach mehreren antirussischen Rebellionen anektierte Russland die Krim schließlich 1783 vollständig. 2296‒2302 »Aber gerade diejenige Ursache der Unsicherheit, von welcher ich in dem ersten der oben angeführten Sätze ausdrücklich rede [...] Provinzen zu rauben, um sich mit ihm ins Gleichgewicht zu setzen?«] vgl. Z. 2202‒2207 mit Erl.; vgl. Garve: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Ciceroʼs Büchern von den Pflichten. Anmerkungen zu dem Dritten Buche, S. 156: »Über dieß da nichts unsere Sicherheit so vollkommen ausser Gefahr stellt, als die Schwäche unsers Feindes: so wird die Sorge für die Erhaltung des Staats oft erfordern, auch den zuerst anzugreifen, und ihn der Mittel wodurch er uns schaden kan, das ist, des Reichsthums und der Macht, zu berauben, von welchem wir feindselige Gesinnungen vermuthen, oder den seine Lage zum Nebenbuhler unsers Staatsmacht. Sie kann auch selbst zuweilen erfordern, uns durch Eroberungen zu vergrößern, um mit den übrigen Mächten in eine gewisse Gleichheit zu kommen. Dieß ist vielleicht der gerechteste Vorwand zu Eroberungen: und es kann oft, mehr als Vorwand, es kann wirkliche Nothwendigkeit ‒ und selbst das allgemeine Beste des menschlichen Geschlechts kann dabey interessirt seyn, daß ein gewisser Staat sich vergrößere.« 2304f. Und ich mißbillige es jezt, wenn ich Anlaß gegeben habe, dieß für meine Meinung zu halten.] vgl. Johann Georg Heinrich Feders Rezension der CiceroÜbersetzung und der Anmerkungen in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen 1784, 35. Stück, S. 337‒346, v. a. S. 343f.: »Endlich [folgen in den Anmerkungen zu dem Dritten Buche] auch Betrachtungen über die Moral der Politik. Und dies ist nun das Stück des Ganzen, mit welchem allein Recens. Nicht zufrieden ist; ja wobey es ihm bisweilen recht wehe gethan hat, daß er nun nicht mehr, wie er durch das Vorhergehende zu thun gestimmt war, mit uneingeschränktem Enthusiasmus das Buch überall anpreisen konnte. Gern überzeugte er sich noch, daß auch hier das Anstössige, nur wie es ist, nicht wie es seyn sollte, vorkomme. Aber der Text verträgt diese Auslegung nicht. Der Verf. nimmt nemlich in Absicht auf die Staaten ohngefähr dasselbe an, was

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Hobbes in Absicht auf die Menschen im ursprünglichen Naturverhältnisse annahm; daß die Furcht voreinander, und die daraus entstehende Sorge für ihre Sicherheit sie anstreibe und berechtige, diejenigen zu schwächen, deren Macht ihnen fürchterlich ist. Daraus folgert er, daß man a) einen Staat, den seine Lage zum Nebenbuhler des unsrigen macht, auch zuerst angreifen, und ihn des Reichthums und der Macht berauben dürfe, womit er uns schaden kann; b) über die Achtung fürs Eigenthum, oder den alten Besitz seiner Nachbarn, auch bey gewissen ihnen zukommenden Rechten (diese unbestimmte Aussdrücke sind vom Verf.) sich hinwegsetzen dürfe, um sich zu vergrößern, und so ein gewisses Gleichgewicht unter den unabhängigen Mächten hervorzubringen, und dadurch die Kriege und andere gemeinschädliche Revolutionen zu vermindern.« 2312‒2314 Genf würde nicht fremde Truppen […] seiner Obrigkeit oder seiner Bürger begangen worden wären] seit Beginn des 18. Jhds. schwelte in Genf ein Konflikt zwischen der Bürgerschaft und dem Patriziat, der im Frühjahr 1782 zum Sturz der Regierung und zur Ausrufung der Republik führte; kurze Zeit später besetzten französische, sardische und Berner Truppen, von den ehemaligen Machthabern zu Hilfe gerufen, die Stadt und stellten die alten Verhältnisse wieder her. 2341f. daß seine Kayser so viele und so unbestimmte Rechte in Italien hatten?] die Ansprüche der Herrscher des Heiligen Römischen Reiches im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit auf das als ›Reichsitalien‹ bezeichnete Territorium in Italien gründeten sich v. a. auf die Krönung Ottos I. des Großen (912‒973) 951 zum König des seit 774 fränkisch beherrschten ehemaligen, weite Teile Italiens einnehmenden Langobardenreichs und dessen Krönung zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 962; auch wenn im Mittelalter ›Reichsitalien‹ in eine Vielzahl von Reichslehen und -städte zersplittert wurde und Städte wie Venedig die Unabhängigkeit vom Reich anstrebten, blieben die lehnsrechtlichen Beziehungen zwischen den italienischen Territorien und dem Kaiser bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 bestehen; verfassungsrechtlich gab es aber zahlreiche Unterschiede zum eigentlichen Reichsgebiet, so hatten die italienischen Stände weder Sitz noch Stimme auf Reichstagen und damit keinen Einfluss auf die Reichsverfassung, die Wahl ‒ oder der Einfluss auf diese ‒ des Königs bzw. Kaisers war ihnen ebenso verwehrt. 2352f. Ward England nicht erst von der Zeit an ruhig, mächtig und glücklich, da es seine Französischen Besitzungen verlohr?] nach der Eroberung Calaisʼ 1558 durch französische Truppen und dem damit einhergehenden Verlust der letzten englischen Besitzungen auf dem Festland (vgl. Erl. zu 2238‒2242) und dem 1559 geschlossenen Frieden mit Frankreich erlebte England unter Elisabeth I. (1533‒1603) einen wirtschaftlichen und militärischen Aufschwung. 2359‒2361 derjenigen Ungerechtigkeit machen, welche Ferdinand begieng, da er der Catharina von Foix, deren Gemahl Jean d’Albret, ein französischer Vasall

330 | 5 Erläuterungen war, Navarra entriß] seit dem Tod Karls III. von Navarra (1361‒1425) kam es um die Thronfolge immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den navarrischen Adelsfamilien der Beaumonteses und der Agramonteses; als Katharina (1470‒1517), Tochter Gastons de Foix, König von Navarra (1444‒1470) und Madeleines de France (1443‒1495), der Schwester des französischen Königs Ludwig XI. (1423‒1483), sowie Schwester des navarrischen Königs Franz Phoebus (1466‒1483), 1483 den Thron (unter Vormundschaft ihrer Mutter) bestiegen und (1484 zur Königin gekrönt) und Jean d’Albret (1469‒1516), dessen Familie seit Ende des 14. Jhds. im Vasallenverhältnis zu den Königen von Frankreich stand, geheiratet hatte, meldete ihr Onkel Johann von Foix (nach 1450‒1500) Ansprüche auf den Thron an, was in einem Bürgerkrieg mündete, den Katharina 1497 für sich entscheiden konnte; Ferdinand II. von Aragon (der Katholische; 1452‒1516) heiratete nach dem Tod seiner Frau Isabella I. von Kastilien (1451‒1504) aus politischen Gründen Johanns de Foix Tochter Germaine (1488/90‒1536), eine Nichte des französischen Königs Ludwig XII. (1462‒1515) und Schwester des einzigen Sohnes Johanns, Gaston de Foix (1489‒1512); nachdem dieser in der Schlacht von Ravenna 1512 gefallen war, ließ Ferdinand II. Navarra südlich der Pyrenäen besetzen und verleibte es ‒ mit Sanktionierung Papst Julius’ II. (Giuliano della Rovere; 1443‒1513) und der navarrischen Ständeversammlung ‒ seinem Reich 1513 ein. 2361‒2363 da er zu Gewinnung des Königsreichs Neapel, den rechtmäßigen Landesherrn, seinen Vetter und den mit ihm theilenden Ludwig den zwölften zugleich betrog] vgl. Erl. zu 2262f. ‒ Friedrich von Aragón (1452‒1504), bis 1501 als Friedrich I. König von Neapel, war ein Enkel Alfonsʼ V. von Aragón (1394‒1458), dessen Bruder Johann II. von Aragón (1397/98‒1479) Vater Ferdinands II., des Katholischen (1452‒1516) war. 2347 Schonen, Halland, Bleckingen] die südschwedischen Provinzen Schonen, Halland und Bleckinge wurden im Frieden von Roskilde zwischen DänemarkNorwegen und Schweden (1658) endgültig letzterem zugesprochen, nachdem es seit dem 13. Jhd. immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen beider Königreiche um die territoriale Vorherrschaft gekommen war. 2377‒2380 Da dieselben von den ältesten Zeiten einen Zankapfel zwischen Dännemark und Schweden ausgemacht haben, und seit 1343 mehrmalen aus dem Besitz des einen Staats in den Besitz des andern gekommen sind] Schonen war zunächst dänisches Territorium, fiel 1332 an Schweden, 1361 an Dänemark, im Frieden von Brömsebro (1645) wurde es Schweden für 30 Jahre, 1658 endgültig zugesprochen; Halland war seit der Regierungszeit Eriks VI. von Dänemark (1274‒1319) zwischen Dänemark und Schweden geteilt, 1343 fiel es an Schweden, zwischen 1370 und 1645 war es dänisches Territorium, im Frieden von Brömsebro (1645) wurde es Schweden wie Schonen und Blekinge für 30 Jahre, 1658 endgültig zugesprochen, im Schonischen Krieg (1675–1679) suchte Dänemark eine Rückeroberung, scheiterte aber; Blekinge gehörte bis 1658 zu Däne-

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mark, bis es im Frieden von Roskilde Schweden zugesprochen wurde; in allen drei Provinzen kam es nach 1658 zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen einheimischen Freischärlern und der schwedischen Staatsmacht, die erst im frühen 18. Jhd. abebbten. 2385 der Kopenhagner Friede, von 1600] der Frieden von Kopenhagen zwischen Schweden und Dänemark-Norwegen am 6. Juni 1660 beendete den Zweiten Nordischen Krieg um die Vorherrchaft im Baltikum. 2387f. seit dem Stettiner Frieden von 1570] der Frieden von Stettin beendete am 13. Dezember 1570 den so genannten Dreikronenkrieg im Ersten Nordischen Krieg zwischen Schweden und dem eigentlich Verbündeten Dänemark-Norwegen, der Hanse und Polen. 2391 welche eben dieser Karl Gustav in Pohlen machte] nachdem Karl Gustav von Pfalz-Zweibrücken, Pfalzgraf bei Rhein, Herzog in Bayern (1622‒1660) nach der Abdankung seiner Cousine Christina von Schweden (1626‒1689) 1654 bis 1660 als Karl X. Gustav König von Schweden geworden war, stellte der aus dem schwedischen Königshaus Wasa stammende polnische König Johann II. Kasimir (1609‒1672) Ansprüche auf den schwedischen Thron, seine Nichtanerkennung Karl Gustavs führte in den Zweiten Nordischen Krieg (1655‒1660) um die Herrschaft im Baltikum. 2391f. mit den nach bloßer Vergrößerung strebenden Entwürfen Ludwigs des Vierzehnten?] vgl. Erl. zu 2245‒2247. 2407f. Die Unternehmung Peters des Großen Ingermannland zu erobern, und die Karls des zwölften den König von Pohlen vom Throne zu stoßen] das Ingermanland im Mündunggebiet der Newa an der russischen Ostseeküste ging im 11. Jhd. als Mitgift einer schwedischen Prinzessin in nowgorodischen bzw. russischen Besitz über, war seit 1617 schwedische Provinz, bis es im Großen (Zweiten) Nordischen Krieg (1700‒1712) durch russische Truppen unter Peter I., dem Großen (1672‒1725) zurückerobert wurde, der dort 1703 das heutige St. Petersburg gründete. ‒ Karl XII. von Schweden (1682‒1718) setzte 1704 den sächsischen Kurfürsten August den Starken (1670‒1733), seit 1697 in Personalunion König von Polen ab und inthronisierte Stanislaus I. Leszczyński (1677‒1766) als neuen polnischen Regenten; August dankte 1706 im Altranstädter Friede als König von Polen ab, verbündete sich 1709 aber mit Dänemark und konnte Polen und die Krone zurückerobern. 2489f. Die Selbsterhaltung ist die höchste Absicht; und die Furcht unterzugehen, die vollkommenste Rechtfertigung.] vgl. dazu Hobbesʼ Leviathan XIII. 2497 Wohlstand einer Nation] Garve gehörte zu den ersten deutschen Autoren, die Adam Smiths (1723‒1790) An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (London 1776) rezipierten und in die Diskussion einführte; in den 1790er Jahren übersetzte Garve den Band. 2571 Die Einwohner desselben sind die Kinder des Hauses] obwohl sich John Locke in seinen Two Treatises of Government ausdrücklich gegen die Vorstellung

332 | 5 Erläuterungen gewandt hatte, hielt sich die Gleichsetzung von politischen Regenten und Familienvätern auch im 18. Jahrhundert hartnäckig; erst Kant gelang es, den potentiellen Despotismus dieser Vorstellungen nachzuweisen; vgl. hierzu u. a. Frank Grunert: Paternalismus in der deutschen Aufklärung. In: Michael Anderheiden u. a. (Hg.): Paternalismus und Recht. Tübingen 2006, S. 9–27. 2576 Überdieß bist du der oberste Richter der Menschen in deinem Lande.] erkennbar weist Grave hiermit die seit Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu (1689‒1755; De l’esprit des loix. Genf 1748) gängige Gewaltenteilung zurück, weil dieser dem Herrscher sowohl die legislative als auch die exekutive sowie die judikative Gewalt zuschreibt. Anm. 6 In dem Oßnabrückischen Frieden, erzählt der jüngere Pfeffel [...] zugehören solle.] vgl. Christian Hubert Freiherr Pfeffel von Kriegelstein (1765‒1834): Commentarii de limite Galliae [auch: Limes Franciae. Pars prior: Limes Franciae ab Oceano ad Rhenum]. Straßburg 1785, §§ XXXV‒XLI, S. 99‒119. 2697 du bist Hausvater einer Familie] vgl. Erl. zu 2571. 2703f. Insofern also das was du Staats-Interesse nennst mit der Glückseligkeit der größten Zahl der Einwohner deines Landes einerley ist] der politische Begriff des Gemeinwohls wird hier nach dem ›greatest-happiness-principle‹ Jeremy Benthams (1748‒1832) konkretisiert (vgl. u. a. A Fragment on government. London 1776). 2708 Staat als ein idealisches Wesen] gegenüber dem Staatzweck der Gemeinwohlmehrung ist der Staat selber eher abkünftig, mithin ein reines Mittel für die Realisierung jenes Zwecks; Kant wird diese Vermittlung des Staates mit Nachdruck kritisieren (vgl. Metaphysik der Sitten, 1798).

Über die Moden [Versuche über verschiedne Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. Bd. 1. Breslau 1792, S. 117–294.] Titel] Garve legt keineswegs eine ›Modegeschichte‹ vor, er differenziert vielmehr die

Regulierung materieller, also für den Betrachter offensichtlicher, und immaterieller, das heißt performativer, nicht immer erkennbarer und bisweilen nur Eingeweihten bekannter Modeerscheinungen. 57f. ihrer geselligen Natur] die These von einem ›appetitus societatis‹ gehört zu den Konstanten der praktischen Anthropologie seit Hugo Grotius (1583‒1645); die deutschsprachige Aufklärung fasst diesen Trieb mit dem Begriff der Geselligkeit; vgl. hierzu u. a. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001 sowie Gideon Stiening: Appetitus societatis seu libertas. Zu einem Dogma politischer Anthropologie

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zwischen Suárez, Grotius und Hobbes. In: ders., Herbert Jaumann (Hg.): Neue Diskurse der Gelehrtenkultur. Ein Handbuch. Berlin, Boston 2016, S. 389–436. 84f. aus der Geselligkeit entspringende Trieb der Menschen, sich einander ähnlich zu machen] gegen Jean-Jacques Rousseau (1712‒1778), der im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (Amsterdam 1755) behauptet hatte, der Mensch würde sich in Gesellschaft konkurrierend vergleichen, formuliert Garve hier die anthropologische Konstante der zunehmenden Nivellierung der individuellen Unterschiede in der und durch die Gesellschaft. 111 eine gemäßigte Monarchie] eine auf Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu (1689‒1755; De l’esprit des loix. Genf 1748) zurückgehende Vorstellung von der durch das Gewaltteilungsprinzip gemäßigten Monarchie; vgl. auch Andreas Timmermann: Die »gemäßigte Monarchie« in der Verfassung von Cadiz (1812) und das frühe liberale Verfassungsdenken in Spanien. Frankfurt a. M. 2007. 184 Wenn die Arbeiten der Menschen sich getheilt haben] aufgerufen wird hier die von Adam Smith (1723‒1790) prominent gemachte Funktion der Arbeitsteilung für den gesellschaftlichen Fortschritt (vgl. An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. London 1776); Garves Übersetzung von Smiths Inquiry erschien 1794 bis 1796 in vier Bänden in Breslau. ‒ Friedrich Schiller (1759‒1805) wird 1795 in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen die Arbeitsteilung als den entscheidenden Grund für die Entfremdung des Menschen von sich selbst ausmachen. 192 aptirt] aptieren svw. Teile eines Gerätes verändern, meist um es zu modernisieren. 206f. Bestreben der arbeitenden Classen] mit den ›arbeitenden Classen‹ verbindet Garve hier den gesamten bürgerlichen Stand samt unterprivilegierten Bereichen, der im Gegensatz zum Adel, der hier als genießende ›Classe‹ bezeichnet wird, einen gewichtigen Motor der Modeentwicklungen ausprägte; den Terminus ›arbeitende Classe‹ übernimmt er von Adam Smith. 314f. wie sich der Ernst eines bis auf seine Fischweiber mit Politik und Regierung, mit Krieg, Frieden und Bündnissen beschäftigten Volks] am 5. Oktober 1789 zogen mehrere hundert (Markt-)Frauen, die man in der Folge einfach als Poissardes (›Fischweiber‹, auch direkt als Poissarden ins Deutsche übernommen) bezeichnete, gemeinsam mit der aufständischen Nationalgarde vom Pariser Rathaus zum Hof nach Versailles, wo sie politische und soziale Forderungen kundtaten, König Ludwig XVI. (1754‒1793) beugte sich der Macht und begab sich am nächsten Tag unter dem Geleit der ›Fischweiber‹ in den Pariser Tuilerien-Palast; der in ganz Europa Aufsehen erregende Marsch der Poissardes machte diese zu Ikonen der Französischen Revolution. 328 ihre Nippen] frz. ›nippe‹ svw. Beiwerk oder Zierrat. 415 eckler] ›Eckel‹ veraltet für Ekel.

334 | 5 Erläuterungen 537‒539 es giebt einen gewissen Geschmack, der, wie Kant sagt, ohne seine Beweise führen zu können, doch seine Ansprüche auf die Einstimmung aller gebildeten Menschen geltend macht] vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, §§ 7f., AA V, S. 212‒216. 546 Arabesken] in der Renaissance aus spätantiken, hellenistischen Vorbildern entwickelte Rankenornamente. 608 Conventionen] »[C]onvention […] is only a general sense of common interest; which sense all the members of the society express to one another, and which induces them to regulate their conduct by certain rules« (David Hume: A treatise of human nature [London 1739/40], III.ii.2; Ein Traktat über die menschliche Natur. Auf der Grundlage der Übersetzung von TheodorLipps neu herausgegeben von Horst D. Brandt. 2 Bde. Hamburg 2013, Bd. 2, S. 233). 612 Politesse] »eine geschickte Weise, im täglichen Umgang mit jedermann sich anständig und angenehm zu begehen. Sie hat zum Grunde eine bedächtige Beobacht- und Unterscheidung der der Zeit, des Orts, der Personen, Umstände und des Geschäfftes, worinn und wobey man sich befindet. […] Die Regeln der Politesse sind insgemein diese zwey: 1) Meiden, was andern zuwider, und 2) Uben, was andern angenehm seyn mag« (Grosses vollständiges UniversalLexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 28, Leipzig, Halle 1741, Sp. 1522f.). 651 die Dejeuners] hier (kleines) Mittagessen. 651 die Nachmittags-Collationen] svw. nachmittägliche gesellige Teestunde. 684 Engel in seiner Mimik] vgl. Johann Jakob Engel (1741‒1802): Ideen zu einer Mimik. 2 Bde. Berlin 1785/86, Bd. 1, v. a. S. 57‒119. 718f. In der That bedecken die Orientaler ihr Haupt vor dem, welchem sie Achtung beweisen wollen.] vgl. etwa Carsten Niebuhrs (1733‒1815) Beschreibung von Arabien. Aus eigenen Beobachtungen und im Lande selbst gesammleten Nachrichten abgefasset. Kopenhagen 1772, S. 63: »Aber niemand kann vor einem Vornehmern anständig ohne Turban erscheinen.« 827 die Ducs et Pairs] mit dem Titel ›Pair‹ wird der politisch privilegierte französische Hochadel bezeichnet, dessen Anzahl auf 25 Pairs begrenzt war; der französische ›Duc‹ entspricht dem Herzog. 828 Tabouret] Hocker, einfaches Sitzmöbel ohne Rücken- und Armlehne; das Tabouret erlangte am Hofe Ludwigs XIV. (1638‒1715) eine besondere Bedeutung, da es als Privileg galt, auf diesem in Gegenwart der königlichen Familie zu sitzen, Herzoginnen wurde qua Titel die Ehre zuteil, vor der Königin sitzen zu dürfen. 841 frivol] als ›Frivolitäten‹ werden zeitgenössisch kleine schmückende Modeaccessoires, häufig aus Spitze bezeichnet. 854f. hat der größte König unsers Jahrhunderts durch sein Beyspiel gezeigt] Friedrich II. von Preußen (1712‒1786) hielt u. a. in seinem ›Politischen Testament‹ 1752 fest, dass er an »all d[en] Scherereien königlicher Hoffart« keinen Gefallen finde, da sie Zeit verschlängen, die »nützlicher für das Allgemeinwohl« ver-

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wendet werden sollte (Die politische Correspondenz Friedrichs des Großen. Hg. von Johann Gustav Droysen u. a. Berlin, Leipzig, Köln 1879–2003, Ergänzungsband: Die politischen Testamente Friedrich’s des Großen. Berlin 1920, S. 37‒67; hier in der dt. Übers. Friedrich der Große: Das politische Testament von 1752. Stuttgart 1985, S. 55). 1044f. Wie oft ist nicht ein Anzug, ein Kopfputz, der zufällig einer Favoritin am französischen Hofe wohlgestanden] u. a. Jeanne-Antoinette Poisson, Marquise de Pompadour (1721‒1764) gab einem im 18. Jhd. verbreiteten Frisurenstil sowie einer meist aus Samt, aber auch Spitze gefertigten beutelförmigen Damentasche den Namen. 1195 [raissonirt] im Original durchgäng entstellend »raffinirt« (›geläutert‹, ›verfeinert‹); wohl Fehler des Setzers, vgl. auch Z. 1463 »Raffinement« statt ›Raissonement‹. 1273 In Lucians Werken kömmt ein Aufsatz vor] vgl. die Schutzrede für einen im Grüßen begangenen Fehler (Ὑπὲρ τοῦ ἐν τῇ Προσαγορεύσει Πταίσματος) des griechischsprachigen Satirikers Lukian von Samosata (um 120‒vor 180). Anm. 1 Er hatte υγιαίνειν für χαίζειν gebraucht.] statt χαῖζε ‒ ›Sei gegrüßt‹, ›Guten Morgen‹ ‒ sagte Lukian ὑγίανε ‒ ›Auf Wiedersehen‹. 1462 Stammsprachen] ›Stammsprache‹ ist hier nicht im Sinne von ›Stammessprache‹ zu verstehen, sondern als eine »ursprüngliche Sprache, welche dem Anscheine nach, oder auf eine merkliche Art, aus keiner andern entstanden, eine Hauptsprache, Stammsprache, wird in Ansehung, der von ihr abstammenden Tochtersprachen, oder auch Mundarten, die Muttersprache genannt. So ist die Lateinische Sprache eine Muttersprache in Ansehung der Italiänischen, Französischen und Spanischen Sprachen« (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. 4 Bde. Leipzig 1793‒1801, Bd. 3, Sp. 349). 1482f. Zum andern sind die meisten derselben Deutschen Ursprungs.] Garve setzt hier ‒ wie andernorts auch ‒ ›germanisch‹ und ›deutsch‹ synonym. 1483f. der Sklavonische Völkerstamm] ›sklavonisch‹ svw. slawisch. 1485‒1488 Aber er hat sich auch, in dem einen Europäischen Lande [...] in einem dritten zahlreiche Colonien derselben unter sich aufgenommen.] Garve denkt hier vmtl. an die im heutigen Mecklenburg-Vorpommern siedelnden Wenden (Elbslawen), die 1147 von einem ›christlichen Kreuzzugsheer‹ geschlagen wurden und deren Siedlungsgebiet zwischen den damaligen Herzogtümern Pommern, Mecklenburg und Brandenburg aufgeteilt und damit dem Heiligen Römischen Reich einverleibt wurde; das 1525 gegründete, weite Teile des slawischen Baltikums umfassende Herzogtum Preußen war zunächst ein Lehen der polnischen Krone, wurde aber 1618 durch Erbfall mit dem Kurfürstentum Brandenburg zu Brandenburg-Preußen vereinigt, aus dem 1701 das Königreich Preußen hervorging; seit dem 12. Jahrhundert waren deutsche Siedler (›Sachsen‹) im

336 | 5 Erläuterungen zum Königreich Ungarn gehörenden rumänischen Siebenbürgen ansässig, seit Ende des 17. Jhds. siedelten aus dem süddeutschen Raum stammende ›Schwaben‹ im ebenfalls dem Königreich Ungarn zugehörigen Banat, das weite Teile Rumäniens, aber auch Serbiens umfasste. 1489 den Celtischen Völkern] nach Herodots (490/80 v. Chr.‒um 430/20 v. Chr) Historien besiedelten die ›Keltoi‹ die Gebiete von den Quellen der Donau bis zum Hinterland von Marseille, andere Quellen stellen sie als Einwohner Zentralgalliens dar (vgl. etwa Gaius Iulius Caesars [100 v. Chr.‒ 44 v. Chr.] De bello gallico); vgl. im Zusammenhang die Älteste Geschichte der Celten, insonderheit der Gallier und Deutschen. Aus dem französischen des Herrn Pelloutier, mit den Erläuterungsschriften der Herrn Schöpflin, Gibert, Chiniac und anderer, deutsch herausgegeben von Johann Georg Purmann. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1777‒1784. 1490 jene Hunnen] hier sind wohl nicht die in spätantiken Quellen als ›Hunnen‹ bezeichneten west- bzw. zentralasiatischen Reitervölker gemeint, die ab dem 4. nachchristlichen Jahrhundert in Europa einfielen und die sog. ›Völkerwanderung‹ auslösten, sondern eher die seit Ende des 9. Jhds. in Mitteleuropa einfallenden Magyaren (›Ungarneinfälle‹) oder die Mongolen, die im 13. Jhd. bis nach Niederschlesien und Wien vortrangen (›Mongolensturm‹) bzw. die im Zweiten Nordischen Krieg (1655‒1660) mit dem Königreich Polen verbündeten Krim-Tataren, die 1656/57 in das Herzogtum Preußen einfielen und das Land verwüsteten; vgl. Erl. zu 1506‒1508. 1495‒1500 so fand sich zwar, in den mittlern Zeiten, ein großer Abstand, in Cultur, Moden und Sitten, [...] zur Bequemlichkeit und zur Kunst gehört, weit zuvor] der seit Mitte des 3. Jhds. belegte Stammesverband der Franken siedelte zunächst im nordöstlichen Teil des römischen Gallien, seit Mitte des 5. Jhds. weiteten die Franken ihr Gebiet immer weiter nach Westen aus und konnten bis Mitte des 6. Jhds. fast das gesamte Gebiet des heutigen Frankreichs erobern. ‒ Die elbgermanischen Langobarden eroberten 568/69 große Teile Italiens und gründeten ein Königreich, das 774 an das Frankenreich fiel und seit der Teilung des fränkischen Reiches 843 mehr oder weniger unter der Oberherrschaft des ostfränkischen Königs bzw. römisch-deutschen Kaisers stand, die ostgermanischen Goten fielen 489 in Italien ein und gründeten unter Theoderich dem Großen (451/56‒526) ein Königreich, das aber schon Mitte des 6. Jhds. zerfiel. 1506‒1508 Aber eine Nation, die vom äußersten Ende Asiens zu uns gekommen ist, und sich durch Blutvergießen, Raub und Zerstörung unter uns festgesetzt hat] im Zweiten Nordischen Krieg (1655‒1660) fielen mit dem Königreich Polen verbündeten Krim-Tataren 1656/57 in Brandenburg-Preußen, das auf Seiten der Schweden in den Krieg eingetreten war, ein, die Verwüstung des Landes forderte etwa 100.000 Opfer unter der Bevölkerung; noch Friedrich II. (1712‒1786) rief in seinem politischen Testament seine Nachfolger auf, »den

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Krieg mit Rußland, solange euer Ruf es euch gestattet, zu vermeiden«, denn »seine regulären Truppen« seien zwar »nicht zu fürchten«, »aber die [unter russischem Kommando stehenenden] Kalmücken und Tataren verwüsten als alles niederbrennende, grausame Horden die Gegenden, führen ganze Völker in Gefangenschaft und stecken alle Orte, in denen sie die Oberhand haben, in Brand« (Friedrich der Große: Das politische Testament von 1752, S. 86f.). 1530f. Wenn der Codex der Höflichkeit bey den Sinesern wirklich so weitläuftig, und von so hohem Ansehn ist, als die Reisebeschreiber sagen] schon Juan González de Menoza (1545‒1618), der 1580 bis 1583 im Auftrag der spanischen Krone China bereiste, verwies in der Historia de las cosas más notables, ritos y costumbres del gran reyno de la China (1586; dt. [Teil-]Übersetzung Ein Neuwe, Kurtze doch warhafftige Beschreibung deß gar Großmächtigen weitbegriffenen, bißhero unbekandten Königreichs China. Frankfurt a. M. 1589) auf die vielfältigen Höflichkeitsvorschriften der Chinesen, vgl. aber v. a. die aus zahlreichen Reiseberichten kompilierte Description de la Chine et de la Tartarie chinoise (4 Bde. Den Haag 1736) des französischen Jesuiten Jean-Baptiste Du Halde (1674‒1743), die in deutscher Übersetzung als Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der grossen Tartarey zwischen 1747 und 1749 erschien, vgl. hier v. a. Bd. 3, S. 262ff. 1703f. wenn auch für das bloße Vergnügen des Auges, das nach Salomo sich nimmer satt sieht] vgl. Koh 1,8: »Das Auge sieht sich niemals satt, und das Ohr hört sich niemals satt.« 1707 die industriöse Classe im Staate] ›industriös‹ svw. eine gewerbliche Tätigkeit ausüben, unternehmerisch tätig sein. 1844 Triebe der Geselligkeit] vgl. Erl. zu 57f. 2019f. so gehören demohnerachtet Geitz und Gewinnsucht unter die Charakterzüge dieser Nation] zu diesem im 18. Jhd. weit verbreiteten Klischee vgl. etwa James Porter: Anmerkungen über die Religion, Regierungsform und die Sitten der Türken. Aus dem Englischen übersetzt [von Christian Garve]. Leipzig 1768, S. 3f. u. ö. 2026f. daß die Begierde nach Eigenthum einer der ältesten und der natürlichsten Triebe des menschlichen Herzens ist] Eigentumserwerb als anthropologische Konstante zu bezeichnen, geht vermutlich auf David Hume (1711‒1776) zurück (A treatise of human nature. London 1739/40, II.x); Jean-Jacques Rousseau (1712‒1778) bestreitet diesen Zusammenhang und weist das Eigentumsbedürfnis erst dem gesellschaftlichen Menschen zu (vgl. Du contrat social ou principes du droit politique. Amsterdam 1762); vgl. hierzu u. a. Christel Fricke: Die Eigentumsfrage bei David Hume und Adam Smith. In: Andreas Eckl, Bernd Ludwig (Hg.): Was ist Eigentum? Philosophische Positionen von Platon bis Habermas. München 2005, S. 118–132. 2037 um die Zeit des Sokrates] zu Lebzeiten des Sokrates (469‒399 v. Chr.) erlangte die attische Demokratie ihre vollständige Ausprägung und Athen festigte seine

338 | 5 Erläuterungen Vormachtstellung im attischen Seebund, welches mit einem ökonomischen Aufschwung und kulturellen Entfaltungen einherging; mit dem Peloponnesischen Krieg (431‒404 v. Chr.) verlor sich diese Blütezeit. 2169 der Übelstand seines altfränkischen Äußern] die Bedeutung des eigentlich positiv besetzten Begriffes ›altfränkisch‹ im Sinne von ›nach alter Väter Sitte‹ wandelt sich spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg zu einer abwertenden Bezeichnung für alles Veraltete und Unmoderne, vgl. etwa Johann Michael Moscherosch: Wunderliche und warhafftige Gesichte Philanders von Sittewald. Straßburg 1677, 4. Gesicht: Todten-Heer, S. 226: »Ist etwan ein altes Hauß/ ein alter Hut/ ein alter Mann/ ein armes altes Weib/ etwas daß sich nach ewrer Fürwitz und gespitztem Hirn nicht will schicken: so bald sagt ihr/ das seye Altfränkisch, sey nicht alamodisch: gehöre nicht mehr in diese Welt; sey nicht mehr zu brauchen«, ebenso Smelfuncus von Sittewaldts ausführliche Nachricht von seiner Wanderschaft ins Exilium. 1. Heft. Frankfurt a. M., Leipzig 1782, Beylage No. II: Versuch eines neuen Wörterbuchs für allerley Stände, S. 232f.: »Altfränkisch wird sehr oft gebraucht und gilt von Körpern und Seelen von Kleidern und Kleidertrachten, von Büchern und Lehrarten u. s. f. Es heißt eigentlich das so, was nicht nach der Mode ist. Ein rothes Haar macht seines Besitzers Gesicht altfränkisch, weil die rothen Haare nicht mehr im Cours sind. […] Ein Rock mit Ellenlangen aufgeschlizten Ärmeln und gesteiften Schössen ist altfränkisch […]. Vorlesungen auf Akademien in lateinischer Sprache zu halten, ist altfränkisch, so wie es bey vielen Zuhörern altfränkisch ist, sie zu verstehen.« 2290 in ihrem Decorum] Christian Thomasius (1655‒1728) gesteht dem Decorum als normativer Kraft im gesellschaftlichen Verhalten naturrechtlich eine Verbindlichkeit zu, doch können Verstöße gegen das Decorum nicht juristisch ‒ im Sinne des positiven Rechts ‒ sanktioniert werden, vgl. Fundamenta iuris naturae et gentium ex sensu communi deducta, in quibus ubique secernuntur principia honesti, justi ac decori. Halle, Leipzig 1705, 41718, I,6, §§ 1ff.). 2577f. die Leute, welche die Franzosen tirés à quatre epingles nennen] svw. ›aus dem Ei gepellt‹; die Begrifflichkeit kommt Ende des 17. Jhds. auf. 2604f. die gratam negligentiam] ›grata negligentia‹ svw. anmutige Nachlässigkeit, Unordnung, die den Schein von Natürlichkeit vorgibt. 2690‒2693 Vielleicht mißbilligte ihr erstes richtiges Gefühl [...] bis an das Kinn aufgepaußten Halskrausen.] die v. a. in den habsburgisch regierten Ländern seit etwa 1550 dominierende spanische (Hof-)Mode brachte im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert insbesondere in der Damenmode zahlreiche Formen von Gigantomanie hervor, so u. a. die ›Mühlsteinkrause‹, eine voluminös ausladende, meist aus gestärkter Spitze gefertigte Halskrause, die es erforderlich machte, das Haar aufzustecken bzw. es mit einem ‒ je nach Haarfülle ‒ hohen, spitz zulaufenden Hut mit breiter Krempe zu bedecken; vgl. dazu etwa Peter

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Paul Rubensʼ (1577‒1640) Gemälde Die Geißblattlaube (1609), das ihn und seine damalige Verlobte Isabella Brant (1591‒1626) zeigt.

Über den Einfluß einiger besondern Umstände auf die Bildung unserer Sprache und Litteratur [Eine Vorlesung.] [Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 14 (1773), 1. St., S. 5–25.]

[Eine Vorlesung.]] der Untertitel findet sich erst im Wiederabdruck in der Sammlung einiger Abhandlungen aus der Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Leipzig 1779, S. 440–470. 12 Geist der Nation] die u. a. auf Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu (1689‒1755; De l’Esprit des loix. Genf 1748) zurückgehende kulturelle Eigenheit einer Nation, die als Geist (hier als »l’esprit«) derselben bezeichnet wird. 20 Aufklärung des Volkes] ›Volksaufklärung‹ war ein von der Popularphilosophie entwickeltes Ziel, das durch die Aufklärung aller Bevölkerungschichten bis hin zu den Bauern auf den Fortschritt des Gemeinwesen und auf den Ausbau des Gemeinwohls abzielte; vgl. hierzu u. a. Holger Böning, Hanno Schmitt, Reinhart Siegert (Hg.): Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2006. 52 Was damals Luther für die deutsche Sprache gethan hat] der Reformator Martin Luther (1483‒1546) übersetzte die Bibel nicht wortgetreu (wie dt. Bibelübersetzer vor ihm), sondern suchte den Text dem Sinn nach ins Deutsche zu übertragen, wobei er nicht nur dem Volk ›auf das Maul‹ schaute, sondern auch zahlreiche neue Wörter ersann (u. a. ›Dachrinne‹) und dabei, so im Sendbrief vom Dolmetschen (1530), oft »viertzehen tage, drey, vier wochen […] ein einiges wort gesücht und gefragt, […] dennoch zu weilen nicht funden« habe (Werke, Bd. 30, Weimar 1910, S. 632‒646, hier S. 636); vgl. dazu auch Friedrich Gottlieb Klopstock: Zur Geschichte unsrer Sprache: »Unsre Sprache war bishär unter iren Müttern den Mundarten (denn di Sprachen haben file Mütter) mit der Wildheit unererzogner Kinder herumgeirt. Luther, ein Man, där finden konte, suchte si dort auf, und fürte si in sein Haus. Si mochte damals etwa zwölf Jar alt sein. Der gute Alte gewan si gleich innig lib. Aer ging ser freundlich mit ir um. Denn si war ein sanftes und heftiges Kind. Aer lernte fon ir; und lerte fi auch wol, mit aller seiner Freundlichkeit, ferstet sich: aber wen si störisch wurde, so sezte är ir den Kopf zurecht. Aer gab ir folle schakhafte Trauben; und merkte es ir bald ab, welche so recht für iren Gaumen weren. Dise las är ir auf. Und danach gedi und wux si, daß es eine Lust zu sehen war« (in: ders.: Über

340 | 5 Erläuterungen Sprache und Dichtkunst. Hamburg 1779, S. 277‒282, hier S. 279; Orthographie im Original). 84 witzigen Volks] ›witzig‹ zeitgenössisch svw. geistreich, von schneller Auffassungsgabe. 93 Tandeleyen] svw. Spielerei. 121f. die unreinen Kanäle der neuern scholastischen Theologie und Philosophie] die hier gemeinte ›mittelalterliche Scholastik‹ wurde schon im 16. Jhd. abwertend mit Engstirnigkeit und Spitzfindigkeit gleichgesetzt (vgl. etwa die 1515 anonym erschienenen Dunkelmännerbriefe), das Grosse Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste weist darauf hin, dass mit der ›Wiederentdeckung‹ der Schriften des Aristoteles und vor allem des Organon im frühen Mittelalter bei den »Geistliche[n] […] eine sonderliche Begierde zur Philosophie erweckt worden« sei, da diese aber »das Griechische nicht verstunden so bedienten sie sich der aus dieser Sprache ins Arabische, und aus dem Arabischen […] ins Lateinische gemachten Übersetzungen, nebst den Commentariis des Avicenna [Abū Alī al-Husain ibn Abd Allāh ibn Sīnā, vor 980‒1037] und Averrohis [Abū l-Walīd Muhammad ibn Ahmad Ibn Ruschd, 1126‒1198], woraus denn endlich eine neue Philosophie […] erwachsen, die bey nahe gantz und gar aus lauter Subtilitäten bestanden, und nachdem sie endlich mit der Theologie vermischet worden, diese beyde Wissenschaften mehr verwirret und verfinstert, als in Aufnahme gebracht« (Bd. 35 [1743], Sp. 922f.). 123 sammt dem guten Thomas Magister] der byzantinische Grammatiker Thomas Magistros (1275‒1346) verfasste Erläuterungen (›scholia‹) zu den Werken u. a. Pindars (522/18‒nach 446 v. Chr.) und des Euripides (485/80‒406 v. Chr.), darüber hinaus verfertigte er eine Auswahl (›ecloga‹) attischer Wörter und Redewendungen. 189‒191 In diesen Gattungen der Schreibart giebt es unzählige mittlere Stufen: doch lassen sie sich überhaupt auf dreye bringen. Diese sind die eigentlich poetische und malerische, die populäre und dialogische, und die didaktische.] vgl. hierzu v. a. Charles Batteuxʼ (1713‒1780) Cours de belles lettres ou principes de la littérature (5 Bde. Paris 1747–1750), den Karl Wilhelm Ramler (vgl. Erl. zu 231f.) unter dem Titel Einleitung in die schönen Wissenschaften übersetzte und »mit Zusätzen vermehr[te]« (4 Bde. Leipzig 1756–1758, 41774). 198 Klopstock] zu den zeitgenössisch bekanntesten Werken Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724‒1803) zählen das »Heldengedicht« Der Messias, dessen erste drei Gesängen Halle 1749 erschienen und ab 1751 in vier Bänden 20 Gesänge umfasste, wobei Klopstock zum ersten Mal Hexameter in der deutschen Dichtung nutzte, und sein in freien Rhythmen gehaltenes »Bardiet für die Schaubühne‹ Hermanns Schlacht (Hamburg, Bremen 1769). 198 Geßner] der schweizer Dichter Salomon Geßner (1730‒1788) wurde vor allem durch seine empfindsame bukolische Dichtung bekannt, vgl. etwa Daphnis (Zürich 1754) und die Idyllen (Zürich 1756).

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204 Klopstock verliert im Französischen ganz unendlich.] vgl. Erl. zu 211. 211 die Übersetzung der Messiade] nachdem bereits im Dezember 1748 Vinzenz Bernhard Tscharner (1728‒1778) Auszüge aus dem Messias in französischer Sprache vorgelegt hatte (Enchantillons dʼun Poeme Epique Allemand, dont le sujet est, La Redemption, ou Le Messie, tirés de la Lettre dʼun Gentil-Homme Allemand. In: Journal Helvétique, ou Recueil de Pièces Fugitives de Literature Choisie 1748, S. 556‒573), von August 1760 bis November 1761 im Pariser Journal étranger die ersten vier Gesänge in ausführlicher, die Gesänge 5‒10 in verkürzender Übersetzung erschienen waren und Pierre-Thomas Antelmy (1730‒1783) im September und Oktober 1763 im Journal des Sçavans den 2. und 7. Gesang in Auszügen übersetzt hatte (S. 603‒611, 690‒697), legte dieser eine vollständige Übersetzung der ersten zehn Gesänge des Messias als Le Messie, poëme en dix chants. Traduit de lʼallemand de M. Klopstock [par Pierre-Thomas Antelmy et Georg Adam Junker]. 2 Bde. Paris 1769 vor; vgl. auch die Besprechung mit Textbeispielen in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste 9 (1769), S. 132‒140. ‒ Eine Übersetzung der ersten 15 Gesänge erschien 1795 (von Louis-Frédéric Petitpierre [1712‒1787]), vollständig lag der Messias in französischer Sprache erst 1801 vor (von Maria Antoinette Theresia Freiin von Kurtzrock [1750‒1805]). 212f. so vergleiche man die Übersetzung Geßners, die von so ausgemachter und vorzüglicher Güte ist, mit dem Originale] Salomon Geßners ›Heldengedicht‹ Der Tod Abels in fünf Gesängen (Zürich 1758) wurde bereits kurz nach dem Erscheinen von Michael Huber (1727‒1804) ins Französische übersetzt (La Mort dʼAbel, poème en cinq chants. Paris 1760), kurz darauf folgten die Idylles et poèmes champêtres de M. Gessner (Lyon 1762) und Daphnis ou le premier navigateur (Paris 1764), zwischen 1768 und 1772 erschien eine ebenfalls von Huber übersetzte vierbändige Ausgabe der Œuvres de Mr. Gessner. 231f. Auf diese Art hat uns Ramler und Leßing schon manches Wort, manchen Ausdruck gerettet] Karl Wilhelm Ramler (1725‒1798), der ›deutsche Horaz‹, wurde vor allem durch seine Übersetzungen der Oden des Horaz (Quintus Horatius Flaccus, 65‒8 v. Chr.), der Carmina Catulls (Gaius Valerius Catullus, fl. 1. Jhd) und der Epigramme Martials (Marcus Valerius Martialis, 40‒103/04) bekannt, verfasste aber auch selbst eine Vielzahl von Gedichten (u. a. Oden. Berlin 1767) sowie das Libretto zu dem im 18. Jhd. populärsten Passionsoratorium Der Tod Jesu (UA 1755) und betätigte sich als Herausgeber (anakreontischer) Lieder der Deutschen (Berlin 1766) und ‒ gemeinsam mit Gotthold Ephraim Lessing (1729‒1781) ‒ der Epigramme Friedrich von Logaus (1604‒1655; Sinngedichte. Zwölf Bücher. Mit Anmerkungen über die Sprache des Dichter. Leipzig 1759). ‒ Lessing trat nicht nur als Theoretiker des ›Bürgerlichen Trauerspiels‹ und als Literaturkritiker hervor, sondern auch als Fabeldichter (Fabeln. Drey Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts. Berlin 1759) und Epigrammen (u. a. Sinngedichte. Berlin 1771).

342 | 5 Erläuterungen 261 eine eigne Stammsprache] ›Stammsprache‹ ist hier nicht im Sinne von ›Stammessprache‹ zu verstehen, sondern als eine »ursprüngliche Sprache, welche dem Anscheine nach, oder auf eine merkliche Art, aus keiner andern entstanden, eine Hauptsprache, Stammsprache, wird in Ansehung, der von ihr abstammenden Tochtersprachen, oder auch Mundarten, die Muttersprache genannt. So ist die Lateinische Sprache eine Muttersprache in Ansehung der Italiänischen, Französischen und Spanischen Sprachen« (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. 4 Bde. Leipzig 1793‒1801, Bd. 3, Sp. 349). 320f. Wäre die Dichtkunst in Schwaben, wo sie aufzublühen anfieng, zur völligen Reife gediehen] Johann Jakob Bodmer (1698‒1783) legte 1748 Proben der alten schwäbischen Poesie des dreyzehnten Jahrhunderts vor, deren »Sprache« zwar »nichts weniger als barbarisch gewesen sey. Eine Vergleichung derselben mit der gegenwärtigen Sprache wird ihr und den Dichtern, von welchen sie angebauet worden, zu keinem Nachtheile gereichen. Leute von Geschmacke werden zugleich wahrnehmen, daß diese Poeten ihre so geschickte Sprache gebraucht haben, tausend artige, natürlich-einfältige, und in dem Grunde des menschlichen Herzens entsprungene Empfindungen auszubilden« (Proben der alten schwäbischen Poesie des dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der Manessischen Sammlung. Zürich 1748); im Folgenden kam es auch in Zusammenarbeit mit Johann Jakob Breitinger (1701‒1776) zu einer produktiven Aneignung der und einer Auseinandersetzung um die Literatur des Mittelalters, vgl. etwa die von Bodmer und Breitinger herausgegebene Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte. CXL Dicher enthaltend. 2 Bde. Zürich 1758/59; vgl. dazu auch Bernd A. Weil: Die Rezeption des Minnesangs in Deutschland seit dem 15. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1991 sowie Volker Mertens: Bodmers Murmeltier. Möglichkeiten und Grenzen der Rezeption von Minnesang im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 38 (2008), S. 52‒63. 329 der Athenienser] das Attische, der in Attika, der Region um Athen gesprochene altgriechische Dialekt, löste im 5. vorchristlichen Jahrhundert das Ionische (vgl. Erl. zu 326) als literarischen Dialekt ab und gilt als Norm des klassischen Altgriechisch. 330f. des ionischen Herodots] der Historiker Herodot (490/80 v. Chr.‒um 430/20 v. Chr.) stammte aus Halikarnassos (heute Bodrum) im damaligen Ionien an der kleinasiatischen Küste; das Ionische unterscheidet sich vor allem in der Lautlehre stark vom Attischen, dem ›klassischen‹ Dialekt des Altgriechischen. 333 Homer] die Ilias und die Odyssee des Homer sind vornehmlich im ionischen Dialekt niedergeschrieben, sind aber durchsetzt mit Elementen des Äolischen, eines an der kleinasiatischen Küste, aber auch in Mittel- und Nordgriechenland und auf der Insel Lesbos gesprochenen altgriechischen Dialekts.

Über den Einfluß einiger besondern Umstände auf die Bildung | 343

361f. die Werke der Montesquieu und der Ferguson] Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu (1689‒1755) arbeitete zwölf Jahre an seinem Hauptwerk De l’esprit des loix (Genf 1748), die 1728 anonym in Amsterdam publizierten Lettres Persanes waren das Produkt von vier Jahren Arbeit. ‒ Adam Fergusons (1723‒1816) Institutes of Moral Philosophy (Edinburgh 1769) sind Überarbeitungen und Zusammenfassungen der Vorlesungen, die er seit 1764 als Professor für ›pneumatics and moral philosophy‹ an der Universität Edinburgh gehalten hatte. 369f. Man klagt darüber, daß unsre Großen unsere Bücher nicht lesen, und man hat Recht, darüber zu klagen.] Friedrich II. (1712‒1786) etwa zog die französische Sprache und Literatur der deutschen vor, in der von Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1781‒1820) übersetzten Abhandlung Über die deutsche Litteratur, die Mängel die man ihr vorwerfen kann, die Ursachen derselben und die Mittel sie zu verbessern (Berlin 1780) nannte der König später das Deutsche »eine noch halb-barbarische Sprache« (S. 6) und verwies darauf, dass Deutschland sich »in Absicht der schönen Wissenschaften« seine »Dürftigkeit nur gestehen« müsse (S. 8): »Ich gebe mir alle Mühe, um unsere Homere, unsere Virgile, unsere Anacreons, unsere Horatze, unsere Demosthene, unsere Cicerone, unsere Thucydides, unsere Livius, auszuforschen; aber ich finde sie nirgend, alle meine Mühe ist umsonst« (S. 7). 378 einen deutschen Montesquieu] vgl. Des Herrn von Montesquiou Werk von den Gesetzen, oder von der Verhältniß, welche die Gesetze zu jeder Regimentsverfassung, den Sitten, dem Landstriche, der Religion, der Handlung u. s. f. haben sollen. Wozu der Verfasser neue Untersuchgen, die römischen Gesetze wegen der Erbfolge, der französischen Gesetze und der Lehngesetze betreffend, gefüget hat. Nach der neuesten Auflage, die von dem Verfasser verbessert und […] vermehret worden ist. Aus dem Französischen übersetzt [von Abraham Gotthelf Kästner]. 3 Bde. Frankfurt a. M., Leipzig 1753. 379 Moses] hier Moses Mendelssohn (1729‒1786).

344 | 5 Erläuterungen

Von der Popularität des Vortrages [Vermischte Aufsätze, welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind. Neu hg. und verbessert. Bd. 1 (1796), S. 331–358.] Titel Popularität] »[p]opulär […] ein von einigen neuern Schriftstellern ohne Noth

aus dem Franz. populaire entlehntes Wort, dem größten Haufen, den niedern Classen der Glieder eines Staates verständlich; allgemein verständlich. […] Bey andern bedeutet es, der Art zu denken und sich auszudrucken des großen Haufens gemäß« (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. 4 Bde. Leipzig 1793‒1801, Bd. 3, Sp. 808); vgl. dazu die sich auf Garves Essay beziehende Theorie der Popularität (Magdeburg 1808) Johann Christoph Greilings (1765‒1840); vgl. Holger Böning: Das Ringen um »Volkston« und »Volksbeifall« in der deutschen Aufklärung ‒ Theorien der Popularität von den ersten Anfängen in der gemeinnützig-ökonomischen Publizistik bis zu Johann Christoph Greiling. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der frühen Neuzeit. Bd. 6: Mittel-, Nord- und Osteuropa. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 325‒339. 78 Einbildungskraft mit Anm. 1] das Vermögen der Einbidlungskraft, das zwischen Sinnlichkeit und Verstand stehend beide vermitteln sollte, wurde zu den besonders aktiven, weil kreativen menschenlichen Erkenntnisvermögen gezählt; zugleich wurde sie auch gefürchtet, weil sie dem Menschen Wahnvostellungen für Realitäten vorspielen könnte; vgl. hierzu u. a. Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998 sowie Rudolf Meer, Giuseppe Motta, Gideon Stiening (Hg.): Konzepte der Einbildungskraft in der Philosophie, den Wissenschaften und den Künsten des 18. Jahrhunderts. Festschrift für Udo Thiel zum 65. Geburtstag. Berlin, Boston, 2019. 102 Witz] ›witzig‹ zeitgenössisch svw. geistreich, von schneller Auffassungsgabe. 203f. die Betrachtungen eines Rousseau oder Shaftesbury, über einzelne Leidenschaften oder Tugenden] vgl. Jean-Jacques Rousseau (1712‒1778): Émile ou De l’éducation. Amsterdam 1762. ‒ Vgl. Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671‒1713): Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. 3 Bde. London 1711, hier u. a. An Inquiry concerning Virtue, or Merit (Bd. 2). 254 des unpopulären Systematikers] Verweis auf Immanuel Kant (1724‒1804) und seine Kritiken. 275 seit einiger Zeit verschiedne Schriftsteller aus der Kantischen Schule] hier sind v. a. Johann Gottlieb Fichte (1762‒1814) mit Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie (Jena 1794) und seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (Jena 1794/95) sowie Karl Leonhard Reinhold (1757‒1823) mit seinen Beyträgen zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen (2 Bde. Jena 1790/94) gemeint; vgl. auch Christoph Böhr: Philo-

Von der Popularität des Vortrages | 345

sophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. 290 Humes Beyspiel] vgl. zur Rezeption v. a. von David Humes (1711‒1776) Philosophical Essays concerning Human Understanding (London 1748) und deren Übersetzung durch Johann Georg Sulzer (1720‒1779; Philosophische Versuche über die menschliche Erkenntnis. Hamburg, Leipzig 1755) bzw. der überarbeiteten Fassung An Enquiry concerning Human Understanding (London 1758) u. a. Manfred Kuehn: Hume and Tetens. In: Hume-Studies XV.2 (1989), S. 365‒375.

Über die Gränzen des bürgerlichen Gehorsams, in Beziehung auf den Aufsatz von Kant über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig seyn, taugt aber nicht für die Praxis [Vermischte Aufsätze, welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind. Neu hg. und verbessert. Bd. 2 (1800), S. 389–414.] Anm. 1 wie der folgende] vgl. Über den Unterschied von Theorie und Praxis, in Bezie-

hung auf die Abhandlung eines andern Schriftstellers über denselben Gegenstand in der Berlinischen Monatsschrift. In: Vermischte Aufsätze, welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind. Neu hg. und verbessert. Bd. 2 (1800), S. 415–427. 4f. die Äußerung Kants in einem Aufsatze der Berliner Monatsschrift] vgl. Immanuel Kant (1724‒1804): Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: Berlinische Monatsschrift 22 (1793), 3. Stück, S. 201‒284, hier v. a. S. 208‒232: »I. Von dem Verhältniß der Theorie zur Praxis in der Moral überhaupt. (Zur Beantwortung einiger Einwürfe des Hrn. Prof. Garve)« (AA VIII, S. 273‒313, v. a. S. 278‒289). 10 der alte orthodoxe Satz von dem göttlichen Rechte der Obrigkeit] die seit dem Mittelalter gängige Diskussion über das Gottesgnadentum weltlicher Herrschaft, das noch Ludwig XVI. wie selbstverständlich für sich in Anspruch nahm, war in den 1770er Jahren im Rahmen einer Kontroverse zwischen Christian Konrad Wilhelm Dohm (1751‒1820) und Christoph Martin Wieland (1733‒1813) neu entfacht, wobei Wieland gegen die Thesen von einer Volkssouveränität die religiöse Legitimation verteidigte, vgl. Wieland: Über das göttliche Recht der Obrigkeit oder: »Daß die höchste Gewalt in einem Staat durch das Volk geschaffen sey«. In: ders.: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Berlin, New York 2008ff., Bd. 13.1, S. 554‒568. 11 obedientia passiva] passiver Gehorsam. 13f. der Fall Carls des ersten] die Versuche Karls I. (1600‒1649), im Sinne des Absolutismus ohne Parlament zu regieren, lösten den Englischen Bürgerkrieg

346 | 5 Erläuterungen (1642‒1649) aus, der mit der Hinrichtung Karls und der Abschaffung der Monarchie endete. 15 Vertreibung der Stuarte] vgl. Erl. zu 284. 42 Kant tritt dagegen auf] vgl. Kant: Über den Gemeinspruch, S. 257‒261 (AA VIII, S. 301f.), mit Verweis auf Gottfried Achenwall (1719‒1772) und Johann Stephan Pütter (1725‒1807): Elementa iuris naturae. Göttingen 1750. 86‒89 Also in der Zwischenzeit [...] damit aus dem Nichts eine neue Schöpfung hervorgehe.] Garve arbeitet hier mit den Ängsten der Zeitgenossen vor der Anarchie, die auch Immanuel Kant (1724‒1804) als den schlimmstmöglichen Zustand der Menschen bezeichnete: »Sind die Menschen nicht frey, so wäre ihr Wille nach allgemeinen Gesetzen eingerichtet. Wäre aber jeder frey ohne Gesetz; so könnte nichts schrecklicheres gedacht werden. Denn jeder machte mit dem andern ws er wollte, und so wäre keiner frey. Vor dem wildesten Thiere dürfte man sich nicht so fürchten, als vor einem gesetzlosen Menschen« (Naturrecht Feyerabend, AA XXVII, S. 1320); vgl. Heinrich P. Delfosse, Norbert Hinske, Gianluca Sadun Bordini (Hg.): Stellenindex und Konkordanz zum »Naturrecht Feyerabend«. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, Bd. 2, S. 5‒87. 210 gemäßigte Monarchie] eine auf Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu (1689‒1755; De l’esprit des loix. Genf 1748) zurückgehende Vorstellung von der durch das Gewaltteilungsprinzip gemäßigten Monarchie; vgl. auch Andreas Timmermann: Die »gemäßigte Monarchie« in der Verfassung von Cadiz (1812) und das frühe liberale Verfassungsdenken in Spanien. Frankfurt a. M. 2007. 270‒273 Von dem Übergange der ersten Griechischen Monarchieen zur republikanischen Form [...] wie sie ihre Könige verjagten und die Königswürde abschafften.] Rom war der Überlieferung (Ab urbe condita) des Titus Livius (um 59 v. Chr.‒um 17 n. Chr.) zufolge seit seiner legendären Gründung 753 ein Königreich, dessen letzter König, Lucius Tarquinius Superbus († um 495 v. Chr.) 509 v. Chr. vertrieben wurde, woraufhin mit der Wahl der ersten Konsulen (Lucius Tarquinius Collatinus und Lucius Iunius Brutus [† 509 v. Chr.]) die römische Republik entstand. 282f. wodurch Holland ein Freystaat geworden und England unter das Haus Oranien und endlich an Hannover gekommen ist] im Achtzigjährigen Krieg (1568‒1648) erkämpften die sieben nördlichen Provinzen der Spanischen Niederlande unter Führung des ehemaligen Statthalters Wilhelm I. von OranienNassau (1533‒1584), dessen Söhnen Moritz von Oranien-Naussau (1567‒1625) und Friedrich Heinrich von Oranien-Nassau (1584‒1647) ihre Unabhängigkeit von der spanischen Krone und damit vom Hause Habsburg, im Westfälischen Frieden wurde die nun auch vom Heiligen Römischen Reich unabhängige Republik der Sieben Vereinigten Provinzen international anerkannt. ‒ Während der ›Glorious Revolution‹ (vgl. Erl. zu 2984f.) landete der Statthalter der Vereinigten Niederlande und Schwiegersohn Jakobs II. von England

Über die Gränzen des bürgerlichen Gehorsams | 347

(1633‒1701), Wilhelm III. von Oranien-Nassau (1650‒1702) auf Bitten eines großen Teils des englischen Parlaments mit einer Invasionsflotte in England und zwang Jakob ins Exil, im Frühjahr 1689 wurde Wilhelm gemeinsam mit seiner Frau Maria II. (1662‒1694) zum König von England gekrönt. ‒ Noch während der Regierungszeit Wilhelms verabschiedete das englische Parlament 1701 den ›Act of Settlement‹, der die Thronfolge einzig für Protestanten vorsah und für die Nachfolge der letzten protestantischen Thronfolgerin aus dem Hause Stuart, Wilhelms Schwägerin Anne (1665‒1714; 1707 Königin von Großbritannien), deren Cousine ersten Grades Sophie von der Pfalz (1630‒1714) bzw. deren protestantische Nachkommen bestimmte; nach Annes Tod bestieg Sophies Sohn Georg Ludwig (1660‒1727) aus der Ehe mit Kurfürst Ernst August von Braunschweig-Lüneburg (inoffiziell ›Kurhannover‹; 1629‒1698) als Georg I. den Thron Großbritanniens; die damit einhergehende Personalunion zwischen dem König von Großbritannien und dem Kurfürsten von Braunschweig-Lüneburg bzw. ab 1814 König von Hannover endete erst 1837. 284 die Rebellion unter Carl dem Ersten] vgl. Erl. zu 13. 284f. der Revolution unter Jacob dem Zweyten] Jakob II. von England (1633‒1701) wurde wegen seiner pro-katholischen und absolutistischen Politik durch die ›Glorious Revolution‹ (1688/89) als König abgesetzt und musste nach Frankreich fliehen; mit der 1689 verabschiedeten ›Bill of Rights‹ wurde die Grundlage einer parlamentarischen Regierungsform geschaffen, die den Monarchen nur in Verbindung mit dem Parlament als Träger der Staatssouveränität anerkannte. 329f. Man sieht es als eine der größten Ungereimtheiten des Mittelalters an, daß es seine Rechtsstreitigkeiten durch Duelle entscheiden ließ.] Zweikämpfe zur Wahrheitsfindung in Rechtsstreitigkeiten (›Gottesurteil‹) kodifiziert u. a. der 1225 entstandene Sachsenspiegel des Eike von Repgow (1180/90‒nach 1233).

Ein ernsthafter Commentar über einen Scherz [Vermischte Aufsätze, welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind. Neu hg. und verbessert. Bd. 2 (1796), S. 429–467.]

2‒94 In der Zeit […] wobey andre sich wärmen können.«] diese Anekdote findet sich zuerst bei Thomas Sheridan: The Life of Rev. Dr. Jonathan Swift, Dean of St. Patrickʼs, Dublin. London 1784, 21787, S. 37‒39, Sheridan gibt als Quelle die mündliche Mitteilung einer vertrauten Freundin der Tochter Lord Berkeleys (vgl. Erl. zu 8), Elizabeth († 1769) an (S. 37, Anm.); Friedrich Heinrich Jacobi publizierte die Geschichte zuerst in deutscher Übersetzung, vgl. Swifts Meditation über einen Besenstiel, und wie sie entstanden ist. In: Neues Deutsches Museum 1789, Bd. 1, 4. Stück, S. 405–417.

348 | 5 Erläuterungen 2f.

In der Zeit, da Swift als Schriftsteller noch wenig bekannt, und als Geistlicher und Dorfpfarrer in einer entlegenen Gegend von Irland war] der irische Schriftsteller Jonathan Swift (1667‒1745) trat nach einem abgeschlossenen Theologiestudium in Dublin eine Sekretärsstelle bei einem entfernten Verwandten seiner Mutter, William Temple (1628‒1699), im englischen Farnham an, der ihm eine weitere Universitätsausbildung zum Master of Arts in Oxford ermöglichte; nach Streitigkeiten mit Temple kehrte Swift nach Irland zurück, wo er zum Priester der anglikanischen Church of Ireland ordinieren ließ und im März 1695 in Kilroot im nordirischen County Antrim eine Anstellung als Vikar fand. 8 im Hause des Lord Berkeley] Charles Berkeley, 2. Earl of Berkeley (1649‒1710), Mitglied des House of Lords und von 1689 bis 1695 Botschafter in den Vereinigten Niederlanden. 9f. den Andachtsübungen der frommen Lady] Elizabeth Berkeley, geb. Noel (um 1654‒1719). 11f. Boyles Betrachtungen] vgl. Robert Boyle (1627‒1692): Occasional Reflections upon Several Subjects. London 1665. 18 Betrachtungen über einen Besenstiel] vgl. Jonathan Swift: A Meditation upon a Broom-Stick and Somewhat Beside. London 1710, S. 5‒7. 41f. fand das kleine Stück, als es in der Folge abgedruckt wurde, strengere Richter] vgl. dazu Jacobis Ausführungen zur Meditation im Neuen Deutschen Museum, S. 405‒412, v. a. S. 412: »Dieser Aufsatz ist Swiften aus der Ursache sehr übel genommen worden, weil er offenbar in Beziehung auf die Betrachtungen des berühmten Robert Boyle geschrieben ist. Man sah ihn als eine Parodie an, die allein zur Absicht hätte, jenen würdigen Mann lächerlich zu machen.« 51‒94 »Diesen jetzt […] wobey andre sich wärmen können.«] vgl. Jonathan Swift: A Meditation upon a Broom-Stick and Somewhat Beside. London 1710, S. 5‒7: »THIS single Stick, which you now behold Ingloriously lying in that neglected Corner, I once knew in a Flourishing State in A Forest. It was full of Sap, full of Leaves, and full of Boughs; but now, in vain does the busie Art of Man pretend to Vye with Nature, by tying that witherʼd Bundle of Twigs to its sapless Trunk; ʼtis now at best but the Reverse of what it was, a tree turnʼd upside down, the Branches on the Earth, and the Root in the Air; ʼtis now handled by every Dirty Wench, condemnʼd to do her Drudgery, and by a Capricious kind of Fate, destinʼd to make other Things Clean, and be Nasty it self; At Length, worn to the Stumps in the Service of the Maids, ʼtis either thrown out of Doors, or condemnʼd to the last use of kindling Fires. When I beheld this, I sighʼd, and said within my self, Surely Man is a Broom-stick; Nature sent him into the World Strong and Lusty, in a Thriving Condition, wearing his own Hair on his Head, the proper Branches of this Reasoning Vegetable, till the Axe of Intemperance has lopt off his Green Boughs, and left him a witherʼd Trunk; He then flies unto Art, and puts on a Peruque, valuing himself upon an Unnatural Bundle of Hairs, all covered with Powder, that never grew on his Head; but now should

Ein ernsthafter Commentar über einen Scherz | 349

this our Broom-Stick pretend to enter the Scene, proud of those Birchen Spoils it never bore, and all coverʼd with Dust, thoʼ the Sweepings of the Finest Lady’s Chamber, we should be apt to Ridicule and Despise its Vanity, Partial Judges that we are! of Our own Excellencies, and other Men’s Faults. But a Broom-stick, perhaps youʼll say, is an Emblem of a Tree standing on its Head; and pray what is Man, but a Topsy-turvy Creature, his Animal Faculties perpetually a Cock-Horse and Rational; His Head where his Heels should be; grovelling on the Earth, and yet with all his Faults, he sets up to be an universal Reformer and Corrector of Abuses, a Remover of Grievances, rakes into every Slut’s Corner of Nature, bringing hidden Corruptions to the Light, and raises a mighty Dust where there was none before, sharing deeply all the while, in the very same Pollutions he pretends to sweep away: His last Days are spent in Slavery to Women, and generally the least deserving; ʼtill worn to the Stumps, like his Brother Bezom, heʼs either kickt out of Doors, or made use of to kindle Flames, for others to warm Themselves by.« ‒ Graves Übersetzung ist nicht identisch mit der Georg Christian Wolffs (1702‒1772), Des berühmten Herrn D. Schwifts Mährgen von der Tonne. Zum allgemeinen Nutzen des menschlichen Geschlechts abgefasset. Nebst einem vollständigen Begriffe einer allgemeinen Gelehrsamkeit. Aus dem Englischen ins Teutsche übersetzet. 2 Bde. Altona 1729, Bd. 2, S. 105‒107; Garve scheint den Text selbst übersetzt zu haben. 112f. Swift hatte einen ähnlichen verunglückten Reformations-Versuch in einem Vaterlande] hier ist der Englische Bürgerkrieg gemeint, vgl. Erl. zu 115f. 115f. die Urheber der großen Staatsveränderungen zur Zeit Carls I.] die Versuche König Karls I. (1600‒1649), in England und Schottland eine einheitlche Kirchenverfassung einzuführen und absolutistisch ohne Parament zu regieren, lösten den Englischen Bürgerkrieg (1642‒1649) aus, der mit der Hinrichtung Karls und der Errichtung der englischen Republik unter Oliver Cromwell (1599‒1658) endete; 1653 begründete Cromwell als Lordprotektor die puritanische Militärdiktatur, die nach dessen Tod von seinem eher inkompetenten Sohn Richard (1626‒1712) noch bis zum April 1659 fortbestand; im Mai 1600 verlieh das Parlament Karl II. (1630‒1685), dem zweiten Sohn Karls I. die Königswürde und stellte so die Monarchie wieder her. 124‒126 Die Gracchen im alten, Arnold von Brescia und Rienzi im neuern Rom, Marcell, so wie Robertspierre in Paris, alle haben damit angefangen, den Staat zu säubern] vgl. Erl. zu 467, 478, 509f. ‒ Maximilien de Robespierre (1758‒1794) war als führender Politiker der Jakobiner maßgeblich für die ›Terreur‹ verantwortlich, der Schreckensherrschaft zwischen Juni 1793 und Juli 1794, der mehr als 40.000 angebliche Gegner der Revolution zum Opfer fielen. 220 der Cardinal von Retz] Jean-François Paul de Gondi (1613‒1679), in der französischen Geschichtsschreibung nach der südlich der Loire-Mündung gelegenen Pays de Retz genannt, von 1654 bis 1662 Erzbischof von Paris; vgl. dessen Mé-

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moires du cardinal de Retz: contenant ce qui sʼest passé de plus remarquable en France, pendant les premières Années du regne de Louis XIV. Amsterdam 1717. der Fronde] als ›Fronde‹ ‒ von frz. ›fronder‹, gegen die Regierung opponieren ‒ werden verschiedene bürgerkriegsähnliche Aufstände zwischen 1648 und 1653 bezeichnet, in denen das Pariser Parlament, der französische Adel und das Volk v. a. gegen die von der als Mutter des noch minderjährigen Ludwig XIV. (1638‒1715) regierenden Anna von Österreich (1601‒1666) verhängten Besteuerungen im Krieg gegen Spanien (1635‒1659) und für mehr Einfluss auf die Regierung ankämpfte. moralisches Gefühl] das moralische Gefühl gilt dem 18. Jahrhundert seit Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671‒1713; vgl. Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. 3 Bde. London 1711) als ein in der Natur des Menschen liegendes moralisches Vermögen, das sich vor allem als Mitleid (bei Jean-Jacques Rousseau [1712‒1778] und Gotthold Ephraim Lessing [1729‒1781]) ausdrückt; Adam Smith (1723‒1790) schreibt schon 1759 mit The Theory of Moral Sentiments eines der Standardwerke der spätaufklärerischen Debatte; vgl. auch Johann Georg Heinrich Feder (1740‒1821): Über das moralische Gefühl. In: Deutsches Museum 1776, Bd. 1, 1. St., S. 15–40, 2. St., S. 103–115, 4. St., S. 287–306, 6. St., S. 479–503; vgl. Nele Schneidereit: Feder über das moralische Gefühl. In: Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening (Hg.): Johann Georg Heinrich Feder (1740‒1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. Berlin, Boston 2018, S. 167‒188. die bürgerlichen Kriege] Garve meint hier Bürgerkriege, wie sie sich vor allem in England zugetragen haben. Reformations-Versuche im Staate] Garve setzt hier auf legitime innerstaatliche Reformversuche, die sich von jeglicher Revolution, die er ablehnt, strikt unterscheiden. Johann Huß] Jan Hus (um 1370‒1415), böhmischer, von den Lehren John Wyclifs (um 1330‒1384) beeinfusster reformatorischer Theologe und 1409/10 Rektor der Prager Universität; 1410 aufgrund seiner kirchenkritischen Äußerungen (u. a. die Ansicht der Kirche als hierarchiefreie Gemeinschaft) exkommuniziert, floh Hus aus Prag und scharte als Wanderprediger zahlreiche Anhänger um sich (Hussiten); auf das Konzil von Konstanz (1414‒1418) geladen, wurde Hus trotz der Zusicherung freien Geleits durch den römisch-deutschen König und späteren Kaiser Sigismund von Luxemburg (1368‒1437) im November 1414 verhaftet, der Häresie angeklagt und am 6. Juli zusammen mit seinen Schriften als Häretiker verbrannt. Die Costnitzer Kirchenversammlung] ›Costnitz‹ svw. Konstanz; gemeint ist das Konzil von Konstanz vom 5. November 1414 bis zum 22. April 1418, vgl. Erl. zu 412. mit seinem Freunde Hieronymus] Hieronymus von Prag (um 1379‒1416), böhmischer Gelehrter und Mitbegründer der hussitischen Bewegung; am 30. Mai

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1416 wurde Hieronymus vom Konstanzer Konzil als Ketzer verurteilt und noch am selben Tag an der selben Stelle wie Jan Hus auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 422 den Böhmischen Sektirern] die hussitische Bewegung spaltete sich in zwei Gruppierungen, einerseits die gemäßigten Kalixtiner (lat. calix ›Kelch‹), die die freie Predigt, den Laienkelch, eine strenge Kirchenzucht für den Klerus und die Säkularisation des Kirchengutes forderten und v. a. bei Adel und Bürgertum Unterstützung fanden und sich in den frühen 1430er Jahren wieder in die katholische Kirche integrierten, andererseits die radikalen Taboriten (nach einer von ihnen gegründeten und nach dem Berg Tabor benannten südböhmischen Siedlung), die sich großteils aus der mittellosen Landbevölkerung rekrutierten und das ›Reich Gottes‹ mit Waffengewalt zu errichten hofften; die nach dem Vorbild der christlichen Urgemeinde leben wollenden und alle geistliche, aber auch weltliche Obrigkeit ablehnenden Taboriten erlitten in den Hussitenkriegen (1419‒1436), die seit der Bulle Papst Martins V. (Oddo di Colonna; 1368‒1431) vom 17. März 1420 in eine Reihe von ›Kreuzzügen‹ ausarteten, zahlreiche Niederlagen, die zu ihrer Vernichtung bzw. Auflösung führten. 430‒444 Hätten in England unter Carl I. Hambden und die Patrioten [...] mit der willkührlichen Herrschaft eines Einzigen.] John Hampden (um 1594‒1643) hatte bereits 1636 ‒ erfolglos ‒ gegen von Karl I. (vgl. Erl. zu 115f.) verhängte Steuern aufbegehrt, 1640 trat er im Parlament an die Spitze der Opposition gegen den König und wurde 1642 des Hochverrates angeklagt; Hampden wurde in der Schlacht bei Chalgrove Field in Oxfordshire am 18. Juni 1643 schwer verwundet und starb sechs Tage später. 447‒449 wenn die Häupter der ersten National-Versammlung, die Fayette, LallyTolendal, Clermont-Tonnerre, Mouniers, – und selbst Mirabeau] Marie-JosephPaul-Yves-Roch-Gilbert du Motier, Marquis de La Fayette (1757‒1834), der zwischen 1777 und 1781 auf Seiten der Kolonisten im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gedient hatte, wurde am 14. Juli 1789 zum Vizepräsidenten der französischen Nationalversammlung gewählt, die von ihm nach amerikanischem Vorbild ausgearbeitet Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurden in die französische Verfassung übernommen; La Fayette wurde 1792 aufgrund seiner Intervention gegen die Inhaftierung Ludwigs XVI. (1754‒1793) durch den jakobinisch dominierten Nationalkonvent zum Verräter erklärt und floh aus Frankreich. ‒ Trophime Gérard de Lally-Tollendal (1751‒1830), Abgeordneter des ›Dritten Standes‹ in der Nationalversammlung, zog sich noch 1789 aufgrund deren ihn abschreckenden demokratischen Tendenzen in die Schweiz zurück, kehrte aber 1792 nach Frankreich zurück, wo er aufgrund seiner Intervention gegen die Abschaffung des Königtums verhaftet wurde, einer Hinrichtung aber durch die Flucht nach England entkommen konnte. ‒ Stanislas Marie Adélaide, Comte de Clermont-Tonnerre (1747‒1792), einer der führenden Köpfe der konstitutionellen Monarchisten, Abgeordneter des ›Drit-

352 | 5 Erläuterungen ten Standes‹ und erster Präsident der Nationalversammlung, wurde nach dem Sturz Ludwigs XVI. von einer aufgebrachten Volksmenge ermordet. ‒ JeanJoseph Mounier (1758‒1806), konstitutioneller Monarchist, Abgeordneter des ›Dritten Standes‹ und im September/Oktober 1789 Präsident der Verfassunggebenden Nationalversammlung, floh 1790 in die Schweiz. ‒ Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau (1749‒1791), Abgeordneter und Wortführer des ›Dritten Standes‹ und 1791 Präsident der Verfassunggebenden Nationalversammlung, starb unter bis heute ungeklärten Umständen; er wurde zunächst im Pariser Panthéon beigesetzt, 1794 wurde sein Leichnam nach Bekanntwerden seiner monarchistischen Gesinnung entfernt und umgebettet, 1798 in einem Massengrab verscharrt und ist seitdem verschollen. 467 Tiberius und Cajus Gracchus] Tiberius Sempronius Gracchus (162‒133 v. Chr.) suchte als Volkstribunn 133 v. Chr. weitgehende Reformen (vgl. Erl. zu 471) durchzusetzen, doch scheiterte er am gewaltsamen Widerstand des Senats und wurde zusammen mit seinen Anhängern ermordet; 123 v. Chr. griff sein Bruder Gaius Sempronius Gracchus (153‒121 v. Chr) die Reformpläne erneut auf, wurde aber schon bald gewaltsam aus Rom vertrieben und ließ sich auf der Flucht in aussichtloser Lage von seinem Skalven Philokrates töten; vgl. Plutarchs (um 45‒um 125) Parallelbiographie Agis/Kleomenes – Gracchen. 471 das Agrarische Gesetz] die von Tiberius Sempronius Gracchus (vgl. Erl. zu 467) zur Umsetzung seiner Reformbestrebungen ausgearbeitete Lex Sempronia agraria sah eine Neuverteilung des ager publicus, des im Eigentum des Staates stehenden, aber zumeist im Besitz der Führungsschicht befindlichen Landes vor, der jeweilige Besitzer sollte zunächst ca. 125 Hektar als Eigentum behalten, die darüber hinaus gehende Fläche sollte an besitzlose Bürger verteilt werden, doch wurde die den Landbesitzern zugestande Fläche noch im Verabschiedungsprozess auf 250 Hektar erhöht, zur Umsetzung wurde eine Kommission gebildet; die Verabschiedung des Gesetzes scheiterte zunächst am Widerstand des Senats, Gracchus konnte jedoch seinen ärgsten Widersacher Marcus Octavius (fl. 2. Hälte des 2. Jhds. v. Chr.), ebenfalls Volkstribun, durch ein Plebiszit absetzen lassen und die Agrareformen durchsetzen, doch wurden diese nach Gracchusʼ Tod nicht weiter vorangetrieben. 478 Arnold von Brescia] der ital. Prediger Arnold von Brescia (um 1090‒1155) forderte einen gleich den Mönchen würdigen, von Sünde freien, besitz- und politisch machtlosen wie zölibatären Klerus; nach Polemiken gegen die päpstliche Kurie wurde er während des ersten Italienzuges Friedrichs I. Barbarossa (um 1122‒1190), weil er Machtansprüchen des am 5. Dezember 1154 inthronisierten Papstes Hadrian IV. (Nicholas Breakspear; 1100/20‒1159) im Wege stand ‒ dieser krönte am 18. Juni 1155 Friedrich zum Kaiser ‒, im Juni 1155 an einem unbekannten Ort erhängt, sein Leichnam verbrannt und die Asche in den Tiber gestreut.

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479 ein Schüler des Abälard] als Schüler des Frühscholastikers Petrus Abaelard (Pierre Abaillard, 1079‒1142) wird Arnold u. a. in der Historia Pontificalis (1163; Kirchen- und Papstgeschichte der Jahre 1148‒1152) des Johannes von Salisbury (um 1115‒1180) sowie in der Gesta Friderici I. imperatoris (begonnen um 1156) Ottos von Freising (um 1112‒1158) bezeichnet. 491 Innocenz II.] einen Tag, nachdem Gregorio Papareschi di Guidoni (vor 1088‒1143) durch Minderheitswahl als Innozenz II. zum Papst gewählt worden war, wählte die Mehrheit der Kardinäle am 14. Februar 1130 Petrus Pierleoni (um 1090‒1138) als Anaklet II. zum Gegenpapst; in dem darauf folgenden achtjährigen Schisma (der nach Anaklets II. Tod am 25. Januar 1138 zum Gegenpapst gewählte Viktor IV. [Gregorio Conti von Ceccano; fl. 1138] verzichtete bereits am 29. Mai desselben Jahres auf die Papstwürde) stellte sich der deutsche König Lothar III. (1075‒1137) auf die Seite Innozenzʼ II. ‒ wofür er am 4. Juni 1133 von diesem zum Kaiser gekrönt wurde ‒, während Roger II. (1095‒1154), Graf von Sizilien, sich mit Anaklet II. verbündete und Weihnachten 1130 zum König von Sizilien erheben ließ; im April 1139 verurteilte das Zweite Laterankonzil nicht nur die Lehren Arnolds von Brescia (vgl. Erl zu 478), sondern exkommunizierte auch König Roger II. wegen Unterstützung des Gegenpapstes; während der anschließenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Kurie und dem Königreich Sizilien wurde Innozenz II. gefangen genommen und musste die Königswürde Rogers anerkennen, wodurch in Italien neue Machtverhältnisse entstanden. 492 unter einem schwächern Pabste] der als päpstlicher Legat in Böhmen fungierende Kardinal Guido di Castello († 1144), ein Schüler Abaelards, hatte bereits vor seiner Wahl zum Papst als Coelestin II. 1143 Kontakt zu Arnold gepflegt, ob Arnold 1143 in dessen Gefolge nach Rom zurückkehrte oder erst während des Pontifikates, ist ungeklärt. 498 Conrad III.] Konrad III. (1093/94‒1152), zwischen 1127 und 1135 Gegenkönig von Lothar III. (vgl Erl. zu 491), seit 1138 König des römisch-deutschen Reiches. 500f. Friedrich I.] vgl. Erl. zu 478. 501 dem Papste Hadrian] vgl. Erl. zu 478. 504f. die lange Abwesenheit des päbstlichen Hofes, der in Avignon residirte] seit dem 13. Jhd. versuchen die Könige von Frankreich vermehrt Einfluss auf das Papsttum zu nehmen und den Universalanspruch des Papstes in Frage zu stellen, Philipp IV., genannt der Schöne (1268‒1314) bezichtigte Bonifatius VIII. (Benedetto Caetani; um 1235‒1303, Papst seit 1294) gar der Häresie und ließ ihn inhaftieren; dessen Nachfolger Benedikt XI. (Niccolò di Boccasio; 1240‒1304) starb bereits acht Monate nach seiner Wahl; nach elfmonatigem Konklave wurde 1305 schließlich der französische Kardinal Bertrand de Got (1250/65‒1314) als Clemens V. zum Papst gewählt, die Krönung fand jedoch nicht in Rom, sondern in Lyon statt; auch nach seinem Amtsantritt hielt sich Clemens ausschließlich in Frankreich auf und verlegte 1309 den Sitz der Päpste

354 | 5 Erläuterungen nach Avignon; erst mit Gregor XI. (Pierre Roger de Beaufort; 1329‒1378) kehrte das Papstum 1376 nach Rom zurück, gefestigt wurde der Sitz in Rom aber erst durch Urban VI. (Bartolomeo Prignano; um 1318‒1389), doch kam es nach der Sedisvakanz nach dessen Tod aufgrund des ›Abendländischen Schismas‹ und der aus diesem resultierenden Wahl von ›Gegenpäpsten‹ bis ins frühe 15. Jhd. zu Papstsitzen in Avignon. 509f. Nicolaus Rienzi] Cola di Rienzo (eigentl. Nicola di Lorenzo, 1313‒1354) rief im Mai 1347 nach der Vertreibung des Stadtadels in Rom eine Republik nach altrömischem Muster und sich selbst als regierenden ›Volkstribun‹ aus, fiel jedoch bereits im Herbst desselben Jahres aufgrund seines Größenwahns ‒ und Steuererhöhungen ‒ bei der römischen Bevölkerung in Ungnade und floh im Dezember, kurz zuvor von Papst Clemens VI. (Pierre Roger; um 1290‒1352) exkommuniziert, aus der Stadt; Clemensʼ Nachfolger Innozenz VI. (Étienne Aubert, 1285/92‒1362) ermöglichte Rienzo im August 1354 die Rückkehr nach Rom, doch bereits im Oktober wurde der zum ›Senator‹ Ernannte während einer Revolte gefangen genommen, vor Gericht gestellt und noch während der Verhandlung von einem Handwerker getötet. 515 des Petrarch] der Humanist Francesco Petrarca (1304‒1374) stand nicht nur in brieflichem Kontakt mit Rienzo, er scheint diesen womöglich schon in Avignon persönlich kennengelernt zu haben, als Rienzo 1343 als Mitglied einer römischen Delegation den dort residierenden Papst Clemens VI. zur Rückkehr nach Rom bewegen sollte (vgl. Erl. zu 505f.); umstritten ist, ob Petrarca die 6. Canzone seines Canzoniere Rienzo gewidmet hat. 525‒527 während welcher Zeit eine Reihe auf einander folgender Revolutionen Rom zu einem Schauplatze von Mord und Verwüstungen gemacht hatte] vgl. dazu u. a. François-Joachim Duport du Tertre (1716‒1759): Histoire des Conjurations, Conspirations et Révolutions célèbres, tant anciennes que modernes. 10 Bde. Paris 1754‒1760, Bd. 3, S. 142‒218 [»Conjuration de Rienzi«] (Geschichte der sowohl alten als neuern Verschwörungen, Meutereyen und merkwürdigen Revolutionen. 10 Bde. Breslau 1764‒1771, Bd. 3, S. 123‒189). 539f. Ein neuer, vor kurzem erst auf den Thron gekommener Zweig des königlichen Hauses, der Valois] nachdem mit dem Tod Karls IV. (1294‒1328) das in Frankreich regierende Königsgeschlecht der Kapetinger ausgestorben war, bestieg Philipp VI. (1293‒1350) aus dem Hause Valois, einer Nebenlinie der Kapetinger, 1328 den französischen Thron; das Haus Valois regierte Frankreich bis 1589 (Heinrich III., 1551‒1589). 540f. die gehäuften Unglücksfälle, welche die beyden ersten Könige desselben im Kriege gegen die Engländer betrafen] im Hundertjährigen Krieg gegen England wurde die französische Flotte in der Schlacht bei Sluis (1340) vernichtet, 1346 kam es in der Schlacht bei Crécy zu einer katastrophalen Niederlage des französischen Ritterheeres, der zahlreiche führende Adlige zum Opfer fielen, 1347/48 wütete die Pest in Frankreich; Philipps VI. Nachfolger Johann II. der

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Gute (1319‒1364) wurde 1356 in der Schlacht bei Maupertuis gefangen genommen, erst 1360 kam er gegen Zahlung eines hohen Lösegeldes und unter Zurücklassung seines Sohnes Ludwig von Anjou (1339‒1384) frei, doch Ludwig floh aus der Geiselhaft, woraufhin sich Johann, um seine Ehre wiederherzustellen, 1364 erneut in englische Haft begab, in der er noch im selben Jahr starb. 544 Die Etats genéraux vom Jahre 1355 unter dem unglücklichen Könige Johann] unter dem frz. König Johann II. (vgl. Erl. zu 540f.) wurden im Dezember 1355 während der erstmals 1302 von König Philipp IV. (1268‒1314) einberufene Versammlung von Vertretern der drei Stände Klerus, Adel und ›Tiers État‹ neue Steuern (u. a. auf den Import von Salz und eine ›Umsatzsteuer‹ auf importierte Waren) erhoben, um den Kampf gegen England im Hundertjährigen Krieg (1337‒1453) zu finanzieren, der nach einem längeren Waffenstillstand im selben Jahr wieder entflammt war und die Auvergne, das Limousin und das Pitou verwüstete; Johann II. wurde in der Schlacht bei Maupertius (1356) gefangen genommen und erst 1360 gegen Zahlung eines Lösegeldes, das etwa das Zweifache der Einnahmen des französischen königlichen Haushalts von 1355 betrug, freigelassen. 551 Peter Marcell als Prevôt des Marchands] Étienne Marcel (1302/10‒1358), seit 1354 ›Prévôt des marchands de Paris‹ (Vogt der Kaufleute ‒ eigentlich der Bürgerschaft ‒ von Paris) führte im Frühjahr 1358 die Revolte der Pariser Bürgerschaft gegen die königliche Autorität an, nachdem seine seit 1356 betriebenen Bemühungen um eine Reform, die königliche Regierung ‒ und v. a. die Finanzen ‒ unter die Aufsicht eines von den Generalständen ernannten Ratsgremiums zu stellen, gescheitert waren; Marcel fand Unterstützung bei Karl II. von Navarra (1332‒1387), der im Juni mit englischen Söldnern in Paris einzog, doch bildete sich in Paris eine Opposition gegen Marcel, im Juli kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen englischen Söldnern und einer versammelten Volksmenge, während derer Marcel und die meisten seiner Anhänger getötet wurden. 558 des Königs Carl von Navarra] Karl II., genannt der Böse, seit 1349 König von Navarra, vgl. Erl. zu 551.

Anmerkungen zur Übersetzung von Adam Ferguson: Grundsätze der Moralphilosophie [Adam Ferguson: Grundsätze der Moralphilosophie. Übersetzt und mit einigen Anmerkungen versehen. Leipzig 1772, S. 285‒420.] Titel] vgl. Adam Ferguson (1723‒1816): Institutes of Moral Philosophy. Edinburgh

1769. 21f. von den Pflichten der häuslichen Gesellschaften] Garve referiert hier auf den Unterscheid zwischen vollkommenen und unvollkommenen Gesellschaften

356 | 5 Erläuterungen (Aristoteles, Thomas von Aquin), womit Staat und Familien als unterschiedlich organisierte Gemeinschaft verbunden werden, die differierende Pflichten und Rechte enthalten. 25 der Aphoristischen Methode] von Francis Bacon (1561‒1626; Novum organum scientiarum. London 1620) in die Philosophie eingeführte Methode, die dezidiert anti-systematisch vorgeht, um der Fülle der empirisch wahrzunehmenden Phänomene gerecht zu werden; Ernst Platner (1744‒1818) etwa schreibt ab den 1770er Jahren Philosophische Aphorismen (2 Bde. Leipzig 1776/82). 66 Dieß sagt Basedow] vgl. Johann Bernhard Basedow (1724‒1790): Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung. 2 Bde. Altona 1764, Bd. 1, § 54, S. 89‒92. 134f. Wir alle glauben das Daseyn der Tugend. Dieser Glaube ist früher als alle Systeme.] Bezug auf die seit Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671‒1713; vgl. Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. 3 Bde. London 1711) und Francis Hutcheson (1694‒1746; u. a. An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue in two treatises. London 1725) in Europa wirksame und durch Jean-Jacques Rousseau (1712‒1778) verstärkte These von einem moralischen Gefühl, das dem Menschen vor und unabhängig von aller Vernunft zukomme; Adam Smith (1723‒1790) schreibt schon 1759 mit The Theory of Moral Sentiments eines der Standardwerke der spätaufklärerischen Debatte; vgl. auch Johann Georg Heinrich Feder (1740‒1821): Über das moralische Gefühl. In: Deutsches Museum 1776, Bd. 1, 1. St., S. 15–40, 2. St., S. 103–115, 4. St., S. 287–306, 6. St., S. 479–503; vgl. Nele Schneidereit: Feder über das moralische Gefühl. In: Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening (Hg.): Johann Georg Heinrich Feder (1740‒1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. Berlin, Boston 2018, S. 167‒188. 162 Von den Naturgesetzen redet Ferguson] vgl. Institutes, Introduction, sect. 3, S. 4‒6; vgl. Grundsätze, S. 4‒6. 178f. Die Geschichte des menschlichen Geschlechts ist ein Auszug aus dem größern Werke des Verfassers.] vgl. Ferguson: An Essay on the History of Civil Society. Dublin 1767, Part I: Of the General Characteristics of Human Nature, S. 1ff. (Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Aus dem Englischen übersetzt. Leipzig 1768). 207f. Den Unterschied zwischen qualitatibus primariis und secundariis, den Locke zuerst gemacht hatte] vgl. John Locke (1632‒1704): An Essay concerning Humane Understanding. In four books. London 1690, v. a. II.i.8ff. (Versuch über den menschlichen Verstand. Übers. von Karl Winckler. 2 Bde. Hamburg 2006, Bd. 1, S. 146ff.). 208‒210 Ferguson wegen der Einwürfe, die nach Locks Zeiten gegen diese Theorie gemacht worden, auf eine neue Weise und scharfsinnig genug bestimmt] vgl. Institutes, part 1, chap. 2, sect. 3, S. 50‒54 (im Folgenden nach dem Schema I.ii.3); vgl. Grundsätze, S. 43‒47.

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217f. Berkley kam nach ihm, und bewieß: auch die Dichtigkeit, auch die Figur, kann in so weit wir sie empfinden, nicht im Körper seyn.] vgl. George Berkeley: A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge. Dublin 1710, §§ 1‒15, v. a. § 10: »In short, extension, figure and motion, abstracted from all other qualities, are inconceivable« (Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Übers., mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Arend Kulenkampff. Hamburg 2004, S. 25‒32). 220 Reid, den unser Verf. in Augen hat, giebt Berkleys Gründe zu, und leugnet die Folge.] vgl. Thomas Reid: Inquiry into the Human Mind, on the Principles of Common Sense. Glasgow, London 1764, chap. I, sect. 5f., S. 14‒19. 250 was Reid angeführt hat] vgl. dazu v. a. Reid: Inquiry into the Human Mind, chap. Vf., S. 64ff. 268 In dem Theil, wo der Verf. von den Fähigkeiten des Verstandes handelt] vgl. Institutes, II.ii.1, S. 85ff.; vgl. Grundsätze, S. 75ff. 290f. Unsre deutsche Philosophen unterscheiden gemeiniglich zwischen Imagination und Gedächtniß] so u. a. bei Christian Wolff (1679‒1754): Psychologia empirica, methodo scienticica pertractata. Frankfurt a. M., Leipzig 1738 [WGW I.5], § 92 und § 175 sowie Georg Friedrich Meier (1718‒1777): Metaphysik. 4 Bde. Halle 1755–1759, Bd. 3, S. 129ff. und S. 169ff. 297f. den Ferguson durch die Wörter leidendes und thätiges Gedächtniß ausdrückt] vgl. Institutes, I.ii.6, S. 61f.: »Memory is the recollection of subjects past. It is casual, or intentional. It is casual, when subjects or thoughts, by any connection of their own, recur to the mind. It is intentional, when the mind, from design, recalls any subject or thought«; Garve nutzt in seiner Übersetzung die Begriffe »zufällig« und »vorsetzlich«, vgl. Grundsätze, S. 53f. 318 Raisonnement] vgl. dazu Institutes, I.ii.8, S. 66‒68: »On Reasoning«; Garve übersetzt »Reasoning« mit »Raisonnement«, vgl. Grundsätze, S. 58‒60. 346 penetration und sagacity] vgl. Institutes, I.ii.9, S. 68f.: »Foresigh tis the faculty of conjecturing what is to follow from the past or present. It requires penetration and sagacity: the first, to comprehend all the circumstances of the case in question; the second, to perceive what is likely to follow from those circumstances. Penetration and sagacity are the foundations of good conduct, art, and skil«; vgl. Grundsätze, S. 60f., hier übersetzt mit »Beobachtungsgeist« und »Empfindsamkeit«. 415‒418 Ferguson zählt von jenen drey, den Hunger, den Trieb zur Fortpflanzung, und die Neigung zum Schlaf; von diesen vier, die Sorge für die Selbsterhaltung, die Zuneigung der Ältern und Kinder, die Neigung der Geschlechter gegen einander, die Geselligkeit, und die Begierde nach Vollkommenheit.] vgl. Institutes, I.ii.10, S. 70; vgl. Grundsätze, S. 61f. 429f. So liegt in dem Triebe der Geselligkeit] die These von einem ›appetitus societatis‹ gehört zu den Konstanten der praktischen Anthropologie seit Hugo Grotius (1583‒1645); die deutschsprachige Aufklärung fasst diesen Trieb mit

358 | 5 Erläuterungen dem Begriff der Geselligkeit; vgl. hierzu u. a. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001 sowie Gideon Stiening: Appetitus societatis seu libertas. Zu einem Dogma politischer Anthropologie zwischen Suárez, Grotius und Hobbes. In: ders., Herbert Jaumann, (Hg.): Neue Diskurse der Gelehrtenkultur. Ein Handbuch. Berlin, Boston 2016, S. 389–436. 529 Das Wort Empfindniß ist bey uns von Abbten zuerst gebraucht worden] vgl. Thomas Abbt (1738‒1766): Vom Verdienste. Berlin, Stettin 1765, S. 156: »Empfindung mag für Sensation gelten, und für Sentiment Empfindniß.« 530 nicht ganz in dem Sinne, in welchem Ferguson sentiment sagt] vgl. Abbt: Vom Verdienste, S. 156f.: »Die Empfindung beziehet lebhaft, aber verworren eine Sache auf uns, vermittelst der Sinne; das Empfindniß beziehet sie auf ähnliche Art vermittelst der Einbildung. Im erstern Falle beschäftiget uns die Sache wie gegenwärtig; im andern Falle, wenn sie auch gegenwärtig seyn sollte, thut es mehr ihr Bild.« 531f. da sentiment selbst bey den Engländern nicht immer genau heißt, was Ferguson will] vgl. Institutes, I.ii.11, S. 72: »Sentiment is a state of mind relative to what is thought to be good or evil. Sentiments are pleasant or painful«; vgl. Grundsätze, S. 63f. 566 das meint Epikur] Epikur (um 341‒271/70 v. Chr.) unterscheidet zwischen zwei Formen der Lust, der voluptas in stabilitate, die Lust im Ruhezustand bzw. die Seelenruhe und dem Freisein von allem Schmerz, und der voluptas in motu, die sich als Freude und Fröhlichkeit äußert, vgl. Diogenes Laertios (fl. 3. Jhd.): Vitae philosophorum X, 136; vgl. auch Marcus Tullius Cicero (106‒43 v. Chr.): De finibus bonorum et malorum 2, 9‒31. 591 Ridicule soll die Empfindung der Mißbilligung mit Fröhlichkeit vermischt seyn.] vgl. Institutes, I.ii.11, S. 75: »Ridicule is a sentiment of disapprobation, mixed with mirth or pleasantry«; vgl. Grundsätze, S. 67, Garve übersetzt ›ridicule‹ mit »Verlachen«. 597f. Public spirit, welches Ferguson unter die Begierden zählt, ist nicht Patriotismus] vgl. Institutes, I.ii.12, S. 77f.; Garve übersetzt »public spirit« mit »Liebe zum allgemeinen Besten«, vgl. Grundsätze, S. 69. 625 Wir haben kein Wort für Intereße] vgl. Institutes, II.iii.1, S. 96‒99: »Of interest«, v. a. S. 99: »Interest engages men in competitions, and stifles actions; it exposes them to anxiety, jealousy, and envy«; Garve übersetzt »interest« mit »Eigennutz«, vgl. Grundsätze, S. 84‒87). 639 Selbstliebe] empfindsame Variante des Selbsterhaltungstriebes, der korrelativ zum Trieb zur Geselligkeit gedacht wird, vgl. hierzu u. a. Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. 642 Emulation ist, wie es der Verfasser erklärt, nicht Nacheiferung] vgl. Institutes, II.iii.2, S. 99f.: »Emulation is the desire to excel other men, or the fear of being

Anmerkungen zur Übersetzung von Adam Ferguson | 359

excelled by them. It is comprehended in the lawI of estimation; and arises from an opinion, that excellence is comparative, or subsists in things of mere comparative value. […] Emulation, when directed to useful actions, has effects service able to mankind; but is itself an unhappy disposition«; gleichwohl übersetzt Garve ›emulation‹ mit »Nacheiferung«, vgl. Grundsätze, S. 87. 670 Probity wird durch Rechtschaffenheit ziemlich genau übersetzt.] vgl. Institutes, II.iii.5, S. 106: »Probity implies the love of mankind, founded in a temper that is compassionate, candid, and liberal. It is comprehended therefore in the law of society. Probity maybe understood to constitute an excellency, but cannot be the foundation of pride or contemptuousness«; vgl. Grundsätze, S. 93. 673f. Erstlich ist schon schwer zu bestimmen, was temper hier eigentlich heiße.] Garve übersetzt es mit »Neigung«, vgl. Grundsätze, S. 93. 674‒678 Aber probitaet oder Menschenliebe selbst [...] also als den Grund davon ansehen?] vgl. Institutes, II.iii.5, S. 106: »Probity implies the the love of mankind, founded in a temper that is compassionate, candid, and liberal«; vgl. Grundsätze, S. 93: »Rechtschaffenheit heißt so viel, als allgemeine Menschenliebe, die in der Neigung besteht, mit andern Mitleiden zu haben, sich ihnen mitzutheilen, und ihnen wohlzuthun.« 689f. Das Wort Candeur kömmt im 6ten Theile, unter den einzelnen Tugenden, die aus der Rechtschaffenheit fließen, wieder vor] vgl. Institutes, VI.v.2, S. 245: »The private duties are, Innocence, Candour, Piety, Friendship, Gratitude, Liberality, Charity, Civility, and Politeness. […] Candour is the just allowance given to the pretensions or merits of other men, in opposition to prejudice, or to the suggestions of interest«; Garve übersetzt »Candour« (bzw. »Candeur«) mit »ofnes Herz«, vgl. Grundsätze, S. 213. 714f. Pleasure (Vergnügen) fast Ferguson, ist enjoyment (Genuß) ohne Bestimmung der Art und der Wichtigkeit des Genußes.] vgl. Institutes, IV.iii.3, S. 147: »Pleasure is enjoyment considered abstractly; that is, without regard to its kind, measure, or comparative importance«; vgl. Grundsätze, S. 128. 763. Unter den Sanktionen der Gewissenspflicht (duty) zählt Ferguson auch public repute] vgl. Institutes, VI.iii.3, S. 238f.; vgl. Grundsätze, S. 207f. 777‒780 »Aber wie kann dieß eine Sanktion der Tugend heißen? [...] eben sowohl das Principium des Lasters seyn können?«] kein Zitat, sondern Auseindersetzung mit Fergusons »Sanctions of Public Repute«, vgl. Institutes, VI.iii, S. 238f.; vgl. Grundsätze, S. 207f. 857 Tendency drückt einen sehr richtigen philosophischen Begriff aus] vgl. hierzu etwa Institutes, II.ii.2, S. 92: »The external effect, or tendency, of every law, is diversified in different circumstances. The general tendency of the law of gravitation is, to cause bodies to approach to each other as the tendency of the law of society is, to cause men to produce public good, or to abstain from public harm« (Garve übersetzt »[d]ie äußern Wirkungen oder Folgen« bzw. »allgemeine Wirksamkeit«, Grundsätze, S. 81), ebenso Institutes, IV.iv.1, S. 163: »It is

360 | 5 Erläuterungen the object of human reason, to distinguish perfections from defects; and it is the tendency of human nature, to make some progress in all ist pursuits, whether worthy or unworthy« (Garve übersetzt »das Geschäfte der menschlichen Natur«, Grundsätze, S. 142f.). 889 Im 2ten Theil im 4ten Kap. wird Eitelkeit erklärt] korrekt ›3ten Kap.‹, vgl. Institutes, II.iii.4, S. 104f.: »Vanity is a conceit of personal importance, joined to aperpetual desire of admiration. Men are said to be vain of what they suppose constitutes their importance, as of their persons, fortune, equipage, talents, and adventures«; vgl. Grundsätze, S. 92. 903f. der Stolz gehört zu θυμὸς, und die Eitelkeit zu έπιθυμία] thumos bedeutet hier Lebenskraft oder Wille, epithumia Begierde. 914‒919 Das ist nicht ganz deutlich wenn Ferguson sagt: 1) »die moralische Billigung [...] überhaupt etwas hochachten und verachten können.«] Institutes, II.iii.8, S. 112; zu dieser hier paraphrasierenden Passage vgl. Grundsätze, S. 68. 964f. Begriff des ganzen Menschen] vgl. Institutes, II.iii.8, S. 114; zu dieser hier paraphrasierenden Passage vgl. Grundsätze, S. 98f. 1145f. Unser Verfasser handelt von der Immaterialität der Seele in einem eignen Kapitel.] vgl. Institutes, II.iv.1, S. 117f.; vgl. Grundsätze, S. 103f. 1169 die ich die Cohäsion nenne] vgl. Institutes, II.ii.1, S. 88: »To comprehend any operation or phenomenon, is to be able to refer it to some established rule, or known law of nature. Thus we comprehend all the phenomena that can be referred to the laws of gravitation, cohesion, electricity, and so forth«; vgl. Grundsätze, S. 78. 1201 Dieß alles sagte Leibnitz, wenn er die Materie Phänomen hieß] Gottfried Wilhelm Leibniz (1646‒1716) charakterisiert in seiner Monadologie (1714) die Monade als ›metaphysisches Atom‹, das im Unterschied zu den ›physischen Atomen‹ zwar materiell sei, aber keine Ausdehnung habe und aus einer ›Erstmaterie‹ oder materia prima bestehe; das ausgedehnte ›physische Atom‹ hingegen bestehe aus ›Zweitmaterie‹ bzw. materia secunda, die immer nur ein Phänomen sei. 1201f. dieß alles entwickelte Moses in seinem vortreflichen Phädon] vgl. Moses Mendelssohn (1729‒1786): Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele. Berlin, Stettin 1767; vgl. dazu Garves Besprechung in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 6 (1768), 1. St., S. 80–107, 2. St., S. 313–339 (dieser Band, S. 249‒272). 1259f. Der Unterschied zwischen dem stoischen und peripatetischen System ist, glaube ich, von unserm Verf. mit Genauigkeit und Wahrheit angegeben.] vgl. Institutes, IV.iv.1, S. 162‒164; vgl. Grundsätze, S. 97‒99. ‒ Zur Affektenlehre der Stoiker und der Peripatetiker vgl. u. a. Ciceros De finibus bonorum et malorum und die Tusculanae disputationes. 1308 Und da sagen nun die Stoiker] vgl. zu dieser zusammenfassenden Paraphrase v. a. Diogenes Laertios: Vitae philosophorum VII, 90‒116.

Anmerkungen zur Übersetzung von Adam Ferguson | 361

1378 das System des Epikurs] an die Lehre des Begründers des Hedonismus, Aristippos von Kyrene (um 435–um 355 v. Chr.) anknüpfend, dass die Lust das höchste Gut und oberstes Ziel allen menschlichen Handelns sei (vgl. u. a. Diogenes Laertios: Vitae philosophorum II, 86‒89), beschreibt Epikur die Lust als Prinzip gelingenden Lebens, wobei er aber im Unterschied zu den älteren Hedonisten auch die Ataraxie, den Zustand völliger Schmerzfreiheit als Lust, nämlich als höchste Lust ansieht. 1381f. So klein die Stücke sind, die uns Diog. Laert. von ihm aufbehalten hat] vgl. Erl. zu 1378. 1405 Sulzer kömmt, glaube ich, der wahren Beurtheilung dieses Systems näher] vgl. Johann Georg Sulzer (1720‒1779): Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. Berlin 1762. 1420 was Epikur selbst vom Vergnügen sagt] vgl. Erl. zu 1378. 1440f. das ist die Schmerzlosigkeit, die indolentia, worüber beym Cicero so sehr gestritten wird] vgl. Cicero (106‒43 v. Chr.): De officiis 3, 11‒19, ebenso De finibus bonorum et malorum 2, 109. 1442f. das ist die voluptas in motu, die eigentlich sinnliche Lust] vgl. Erl. zu 566. 1485 als das Aristippische] vgl. Erl. zu 1378. 1582f. Die ganzen Kapitel des 4ten Theils von Vergnügen und Schmerz, von Vollkommenheit und Mangel, von Glückseligkeit] vgl. Institutes, IV.iii.3‒5, S. 147ff.; vgl. Grundsätze, S. 128ff. 1575 principia diuisionis] Einteilungs- bzw. Klassifikationsprinzipien. 1641f. Ferguson sagt; ein sinnliches Leben (a life of sensuality) ist entweder ein Zustand einer großen Unempfindlichkeit, oder nichtswürdiger Vergnügungen.] vgl. Institutes, IV.iii.3, S. 151f.: »What is commonly termed a life of sensuality, is either a state of great insensibility, or of frivolous pastime, arising from gratifications of fancy, or at best from the entertainment of insignificant conversation«; Grave übersetzt »a state of great insensibility« mit »Zustand einer großen Gleichgültigkeit«, vgl. Grundsätze, S. 132. 1682‒1685 Eine der schönsten Stellen des Fergusons ist diese: (4. Th. 3. Kap. 3. Abschn.) »Der Zustand einer Seele, die bis auf den Grad erleuchtet ist, daß sie den Plan der göttlichen Vorsehung im Ganzen vor Augen hat, ist der Zustand der glückseligsten Seele«] vgl. Institutes, IV.iii.3, S. 154: »For this reason, the affection of a mind enlightened to conceive what is the object and what the efficacy of Godʼs providence, is, of all others, most pleasant, and approaches most to an entire exemption from pain«; vgl. Grundsätze, S. 135. 1704‒1706 (4. Th. 3. Kap. 5. Abschn.) »Wenn eine wohlwollende, weise und muthige Seele die höchsten Freuden und den geringsten Schmerz hat: so ist diese allein für glücklich zu halten.«] vgl. Institutes, IV.iii.5, S. 158: »If a mind, benevolent, wise, and courageous, have the highest enjoyments and least suffering, this alone is to be accounted happy«; vgl. Grundsätze, S. 138.

362 | 5 Erläuterungen 1725 Der 5te und 6te Theil, der von den einzelnen Rechten und Pflichten handelt] vgl. Institutes, V: Of Jurisprudence und VI: Of Casuistry, S. 191ff.; vgl. Grundsätze, S. 167ff. 1795f. Es liegt, sagt Ferguson richtig, in der Erwartung, welche das Versprechen erregt.] vgl. Institutes, V.viii.2, S. 205f.: »Although one party haspromised, if the other has not accepted, the last cannot pretend to have an expectation raised«; vgl. Grundsätze, S. 177f. 1803‒1805 Ferguson sagt von den Ausnahmen der Gewaltthätigkeit und der List [...] unter Nationen aber, und im Kriege nicht.] vgl. Institutes, V.xi.1‒4, S. 223ff.; vgl. Grundsätze, S. 193ff. 1819f. Die Kriege würden ewig seyn, wenn ein erzwungnes pactum ein ungültiges seyn sollte.] vgl. dazu etwa Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon, darinnen die in allen Theilen der Philosophie, als Logic, Metaphysic, Physic, Pneumatic, Ethic, natürlichen Theologie und Rechts-Gelehrsamkeit, wie auch Politic fürkommenden Materien und Kunst-Wörter erkläret und aus der Historie erläutert. Leipzig 1726, Sp. 1940‒1949.

Laokoon, oder über die Gränzen der Mahlerey und der Poesie mit

beyläuftigen Erläuterungen verschiedener Punkte der Alten Kunstgeschichte, von Gotthold Ephraim Lessing [Allgemeine deutsche Bibliothek 9 (1769), 1. St., S. 328–358.]

14f. Noch vor kurzem hat ein Mann von Tiefsinn und Gelehrsamkeit über dieses Werk ein neues geschrieben.] vgl. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Dresden 1755, 2., verm. Aufl. ebd. 1756. 120f. Warum wollte denn Virgil seinen Laokoon nicht auch als einen Helden erscheinen lassen] in der Aeneis (29‒19 v. Chr.) des Vergil (Publius Vergilius Maro; 70‒19 v. Chr.) schreit Laokoon beim Angriff der Schlangen (2, 199‒227) wie ein Opfertier: »Ganz von Eiter die Bind’ und schwärzlichem Gifte besudelt; / Und graunvolles Geschrei hochauf zu den Sternen erhebt er: / So wie Gebrüll auftönt, wann blutend der Stier vom Altare / Floh und die wankende Axt dem verwundeten Nacken entschüttelt« (2, 200‒223; Übersetzung von Johann Heinrich Voß [Publius Vergilius Maro: Werke. Bd. 2f. Braunschweig 1799]). 121‒123 warum Sophokles nicht seinen Philoctet, denn bey dem finde ich doch nicht bloß unterdrückten, sondern auch lauten, unverstellten, schreyenden Schmerz] der griech. Mythologie zufolge war Philoktetes einer der Anführer der griechischen Streitkräfte im Krieg gegen Troja, wurde aber bereits während der Überfahrt bei einer Rast auf der Insel Chryse von einer Schlange gebissen, was zu einer schwärenden stinckenden Wunde und unerträglichen Schmerzen führte; der Gestank und die gellenden Schmerzensschreie bewogen Odysseus,

Lessing: Laokoon | 363

Philoktet auf der Insel Lemnos auszusetzen; im zehnten Kriegsjahr wurde den Griechen prophezeit, der Sieg über die Trojaner sei nur mit Hilfe der Pfeile des Herakles möglich ‒ diese aber hatte Philoktet vor dessen Tod von Herakles erhalten, der diesem auf Lemnos erschien und ihm Heilung in Troja versprach; Achilleusʼ Sohn Neoptolemos konnte Philoktet, der geschworen hatte, nie wieder auf Seiten der Griechen in den Kampf zu ziehen bewegen, den Griechen beizustehen ‒ in Troja angekommen, wurde er geheilt und tötete bald darauf Paris mit einem der Pfeile des Herakles. ‒ Von Homer wird Philoktetes in der Ilias und der Odyssee mehrfach kurz erwähnt, den eigentlichen Mythos begründen Aischylosʼ (525‒456 v. Chr.) und Euripidesʼ (485/84‒406 v. Chr.) ‒ heute verschollene ‒ Tragödien sowie insbesondere der 409 v. Chr. aufgeführte Philoktetes des Sophokles (497/96‒406/05 v. Chr.). 129 »Aber ist denn das geduldige Ertragen des Leidens nicht auch Stärke der Seele?«] kein Zitat. 148f. der eigentliche Zweck des Timanthes, da er seinen Agamemnon verhüllte] der griech. Maler Timanthes (fl. 2. Hälfte des 5. Jhds. v. Chr.) soll laut der Naturalis historia (um 77) des Gaius Plinius Secundus Maior (Plinius der Ältere; 23/24‒79) bei seiner Darstellung der Opferung der Iphigenie in Aulis »alle Anwesenden, besonders den Oheim, in Betrübnis gemalt und dabei jeglichen Ausdruck der Traurigkeit gelegt […] das Antlitz des Vaters selbst aber verhüllt [haben], weil er es nicht würdig darstellen konnte«, das heißt ihm eine Steigerung der Emotionalität nicht mehr möglich war (XXXV 73; Übersetzung nach Naturkunde. Lat.-dt. Hg. von Roderich König u. a. München 1973ff.). 175 Philoctets Schmerz] vgl. Erl. zu 121‒123; vgl. hierzu Irmgard Männlein-Robert: Schmerz und Schrei: Sophoklesʼ Philoktet als Grenzfall der Ästhetik in Antike und Moderne. In: Antike und Abendland 60 (2014), S. 90‒112. 254 Caylus ist so sehr besorgt dem Künstler und Mahler neue Sujets zu geben.] der frz. Altertumsforscher und Kunsttheoretiker Anne-Claude-Philippe de Thubières, Comte de Caylus (1692‒1765) setzte die durch die zeitgenössische Archäologie ermöglichte Anschauung antiker Kunstwerke erstmals in Beziehung zur Dichtung, so etwa in seinen Tableaux tirés de l’Iliade, de l’Odyssée, et de l’Enéide (Paris 1757), die die zentralen ›Gemälde‹ in der homerischen Illias und Odysee und der Aeneis des Vergil kommentieren; Lessing setzt sich mit Caylus v. a. in den Kapiteln XI und XV auseinander; zu Caylus vgl. Joachim Rees: Die Kultur des Amateurs. Studien zu Leben und Werk von Anne Claude Philippe de Thubières, Comte de Caylus (1692‒1765). Weimar 2006. 270 eine Art von Mumerey] ›Mummerey‹ svw. Verkleidung. 306‒308 So schildert Homer die körperlichen Gegenstände durch die Veränderungen, die mit ihnen vorgegangen sind, durch die Art ihrer Entstehung.] vgl. dazu Lessings Laokoon: »Homer malet nämlich das Schild nicht als ein fertiges vollendetes, sondern als ein werdendes Schild. Er hat also auch hier sich des gepriesenen Kunstgriffes bedienet, das Koexistierende seines Vorwurfs in ein

364 | 5 Erläuterungen Konsekutives zu verwandeln, und dadurch aus der langweiligen Malerei eines Körpers das lebendige Gemälde einer Handlung zu machen. Wir sehen nicht das Schild, sondern den göttlichen Meister, wie er das Schild verfertiget. Er tritt mit Hammer und Zange vor seinen Amboß, und nachdem er die Platten aus dem Gröbsten geschmiedet, schwellen die Bilder, die er zu dessen Auszierung bestimmt, vor unsern Augen, eines nach dem andern, unter seinen feinern Schlägen aus dem Erze hervor. Eher verlieren wir ihn nicht wieder aus dem Gesichte, bis alles fertig ist. Nun ist es fertig, und wir erstaunen über das Werk, aber mit dem gläubigen Erstaunen eines Augenzeugens, der es machen sehen« (Werke und Briefe. Hg. von Wilfrid Barner u. a. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1985‒2003, Bd. 5.2, Kap. XVIII, S. 134); vgl. Erl. zu 339. 339 Schild Achills] vgl. die Beschreibung des Schildes des Achill in Homers Ilias, XVIII, 477‒608; vgl. Erl. zu 306‒308. 353 so wie Ariost bey seiner Alcina] vgl. die Beschreibung der Fee Alcina in Ludovico Ariostos (1747‒1533) Orlando furioso (1516), VII, 10‒15; bis zur vollständigen (Prosa-)Übersetzung der 46 Gesänge des Rasenden Roland von Jakob Mauvillon (1743‒1794; 4 Thle. Lemgo 1777/78) lag nur die Übersetzung der ersten 31 Gesänge von Diederich von dem Werder (1584‒1657) vor (4 Bde. Leipzig 1632‒1636). 356f. Aber erstlich die Schönheit ist nicht bloß eine Verhältniß der körperlichen Welt. Sie ist in der moralischen einen Kraft die würkt.] Referat auf die vor allem durch Francis Hutcheson (1694‒1746; An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue in two treatises. London 1725) in ganz Europa diskutierte Annahme der ethischen Wirkung ästhetischer Phänomene; besonders der Garve beeinflussende Christian Fürchtegott Gellert (1715‒1769), aber auch ‒ wenngleich in modifizierter Begründung ‒ Gotthold Ephraim Lessing (1729‒1781) und Christoph Martin Wieland (1733‒1813) sind von dieser engen Bindung überzeugt. 416f. gewiß falsch, daß Athenodorus Polyklets Schüler gewesen wäre] der von Rhodos stammende Bildhauer Athenodoros (fl. 2./1. Jhd. v. Chr.), der gemeinsam mit Hagesandros (fl. 2./1. Jhd. v. Chr.) und Polydoros (fl. 2./1. Jhd. v. Chr.) die Laokoon-Gruppe schuf, war laut der Naturalis historia Pliniusʼ des Älteren (XXXIV 50) Schüler des Bildhauers und Erzgießers Polyklet (fl. um 460‒420 v. Chr.). 418 Werke aus Augusts Zeitalter] zu den bedeutensten römischen Dichtern zur Zeit Kaiser Augustusʼ (Gaius Octavius; 63 v. Chr.‒14 n. Chr.) zählen neben Vergil Horaz (Quintus Horatius Flaccus; 65‒8 v. Chr.), Ovid (Publius Ovidius Naso; 43 v. Chr.‒17 n. Chr.), Properz (Sextus Aurelius Propertius, um 48‒15 v. Chr.), Tibull (Albius Tibullus; um 55‒19/18 v. Chr.) 419f. Plinius redet in der ganzen Stelle wo er des Laokoons gedenkt] vgl. Pliniusʼ des Älteren Naturalis historia XXXVI 37.

Mendelssohn: Phädon | 365

Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele, in drey Gesprächen von Moses Mendelssohn, bey Nicolai 1767 [Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 6 (1768), 1. St., S. 80–107, 2. St., S. 313–339.]

63f. die Schönheit ist nur, wie Mengs sagt, diejenige Einrichtung einer Sache, durch die ihre Absicht am besten erreicht wird] vgl. die Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Mahlerey (Zürich 1762) des deutschen Malers Anton Raphael Mengs (1728‒1779): Der Künstler soll »in jedes Ding eine unterschiedliche Bedeutung bringen,die doch alle zu einer Hauptbedeutung dienen, so wird der Ansehende in jeder Sache den Begriff erkennen, in allen zusammen die Ursache des ganzen, und wird ein Werk für vollkommen preisen, wenn die Materie jeder Sache nach ihrem Begriffe beschaffen ist, und itzt die Schönheit des Werkes, die aus jedem Theile zusammenströmt, und seine Seele rühret, fühlen, dann weil jedes Ding, so ein solches Werk vorstellet, eine Ursache und Geist hat, so wird das ganze Werk voller Geist, und um des geistigen willen, schön seyn, und die höchste Vollkommenheit der Materie haben« (3. Aufl. Hg. von Johann Caspar Fueßlin. Zürich 1771, S. 27). 132f. Unsre neue Metaphysik ist ohne Zweifel für die Wahrheit nützlicher und für den Verstand beruhigender] die von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646‒1716), vor allem aber von Christian Wolff (1679‒1754; Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik] [WGW I.2]) ausgehende wirkmächtige Metaphysiktradition der deutschsprachigen Ausklärung, mit Varianten von Ludwig Philipp Thümmig (1697‒1728), Georg Friedrich Meier (1718‒1777), Joachim Georg Darjes (1714‒1791), Christian August Crusius (1715‒1775) u. v. a. 169‒171 Wenn wir zuweilen von uns selbst Rechenschaft von dem Vergnügen gefordert haben, welches Plato und Xenophon fast über alle übrige alte Prosaisten ihren Leser machen] Platon (428/27‒348/47 v. Chr.), Schüler des Sokrates (469‒399 v. Chr.), galt bereits in der Antike aufgrund seiner stilitischen Fähigkeiten als Meister des Dialogs. ‒ Xenophon (zwischen 430/25‒um 354 v. Chr.), ebenfalls Schüler des Sokrates, verfasste u. a. Erinnerungen an den Philosophen (Memorabilien), eine fiktive Verteidigungsrede, die Apologie des Sokrates vor dem Gericht, sowie ein Symposion, in dem Sokrates im Mittelpunkt steht, die wegen ihrer klaren nüchternen Sprache bereits in der Antike beliebt waren. 171 von der Süßigkeit, die Cicero dem Stil des letztern zuschreibt] vgl. Marcus Tullius Ciceros (106‒43 v. Chr.) 55 v. Chr. entstandenes rhetoriktheoretisches Werk Oratore ad Brutum: Xenophons »Stil ist gewiß süßer als Honig« (9, 32; vgl. auch 19, 62: »mit Xenophons Stimme haben, so heißt es, sozusagen die Musen gesprochen«). 251 er scheint ein Theages mit seinem Sohne] in dem anonym überlieferten, bis ins 19. Jhd. Platon zugeschriebenen Dialog Theages wird ein fiktives Gespräch des Sokrates mit dem angesehenen Bürger Demodokos und dessen ehrgeizigem,

366 | 5 Erläuterungen nach einer politischen Führungsrolle strebendem Sohn Theages wiedergegeben. 256‒258 Montagne, ein weit unerheblicherer Mensch, [...] daß sie die geheime Geschichte seiner selbst enthalten.] in seinen zwischen 1572 und 1592 entstandenen und immer wieder erweiterten und umgearbeiteten Essais schildert Michel Eyquem de Montaignes (1533‒1592) seine persönliche Erfahrungswelt und seine inneren Empfindungen; vgl. Les Essais de messire Michel, seigneur de Montaigne. 2 Bde. Bordeaux 1580; dass. 3 Bde. Bordeaux 1588; eine um die nach 1588 entstandenen Essays vermehrte Gesamtausgabe erschien posthum Paris 1595. 283f. Xenophon schränkt sich, zu Folge seiner Absicht, fast ganz auf den Charakter des Sokrates ein.] vgl. Erl. zu 169‒171. 340‒350 Man hatte den Sokrates am Tage seiner Hinrichtung [...] wenn er weise wäre, bald folgen.] vgl. dazu Mendelssohns Phädon, S. 80‒85; vgl. Platons Dialog Phaidon 59c‒61b. 408‒412 ὄιει ἂν ἀδίκως πληγὰς λαβεῖν [...] ὅστις δϊϑύραμβον τοσοῦτον ἄσας οὕτως ἀμούσως πολι ἀπῆσας ἀπὸ τοῦ ἐρωτήματος] vgl. Platon: Hippias maior, 292c: »Glaubst du, ungerechte Schläge zu bekommen, der du mir einen so langen Dithyrambus vorsingst und dabei gar unmusikalisch von der Frage weit abspringst.« 414f. die die Briefe der Litteratur schon ein wenig berührt haben] vgl. dazu den 166. bis 171. der von Mendelssohn, Gotthold Ephraim Lessing (1729‒1781) und Christoph Friedrich Nicolai (1733‒1811) publizierten Briefe, die neueste Literatur betreffend (Berlin 1761), S. 255ff. (Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von Alexander Altmann u. a. Bd. 5.1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 367ff.). 433 wie Sokrates den Eut[h]yphron] in Platons frühem Dialog Euthyphron suchen Sokrates und der religiöse Euthyphron nach einer Definition der Frömmigkeit. 435 in dem Gespräche Menon] Platons Dialog Menon gibt ein fiktives Gespräch zwischen Sokrates und Menon von Pharsalos (um 423‒400 v. Chr.) wieder, in dem die Frage thematisiert wird, ob Tugend angeboren sei oder ob sie erlernt oder eingeübt werden könne. 447 im Parmenides] in Platons Dialog Parmenides diskutiert Sokrates mit dem Philosophen Parmenides (um 520/15‒um 460/55 v. Chr.), dessen Schüler Zenon von Elea (um 490‒um 430 v. Chr.) sowie einem Jüngling namens Aristoteles (hier nicht der Philosoph) über Einheit und Vielheit sowie Sein und Nichtsein. 474‒492 »Ich war,« sagt er, »in meiner Jugend […] wie das Feuer von der Kälte verschwindet.«] vgl. zu dieser stark verkürzenden Passage Platons die Beschaffenheit der Seele thematisierenden Dialog Phaidon 96a‒107a. 476 Anaxagoras] nach dem Vorsokratiker Anaxagoras (um 499‒428 v. Chr.) ist der Nous die treibende Kraft des Universums, der den Anstoß zur Sonderung des

Mendelssohn: Phädon | 367

vordem Vermischten gegeben und die Stoffe geformt habe (vgl. VS 59 B 12 [Die Fragmente der Vorsokratiker. Hg. von Hermann Diels und Walther Kranz]). 508 Echecrates] Echekrates von Phleius (* um 417 v. Chr.) war ein Schüler des Vorsokratikers und Pythagoreers Philolaos (um 470‒nach 399 v. Chr), vgl. Diogenes Laertios (fl. 3. Jhd.): Vitae philosophorum VIII, 46. 513f. »Ich habe niemals Geschäffte, wenn ich vom Sokrates rede,«] in Phädon: »Ich habe niemals Geschäffte, so oft ich mich vom Sokrates unterhalten kann« ‒ Garves Zitate entsprechen selten dem Original. 516f. Beym Platon sagt Phädon […] an den Sokrates zu denken.«] vgl. Phaidon 57d (»Nein, ich habe Muße und will versuchen, es euch zu erzählen. Denn des Sokrates zu gedenken, sowohl selbst von ihm redend als auch anderen zuhörend, ist mir immer von allem das Erfreulichste« [Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, 1809]). 518 der vermischten Empfindungen] Referat auf die spätestens mit Moses Mendelssohns (1729‒1786) Über die Empfindungen (Berlin 1755) intensiv und kontroverse debattierte Frage, ob auch ästhetische Empfindungen stets rein zu unterscheiden sind (etwa schöne und häßliche Empfindungen) oder sich vielmehr als Mischformen realisiren können, die Diskussion wird auch auf ethische Problemlagen ausgeweitet. 530 die kleine äsopische Fabel] vgl. Phädon, S. 82: »Hätte Aesopus dieses bemerkt, fuhr er fort, so hätte er vielleicht folgende Fabel erdichtet. ›Die Götter wollten die streitenden Empfindungen mit einander vereinigen: als aber dieses sich nicht thun ließ, knüpften sie zwischen ihnen ein festes Band; und seit der Zeit folgen sie sich einander beständig auf dem Fuße nach.‹« 533f. nach dem Griechischen συνῆψε τάς χοϱυφας] recte συνῆϑε τάς χοϱυφας, Zusammenführung der Spitzen. 541 οὐ γὰϱ φασὶ ϑεμιτὸν εῖναι] vgl. Platon: Phaidon, 61c: »denn das, sagen sie, sei nicht recht«. 547f. ἀλλὰ πϱοϑυμεῖσϑαι χϱὴ τάχα δἀν καὶ ἀκούσαιο] ἀλλὰ πϱοϑυμεῖσϑαι χϱὴ, ἔφη: τάχα γαρ ἀν καὶ ἀκούσαις, vgl. Platon: Phaidon, 62a: »Du musst dich eben darum bemühen, sagte er: möglich, dass du es dann hören wirst.« 551f. ὅσιον ist damit nicht völlig einerley, es bedeutet eigentlich die Beobachtung unsrer Pflicht gegen die Götter] vgl. Platon: Phaidon, 62a; zur Bestimmung dessen, was unter τὸ ὅσιον (›das Fromme‹) zu verstehen sei vgl. Platons Dialog Euthyphron. 562f. τῆ ἀυτοῦ φωνῇ εἰπὼν, ist ein bloßer Zusatz des Erzählers] vgl. Platon: Phaidon, 62a, wird heute übersetzt mit »in seiner Mundart«. 564 des Boeotischen Dialects] die Boioter siedelten im südöstlichen Mittelgriechenland am Golf von Korinth mit dem Hauptort Theben; in Boiotien war das Äolische, der altertümlichste der altgriechischen Dialekte verbreitet, ein eigener boiotischer Dialekt ist aber in Inschriften und v. a. durch das Werk der Lyrikerin Korinna aus Tanagra (fl. frühes 5. Jhd. v. Chr.) überliefert, deren

368 | 5 Erläuterungen Lieder (μέλη) in der hellinistischen Zeit seit Ende des vorchristlichen 4. Jhds. sehr beliebt waren; vor allem im antiken Athen bedeutete ›boiotisch‹ aber auch svw. ländlich grob und ungebildet. 566f. μεγας δε μιο τις φαινεται και οὐ ϱᾴδιος δυ δεῖν; ist ein Sokratischer Ausdruck] μεγας τέ τίς μοι φαίνεται και οὐ ϱᾴδιος διιδεῖν, vgl. Platon: Phaidon, 62b: »das scheint mir ein großes Wort und nicht leicht zu verstehen zu sein«. 571 Antwort des Cebes] vgl. Phädon, S. 89. 592f. Ἀεὶ λόγους τινὰς ἀνεϱευνᾶ καὶ οὐ πάνυ εὐϑέως ϑέλει πείϑεσϑαι ὅ, τι ἄν τις εἴποι.] im Original: »Ἀεὶ τοι, ἔφη, Κέβης λόγους τινὰς ἀνεϱευνᾶ, καὶ οὐ πάνυ εὐθέως έθέλει πείθεσθαι ὅτι ἄν τις εἴπή«, vgl. Platon: Phaidon, 63a: »Immer macht Kebes irgendwelche Einwände ausfindig und will sich durchaus nicht ohne weiteres von dem überzeugen lassen, was jemand sagt.« 598f. (ϑανατᾷν heißt nicht blos den Tod wünschen, sondern auch ihn erwarten)] vgl. Platon: Phaidon, 64b, üblicherweise mit »zu sterben wünschen« übersetzt. 632 die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele] vgl. dazu v. a. die von Anne Pollok besorgte Ausgabe des Phädon (Moses Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Anne Pollok. Hamburg 2013) sowie Anne Pollok: How to dry our tears? Abbt, Mendelssohn, and Herder on the Immortality of the Soul. In: Aufklärung 29 (2018) [Themenband Das Problem der Unsterblichkeit in der Philosophie, den Wissenschaften und den Künsten des 18. Jahrhunderts. Hg. von Dieter Hüning, Stefan Klingner und Gideon Stiening], S. 73‒88. 719 Das System des Materialisten] die spätestens mit Julien Offray de La Mettrie (1709‒1751; LʼHomme machine. Leiden 1749) in Europa kontrovers debattierte Theorie der reinen Körperlichkeit des Menschen, nach der die Seele nur ein Epiphänomen körperlicher Vorgänge ist, das lediglich den Schein von Unabhängigkeit, Substanzialität und Unsterblichkeit produziert. 804f. Hr. Wieland in seinem Lehrgedichte von der Natur der Dinge] vgl. Christoph Martin Wielands (1733‒1813) anonym erschienenes Lehrgedicht Die Natur der Dinge in sechs Büchern. Mit einer Vorrede Georg Friedrich Meiers. Halle 1752. 852f. Nachdem diese Recension geendigt und zum Theil abgedruckt ist, bekommen wir die neue Ausgabe des Phädon.] eine mit einem Anhang versehene »Vermehrte und verbesserte Auflage« des Phädon erschien bereits Frankfurt a. M., Leipzig 1768. 887f. gegen den Satz aus des Beccaria seiner Schrift von den Verbrechen und Strafen gerichtet: daß alle Todesstrafe unerlaubt sey] vgl. hierzu Cesare Beccaria (1738‒1794): Dei delitti e delle pene. Milano 1764, das zu einem europaweiten Erfolg und in viele Sprachen übersetzt wurde und in einigen Ländern tatsächlich zur Abschaffung der Todestrafe und der Folter führte.

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893f. Beleidigung andrer auf gewisse Weise zu bestrafen] Beleidigung bedeutet hier Verletzung der Rechte anderer, vgl. u. a. Christian Wolff: Grundsätze des Naturund Völckerrechts. Halle 1754, S. 55 (§ 88) [WGW I.19]. 931 wie sie Beccaria bestimmt hat] vgl. Erl. zu 887f. 939f. Beccaria leugnet dieses.] vgl. Erl. zu 887f. 948 Der Unterschied zwischen Xenophon und Plato] vgl. den Anhang zur zweiten Auflage des Phädon, S. 221: »Dieser letztere [Xenophon] vermied alle Spitzfündigkeiten der Dialektik, und lies seinen Lehrer und Freund dem gesunden ungekünstelten Menschenverstande folgen. In sittlichen Materien ist diese Methode unverbesserlich; allein in metaphysischen Untersuchungen führet sie nicht weit genug. Plato, der der Metaphysik hold war, machte seinen Lehrer zum pythagorischen Weltweisen, und lies ihn in den dunkelsten Geheimnissen dieser Schule eingeweihet seyn. Wenn Xenophon auf ein Labyrinth stößt: so läßt er den Weisen lieber schüchtern ausweichen, als sich in Gefahr begeben. Plato hingegen führet ihn durch alle Krümmungen und Irrgänge der Dialektik, und läßt ihn in Untersuchungen sich vertiefen, die weit über die Sphäre des gemeinen Menschenverstandes sind. Es kann seyn, daß Xenophon dem Sinne des Weltweisen, der die Philosophie von dem Himmel herunter geholt, treuer geblieben ist.« 953f. Plotinus hat diesen Beweis, aber noch unausgearbeitet] der aus Lykopolis im heutigen Ägypten stammende Begründer des Neuplatonimus Plotin (um 205‒270) verfasste zahlreiche Schriften, die nach seinem Tod von seinem Schüler Porphyrios (um 233‒301/05) in sechs Enneaden (Neunergruppen) herausgegeben wurden; im 4. Buch der 2. Enneade diskutiert Plotin eingehend »Περὶ τῶν δύο ὑλῶν« (›Über die beiden Materien‹) und die Immaterialität der Seele; Mendelssohn zitiert im Anhang zur zweiten Auflage Plotin S. 223f. ausführlich mit dem Hinweis, dass die von Plotin angeführten »Gründe« für die Immaterialität der Seele »allen Schein der Wahrheit [haben]; allein zur völligen Überzeugung fehlt ihnen noch vieles« (S. 224).

Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen [Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 9 (1769), 1. St., S. 20–63, 9 (1770), 2. St., S. 250–280.]

47‒51 Das erste Stück […] ‒ Winckelmann sah und dachte als ein Kenner des Schönen in der Kunst; Herr Lessing als ein Kenner des Schönen in den Werken des Geistes.] vgl. Johann Gottfried Herder (1744‒1803): Kritische Wälder. Oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend. 3. Bde. Riga 1769, Bd. 1, S. 7‒15, v. a. S. 15: »Winkelmann der Künstler, der gebildet hat, Leßing der schaffende Poet. Jener ein erhabner Lehrer der Kunst; dieser selbst

370 | 5 Erläuterungen in der Philosophie seiner Schriften ein muntrer Gesellschafter; sein Buch ein unterhaltender Dialog für unsern Geist«; Garve bezieht sich einerseits auf Johann Joachim Winckelmanns (1717‒1768) Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Dresden 1755, 2., verm. Aufl. ebd. 1756, andererseits auf Gotthold Ephraim Lessings (1729‒1781) Laokoon. Oder über die Gränzen der Mahlerey und der Poesie. Mit beyläuftigen Erläuterungen verschiedener Punkte der Alten Kunstgeschichte. Berlin 1766. 61 Was Helvetius von der Hochachtung gegen die Talente andrer sagt] vgl. Claude-Adrien Helvétius (1715‒1771): De l’homme, de ses facultés intellectuelles et de son education. 2 Bde. London 1772, sect. IV, chap. 6 (Herrn Johann Claudius Hadrian Helvetius hinterlassenes Werk vom Menschen, von dessen Geistes-Kräften, und von der Erziehung desselben. Aus dem Französischen [übersetzt von Christian August Wichmann (1735‒1807)]. 2 Bde. Breslau 1774, Bd. 1, S. 280ff.). 85 wie der Blindgebohrne die Farbe] Garve verweist auf die Forschungen des engl. Anatomen William Cheselden (1688–1752), der erstmals bei einem Blinde die Sehkraft wieder herstellte, vgl. An Account of some Observations made by a Young Gentleman, who was born blind, or lost his Sight so early, that he had no Remembrance of ever having seen, and was couch’d between 13 and 14 Years of Age. In: Philosophical Transactions 35 (1727/28), S. 447–450. 141f. des Sophokles Philoctet] der griech. Mythologie zufolge war Philoktetes einer der Anführer der griechischen Streitkräfte im Krieg gegen Troja, wurde aber bereits während der Überfahrt bei einer Rast auf der Insel Chryse von einer Schlange gebissen, was zu einer schwärenden stinckenden Wunde und unerträglichen Schmerzen führte; der Gestank und die Schmerzensschreie bewogen Odysseus, Philoktet auf der Insel Lemnos auszusetzen; im zehnten Kriegsjahr wurden den Griechen prophezeit, der Sieg über die Trojaner sei nur mit Hilfe der Pfeile des Herakles möglich ‒ diese aber hatte Philoktet vor dessen Tod von Herakles erhalten, der diesem auf Lemnos erschien und ihm Heilung in Troja versprach; Achilleusʼ Sohn Neoptolemos konnte Philoktet, der geschworen hatte, nie wieder auf Seiten der Griechen in den Kampf zu ziehen bewegen, den Griechen beizustehen ‒ in Troja angekommen, wurde er geheilt und tötete bald darauf Paris mit einem der Pfeile des Herakles. ‒ Von Homer wird Philoktetes in der Ilias und der Odyssee mehrfach kurz erwähnt, den eigentlichen Mythos begründen Aischylosʼ (525‒456 v. Chr.) und Euripidesʼ (485/84‒406 v. Chr.) ‒ heute verschollene ‒ Tragödien sowie der 409 v. Chr. aufgeführte Philoktetes des Sophokles (497/96‒406/05). 145 Das Schreyen der fallenden Helden beym Homer] vgl. hierzu Kritische Wälder, Bd. 1, S. 28‒30 (Kap. 2). 162‒164 In Ossians Gedichten reden die eheliche Liebe, die Liebe zu seinem Stamme, die Vaterliebe in der süßesten und eindringendsten Sprache einer feyerlichen Melancholie.] 1760 erschien in Edinburgh ein Band mit dem Titel Fragments of Ancient Poetry, herausgegeben von Hugh Blair (1718‒1800), ei-

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nem schottischen Kritiker; angeblich seien hier alte gälische Gedichte eines Dichters namens Ossian veröffentlicht worden, die sofort in viele europäische Sprachen übersetzt wurden; tatsächlich aber hatte der schottische Schriftsteller James Macpherson (1736–1796) die Texte selbst verfasst; trotz früher Enttarnung wurden die Works of Ossian – noch im Werther – intensiv und affirmativ rezipiert; vgl. hierzu insbesondere Wolf Gerhard Schmidt: »Homer des Nordens« und »Mutter der Romantik«. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. 4 Bde. Berlin 2003. 188f. Diese Stelle, eine der vorzüglichsten im ganzen Buche, ist mehr Philosophie als Geschichte] vgl. das Erste Wäldchen, S. 42‒48. 249f. Im Philoctet, sagt unser Verfasser, soll nichts weniger als der körperliche Schmerz das Hauptmittel der Rührung seyn.] vgl. zu dieser zusammenfassenden Paraphrase Kritische Wälder, Bd. 1, S. 16‒23. 255‒257 nur Lessingen hat hier der Verfasser nicht widerlegt, denn der sagt gar nicht das Gegentheil, er sagt sogar selbst einen Theil davon] vgl. Lessing: Laokoon, Kap. I (Werke und Briefe. Hg. von Wilfrid Barner u. a. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1985‒2003, Bd. 5.2, S. 17‒22). 263‒266 »Richtig verstanden,« sagt der Verfasser, »ist ohne Zweifel der Satz richtig […] den Griechen so vorzüglich eigen gewesen?«] vgl. Kritische Wälder, Bd. 1, S. 75 (Kap. 6): »Ich verstehe ihn so: es sei bei den Griechen kein herrschender, kein Hauptgeschmack gewesen, das erste beste zu schildern und zu bilden, um blos durch die Nachahmung Werth zu erhalten, blos durch Ähnlichkeit sich als Künstler zu zeigen: sondern hier habe ihr Geschmack das Schöne zum Hauptgegenstande gemacht, um nicht blos mit leidigen Geschicklichkeiten zu pralen.« 287‒292 »Keine Gottheit, fährt unser Verfasser fort […] oder wurden (wie in des Timanthes Gemälden) verhüllet.«] vgl. zu dieser zusammenfassenden Paraphrase Kritische Wälder, Bd. 1, S. 79‒90. 292f. die Auslegung der Stelle des Plinius] vgl. Kritische Wälder, Bd. 1, S. 88f.; der griech. Maler Timanthes (fl. 2. Hälfte des 5. Jhds. v. Chr.) soll laut der Naturalis historia (um 77) des Gaius Plinius Secundus Maior (Plinius der Ältere; 23/24‒79) bei seiner Darstellung der Opferung der Iphigenie in Aulis »alle Anwesenden, besonders den Oheim, in Betrübnis gemalt und dabei jeglichen Ausdruck der Traurigkeit gelegt […] das Antlitz des Vaters selbst aber verhüllt [haben], weil er es nicht würdig darstellen konnte«, das heißt ihm eine Steigerung der Emotionalität nicht mehr möglich war (XXXV 73; Übersetzung nach Naturkunde. Lat.-dt. Hg. von Roderich König u. a. München 1973ff.). 293 Digne] vgl. die Naturalis historia XXXV 73: Timanthes »patris ipsius vultum velavit, quem digne non poterat ostendere.« 398 ist die Stelle des Cicero im Orator wider die neue Erklärung] vgl. Marcus Tullius Ciceros (106‒43 v. Chr.) rhetorisches Lehrbuch Orator ad Butum, 22, 74.

372 | 5 Erläuterungen 300f. Cicero giebt ausdrücklich die Ursache von der Verhüllung des Agamemnons an, die der Verfasser läugnet, quoniam summum illum luctum penicillo imitari non potuisset.] vgl. Cicero: Orator ad Brutum, 22, 74: »da jene tiefste Trauer mit dem Pinsel nicht nachgeahmt werden kann«; vgl. Erl. zu 292f. 302 Und endlich drittens ist die Erklärung des V. wider den Zusammenhang.] vgl. das Erste Wäldchen, S. 87f. 307 des Timanthes Gemälde] vgl. Erl. zu 292f. 312‒315 »Die Griechen bekamen ihre theologischen und mythologischen Begriffe […] als das Zeichen einer vorzüglichen menschlichen Schönheit.«] kein Zitat, vgl. zu dieser stark paraphrasierenden Passage Herders Erstes Wäldchen, S. 79‒85. 321f. Diese Aussprüche; »Virgil muß Nachahmer seyn, weil er es schlechter gemacht,«] vgl. Kritische Wälder, Bd. 1, S. 101: »Virgil muß nachgeahmet haben; entweder nun einem Kunstwerke, oder welches mich wahrscheinlicher dünkt, dem Gemälde Homers. Das hat von jeher den Nachahmer verrathen, wenn er mit gar zu künstlicher Hand klecket, und Nebendinge am sorgfältigsten vollendet. Eben daher wage ichs, zu sagen, daß Virgils Schilderung mehr das Ohr füllet, als die Seele«; vgl. zur ›Nahmung‹ durch Vergil auch ebd., S. 98ff. 323f. daß uns Virgil sehr viel von dem Leiden des Laokoon zeigte] in der Aeneis (29‒19 v. Chr.) des Vergil (Publius Vergilius Maro; 70‒19 v. Chr.) schreit Laokoon beim Angriff der Schlangen (2, 199‒227) wie ein Opfertier: »Ganz von Eiter die Bind’ und schwärzlichem Gifte besudelt; / Und graunvolles Geschrei hochauf zu den Sternen erhebt er: / So wie Gebrüll auftönt, wann blutend der Stier vom Altare / Floh und die wankende Axt dem verwundeten Nacken entschüttelt« (2, 200‒223; Übersetzung von Johann Heinrich Voß [Publius Vergilius Maro: Werke. Bd. 2f. Braunschweig 1799]). 332f. »Der Grundsatz ist richtig,« sagt unser Verfasser, »der Maler soll nicht den äussersten Grad des Affects ausdrücken.«] vgl. Kritische Wälder, Bd. 1, S. 107. »Ist nämlich die Kunſt an einen Augenblick gebunden, bleibt dieser Augenblick: so wähle sie nicht das Höchste in einem Affekt: sonst weiß die Einbildungskraft kein Höheres: sie drücke auch nichts Transitorisches aus; denn dies Transitorische wird durch sie verewigt.« 391 Das individuelle Wesen der Gottheit] vgl. dazu das Erste Wäldchen, S. 127‒131. 407 Die Ode des Horaz an die Göttinn des Glücks] vgl. die Carmina (um 23‒um 13 v. Chr.) des Horaz (Quintus Horatius Flaccus; 65‒8 v. Chr.), liber I, carmen 35. 429 Scythe] in Horazens carmen sind nicht die seit dem 8./7. Jhd. v. Chr. das südliche Russland und die Ukraine besiedelnden Reiternomadenvölker gemeint, sondern es handelt sich um die spätestens seit der Herrschaft Gaius Iulius Caesars (100‒44 v. Chr.) allgemein übliche Bezeichnung für die ›Barbaren aus dem Osten‹. 432 Te Dacus asper ‒ ‒ tyranni] vgl. I, 35, 9‒13; die Daker waren ein seit dem 5. Jhd. v. Chr. in den Gebieten westlich des Schwarzen Meeres, v. a. im heutigen Rumänien siedelndes Volk.

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433 iniurioso ne pede etc.] vgl. I, 35, 14ff. 440 Daß er das Glück als eine Schutzgöttinn von Antium anredet] vgl. I, 35, 1: »O diva, gratum quae regis Antium«. 459f. Der Künstler, sagt Lessing, bleibt in der Vorstellung unsichtbarer höherer Wesen, auch in Absicht der Größe und der Gestalt hinter dem Dichter zurück.] vgl. Lessing: Laokoon, Kap. VIII (Werke, Bd. 5.2, S. 69f.). 481‒496 »Homers Gemälde sind fortschreitend. […] in unsern Sprachen ist dieser Vorzug nicht zu erhalten.«] vgl. zu dieser Paraphrase Kritische Wälder, Bd. 1, Kap. 15, S. 184‒195. 566 Diese Art der Wirkung die der Poesie eigen ist, heißt unser Verfasser Kraft.] vgl. Kritische Wälder, Bd. 1, S. 200f.: »Ließe sich nicht das Wesen der Poesie auch auf einen solchen Hauptbegriff bringen, da sie durch willkührliche Zeichen, durch den Sinn der Worte auf die Seele wirkt? Wir wollen das Mittel dieser Wirkung Kraft nennen: und so, wie in der Metaphysik Raum, Zeit und Kraft drei Grundbegriffe sind, wie die mathematischen Wissenschaften sich alle auf einen dieser Begriffe zurückführen lassen; so wollen wir auch in der Theorie der schönen Wissenschaften und Künste sagen: die Künste, die Werke liesern, wirken im Raume; die Künste, die durch Energie wirken, in der Zeitfolge; die schönen Wissenschasten, oder vielmehr die einzige schöne Wissenschaft, die Poesie, wirkt durch Kraft. ‒ Durch Kraft, die einmal den Worten beiwohnt, durch Kraft, die zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar auf die Seele wirket. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht aber das Coexistente, oder die Succession.« 714‒716 Keine dichterische Beschreibung [...] die ich gar nicht zuvor weiß.] Resümee Garves zum 17. Kapitel des Ersten Wäldchens (S. 209‒223). 717 die Geschichte des Eudamidas oder des Scipio] der spartanische König Eudamidas I. (fl. 331/330‒vor 294 v. Chr.) soll trotz des Widerstandes großer Teile der Spartaner eine friedliche Politik insbesondere gegenüber Makedonien vertreten haben (vgl. Plutarchs [um 45‒um 125] Parallelbiographie Agis/Kleomenes – Gracchen 3,3, ebenso Pausaniasʼ (um 115‒um 180) Reisen in Griechenland III 10.15). ‒ Hier vmtl. Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus minor Numantinus (185‒129 v. Chr.), der, 147 v. Chr. zum römischen Konsul gewählt, im Dritten Punischen Krieg (149‒146 v. Chr.) Karthago eroberte und zerstörte, 133 v. Chr., abermals zum Konsul gewählt, nahm er die hispanische Stadt Numantia ein, womit die römische Eroberung der spanischen Halbinsel abgeschlossen wurde; nach dem Tod seines Schwagers Tiberius Sempronius Gracchus (162‒133 v. Chr.) geriet er in Konflikt mit dem Volkstribunen Gaius Papirius Carbo († 119 v. Chr.), der ihn 129 v. Chr. ermordet haben soll, vgl. Ciceros De oratore 2,40, vgl. zu Scipio auch De re publica. 717f. Die Kräuter, die Haller beschreibt] vgl. Albrecht von Hallers (1708‒1777) 1729 entstandes, 1734 in dem Versuch Schweizerischer Gedichten publizierte Lehrgedicht Die Alpen, vv. 381‒400.

374 | 5 Erläuterungen 727f. Wenn Ariost die Alcina, mit der Nase ohne Fehl, etc. schildert] vgl. die Beschreibung der Fee Alcina in Ludovico Ariostos (1747‒1533) Orlando furioso (1516), VII, 10‒15, insbes. 12: »Ihr Näslein so gerad jhr im Gesichte stand/ Daß auch die Mißgunst selbst nichts dran zu tadeln fand« (vv. 7f.; hier in der ersten ‒ und bis zu Jakob Mauvillons [1743‒1794] Prosaübersetzung [4 Tle. Lemgo 1777/78] einzigen ‒ [Teil-]Übersetzung in vier Bänden [Leipzig 1632‒1636] von Diederich von dem Werder [1584‒1657], Bd. 2, S. 76). 811‒814 Aber ob nun dieses von γελοῖον statt habe [...] und γέλως die ewige ungestörte Heiterkeit der Götter heißen könne: daran zweifeln wir.] Bezug auf die homerische Theorie des Lachen und des Lächerlichen, die in der Illias (I 599) und der Odyssee (8, 326) erwähnt werden, und zwar insbesondere in der Form des asbestos gelos (γέλως ἄσβεςτος) des unlöschbaren Gelächters der Götter über die erbärmliche Endlichkeit des Menschen. 830f. Wenn also γέλως das Gelächter, und γελοῖον das Lächerliche in der jüngern Sprache heißt] vgl. Erl. zu 811‒814. 844f. Ohne die Erklärung des γέλως ἄσβεςτος zu rechtfertigen] vgl. Erl. zu 811‒814. 865f. Nach der Zeit sonderte sich γελοῖον von γελαςτὸν ab; und bedeutete nur das Belachenswerthe, das Lächerliche durch Ungereimtheit.] vgl. Erl. zu 811‒814. 922f. Die zwote Untersuchung des Verf. ist: Wie weit kann die Mythologie in einem christlichen Gedichte statt finden?] vgl. Zweites Wäldchen, S. 54ff. 948f. Er kann nicht aus derselben handelnde Personen seines Stücks nehmen, und sie mit Personen aus der Religion, als gleich wirkliche Wesen auftreten lassen] vgl. Christian Adolph Klotz (1738‒1771): Epistolae Homericae. Altenburg 1764, Epistola II, S. 44‒135, v. a. S. 56‒86. 948f. Wenigstens die Portia und der Salomon gehören sicher nicht hieher.] in Friedrich Gottlob Klopstocks Messias (1755/56) wird die (frei erfundene) heidnische Portia als Ehefrau des Pontius Pilatus (fl. 26‒36) als Verteidigerin Jesu eingeführt (6. Gesang), im 7. Gesang erzählt sie Maria ihren Traum von Jesu Eingang in den Himmel; in Klopstocks Trauerspiel Salomo (1764) werden alttestamentarische und heidnische Elemente (»Priester Molochs«) vermischt, v. a. hegt Salomo Zweifel am alttestamentarischen Gott; vgl. hierzu das Zweite Wäldchen, S. 81‒84. 983 in der Leibnitzischen Welt] Bezug auf die vor allem von Gottfried Wilhelm Leibniz (1746‒1716) in den Essais de theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme, et l’origine du mal (Amsterdam 1710) entwickelt Theorie der besten aller möglichen Welten, nach der Gott gebunden an das principium optimi aus der unendlichen Fülle möglicher Welt die beste in die Wirklichkeit entlassen, d. h. geschaffen haben muss. 1065 Unanständigkeit] vgl. dazu auch Garves Diskussion um den ›Anstand‹ in Über Gesellschaft und Einsamkeit. Zweyter Band. Hg. von Johann Kaspar Friedrich Manso und Johann Gottlob Schneider. Breslau 1800, S. 4ff.

Herder: Kritische Wälder | 375

1072 eine natürliche Schaam] der niederländische Mediziner, Theologe und Philosoph Lambert van Verlhuysen (1622‒1685) fasste bereits in seiner Epistolica Dissertatio de Principiis Justi et Decori, continens Apologiam pro tractatu Clarissimi Hobbaei, De Cive (Amsterdam 1651), insbesondere aber im Tractatus moralis de Naturali Pudore et dignitate hominis in quo agitur, de Incestu, Scortatione, Voto Caelibatus, Conjugio, Adulterio, Polygamia et Divortiis, etc. (Utrecht 1676) die Schamhaftigkeit als selbständiges naturrechtliches Prinzip auf, Christian Thomasius (1655‒1728) unterscheidet in der Folge zwischen einer natürlichen und einer »manierliche[n] Schamhafftigkeit (Pudor Politicus)«, wobei die erstere in einer »aus der gemeinen Gleichheit aller Menschen hergeführ[ten]« »Furcht wegen einer unanständigen und unehrbaren That verachtet zu werden« besteht (vgl. Thomasius: Höchstnöthige Cautelen welche ein Studiosus Juris, der sich zu Erlernung der Rechts-Gelahrheit auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat. Halle 1713, Kap. 15, §§ 11‒13, S. 370); vgl. bereits Christian Thomas eröffnet der Studierenden Jugend einen Vorschlag, wie er einen Jungen Menschen, der sich ernstlich fürgesetzt, Gott und der Welt dermahleins in vita civili rechtschaffen zu dienen, und als ein honnet und galant homme zu leben, binnen dreyen Jahre Frist in der Philosophie und singulis Jurisprudentiae partibus zu informiren gesonnen sey. Halle 1689, S. 34‒36; vgl. auch Thomasiusʼ Fundamenta iuris naturae et gentium (Halle 1705, 41718). ‒ Zum Einfluss Velthuysens auf Thomasius vgl. Hanspeter Marti: Naturrecht, Ehrbarkeit und Anstand im Spiegel frühaufklärerischer Hobbeskritik: Lambert van Velthuysens Briefdissertation ›De principiis justi et decori‹ und ihre Aufnahme in der deutschen Schulphilosophie. In: Aufkärung 6,2 (1992), S. 69‒95. 1099 Eine andre Quelle natürlicher Schaam ist der Ekel.] vgl. dazu etwa Garve: Über Gesellschaft und Einsamkeit, Bd. 2, S. 4: »Das Eckelhafte ist vornähmlich dem Anstande entgegengesetzt. Der erste und älteste Anstand bestand in der Vermeidung des Eckelhaften. Hieraus und aus der natürlichen Schamhaftigkeit entsprang die Bedeckung gewisser Theile des Körpers, was wir auch bey den rohesten Völkern finden; hieraus entsprang die Reinlichkeit, der erste Schritt zum guten Anstande, und die Entfernung und Verbergung der natürlichen Ausleerungen.« 1109 Delikatesse] hier svw. Zart- oder Feingefühl, vgl. etwa die Bildungsschule für das weibliche Geschlecht: »Was dem Manne sein Stolz ist, das ist dem Weibe seine Delikatesse; und so jener die männliche Kraft offenbart, offenbart dieser die weibliche Zartheit« (2 Bde. Schwerin, Wismar 1799/1800, Bd. 2, S. 309); vgl. auch Isabella Howard: Für junge Frauenzimmer sich und ihre künftigen Männer glücklich zu machen. Nebst einem Versuch der Übersetzerin [Sophie Margarethe »Meta« Forkel-Liebeskind, geb. Wedekind] über weibliche Delikatesse. Leipzig 1791. 1225‒1227 Die Anwendung dieser Grundsätze auf den Virgil übergehen wir ganz, und dieß um desto lieber, weil der Verfasser noch mehr seinen Charakter, als

376 | 5 Erläuterungen seine Schriften zu retten sucht.] vgl. dazu das 7. Kapitel im 2. Teil des Zweiten Wäldchens, S. 183‒196, im Inhaltsverzeichnis getitelt »Über die persönliche Schamhaftigkeit Virgils. Ob, und wie sie gerettet werden könne? Abhörung des Donatus, Servius, Martialis und Apulejus darüber.« 1230 die erste Ode] vgl. Horazʼ Ode an Gaius Cilnius Maecenas (70‒8 v. Chr.), Carmina I, 1; vgl. das Zweite Wäldchen, S. 211‒221, in der Auseinandersetzung mit Christian Adolph Klotzʼ Vindiciae Q. Horatii Flacci accedit commentarius in carmina poetae (Bremen 1764). 1233‒1240 »Jeder Mensch hat irgend einen Gegenstand […] das Consulat oder der Preiß in den Olymp. Spielen sind?«] kein Zitat, sondern eine Paraphrase aus dem Zweiten Wäldchen, S. 212: »Er zält nämlich seinem Mäcen die ganze Mannichfaltigkeit der menschlichen Bestrebungen her: daß freilich jeder seine Neigung habe; daß es aber keiner an ihrer kleinen Dosis von Thorheit fehle. Der sammlet sich olympischen Staub; dem ists sein höchster Wunsch, ein Ziel umzufahren; den macht ein Palmenzweig selig, wie die olympischen Götter: groß, wie die Herren der Erde. Dieser, wenn ihn der wandelbare Pöbel ein Paar, ein Drei Ehrenstellen zuerkennet; jener, daß, was in Libyen geerndtet wird, eben in seiner, und in keines andern Menschen Scheure liege u. s. w. kurz! Jeder hat seinenKopf, und der ist ihm sein Glücksgott, warum sollte ich nicht den meinen haben?« 1260 was nun weiter vom Bentley gesagt wird] vgl. zur Auseinandersetzung mit Richard Bentleys (1662‒1742) Q. Horatius Flaccus, ex recensione & cum notis atque emendationibus (Cambridge 1711, Editio altera Amsterdam 1713) das Erste Wäldchen, S. 147f. 1285f. was er von der Horazischen und Pindarischen Ode überhaupt sagt, die Erklärung einer Ode des Pindars im 3ten Theile dazu genommen] vgl. zu den Oden des Horaz v. a. das Zweite Wäldchen, S. 211‒238, zu Pindars Oden v. a. ebd., S. 238‒241. ‒ Vgl. die Erläuterungen zu Pindars vierter Pythischer Ode (auf den Wagenlenker Arkesilaos von Kyrene) im Dritten Wäldchen, S. 127‒134. 1298f. Daß unser Autor sehr viel gutes und wahres auch über die Münzen sagt, das ist unstreitig] vgl. die Auseinandersetzung mit Christian Adolph Klotzʼ Beytrag zur Geschichte des Geschmacks und der Kunst aus Münzen (Altenburg 1767) im Dritten Wäldchen, S. 15‒121. 1309f. »Der Geschmack soll nur die Pforte zur Wissenschaft und der Weg zur wirklichen Kenntniß seyn.«] vgl. Drittes Wäldchen, S. 29: »Der wahre Tempel des Geschmacks ist nicht eine Orientalische Pagode, ein Ruhesitz, wo man sich am Ende seiner Wallfahrt niederläßt; er ist vielmehr wie der Tempel des Marcellus gebauet; die Pforte des Geschmacks, auch in Münzen, ein Durchgang zur Wissenschaft: zur Wissenschaft, welche es wolle.«

| 6 Anhang

Zeittafel 7. Januar 1742

Christian Garve wird als Sohn des Färbers Nathanael Garve (1694–1747) und seiner Frau Anna Katharina, geb. Förster (1716–1792) in Breslau geboren; der Junge ist früh kränklich und wird daher zumeist von seiner Mutter und Hauslehrern unterrichtet

1747

nach dem Tod des Vaters führt Anna Katharina Garve die Färberei weiter, u. a. mit Unterstützung des Hauslehrers Gottlieb Ringeltaube (1732–1824); Garve besucht das örtliche Elisabeth-Gymnasium, der vor allem sprachliche Unterricht wird durch Ringeltaube in philosophischer und theologischer Hinsicht ergänzt

1762

kriegsbedingt kann Garve erst im Alter von 20 Jahren das Studium der Theologie in Frankfurt a. d. O. beginnen; Alexander Gottlieb Baumgarten (1714‒1762), dessentwegen Garve vor allem nach Frankfurt zum Studium ging, stirbt jedoch schon im Mai 1762

1763

Garve wechselt daher im Sommersemester 1763 an die Universität Halle a. d. S. und hört Vorlesungen bei Johann Salomo Semler (1725‒1791) und Georg Friedrich Meier (1718‒1777), die ihn nachhaltig prägen; in Halle wendet sich Garve von der Theologie ab und strebt einen philosophischen Abschluss an; erste Pläne für eine akademische Karriere

1765

der Hallischen ›Pietisterei‹ wegen Wechsel an die Universität Leipzig, die ihm mit ihren Wolff-kritischen Tendenzen wissenschaftstheoretisch entgegenkommt und zudem für eine akademische Laufbahn attraktiver erscheint; enge Kontakte zu Johann August Ernesti (1707‒1781) und Christian Fürchtegott Gellert (1715‒1769), die den jungen Philosophen nach Kräften protegieren, aber auch für ihr popularphilosophisches Programm zu gewinnen suchen; bei Gellert kann Garve eine Zeit lang Wohnung nehmen

1766

Erlangung der Magisterwürde in Halle bei dem Mathematiker und Physiker Johann Andreas von Segner (1704– 1777) mit einer Arbeit über Wahrscheinlichkeitslogik (De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium)

https://doi.org/10.1515/9783110647808-007

380 | Zeittafel

ab 1766

durch Gellerts Einfluss vermehrte Beschäftigung mit Fragen der empirischen Psychologie und der Moralphilosophie; intensive Rezeption Shaftesburys, Hutchesons, aber auch Helvétiusʼ, der ihn nachhaltig prägen sollte; Aufbau eines umfangreichen und intensiv gepflegten Freundeskreises, zu dem u. a. Ernst Platner (1744‒1818), Christian Felix Weiße (1726‒1804), Johann Wolfgang Goethe (1749‒1832), Johann Joachim Eschenburg (1743‒1820), Christian Friedrich Blankenburg (1744‒1796), Georg Joachim Zollikofer (1730‒1788), Friedrich Wolfgang Reiz (1733‒1790) und der junge Christian Konrad Wilhelm Dohm (1751‒1820) zählen; frühe Zusammenarbeit und Freundschaft mit Johann Jakob Engel (1741‒1802); viele dieser Freundschaften werden Jahrzehnte über umfangreiche Briefwechsel erhalten bleiben

1767

erste größere Publikationen zur empirischen Psychologie, so der Versuch über die Fähigkeiten; zudem umfangreiche, teils spektakuläre Rezensionen zu Lessing, Mendelssohn, Friedrich Justus Riedel (1742‒1785) und Herder

Mai 1767 bis April 1768

Aufenthalt in Breslau, um die an finanziellen Nöten leidende Mutter zu unterstützen; Vorbereitungen für eine Habilitation in Leipzig Erwerb der venia legendi mit einer Arbeit über die Methodik der Philosophiegeschichte und einer siebenstündigen Disputation; Vorlesungen über Moral und Experimentalphysik

18. Juni 1768

1769

Versuch über die Neigungen; Tod Gellerts, Garve ist als dessen Nachfolger im Gespräch und übernimmt nach massiver Protektion durch seine Freunde dessen außerordentliche Professur für Philosophie (Ernennung allerdings erst im Oktober 1770)

ab 1770

erste Auseinandersetzung mit dem aufkeimenden Geniewesen des Sturm und Drang im Sinne einer auch von Johann Georg Sulzer (1720‒1779) propagierten Aufrechterhaltung der Vermittlung von Ethik und Ästhetik; ab Oktober Vorlesungen über Moral, Mathematik und allgemeine Philosophie (nach Johann August Ernesti [1705‒1781])

1771

Einige Gedanken über das Interessirende (Bd. 1; Bd. 2 folgt 1772)

Zeittafel | 381

1772

in Leipzig erscheint die Übersetzung von Adam Fergusons Institutes of Moral Philosophy (Grundsätze der Moralphilosophie) mit umfangreichen Anmerkungen

September 1772

Aufgabe der Professur wegen zunehmender Erkrankung durch Überlastung und Überforderung

Oktober 1772

Rückkehr nach Breslau und seither Leben als Privatgelehrter, der von den Einkünften und dem Vermögen der Mutter sowie der eigenen Publikationstätigkeit lebt, stete Ablehnung mehrerer Angebote auf Schul- und Akademiestellen

1772 bis 1778

Garve findet nur allmählich Kontakte in die Breslauer Gesellschaft, baut aber auch hier einen umfangreichen Freundeskreis auf; Rezensionen von Goethes Werther (1775) und Lessing Emilia (1775) in Engels Der Philosoph für die Welt, ansonsten kaum Publikationen

1773

die Übersetzung von Edmund Burkes A Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (Über den Ursprung unserer Begriffe vom Erhabenen und Schönen) erscheint in Riga

Frühjahr 1779

mehrere Treffen mit Friedrich II. in Breslau, während derer der König Garve zur Übersetzung von Ciceros De officiis auffordert; nach längerem Zögern nimmt Garve die Arbeit im November auf

1780/81

Reise nach Göttingen über Leipzig, Berlin, Weimar, Erfurt, Gotha, Coburg, Kassel, Hannover und Braunschweig; Garve trifft auf dieser Reise eine Fülle namhafter Aufklärer (in Weimar u. a. Wieland und Goethe), auch um mit ihnen seine Cicero-Übersetzung und deren Kommentar zu besprechen, an denen er kontinuierlich weiterarbeitet; in Göttingen wohnt er ab Juni 1781 bei Michael Hißmann (1752‒1784), intensiver Austausch mit Johann Georg Heinrich Feder (1740‒1821), Christoph Meiners (1747‒1810), Georg Christoph Lichtenberg (1742‒1799), August Ludwig von Schlözer (1735‒1809) und Georg Forster (1754‒1794); Garve wird als ›Berühmtheit‹ herumgereicht; Verabredung mit Feder zur Rezension der Kritik der reinen Vernunft

382 | Zeittafel

19. Januar 1782

die (durch Hißmann und Feder überarbeitete und gekürzte) Rezension der Kritik der reinen Vernunft erscheint in den Zugaben zu den Göttingischen Gelehrten Anzeigen

1783

Reise nach Leipzig; Kant reagiert in den Prolegomena mit einer vernichtenden Polemik auf die Rezension; am 16. August und 29. Oktober erscheinen die Übersetzung von Ciceros De officiis und der Kommentar dazu

seit etwa 1785

Ausprägung einer krebsartigen Erkrankung im Gesicht, die ausnehmend schmerzhaft ist und Garve allmählich erblinden lässt

September 1786

Ernennung zum auswärtigen Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften

1788

die Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik erscheint

Mai bis Juli 1790

Reise nach Berlin in der (letztlich vergeblichen) Hoffnung auf Therapie bzw. Linderung seiner fortschreitenden Erkrankung

1792

Reise nach Leipzig; Tod der Mutter; Über die Moden; Garve zieht sich aufgrund der zunehmend entstellenden Erkrankung aus der Öffentlichkeit zurück

Juni 1792

Reise nach Posen zu einem Wundarzt, der angeblich eine der garveschen vergleichbare Gesichtskrankheit geheilt hatte; Garve muss erfolglos nach Breslau zurückfahren

1794

die ersten beiden Bände der Übersetzung von Adam Smiths An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations erscheinen (Untersuchung über die Natur und Ursache des Nationalreichthums) in Breslau, 1795 folgen der 3., 1796 der 4. Band

April/Mai 1794

zweite Reise nach Posen zum selben Arzt wegen der Hoffnung auf Heilung seiner Haut- und Augenkrankheit ‒ ein ebenfalls vergeblicher Versuch

seit etwa 1795

Garve arbeitet an Übersetzungen der Ethik und der Politik des Aristoteles (während zumindest der erste Band der Ethik noch zu Lebzeiten Garves erscheint, wird die Übersetzung der Politick des Aristoteles erst 1803 posthum von Georg Gustav Fülleborn herausgegeben)

Zeittafel | 383

1797

Über Gesellschaft und Einsamkeit (Bd. 1; der 2. Band wird posthum 1800 von Johann Kaspar Friedrich Manso und Johann Gottlob Schneider herausgegeben)

1798

in Breslau erscheinen Einige Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre und der erste Band der Ethik des Aristoteles (der 2. Band wird posthum 1801 von Manso und Schneider herausgegeben)

1. Dezember 1798

Tod Garves in Breslau

Siglenverzeichnis AA

Kantʼs gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. (AA Band, Seite)

CPH

Christian August Crusius: Die philosophischen Hauptwerke. 4 Bde. Hg. von Sonia Carboncini und Reinhard Finster. Hildesheim 1964‒1987. (CPH Band, Seitenzahl)

FA

Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. 40 Bde. Hg. von Hendrik Birus u. a. Frankfurt a. M. 1989‒2013. (FA Band, Seitenzahl)

G

Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. 7 Bde. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Berlin 1875‒1890 [ND Hildesheim 1961]. (G Band, Seitenzahl)

GGW

Christian Garve: Gesammelte Werke. 17 in 19 Bden. Hg. von Kurt Wölfel. Hildesheim, Zürich, New York 1985–2000. (GGW Band, Seitenzahl)

HT

David Hume: A Treatise of Human Nature. Ed. by David Fate Norton and Mary J. Norton. Oxford University Press 2000.

HW

Johann Gottfried Herder: Werke. 3 Bde. Hg. von Wolfgang Proß. Darmstadt 1984– 2002. (HW Band, Seitenzahl)

JWA

Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Hamburg, Stuttgart 1998ff. (JWA Band, Seitenzahl)

JBW

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel – Nachlaß – Dokumente. Hg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Stuttgart 1981ff. (JBW Band, Seitenzahl)

LPS

Johann Heinrich Lambert: Philosophische Schriften. 10 Bde. Begonnen von Hans Werner Arndt, fortgeführt von Lothar Kreimendahl. Hildesheim 1965–2008 sowie 2 Suppl.-Bde. Hildesheim 2020 [Johann Heinrich Lamberts Monatsbuch. Neu hg., eingel., komment. und mit Verzeichnissen zu Lamberts Schriften, Briefen und nachgelassenen Manuskripten versehen von Niels W. Bokhove und Armin Emmel]. (LPS, Band, Seitenzahl bzw. LPS Suppl., Band, Seitenzahl). Gotthold Ephraim Lessing: Werke in 8 Bänden. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. München 1970‒1979 [Darmstadt 1996]. (LW Band, Seitenzahl)

LW

MGS

Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von Alexander Altmann, Michael Brocke, Eva J. Engel und Daniel Krochmalnik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1972ff. (MGS Band, Seitenzahl)

SSW

Baruch de Spinoza: Sämtliche Werke Lateinisch-deutsch. Hg. von Wolfgang Bartuschat u. a. Hamburg 1982ff. (SSW Band, Seitenzahl)

https://doi.org/10.1515/9783110647808-008

386 | Siglenverzeichnis

TAW

Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Nachdruck der Originalausgaben. Hg. von Werner Schneiders und Frank Grunert. Hildesheim, Zürich, New York 1993ff. (TAW Band, Seitenzahl)

WOA

Christoph Martin Wieland: Werke. (Oßmannstedter Ausgabe.) Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Berlin, New York 2008ff. (WOA Band, Seitenzahl)

WGW

Christian Wolff: Gesammelt Werke. Nachdruck der Originalausgaben. Hg von Jean Ecole u. a. Hildesheim, Zürich, New York 1965ff. (WGW Abteilung, Band, Seitenzahl)

WP

Werkprofile. Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Frank Grunert und Gideon Stiening in Zusammenarbeit mit Udo Roth. Berlin, New York 2011ff. (WP Band, Seitenzahl)

Bibliographie Ausgaben Sammlung einiger Abhandlungen aus der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Leipzig 1779. * Vgl. Sämmtliche Werke, Bd. 7 (1801). Versuche über verschiedne Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. 5 Bde. Breslau 1792–1802. * Vgl. Sämmtliche Werke, Bd. 1–4 (1801/02), Bd. 14 (1802). Vermischte Aufsätze, welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind. Neu hg. und verbessert. 2 Bde. Breslau 1796/1800. * Vgl. Sämmtliche Werke, Bd. 5–6 (1801). Sammlung einiger Abhandlungen aus der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. 2 Bde. Breslau 1801/02. Sammlung einiger Abhandlungen aus der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Neue, mit sieben Aufsätzen vermehrte Auflage. 2 Bde. Leipzig 1802. * Vgl. Sämmtliche Werke, Bd. 15 (1802). Sämmtliche Werke. 18 Bde. und Reg.-Bd. Breslau 1801–1804 [nur Sammlung der meisten bisher ‒ auch posthum ‒ selbständig erschienenen Werke Garves sowie Briefsammlungen]. Anthologie aus den sämmtlichen Werken von Christian Garve. 2 Bde. Hildburghausen, New York 1829‒1831 [Cabinets-Bibliothek der Deutschen Classiker 32/33; mehrere weitere Auflagen]. Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. Hg. von Kurt Wölfel. 2 Bde. Stuttgart 1974 [Deutsche Neudrucke. Reihe Texte des 18. Jahrhunderts]. Gesammelte Werke. 17 in 19 Bden. Hg. von Kurt Wölfel. Hildesheim, Zürich, New York 1985–2000 [Reprographischer Nachdruck verschiedener 1772‒1830].

Monographien Dissertatio de nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium. Halle 1766. * Teilweiser Wiederabdruck in: Beyträge zur Geschichte der Philosophie XI/XII (1799), S. 197–208. * Wiederabdruck dieses Auszuges in: Friedrich Hülsemann (Hg.): M. T. Ciceronis Academica seu Academicorum veterum disputationes de natura et imperio cognitionis humanae. Emendata ad optimorum et exemplarium, et criticorum fidem, nexusque orationis auctoritatem; ac rerum inprimis ratione habita, illustrata. Magdeburg 1806, S. 462‒468. De ratione scribendi historiam Philosophiae. Leipzig 1768. * Teilweise Übersetzung in: Beyträge zur Geschichte der Philosophie IX (1798), S. 148–163. * Wiederabdruck ohne die »Theses« des Anhangs in: Beyträge zur Geschichte der Philosophie XI/XII (1799), S. 88–131. * Wiederabdruck dieses Auszuges in: Hülsemann (Hg.): M. T. Ciceronis Academica seu Academicorum veterum disputationes, S. 411‒413, S. 468‒472.

https://doi.org/10.1515/9783110647808-009

388 | Bibliographie

Versuch über die von der Akademie aufgegebene Frage: Ob man die natürlichen Neigungen vernichten, oder welche erwecken könne, die die Natur nicht erzeugt hat: Und welches die Mittel seyn, den Neigungen, wenn sie gut sind, Kräfte zu geben, oder, wenn sie böse sind, zu schwächen. In: Leonhard Cochius: Untersuchung über die Neigungen, welche den von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1767. ausgesezten Preiß erhalten hat. Nebst andern dahin einschlagenden Abhandlungen. Berlin 1769, S. 93–331. Legendorum philosophorum veterum praecepta nonnulla et exemplum. Leipzig 1770. * Wiederabdruck in: Beyträge zur Geschichte der Philosophie XI/XII (1799), S. 132–196. * Auszugsweiser Wiederabdruck in: Hülsemann (Hg.): M. T. Ciceronis Academica seu Academicorum veterum disputationes, S. 380‒394. Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten. 3 Bde. Breslau 1783, 21787, 31788, 41792. * Auszüge als: Pensées philosophiques de la Religion. [Übersetzt von Peter Christian Friedrich Reclam.] Berlin 1785. * Verhandeling over de menschlijke pligten, van Marcus Tullius Cicero, uit het Latijn in het Hogduitsch overgezet, en met aanmerkingen vermeerderd door Christian Garve, en in het Nederduitsch vertaald door E. Wolff, geb. Bekker. 1. Bd. [mehr nicht erschienen]. sʼGraavenhaage 1790. Anhang einiger Betrachtungen über Johann Macfarlands Untersuchungen die Armuth betreffend, und über den Gegenstand selbst, den sie behandeln: besonders über die Ursachen der Armuth, den Charakter der Armen, und die Anstalten sie zu versorgen. Leipzig 1785. * Anhang zu Garves Übersetzung von Macfarlans Untersuchungen über die Armuth. Über den Charakter der Bauern und ihr Verhältniß gegen die Gutsherren und gegen die Regierung. Drey Vorlesungen in der Schlesischen Ökonomischen Gesellschaft gehalten. Breslau 1786, 2 1796. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 1, S. 1–228. * Om Bøndernes Karakteer og deres Forhold til Jorddrotten og Regieringen. Tre Forelæsninger, holdne i det Slesiske Oekonomiske Selskab. Oversat af det Tydske. Kopenhagen 1787. Schreiben an den Herrn Friedrich Nicolai von Christian Garve, über einige Äußerungen des erstern, in seiner Schrift, betitelt: Untersuchungen der Beschuldigungen des P[rof]. G[arve]. gegen meine Reisebeschreibung. Breslau 1786. Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik, oder einige Betrachtungen über die Frage, in wiefern es möglich sey, die Moral des Privatlebens bey der Regierung der Staaten zu beobachten. Breslau 1788. * Sur lʼaccord de la morale avec la politique, ou quelques considérations sur la question: jusquʼà quel point est-il possible de réaliser la morale de la vie privée, dans le gouvernement dʼun état? Traduit de lʼAllemand. Berlin 1789. * Verhandeling over het Verband tusschen de Zede- en Staatkunde, of eenige Bedenkingen over de Vraag: In hoe verre is het mogelyk, de Zedelyke Pligten van het Gezellig Leeven, in de Bestiering eener Volksmaatschappy, te betragten? Door Christiaan Garve. Uit het Hoogduitsch vertaald door Mr. C[ornelis]. T[heodorus]. Elout. Haarlem 1794. Über den Charakter Zollikofers an Herrn Creyssteuer-Einnehmer Weiße in Leipzig. Leipzig 1788. Einige Züge aus dem Leben und Charakter des Herrn C. J. Paczensky v. Tenczien aus dem Hause Schleibitz. Breslau 1793. Über Gesellschaft und Einsamkeit. 2 Bde. Breslau 1797/1800. * Ebenfalls in: Versuche über verschiedne Gegenstände, Bd. 3 (1797) u. Bd. 4 (1800).

Bibliographie | 389

Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre, von dem Zeitalter des Aristoteles an bis auf unsre Zeiten. Eine zu dem ersten Theile der übersetzten Ethik des Aristoteles gehörende und aus ihm besonders abgedruckte Abhandlung. Breslau 1798. * Vgl. Sämmtliche Werke, Bd. 8 (1801). Fragmente zur Schilderung des Geistes, des Charakters, und der Regierung Friederichs des zweyten. 2 Bde. Breslau 1798. * Vgl. Sämmtliche Werke, Bd. 10–11 (1801). Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre. Ein Anhang zu der Übersicht der verschiednen Moralsysteme. Breslau 1798. * Vgl. Sämmtliche Werke, Bd. 9 (1801). * Reprographischer Nachdruck Brüssel 1968. * Reprographischer Nachdruck Königstein/Ts. 1979. Aphorismen aus dem Nachlaß. Mit einer Nachbemerkung erstmals hg. von Alexander Košenina. Hannover 1998. Rozprawy popularnofilozoficzne [= Populärphilosophische Abhandlungen]. Wybór, przekład i opracowanie [= ausgewählt, übersetzt & hg. von] Radosław Kuliniak i Tomasz Małyszek. Wrocław [Breslau] 2002. Rzut oka na celne zasady nauki obyczajów od wieku Arystotelesa aż do Kanta przez Chrystiana Garwe [polnische Übersetzung (Marta Agata Chojnacka) der von Jan Kanty Kalist Chodani unter dem Titel A Glimpse on the Distinguished Principles of Morals since Aristotle to Kant ins Englische übersetzten Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre, von dem Zeitalter des Aristoteles an bis auf unsre Zeiten]. In: Studia z Historii Filozofii 3 (2012), S. 51‒76, 4 (2013), H. 1, S. 35‒52, H. 2, S. 35‒48, H. 3, S. 57‒66, H. 4, S. 73‒77, 5 (2014), H. 1, S. 35‒42.

Herausgeberschaften Αριστοτέλους τέχνης ῥητορικης βιβλια γ [De arte rhetorica]. Griech. hg. von Friedrich Wolfgang Reitz und Christian Garve. Leipzig 1772.

Beiträge in Zeitschriften Versuch über die Prüfung der Fähigkeiten. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 8 (1769), 1. St., S. 1–44, 2. St., S. 201–231. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen (1779), S. 1–92. * Isländische Übersetzung von Bernhard Grohndahl in: Rit thes Konungliga Islenzka Laerdoms Lisla Ferlags. 9 Bindini syrir árit 1788. Koppenhagen 1789, S. 231‒262. * Wysgeerige Verhandelingen. Vertaald en byeen gezameld door M. Gerrit van der Voort. Amsterdam 1790, S. 1‒94. Betrachtungen einiger Verschiedenheiten in den Werken der ältesten und neuern Schriftsteller, besonders der Dichter. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 10 (1770), 1. St., S. 1–37, 2. St., S. 189–210. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen (1779), S. 115–197. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen, Neue Auflage, 1. Bd. (1802), S. 93– 162.

390 | Bibliographie

Vermischte Anmerkungen über Gellerts Moral, dessen Schriften überhaupt, und Charakter. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 12 (1771), 2. St., S. 185–222. * Separatdruck Leipzig 1772. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen (1779), S. 198–252. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen, Neue Auflage, 1. Bd. (1802), S. 163– 209. * Réflexions sur la personne et les écrits de lʼAuteur [Christian Fürchtegott Gellert]. In: Leçons de morale. Ou, Lectures academiques faites dans lʼUniversité de Leipzig par feu M . Gellert. On y a joint des réflexions sur la personne & les écrits de lʼauteur, le tout traduit de lʼallemand [par Louis Ésaïe Pajon de Moncets]. 2 Bde. Utrecht 1772, Bd. 1, S. XXXI‒LXXII Einige Gedanken über das Interessirende. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 12 (1771), 1. St., S. 1–42, 13 (1772), 1. St., S. 5–50. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen (1779), S. 253–439 [enthält S. 379– 439 einen »Anhang«, »geschrieben im Jahre 1779«]. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen, Neue Auflage, 1. Bd. (1802), S. 210– 371. Über den Einfluß einiger besondern Umstände auf die Bildung unserer Sprache und Litteratur. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 14 (1773), 1. St., S. 5–25. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen (1779), S. 440–470 [hier mit dem Zusatz »Eine Vorlesung«]. * Wiederabdruck in: Litterarische Chronik. Hg. von Johann Georg Heinzmann. Bd. 1. Bern 1785, S. 88‒111. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen, Neue Auflage, 2. Bd. (1802), S. 3–28 [hier mit dem Zusatz »Eine Vorlesung«]. Aus einem Briefe, über die Leiden des jungen Werthers. In: Der Philosoph für die Welt 1 (1775), 2. St., S. 21–33. Briefe über Emilia Galotti. In: Der Philosoph für die Welt 1 (1775), 10.‒12. St., S. 111–145. Zusatz [zu den Briefen über Emilia Galotti]. In: Der Philosoph für die Welt 1 (1775), S. 181–187. Das Weihnachtsgeschenk. In: Der Philosoph für die Welt 2 (1777), 15. St., S. 18–23. Briefe über Emilia Galotti. In: Der Philosoph für die Welt 2 (1777), 21. St., S. 101–124. Bemerkungen über die Neigung der Menschen zum Wunderbaren, und über den Zweck dieses Zuges in der menschlichen Natur. In: Deutsches Museum 1778, 1. Bd., S. 517–528. Antwort eines andern Vetters, das Studium der schönen Wissenschaften betreffend. In: Deutsches Museum 1778, 2. Bd., S. 127–132. Über die Besorgnisse der Protestanten in Ansehung der Verbreitung des Katholicismus. An Herrn Doktor Biester. In: Berlinische Monatsschrift 6 (1785), S. 19–67. Zweiter Brief von Garven an Herrn D. Biester. In: ebd., S.488–529. Über die von der Breslauischen Armen-Verpflegungs-Commißion, im November vorigen Jahres bekanntgemachte Nachricht von ihren Anstalten, und die von ihr abgelegten Rechnungen. In: Schlesische Provincialblätter 3 (1786), S. 123–158. Über die vom Herrn Rath Campe im Hamburgischen Correspondenten bekanntgemachte Preisfrage. In: Schlesische Provincialblätter 6 (1787), S. 193–210. Ein Einwurf wider die Nützlichkeit periodischer Schriften, von Herrn Prof. Garve; aus einem Briefe desselben an den R[ektor]. C[ampe]. In: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts 1 (1788), 1. St., S. 16–19. Einige Betrachtungen veranlaßt durch das Dekret der Nationalversammlung in Frankreich über die Güter der Geistlichkeit. In: Berlinische Monatsschrift 16 (1790), S. 388–414. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 17‒48.

Bibliographie | 391

Lob der Wissenschaften. In: Schlesische Provincialblätter 11 (1790), S. 1‒26, S. 101‒114. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 1 (1796), S. 273‒330. An den Herausgeber der Provincialblätter. In: Schlesische Provincialblätter 12 (1790), S. 193–217. Fortsetzung der Betrachtungen, veranlaßt durch das Dekret der Französischen Nationalversammlung über die Güter der Geistlichkeit. In: Berlinische Monatsschrift 17 (1791), S. 429–459. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 48‒82. Beschluß der Betrachtungen, veranlaßt durch das Dekret der Franz. Nationalversammlung über die Güter der Geistlichkeit. In: Berlinische Monatsschrift 17 (1791), S. 507–536. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 82‒116. Über die Geduld. In: Versuche über verschiedne Gegenstände, Bd. 1 (1792), S. 1–116. Über die Moden. In: Versuche über verschiedne Gegenstände, Bd. 1 (1792), S. 117–294. * Teilweiser Wiederabdruck in: Blätter vermischten Inhalts 5 (1792), S. 530–534. * Separatdruck: Über die Moden. Hg. von Thomas Pittrof. Frankfurt a. M. 1987. Über die Maxime Rochefaucaults: das bürgerliche Air verliehrt sich zuweilen bey den Armen, niemahls am Hofe. In: Versuche über verschiedne Gegenstände, Bd. 1 (1792), S. 295–452. Über die Unentschlossenheit. In: Versuche über verschiedne Gegenstände, Bd. 1 (1792), S. 453‒536. Über die Muße. In: Deutsche Monatsschrift 1792, Bd. 1, S. 93–98. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 1 (1796), S. 263‒272. Bruchstücke zu der Untersuchung über den Verfall der kleinen Städte, dessen Ursache, und die Mittel ihm abzuhelfen. In: Schlesische Provincialblätter 17 (1793), S. 1‒28, S. 97‒125. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 1 (1796), S. 373–444. Die Tugend macht den Menschen glücklich. In: Schlesische Provincialblätter 17 (1793), S. 210–220. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 1–16. Über die Popularität des Vortrages. In: Schlesische Provincialblätter 17 (1793), S. 383–403. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 1 (1796), S. 331–358. Einige allgemeine Betrachtungen über Sprachverbesserung. In: Beiträge zur deutschen Sprachkunde. Vorgelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1. Smlg. Berlin 1794, S. 123‒159. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen, Bd. 2 (1802), S. 317–357. Über die Gewohnheit einiger Buchhändler, die in ihrem Verlage herauskommenden Schriften in den Verzeichnissen derselben zu loben. In: Schlesische Provincialblätter 19 (1794), S. 421–427. Über die Witterungslehre überhaupt, und über den Einfluß des Mondlichts und deßen Veränderungen auf den Zustand der Atmosphäre insbesondere. In: Schlesische Provincialblätter 19 (1794), S. 439–461. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 471‒495. An die Herausgeber. Über die Einführung des Wortes Frankreicher für Franzosen. In: Schlesische Provincialblätter 19 (1794), S. 511‒520. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 1 (1796), S. 359‒372. Übersetzung und Erläuterung einer Rede Kleons, eines atheniensischen Demagogen, im 37sten Kapitel 3ten Buches des Thucydides. In: Schlesische Provincialblätter 20 (1794), S. 199‒222, S. 301‒327. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 1 (1796), S. 445–515. Noch einige Fragen, die Witterungslehre betreffend. In: Schlesische Provincialblätter 20 (1794), S. 401‒416. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 496‒513. Fragment einer Vergleichung Friedrichs des Zweyten mit Marc-Aurel, besonders in Absicht ihrer Religiosität. In: Neue deutsche Monatsschrift 1 (1795), S. 47–70.

392 | Bibliographie

Zweites Fragment einer Vergleichung zwischen Marc-Aurel und Friedrich dem Zweyten. In: Neue deutsche Monatsschrift 2 (1795), S. 3–33, 85–118. Noch einige Fragen, die Witterungslehre betreffend. Schlesische Provincialblätter 21 (1795), S. 34– 42, S. 134‒138. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 514‒523. Ein ernsthafter Commentar über einen Scherz. In: Schlesische Provincialblätter 24 (1796), S. 105‒111, S. 219‒245. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 2, S. 429–467. Über zwey Stellen des Herodots. In: Versuche über verschiedne Gegenstände, Bd. 2 (1796), S. 1– 126. Einige Gedanken über die Vaterlandsliebe überhaupt, und die Vorliebe insbesondere, welche, in einem großen Staate, die Einwohner jeder Provinz für diese ihre Provinz haben. In: Versuche über verschiedne Gegenstände, Bd. 2 (1796), S. 127–244. Einige Beobachtungen über die Kunst zu denken. In: Versuche über verschiedne Gegenstände, Bd. 2 (1796), S. 245–430. Über die Rolle der Wahnwitzigen in Shakespears Schauspielen, und über den Charakter Hamlets ins besondre. In: Versuche über verschiedne Gegenstände, Bd. 2 (1796), S. 431–510. Über die Lage Schlesiens in verschiedenen Zeitpuncten, und über die Vorzüge einer Hauptstadt vor Provincialstädten. Eine Vorlesung, in der Schlesischen Ökonomischen Gesellschaft in Breslau gehalten. In: Vermischte Aufsätze, Bd. 1 (1796), S. 229–262. Bruchstücke einzelner Gedanken, über verschiedne Gegenstände. In: Schlesische Provincialblätter 26 (1797), S. 320–334, 418–436, 501–540. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 2, S. 189–288. Über fehlgeschlagene Erwartungen. In: Erholungen. Hg. von Wilhelm Gottlieb Becker. Leipzig 1797, 1. Bdchen., S. 17‒42. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 117‒140. Friedrich der Große und Hadrian. Aus einem Briefe des Verfassers an die Herausgeber. In: Jahrbücher der preußischen Monarchie 1798, S. 373–385. Über einige Schönheiten der Gebirgsgegenden. In: Erholungen. Hg. von Wilhelm Gottlieb Becker. Leipzig 1798, 1. Bdchen., S. 1–50. * Wiederabdruck in: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 141–188. Über die Laune, das Eigenthümliche des Englischen humour und die Frage: ob Xenophon unter die launigen Schriftsteller gehöre. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 61 (1798), 1. St., S. 51–77. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen, Neue Auflage, Bd. 2 (1802), S. 29– 60. Bruchstücke aus dem englischen Gedicht ›The botanic Garden‹. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 61 (1798), 1. St., S. 78‒134. Über die Frage: warum stehen die Deutschen, nach dem Geständniß ihrer besten Schriftsteller, in Ansehung einer guten prosaischen Schreibart, gegen Griechen und Römer, vielleicht auch gegen Franzosen und Engländer, zurück? und welches ist der besten deutschen Prosaisten charakteristisches Verdienst? Ein Fragment. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 62 (1799), 2. St., S. 181–199. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen, Bd. 2 (1802), S. 61–82. Warum läutert sich der Geschmack im Ernsthaften früher, als im Komischen? In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 63 (1799), 1. St., S. 3–19. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen, Bd. 2 (1802), S. 82–102.

Bibliographie | 393

›Ein früherer flüchtiger Entwurf über Moral‹. In: Georg Gustav Fülleborn: Verschiedene Ideen über und zur Moral. Aus neuern Schriften. In: Beyträge zur Geschichte der Philosophie X (1799), S. 120‒142, hier S. 124–139. Über die Veränderungen unsrer Zeit in Pädagogik, Theologie und Politik. In: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 189‒228. Das Christenthum, als Lehrgebäude und als Institut betrachtet. Ein Fragment. In: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 289–355. Über einen Satz aus der Ethik des Spinoza. Ein Fragment. In: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 357‒388. Über die Gränzen des bürgerlichen Gehorsams, und den Unterschied von Theorie und Praxis, in Beziehung auf zwey Aufsätze in der Berliner Monatsschrift. In: Vermischte Aufsätze, Bd. 2 (1800), S. 389–427. Über das Daseyn Gottes. In: Versuche über verschiedne Gegenstände, Bd. 5 (1802), S. 1–290. Über die öffentliche Meinung. In: Versuche über verschiedne Gegenstände, Bd. 5 (1802), S. 291– 334. Fragmente aus Garveʼs literarischem Nachlaß. In: Der Breslauische Erzähler. Eine Wochenschrift. 4. Jg. (1803), Nr. 17, S. 269‒271, Nr. 24, S. 378‒380, Nr. 25, S. 390f.

Rezensionen Herder, Johann Gottfried: Über die deutsche neue Litteratur. Erste und zwote Sammlung von Fragmenten. Riga 1767. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 4 (1767), 1. St., S. 40–78. Herder, Johann Gottfried: Fragmente als Beylage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend, dritte Sammlung. Riga 1767. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 5 (1767), 2. St., S. 241–291. Mendelssohn, Moses: Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele, in drey Gesprächen. Berlin 1767. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 6 (1768), 1. St., S. 80–107, 2. St., S. 313–339. Riedel, Friedrich Just: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller. Jena 1767. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 6 (1768), 2. St., S. 277–298, 7 (1768), 1. St., S. 31–75. Wieland, Christoph Martin: Mussarion oder die Philosophie der Grazien. Ein Gedicht in drey Büchern. Leipzig 1769. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 9 (1769), 1. St., S. 113–131. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, oder über die Gränzen der Mahlerey und der Poesie. 1. Th. Berlin 1766. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 9 (1769), 1. St., S. 328–358. * Wiederabdruck in: Sammlung einiger Abhandlungen, Bd. 2 (1802), S. 103–146. * Teilabdruck in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Hg. von Wilfrid Barner u. a. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1985‒2003, Bd. 5.2, S. 701‒703 [S. 328f., S. 332, S. 346, S. 358]. Herder, Johann Gottfried: Kritische Wälder. Oder Betrachtung, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend. 3 Bde. Riga 1769. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 9 (1769), 1. St., S. 20–63, 9 (1770), 2. St., S. 250–280. Einleitung in die schönen Wissenschaften, nach dem Französischen des Hrn. Batteux [übersetzt von Karl Wilhelm Ramler und] mit Zusätzen vermehret. 4 Bde. Leipzig 31769. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 9 (1769), 1. St., S. 113–131.

394 | Bibliographie

Bibliothek der österreichischen Litteratur. Bde. 1–2. Wien 1769. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 9 (1770), 2. St., S. 318–334. Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. 2 Bde. Hamburg, Bremen 1767/69. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 10 (1770), 1. St., S. 117–141, 2. St., S. 211–244. Batteux, Charles: Einschränkung der schönen Künste auf Einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt, und mit verschiednen eignen damit verwandten Abhandlungen begleitet von Johann Adolf Schlegel. 3. verb. u. verm. Aufl. Leipzig 1770. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 11 (1771), 2. St., S. 255–282, 12 (1771), 1. St., S. 69–98. Hemsterhuis, Frans: Lettre sur la sculpture à Monsieur Théod. de Smeth, Ancien Président des Echevins de la Ville dʼAmsterdam. Amsterdam 1769. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 11 (1771), 2. St., S. 296‒329. Basedow, Johann Bernhard: Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker. Altona, Bremen 1770; ders.: Das Elementarbuch für die Jugend und für ihre Lehrer und Freunde in gesitteten Ständen. 1.‒3. Stück. Hamburg 1770. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 12 (1771), 2. St., S. 282‒324. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Riga 1781. In: Zugaben zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen 1782, Bd. 1, 3. St., S. 40–48. * Ursprüngliche Fassung in: Allgemeine deutsche Bibliothek, Anhang zum 37–52. Bd. (1785), 2. Abt., S. 838–862. Heydenreich, Karl Heinrich: System der Ästhetik. Leipzig 1790. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 43 (1791), 1. St., S. 186–284. Über die vierte und fünfte Betrachtung in des Herrn Professor Heydenreichs System der Ästhetik. An Herrn [Georg] Scha[t]z. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 45 (1792), 2. St., S. 3‒62. Über das Princip, welches Herr Professor Heydenreich in der fünften Betrachtung seines Systems der Ästhetik für die schönen Künste aufgestellt hat. An Herrn [Georg] Scha[t]z. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 47 (1792), 1. St., S. 31–67, 2. St., S. 161‒197. Hemsterhuis, Frans: Vermischte philosophische Schriften. Aus dem Französischen übersetzt. Bd. 3. Leipzig 1797. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 61 (1798), 1. St., S. 153‒155.

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Personenregister Abbt, Thomas 197, 358 Abaillard, Pierre 180, 353 Achenwall, Gottfried 309, 346 Aesop 257, 261, 367 Alam II., Großmogul 318 Alexander, König von Makedonien 31, 37 Alexander III., König von Schottland 327 Alfons V. von Aragón 330 Aischylos 363, 370 Anaklet II., Gegenpapst 353 Anaxagoras 260, 366 Andreas II., König von Ungarn 327 Anne, Königin von England 22, 311 Anna von Österreich 350 Anna von Spanien 322 Anna von Jülich-Kleve-Berg 322 Anna Amalia von BraunschweigWolfenbüttel XI Antelmy, Pierre-Thomas 341 Ariosto, Ludovico 364, 374 Aristoteles XXVIII, 144, 308, 340, 356, 383f. Arnold von Brescia 171, 180, 349, 352f. Athenodoros 364 August der Starke, Kurfürst von Sachsen 331 Augustus, Gaius Octavius 180, 364 Averroes (Abū l-Walīd Muhammad ibn Ahmad Ibn Ruschd) 340 Avicenna (Abū Alī al-Husain ibn Abd Allāh ibn Sīnā) 340 Bacon, Francis 356 Basedow, Johann Bernhard 186, 356 Batteux, Charles 340 Baumgarten, Alexander Gottlieb XIII, 379 Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de 313 Beccaria, Cesare 270f., 369f. Benedikt XI., Papst 353 Bentley, Richard 302, 376 Bentham, Jeremy 332 Berkeley, Charles, 2. Earl of Berkeley 168, 348 Berkeley, Elizabeth 169, 348 Berkeley, George 190, 357 Bernhard von Sachsen-Weimar 314

https://doi.org/10.1515/9783110647808-010

Blair, Hugh 370f. Blankenburg, Christian Friedrich XIX, 380 Bodin, Jean 307 Bodmer, Johann Jakob 342 Bonifatius VIII., Papst 353 Botero, Giovanni 312 Bourbon de Vendôme, Charles de 310 Boyle, Robert 169, 348 Brant, Isabella 339 Breitinger, Johann Jakob 342 Brutus, Lucius Iunius 346 Burke, Edmund XVII, 381 Caesar, Gaius Julius 336, 372 Campe, Joachim Heinrich XXIII Carbo, Gaius Pairius 373 Castaldo, Giovanni Battista 313 Catherine de Fois (Katharina von Navarra) 60, 329f. Catull (Gaius Valerius Catullus) 341 Charles de Lorraine-Guise 323 Clare, Richard Fitz Gilbert de, gen. Strongbow 325f. Christian II., König von Dänemark, Norwegen und Schweden 322 Christian II. von Sachsen 322 Christina von Schweden 331 Cicero, Marcus Tullius XI, 144, 219, 253, 279, 361, 365, 371f., 381f. Clemens III., Gegenpapst 324 Clemens V. Papst 353 Clemens VI., Papst 354 Clément, Jacques 310 Collatinus, Lucius Tarquinius 346 Cooper, Anthony Ashley, 3. Earl of Shaftesbury XVII, 156, 315, 344, 356 Cromwell, Oliver 179, 349 Cromwell, Richard 349 Crusius, Christian August XV, 365 Darjes, Joachim Georg XIII, 365 Demodokos 365 Dohm, Christian Konrad Wilhelm XIX, 343, 345, 380 Dudley, Robert, 1. Earl of Leicester 324 Du Halde, Jean-Baptiste 337

406 | Personenregister

Echekrates von Phleius 261, 367 Eduard I., König von England 327 Eike von Repgow 347 Elisabeth I., Königin von England 45, 55f., 319, 324, 329 Engel, Johann Jakob XIX, 91, 334, 380f. Epikur 198, 218‒220, 358, 361 Erik VI. von Dänemark 330 Ernesti, Johann August XV, XVIII, 379f. Ernst August, Kurfürst von BraunschweigLüneburg 347 Eschenburg, Johann Joachim XIX, 380 Euripides 340, 363, 370 Feder, Johann Georg Heinrich XII, XXII, XIV, 328, 381 Ferdinand I., römisch-deutscher Kaiser 31, 313, 319f. Ferdinand II., römisch-deutscher Kaiser 51f., 320‒322 Ferdinand II. von Aragón 58, 60, 326, 330 Ferdinand III., römisch-deutscher Kaiser 321f. Ferdinand V. von Kastilien und León 326 Ferguson, Adam IX, XXIX, 150, 185ff., 343, 355ff. Fichte, Johann Gottlieb 344 Forster, Georg XXIV, 381 Francesco II. Sforza 312 François de Lorraine-Guise 323 Franz i., König von Frankreich 312 Franz II., König von Frankreich 323 Franz Herkules von Anjou 310 Franz Phoebus, König von Navarra 330 Friedrich I. Barbarossa, römisch-deutscher Kaiser 352 Friedrich II., König von Preußen XI, XIII, XX, XXII, XXVI, 22, 48, 95, 311, 317, 320, 335f., 343, 381 Friedrich V. von der Pfalz 48, 51, 320f. Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 48, 320 Friedrich von Aragon, König von Neapel 330 Friedrich Heinrich von Oranien-Nassau 346 Friedrich von Logau 341 Gaston de Foix, König von Navarra 330 Gellert, Christian Fürchtegott XV, XVIIf., 364, 379f.

Georg I., König von Großbritannien 347 Georg von Mecklenburg 315 Geßner, Salomon 146, 150, 340f. Goethe, Johann Wolfgang von XIX, 380f. Gondi, Jean-François Paul de, gen. Retz 173, 349f. Gottsched, Johann Christoph XV Gracchus, Gaius Sempronius 179, 352 Gracchus, Tiberius Sempronius 179, 352 Gregor VII., Papst 323 Gregor XI., Papst 354 Greiling, Johann Christoph 344 Grotius, Hugo 307, 332, 357 Guido di Castello 353 Gustav I. Wasa, König von Schweden 322 Gustav II. Adolf, König von Schweden 33, 48, 51f., 61, 316, 323 Hadrian IV., Papst 180, 352 Hagesandros 364 Haller, Albrecht von 289, 373 Hampden, John 178, 351 Heinrich II., König von England 325 Heinrich II., König von Frankreich 57, 310, 315, 319f., 325 Heinrich III., König von Frankreich 319, 323, 354 Heinrich IV., König von Frankreich 310f., 323 Heinrich IV., römisch-deutscher Kaiser 53, 323 Heinrich von Guise 310 Heinrich IV. von Kastilien und León 326 Heinrich III. von Navarra 310, 323 Heinrich IV. von Navarra 319 Helvétius, Claude-Adrien XVIf., 273, 370, 380 Herder, Johann Gottfried Herodot von Halikarnassos 149, 336, 343 Heyne, Christian Gottlob XI Hieronymus von Prag 178, 350f. Hißmann, Michael XI, XXII, 381f. Hobbes, Thomas 307‒310 Homer 76, 90, 149, 208, 240‒242, 275f., 279, 283‒285, 290, 292‒296, 342, 363f., 370, 373f. Home, Henry, Lord Kames XVII Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 282f., 301f., 322, 341, 364, 372, 376

Personenregister | 407

Hume, David XXV, 158, 334, 337, 345 Hus, Jan 178, 350f. Hutcheson, Francis XVII, 356, 364, 380 Innozenz II., Papst 180, 353 Innozenz VI., Papst 354 Isabella I. von Kastilien 58, 326, 330 Iselin, Isaak 307 Jakob I., König von England 48, 320, 327 Jakob II., König von England 53‒55, 166, 324, 327, 374 Jakob VI., König von Schottland 327 Jean d’Albret 60, 329f. Jean de Foix 330 Jagiellonica, Isabella 313 Johann II., König von Frankreich 354f. Johann II. Sobieski, König von Polen 324 Johann II. von Aragón 330 Johann II. von Pfalz-Zweibrücken 322 Johann Friedrich I. von Sachsen 315 Johann II. Kasimir, König von Polen 331 Johann Ohneland, König von England 325 Johann Sigismund von Brandenburg 321f. Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg 321f. Johannes von Salisbury 353 Joseph II., römisch-deutscher Kaiser 320 Julius II., Papst 330 Kant, Immanuel IX, XI, XXII‒XXIV, XXVII, 87, 159‒168, 307, 332, 334‒336, 382 Karl I., König von England 160, 166, 171, 327, 345f., 349 Karl II., König von England 56, 349 Karl II., König von Spanien 311 Karl II. von Navarra 355 Karl III. von Navarra 330 Karl IV., König von Frankreich 311 Karl V., römisch-deutscher Kaiser 26, 47, 312‒315, 319f. Karl VII., König von Frankreich 57, 325 Karl X. Gustav, König von Schweden 60f., 331 Karl XII., König von Schweden 31, 61, 314, 331 Karl Gustav von Pfalz-Zweibrücken 60f., 322, 331 Karl Theodor von der Pfalz 320 Katharina II., Zarin von Russland 328

Klopstock, Friedrich Gottlieb 146, 150, 295, 340, 374 Klotz, Christian Adolph XIV, 376 Konrad III., römisch-deutscher Kaiser 180, 353 Konrad I., Herzog von Masowien 58, 327 Korinna von Tanagra 367f. Kurtzrock, Maria Antoinette Theresia Freiin von 341 Lacy, Hugh de 326 Lally-Tollendal, Trophime Gérard de 179, 351 La Mettrie, Julien Offray de 368 Lavater, Johann Caspar XXII Leibniz, Gottfried Wilhelm 214, 295, 360, 365, 374 Leopold I., römisch-deutscher Kaiser 311 Lessing, Gotthold Ephraim XVIf., XIXf., XXIX, 9, 150, 233ff., 273, 275, 278, 283, 285, 309, 341, 350, 362ff., 366, 369‒371, 373 Lichtenberg, Georg Christoph XII, XIX, 381 Livius, Titus 346 Locke, John XVII, 189f., 198, 307f., 332, 357 Lorraine, Claude de, Duc de Guise 323 Lorraine, Philipp-Emmanuel de, Duc de Mercœur 311 Lothar III., römisch-deutscher Kaiser 353 Ludwig XII., König von Frankreich 58, 326, 330 Ludwig XIV., König von Frankreich 31, 39, 53‒56, 61, 68, 311, 314, 317, 324f., 350 Ludwig von Anjou 355 Lukian von Samosata 335 Luther, Martin 142f., 178, 339 Macfarlan, John XXIIIf. Machiavelli, Niccoló 312 Macpherson, James 371 Madeleine de France 330 Maecenas, Gaius Cilnius 376 Manco Cápac 37, 316f. Marcel, Étienne 171, 181, 355 Marcus Octavius 352 Margarete von Valois 310 Maria I., Königin von England 325 Maria II., Königin von England 54, 324, 347 Marie de Guise 52, 323

408 | Personenregister

Martial (Marcus Valerius Martialis) 341 Matthias von Böhmen 321 Mauvillon, Jakob 364, 374 Maximilian I. von Bayern 321 Maximilian III. Joseph von Bayern 320 Meier, Georg Friedrich XIV‒XVI, 365, 379 Meiners, Christoph XXII, XXIV, 381 Meinhard, Johann Nikolaus XVII Mendelssohn, Moses XXIX, 150, 214, 249ff., 309, 343, 365ff. Mengs, Anton Raphael 250, 365 Menon von Pharsalos 259, 367 Menoza, Juan González de 337 Montaigne, Michel Eyquem de 255, 366 Moritz von Oranien-Nassau 311, 346 Moritz von Sachsen 33, 315, 319 Moscherosch, Johann Michael 338 Motier, Marie-Joseph-Paul-Yves-Roch-Gilbert du, Marquis de La Fayette 179, 350 Mounier, Jean-Joseph 179, 351f. Muhammad I. ibn Yūsuf ibn Nasr, Sultan von Granada 326 Nicolai, Friedrich XXIIf., 366 Niebuhr, Carsten 334 Nösselt, Johann August XIV Otto I., römisch-deutscher Kaiser 329 Otto von Freising 353 Ovid (Publius Ovidius Naso) 364 Paul IV., Papst 325 Pausanias 373 Peter I., Zar von Russland 61, 331 Petitpierre, Louis-Frédéric 341 Petrarca, Francesco 181, 354 Pfeffel von Kriegelstein, Christian Hubert Freiherr von 68, 332 Philolaos 367 Plessis, Armand-Jean de, 1. Duc de Richelieu 31, 55, 314, 318 Philipp I. von Hessen 315 Philipp II., König von Spanien 43, 46, 52f., 56, 311, 319, 322‒325 Philipp II. August, König von Frankreich 57, 325 Philipp III., König von Spanien 322 Philipp IV., König von Frankreich 353, 355 Philipp V. von Anjou 311

Philipp VI., König von Frankreich 354 Philipp Ludwig von Pfalz-Neuburg 322 Pindar 303, 340, 376 Platner, Ernst XIX, 356, 380 Platon 250‒267, 271, 308, 365‒368 Plinius (Gaius Plinius Secundus Maior) 243, 279, 363f., 372 Plotin 271, 369 Plutarch 352, 373 Poisson, Jeanne-Antoinette, Marquise de Pompadour 335 Polydoros 364 Polyklet 364 Porphyrios 369 Properz (Sextus Aurelius Propertius) 364 Pufendorf, Samuel 307 Ramler, Karl Wilhelm 146, 340f., Reinhold, Karl Leonhard 345 Reid, Thomas 190, 357 Rienzi, Cola de 171, 180‒182, 349, 354 Reiz, Friedrich Wolfgang XIX, 380 Ringeltaube, Gottlieb XIII, 379 Riqueti, Gabriel Victor de. Marquis de Mirabeau 179, 351f. Robespierre, Maximilien de 171, 349 Roger II. von Sizilien 353 Rousseau, Jean-Jacques XXV, 156, 307, 333, 337, 344, 350, 356 Rubens, Peter Paul 339 Rudolf II., römisch-deutscher Kaiser 321‒323 Schiller, Friedrich von IX‒XI, 333 Schlözer, August Ludwig von XII, 381 Scipio (Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus minor Numantinus) 289, 373 Segner, Johann Andreas von XIV, 380 Semler, Johann Salomo XIV, 379 Shaftesbury, Antony Ashley Cooper, Earl of Sheridan, Thomas 347 Sigismund von Luxemburg, römischdeutscher Kaiser 350 Smith, Adam 331, 333, 350, 356, 382 Sokrates 123, 144, 217, 250, 253‒263, 267f., 295, 337f., 365‒367 Sophie von der Pfalz 347 Sophokles 235, 237, 275, 362f., 370

Personenregister | 409

St. John, Henry, 1. Viscount Bolingbroke 22, 311 Stanislas Marie Adélaide, Comte de Clermont-Tonnerre 351f. Stanislaus I. Leszczyński, König von Polen 331 Stuart, Charles Edward 327 Stuart, Elisabeth 320, 323 Stuart, Maria 319 Sulzer, Johann Georg 219, 345, 361, 380 Superbus, Lucius Tarquinius 346 Swift, Jonathan XXVIII, 168‒171, 179, 348f. Temple, William 348 Theoderich der Große 336 Thomas Magistros 144, 340 Thomas von Aquin 356 Thomasius, Christian 338, 375 Thubières, Anne-Claude-Philippe de, Comte de Caylus 239, 363 Tibull (Albius Tibullus) 364 Timanthes 236, 279, 363, 371 Tscharner, Vinzenz Bernhard 341 Urban VI., Papst 354 Utiešenović, Georg, genannt Martinusius 31, 313 Vega, Inca Garcilaso de la 316f. Vergil (Publius Vergilius Maro) 362‒364, 372 Verlhuysen, Lambert von 375 Viktor IV., Gegenpapst 353 Voltaire (François-Marie Arouet) 312f. Weiße, Christian Felix XVIII‒XX, XXIV, 380 Werder, Diederich von dem 364, 374 Wieland, Christoph Martin XVIIf., 268, 307, 345, 364, 369, 381 Wilhelm III. von Oranien-Nassau 54, 324, 326, 347 Wilhelm V. Batavus 320 Winckelmann, Johann Joachim 273, 275, 362, 369f. Wilhelm August, Duke of Cumberland 328 Wolff, Christian Xf., 309, 357, 365, 369 Wolff, Georg Christian 349 Wyclif, John 350

Xenophon 255f., 271, 365f., 369 Zápolya, Johann 313 Zápolya, Johann Sigismund 313 Zedlitz, Abraham von IX Zenon von Elea 366 Zollikofer, Georg Joachim XIX, XXIf., XXIVf., 380

Sachregister Analogie 17, 104, 106, 140, 151, 268, 274, 295 Anthropologie XVII, XXVI–XXVIII, 332, 357 Aufklärung, aufgeklärt IX, XI–XV, XXI, XXIII– XXVII, XXIX, 37, 43, 50, 54, 95, 115, 126, 141, 165, 168, 217, 250, 253, 307 Assoziation der Ideen 290 Bewusstsein 8, 123, 135, 192, 198, 202, 250, 266, 291 Denken XXI, XXVI, 4, 7, 14, 24f., 38, 40, 58, 64, 96, 105, 111f., 114, 122, 129, 130, 134, 144, 146, 148, 152, 157, 160, 163, 172, 174, 186, 190, 192–194, 201f., 208f., 211, 213f., 224f., 233–235, 239, 246, 248, 253, 256, 261, 265–269, 278, 293, 297, 300f., 344 Dichter, Dichtung IX, XI, XVI–XIX, 6, 107, 146, 149, 153, 192, 208, 235–243, 245– 248, 252, 257f., 261, 268, 273, 276, 278, 280–283, 285f., 289–292, 294– 297, 299–302, 312, 340–342, 357, 363f., 367f., 370f., 373f. Einbildungskraft XVI, 69, 86–88, 114, 129, 152f., 180, 237, 239f., 246, 252f., 256, 274, 283, 285–289, 291, 293f., 296, 299f., 344, 372 Empfindung, empfinden XXI, 16, 20, 36, 65, 67, 75, 85f., 89, 112, 125f., 134, 145, 185–200, 202, 204, 206–209, 211f., 214–216, 218f., 221–227, 233, 236f., 240, 247f., 252, 256f., 261, 263, 265f., 268–271, 273–279, 281, 283f., 286– 288, 290f., 293f., 296–303, 309, 340, 342, 357f., 361, 366f. – Empfindsamkeit, empfindsam XV, XVIII, 177, 357 Erfahrung, erfahren XVII, 3f., 20, 24f., 27, 49, 53, 56, 83, 89, 99, 106, 108, 127, 130, 132, 140, 152f., 155f., 158f., 162, 167, 176, 195, 203, 205f., 214, 233, 238, 244, 246, 255, 266, 270, 287, 289, 291, 366

https://doi.org/10.1515/9783110647808-011

Existenz XVIII, XXVII, 69, 208, 212, 225, 268, 284, 286f., 316 Freiheit, frei IX, 312, 316, 327, 340, 351f., 355, 361 Gefühl IX, 53f., 65, 82, 84–86, 114, 116, 123, 126, 135, 139, 161–163, 171, 173, 175–177, 180, 186, 188, 190, 198, 206, 216, 219, 233, 237, 242, 264, 269, 273– 276, 279, 283, 300, 309, 338, 350, 356, 375 – Selbstgefühl 269f. Gehirn 219 Genie XVI, XXI, 79, 81–83, 103, 110, 112, 124, 128f., 148, 208, 226, 250, 252, 255, 269 Geschmack 69, 75f., 78–81, 83–85, 87–89, 93, 95–97, 101f., 105, 108f., 112, 114f., 117, 120, 122–133, 136–139, 142f., 149, 152, 168, 191, 249, 252, 254, 275, 278, 290, 303f., 334, 342, 371, 376 Geist, geistig IXf., XXI, XXVII, 6, 22, 27f., 36, 43, 50, 56, 60, 62f., 65, 69, 71, 78, 83, 86–88, 92, 95, 97, 100, 102, 106, 108, 110, 112, 114f., 117f., 122–125, 127–130, 133f., 136f., 140–142, 144, 151, 153, 157f., 160f., 166f., 173, 175–178, 180, 182, 185, 187, 192, 195f., 198–200, 203, 206–212, 214, 217, 219–226, 234f., 242, 246, 248–250, 252f., 255–257, 260, 265, 267f., 272–275, 278, 280, 284, 288f., 293–296, 300, 303, 312, 339, 365, 369f. Geselligkeit XIX, 41, 76f., 82, 84, 91, 93f., 100, 103–107, 112, 117, 119, 123, 126, 128f., 133f., 139, 195, 332–334, 337, 357f. Gesellschaft, gesellschaftlich XVII, XIX, XXI, XXV–XXVII, 3f., 6f., 11–13, 15, 18–20, 23, 25, 29f., 41, 66, 75–78, 81, 84, 89– 91, 93f., 96–98, 100f., 103, 105f., 108, 112f., 115, 118–122, 124–130, 132–137, 139f., 146, 151, 153, 159–162, 165, 169f., 172, 185, 188f., 195f., 199f., 204, 215,

412 | Sachregister

220, 227f., 245, 269f., 276, 298–300, 307, 309f., 313, 333, 337f., 355, 370 Glück, Glückseligkeit XXVII, 7, 19, 21, 23– 28, 32, 34, 36–39, 41, 44f., 47f., 50, 52, 54, 56f., 60f., 64f., 67f., 71, 80, 83, 104, 110, 113, 115f., 120, 122f., 133, 140, 143, 150f., 156, 160f., 166–168, 171, 175– 179, 185, 188f., 196f., 201f., 204f., 207, 217–226, 235, 242, 250f., 254, 257, 265f., 274, 278. 282, 293, 301, 311, 315, 325, 329, 332, 361, 372f., 375 Grund IX–XI, 4–8, 11,14, 17, 21–23, 27–31, 33, 35f., 40,–44, 46, 55, 59, 62f., 68f., 81, 84f., 87–89, 92, 99, 101f., 104f., 107, 109, 114, 119, 132, 135, 140, 146, 148, 157f., 161–166, 168, 172, 175, 186, 188, 190, 193, 201, 205f., 208, 210, 212, 217f., 220, 224, 228, 235–237, 242f., 247, 252, 255–264, 267, 269–272, 279, 281, 284, 290, 297f., 300, 308 – Bewegungsgrund 4, 6–8, 11–13, 20, 35, 43, 53–55, 58, 102, 123, 141, 187, 203, 257, 316 – Grundsatz XXVI, XXVIII, 9, 23, 29, 34–36, 50, 52, 54, 58, 62, 69, 104, 110f., 163, 173f., 176–178, 185, 219, 234, 244, 247, 250, 275, 280, 301 – Rechtsgründe 17, 57 Idee IXf., XXVIIf., 10, 13f., 16f., 62, 65, 76, 78, 81f., 89, 106–108, 119, 128f., 133f., 139f., 142, 145–148, 151f., 155–157, 159, 161–163, 179, 186, 188, 190–192, 196, 199f., 202, 204, 208, 210–215, 219f., 223, 225, 229, 233–235, 238–240, 242f., 246, 249–253, 256, 258, 260– 264, 266, 271–278, 280–285, 287, 290f., 293–298, 300, 302–304 Ideal, idealisch 7, 68, 79, 87, 124f., 136, 189, 246, 332 Keim 103 Kraft 5f., 12f., 26, 28, 42, 52, 59, 65f., 70, 86, 97, 118, 129, 134, 136, 141, 153, 157, 159, 161, 163, 168, 170, 172, 179, 186f., 195–98, 202, 204, 206, 208–211, 213f., 218, 225, 227f., 234, 237, 241f., 245, 248, 250, 255, 262, 268f., 271f., 277,

280, 285, 290, 293–295, 338, 360, 364, 366, 370, 373, 375 – Grundkraft 267 Körper, körperlich 42, 49, 66, 70f., 78, 80f., 84–86, 92, 106–108, 128, 132, 186– 188, 190–195, 198f., 202, 208–210, 212, 214–223, 236f., 240–244, 246– 250, 254, 256, 260, 263, 265f., 268, 273, 276, 278, 280, 284, 286, 288f., 291, 295, 298, 300, 308, 338, 357, 363f., 368, 371, 375 – Staatkörper 58, 60f., 66, 110 Lachen, Verlachen 94, 131, 199, 291–294, 358, 374 Materialist 266, 368 Mensch Xf., XVII, XXI, XXVIf., 3–13, 16, 18– 45, 47, 49f., 52–58, 60–66, 68–71, 75– 81, 84–91, 93–95, 97–130, 132–141, 149, 151–173, 175–177, 179, 181f., 185– 189, 191–197, 199–212, 215–229, 233, 235, 239, 244–247, 249f., 252–256, 258, 262f., 264, 266, 268–270, 272– 279, 283, 286–289, 291, 293–295, 299, 301, 303, 307–310, 312, 316, 328f., 332–334, 337, 342, 344, 346, 350f., 356f., 359–361, 366, 368, 372, 374– 376 Menschenverstand, gemeiner (common sense) XXI, 156, 369 Methode 13f., 63, 91, 93, 116, 124, 185, 189, 243, 249f., 256, 258f., 265, 272, 285, 356, 369 Mitleid 179, 201, 242, 294, 302, 350, 359 Modifikationen 191, 209 Nachahmung XVII, 31, 75, 80f., 83, 85, 87, 89–91, 96f., 100, 102, 104, 109–111, 125f., 129, 131, 133, 144, 147, 180, 203, 236f., 239, 242, 245, 247, 274, 278, 280, 298, 303, 371 – Nachahmungstrieb 77, 140 Naturrecht XIII, 7, 17, 307–309, 332, 338, 346, 375 Nerven 210 Organisation 94, 217f., 265

Sachregister | 413

Person X, 3f., 8–11, 14, 16, 18–21, 23, 28, 30f., 39, 47, 54, 60, 63, 66, 68f., 75f., 83, 88, 90, 92–96, 99f., 124–127, 130, 132, 134, 137, 139, 141, 152, 165, 174– 177, 199–201, 233f., 236, 238, 242, 244–247, 252–258, 266, 269f., 280, 283, 293–295, 297, 301 Phantasie 81f., 126f., 294 Popularität, populär XVIII, XXVIf., 145, 150– 159, 178, 203, 340f., 344f., – Popularphilosophie XIVf., XXVIIf., 339, Psychologie (Seelenlehre) X, XVf., XXVI, 155, 158, 191 Revolution, revolutionär XXIII, XXVIf., 32, 36, 38, 40, 42f., 49f., 54, 62, 81f., 92, 96, 99, 102, 108, 111, 148, 160, 162, 166–168, 170, 175–177, 179–182, 210, 268, 315, 318, 324, 326f., 329, 333, 346f., 349f., 354 Schönheit 75, 77–79, 81, 85–89, 96f., 105f., 108, 123, 135, 137, 140, 143, 198, 224, 233, 236, 239, 241–250, 254, 261, 263, 273–275, 278–280, 283, 286, 289, 295, 300, 304, 364f., 372 Seele VI, 65, 71, 86, 156, 161, 190, 193, 197–202, 204, 206, 212–218, 223, 225f., 228, 233–237, 242–248, 249– 272, 274, 276–278, 280f., 285–289, 293f., 296f., 338, 358, 360f., 363, 365– 369, 372f. Seelenkräfte 134 Selbsterhaltung 44, 63, 172, 195, 309, 331, 357 Selbstgefühl 269f. Selbstliebe 200, 309, 358 Sinn(e) IX, XXVII, 25, 67, 78, 85f., 88, 106, 114, 116, 129, 150f., 180, 190, 192, 197f., 205, 263, 265, 274, 279, 288, 297 Spekulation 224 Sprache XXI, XXVIII, 10, 40, 42, 60f., 71, 82, 89, 91f., 101, 106–109, 135, 141–150, 151–154, 156f., 159, 191, 197–199, 201, 235, 250f., 253f., 257, 262, 276, 283f., 291f., 294–296, 299, 304, 335, 338, 339–343, 365, 368, 370f., 373f. Staat XXVI, 3–71, 76, 83, 94f., 98–100, 102, 109–113, 115f., 121, 137, 140, 143, 150,

160–167, 170–174, 176f., 179, 181f., 189, 282, 307–332, 337, 344, 346f., 349f., 352, 356 Stufenleiter der Wesen 97 Substanz 208, 368 System, Systematiker XX, 7, 12f., 35f., 41, 46, 100, 102, 105, 117, 124, 130, 156f., 159, 161, 163, 174f., 178, 181, 185, 188, 210, 215, 218–222, 225, 243, 250, 266, 295, 297, 303, 309, 318, 321, 344, 356, 360f., 368 Tier(e) 87f., 161f., 185–188, 191, 193–197, 204, 207, 278. 346 Trieb, Triebfeder IXf., XIXXXVII, 7, 9, 20, 26, 28, 30f., 53, 55, 70, 76–78, 88, 91, 96, 102, 114, 119f., 123, 140, 161, 193–196, 205, 214f., 242, 287, 298–300, 332f., 337, 357f. Tugend, tugendhaft IX, XVIIf., 3, 9, 26f., 36, 38, 44, 50, 56, 69, 71, 91, 105, 117, 120, 132, –134, 140, 156, 167, 171, 176, 187– 189, 191, 196f., 199–201, 203–205, 214–218, 220–224, 226, 250, 257, 263, 276, 299–301, 344, 356, 359, 366 Übersetzung IX, XIf., XVIIf., XX, XXIIf., XXVII–XXIX, 146, 169, 185, 198, 229, 250f., 296, 328, 333f., 337, 340f., 345, 347, 349, 355, 357, 362–364, 367, 371f., 374 Unsterblichkeit, unsterblich 249, 257, 264, 266, 268, 272, 368 Urteil, urteilen XXVI, 3, 28, 31, 33–35, 38, 41, 54, 58, 63, 67, 78, 81, 86–88, 106, 111f., 118, 123, 128, 131f., 139, 143, 152, 157, 170, 174, 185, 193, 199, 203–205, 207, 212, 214, 218f., 228, 233f., 249, 259, 261, 273–275, 280 – Vorurteil 24, 62, 65, 67, 82, 101–104, 118, 126, 153, 215, 223, 234 – Urteilskraft 111, 126, 130 Verstand XVI, XVIII, XXf., XXVI, 6–8, 13, 25, 35f., 63, 67, 71, 77f., 86–88, 91, 106, 111f., 114, 116, 120, 124, 129, 131f., 134, 153, 157, 185, 187, 190–192, 197, 205, 208f., 211, 213f., 217f., 223f., 245, 252–

414 | Sachregister

254, 256, 263, 265, 285–287, 291, 295, 303, 344, 357, 365, 369 Vernunft XXVII, 3, 6f., 11, 13, 17, 20, 36, 46, 52f., 55, 70f., 92, 95–97, 103, 111, 124, 129f., 132, 140, 156, 160–163, 165, 167, 170, 176, 178, 248, 252, 256, 266, 268, 316, 356 – Vernunftgesetze 163 – Vernunftprinzipien 163 Vorstellung X, XXVI, XXVIII, 24, 78, 86, 107, 124f., 151, 165, 187, 190–192, 194, 196– 198, 207f., 210, 234. 236, 239f., 242, 247f., 257, 263, 266–269, 272, 274, 278, 281–283, 288, 291, 293, 295, 297– 299, 301, 303f., 307, 331–333, 346, 373 Vorstellungskraft 267 Vollkommenheit 26, 42, 70, 75, 88, 107, 119, 121, 125, 133–135, 139f., 143, 150, 153, 157, 166, 189, 191, 195, 197, 203f., 208, 215, 217, 222f., 242, 263, 268f., 273f., 284, 357, 361, 365 Wille 10, 34, 45, 64, 68, 77, 86, 176, 182, 186, 205, 211, 223, 227, 262, 270, 283, 295 – Unwille 35, 43, 61, 163, 200, 277, 290 Widerspruch, widersprechen 25, 54, 68, 82, 103f., 121, 224, 233, 239, 265, 268, 273, 292, 309 Zweck (Endzweck) XXVI, 8, 19, 23–27, 30f., 35, 37f., 41, 46, 49f., 63f., 66, 68, 76, 78f., 84f., 87, 89, 93, 96f., 101, 103, 107f., 117–119, 130, 133f., 136f., 139, 141, 147, 151, 155, 161, 168, 172f., 175, 177, 179f., 182, 196f., 202, 216, 220f., 224f., 234–238, 240, 244, 248, 259, 263, 265, 268, 280f., 286, 294, 296, 299, 302, 310, 332, 363