Aus Krim und Kaukasis : Reiseskizzen

Citation preview

/IHK $ V

Bus Krim und —__ _ _ _ _ _ Kaukasus Keiseskizzen von öilbelm von massow Leiprig « Georg ttligand « 1902 .-------------------------------------------'

>--------------------------------- —I

42)

\. Unterwegs nach Sewastopol. In unserem reiselustigen Zeitalter ist es kaum noch

gestattet,

von irgend einem Erdenwinkel zu sagen, er sei vergessen und un­ bekannt.

Unter der Teilnahme der ganzen gebildeten Welt erschließt

die Forschung beständig neue Gebiete in den entlegensten Teilen Afrikas

und

Jnnerasiens, und mancher Weltreisende muß es sich

heute dreimal überlegen, ob er überhaupt zu Hause noch etwas Neues erzählen kann. Wege liegen,

Aber es

bleibt

auch wieder Manches

am

und dicht vor den Thoren des gebildeten Europas

giebt es Gegenden, die der Beachtung fast gänzlich

entrückt sind.

Für den Kaukasus beginnt das Interesse sich erst jetzt allmählich wieder zu regen.

Von den Meisten wird man noch erstaunt an­

gesehen, wenn man erzählt, daß man dieses Gebirgsland zum Ziel einer Erholungsreise gewählt hat. Jahrhunderts auf

Gegen die Mitte des vergangenen

war die Aufmerksamkeit noch in

den Kaukasus

gerichtet,

obwohl nur

größerem Maße

wenige

Aber man verfolgte damals mit Spannung

den

dahin reisten.

Verlauf der er­

bitterten Freiheitskämpfe der Bergvölker gegen die Russen. Geschlecht weiß davon kaum noch

etwas;

das

Unser

liegt längst

ab­

geschlossen hinter uns, und man hätte heute auch kaum Zeit, sich in

die Romantik dieser

Anteil zu vertiefen.

So

wilden

Kämpfe mit wirklichem inneren

kann man sich denn heute fast jeden

Tag überzeugen, daß selbst gebildete Leute

von dem Kaukasus

und seinen Völkern recht wenig wissen. Ich

gestehe, daß

ich für diese Südostecke unseres Erdteils

seit langer Zeit eine besondere Vorliebe hege. ». Massow, AuS Krim und Kaukasus.

Der Gründe sind 1

2 mancherlei:

der Genuß unvergleichlicher Naturschönheiten vereinigt

sich mit den mannigfaltigsten Anregungen auf dem Wissenschaft und Kunst.

Gebiete von

Hier finden wir eine ganz eigenartige

Form des Zusammentreffens europäischer mit orientalischer Kultur. Wie der Brache unter dem Pfluge im Frühjahr frischer Erdgeruch entströmt,

so

weckt

hier das Vordringen

allerlei schlummernde Kräfte.

europäischen Wesens

Aus uralten Sagen weht uns der

Geist grauer Vorzeit entgegen;

auf Schritt und Tritt trägt uns

Erinnerung zurück zu reichbewegten Schicksalen alter Kulturvölker und halbverwischten Spuren einer Jahrtausende alten, geheimnis­ vollen Sonderwelt; überall harren lockende, tiefe Rätsel der Erd­ geschichte,

Völkerkunde

und

Kulturgeschichte

ihrer Lösung;

auf

kleinem Raum treten dem Reisenden unzählige Sprachen, Sitten und Trachten

entgegen, Hunderte von Völkerindividuen in dem

buntesten Gewirr, so daß des Schauens, Fragens und Forschen» kein Ende ist.

Und dann — was

vielleicht

manchem neben­

sächlich und unverständlich sein mag: — in diese Fülle der Gesichte hinabzutauchen fernab von dem Touristenschwarm, fern von allen alltäglichen Eindrücken, fern nicht nur von dem großstädtischen Treiben

und Hasten,

sondern von

unserer

Kultur

überhaupt,

— von ihr ein ganz anderes Bild zu gewinnen, einmal ganz außerhalb zu stehen, um auf kurze Zeit allein zu sein mit einer großen und unberührten Natur und ihren ganz anders gearteten Menschen.

Wer

einmal

die mächtigen

Eindrücke

der

kaukasi­

schen Gebirgswelt empfunden hat, wird immer wieder Verlangen tragen,

diese Eindrücke zu erneuern und zu vertiefen, und ich

muß bekennen,

daß

sich

in

mir bereits eine

förmliche

Sehn­

sucht danach entwickelt hatte, als ich im Sommer 1898 den Plan faßte, meinen Urlaub

zu einer Reise in den Kaukasus zu ver­

wenden. Wenn stündlich

der Weg

wäre!

dorthin nur nicht so zeitraubend und um

Um in der kürzesten

Zeit

an den Fuß des

Kaukasus zu gelangen, muß mau von Berlin aus über Moskau nahezu 4000

Kilometer durchmessen;

das ist,

wie gesagt, der

zeitlich kürzeste Weg, räumlich allerdings ein tüchtiger Umweg,

3

und er bietet herzlich wenig Zerstreuung und Abwechselung. ' Ich hatte daher den mehr Zeit erfordernden Weg über Odessa und die Krim gewählt, der mir Gelegenheit geben sollte, auch den Herrlich­ keiten der lieblichen taurischen Halbinsel einige Zeit zu widmen und auch hier frühere unvergeßliche Eindrücke wieder aufzufrischen. So war Sewastopol mein nächstes Reiseziel, dessen Erreichung freilich die vorherige Überwindung einer nicht unbeträchtlichen Zone der Eintönigkeit und Langweile voraussetzt. Aber das Gesamt­ ergebnis auch dieser Reise ist doch manche Anregung und manch merkwürdiger Eindruck, und davon lohnt es sich immerhin etwas zu erzählen. Seit Stunden schon durchmißk der Schnellzug in sommerlicher Morgenfrühe das Steppenland. Trotz der frühen Stunde brütet die Julisonne heiß über der welligen Ebene, die nirgends dem Auge einen Ruhepunkt gewährt, nirgends dem Landschaftsbilde einen engeren Rahmen schafft, als den natürlichen Horizont des Flachlandes. Der eigene Stimmungsreiz, der sonst in den Steppen des Südostens über den von der Kultur noch unberührten Flächen liegt, fehlt hier durchaus. Es ist kein Grasozean in der wunderbaren Pracht seiner Feldblumen, in der geheimnisvollen Schwermut seiner ungeheuren Einsamkeit. Hier dehnen sich an Stelle der ehemaligen Grasflächen unabsehbare Getreidefelder, in deren gelber Färbung nur die dunkelgrünen Streifen der Maisfelder eine Abwechselung bieten. Der Mangel jeglichen Baumwuchses allein bezeichnet den Steppencharakter, der nur durch die wenigen Obstbäume an den Stationen, Wärterhäusern und vereinzelten Gehöften unterbrochen wird; sonst ist das einzig Schattenspendende nur noch die Reihe der Strauchhecken, die längs des Bahnkörpers gepflanzt sind, um ihn einigermaßen gegen die Gewalt der Schneestürme im Winter zu schützen. Die einförmige Nüchternheit ringsum wird dem Reisenden förmlich zur Pein, bis er sich mit einer gewissen Ergebung in eine Art von Traumzustand sinken läßt, der von der Vorstellung beherrscht wird, man müsse durch ein nie endendes Kornfeld wandern und wandern . . . l*

4 Endlich

erscheinen

am östlichen Horizont,

bei dem

Stande

der Morgensonne nur undeutlich erkennbar, die Schattenrisse von hohen Türmen und Kuppeln über den Häusermassen einer großen Stadt.

Kahl und flach hingestreckt, bildet sie kaum einen Abschluß

der einsamen Weite ringsum; sie scheint nur dazu zu gehören als der lange gesuchte Vereinigungspuukt für die fleißigen Hände, die den unermeßlichen Ertrag dieser Getreideflächen zu verwerten haben. Und je näher wir kommen, desto deutlicher erscheint die Stadt als eine nicht unfreundliche, saubere Stätte tüchtigen Gewerbfleißes, aber von unsäglicher Nüchternheit, jeglichen malerischen Reizes entbehrend. Und nun ein ganz anderes Bild!

Wir sind mitten in einem

von Schissen aller Arten und Größen erfüllten Hafen. Gewirr um

Das bunte

die arbeitenden Dampfkräne, die Menge der auf­

gestapelten Waren in den ausgedehnten Speichern und auf den Ladeplätzen, der unaufhörliche Wagenverkehr, die Eile und der Lärm der zahlreichen Arbeiter, Händler und Beamten, die das Bollwerk erfüllen, die Verschiedenheit in den Typen und Trachten der Menge, in denen wir Völker zweier Weltteile erkennen, — das alles kündet einen Hauptstapelplatz des Welthandels.

Und über vier mächtigen

Hafenanlagen, die in weitem Bogen eine Mole mit ihrem Leuchtturm umschließt, erhebt sich vor dem Beschauer in vornehmer stolzer Größe ein prächtiges Bild, auf hohem Ufer eine stattliche Häuserfront, die ein Säulenbau in den edlen Formen der griechischen Baukunst nach Süden abschließt. Davor die Baumreihen und freundlichen Anlagen einer terrassenähnlichen Promenade, von der die buntbelebte Menge eleganter Spaziergänger ihre Blicke über das Gewimmel des Hafens und das weite blaue Meer schweifen läßt; eine monumentale steinerne Freitreppe senkt sich in gewaltigen Abmessungen zum Hafen herab Alles ein Bild frisch pulsierenden Lebens und heiterer Schönheit. Und diese beiden Bilder, die ich in kurzen Zügen vorzuführen versucht habe, zeigen ein und dieselbe Stadt von verschiedenen Seiten, das jugendliche Odessa mit seinem Doppelantllitz eines Stapel­ platzes in der nordischen Steppe und einer südeuropäischen Hafen­ stadt.

Ich sage: das jugendliche Odessa; denn was will ein Alter

von wenig mehr als einem Jahrhundert für eine Stadt sagen?

5

Dafür ist es aber in seiner Entwicklung rasch vorgeschritten. Ich will hier bei einer Schilderung der Stadt im einzelnen nicht ver­ weilen und nur den Gesamteindruck wiedergeben, den ich empfunden habe. Stattlicher und sauberer als die Mehrzahl der russischen Provinzialstädte, mit einer großen Zahl schöner Gebäude aus­ gestattet, in der Straßenanlage von vornherein als moderne Groß­ stadt gedacht, macht Odessa zwar einen vortrefflichen Eindruck, aber

Odessa, die Richelieu-Treppe zwischen Hafen und Boulevard.

naturgemäß fehlt ihm der Stempel der Eigenart, den die Geschichte einem Ort aufzudrücken pflegt. Dieses Gepräge geschichtsloser Nüchternheit wurde mir, im Gegensatz zu einem früheren Besuch der Stadt, gerade jetzt recht bewußt, als mir die Jahreszeit, der helle Sonnenschein und die Eindrücke vom Hafen und vom Meer die Lage Odessas und seine engen Beziehungen zum Süden und zum Orient in lebendige Erinnerung brachten, während es doch von dem eigenen malerischen Reiz des Südens und des Orients bei mancher sonstigen Schönheit durchaus gar nichts hat. Odessa ist

6

sogar unter den Städten des eigentlichen Rußlands meiner Ansicht nach die am meisten „europäische"; ich möchte da sogar nicht Peters­ burg ausnehmen, das trotz seines internationalen Charakters schon vermöge seiner nordischen Lage und als Hauptstadt des Reiches dem im besonderen Sinne „Russischen" immer noch mehr Zugeständ­ nisse macht, als die große Handelsstadt am Schwarzen Meer. Doch ich will hier der Versuchung widerstehen, noch länger bei Odessa zu verweilen, so viel sich auch noch darüber sagen ließe, was hier und da Interesse erregen könnte. Denn ich habe schon durch die Überschrift die moralische Verpflichtung übernommen, den Leser rechtzeitig in der Krim landen zu lassen, und darf es nicht verantworten, ihn auch nur im Geiste das durchmachen zu lassen, was mir in der rauhen Wirklichkeit passierte: nämlich eine unfrei­ willige Verlängerung des Aufenthalts in Odessa. Das Schiff, das nach Versicherung der offfziellen Fahrpläne gehen sollte, ging einfach nicht. Die Dampfschiffahrtsgesellschaft hält es für besser, daß die Passagiere auf das Schiff warten, als umgekehrt, und es läßt sich nicht leugnen, daß dieser Standpunkt für sie der vorteilhaftere ist. Als ich als blamierter Europäer von der Stelle, wo von rechts wegen ein Dampfer bereit liegen sollte, zum Hotel zurückfuhr, hatte ich diese höhere Einsicht noch nicht gewonnen. Der Deutsche, der die Ostgrenze des Reichs überschreitet, thut immer gut, sich ver­ möge der köstlichen Eigenschaft der Geduld eine recht dicke Haut wachsen zu lassen; bei mir aber war sie noch nicht zur wünschens­ werten Stärke gediehen. Ich konnte daher nicht umhin, meiner germanischen Auffassung der Dinge in einigen deutlichen Redensarten Luft zu machen, bis sich mir allzu machtvoll die Überzeugung auf­ drängte, daß ich damit nicht über das Schwarze Meer kam. Die Dampfschiffahrtsgesellschaft war mir in diesem Falle entschieden „über". Solche kleinen Zwischenfälle gehören nun einmal dazu, und wehe dem Reisenden, der es nicht versteht, die Flüche, die sich dem Gehege der Zähne entringen, bei Zeiten in ein gleichmütiges russisches „mtschewo“ zu übersetzen. Vierundzwanzig Stunden später befand ich mich wirklich an Bord eines zur Abfahrt bereiten Dampfers. Ehre, dem Ehre ge-

/

bührt!

Die berechtigten Eigentümlichkeiten ihres Fahrplans sollen

mich nicht abhalten, der „Russischen Dampfschisfahrts- und Handels­ gesellschaft", deren Schiffe das Schwarze, das Ägäische und das östliche Mittelmeer durchkreuzen, ein Loblied zu singen, wo sie es verdient. Ihre Dampfer sind wirklich ausgezeichnet und sehr behaglich eingerichtet.

Ich habe das schon bei ihren alteren Dampfern ge­

funden ; neuerdings aber hat sic noch wesentlich größere und bessere

Odessa, der Hasen.

Schiffe eingestellt.

Ich hatte das Glück, von Odessa nach Sewa­

stopol das damals neueste und besteingerichtete Schiff zu treffen, das überhaupt auf dieser Linie ging, den „Zesarewitsch Georgij", dessen bequeme und vortreffliche Kabinen, sowie geräumiger und eleganter Salon ebenso zu rühmen sind, wie die aufmerksame Bedienung und vortreffliche Verpflegung, die die ohnehin sehr gute russische Küche in ihrem besten Lichte zeigte. Das Abfahrtszeichen ertönt, und nicht lange darauf liegt schon der Leuchtturm hinter uns; noch einmal zieht das prächtige Bild

8 der Stadt an uns vorüber, dann der Alexanderpark und die an­ mutigen Villenvorstädte am Strande; da ist auch die „kleine Fon­ täne", das hübsche Seebad mit seinen sreundlichen Vergnügungs­ und Konzertgärten und deni klippenreichen, zerklüfteten Strand. Dann ruft die Schiffsglocke die Reisegesellschaft zum Mahl zusammen; der Zufall läßt mich angenehme Bekanntschaften machen, mit denen sich eine anregende Unterhaltung entspinnt, die nachher auf dem Promenadendeck bis zum späten Abend fortgesetzt wird. Das Meer war an diesem Abend so ungewöhnlich still und glatt, daß das Gespenst der Seekrankheit unserm glückhaften Schiff ganz und gar fernblieb. Bei diesem sanften Gleiten durch die friedlichen Wellen erinnerte nur das Rütteln der Schiffsschraube daran, daß wir fuhren, und auch die zartestbesaiteten Naturen blieben innerlich und äußerlich im Gleichgewicht. Herrlich war der Abend, als die Mehrzahl der Reisenden sich zur Ruhe begeben hatte und tiefe Stille auf dem Schiff herrschte. Ein wunderbarer Sternenhimmel wölbte sich über der dunkeln See, deren leises Rauschen sich mit dem dumpfen Geräusch der Maschine mischte. Da klang vom Vorderteil des Schiffes seltsam klagende, von Leidenschaft durchzitterte Musik herüber, eine Melodie aus den fernen Bergen des Kaukasus. Welche merkwürdigen, ergreifenden Klänge! Sie scheinen den Grundgesetzen unserer Musik beständig zu widerstreben. Die Melodie bewegt sich in den sonderbarsten Intervallen; sie kehrt nicht zum Grundton zurück, sondern klingt in eigenen schmerzlich fragenden oder leidenschaftlich begehrenden Wendungen aus; ihr Rythmus ist fremdartig und scheinbar regel­ los. Es sind Naturlante, wie das Frühlingslied unserer gefiederten Waldsänger, dem sie unmittelbar abgelauscht zu sein scheinen. Nur einer hat es verstanden, den besonderen Reiz und die schwüle Leiden­ schaft, die in dieser fremdartigen Melodieführung und ihren charak­ teristischen Triolengängen liegt, in den Kunstformen europäischer Musik wiederzugeben: — Meister Rubinstein in Partien seines „Dämon" und in seinen Kompositionen von Liedern Mirza Schaffys. Es kostete einen schweren Entschluß, endlich die Kabine aus-

9 zusuchen, um noch in einigen Stunden Schlafs Frische für den morgenden Tag zu holen. Am frühen Morgen ging es mir, wie dem Müller beim Stillstehen seines Werks: das Stoppen der Maschine machte mich munter. Wir lagen vor Eupatoria. Eine schlichte Küstenstadt am flachen Strande ohne irgendwelche stärker hervortretende Besonderheit, die nur der Helle Sommer­ morgen anmutiger erscheinen läßt in dem Gegensatz zwischen dem gelblichen Strand, den bunten Dächern, den Hellen Häusern und dem tiefblauen Meer. Nur ein unscheinbares Zeichen erinnert den schärferen Beobachter daran, daß er hier sich dem Bereich einer fremden Kulturwelt nähert. Die Wenigsten werden wohl den kleinen spitzen Turm mit der Galerie unterhalb seines Daches bemerken, der dort drüben zwischen den Häusern aufragt. Es ist ein Mi­ naret, der Turm der alten Moschee, die noch aus den Zeiten der Tatarenseste Gösdewe stammt. Sie ist um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts erbaut. Es ist dies aber. Wenn auch die älteste, doch nicht die einzige Moschee in der Stadt Eupatoria, deren Be­ völkerung noch heute überwiegend aus Mohammedanern (Tataren) besteht. Die Art, wie in der Krim die verschiedenen monotheistischen Religionsformen nebeneinander bestehen, ist eine der bemerkens­ wertesten Eigentümlichkeiten des Landes. Nirgends sonst finden sich Mohammedaner so glatt mit einer christlichen Oberherrschaft ab. Das scheint eine Eigentümlichkeit jenes im wesentlichen türkischen Mischvolkes zu sein, das den Namen „T a t a r e n" erhalten hat. Bei den Tataren treten überall Neigungen und Auffassungen her­ vor, die man im Bereiche des Islam wohl als Freigeisterei bezeichnen kann. Auch die Juden der Krim, die einen starken Bruchteil der Bevölkerung ausmachen und auch in Eupatoria zahlreich vertreten sind, sind ein eigener Menschenschlag. Sie sind meist Karaim, d. h. sie gehören jener Sekte an, die alle talmudischen Schriften durchaus verwirft. Im Gegensatz zu der Masse ihrer talmudistischen Stammesgenossen in Südrußland sind sie kein Schmarotzervolk, sondern haben achtungswerte Charakterzüge einer selbständigen Nationalität bewahrt. Sie sind schlichte, arbeitsame Leute von anerkannter Redlichkeit. Wenig bekannt dürfte sein, daß die Krim das einzige

10

Land der Erde ist, in dem das Judentum in nachchristlicher Zeit Staatsreligion gewesen ist. Im achten Jahrhundert trat der Fürst der Chasaren, eines türkischen Volks, das damals die Krim er­ obert hatte, mit seinem Volk förmlich zum Judentum über. Erst nach 500 Jahren setzte die Tataren-Herrschaft den Islam an die Stelle dieser Religion. Eupatoria ist noch heute ein geistiger Mittelpunkt der Karaim. Denn hier befindet sich eine Art von geistlicher Hoch­ schule dieser Sekte, wodurch der unscheinbaren Kreisstadt ein ge­ wisses Ansehen verliehen wird. Dem fremden Besucher bietet Eupa­ toria wenig, und wen nicht geschäftliche Interessen — die Stadt treibt einen bedeutenden Salzhandel — oder die in der Nähe liegen­ den heilkräftigen Schlammbäder von Ssaki dorthin führen, der wird sich kaum versucht fühlen, hier den Strand zu betreten. Aus der Bucht von Eupatoria steuert das Schiff südwärts, vorüber an der allmählich zurücktretenden flachen und baumlosen Westküste. Geschichtliche Erinnerung hat auch hier manche sonst unbedeutende Stelle geweiht. Dort ankerte 1854 die Flotte der Franzosen und Engländer; weiterhin ist die Landungsstelle, dann das Schlachtfeld an der Alma. Allein daran zu denken, finden wohl nur wenige Reisende Zeit: sie fesselt der herrliche An­ blick des Meeres, dessen schimmernde Fläche von dem neckischen Spiele der Delphine belebt wird. Jeder sieht sie gern, diese Klowns des Meeres, wenn sie unter possierlichen Sprüngen ein eifriges Wettschwimmen mit dem Schiff beginnen. Das Meer hatte, dank der Gunst des Himmels, eine entzückende durchsichtige Färbung, die seinen Namen durchaus Lügen strafte. Man hört übrigens recht häufig dort die Frage auswerfen, wie das Schwarze Meer eigentlich zu seinem recht unpassenden Namen gekommen ist. Die Macht der Einbildung bringt es. mit sich, daß manche Reisende wirklich eine dunklere Farbe zu bemerken geglaubt haben. In Wirklichkeit schimmert das Wasser abwechselnd in demselben Blau, Grün, Grau oder Violett, wie jede andere Meeressläche je nach der Farbe des Himmels und nach der Be­ leuchtung. Wahrscheinlich ist die Benennung „Schwarzes Meer" nichts anderes als ein Übersetzungsfehler. Die Russen und Griechen

11

haben den Namen von den Türken übernommen. Das türkische „Kara Dengis“ kann allerdings „Schwarzes Meer" heißen; aber ursprünglich bedeutet kara Wohl: gewaltig, unheimlich, gefürchtet. Für die nördlichen Türkenstämme war das Schwarze Meer das größte Wasserbecken, das ihnen auf ihrer Wanderung aus dem Inneren Asiens begegnet war und wegen der Plötzlichkeit und Ge­ walt seiner Stürme gefürchtet wurde. Im Gegensatz dazu nannten sie dann das inselreiche, belebte, der Schiffahrt günstigere Ägäische Meer „Alt dengis“, d. h. das „weiße Meer". Wir nähern uns dem Ziel der Fahrt, und deutlich treten nach und nach die mächtigen Umrisse des Jaila Dagh hervor, des Gebirges, das den Südrand der taurischen Steppe begrenzt und dessen Südabhang in jähem Absturz in das Meer fällt. Von Nordwesten gesehen, ist es ein großartiger Anblick, wie die Formen des Gebirges, mit einem kurzen hügeligen Übergang beginnend, sich nach Süden hin immer höher und schroffer auftürmen; ihre höchste Erhebung, der Tschatyr Dagh, erscheint von hier aus als eine mächtige isolierte Felsmasse, die über den niedrigen Höhen des westlichen Gebirges emporragt. Und da liegt im Vordergrund dieses prächtigen Panoramas auch schon Sewastopol, und die Formen seiner malerischen Umgebung werden allmählich deutlicher sichtbar. In wenigen Stunden sind wir am Ziel, doch von den Ein­ drücken und Erinnerungen, die sich an diesen Fleck Erde knüpfen, von den Spuren seiner Vergangenheit und von seiner lebensvollen Gegenwart erzähle ich in anderm Zusammenhange.

2. An der russischen Riviera. Die Vorstellung, daß das Szepter des Zaren von der Prosna bis zur Beringsstraße über 170 Längengrade, also fast über den halben Erdball reicht, pflegt nach meinen bisherigen Beobachtungen auf die Russen keinen besonderen Eindruck zu machen. Sie wissen, daß diese Vorstellung auch im Auslande jedermann geläufig ist.

12 und wenn sie auch auf diese gewaltige Ausdehnung ihres Vater­ landes stolz sind, so scheint ihnen die Erinnerung daran doch zu alltäglich und selbstverständlich. Aber mit einem ganz anderen Kitzel für ihr vaterländisches Selbstgefühl pflegen sie daran zu er­ innern, daß Rußland sich über die verschiedensten Zonen und Kli­ mate erstreckt, daß man innerhalb der Grenzen Rußlands eben­ sowohl ans die Eisbärenjagd gehen und in Schneehütten Leber­ thran kneipen kann, wie unter Myrten und Lorbeerbäumen einen an Ort und Stelle gewachsenen feurigen Rebensaft schlürfen. Wenn ein Russe da oben in Archangelsk sich bei einer Kälte von 30 Grad Räaumur an seinen heißen Ofen flüchtet, so darf er sich dem an­ genehmen Bewußtsein hingeben, daß er die Grenzen seines Vater­ landes nicht zu überschreiten braucht, um ein Land zu finden, „wo die Zitronen blüh'n, im dunklen Laub die Goldorangen glüh'n". Freilich trifft das im europäischen Rußland nur auf einen kleinen, verhältnismäßig sehr kleinen Landstrich zu, eine schmale Strecke der Südküste der Krim, die, unter demselben Breitengrade wie die italienische Riviera gelegen und ähnlichen klimatischen Einflüssen unterworfen, im Norden durch das hohe Gebirge des Jaila Dagh vollständig gegen die Wirkung rauher Winde ab­ geschlossen ist. Auch diese russische Riviera ist längst ein Wallfahrts­ ort für Naturfreunde und Kranke geworden und würde es wohl noch mehr sein, wenn sie nicht für die internationale Touristen­ welt zu abgelegen wäre. Die weite Fahrt durch das russische Festland, das dem unmittelbare Zerstreuung suchenden und ober­ flächlich beobachtenden Durchschnittsreisenden nichts bietet, ferner die Notwendigkeit, sich einigermaßen in der Landessprache ver­ ständigen zu können, wenn man nicht Zufällen und allerlei Un­ bequemlichkeiten und unangenehmen Erfahrungen preisgegeben sein will, wirkt abschreckend. So sind es eigentlich fast nur Russen, die die Krim besuchen, und ihrem Geschmack und ihren besonderen Be­ dürfnissen sind alle aus den Fremdenverkehr berechneten Einrichtun­ gen angepaßt. Sie sind in mancher Beziehung umfangreich, luxuriös, dann aber auch wieder in vielen Dingen von einer staunenerregenden Ursprünglichkeit. Ich denke dabei z. B. an die Wascheinrichtungen in

13 den Hotelzimmern, die mich immer in einen Zustand gelinder Ver­ zweiflung versetzt haben. Was die Besitzer der dortigen Gasthöfe, Logirhäuser und Villen in erster Linie mit außerordentlicher Schnellig­ keit und Vollkommenheit sich angeeignet haben, ist die Fertigkeit im Schreiben von Rechnungen, deren Symbol in der Blumensprache ein Je-länger-je-lieber sein müßte. Ich war diesmal glücklicher­ weise vor der sogenannten Saison, dieser gesegneten Zeit der Trauben- und Rubelernte, in der Krim und war vermöge der noch herrschenden Geschästsstille in der angenehmen Lage, vor gelegent­ lichen habgierigen Anwandlungen der Einheimischen nicht rettungs­ los kapitulieren zu müssen. Noch liegt die Südküste der Krim ganz außerhalb des Eisen­ bahnverkehrs. Die nächsten Endpunkte von Eisenbahnen, Sewasto­ pol und Feodosia, können zu der „russischen Riviera" noch nicht ge­ rechnet werden. Von ihnen aus vermittelt nur das Dampfschiff den Verkehr nach Jalta und Aluschta. Wer zu Lande reisen oder einen anderen Küstenort erreichen will, ist auf Wagenverkehr an­ gewiesen. In diesen Beförderungsmitteln gibt es die verschiedensten Abstufungen. Ich selbst habe diesmal den Weg von Sewastopol über Jalta nach Aluschta und von dort über das Gebirge nach Simferopol — im ganzen etwa 200 Kilometer — mittels „Telega" zurückgelegt. Jeder, der einmal eine russische Telega benutzt hat, wird mir, sofern ihm ein mitfühlendes Herz im Busen schlägt, in aufrichtigem Beileid die Hand drücken. Der Worte bedarf es nicht; ich weiß, wir verstehen uns. Da aber doch wahrscheinlich viele Leser nicht ahnen, von welcher höllischen Prodezur hier die Rede ist, so bin ich ihnen eine Erklärung schuldig. Zunächst: was ist eine Telega? In einem Wörterbuch, das ich besitze, ist es einfach mit „Bauernwagen" übersetzt. Der Verfasser des Wörter­ buches mag sonst ein sehr ehrenwerter Mann sein; ich sehe mich aber leider doch genötigt, vor ihm zu warnen. Dem Mann ist alles zuzutrauen; er ist offenbar im stände, einen ausgewachsenen Königstiger als eine Art Hauskatze, einen Galgen als Kleider­ halter zu bezeichnen und feingeschliffene Rasiermesser als Kinder­ spielzeug zu empfehlen. Ich muß also eine andere Erklärung

14

suchen, und zwar will ich, da ich weiß, was ich einem deutschen Publikum schuldig bin, so wissenschaftlich wie möglich sein. Eine Telega ist also meiner Ansicht nach ein physikalischer Apparat, der durch ein sinnreiches Ineinandergreifen von Druck, Stoß und Pendelbewegungen bestimmt, wieviel der menschliche Organismus auszuhalten vermag, ohne daß die Organe endgültig ihre Funktionen einstellen oder die Seele in dauernder Verstimmung ihre irdische Behausung verläßt. Um geeignete Versuchsobjekte herbeizulocken, verbindet man mit diesem Marterwerkzeug den Nebenzweck der Be­ förderung von einem Ort zum andern und läßt es durch Pferde in Bewegung setzen. Die Feststellung, welchen geradezu unwahr­ scheinlichen Erschütterungen der menschliche Körper auf einer Telega ausgesetzt ist, wäre eine lohnende Aufgabe für kincmatographische Darstellung. Nur fürchte ich, daß die dauernde Unmöglichkeit für die im Marterkasten Sitzenden, „recht freundlich" auszusehen, der photographischen Aufnahme ernstliche Hindernisse in den Weg legt. Wie nach einer solchen Fahrt das Reisegepäck auszusehen pflegt, davon will ich lieber schweigen. Durch die stärksten Umhüllungen und die sorgfältigste Packung kann man allenfalls Katastrophen verhüten, aber das Tohuwabohu im Innern bleibt immer noch arg genug. Der Mann, dessen Obhut man während des ganzen Folterprozesses anvertraut ist, der sogenannte Jämschtschik, ist mir immer ein Gegenstand besonderen Interesses gewesen. Das ganze Thun und Treiben eines solchen Jämschtschik ist eigentlich nichts anderes, als ein beständiger ungeheurer Eventualdolus der Körper­ verletzung; vergleicht man aber mit dieser schaudererregenden That­ sache die unendliche Biederkeit und Harmlosigkeit, die sich in den Zügen und in dem ganzen Wesen der meisten dieser Rosselenker ausprägt, so gewinnt man einen tiefen Einblick in die Abgründe der menschlichen Natur. Trotz alledem zähle ich die Fahrt längs der Südküste der Krim zu meinen schönsten Reiseerinnerungen, und dieser Meinung war ich auch in dem Augenblicke, als ich in völlig zerschlagenem Zustande in Simferopol anlangte. Die unvergleichliche Schönheit der Landschastsbilder läßt alle Unbequemlichkeiten der Reise völlig

15 zurücktreten. Unmöglich ist es, die Fülle der Eindrücke, die der Naturfreund mit Entzücken in sich aufnimmt, zu beschreiben. Eine solche Schilderung würde nur ermüden, denn die Sprache vermag nur die Grundzüge des Bildes wiederzugeben, sie vermag nicht der feinen Steigerung zu folgen, die in der wechselnden Gestaltung der Einzelheiten liegt. Jene Grundzüge sind überall dieselben: das buchtenreiche Meer bespült ein schmales, sanft ansteigendes Küstenland, das im üppigsten Pslanzenwuchs des europäischen Südens prangt, erfüllt von Landsitzen und Ansiedlungen, die — so scheint es — nur der Lebensfreude und Erholung gewidmet sind. Darüber tür­ men sich nach Norden hin die jäh aufsteigenden Felsgruppen des mächtigen Gebirges, das in Form, Farbe und Stimmung einen großen und herben Zug in das liebliche Landschastsbild zu seinen Füßen hineinträgt. Das ist, wie gesagt, überall dasselbe, und doch ist man beständig überrascht, welche wunderbare Mannig­ faltigkeit mit den immer wiederkehrenden Motiven dieses Bildes er­ zeugt wird, wie eine immer schönere Gruppierung von Fels, Küstenlandschaft und Meer die andere ablöst. Es gibt kaum eine prächtigere Steigerung der Eindrücke, als wenn man von Sewastopol auf der Woronzowstraße etwa bis Hursuf fährt. Vor allem rate ich jedem, der die Krim besucht, die Fahrt von Sewastopol auf dem Landwege nach Jalta nicht zu versäumen, und zwar, wohlgemerkt, in dieser Richtung, nicht umgekehrt. Die drei natürlichen Abschnitte, in die der Weg zer­ fällt, führen den Reisenden aus einem vorbereitenden Stadium erwartungsvoller Stimmung hinüber zu behaglicher Freude an der Umgebung und zuletzt zu Bewunderung und Entzücken. Der An­ sang des Weges, übrigens ein nur sehr kleiner Bruchteil der ganzen Strecke, ist landschaftlich völlig reizlos. Wer aber für Geschichte und besonders für Kriegsgeschichte Interesse hat, wird sich beim Studium der Umgebung leicht über jede Anwandlung von Lang­ weile hinweghelfen können, wenn er sich in Erinnerungen versenkt. Auf der kahlen steinigen Hochebene lagerten einst die Heere der verbündeten Franzosen, Engländer und Piemontesen zur Zeit der Belagerung von Sewastopol; noch erinnern die Kirchhöfe, auf

16 denen jede der beteiligten Nationen ihre Gefallenen bestattet hat, an jene Zeit. Mit einer kriegerischen Erinnerung scheiden wir auch auf unserer Fahrt von der blutgetränkten Hochebene des Chersonnes. Wo nämlich die Straße sich schon hinabzusenken beginnt, zur Linken der steile Abhang des Sapunberges die Aussicht nach Norden sperrt und zur Rechten in einer freundlichen Thalsenkung das Dorf Kadiköi inmitten der ersten Getreidefelder und Wein­ gärten herausschaut, ist der Schauplatz einer einst vielbesprochenen und vielbewunderten Schlachtenepisode, des berühmten Angriffs der englischen Dragonerbrigade Cardigan auf die russischen Feld­ schanzen in der Schlacht bei Balaklawa am 25. Oktober 1854. Diese letzte Stätte kriegerischer Erinnerungen eröffnet zugleich den zweiten Abschnitt der Fahrt, den allmählichen Eintritt in das Jaila-Gebirge mit seinen an deutsche Mittelgebirge erinnernden freundlichen Landschaftsbildern, seinen lieblichen Thalgründen und seinen Buchen- und Eichenwäldern. Aber gerade von dieser Stelle aus erhalten wir auch schon einen kurzen Vorgeschmack der ent­ zückenden Küstenlandschaft. Da sehen wir gleich hinter Kadiköi von der Höhe herab auf Balaklawa — den trefflichen Hafen, den ringsum Himmelanstrebende Felsen von beiden Seiten umschließen, ' Und wo vorn an der Mündung sich zwei vorragende Spitzen Gegen einander drehn; ein eng geschlossener Eingang.

Der kundige Leser möge sich nicht wundern, daß ich hier Vater Homers Schilderung des Lästrygonen-Hafens zitiere; denn in Wahr­ heit hat der Dichter der Odyssee schon im Altertum in dem drin­ genden Verdacht gestanden, bei jener Schilderung an den Hasen des taurischen Symbolon — dies ist der alte Name von Bala­ klawa — gedacht zu haben. Die Romantik des kleinen Ortes unten an der felsigen Bucht, durch deren engen Eingang man in das Meer hinausblickt, wird noch erhöht durch das zerfallene Gemäuer der alten Warttürme, die einst die Genuesen dort angelegt haben. Während der Übergang von der unwirtlichen Hochebene des Chersonnes zu der anmutigen Waldgebirgslandschaft des westlichen Jaila sich ziemlich allmählich vollzieht, ist dafür gesorgt, daß der

17

Eintritt in das Gebiet der eigentlichen Südküste in einer Art ge­ schieht, die man als geradezu „raffiniert" bezeichnen muß. Dieser

Die Bergkirche von ForoS.

Abschnitt des Weges ist durch die sogenannte „Baidarsche Pforte" bezeichnet. Ich hatte den vorhergehenden Teil der Straße, die durch v. M a s s o w, Aus Krim und Kaukasus.

2

18 das fruchtbare Thal von Baidar, einem tatarischen Marktflecken, führt, schon bei völliger Dunkelheit durchfahren und gegenüber dem Posthaus an der Pforte in der einfachen und bescheidenen, aber sauberen Herberge übernachtet; am Morgen um 5 Uhr passierte ich bei herrlichem Weiter das merkwürdige Thor, das wie mit einem Zauberschlage uns aus der Welt des Nordens in die des Südens hinüberführt.

Diesseits des von Säulen getragenen Thor­

baues, der den Durchgang durch die Felsen abschließt, verrät nichts den bezaubernden Anblick, der uns drüben erwartet.

Ringsherum

Felsen und Wald genau wie in unseren heimischen Gebirgen;

ein

felsiger Grund senkt sich neben der Straße hinunter; zwischen den Blöcken des Kalkgesteins Büsche von Brombeeren und Haselnüssen; eine anmutige mitteleuropäische Gebirgsnatur ohne Besonderheit. Und nun wenige Schritte durch das Thor hindurch! da auf schwindelnder Höhe;

Wir stehen

zu unseren Füßen liegt das weite

Meer int Glanze der Morgensonne und im Schutz der steilen Felsen

das üppige Küstenland in seiner südlichen Pracht.

In

scharfer Biegung steigt die Straße zu einem Felsvorsprung hinunter auf dem

der

malerische Kuppelbau der Bergkirche

von Foros

liegt, einem niedlichen Dörfchen mit berühmtem Weingut tief unten am Meer. Ich erwähnte schon, daß

der Eindruck dieses ersten Grußes

der russischen Riviera auch weiterhin keine Abschwächung erfährt. Die Straße führt meist auf der halben Höhe zwischen den Gipfeln der Berge und dem

Meere entlang, bald zwischen wilden, wie

von Riesenhand geschleuderten und ausgestreuten Blöcken und Fels­ trümmern,

bald

zwischen Weingärten

und

blühenden Tabaks­

pflanzungen, jetzt unter dem Schattett riesiger Nuß- und Feigen­ bäume oder in Lorbeer- und Zitronenhainen, dann wieder mitten durch Gestrüpp, das von üppigen Schlingpflanzen überwuchert ist. Zur Linken immer die zerklüfteten Felsen, die ihre Vorgebirge wie Kulissen weit in die See hinausschieben.

Und unten an der Küste

eine Kette malerischer Dörfchen ltnb Landsitze und die berühmten Schlösser der Kaiserfamilie und

der russischen Großen.

Es ist

schwer zu sagen, welches in der Kette dieser wundervollen Schlösser

19 — Simeis,

Alupka, Oreanda,

Livadia — den

Preis verdient.

Das ist eine Frage, die nur nach persönlichem Geschmack zu ent­ scheiden ist.

Wenn man mich aufs Gewissen fragt, so würde ich

allerdings Alupka nennen.

Gewiß

wird

der Park

von Alupka,

was den Reichtum an südlichen Gewächsen betrifft, von Oreanda, die ganze Anlage an Großartigkeit und üppiger Pracht von Livadia

Alupka, Besitzung des Fürsten Woronzow.

übertreffen,

aber es drängt sich doch die Empfindung auf, daß

die Schönheit der beiden Kaiserschlösser Oreanda und Livadia mehr Kunsterzeugniß ist.

Alupka ist in seiner Lage noch mehr von der

Natur bevorzugt) wo die Kunst nachgeholfen hat, ist es mit Zurück­ haltung geschehen, und man hat in der Anpassung

an die Um­

gebung

Befremdend

einen

sehr seinen Geschmack walten lassen.

wirkt freilich in der Nähe die eigentümliche Stilmischung an dem Schlosse,

das

seiner Zeit Fürst Woronzow

Während die Nordseite des Schlosses eine

hat

bauen

lassen.

gotische Fassade 2*

hat,

20

zeigt die Südseite — nach dem Meere hin — maurischen Stil,

Alupka, Portal des Schlosses nach der Seeseite.

eine wundervolle Halle, von der eine von Löwengruppen flankierte

21 Treppe über prächtig

angelegte Terassen zum Ufer

hinabführt.

So sonderbar diese Architektur in der Schilderung erscheinen mag, der Umgebung ist sie jedenfalls sehr wirkungsvoll angepaßt.

Der

Anblick des Schlosses vom Meere ans ist von bezaubernder Wirkung: keines der anderen Schlösser hat einen so großartigen Hintergrund, wie ihn hier die schönen Formen des Felsens Ai Petri (d. h. Ajos Petros = St. Peter) bilden.

Dazu die echt südliche Anmut des

Küstenpartie bei Oreanda.

Parkes, der nur die ragenden Riesen-Zypressen etwas von mildem Ernst verleihen;

die Stimmung dieser Landschaft gemahnt an den

Geist klassischer Zeiten, in denen der Kultus

heiterer Schönheit

den Menschenkindern Religion war. Mit der feinsinnigen Schönheit von Alupka können sich meinem Gefühl

nach

die

prunkvolleren

und

aufwandreicheren

Anlagen

von Oreanda und Livadia nicht messen, obwohl sie ihre besonderen malerischen Vorzüge haben.

Die Ruinen von Oreanda, dessen da­

mals dem Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch gehöriges Schloß im Jahre 1881 ein Raub der Flammen wurde, lassen noch er-

kennen, welchen feenhaften Eindruck einst dieser in dem Grün des üppigsten Parks der ganzen Südküste gebettete Prachtbau gemacht haben muß. Einen weniger von der Natur begünstigten Platz hat Livadia; der Kunst des Gärtners, die hier ihr Äußerstes gethan hat,

ist das Beste zu danken.

Nachbarschaft

des

Daneben ist es hauptsächlich die

paradiesischen Jalta,

die

Livadia ihren

be­

sonderen Reiz verleiht und es zur bevorzugten Residenz des Kaisers gemacht hat. Weniger steil, in sanfteren Formen und in weiterem Bogen, aber von imponierender Höhe und in wunderbar anmutigen Umriß­ linien umgeben hier die Felsen des Jaila Dagh die liebliche Bucht, an deren Ufer Jalta emporsteigt und seine Villen und Gürten weit auf die rebenreichen Abhänge der Berge hinauf erstreckt, — Jalta, der elegante einheimische Tummelplatz der vornehmen russi­ schen Welt, das russische Nizza, bei dessen Anblick ich kühle, nüchterne, vielgereiste Leute in Heller Verzückung gesehen habe.

Es ist auch ein

Fleck Erde, der jedes für Naturschönheit empfängliches Gemüt mit seinem Zauber gefangen hält.

Freilich ist der Zuschnitt des ganzen

Lebens durchaus auf die oberen Zehntausend — oder soll man sogar sagen, fünftausend? — eingerichtet, und die Schwindsucht, die man in der herrlichen milden Luft von den Leibern zu verscheuchen sucht, befällt die Geldbeutel um so energischer.

Das ist die Prosa bei

der Sache. Aber glücklicherweise stimmt der Anblick dieser berückenden Natur auch leichtsinnig, und man genießt dieses zanbervolle Dasein wie einen Märchentraum.

Den Blick auf dieses

Paradies teilt

auch die kaiserliche Besitzung Livadia, dessen Anlagen mit denen von Oreanda gerade in der Mitte zwischen Jalta und dem malerischen, leuchtturmgeschmücktcn, die weite Bucht nach Süden abschließenden Felsen des Kap Ai Todor (St. Theodor) liegen.

In dem großen

Palast von Livadia weilte Alexander II. besonders gern; Nachfolger hielt abweichende

Geschmacksrichtung,

vielleicht

seinen auch

manche den Sohn peinlich berührende Erinnerung an des Vaters zweite morganatische Gemahlin lange von dieser Stä?e fern. er sie trotzdem später auf ärztlichen Rat aufsuchte,

Als

wohnte er in

dem ihm mehr zusagenden kleinen Palast, einer unscheinbaren Villa

23 weiter oben im Park;

hier ist Alexander III. denn auch

am

1. November (n. St.) 1894 gestorben. Es ist unmöglich, von der Südküste der Krim zu sprechen, ohne ihrer Schlösser, dieser entzückenden Schöpfungen der Bau- und Garten­ kunst, zu gedenken. nicht künstlich und russischen Riviera

Wenn ich aber sagen soll, wo die natürliche, mit bewußter Absicht geschaffene Schönheit der ihren

Höhepunkt

erreicht,

so

muß

ich einer

Das kleine Palais zu Livadia, Sterbehaus Alexanders III.

anderen Stelle den Preis zuerkennen. Wo auf dem Wege von Jalta nach Aluschta die Straße einen zum Teil bewaldeten Höhenrücken übersteigt, dessen Ausläufer im Osten die Bucht von Jalta abschließt, liegt die Heimat der berühmtesten Weinberge in der Krim, Massandra. Wer hier aus dem Schatten uralter Bäume heraustretend der Straße bis zu der Biegung folgt, die den Blick nach beiden Seiten des Bergrückens freiläßt, genießt nach allen Richtungen hin einen un­ vergleichlichen Ausblick.

Im Westen hinunter auf die Bucht von

Jalta mit Livadia im Hintergründe und bent Kranz seiner hoch auf­ steigenden Berge, nach Osten auf die kaiserlichen Obst- und Wein-

gärten von Nikita und das malerische Tatarendorf Hursuf, das jetzt zu einem prächtigen Badeort emporblüht. Eigentümlich ist diesem Bilde nach Osten hin der Hintergrund, die sonderbar gestaltete, weit in das Meer hinausragende dunkle Masse des Aju Dagh (d. h. Bärenberg); die Tataren haben ihm diesen Namen gegeben, weil die mächtige Rundung des Bergrückens und das vorgestreckte spitze Vorgebirge an die Gestalt eines Bären erinnert. Und auch nach

Jalta, von Livadia aus gesehen.

Norden gestattet die Höhe von Massandra einen wunderbaren Ein­ blick in die Felsenwelt des Jaila; hier bildet das „Demir Kapu" (d. h. Eisernes Thor — eine bei den Tataren und Türken öfter vorkommende Bezeichnung) einen tiefen Riß in der Felsenwand des Gebirges, das gerade an dieser Stelle int Kemal Egerek seine höchste Erhebung erreicht. In wundervoll duftiger Färbung erscheinen die schroffen Zacken des Berges über den grünen Weinbergen. Im Süden aber schweift der Blick frei über das unendliche blaue Meer, dessen Färbung in der Nähe der Küste in ein durchsichtig schimmerndes

25 Smaragdgrün übergeht und in weißen Schaumkronen an den Fels­ blöcken der Vorgebirge brandet. Mit Nikita und Hursuf schließt die Reihe der Küstenorte ab, die man im engeren und eigentlichen Sinne zur russischen Riviera rechnen kann.

Jenseits des Aju Dagh nimmt die Landschaft all­

mählich einen anderen Charakter an.

Das Land ist nicht mehr so

völlig geschützt vor den vom Asowschen Meere und aus den benach-

Hursuf mit dem Aju Dagh.

barten Steppen herüberwehenden Winden.

Aber diesseits dieser

Grenzscheide, in den Anlagen von Hursuf erschließt sich der Reich­ tum der südlichen Flora noch einmal in seinem vollen Glanze. Hursuf hat eine ähnliche Wandlung durchgemacht, wie so manches stille Dorf unserer heimischen Gebirge und Küsten. Nur tritt in der Krim der Gegensatz zwischen dem alten schlichten Dorf und der modi­ schen Sommerfrische noch schroffer und augenfälliger hervor. Neben den einfachen und ärmlichen Tatarenhütten, die allerdings in ihrer amphi­ theatralischen Lage

an

der zerklüfteten Felsenküste ein malerisch

26 außerordentlich wirkungsvolles Ansehen haben, nehmen sich die Hotels und Villen mit ihren Prunkgärten und Anlagen noch viel seltsamer aus, als die Neubauten unserer Badeorte neben unsern Bauernund Fischerhäusern.

Aber man ist dieser Wandlung nicht gram,

denn die Schöpfer dieser Anlagen haben es wirklich verstanden, mit ausgesuchten Mitteln der Kunst die natürliche Schönheit der Land­ schaft zu heben.

Es ist ein herrliches Kleinod, das sich zu Füßen

des seltsamen Aju Dagh schmiegt und von dem „Bären", dessen Gestalt die Phantasie des Volkes in der ungefügen Felsmasse des schützenden Vorgebirges zu erkennen glaubt, gleichsam bewacht wird. Zwischen dem gewölbten Felsenrücken dieses „Bären" und der steilen Wand des Saitin-Kosch windet sich die Straße oberhalb Hursuf hindurch auf die Höhe des freundlichen Dorfes Büjuk-Lambat, wo sich der Blick auf den weiten Golf von Sudak öffnet.

Damit

thut sich ein neuer Abschnitt der Küste vor uns auf, und indem wir in scharfen Windungen die eichenbcwaldeten Abhänge zum Thal von Aluschta hiuabsahren, können wir in der Erinnerung uns noch ein­ mal die märchenhaft schönen Bilder vor die Seele zaubern, die wir als lebendigen Eindruck von der russischen Riviera in die Heimat mitbringen.

5. Aus dem Osten der Krim. Zwischen dem kleinen Seebade Aluschta und Simferopol, der Hauptstadt des taurischen Gouvernements, überschreitet die Poststraße einen sich besonders stark markierenden Paß des Jaila Dagh, den man auch wohl die „Pforte von Aluschta" genannt hat.

Es gibt

Leute, die diesem Uebergang über das Jaila-Gebirge sogar vor der berühmten Baidar'schen Pforte den Vorzug geben. schmacksache.

Das ist Ge­

Gewiß ist der Weg reich an großartigen Naturschön­

heiten, aber es sind Landschaftsbilder, wie wir sie auch anderswo, namentlich in unsern heimischen Gebirgen, in Fülle genießen können, während die Baidar'sche Pforte und die Südküste einzig in ihrer Art sind.

Aber wenn man sich ohne die besondere Erwartung, etwas

nie Gesehenes zu finden, unbefangen und empfänglichen Gemüts den

27 Eindrücken dieser Gebirgsszenerie hingibt, so wird man mir gewiß in dem Urteil beistimmen, daß es vollauf lohnt, sie kennen zu lernen. Mächtige Felsenkulissen rahmen rechts und links dieses Thal ein und begleiten die Straße von Aluschta bis zur Einsattelung im Ge­ birge, über die man weiterhin durch dichten Eichen- und Buchenwald in das enge Thal des Salgirflusses hinüber gelaugt.

Während

zur Rechten der zerklüftete Abhang des Demirdschi-Jaila mit seinem Gewirr von Felstrümmern herüber grüßt, steigt zur Linken über der Berglehne, an der die Straße allmählich in Serpentinen empor­ klettert, der majestätische Tschatyr Dagh aus, der „Zeltberg", — so heißt er nach seiner Gestalt, — der König des taurischen Gebirges.. Der Anblick seines Gipfels begleitet uns auf der ganzen Fahrt.

Wenn die nackte Felsenkrone des Berges im Abendlicht röt­

lich glühend über dem Buchendickicht der Salgirschlucht aufragt, so kann man sich wohl in heimatliche Berge zurückträumen.

Stellen­

weise möchte man sich von Thüringer Waldfrieden umgeben glauben, so schmeichelnd anmutig und friedlich umfängt uns die Stille des Laubwalds, in dessen kühlem Grunde leise murmelnd der Salgir als kleines Bächlein über das Kalkgestein rieselt.

Nur die Station

Tauschan-Bazar unterbricht auf kurze Augenblicke die Täuschung deutschen Waldzaubers und erinnert uns, daß wir in fremdem Lande sind.

Wenn wir dann in die Ebene gelangen, wo der Salgir seine

spärlichen Gewässer im Felsgeröll ausbreitet, und die Spuren fremden Volkslebens uns deutlicher entgegentreten, dann ist jene heimatliche Stimmung freilich endgültig zerstört.

Aber der Rückblick auf die

feinen Linien des Jaila-Gebirges und seine dunkeln Waldthäler ist von reizvoller Schönheit. Man denkt unwillkürlich, hier an diesen Bergen müsse sich auch deutsches Leben entwickeln und heimisch fühlen können. Und wirklich ist es auch dieser Teil der Halbinsel, in dem deutsche Kolonisationsarbeit sich vorzugsweise versucht und ansehnliche Erfolge errungen hat. an den Nordabhängen

In der Steppe östlich von Simferopol und des östlichen Jaila finden sich zahlreiche

deutsche Kolonien, die auch hier wie in so vielen andern Gegen­ den von der Tüchtigkeit des deutschen Volkes Zeugnis ablegen und zugleich zeigen, was aus diesem Boden bei geeigneter Bewirtschaftung

28 herauszuholen ist.

Neusatz,



Friedenthal, Rosenthal, Zürichthal,

Heilbrunn — sind die Namen von ebenso viel blühenden Oasen inmitten eines sonst nur mangelhaft kultivierten, zum großen Teil wüst und brach liegenden Landes.

Die neuerliche Verfolgungssucht

der russisch-orthodoxen Kirche und die allgemein stärker werdende nationalrussische Strömung haben auch diesen Kolonien manche An­ fechtung bereitet, aber es geht ihnen wenigstens besser als den in rein russischer Umgebung liegenden Kolonien des Festlandes. Die Deutschen, die in der Krim seit der Besitznahme des Landes durch die Russen, also etwa seit hundert Jahren, eine neue Heimat gefunden haben, sind übrigens nicht die ersten Ansiedler germanischen Stammes, die sich auf der taurischen Halbinsel niederließen. Hier in den Thälern des östlichen Jaila fanden sich noch bis in die Blütezeit der

Tatarenherrschaft hinein die Reste der sogenannten Krim-

goten.

Während des ganzen Mittelalters hatte dieser echte Ost­

gotenstamm hier gehaust, und schon im Altertum mag unter dem Völkergemisch, das die Griechen mit dem Namen Skythen belegten, mancher germanische Bestandteil gewesen sein.

In das Geheimnis

dieser Völkerbewegungen wird die geschichtliche Forschung freilich wohl niemals eindringen. In dieser Umgebung wird man übrigens auf Schritt und Tritt auf interessante Völkerspuren hingelenkt, vor allem auf die Berührungen althellenischer Kultur mit den Barbaren, die auf diesem Schauplatz stattgefunden haben.

Unsere Zeit mit ihrem ausgeprägten Sinn für

landschaftliche Schönheit sucht in erster Linie die wunderbare Küsten­ landschaft des westlichen Jaila auf; wer ist, wenn er Jalta und Alupka

gesehen hat, noch

im

stände,

das

bescheidene Feodosia,

Sudak oder gar Kertsch landschaftlich zu würdigen?

Das Altertum

sah im Gegenteil im westlichen Jaila vor allem die unwirtliche Felsenküste; der Osten und die flache Westküste dagegen vermittelte den betriebsamen Griechen den Verkehr mit den Skythenstämmen des

südlichen

Rußlands.

Hier

entwickelte sich

schon

in alter

Zeit ein reges Leben; das Schwarze Meer, einst das „unwirtliche Meer",

der Pontos

Pontos Euxeinos.

Axenos,

wurde

bald

das „gastliche", der

Wir wissen, daß die griechischen Kolonien auf

29 Tauris schon damals bedeutende Ausfuhrhäfen für Getreide aus dem südlichen Rußland waren; dafür brachten die Griechen die Erzeug­ nisse ihres hochentwickelten Kunstgewerbes und ihre verfeinerten Lebensbedürfnisse in das rauhe Barbarenland. Der blühendste Handelsplatz für Getreide war im Altertum jene milesische Kolonie, der schon die alten Hellenen unter dem Ein­ druck ihrer gesegneten Lage und ihrer Handelserfolge neben dem

Feodosia.

alten Ortsnamen Kapha den Beinamen Th eo d o si a, „Gottesgeschenk", gaben. Bis in die spätesten Zeiten des byzantinischen Reichs währte die Blüte des Orts. Später setzten sich die Genuesen, die den nörd­ lichen Teil des Schwarzen Meeres zu ihrer Handelsdomäne machten, auch in „Cassa" fest, wie nun die Stadt wieder genannt wurde, und machten es zum Mittelpunkt ihrer taurischen Herrschaft, deren kommerzielle Bedeutung auch erhalten blieb, als Taurien eine Beute der Tataren wurde. Dann fiel der Reif auch auf diese Blüte. Der furchtbare Eroberer Timur zerstörte die Stadt, so daß von ihrer großen Vergangenheit heute kein altes Baudenkmal mehr Zeugnis

30 ablegt.

Die Macht von Caffa war gebrochen; unter türkisch-tatari­

scher Herrschaft führte es ein kümmerliches Dasein, bis es dann von den Russen, die auch den alten Namen in der Form „Feodosia" wieder

zu Ehren brachten,

allmählich zu einem emporblühenden

Handelsplatz und neuerdings zu einem freundlichen Seebade ent­ wickelt wurde. erstehen,

Aber so rechtes Leben will doch noch nicht wieder

obwohl Feodosia neuerdings durch die Eisenbahn nach

Dschanköi an die ins Binnenland führende Hauptlinie SewastopolLosowaja-Charkow-Kursk-Moskau angeschlossen ist. Eine „attraction" besitztFeodosia aber doch, und das ist das kleine Museum des bedeutendsten, kürzlich verstorbenen russischen Marine­ malers, des aus Feodosia gebürtigen und mehrere Jahrzehnte hin­ durch dort ansässigen Professors Aiw as ows ki. Seine Werke spiegeln die Vorzüge und Schwächen der russischen darstellenden Kunst in sehr charakteristischer Weise wieder.

Die Beobachtungsgabe und die

technische Sicherheit in der Wiedergabe der landschaftlichen Eigenart der seltsamsten Stimmungen und Beleuchtungsesfekte ist bewunderns­ wert, ein verblüffender Realismus, der Stücke der Natur, wie sie jeder sieht und sehen kann, auf die Leinwand zaubert und der stets fesselt, nie verletzt, weil er nur nach großen und würdigen Vor­ bildern arbeitet.

Freilich gibt er auch wenig Eigenes, aus dem

Wesen des Künstlers schöpferisch Geborenes.

Seine Kunst ist wesent­

lich Beobachtung, Nachempfindung, — mehr empfangend, reproduktiv, als zeugend, produktiv. Darin erinnert er an andre russische Künstler; ich nenne nur Wereschtschagin als den in Westeuropa bekanntesten, dessen blendende Eigenschaften und Schwächen noch deutlicher diesen Zug der russischen Kunst hervortreten lassen. Wereschtschagin machte mit seinen farbenglühenden morgenländischen Landschaften und seinen schauerlich realistischen Kriegsbildern auch bei uns Eindruck.

Wer

ferner seine in der Moskauer Erlöserkirche befindlichen Wandgemälde religiösen Inhalts kennt, wird zugeben, daß sie geschickt und eindrucks­ voll gemalt sind, wo sie ganz im Konventionellen bleiben.

Aber

wo derselbe Künstler aus seinem Eigenen größeren Aufgaben gerecht zu werden versucht, wie in seinem Bildercyklus zur Geschichte des Jahres 1812, wird er erschreckend geistlos.

So scharf treten nun

31 freilich bei Aiwasowski diese Eigentümlichkeiten nicht hervor.

Sic

scheinen bei ihm mehr angedeutet, aber sie sind im Wesen dieselben. Man wird seine Bilder aus vielen anderen herauserkennen, weil eben nur Aiwasowski ein so intimer Kenner der politischen und kaukasischen Natur ist; aber man wird niemals bei einem Bilde un­ abhängig von seinem Gegenstand sagen: „So malt nur Aiwasowski!" Doch Aiwasowski war eben Künstler genug, um nichts zu malen, was diese Schwächen offenbar macht. Man verzeihe mir die Abschweifung. Aiwasowskis Kunst darf jeden­ falls nicht unerwähnt bleiben, wenn man die landschaftlichen Schön­ heiten der Krim preist. Er ist es gewesen, der seinen Landsleuten haupt­ sächlich zum Bewußtsein gebracht hat, welche Fülle von Schönheit dieses früher wenig geachtete Land birgt. Von den ehemaligen griechischen Kolonien am Schwarzen Meere haben die meisten ein schlimmeres Los gezogen, als Feodosia. sind

Sic

entweder ganz verschwunden oder bestehen als unbedeutende

Flecken und Dörfer fort.

In der östlichen Krim hat sich neben

Feodosia nur Kertsch noch in einiger Bedeutung erhalten, wenn man auch heute nichts mehr davon merkt, daß sich hier Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung abgespielt haben.

Kertsch, das alte

Pantikapäum, war einst der letzte Stützpunkt des Mithridates, jenes gewaltigen asialischen Despoten, der es wagte, hier an den Grenzen des damals bekannten Erdkreises sich der römischen Weltmacht ent­ gegenzustellen.

Bekanntlich

stand

seine Bekämpfung mit folgen­

schweren Verwicklungen in den innern Zuständen Roms in Zu­ sammenhang, und seine Besiegung führte den Pompejus ans den Gipfel seiner glücklichen Laufbahn.

Hier an den beiden Ufern der

Straße von Kertsch, wie heute die Verbindung zwischen dem Schwarzen und dem Asowschen Meere heißt, — des kymmerischen Bosporus, wie man im Altertum sagte, — hatte Mithridates VI. zu seinem pontischen Erbreich noch das „bosporanische Königreich" erobert, eine Zufluchts­ stätte, in der er sich vor den Verfolgungen der Römer vollkommen sicher Wähnte.

Phanagoria auf der Halbinsel Taman, eine alte griechische

Kolonie, war auf der östlichen, kaukasischen Seite des Bosporus sein Stützpunkt; im Westen, auf der taurischen Seite, war es Pantikapaion.

32

Wenn uns heute das Dampfschiff von Süden her an die zer­ klüftete Felscnküste der Straße von Kertsch führt, so erkennen wir noch jetzt, wie wohlgewählt in Anbetracht der damaligen Mittel der Schiffahrt und Kriegführung dieser Platz war. Die scheinbar recht ausgebreitete Wasserfläche, die wir nach Umschissung des Takil Burun, des den Eingang in die Meerenge markierenden Vorgebirges, vor uns sehen, besitzt doch nur ein schmales Fahr-

Kertsch mit dem Mithridatesberg.

Wasser. Von der im Osten sichtbaren, flachen und kahlen Küste der Halbinsel Taman schiebt sich eine schmale, niedrige und stellen­ weise sogar überflutete Landzunge weit gegen die drüben liegende Felsenklippe des sogenannten „Ak Burun" (d. h. weißes Vorgebirge) vor und läßt nur einen verhältnismäßig schmalen Eingang in den erweiterten Teil der Meerenge, an dem Kertsch liegt, frei. Im Osten weicht hier die flache Küste von Taman weit zurück, und erst drüben im Norden schließt sie sich wieder enger mit der tau-

33 rischen Küste zusammen, wo die weißen Mauern und Türme von Jeni-Kale Herüberschimmern und den Eingang in das Asowsche Meer weisen. Nach Westen breitet sich vor uns in weitem Bogen am Fuß kahler Felsen die Stadt Kertsch aus, nicht unfreundlich gelegen, aber doch nur bescheiden mit malerischen Reizen ausge­ stattet. Die Höhe aber unmittelbar über der Stadt, von deren kahlem Gipfel nur eine kleine Kapelle wie mit müden Augen über das Land schaut, läßt sofort die geschichtliche Überlieferung in unserm Bewußtsein aufleben. Der Berg heißt noch heute der Mithridatesberg, und sein höchster Punkt, auf dem nur wenige mächtige Felsblöcke durch Lage und Gestalt noch andeuten, daß hier einst ein fester Bau von Menschenhand stand, führt im Volksmunde die Bezeichnung: „der Thron des Mithridates". Hier lag die Burg von Pantikapaion, auf der der gewaltige Römerfeind sein tragisches Ende fand, bis zum letzten Augenblick dem Charakter eines echten asiatischen Despoten getreu. Von dem verräterischen eigenen Sohn belagert, sieht er den letzten Ausweg zu Freiheit und Macht ver­ sperrt. Da läßt er seinen ganzen Harem vergiften und nimmt selbst mit seinen beiden Lieblingstöchtern Gift. Aber der gewaltige, durch Gegengift und Abhärtung gestählte Körper widersteht der Wirkung, und so muß zuletzt das Schwert eines Sklaven dem Herrscher den letzten Dienst erweisen. Der umfassende Ausblick von der Höhe des Mithridatesberges gewährt keine besonderen Überraschungen. Da liegt vor uns die weite Wasserfläche der Straße von Kertsch, in der Ferne die beiden Meere, und sonst eine baumlose, aber fruchtbare, von Hügeln umkränzte Ebene. Und doch erkennt der aufmerksame Beobachter da etwas Merkwürdiges, die Reihe der aus der Ebene aufragenden eigentümlich geformten kleinen Hügel. Es sind Kurgane, Grab­ hügel aus der skythischen Vorzeit. Die Zeit hat die Spuren der geschichtlichen Vergangenheit dieser Gegend recht gründlich von der Oberfläche verwischt; um so mehr aber wissen die Gräber zu er­ zählen. Die Kurgane sind Fundgruben, die namentlich für die Erforschung des altgriechischen Kunstgewerbes von außerordentlicher Bedeutung sind. Einen großen Teil der gefundenen Schätze hat v. Massow, Aus Krim und Kaukasus.

3

34 das auf der halben Höhe des Mithridatesberges erbaute Museum aufgenommen.

Zur Zeit des Krimkrieges wurden

allerdings die

wertvollsten Gegenstände in das Museum der Petersburger Eremi­ tage gebracht, — eine Maßregel, die sich als sehr angebracht erwies, da das Museum von Kertsch durch das englische Bombardement schwer beschädigt wurde. Die merkwürdigste Grabstätte in der Nähe von Kertsch ist un­ streitig der „Zarski Kurgan" (das Königsgrab).

In die umfang­

reiche Steinkammer zu ebener Erde, über der sich der Erdhügel wölbt, führt ein eigentümlich geformtes Thor.

Der Eingang ist aus

Quadern so gebaut, daß jede obere Lage die untere etwas nach innen überragt und so die Öffnung sich nach oben stufenförmig verjüngt, bis zuletzt ein Schlußstein die nahegerückten Seiten ver­ bindet. In diesem Königsgrabe, das noch jetzt merkwürdige Skulp­ turen und Inschriften birgt, sind die reichsten Funde gemacht worden. Sie sind heute die Kabinettsstücke der Petersburger Eremitage. Wer einmal die dortige Abteilung der tanrischen Altertümer besucht hat, wird sich namentlich des Hauptstückes der Sammlung erinnern, eines kostbaren Sarkophags, und nicht niinder der merkwürdig gut er­ haltenen Überreste wertvoller Stoffe und Gewandstücke, wie sie meines Wissens sonst aus dem griechischen Altertum kaum bis auf unsere Zeit aufbewahrt sind.

Die meisten dieser Schätze stammen

aus dem Königsgrabe von Kertsch, und in andern Gräbern dieser Gegend hat man die wundervollen feinen Elfenbeinschnitzereien ge­ funden, die in der Eremitage das Entzücken der Kenner erregen. So bietet also diese unscheinbare Gegend ein reiches und fruchtbares Feld für die Forschung. Gegenüber den bezaubernden Reizen des westlichen Teils der Südküste tritt der Südosten der Krim freilich bescheiden zurück; man muß ihn eben mit ganz anderen Augen ansehen. Aber er weiß doch viel zu erzählen und wenn man sieht, was die deutschen Kolonien wirtschaftlich geleistet haben, welche schönen Erfolge hier in neuerer Zeit der Tabaksbau und andre nützliche Kulturen gehabt haben, so gewinnt man die Überzeugung, daß dieses Land nicht nur eine Ver­ gangenheit, sondern auch eine Zukunft hat.

35

4. Baghtschi-^arai. Ein morgenländisches Fürstenschloß! Wenn wir das hören, so regt es sich ganz wundersam in der Phantasie des Europäers. Da tauchen Scheherezadens Märchendichtungen in unserem Geiste auf und bauen ein schimmerndes Gebilde, und wir nüchternen, kühlen Franken überlassen uns gar nicht ungern dem Zauber, der von dieser Dichtung ausgeht, und folgen dem Fluge dieser in Glut und Farben getauchten, überschäumenden Vorstellungskraft, die alles, was den Sinnen gefällt, wie im Haschischrausch in unerschöpflicher Gestalten­ fülle ohne Maß und Zahl am innern Auge vorüberziehen läßt. Und unwillkürlich stehlen sich auch diese phantastischen Gestalten des Morgenlandes in den Kreis der Vorstellungen von der wirklichen Welt und man erwartet beinahe, daß das Wunder noch heute in den Palästen und Straßen von Bagdad und Jspahan in Gestalt von Feen und Zauberern sein geheimnisvolles Wesen treiben und be­ scheidener Tugend zum Besitz ungeahnter irdischer Schütze verhelfen müsse. Darum wird der Abendländer so leicht ungerecht, wenn ihm das wirkliche Morgenland nicht hält, was ihm das Land von Tausend und einer Nacht verspricht. Aber auch das Märchen läßt uns genug von der Kehrseite der phantastischen Herrlichkeit fühlen. Aus der bunten Pracht bricht oft genug der Geist finsterer Menschenfeindschaft und wollüstiger Grausamkeit hervor, und die kluge Frau Scheherezade selbst mußte um ihr Leben kämpfen, bis es ihrer Dichterkraft gelang, die finsteren Mächte des Landes niederzuringen. Der Orient stattet die Welt der Phantasie gerade darum so reich aus, weil es seiner wirklichen Welt so sehr an Heiterkeit und Freiheit fehlt; aber eben darum gehört auch beides zusammen, und in dem Widerspruch zwischen Phantastischem und Wirklichem entfaltet sich die Eigenart des orientalischen Lebens. Da gibt es Ansätze zu reichem Leben, aber keine volle harmonische Entwickelung, Quellen von lebenspendender Kraft, die doch niemals zum klaren, ruhig fließenden Strom werden, sondern, wie es in den Steppen und Wüsten des Morgenlandes auch in Wirklichkeit nicht selten ist, schon nach kurzem Lauf in durstigem Erdreich ausgebreitet versiegen; da gibt es Arbeit, die den Geist 3*

36 nicht befreit, sondern bindet und in engen Zirkeln herumführt und so für den verlorenen Segen zweckbewußten und freien Schaffens Ersatz in einer schrankenlosen Traumwelt sucht.

In diese Traumwelt

ergießt sich alle Leidenschaft, alles Leben, das unter der scheinbar öden und starren, wie in Schlaf versunkenen äußern Form der orientalischen Welt pulsiert, und zaubert ein Meer von Glanz, Farbe und Sinnenrausch hervor. und

Da ist freilich kein Platz für die neckischen

gemütvollen Geister unseres Märchens,

aber der Geist, der

Königin Scheherezade geht um und belebt starres Gestein, daß es zu Königssälen wird, ausgestattet mit Gold und Edelgestein, erfüllt von wunderbar schönen Gestalten und der Pracht köstlicher Gewänder. Man muß etwas zu träumen verstehen, wenn man den Orient genießen will.

Aber besonders gilt das dort, wo uns das Morgen­

ländische noch mehr als geschichtliche Erinnerung, denn als lebendige Gegenwart entgegentritt und sogar in einem gewissen Gegensatz zu der sonstigen Natur des Landes steht.

Zu diesen Betrachtungen wird

man unwillkürlich angeregt, wenn man sich von den merkwürdigen Eindrücken einer Oase orientalischen Lebens auf europäischem Boden Rechenschaft ablegen will. Ich meine die Stadt Bag htschi-Sarai in der Krim mit dem alten Palast der Chane, der ehemaligen Tataren­ herrscher. Hier tritt das orientalische Wesen dem Besucher unvermittelt und rein in seiner ganzen Fremdartigkeit entgegen, und das noch dazu an einer Eiscnbahnstrecke mitten zwischen zwei fast ganz euro­ päischen Städten, Simferopol und Sewastopol, die nur um drei Stun­ den Eisenbahnfahrt von einander entfernt sind.

Der Mittelpunkt des

Ganzen, der Palast selbst, ist, wie gesagt, nur eine Erinnerungsstätte, ein geschichtliches Denkmal. So muß die Phantasie helfen, diese toten Räume mit dem Glanz orientalischer Märchenpracht auszustatten und den Gestalten, die sie einst bevölkerten, neues Leben einzuhauchen. Wer im Chan

Sarai — so heißt der Palast — mit ver­

schlossenen Sinnen umhergeht, der bleibe lieber daheim.

Er wird

doch nur enttäuscht sein von der düstern Nüchternheit der Moschee, von dem Palast selbst, der wie eine nachlässige Zusammenstellung unscheinbarer Pavillons erscheint; er wird vergebens nach den Spuren irgendwelcher Erinnerungen monumentalen

Charakters

oder nach

37



Anzeichen künstlerischer Orginalität suchen; er wird sehr bald ent­ decken, daß es eine tatarische Kunst nicht gibt, daß diese Kunst, die er da sieht, dem tatarischen Geiste angepaßt, aber nicht aus ihm geboren ist. Und so wird er vielleicht den interessantesten Räumen, die ihm gezeigt werden, dem Audienz-, Barbier- und Gerichtszimmer, flüchtige Aufmerksamkeit zuwenden, aber im ganzen in diesen aus­ gestorbenen Räumen, namentlich dem Harem und seiner stillen, von

Der Chan-Palast in Baghtschi-Sarai.

hohen Mauern abgesperrten Gartenanlage, mehr Neugier als Wohl­ gefallen empfinden. Ganz anders, wer die Geister zu rufen versteht, die hier im Verborgenen Hausen. Nicht jeder freilich vermag das alles mit den zauberkräftigen Dichteraugen eines Puschkin oder Mickiewicz zu sehen, die das Schloß von Baghtschi-Sarai und seine „Quelle der Thränen" besungen haben. Aber es genügt auch schon, die Spuren einer merkwürdigen Geschichte, die hier pietätvoll gehegt werden, offnen und lebendigen Sinnes zu würdigen.

38 Die heutigen Tataren sind stille, schlichte Leute, die ihren hei­ mischen Boden nach ihrer Väter Weise bebauen. Sie können über das erreichte bescheidene Maß von Kulturarbeit nicht hinaus, und so ist die Zeit über sie hinweggeschritten. Sie haben längst auf weltgeschichtliches Wirken verzichtet und pflegen ihr anspruchloses Volkstum unangefochten im Schatten der russischen Macht und Kultur. Aber es wäre falsch, daraus zu schließen, daß die Tataren gleichgültig gegen ihre nationale Besonderheit seien. Im Gegenteil sie setzen jedem fremden Einfluß, der über eine bestimmte Grenz­ linie vordringen will, einen zähen, beharrlichen und eigensinnigen Widerstand entgegen. Und so fehlt es ihnen trotz ihrer äußern Ohn­ macht und resignierten Unterwerfung durchaus nicht an einem starken Selbstbewußtsein. Es ist der echt türkische Stolz, der Stolz des gläubigen Moslim gegenüber dem europäischen Giaur, den er er­ geben duldet, weil Allahs unerforschlicher Wille ihn nun einmal zum Herrn über ihn gesetzt hat. Daß mitten in diesem so vollkommen passiv getragenen Schicksal das nationale Selbstbewußtsein erhalten geblieben ist, dafür zeugt eben auch die Sorgfalt, mit der dieses Volk die Stätten und die Erinnerungen pflegt, die ihm die Zeiten des Glanzes gegenwärtig halten, — die Zeiten, in denen seine Kultur ausreichte, um in gewissem Bereich eine geschichtliche Sendung zu erfüllen. Als die große Völker-Flutwelle, die von Dschingischans Mon­ golen in Bewegung gesetzt war, die tatarischen Völker auf euro­ päischen Boden geführt hatte, schien jene Sendung allerdings mehr im Zerstören als im Aufbauen zu bestehen. Die Tatarenherrschaft hat aber immerhin das Gute gehabt, daß an Stelle der vielen kleinen, aus Asien herüber wandernden Volksbruchstücke, die früher in wechselndem Gemisch die sarmatische Ebene gefüllt und das Auf­ kommen einer stetig fortschreitenden Kultur verhindert hatten, eine größere, einheitlicher geformte und straff zusammengehaltene Volks­ masse trat. In dieser harten Schule wurde dann das russische Volk vorbereitet, bis es reif geworden war, seine Mittlerrolle zwischen europäischer und asiatischer Kultur zu übernehmen. Eine ganz homogene Masse waren allerdings auch die Tataren

39 nicht; es waren aber in der Hauptsache türkische Stämme, wenn auch Wohl untermischt mit ostmongolischen, ugrischen und vielleicht auch burätischen Bestandteilen. Sie besaßen jedenfalls die gemein­ same türkische Sprache — denn das sogenannte „Tatarisch" ist nichts anderes als ein türkischer Dialekt —; sie besaßen ferner die gemein­ same Zugehörigkeit zu einem kriegerisch organsierten, despotisch re­ gierten Staatswesen und gewannen in dem Islam eine einheitliche Religion, die dieser Kultur und Verfassung genügend angepaßt war, wenn sie auch das Reich nach Beendigung der Periode der Erobe­ rungen zu dauerndem Stillstand verurteilte. Vielleicht aber fehlte diesem Volk ohnehin die Fähigkeit, neues Leben aus sich zu erzeugen und zu entfalten, nachdem die rohen Kräfte, die das Reich der „gol­ denen Horde" aufgebaut hatten, verzehrt waren. Das Erlöschen der Kraft zeigte sich zuerst in dem Auseinanderfallen der einzelnen Teile, in dem erneuten Hervortreten landschaftlicher Besonderheiten und in der Bildung neuer Rassenmischungen. Es war, als ob unter einem Firniß die ursprüngliche Farbe wieder zum Vorschein kani. Dort, wo einst an der mittleren Wolga das Reich der Bulgaren bestanden hatte, nahm auch das tatarische Volk entsprechende Züge dieser ältern Kultur an und entwickelte sich ganz anders als an der untern Wolga in dem einstigen Gebiet der türkischen Polowzer, wo es unter dem Einfluß der persischen Nachbarschaft stand, und hier wieder anders als an der Nordküste des Schwarzen Meeres, wo Reste der Chasaren und anderer türkischen und europäischen Völker­ schaften die Grundlage der Bevölkerung bildeten und der osmanische Einfluß allmählich der herrschende wurde. So lösten sich nach und nach die Reiche von Kasan, Astrachan und Krim von dem alten Reich der goldenen Horde los und gehorchten selbständigen Chanen. Den taurischen Tataren, deren Hauptstadt an Stelle des alten Ortes Krim bald das freundlichere Baghtschi-Sarai wurde, war es unter dem blühenden Herrschergeschlecht der Girei beschieden, ihre nationale Selbständigkeit noch zwei Jahrhunderte länger zu erhalten, als ihren Vettern in Kasan und Astrachan, die schon im sechzehnten Jahrhundert dem Zaren Iwan dem Schrecklichen unterlagen. Dem Namen nach mußten die Krimtataren bald die Oberhoheit

40

des Sultans der Osmanen als Chalifen anerkennen; aber das war mehr eine Bundesgenossenschaft, als ein Joch. Die Tataren bil­ deten den am weitesten nach Norden vorgeschobenen Vorposten des Islam; sie sperrten das aufstrebende Russentum, das sich immer mehr nach Asien ausbreitete und dessen Herrscher sich bereits als Erben des byzantinischen Kaiserlhrones betrachteten, vom südlichen Meere ab und flankierten den Weg nach Konstantinopel. Aber sonst wußten sie aus ihrem Lande nichts zu machen. In diesem blühenden, gesegneten Küstenlande blieben sie dasselbe schlichte, ein­ fache und kräftige, aber unendlich träge und barbarische Volk, wirt­ schaftlich und geistig unfruchtbar, ohne Sittenverfall, aber auch ohne sittlichen Aufschwung. Die Entwickelung der russischen Groß­ macht und der Niedergang der Türkei besiegelten ihr Schicksal. Durch den Frieden von Kütschük Kainardsche 1774 losgelöst von der alten Verbindung mit der Türkei und äußerlich scheinbar un­ abhängig, war das Tatarenreich nun dem russischen Einfluß wehrlos preisgegeben. In dem Ränkespiel, das der völligen Unterjochung durch die Waffen Rumjanzews vorausging und sie begleitete, erntete Potemkin wohlfeile Lorbeeren und erhielt den Ehrennamen des „Tauriers". Der letzte Chan, zum Verrat an seinem Volk verführt und dann selber verraten, endete in russischem Solde und legte sein Geschick in die Hand Katharinas II. Von Potemkin im Siegeszuge nach Süden geleitet, durch die bekannten unwürdigen Gaukelspiele über den vermeintlichen Wohlstand der armseligen, durch Krieg und Vernachlässigung darniederliegenden Gegenden getäuscht, nahm Katha­ rina persönlich von dem „neuen Rußland" Besitz. Sie selbst rastete am Ende ihres Triumphzuges im Chanpalaste von Baghtschi-Sarai. So endete die Herrlichkeit dieses Barbarenreichs in einem schrillen Mißklang. Man spielte die Posse einer Siegesfanfare an dem Todtenlager eines an Entkräftigung gestorbenen Greises. Denn anders kann man wohl das Tatarenreich in dieser Katastrophe kaum bezeichnen. Leider beging man die Geschmacklosigkeit, die Erinnerung an jene Posse zu verewigen. Der vollkommen einheitliche Eindruck des Chan-Palastes wird nur an einer einzigen Stelle in stilwidriger Weise unterbrochen. Mitten zwischen den orientalischen Gemächern

41

liegt das Boudoir einer Rokokodame, ein seltsames Capriccio von allerhand Nichtigkeiten und niedlichen Luxussachen. Es ist das Zimmer, das Katharina II. damals bewohnt hat. Man könnte es mit Interesse betrachten, wenn es nicht hier, sondern etwa in der Ermitage von Zarskoje Selo läge. So aber wirkt es inmitten der Erinnerungen an den Glanz und die Macht des Tatarenreichs als eine ausdringliche Verletzung des guten Geschmackes.

Ehemaliger Palast der Tartaren-Chane in Baghtschi-Sarai.

Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, die Räume des Palastes aufzuzählen oder gar einzeln zu beschreiben. Nur um den allgemeinen Eindruck handelt es sich. Im ganzen wird man in den Zimmern des Chans nicht besondere Reichtümer oder gar Kunst­ schätze suchen dürfen. Aber die Dekoration ist dennoch interessant. Neben bescheidener Freude an bunten Farben und zierlicher, mit­ unter zum Bizarren hinneigender Ornamentik herrscht doch als be­ zeichnender Grundzug eine echt türkische Einfachheit vor, die der

42

bildenden Kunst im Grunde gänzlich fremd gegenübersteht und in der Baukunst über den Grundtypus des Zelts eigentlich nicht hinaus­ gelangt. Daher muß man in dem Palast mehr kulturgeschichtlich als architektonisch Bedeutsames suchen, und außer Teppich- und Deckenmustern findet man wenig künstlerische Motive. Dazu muß man bedenken, daß auch diese Ausschmückung schwerlich von tatari­ scher Hand herrührt. Aber die fremden Meister haben sich ganz und gar dem nationalen Geschmack angepaßt, und deshalb liegt doch in dem Ganzen so viel Eigenart, daß die Phantasie den Beschauer ganz in vergangene Zeiten zurückversetzt, als noch Leben in diesen Räumen herrschte. Man spürt deutlich darin das Menschliche und Besondere. In dem Audienzzimmer, durch das wir geführt werden, sehen wir im Geiste den Chan seines Herrscheramtes walten, mit­ unter wohl „auf besondere Weise". In dem zierlichen Barbierzimmer mag sich wohl manche Intrigue mit Hilfe des getreuen Figaro ab­ gesponnen haben; denn im Orient ist der Mann, der sogar das Messer an das allerhöchste Haupt setzen darf, der erste Ver­ trauensmann. Wohlverstanden, ich sage: das allerhöchste Haupt, nicht den allerhöchsten Hals. Die vornehmen Tataren rasierten nämlich, wie es die Kasanischen Tataren noch heute thun, nicht den Bart, — der ist nach alttürkischer Anschauung heilig, obwohl sich die Tataren reinen Bluts nicht gerade durch Schönheit des Bartwuchses aus­ zeichnen, — sondern das Haupthaar. Sie ersetzen den natürlichen Schmuck des Hauptes durch eine runde Kappe, über die dann die Lammfellmütze gezogen wird. Bei den Krimtataren, die zum großen Teil mit dem Fez die osmanische Mode angenommen baben, habe ich jetzt die geschilderte Tracht nur noch selten gesehen. Auch solche, die nicht den Fez tragen, ziehen die gewöhnliche tatarische Lammsellmütze einfach über das kurzgeschorene Haar. Ich glaubte dem Leser diese Erläuterung schuldig zu fein, da er sich doch gewiß Seine Majestät den Chan der Tataren bisher mit wallender Männerzier und würdevoll den Bart streichend vor­ gestellt hat, die Erwähnung eines Barbierzimmers aber geeignet ist, diese wohlberechtigte und sogar zutreffende Vorstellung ernstlich zu

43 erschüttern.

Ich kann es aber unmöglich verantworten, daß meine

Leser mit einem rasierten Chan eine falsche Vorstellung verbinden. Bei einem Rnndgang durch den Palast erfahren wir aber auch noch etwas von einer andern Seite der Regierungsthätigkeit des Chans, und es ist geradezu Pflicht, das zu erwähnen; sonst müssen ja die Leser den Eindruck gewinnen, der Chan habe bloß Audienzen erteilt und sich rasieren lassen.

Nein, sein Geist schwebte auch über

den Gerichtsverhandlungen. Seine Leiblichkeit war dabei vollkommen Nebensache.

Diese rätselhaft scheinende Wirkung wurde durch eine

sehr einfache, für den Chan sehr bequeme und praktische, für den amtierenden Kadi recht unbequeme, aber eben darum vielleicht erst recht praktische Einrichtung erreicht.

Im Gerichtszimmer im Erd­

geschoß des Palastes befindet sich nämlich eine beichtstuhlähnliche, vergitterte Loge, die mit den Gemächern des Chans in Verbindung steht.

Niemand wußte also, ob der Chan zugegen war oder nicht.

Der Kadi glaubte vielleicht sicher, daß der hohe Herr sich soeben höchst persönlich davon überzeugte, mit welcher salomonischen Weis­ heit sein getreuer Knecht, der Kadi, den verzwickten Fall erledigte und das schwierige Werk mit einer dem Delinquenten zu verabreichen­ den Bastonade krönte.

Und dabei schäkerte der höchste Schirm der

Gerechtigkeit im demselben Augenblick vielleicht im Harem mit der braunen Fatime oder der glutäugigen Suleika.

Und noch wirkungs­

voller gestaltete sich wohl der entgegengesetzte Fall, wenn der sicher abwesend geglaubte Chan dennoch der unerwartete Ohrenzcuge eines juristischen faux pas wurde und seine wohllöbliche Justiz in der Anwandlung einer schwachen Stunde sah.

Dabei durfte er freilich

nicht der störenden Wirkung eines heftigen Katarrhs ausgesetzt sein. Denn man denke sich die feierliche Handlung des Gerichts plötzlich durch einen kräftigen Nieser hinter der Szene unterbrochen! Hier in der Nachbarschaft des

Gerichtszimmers wird

auch

das Gemach gezeigt, in dem die sagenhafte Gräfin Maria Potocka ihr Leben in der Gefangenschaft des Chans Mengli Girei vertrauert haben soll.

Die Familiengeschichte des berühmten polnischen Ge­

schlechts weiß eine wirkliche Gräfin Potocka, die in tatarische Ge­ fangenschaft geraten wäre, nicht nachzuweisen. Wenn hier eine euro-

44 pLische Dame gehaust hat, der man diesen Namen gab, so war sie wohl eher eine Abenteurerin, als das standhafte unglückliche Weib, von dem die Ueberlieferung wissen will, daß es ungerührt von den glühenden Bewerbungen des Chans nur um den Jugendgeliebten geweint habe, bis ihr das Herz brach.

Da wird in diesem Teil des

Gartens noch heute ein zierlicher Brunnen gezeigt, der das Wasser de? Springquells, durch Röhren in fein sickernde Strahlen zerteilt, nach der phantasievollen Redeweise des Orients „wie Thränen" hervorquellen

Der Garten des Harems im Chanpalast zu Baghtschi-Sarai.

läßt. Die Phantasie des Abendländers sucht in diesem kühnen Bilde eine andre, mehr persönlich gefärbte, das Gemüt berührende Beziehung, und so spann die Sage die romantische Erzählung weiter, wie die unglückliche Gräfin jeden Tag zur „Quelle der Thränen" gewandert sei, um ihr verlorenes Glück zu beweinen.

So sei sie zu des Chans

tiefem Schmerze gestorben, ihrer Liebe bis in den Tod getreu.

So

sehr man auch die Form bewundern mag, die Puschkin dieser an­ sprechenden Sage in seiner tief empfundenen Dichtung gegeben hat, so kann man ehrlicherweise nicht umhin zu gestehen, daß diese mit

45 echt abendländischer Empfindung gesättigte Sage hier an Ort und Stelle etwas aus

dem Rahmen herausfällt.

Es klingt vielleicht

paradox, wird aber, meine ich, verständlich sein, wenn ich sage, daß die jetzt so nüchternen und öden Gemächer des Harem mit ihrem Bade und dem abgeschlossenen Garten, von denen gar keine Geschichte erzählt wird, ein trotz allem stimmungsreicheres Bild geben, weil hier das Walten des genius loci ohne störende Nebeneindrücke aus einer fremden Welt zu erkennen ist. Gesamtanlage und Umgebung des in Gärten eingeschossenen Palastes darf hier auch nicht übersehen werden.

Die Stadt Bagh-

tschi-Sarai bietet die rechte Staffage für das eigenartige Bild des Chan-Palastes. Sie ist ganz und gar nicht europäisch angekränkelt, 3 sondern ein echter Tatarenort geblieben bis auf den heutigen Tag. In dem von kahlen Felsen eingeschlossenen Thalgrunde eines Neben­ flüßchens der Katscha liegt der Ort eingebettet mit seinen engen, winkligen Gassen, niedrigen Häusern, schlank aufragenden Minarets und freundlichen Gärten, — von der Bahnstation, dem nächsten Schauplatz europäischen Lebens, durch einen den gegenseitigen Aus­ blick verdeckenden Hügel getrennt.

Bis in alle Einzelheiten ist der

Charakter der Stadt orientalisch.

Nach der Straße hin gewähren

die Häuser, in denen Kaufleute und Handwerker wohnen, den An­ blick von Jahrmarktsbuden.

Werkstatt und Laden fällt zusammen;

dieser Teil des Lebens spielt sich, so zu sagen, auf der Straße ab, von der sich dagegen das häusliche Leben ganz und gar zurückzieht. Die Wohnräume öffnen ihre Fenster nach dem Hofe; Gitterfenstcr und Schleier entziehen dem Fremden unerbittlich den Anblick der holderen Hälfte des Menschengeschlechts.

Hier kann man ganz und

gar moslemisches Leben sehen; heulende Derwische treiben ihr Wesen, und die Muezzin rufen zum Gebet. Und wenn mau nun in diesem Bannkreis üach Spuren andrer Kultur- und Religionsformen sucht, so ist es nicht das Christentum, das

uns

da

entgegentritt,

sondern das

karaitische

Judentum.

Wenige Werst östlich von Baghtschi-Sarai liegt die sonderbare Stadt Dschufut-Kale d. h. Judenfeste.

Oder soll man sie vielmehr

eine „verwunschene" Stadt nennen?

Versucht ist man dazu; denn

46 sie ist von ihren Bewohnern so gut wie vollständig verlassen; es Hausen dort nur einige Wächter und der Rabbi der Synagoge mit seinem Hausstand.

Ganz verödet liegt die Stadt da, und man

würde sie eine völlige Ruinenstadt nennen können, wenn nicht der größte Teil der Häuser von solcher Art wäre, daß sie nicht in Trümmer fallen können.

Die Straßen sind nämlich in den Fels

hineingehauen, und in die Felswände wiederum die halb unterirdischen

Dschufut-Kale.

Räume, die als Wohnungen dienen und die Stelle der Häuser ver­ treten.

So ist ein großer Teil der Stadt selbst ein Bestandteil

ihres eigenen Grundes und Bodens, des steil aus dem Thal auf­ steigenden Bergkegels, der nur durch einen schmalen Sattel im Süd­ osten mit den umgebenden Bergen zusammenhängt. Die Thalschlucht, die südlich von der Feste bis zu diesem Sattel hinanführt, das „Thal Josaphat", endet an dem Begrübnisplatz der alten Karaitengemeinde, die in Dschufut-Kale einst ihren Wohnsitz hatte und noch heute einen weithin verehrten Mittelpunkt ihres Kultus besitzt.

47

Die jüdischen Gemeinden in der Krim sind uralt und standen zu allen Zeiten in hohem Ansehen. Es ist vielleicht durchaus nicht von der Hand zu weisen, daß die ersten Anfänge dieser Gemeinden schon auf die Zeit zurückgehen, als die Juden sich nach der Rückkehr aus dem Exil im ganzen Orient und später in den verschiedenen hellenistischen Reichen auszubreiten begannen, — also auf zwei bis drei Jahrhunderte vor Christi Geburt. Von der Gemeinde von Dschufut-Kale behauptet die Überlieferung der Karaiten, daß sie ein Alter von über zweitausend Jahren habe. Wie das vielleicht zu verstehen ist, habe ich angedeutet: im buchstäblichen Sinne ist es natürlich nicht richtig. Die Karaiten in ihrer jetzigen Organi­ sation sind ja eine vergleichsweise junge Sekte; als Karaitengemeinde ist also Dschufut-Kale nicht gar so sehr alt. Auch hier muß man der orientalischen Phantasie etwas zu gute halten, die uns auch sonst hier mancherlei zumutet. Da wird uns z. B. ein in den Felsen gehauener, unterirdischer Raum gezeigt, der eine Gerichtshalle gewesen sein soll. Da sind eigentümliche Steinsitze an den Wänden, an einzelnen Stellen halb ausgehöhlt, mit Nischen und Ringen an der Wand. Dort sollen die Verbrecher gefesselt und gefoltert worden sein. Ein etwas skeptisch angelegter Besucher wird aber alsbald erkennen, daß die schauerliche Richtstütte weiter nichts ist, als ein ganz harmloser ehemaliger Viehstall. Wirklich interessant aber ist die alte Synagoge mit einer ganzen Reihe besonderer Erinnerungen, und wundervoll sind die mancherlei Ausblicke von der Feste auf das hier kahl und wild erscheinende Felsenchaos des Jailagebirges, aus dem der Tschatyr Dagh stolz hervorragt. Und damit auch hier wie in Baghtschi-Sarai die Romantik zu ihrem Recht kommt, sei auch das Schicksal der unglücklichen Tataren­ prinzessin erwähnt, an deren tragisches Ende wir durch ein Grab­ denkmal an jäh abfallender Felsenklippe erinnert werden. Hier soll sich die Tochter des Chans Tochtamysch hinabgestürzt haben, um einem verabscheuten Ehebunde zu entgehen. Das ist — im Gegen­ satz zu der Geschichte der Maria Potocka — sicherlich eine echt tatarische Überlieferung. Denn man begegnet derselben Sage, verschieden aus-

48 geschmückt, an verschiedenen Stellen, aber immer aus tatarischem Boden, §. B. in Kasan und Baku, wo sie hier von dem Jungfern­ turm, dort von dem Sumbekaturm erzählt wird. Doch nun ist es Zeit, daß wir aus der Welt des Morgenlandes wieder heraustreten in den frischeren Luftzug europäischen Lebens. Es scheint fast, als werde er bald genug auch kräftig in die tatarische Welt hineinwehen. Eine hübsche Probe davon gewann ich auf der Fahrt von Baghtschi-Sarai nach Sewastopol. Da stieg auch ein junger Tatar ein mit zwei jungen Mädchen, wie es schien, seinen Schwestern. Tief verhüllt und scheu drückten sich die beiden jungen Damen vor den neugierigen Augen der Ungläubigen in die Ecke. Bald setzte sich der Zug in Bewegung, und hinter den Hügel­ reihen im Osten war bald für die Reisenden die Spur der fremd­ artigen Welt verschwunden, die sich dahinter verbirgt. Man war wieder ganz in Europa. Da lüfteten sich plötzlich die Schleier der beiden Damen: ein Paar niedliche dunkeläugige Köpfe kamen zum Vorschein; die Zungen setzten sich in Bewegung und wagten, wie es schien, ein paar fröhliche Scherze, und — weg flogen die Schleier, die Schmetterlinge lösten sich aus der Verpuppung und standen da als ein paar muntere, eben aus der Pension entlassene, urvergnügte Fräulein, die sich gar nicht mehr fürchteten, sondern unbefangen unterhielten, auch augenscheinlich wußten, daß sie hübsch waren, und gewiß an alles Mögliche dachten, nur nicht an den Propheten und sein Gesetz. Und so wurde für alle Mitreisenden auf die freundlichste und anmutigste Weise der Übergang hergestellt von der vergangenen asiatischen Herrlichkeit der alten Tatarenstadt zu den lebendigen europäischen Eindrücken der modernen Hafenstadt Sewastopol.

5. Sewastopol. Als Kaiser Nikolaus II. im Herbst 1898 Sewastopol besuchte, gab er in sehr warm gehaltenen Tagesbefehlen seiner Genugthuung Ausdruck, daß die Stadt, der Hasen und die Schwarz-Meer-Flotte

49 in kurzer Zeit einen so gewaltigen Aufschwung genommen habe. Man kann es dem russischen Herrscher nachfühlen, daß er über die groß­ artigen Ergebnisse einer Arbeit von nur einem Jahrzehnt eine be­ sondere, stolze Freude empfand. Sewastopol ist wieder eine Stadt der Gegenwart und der Zukunft geworden. Bisher gehörte es nur der Vergangenheit an; es war eine Stätte der Erinnerungen. Ein Zufall fügte es, daß ich im September 1884 gerade am dreißigsten Jahrestage des ersten Erscheinens der Verbündeten vor Sewastopol zum erstenmale auf dem Malachow stand. Ein volles Menschenalter war also schon darüber hingegangen, seit der geniale Totleben hier angesichts des belagernden Feindes jene Befestigungen schuf, durch die es gelang, den Schlüssel des ganzen Hafengebiets fast ein volles Jahr zu verteidigen. Man sollte glauben, eine so lange Zeit müsse alle Spuren jener Kämpfe verwischt haben. Um so mehr wurde man überrascht, wenn man sich überzeugte, wie viel noch von solchen Spuren erhalten war. Da erkannte man noch deutlich, wo der spröde, steinige Boden einst von der Hacke des Pioniers gebrochen war und wo die Vertiefungen später wieder mit loser Erde und Steinen ausgefüllt waren. Auch heute noch ist viel von diesen Spuren erhalten. So zeichnet sich vor dem Beschauer deutlich der Grundriß der ehemaligen Parallelen und Laufgräben auf dem Erd­ boden ab. Wer des Verlaufs der kriegerischen Ereignisse einiger­ maßen kundig ist, kann an Ort und Stelle seine Studien machen, wie auf einer Reliefkarte. Rings umher trägt der aufgewühlte Boden, in Löchern und Trichtern noch die Spuren des Minenkrieges und der Beschießung. Ohne eine Karte zu Hilfe nehmen zu müssen, kann man sich ganz gut die Stellungen der französischen und eng­ lischen Truppen vergegenwärtigen und die Stellen erkennen, wo die französischen Sturmkolonnen am 8. September 1855 zum letzten Sturm gegen den Malachow vorbrachen. Man steht ans dem Boden, wo der letzte verzweifelte Kampf um den Besitz des Kornilowbastions und des kleinen gemauerten Werks entbrannte und wo schließlich die siegreichen Franzosen noch im letzten Augenblick in Gefahr schwebten, in die Luft gesprengt zu werden, wenn nicht die Zündung der Mine versagt hätte. Das Schicksal hatte den Mann, der hier — übrigens v. Massow, Aus Krim und Kaukasus.

4

50 unterrichtet von der durch die Mine drohenden Gefahr — seinen Posten inmitten seiner Truppen heldenhaft behauptete, noch für andere Dinge aufgespart; es war Mac Mahon, der spätere Herzog von Magenta, der „ruhmvolle Besiegte von Reichshofen", der Verwundete von Sedan, der Präsident der französischen Republik. VomMalachow schweift der Blick hinüber über die kahle Hochebene und die niedrigen

Sewastopol, vom Malachow aus gesehen.

Hügel, an denen die letzten Reservetruppen der Franzosen, Engländer und Piemontesen standen;

dort

hat jede dieser Nationen ihren

Gefallenen eine würdige Grabstätte bereitet, deren Denkmäler weit in das Land hineinschauen. Ich erinnere mich noch, wie ich damals bei meinem ersten Besuch mit meinen Reisegefährten in die Betrachtung vertieft, plötzlich hinter mir von einer tiefen, hohlen Grabesstimme die Worte hörte: „Eto wasche kladbischtsche, gospoda!“

(Das ist Ihr Kirchhof, meine

51 Herren!)

Erstaunt und durchaus nicht geneigt, uns hier schon be­

graben zu lassen, wandten wir uns um; es war der alte Wächter des Bastions, der vorher unsere Unterhaltung gehört und das ihm fremde Deutsch für Englisch gehalten hatte.

Er wies dabei auf

die Grabstätte der gefallenen Engländer, die noch heute vom britischen Staat instand gehalten wird.

Der Alte war

ein Veteran des

Krimkrieges und hatte den Malachow mit verteidigen helfen; gern ließen wir ihn seine Erinnerungen auskramen.

Doch man braucht

sich bei einem Besuch des Malachow durchaus nicht ausschließlich in geschichtliche Erinnerungen zu versenken.

Die Hochebene freilich

bietet landschaftlich gar nichts, wohl aber gewährt der Blick auf Stadt und Hafen ein anziehendes Bild.

In früheren Zeiten gab ihm

gerade der Zustand der Zerstörung einen eigenen malerischen Reiz. Noch dreißig Jahre nach dem Krimkrieg lag ein großer Teil der Stadt, das höchstgelegene Viertel auf der Westseite der Südbucht, in Trümmern. Über zerschossenen Mauerresten ragte stolz die PeterPauls-Kirche hervor, die, dem Thcseustempel in Athen nachgebildet und in ihrem antiken Stil gleichsam eine Zeugin untergegangener Herrlichkeit, stimmungsvoll in diese Umgebung hineinpaßte.

Und

ähnlich wares diesseits der Südbucht im Vordergründe des Bildes, das man vom Malachow aus genießt.

Die mächtigen gelblichen

Außenmauern der Kasernen in der Karabelnaja, der Schiffervorstadt starrten da als malerische Trümmer empor: In den öden Fensterhöhlen Wohnt das Grauen, Und des Himmels Wolken schauen Hoch hinein.

Wie ist das jetzt alles anders geworden!

Die Trümmerhaufen

sind weggeräumt; die Kasernen sind wieder aufgebaut und mit schönen roten Dächern versehen und sehen so ordentlich und langweilig aus, daß das Denkmal des Admirals Lasarew, das sich früher gespenstig von dem melancholischen Hintergründe der Kasernentrümmer abhob, jetzt sich förmlich zu schämen und zu verkriechen scheint. Der Malachow selbst trägt seit einigen Jahren an Stelle der schlichten Marmortafel, die dem Besucher Admiral Kornilows Heldentod verkündete, in seinen 4*

52 Anlagen ein stolzes Denkmal, sehr ehrenvoll für das Andenken des braven Offiziers, weniger genußreich für die schauende Nachwelt. In der Stadt sind neue Häuser gebaut, zwischen denen die PeterPauls-Kirche kaum noch hervortritt. von

Alles ist aufgeräumt und zeugt

nüchternem Gewerbfleiß und solider Thätigkeit;

die schnur­

geraden Straßen sind mit Reihen einfacher, hellgetünchter Häuser mit roten und grünen Dächern besetzt, wie es sich für eine ehrbare russische Stadt nun einmal gebührt.

Das ganze Landschaftsbild

Die Peter-Pauls-Kathcdrale in Sewastopol.

ist in dem Grundfarbenton verändert; das eigentümliche Gelb, das in der Abendsonne von rötlichen Lichtern und violetten Schatten so wunderbar belebt wurde und sich so prächtig von der blauen Flut der Hafenbuchten abhob, ist nicht mehr der herrschende Ton; alles ist bunter und lebhafter geworden.

Für beit Kulturmenschen und

Wirtschaftspolitiker, für den Kaufmann und Gewerbetreibenden eine erfreuliche Wahrnehmung!

Diesen freundlichen Eindruck wird be­

sonders der Reisende empfinden, der von der Seeseite kommt und bei der Einfahrt in den Hafen das Panorama der Stadt auf dem

53 ansteigenden Ufer zur Rechten sich entfalten sieht; wirklich einladend grüßt jetzt den ankommenden Fremden die hübsche Anlage des See­ boulevards, die man an der Stelle des alten gesprengten Forts Nikolaus geschaffen hat. Jeder wird der einst schwer geprüften Stadt diesen Aufschwung von Herzen gönnen, aber der Freund örtlicher Eigenart und besonderer Stimmungen in der Landschaft wird in einem Winkel seines Herzens ein leises Bedauern entdecken und nicht unterdrücken können, daß das früher so merkwürdige und einzig­ artige Bild Sewastopols sich dem Alltäglichen und Schablonenhafteu um ein gutes Stück genähert hat.

Die Stadt gehört eben wieder

ganz der Gegenwart; ihr hat sie ein Stück von der Heldenromantik opfern müssen, die ihren einstigen Trümmern innewohnte. Man muß nämlich wissen, daß Sewastopol keineswegs zu den von der Natur begünstigten Stellen der Erde gehört.

Der Berliner

würde sagen: „Gegend" giebt es bei Sewastopol gar nicht.

Die

Lage der Stadt läßt sich auch für den, der sie nicht aus besonderen Karteustudien kennt, leicht beschreiben.

Der sogenannte taurische

Chersonnes im engeren Sinne, die trapezförmige Hochebene, die als Südwestecke der Krim dem Jailagebirge vorgelagert ist, wird von dem nördlichen Festlande durch eine fjordähnliche, weit in das Land hineinreichende, von Westen nach Osten gerichtete Bucht abgetrennt, an deren östlicher Spitze unweit der Höhlenwohnungen und Ruinen von Jnkerman das Flüßchen Tschernaja mündet.

Der Nordrand

der Hochebene ist durch Schluchten zerrissen, und jede Mündung einer solchen Schlucht gibt dem Meer Gelegenheit, mit seinen Fluten an dieser Stelle mehr oder weniger tief in das Land einzudringen. So zweigen sich von der großen Bucht nach Süden wieder ver­ schiedene kleinere ab, die Quarantänebucht, die Artilleriebucht, die Südbucht, die Kielbucht.

Die vorletzte der hier genannten schneidet

am tiefsten in das Land ein;

sie ist der sogenannte kleine Hafen

von Sewastopol, während die große Bucht die Reede bildet.

Zu

beiden Seiten der Südbucht liegt Sewastopol, im Westen die eigentliche Stadt, im Osten die Karabelnaja d. h. Schiffstadt. Sie nimmt den nach den Buchten zu abfallenden Teil der Hochfläche vom Chersonnes mit den zugehörigen Schluchten ein. Man wird sich vorzustellen vermögen,

54 daß das Bild der Stadt vom Wasser aus gesehen ein sehr schönes sein kann, obgleich die angrenzende Hochebene selbst kahl und voll­ kommen reizlos ist.

Entscheidend für den malerischen Eindruck der

Stadt ist natürlich die Art, wie sich die Bebauung den Formen der Abhänge und Schluchten anpaßt, und so wird es begreiflich erscheinen, wie Sewastopol in Trümmern ein stolzer und eindrucks­ voller Anblick war, das heutige Sewastopol dagegen in dieser Be­ ziehung trotz erkennbaren Aufblühens viel verloren hat. Mit Ausnahme weniger Anlagen, von denen sich nur der SeeBoulevard über den Zustand der Dürftigkeit erhebt, zeigt der ganze Bereich der Stadt so gut wie gar keinen Baumwuchs; Staub und Hitze machen sich daher besonders unangenehm bemerkbar. man

wird

dafür

entschädigt

durch

Aber

das bunte Leben das am

Hafen herrscht. Sewastopol ist wieder der Kriegshafen der russischen Schwarz-Mcer-Flotte. Erst in den achtziger Jahren wurde mit dem Bau neuer Hafenanlagen, Docks, Kasernen und Verwaltungsgebäude begonnenem einem Jahrzehnt wurde auch die neue Flotte wieder­ hergestellt.

Es ist aber doch fraglich, ob hierin auf die Dauer

Sewastopols Bedeutung liegen wird. vorläufig genützt worden.

Der Stadt ist damit offenbar

Ihr Wiederaufbau ist beschleunigt, ihr

Gewerbfleiß gehoben, ihr Hafen verbessert und in seinen Vorzügen wieder zur Geltung gebracht worden. Und so könnte Sewastopol auch wieder ein bedeutender Handelsplatz werden.

Aber dauernde Kriegs­

flottenstation wird es wohl nicht bleiben können, und man hat daher mit Recht davon Abstand genommen, allzu umfangreiche und kost­ spielige Befestigungen anzulegen.

So wertvoll der Hafen ist, so

sicher und leicht zu verteidigen er auch dem Laien erscheinen mag, den heutigen weittragenden Geschützen gegenüber wäre er doch nicht lange zu halten.

Man brauchte sich heutzutage nicht mehr die

Mühe zu geben, den Hafen durch eine langwierige Belagerung zu gewinnen; für die heutigen Kriegsmittel hat Sewastopol eine dem Angriff viel zu sehr ausgesetzte Lage.

Als Kriegshafen muß ihm

daher Nikolajew sehr bald den Rang ablaufen. Wie sehr sich im Wandel der Zeiten die Bedürfnisse geändert haben, nach denen der Begriff eines guten Hafens bestimmt wird,

dafür bietet die Umgebung von Sewastopol selbst ein Beispiel.

Man

sollte meinen, die jetzige Lage der Stadt an der Südbucht müsse den Ansiedlern stets als die günstigste für einen Hafen erschienen sein.

Die alten Griechen waren anderer Ansicht; ihre Kolonie lag

westlich vom heutigen Sewastopol am offenen Meer, unmittelbar am Eingang der großen Bucht.

Es war die alte dorische Pflanzstadt

Heraklea Chersonnesus, die später zur Zeit der byzantinischen Kaiser kurzweg Cherson genannt wurde und nicht mit dem heutigen Cherson an der Dnieprmündung zu verwechseln ist.

Im zehnten Jahrhundert

wurde das taurische Cherson der Schauplatz einer denkwürdigen Begebenheit.

Hier wurde Großfürst Wladimir von Kiew, der Ur­

enkel Ruriks, getauft und übernahm die Verpflichtung, in Rußland endgültig das Christentum einzuführen; Kaiser Basilius II. führte ihm hier seine Schwester Anna als Braut zu.

In Cherson wurde

also eigentlich die Einführung des Christentums in Rußland voll­ zogen;

der russische Herrscher wurde zum erstenmal als gleich­

berechtigter Fürst anerkannt und verschwägerte sich zum erstenmal mit dem byzantinischen Kaiserhause und einer westeuropäischen Dynastie. Denn die Schwester jener Anna, Theophano, war die Gemahlin des Deutschen Königs und römischen Kaisers Ottos II. Die ueunhundertjährige Gedenkfeier der Taufe des heiligen Wladimir wurde im Jahre 1888 durch die Einweihung der prächtigen Kathedrale be­ gangen, die an dieser Stelle errichtet worden ist, ein gewaltiges Wahrzeichen, das schon aus weiter Ferne den Eingang in die Bucht von Sewastopol bezeichnet. Die Kirche ist so gebaut, daß die Ver­ tiefung im Erdboden, in der nach der Überlieferung die Taufe voll­ zogen worden sein soll, mit den Resten der alten Kapelle in der Krypta des großartigen Neubaues liegt, der in Form und Aus­ stattung an die Moskauer Erlöserkirche erinnert.

Das Kloster, in

dessen Bereich die neue Kathedrale liegt, ist der einzige ältere Bau, der den völligen Verfall von Cherson überdauert hat. Die erst in neuerer Zeit wieder einigermaßen freigelegten Trümmcrreste lassen aber immer noch ahnen, welche blühende Stadt dieses verschwundene Cherson einst gewesen ist.

Noch findet man die Spuren prächtiger

Mosaikfußböden, Säulen u. dergl.

Die Gegenstände von Wert hat

56 man in einem Raum des Klosters untergebracht und diesen so zu einer Art von Altertumsmuseum gestaltet.

Da findet sich auch noch

manche recht gut erhaltene Inschrift, die von den Schicksalen und Zuständen der Stadt im Altertum erzählt.

Eine solche Inschrift

z. B. berichtet von einer Gesandtschaft des Bürgers Dionysius von Heraklea; sie führt den Leser zurück in die Wirren der wilden Diadochenzeit; ein Edikt des Kaisers Hadrian zeugt von dem Glanz, dessen sich die Stadt noch in späterer Zeit erfreute.

Im Mittel­

alter kam dann die Zeit der Verwüstung und des vollständigen Ver­ schwindens bis aus wenige Mauerreste, die äußerlich sichtbar blieben. „Ihre Stätte kennet sie nicht mehr", so konnte man noch bis vor gar nicht langer Zeit von Cherson sagen.

Auch als die Russen nach

Besitznahme der Krim im Jahre 1784 die Anlegung eines Kriegs­ hafens dort beschlossen, erinnerte man sich nicht einmal mehr des Namens.

Als man nach der damaligen antikisierenden Mode für

das zur Stadt ausgebaute Tatarendorf Achtiar an 'der Südbucht einen Namen aus dem klassischen Altertum suchte, dachte man gar nicht an Cherson, auch nicht an Eupatoria, den Namen eines früheren, von dem großen Mithridates Eupator von Pontus angelegten Forts dicht bei Cherson, sondern man nannte die neue Stadt willkürlich „Sebastopolis", eine Bezeichnung, die früher im Bereich des ost­ römischen Kaisertums ebenso mehrfach wiederkehrte, wie im west­ römischen Reich die Benennung „Augusta". Denn Sebastopolis bedeutet Augustusstadt; sebastos ist die griechische Übersetzung von augustus.

Ebenso willkürlich wurde der Name Eupatoria auf die

Tatarenstadt Gösdewe übertragen, Cherson auf die neue Stadt an der Dnieprmündung.

Auch das alte Odessus lag weit entfernt von

dem neuerbauten Odessa.

Man nahni es mit den schön klingenden

griechischen Namen nicht allzu genau- es genügte, sie überhaupt zum Leben zu erwecken. Das Wladimirkloster ist aber nicht die einzige Stätte in der Umgegend von Sewastopol, an der das Christentum des frühen Mittelalters durch die Zeiten der mohammedanischen Oberherrschaft hindurchgerettet worden ist.

Hier darf vor allem das St. Georgs­

kloster an dem Südrande der Hochebene von Chersonnes nicht un-

57 erwähnt bleiben.

Es galt in alter Zeit als die vornehmste christ­

liche Kultusstätte in der Krim, und zwar deshalb, weil es der Überlieferung nach an der Stelle des angesehensten Heiligtums aus der heidnischen Zeit errichtet worden ist.

Wenn diese Überlieferung

den Thatsachen entspricht, so müßte also hier der altberühmte Tempel der taurischen Artemis gestanden haben.

Mag auch die kritische

Altertumsforschung überlegen den Kopf schütteln zu den Bildern, welche die Phantasie aus diesem Gedanken hervorzaubert; wir freuen uns doch der lebensvollen Kraft der Volkssage, die so häufig ihre Gestalten nicht in einem nebelhaften Irgendwo hausen läßt, sondern sie an bestimmte Örtlichkeiten zu bannen versteht. So können wir getrost der zweifelnden Kritik Schweigen gebieten, wenn sie uns hindern will, diese ehrwürdige, stimmungsvolle Stätte mit Iphigeniens Walten in Verbindung zu bringen, hier den Hain zu suchen, wo sie ihrer Göttin dienend die Barbaren an mildere Sitten gewöhnte und in seinem Schatten dem Rauschen des Meeres da unten lauschte, dessen Brandung das Schiff Orests an die unterhöhlte, klüftereiche Felsenküste führte. Ein weiter Weg, den die Gedanken zurückeilen — aus der ersten kriegerischen Glanzzeit des zweiten französischen Kaiserreichs bis in die Sagenwelt, die von den furchtbaren Schicksalen des Tantalidengeschlechts erzählt! Damit mag zugleich von Sewastopol Abschied genommen sein; das Schiff, das uns um das Vorgebirge des Chersonnes herum noch einmal an dem von steilen Felsenkuliffen eingerahmten Georgs­ kloster vorbeiführt, bringt uns bald an ein neues fernes Ufer, wo noch mächtigere und fremdartigere Eindrücke unser warten.

6. Kutais und Kloster Gelati. Im Museum zu Tiflis fällt unter den Wandgemälden, die die Vorhalle des obern Stockwerkes schmücken, neben der Darstellung des gefesselten Prometheus dem Besucher besonders eins durch seine scharfe

Charakteristik

in

die Augen.

Eine

kraftvolle,

markige

58 Jünglingsgestalt, die etwas wie eine Verheißung von Sieg und Größe auszustrahlen scheint, steht der ernsten, hoheitsvollen Er­ scheinung eines älteren Mannes gegenüber, der ihn mit mißtrauisch fragendem Blick mustert, voller Ahnungen kommenden Unheils und doch mit der entgegenkommenden Güte, die durch die Wahrung der überlieferten Sitte heiligen Gastrechts geboten ist.

Der Jüngling

steht vorn in einem soeben landenden Schiffe, das den Bug den Wellen eines reißenden Stromes entgegenkehrt; der andere ist in seinem Wagen ans Ufer geeilt, die Fremdlinge zu empfangen.

Es

ist die Begrüßung Jasons, des jungen Helden des Argonautenzuges, durch den König Nietes, den Besitzer des goldenen Vließes. Hinter dem König steht Medea, die zaubergewaltige Jungfrau, in Jasons Anblick versunken.

Schon steht sie im Bann der Leidenschaft; das

geheimnisvoll waltende Schicksal entfremdet dem König sein Eigenstes und Bestes und zwingt Medea, des Landes Wunderkraft, in den Dienst des sieghaft einherschreitenden Genius einer neuen Zeit. Der Maler des Bildes, unser Landsmann Franz Simm, hat in dem Kreis der Darstellungen aus der kaukasischen Sage die Argonauten­ sage besonders bevorzugt, obwohl sie ja eigentlich ein echtes Er­ zeugnis griechischen Geistes ist. Aber die Griechen haben den Schau­ platz dieser alten Heldendichtung in das Land Kolchis am Fuß des Kaukasus verlegt, und schon diese Thatsache wirft einen Lichtstrahl auf die Vorzeit des Landes.

Das geheimnisvolle Land gen Sonnen­

aufgang, wo der Sohn des Helios als König herrscht und wohin man nur nach Ueberwindung der Schrecken einer abenteuerlichen Meerfahrt gelangen kann, — die Vorstellung der alten Hellenen suchte es jenseits des Bosporus am Schwarzen Meer.

Man wußte

augenscheinlich schon frühzeitig, daß an der äußersten Ostküste dieses Meeres, das damals noch als das „ungastliche Meer" verschrieen war und im Norden die Wohnsitze barbarischer Skythen bespülte, — daß dort im Schutz ragender Schneeberge in fruchtbarer, geseg­ neter Ebene ein Volk hauste, das sich großen Reichtums und einer ehrwürdigen Kultur erfreute. Die Kunde von Edelmetallen und allerlei Schätzen des Gebirges drang in phantastischer Ausschmückung nach Westen und machte Kolchis zu einem Wunderland, das zwar auf

59 der einen Seite den Griechen so fremd, entlegen und schwer erreich­ bar schien, wie kein anderes, auf der anderen Seite aber mit un­ verkennbarer Ehrfurcht als ein in hoher Blüte stehendes Kulturland geschätzt wurde. Heute ist das alte Kolchis längst dem Weltverkehr und der europäischen Kultur erschlossen, aber es scheint, als ob der Sagen­ zauber einer glänzenden Vorzeit, der schon zur Griechenzeit über dieser Landschaft waltete, noch nicht gewichen ist.

Auch heute noch

tritt die Gegenwart zurück hinter den Spuren einer eigenartigen uralten Kultur, den zum Teil noch rätselhaften Denkmälern einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte.

Von einem Ort, wo die

Natur des Landes und der Geist seiner blühenden Vergangenheit — denn die Gegenwart hat nur Fremdes hineingebracht — die eindringlichste Sprache reden, will ich hier erzählen. Bei einem tüchtigen, alles in Grau hüllenden Gewitterregen hatte ich in Batum die Küste von Transkaukasien betreten und mich sogleich zur Eisenbahn begeben.

Schon während der Fahrt klärte

sich das Wetter allmählich wieder auf, so daß sich die feuchte, fruchtstrotzende Ebene von Gurien in ihrer ganzen bewunderswerten Üppigkeit zeigte. Das saftige Grün eines von Schlinggewächsen durchzogenen, urwaldähnlichen Gestrüpps deckt freilich meist

nur

trügerischen von bösen Fieberdünsten geschwängerten Sumpfboden, und zerstreut liegen darin die Wohnungen der Menschen; wo aber Häuser und Gehöfte sich ausbreiten, da gibt es auch ringsum ein Grünen und Blühen und einen Fruchtsegen, wie man ihn sich nicht reicher wünschen kann. Überall Obstbäume, Weingärten, frucht­ tragende Sträucher und Beete, dazwischen die Blütenpracht der Granatbäume und Oleander.

So erreicht man bald den Haupt­

strom des westlichen Transkaukasien, den Rion, den Phasis der Alten, der hier seine wilde Gebirgsnatur schon völlig abgelegt hat und ganz gesittet in behäbigen, breiten Windungen seinen Lauf zum Meere nimmt.

Wir sind nun schon in Jmeretien, wie das

Kolchis der Griechen von den Grusinern genannt wurde und noch heute genannt wird. Von der Station Rion, wo die Eisenbahnlinie Batum-Tiflis zur Überwindung des Suramgebirgcs in das Thal

GO

des Kwirila einbiegt, führt uns eine kleine Zweigbahn in zwanzig

Gurier.

Minuten nach der kurz vor dem Austritt des Rion in die Ebene wunder­ voll in den Bergen gelegenen alten Hauptstadt des Landes: Kntais.

61

Die Lage der Stadt, wie sie sich in dem sich öffnenden Thal an die Berge schmiegt, kann kaum schöner gedacht werden. Die nähere Betrachtung bringt freilich manche Enttäuschung. Kutais zeigt das europäische und asiatische Wesen in weit innigerer Ver­ schmelzung, als z. B. Tiflis, wo beides doch noch etwas mehr neben­ einander besteht. Daraus ergibt sich auch, daß trotz der bevor­ zugten Lage der Stadt manche Einzelheit unschön und unharmonisch erscheint. Monumentale Gebäude gibt es wenig, sehenswerte Über­ reste des Altertums noch weniger, außer einigen wenigen Kirchen. Die Warenmagazine sind ihrer Art und Anlage nach ganz orientalisch, aber sie liegen in europäischen Häusern; die Straßen sind europäisch schnurgerade, aber asiatisch schmal und unsauber. Erst wenn man aus dem Hauptteil der Stadt heraus an das Ufer des Rion ge­ langt, über dessen tiefeingeschnittenes Bett drei Brücken hinüberführen, entdeckt man auch in den Einzelheiten des Stadtbildes manche Schön­ heit. Da schießt z. B. der Fluß in schäumenden Strudeln an einer Felsenecke vorbei, die ein altes Gemäuer trägt. Dort liegt, von Grün und Blüten eingefaßt und teilweise versteckt, ein Prachtstück byzantinischer Baukunst, die Kirche der römischen Katholiken, ein Bau in sehr einfachen, aber edlen und anmutigen Formen. Die enger gebauten Stadtteile mit anderen alten Kirchen, stille Gärten und Friedhöfe, deren Grün aus altersgrauen Mauern hervorlugt, bilden die nächste Umgebung, steilaufsteigende bewaldete Höhen den Hintergrund. Das betrachtet man am besten vom gegenüber liegenden Ufer des Flusses, namentlich vom Garten der „Ferme" aus. Dort sitzt es sich gut an dem lauschigen Platz unter dem Schatten der alten Steineichen, wo ein frischerer Luftzug weht, als drüben in der heißen, stickigen Stadt. Die Blumen des Gartens, der im Reichtum subtropischer Gewächse prangt, senden ihren wür­ zigen Duft herüber, während das betäubende Konzert der Grillen den Wettstreit führt mit dem Rauschen des Flusses. Als Abschluß des lieblichen Bildes vor uns schimmern in der Ferne in duftigem Violett die Umrisse des Persathi-Gebirges, das mit dem von Suram die Brücke zwischen dem Kaukasus uud dem Hochland von Kars bildet.

62 Im Hochsommer ist Kutais bei solchem Wetter natürlich ent­ setzlich heiß.

Ungefähr auf dem Breitengrade von Rom gelegen —

ein klein wenig nördlicher —, ist es vorwiegend der Mittagssonne ausgesetzt, während im Norden die Zentralkette des Kaukasus mit ihren vorgelagerten Bergketten eine gewaltige Mauer gegen alle rauheren klimatischen Einflüsse bildet. über

niedrige Temperatur

zu

Ich brauchte mich auch nicht

beklagen.

In

Stadt war es am Tage geradezu fürchterlich.

den Straßen der Auch in der Nacht

war von einer nennenswerten Abkühlung nicht die Rede, und man war froh, wenn man nur den notwendigsten Schlaf finden konnte. Mit dem feurigen Jmeretinerwein im Hotel de France konnte man, obwohl er so vortrefflich war, wie man ihn selten trifft, die ewig lechzende Kehle wohl anfeuchten, aber nicht kühlen.

Die einzige ver­

nünftige Erquickung fand ich noch zu später Abendstunde in einer Erfrischungshalle des Stadtgartens.

Dort wurde ich nicht nur als

Durstiger, sondern auch als Deutscher durch die verlockende Inschrift einer Flasche gefesselt, die den Mittelpunkt des Schanktisches zierte. Wahrhaftig, da stand es zu lesen, nicht einmal in lateinischer Schrift, sondern in guter deutscher Fraktur: „Klosterbräu".

Obwohl das

Getränk nicht von deutschem Boden, sondern aus einer Odessaer Brauerei stammte, wurde es doch den Vorstellungen gerecht, die durch diesen Namen in der deutschen Brust geweckt werden; es war nicht nur ein gutgekühlter, sondern überhaupt ein verständiger, recht­ schaffener Tropfen, mit einem Worte: Bier, was man leider nicht von allen Flüssigkeiten sagen kann, die in Rußland unter diesem Namen geboten werden.

Echtes bayrisches Bier vollends gibt es

in Transkaukasien nur in Tiflis, und dort auch nur zu Preisen, die man einem soliden Mittelstandsportemonnaie nicht gern zumutet. Für dasselbe Geld kann man zu Hause „einfach" Sekt trinken. Ein Hauptvergnügen für den Touristen besteht in orientalischen und halborientalischen Städten bekanntlich im Kaufen; denn erstens bilden die Warenbestände der Kaufhäuser, Straßenhändler u. s. w. meist die Hauptsehenswürdigkeit, und zweitens hat das Einkäufen hier gegenüber unserm trockenen, geschäftsmäßigen Ladenverkehr etwas von dem Charakter des Sports an sich.

Man tauscht nicht Waren

63 gegen einen festgesetzten Preis ein: Gott bewahre! Man ringt mit dem Händler um den Besitz der Ware mit allen Fechterkunststücken; man verteidigt die eigene Entschlußfreiheit wie eine Festung nach allen Regeln der Kunst gegen die Versuche des Verkäufers, durch die- unwiderstehliche Kraft der wirklichen und vermeintlichen Eigen­ schaften seiner Ware die Kapitulation zu erzwingen. So ein Kauf­ geschäft wickelt sich daher in hochdramatischer Weise ab. Der Fremde ist schon bei seiner Ankunft im Ort Angriffsobjekt der Händlerwelt und befindet sich in einer Art von Kriegszustand. Es werden sogar Patrouillen vorgeschickt.

Ich war auf der Fahrt von Rion nach

Kutais kaum in den Eisenbahnwagen gestiegen, als in dem Gang des Wagens plötzlich ein zwölf- bis dreizehnjähriger Knabe auf­ tauchte, der mit blitzähnlicher Geschwindigkeit in meinem Abteil Stickereien, Decken, Hüte u. s. w. ausbreitete und die Schleusen einer phänomenalen

Beredsamkeit

öffnete.

fänger, aber ein hoffnungsvoller.

Der Junge war

ein An­

Ich kam noch leidlich mit dem

Erstehen eines Kaukasierhutes davon und schlug glücklich weitere Angriffe ab, doch konnte ich mich nicht enthalten, nach der Natio­ nalität des kleinen Freischärlers zu fragen. „Bist Du ein Grusiner?" „Nein, Herr!" „Ein Tatar?" „Nein, Herr!" Diesmal

war

die Antwort

von

einem

mitleidig-spöttischen

Lächeln begleitet, in dem deutlich zu lesen stand: „Dumme Frage! Verstehst Du denn

mein

großartiges

Handelstalent

nicht

zu

würdigen?" „Nun, was bist Du denn?" „Hebräer!" Ach so! na ja!

In diesem Augenblick erschien der Schaffner

und setzte das Kind Israel mitsamt seinen Herrlichkeiten an die Luft, das heißt, er packte ihn beim Kragen und brachte ihn in den nächsten Wagen, von wo er freundlich grüßend nach zwei Minuten wieder bei mir erschien: Ob ich denn wirklich gar nichts mehr kaufen wolle! Da hielt der Zug in Kutais, und ich entzog mich weiteren Angriffen

64

durch die Flucht in eine Droschke. Im Hebräerviertel aber war ich nun signalisiert. Dort führte mich der Weg hindurch, als ich nach Kloster Gclati fuhr. Man sehnt sich aus dem Staub der Straßen hinaus in die wundervolle Umgebung, und außerdem gehört ein Besuch des Klosters nun einmal notwendig zu einem Aufenthalt in Kutais. Im Hebräer­ viertel ging es hoch her; es war Feiertag, und alles bewegte sich

Kutais.

in Feierkleidern aus den Straßen, in den Synagogen und auf den Galerien der Häuser. Kaum konnte man auf der schmalen Fahr­ straße an einzelnen Stellen durch die Menge hindurch. Bei der Wendung um eine Felsecke hat man in sanfter Steigung das letzte Haus erreicht, und nun geht es am hohen und steilen linken Ufer des Rion weiter in die Berge hinein. Zurückblickend hat man den herrlichen Blick auf Kutais, den Garten der Ferme und die Höhe, auf der die Trümmer einer alten grusinischen Festung liegen. Vom Rande der Straße geht es steil hinunter zum Rion, der unten in

65 Zahllosen ineinander laufenden Rinnen sich über das breite Fluß­ bett ausdehnt und seine weißgrauen, schäuinenden Wellen über das Steingeröll wälzt.

Dann verlassen wir das Thal, nachdem uns

eine Brücke über einen Zufluß des Rion geführt und die Straße in etwas halsbrecherischer Windung einen Bergrücken erstiegen hat. Bald öffnet sich vor uns das freundliche Thal des „Roten Flusses" (grusinisch: Zchal-Ziteli), an dessen jenseitigem Rand hoch oben auf stolzer Bergwarte das Kloster Gelati sichtbar wird.

Der weitere

Weg dorthin bietet noch manchen schönen Ausblick, auf die Gärten und Felder unten beim Dorfe Gelati, auf das romantische Wald­ thal des Flüßchens weiter auswärts, aus das malerisch in einer Seitenschlucht gelegene Nachbarkloster Mozamethi und endlich auf das Thal, in dem die Bahn nach Tkwibuli, deren Geleise wir kreuzen, allmählich zu ihrem Endpunkt emporklimmt, dem einzigen größeren Kohlenbergwerk im Kaukasus.

Von einer Ehrengarde von Jungen

aus dem Dorf Gelati geleitet, deren Vertrauen ich dadurch gewonnen hatte, daß ich ihnen einen Korb voll Feigen gegen die wahrhaft fürstliche Spende von drei Kopeken (gleich 7 Pfennige) abnahm, langte ich vor der Klosterpforte an.

Während mein Wagen langsam

der in Kehren aufsteigenden Straße folgte, kletterten die Jungen den steilen Richtweg empor und waren richtig an der Klosterpforte zur Stelle, um Spalier zu bilden. Durch ein düsteres Thor in dem alten Gemäuer tritt man auf den geräumigen, grasbewachsenen Hof, um den herum sich die alten Kirchen und die wenigen bescheidenen und fast baufälligen Be­ hausungen der Mönche und der Dienerschaft des Klosters gruppieren. Die Kirchen sind in dem allgemein in Georgien und Armenien üb­ lichen Stil erbaut. Der Grundriß zeigt die Form eines griechischen Kreuzes; ein sehr einfacher, aber zierlicher Rundbogenstil kennzeichnet die in edlen Proportionen aufgeführten Bauten; die Stelle der sonst meist in Verbindung mit diesem Stil auftretenden Kuppelform über den Türmen vertritt ein spitzes Dach in Form eines Kegels oder einer achtseitigen Pyramide je nach dem Grundriß des Turms. Diese Bauart paßt mit ihrer schlichten Anmut vortrefflich in die großartige landschaftliche Umgebung hinein; die verschnörkelte Weiterv. M a s s o w, Aus Krim und Kaukasus.

5

66

Bübung der byzantinischen Kirchenbaukunst, wie sie sich in Rußland entwickelt hat, mit ihren Kuppeln und Zwiebelformen, ihrer reicheren und willkürlicheren Ornamentik nnd ihrer überladenen Formenfülle und Buntheit würde hier weniger harmonisch und häufig geradezu störend wirken. Über verwitterte Steinstufen führt mich der Pförtner in die kleinere Kirche, in deren düsterem, kellerartigem Vorraum das Grab Davids des Erneuerers gezeigt wird. Dieser David, der

Kloster Gelati.

Gründer des Klosters, des berühmtesten Heiligtums im westlichen Georgien, war ein grusinischer König ans dem altberühmten Ge­ schlecht der Bagratiden, das seinen Ursprung vom biblischen König Salomo ableitet. Am Ende des 11. Jahrhunderts befreite und erneuerte er das zerrüttete, zerteilte und unterjochte Reich seiner Väter, indem er die Seldschukken daraus vertrieb und seine Grenzen erweiterte. Neben dem Steinsarkophag des Königs lehnen noch heute an der Wand ein Paar mächtige, eiserne, von Rost zerfressene

67 Thorflügel, die mit teilweise noch gut erhaltenen arabischen Schrift­ zeichen bedeckt sind.

Sie stammen aus der Stadt Göndscha (heute

Jelisawetpol), die König David den Persern abgewann.

Die über­

lieferte Sage hält dieses Thor für den Rest des im Mittelalter hochberühmten Thores von Derbent, wo die uralte Heerstraße am Kaspischen Meer durch die kaukasische Mauer hindurchführte. Inzwischen hatte der Pförtner einen Mönch herbeigerufen, der mir nun die große Hauptkirche öffnete.

Ein wundervoller Raum

in gedämpftem Licht, nicht so gedrückt, wie die meisten alten russischen Kirchen, sondern in hoher, freier Wölbung. Jede Stelle der Wände ist mit merkwürdigen Malereien ausgefüllt; den Raum über dem Hochaltar schmückt ein uraltes Mosaikbild.

Die edelsteinbesäeten

Heiligenbilder des Ikonostas (der Bilderwand) zeugen von dem alten Reichtum der Kirche. des Königs David

An der nördlichen Wand sehen wir die Bilder

III.

des Erneuerers, Bagrats

Nachfolger in wohlerhaltenen Fresken.

III.

und anderer

Am meisten fesselten meine

Aufmerksamkeit die Darstellungen aus der Leidensgeschichte Christi an der westlichen Wand gegenüber dem Hochaltar.

Die Auffassung ist

derb und naiv: da sitzt Pontius Pilatus als persischer Satrap ge­ kleidet und hält Gericht; auf dem Bilde, das die Verleugnung Christi durch Petrus darstellt, ist der krähende Hahn beinahe die Haupt­ figur, und neben die Szene der Gefangennahme in Gethsemane ist unmittelbar nach Art

der Jahrmarktsbilder der Selbstmord des

Judas Jscharioth gestellt.

Aber so kindlich und fratzenhaft die

Darstellung ist, so sehr überrascht zugleich der schlichte Ausdruck und die Charakteristik in den einzelnen Gestalten. Unvergeßlich wird mir bei dem Besuch dieser Kirche die ehr­ würdige Erscheinung des mich führenden Mönchs bleiben.

Ich sehe

noch seine hohe Gestalt, den prächtigen Charakterkopf mit dem hageren Gesicht und dem zum Gürtel herniederwallenden grauen Bart; so stand er mit der stolzen Würde in der Haltung, wie man sie so häufig bei dem Grusiner findet, und dabei doch in andächtiger Demut an das Pult mit den mächtigen Pergamentblättern der alten grusinischen Bibelhandschrift gelehnt, nur von Zeit zu Zeit auf Fragen freundliche Auskunft erteilend.

68

Und nun wieder hinaus aus dem abgeschlossenen Raum stiller Andacht und Sammlung in den weiten Gottestempel da draußen, wo die mit Schnee und Eis bedeckten Felsenaltäre hoch über allem Menschenwerk stehen! Der Pförtner geleitet mich auf die hölzerne Galerie des gegenüberliegenden Gebäudes. Wunderbar ist die Aus­ sicht, die sich dort aufthut. Zur Linken die herrlichen Waldberge, in denen sich der Lauf des Zchal-Ziteli verliert; zu unseren Füßen das reizende Thal, das der Fluß durchströmt. Und weiter hinter dem schmalen Bergjoch breitet sich die weite Ebene des alten Kolchis, das heutige Jmeretien und das südliche Mingrelien aus, sich in dunkelblauer Ferne verlierend, so daß uns nur die scharfgezogene gerade Linie am Horizont sagt, daß wir wirklich das Meer sehen. Daneben erhebt sich, uns gegenüber und zur Rechten, die wuchtige Masse des Hochgebirges. Über den weichen Formen der Waldberge die zackigen, rötlich-gelben Felsenmassen der Radtscha und der Berge von Swanetien, diese wieder überragt von der gewaltigen Zentral­ kette. Schon der geringste unter den Schnee- und Eisriesen, die wir da vor uns sehen, der Tetnuld, übertrifft an Höhe um ein Be­ trächtliches den Montblanc; noch höher ragen daneben der Schkara und die vielköpfige Bergmasse des Koschtan Tau, an ihren Abhängen von Wolkenmassen umlagert. Nach Norden hin ist die Luft völlig klar; scharf heben sich hier die Umrisse einer glitzernden Schnee­ pyramide vom Himmel ab. Es ist der südliche Hauptgipfel des Elbrus, die höchste Spitze des ganzen Gebirges. Der Wind treibt vom Meere her Wolken gegen das Gebirge — ein wundervolles Schauspiel, dieses wechselnde Einhüllen und Enthüllen der Berg­ formen, an denen sich die Wolken bald auftürmen, ohne den Gipfel zu erreichen, bald wie Riesengestalten lagern und sich über die Gipfel hinstrecken. Ich mußte an Böcklins Prometheus denken, jene wunderbare Darstellung des an die Felsen des Kaukasus geschmie­ deten Titanen in den Gebilden der Gewitterwolken. Ungern riß ich mich von dem großartigen Panorama los, und immer werden mir die Eindrücke vom Kloster Gelati als herrliche Erinnerung vor der Seele stehen.

69 7. Durch die Radtscha. Wenn mein Nervensystem ähnlich veranlagt wäre, wie das jenes Reiters vom Bodensee in Gustav Schwads bekannter Ballade, so hätte ich eigentlich nach meiner Ankunft in Tiflis zum mindesten in Ohnmacht fallen müssen. Als dort die Rede davon war, daß ich auf der ossetischen Heerstraße das Gebirge überschritten hatte, wurde ich ganz entsetzt angesehen. „Sie sind über den Mamissonpaß gereist?" „Gewiß." „Allein?" „Allein." „Und es ist Ihnen nichts passiert?" „Nein gar nichts, wie Sie sehen!" „Na, dann tonnen Sie aber von Glück sagen." Und nun erfuhr ich denn, daß man sich in Tiflis allerlei schlimme Dinge von der Sicherheit dieser Straße erzählt, daß der deutsche Konsul und der deutsche Pastor in Tiflis Landsleute vor dieser Reise dringend gewarnt hatten. Ich hätte also die schönste Gelegenheit, unter Berufung auf das Urteil der gediegensten Autoritäten den Lesern mit eigens dazu mitgebrachten, selbsterlebten Räubergeschichten aufzuwarten; ich könnte erzählen, wie „La bourse ou la vie“ auf grusinisch heißt, und dann das Weitere wirkungsvoll daran anreihen: Bekanntschaft mit irgend einem kau­ kasischen Schinderhannes, der natürlich im Grunde ein „reizender" Mensch ist, hohes Lösegeld, Brandbrief und Telegramm nach Hause, Flucht unter hochromantischen Umständen u. bergt. Aber ich habe leider den großen Entschluß gefaßt, unter Verzicht auf jede „Sen­ sation" den Spruch zu beherzigen: „Ehrlich währt am längsten", und um ganze Arbeit zu machen und mein Reiseunternehmen in den Augen der Leser jegliches Nimbus zu entkleiden, will ich sogar ge­ stehen, daß ich in einen großen Teil der verbreiteten Erzählungen von dem Räuberunwesen aus guten Gründen meine sehr starken Zweifel setze. Derartige Geschichten lesen sich in den Zeitungen sehr gut und erzeugen eine angenehme Gänsehaut. So wurde vor einiger Zeit von einer Banditin Daniela Barbara allerlei Romantisches erzählt. Sie sollte in Männerkleidern ihr Wesen treiben, mit ihrer Bande die ganzen Kreise westlich von Tiflis unsicher machen und überall bekannt und ob ihrer Kühnheit gefürchtet sein. Ich muß

70 aber zu meiner Schande bekennen, daß ich von ihrer Existenz nicht einmal eine Ahnung gehabt habe, geschweige denn, daß sie mich entführt hätte.

Doch ich will mich lieber nicht zu unvorsichtig aus­

drücken, sonst könnte mich Jemand, der, auf meine Versicherung ver­ trauend, harmlos im Kaukasus umherreist, am Ende noch mit einer Schadenersatzklage beglücken, falls er unglücklicherweise dennoch aus­ gebeutelt wird.

Es ist also wohl besser, ich erkläre meine cum

grano salis zu verstehenden Zweifel etwas näher.

Das General­

gouvernement des Kaukasus bildet ein Gebiet, das dem Flächen­ inhalt nach ungefähr 8/e des Deutschen Reiches umfaßt.

Dieses

Gebiet ist zum größten Teil von einem der gewaltigsten Hoch­ gebirge erfüllt, ist also vielfach sehr unzugänglich und der Zivili­ sation noch wenig erschlossen.

Niemand wird natürlich behaupten

können, daß unter solchen Verhältnissen keine Verbrechen vorkommen. In verschiedenen Teilen des Landes ist auch ein wirkliches Räuberunwesen nicht zu unterdrücken, wo nämlich der Charakter der Be­ völkerung

es besonders begünstigt.

Das ist z. B. der Fall im

Osten tu Daghestan und im Tatarengebiet, ferner im südlichen Transkaukasien und Armenien, wo Kurden oder tatarische Misch­ völker eingestreut sind, auch wohl in einzelnen Gegenden des Suramgebirges.

Dagegen kann es sich im Westen und im Zentralgebirge,

wo grusinische, tscherkessische, ossetische oder rein tatarische Stämme Hausen, namentlich auf den Hauptstraßen des Gebirges höchstens um ganz vereinzelte Verbrechen handeln, und auch diese werden fast nie an fremden Reisenden begangen, sondern gewöhnlich an be­ kannten reichen Einheimischen.

Bei den Raubanfällen spielt über­

dies Habsucht nur zum Teil eine Rolle.

Sie sind vielmehr viel­

fach auf Blutrache, Stammesfeindschaften und dergleichen zurück­ zuführen.

Namentlich die Sucht,

fremden unbeliebten Stämmen

etwas anzuhängen, tritt sehr stark hervor.

Deshalb erzählen die

Grusiner gern Räubergeschichten von den ihnen höchst unsympathi­ schen Osseten, und diese Geschichten werden dann in Tiflis gläubig hingenommen.

Auch die Lust der Kritik an dem russischen Polizei-

regiment, das ja in der That häufig zu wünschen übrig läßt, setzt die orientalische Phantasie häufig in eine nicht ganz einwandfreie

71 Thätigkeit.

Es kommen ja wohl üble Sachen bor; aber man darf

die schwierigen Verhältnisse nicht übersehen.

Es ist ja schließlich

auch bei uns so: Berlin erfreut sich gewiß unter allen Weltstädten der verhältnismäßig größten öffentlichen Sicherheit.

Ich möchte

aber doch niemand raten, allein bei nachtschlafender Zeit in die Verbrecherkeller von Berlin NO. zu gehen; wer Pech haben soll, kann gelegentlich auch in Berlin W. angefallen und beraubt werden. Durch diese Möglichkeit wird sich aber niemand abhalten lassen, ganz sorglos in den Straßen von Berlin zu verkehren. Im Kaukasus hängt auch viel davon ab, wie man der Bevölkerung gegenüber­ tritt.

Die Leute sind unbändig stolz, leidenschaftlich und reizbar,

und der Kinshal sitzt ihnen verwünscht locker in der Scheide; im Streitfall kann man feine 40 Zentimeter Eisen durch den Leib ge­ rannt kriegen, ehe man sich noch auf die Lage recht besinnt.

Aber

die Kaukasier sind auch vornehm, gastfrei und von schlichter Freund­ lichkeit gegen den höflich, rücksichtsvoll, offen und vertrauend mit ihnen verkehrenden Fremdling.

Ihr Stolz ist ihre gefährliche Eigen­

schaft, aber auch diejenige, an die anknüpfend man sie am sichersten für sich gewinnt. Also mein Reiseplan führte mich von Kutais über die ossetische Heerstraße nach Wladikawkas oder vielmehr zunächst Dargkoch. In Kutais hätte ich eigentlich noch umfangreiche Vorbereitungen treffen sollen, aber ich beschränkte sie auf das äußerste Mindestmaß. Meine Bewaffnung war bereits vollständig; sie bestand aus einem Revolver mit zugehöriger Munition und einer Schachtel Insekten­ pulver.

Meine Ausrüstung ergänzte ich durch den Kauf einer

Burka, jenes ärmellosen Mantels der kaukasischen Bergvölker aus starkem, außen rauhhaarigem Filzstoff, in den man sich ganz ein­ hüllen kann. Ich erstand diese Burka nach fast einstündigem Handeln von einem Juden, der mir die Sachen aufs Hotelzimmer brachte. Das war ein förmlich erbitterter Kampf.

Die erste halbe Stunde

verging damit, daß ich ihm klar machte, wie mir an seiner Burka durchaus gar nichts gelegen sei und ich sie ihm nur aus Barm­ herzigkeit abnehmen würde, wenn er sie zu billigem Preis durchaus losschlagen wollte.

Er dagegen versicherte,

daß

er die Burka

72 eigentlich gar nicht verkaufen wolle; nur meinetwegen wolle er sie halb verschenken.

Nach einer weiteren Viertelstunde war der Mann

bereits zweimal wie außer sich mit erhobenen Armen zur Thür hinausgerannt und — wieder hereingekommen; dreimal hatte er seine Sachen zusammengepackt — und wieder ausgepackt, während er vor Aufregung beinah Krämpfe bekam und ich mich in einer Pose der Un­ erbittlichkeit übte, wie sie dem alten Brutus eigen gewesen sein mochte, als seine Söhne zum Schaffott geführt wurden.

Endlich hatte ich

ihm ein Drittel des zuerst vorgeschlagenen Preises abgehandelt und schloß den wilden Auftritt ab, überzeugt, trotz allem bemogelt zu sein und zuviel bezahlt zu haben.

Derartige Sachen gehören auch zum

Leben im Kaukasus. Mundvorrat nahm ich trotz Bädekers menschen­ freundlicher Mahnung nicht mit, abgesehen von einigen Flaschen Jmeretinerwein. Ich wollte einmal versuchen, wie man bei den Berg­ bewohnern lebt und sich ohne die Hilfsmittel der Zivilisation durch das Gebirge schlägt. Die ossetische Heerstraße — so nennt man die fahrbare Straße, die von Kutais über den Mamissonpaß nach Dargkoch führt — war mir als Poststraßc bezeichnet; Bädeker, auf dessen Zuverlässigkeit ich sonst bei Reisen zu schwören pflegte, wie die Pythagoräer auf ihren Meister, behauptete es mit Bestimmtheit, — mein russisches Reisehandbuch breitete über diese Frage einen leichten Schleier, der aber bei einem arglosen Gemüt keinen Zweifel über die Eigenschaft der Heerstraße als Poststraße aufkommen ließ, und die Erkundigungen auf der Posthalterei in Kutais ließen mich in demselben Glauben. Erst unterwegs lernte ich auf dem Wege trüber Erfahrung, daß ich gegenüber allen diesen gewichtigen Zeugnissen doch immer noch nicht mißtrauisch genug gewesen war.

Es stellte sich heraus, daß der

Betrieb mit Postpferden auf der Südseite des Gebirges nur bis zum Städtchen Oni reichte und aus der Nordseite erst wieder bei Gulak begann; dazwischen lagen mehr als 100 Werst!

Es fiel mir wohl

auf, daß der Postmeister in Kutais das Geld für Telega und Post­ pferde durchaus nur bis zur nächsten Station, nicht auf die ganze Strecke nehmen wollte; dieser Poststraße sein.

aber

das konnte ja auch eine Eigenart

73 Ich trat also an einem herrlichen Morgen vergnügt die Reise an.

Wenn ich bei einer Beschreibung der Einzelheiten nicht lange

verweile, so geschieht das nicht, weil der Weg dessen nicht wert ist, sondern weil ich es für unmöglich halte, die Reize dieses wunder­ vollen Gebirgsthals zu zergliedern und die Aufeinanderfolge der Eindrücke der Wirklichkeit entsprechend wiederzugeben.

Die Straße

führt durch die Radtscha, d. h. das Thal des oberen Rion, der hier als wildes, tobendes Gebirgswasser in starkem Gefälle zu Thal eilt.

Die Kalkberge, die den Rion zu beiden Seiten begleiten, zeigen

wundervolle, zum Teil großartige Formen und lassen fast überall Platz für ein weites, schönes Thal, in dem wilde Felspartien mit üppigen Grasflächen, Wein- und Obstpflanzungen und Wald ab­ wechseln.

Stellenweise verengt sich der Weg zu einem großartigen

Felsenpaß. So steigt die Straße allmählich zur Station Alpano hinaus, wo der Weg in die swanetischen Berge abzweigt; hier hielt ich Mittagsrast.

Da saß ich in der Veranda des Posthauses gerade

über den tosenden Wellen des Rion, zwar gegen die Sonnenstrahlen geschützt, aber trotzdem-in entsetzlicher Gluthitze, und nagte an den Knochen eines kalten Huhns.

Dabei stellte ich die erbauliche Be­

trachtung an, daß gewiß Manches besser in der Welt bestellt sein würde, wenn die Menschen in der Verfolgung ihrer Lebensziele etwas von der Zähigkeit besäßen, die dem Fleisch meines Huhns eigen war. Verkehr.

Im Posthause von Alpano herrschte ein recht lebhafter Da kamen die Bergbewohner aus der Nachbarschaft,

teils zu Pferde, teils mit ihren für den Kaukasus so charakteristischen Büffelgespannen.

Die Büffel, schwarzgraue, struppige Tiere von

kräftiger und dabei doch zierlicher Gestalt mit breiten, gewundenen Hörnern, sind gewöhnlich an die „Arba" gespannt, den plumpen, zweirädrigen Karren, dessen Deichsel die unmittelbare Verlängerung des schmalen Gestells bildet.

Diese Büffelkarren lenkt der Grusiner

mit Vorliebe ausgestreckt auf dem Bauch liegend.

Hier überläßt

er sich ganz einem echt orientalischen Phlegma; zu Pferde freilich scheint er ein ganz anderer Mensch zu sein.

Auch da bewahrt er

stets die stolze Würde, die in seiner Natur liegt, aber in der Figur

74

des Reiters und seiner Art, sich zu bewegen, spricht sich zugleich inneres Feuer, bewegliche Leidenschaft aus. Ich hoffte am Abend noch Oni erreichen zu können, aber es war doch zu spät geworden. Ich kam erst kurz vor Sonnenunter­ gang in der letzten Station vor Oni an, dem kleinen Gebirgsdörfchen Zessi, an einer engen Stelle des Thals unmittelbar am Ausgang eines Felsenpasses gelegen. Bei keiner Station auf der ganzen

Grusinisches Bauernhaus.

Straße habe ich so den Eindruck des Abgeschlossenteins von der Welt gehabt. Das Posthaus liegt zwischen dem Rion und der Straße, fünfzig Schritte davon der übliche Duchan, d. h. eine Art von Wirtshaus, in dem man rasten, das Notwendigste an Speise und Trank und sonstigen Reisebedürfnissen einhandeln und zur Not auch einen Unterschlupf für die Nacht finden kann. Je dürftiger und ursprünglicher sich der Leser das Alles vorstellt, desto näher wird er der Wirklichkeit kommen. Ich war im Posthanse selbst ab­ gestiegen, vom Postmeister freundlich und herzlich, aber auch mit

jener gemessenen Würde begrüßt, die den Grusiner vom Russen unter­ scheidet. Eine große Rolle spielt ja auf Reisen die Verpflegungs­ frage. Das Gespräch, das ich in dieser gewichtigen Angelegenheit mit meinem freundlichen Wirt führte, gestaltete sich so typisch und wiederholte sich in ähnlicher Form während meiner Reise durchs Gebirge so häufig, daß ich es hier wiedergeben möchte. „Was haben Sie denn zu essen?" fragte ich den Manu. „Alles, was Sie befehlen, Herr!" „So? Das ist ja prächtig. Haben Sie denn auch Fleisch?" „Oh gewiß! Sie wollen gewiß gern ein Hühnchen essen?" „Na, eigentlich lieber etwas Anderes. Haben Sie z. B. einen Tschaschlyk?" (Geröstete Hammelfleischschnitte.) „Bedaure, nein! Aber ein Hühnchen könnte ich Ihnen wirklich empfehlen." „Na, sagen Sie nur ehrlich: Sie haben wohl nichts Anderes?" „Nein, Herr! Augenblicklich nicht." So half es denn nichts; ich mußte bei jeder Mahlzeit mein Hühnchen vertilgen. Ich gewöhnte mich denn auch an das Un­ vermeidliche. Dieses geschätzte Federvieh wurde mir überall auf­ getischt und setzte dabei, mochte es nun als Urahne, Großmutter, Mutter oder Kind für mich sein Leben lassen, meinen Zähnen stets denselben energischen Widerstand entgegen. Aber ich aß unentwegt Hühner, und nur manchmal stieg die Befürchtung in mir auf, daß ich, wenn das so fortginge, am Ende meiner Gebirgsfahrt nur noch „Kikeriki" würde sagen können. In Zessi wurde mir das betreffende Huhn „auf grusinische Art", d. h. zerkleinert in einer Zwiebelbrühe schwimmend verabreicht, und ich aß mit Todesverachtung. Ich weiß die Zwiebel als Gewürz zu schätzen, wenn sie mit Maß und Verständnis verwendet wird; aber wenn sie in der Kochkunst als „Ding an sich" auftritt, ist sie mir fürchterlich. Daher mußte ich denn auch bald aus Furcht vor der Empörung meines inneren Menschen von der Mahlzeit abstehen und zog es vor, den wundervollen Abend auf der Veranda bei einem Becher Wein im Gespräch mit dem Postmeister zuzubringen. In der Gaststube, in der es außer dem Tisch, auf dem noch die

76 Reste meines Abendessens standen, und wenigen Stühlen und Bänken nur noch zwei Holzpritschen als einzige Einrichtungsgegenstände gab, begab ich mich dann zur Ruhe, indem ich das Lager mit Hilfe meiner eigenen Sachen, Kissen, Burka und Neisedecke für meine Bedürfnisse herrichtete. Die Thür nach der Straße blieb weit offen; sonst wäre es vor Hitze nicht auszuhalten gewesen. Eben wollte ich einschlafen, als noch ein zweiter Gast in der Stube erschien, ein Odessaer Student, der die zweite Pritsche gegenüber in Anspruch nahm. Wieder hatte ich in leisem Schlaf einige Zeit zugebracht, als noch etwas in die Stube schlich; ich hörte ein leises Huschen und bald darauf ein Schlürfen und Knacken. Ich fuhr schnell auf und griff nach dem Revolver, ließ ihn aber still lachend wieder fahren; denn da sah ich ans dem Tisch im Mondlicht eine große schwarze Katze sitzen, die sich über mein Huhn hermachte. Am andern Morgen war der Teller hübsch rein geputzt. Muß der Herr Postmeister sich über meinen Appetit gefreut haben! Am anderen Morgen fuhr ich in Gesellschaft des Studenten nach Oni weiter; der Weg verging rasch, da die herrliche Gegend reichlichen Stoff, zur Unterhaltung bot. Mein Reisegenosse inte­ ressierte sich überdies für deutsche Universitätsverhältnisse, die ihm ein unbekanntes Wunderreich waren, und ich benutzte die Gelegen­ heit, um mir noch manches von russischen Universitäten erzählen zu lassen. Bis dahin war alles glatt gegangen; in Oni, einem beschei­ denen Bergstädtchen, das in einem Laden an der Ecke seines hüb­ schen grasbewachsenen Marktplatzes eilt wirkliches Schaufenster be­ sitzt, fingen die Besörderungshindernisse an. Ich mußte, nachdem mein Reisebegleiter sich von mir getrennt hatte, von morgens acht Uhr bis nachmittags 4 Uhr warten, ehe ich eine Telega nach dem nächsten Dorf an der Heerstraße, dem kleinen Kurort Uzera, er­ halten konnte. Erst jetzt erfuhr ich, daß der Betrieb mit Postpferdcn in Oni aufhörte.

Uzera steht als Kurort noch ganz in den Anfängen, obwohl das Dörfchen zwei wundervolle Mineralquellen sein eigen nennt, einen alkalischen Sprudel, der zum Baden benutzt wird, und eine

kalk- und eisenhaltige Quelle zum Trinken. Es sind aber doch schon einige freundliche und saubere, wenn auch sehr einfache Logirhäuser entstanden. In einem von diesen hatte ich mein Gepäck vorläufig untergebracht, da es zweifelhaft war, ob ich an diesem Tage noch weiter kommen konnte. Es war so schön an diesem stillen Ort. Von der Veranda aber überraschte mich ein wundervoller Blick das Rionthal aufwärts. Zum erstenmal auf dieser Straße tauchte im Hintergründe der engen Waldschlucht der eine Schneegipfel des Adai Choch auf, und deutlich konnte man schon am Fuß dieses Schneedoms den gewaltigen Gletschersturz des Karagam erkennen. Bei diesem Anblick war es um mich geschehen. Obwohl ich bis dahin sehr geneigt gewesen war, mich hier bis zum nächsten Morgen auszuruhen, trieb es mich doch, noch an diesem Abend weiter in das Gebirge zu kommen, und so bat ich denn den Verwalter des Hauses, Anstalten für meine Weiterreise zu treffen. Er schickte einen Boten ins Dorf, der bald mit dem Bescheide zurückkam, daß ich in einer halben Stunde bereit sein möchte.

8. Über den Mamissonpaß. Mit der Abreise von Uzera begann für mich eine neue Art der Beförderung. Wagen gab es in Uzera nicht, der Weg mußte also zu Pferde fortgesetzt werden. Aus meinem Gepäck ließen sich zwei an Gewicht annähernd gleiche Kolli machen, die durch einen Strick verbunden über den Sattel des Lastpferdes gehängt wurden. Ich glaubte, ich würde noch ein drittes Pferd mieten müssen, aber zu meinem Erstaunen schwang sich der Führer noch selbst auf das Lastpferd, und fort ging es in munterem Schritt bergan. Was diese kleinen, schmächtigen Gebirgspferde für Lasten tragen können, welche Kraft und Ausdauer sie überhaupt entwickeln, das grenzt an das Unglaubliche. Bei dem langen, teilweise recht steilen Weg gab auch das stark belastete Pferd meines Führers nicht die ge­ ringsten Zeichen von Ermüdung zu erkennen. Allerdings mußte

78 ich mit Rücksicht auf den Führer den ganzen Weg mit geringen Ausnahmen im Schritt zurücklegen, und das war recht unbequem, zumal in dem engen grusinischen Sattel.

Aber wunderschön war

trotzdem dieser Weg, der mich noch in den Abendstunden bis zu dem 16 Kilometer entfernten nächsten Dorf Glola führte. Anfangs ging

es immer noch

den Rion

aufwärts, in dessen großartiger

Wildheit man hier das sanft dahingleitende Gewässer der mingrelischen Ebene nicht wiedererkennt. Das Thal wird enger; der dichte Eichen- und Platanenwald der Bergabhänge senkt sich wieder nach dem Fluß hinunter, durch dessen Donnern und Brausen ab und zu der schrille Schrei des Bergfalken klingt.

Die üppige Pracht

der südlichen Berglandschaft weicht allmählich der ernsten, gewaltigen Hochgebirgsnatur.

Noch glänzen die Felsenspitzen oben über dem

Walde im Strahl der Abendsonne, aber immer weiter steigt schon die Dämmerung aus dem Thal herauf.

Endlich ist die Brücke

erreicht, an der wir endgültig vom Rion Abschied nehmen.

Aus

dem dichter werdenden Walde heraustretend macht hier die Straße in felsenstarrender Wildnis die Biegung nach dem Flusse hin, den wir auf kunstvoller Eisenbrücke überschreiten.

Mit welcher furcht­

baren Gewalt sich die weißgrauen Wassermassen über die Felsblöcke stürzen! wie das brodelt und wirbelt und schäumt, und wie die Wellen im Anprall zerstieben und hoch in die Höhe geschleudert werden!

Und im Gegensatz dazu am andern Ufer die ernste, tiefe

Ruhe des dunkelnden Tannenwaldes.

Ein heller Feuerschein blinkt

drüben zwischen alten Bäumen hervor; er kommt aus der einsamen Schmiede,

die dort zwischen

dem Fluß und der Landstraße im

Schatten einiger riesigen Nußbäume liegt. mit dem hochgewachsenen,

Eine kurze Begrüßung

graubärtigen Grusiner,

der uns vom

Schmiedefeuer her mit prüfendem Blick entgegentritt, dann geht es weiter auf steilem Wege den bewaldeten Bergabhang hinauf, während das Tosen des Rion allmählich dumpfer und dumpfer klingt. Bald hören wir nur

aus der

Ferne

das Rauschen

der Bergwasser;

ringsumher unter den majestätischen Edeltannen herrscht feierliches Schweigen.

Aber der Sterbliche soll wissen, daß es auf Erden

keinen reinen Frieden giebt; darum haben Sturm und Lawinen

79 hier ihre Spuren hinterlassen. Sie packen die stolzen Stämme, daß sie krachend über einander stürzen und teils in wildem Gewirr den Moosteppich decken,

teils

an Felsen gelehnt die Spalten über­

brücken oder ihre Kronen in die Gießbäche tauchen, die in tollen Sprüngen über sie Hinwegrauschen.

Und in manchem der Riesen,

die auf diesem Schlachtfeld noch aufrecht stehen, klafft bereits die verhängnisvolle Höhlung, die das Alter und die nagende Arbeit seiner Feinde aus dem Tierreich geschaffen hat; der Tod hat den Mächtigen gezeichnet, und seine Stunde wird gekommen sein, wenn wieder einmal der Sturmwind an seinem Wipfel rüttelt. Zur Linken senkt sich der Wald in eine wilde Schlucht hinab, in die der schmelzende Schnee und die Lawinen Felsblöcke und zersplitterte Stämme hinuntergeschleudert haben. Nebel und Wolken haben sich über sie gelagert; darüber aber thront in der Ferne in bleicher dämmernder Pracht die Masse der von schwarzen Felsschründen unterbrochenen Gletscher und Schneegipfel des Koschtan Tau wie der geheimnisvolle Palast der Eisjungfrau.

Es ist jetzt

ganz dunkel geworden im Walde; zugleich aber regt sich ein wunder­ bares, zauberhaftes Leben.

Da sprüht ein Funke auf dicht vor

dem Kopf des Pferdes und verschwindet sofort, und dann wieder einer und wieder einer. Bald sind wir ganz umgeben von schwirren­ den, aufblitzenden Funken in tollem Durcheinander, daß die Pferde einen Augenblick ängstlich und

verwundert den Schritt hemmen.

Und nun scheint es, als ob der ganze Wald plötzlich von einem Wirbel elektrischer Funken erfüllt sei oder als ob ein Heer tanzender Gnomen zwerghafte Laternen schwänge oder ein Feuerwerk aufführte. Es sind Myriaden von Glühwürmern, die uns umschwirren und im nächtlichen Dunkel des Bergwaldes ihr Spiel treiben.

Es ist, wie

im tollen Spuk der Walpurgisnacht: „Und die Funkenwürmer fliegen Mit gedrängten Schwärme-Zügen Zum verwirrenden Geleite."

Die Straße führte jetzt aus dem Walde heraus und bog, fort­ während steigend, in die Schlucht ein, die von einem Nebenfluß des Rion, dem Tschaltschachis-Zchali, gebildet wird.

Kahle, fast senk-

80 rechte Kalkfelsen zur Rechten, zur Linken ein gähnender Abgrund. Das ungewisse Licht des Mondes ließ die Umrisse der Felsen und der Wegränder nicht mehr deutlich erkennen, man mußte sich ganz dem sichern Instinkt der Pferde anvertrauen, die munter in die ver­ schwimmende Dämmerung am Rande des Abgrunds entlang hinaus­ schritten — eine Lage, die wohl hier und da ein gelindes Gruseln erzeugte, zugleich aber dem nächtlichen Ritt einen geheimnisvollen Reiz verlieh.

Man glaubte sich in der Dämmerung durch luftige

Regionen dahingetragen. hafter Chorgesang.

Vom Flusse herauf scholl es wie geister­

War es nur der Widerhall der Akkorde, die

das brausende Gewässer zwischen den Felsen hervorbrachte und die in der nächtlichen Stille die Form eines schwermütigen Gesanges annahmen, oder waren dort unten menschliche Behausungen, deren Bewohner am abendlichen Herdfeuer die Zeit durch Gesänge kürzten? Ich habe es nicht ergründen können.

Warum auch physikalisch zer­

gliedern, was nach Stimmung und Wirkung dem einsamen Reiter in der herrlichen Sommernacht nichts Anderes sein konnte, als der Gruß der Geisterstimmen des Gebirges? Endlich schimmerten Lichter vor uns, und die Umrisse einiger Häuser tauchten aus dem Dunkel auf.

Das Dorf Glola war

erreicht. Ich vertraute mich ganz der Führung meines Begleiters an, der mir ein Nachtquartier besorgen sollte. Das konnte natürlich nur durch Inanspruchnahme der Gastfreundschaft eines Ortsbewohners geschehen; denn an das Vorhandensein eines Wirtshauses oder etwas dem Ähnlichen war nicht zu denken. Wir hielten vor einem der größeren Höfe dicht an der Straße, der einen verhältnismäßig wohlhabenden Eindruck machte.

Aus einer Gruppe von Männern,

die in der Vorhalle des Haupthauses im Gespräch begriffen bei einander standen, trat der Besitzer des Hofes hervor, bot mir mit freundlichem Gruße die Hand und hieß mich als Gast willkommen. Er machte Licht und führte mich in ein Zimmer neben der Vorhalle, das sehr sauber gehalten war, aber von einer „Einrichtung" nach europäischen Begriffen keine Spur zeigte.

Eine Holzpritsche, davor

ein roh gezimmerter, plumper Tisch waren die einzigen Gegenstände, die in dem sonst vollständig leeren Raume zu finden waren.

Ein

81 Wandschrank barg einige einfache Geräte. Mein Wirt, ein schwarz­ bärtiger, stattlicher, ja geradezu schöner Mann im besten Alter, außerordentlich sympathisch in seinem Wesen und Auftreten, wollte zeigen, daß er doch schon einige Begriffe von europäischer Bildung erworben hatte. Er holte ein noch den Eindruck völliger Unberührt­ heit machendes Zeitungsblatt, eine Nummer der „Kutaisskija Wjedomosti" von ungefähr einem Monat vorher, herbei und breitete sie sorgfältig über den Tisch; auch vertauschte er die qualmende Lampe mit einem Stearinlicht, das er aus eine leere Flasche gesteckt hatte. „Damit Sie nicht zuviel vermissen," meinte er mit freundlichem Lächeln. Nun versammelten sich im Zimmer etwa sieben oder acht Männer, anscheinend die Nachbarn meines Wirts, die mich be­ grüßten und in eifrigem Gespräch, das ich leider bei meiner Un­ kenntnis der grusinischen Sprache nicht verstand, unter einander be­ rieten. Ich konnte aus dem Ganzen nur entnehmen, daß es sich um meine Verpflegung handelte und ich als der Gast des Dorfes betrachtet wurde. Nach gepflogener Beratung, die an Lebhaftigkeit nichts zu wünschen übrig ließ, gingen die Leute auseinander und verschwanden, um einzeln mit verschiedenen Sachen wiederzukommen. Dem unvermeidlichen Huhn entging ich natürlich nicht, aber es wurden doch auch andere gute Dinge herbeigeschleppt. Einer brachte Milch in bunt lackierter Holzschale, ein anderer gekochte Eier, ein Dritter Brot, ein Vierter Käse. Es ging also für ein einsames Gebirgsdorf üppig genug zu. Endlich erschien auch der alte Grau­ bart, der in der Versammlung augenscheinlich die wichtigste Rolle gespielt hatte. Er trug einen fadenscheinigen, rotbraunen Beschmet (das unter der sogenannten Tscherkeska getragene, an Hals und Brust fest geschlossene Untergewand), warjedenfalls der Alterspräsident und sah, aus seinen Stab gestützt, mit gewichtigem Ernst der Mahl­ zeit zu. Er stistete den Wein dazu, den er in einem weitbauchigen, buntverzierten Thonkruge mit engem Halse herbeigetragen hatte. Es war ein wohlschmeckender Landwein, dem italienischen an Geschmack ähnlich. Vielleicht ist hier der Ort, etwas von dem Weinbau und der Weinbereitung im Kaukasus einzuschalten. Unstreitig ist Transv. Massow, Aus Krim und Kaukasus.

6

82 kaukasien eins der ältesten Weinländer der Erde; die Georgier und Armenier sagen kurzweg: das älteste, und sie beweisen das sehr einfach. In der Bibel steht von Noah, als er „aus dem Kasten war" geschrieben: „Er fing an und ward ein Ackermann und pflanzte Weinberge." Wo war Noah damals? Nach der Sintflut kam er vom Ararat herunter. Wo also soll er anders Weinberge gepflanzt haben, als in dem Lande, das noch heute die schönsten und zahlreichsten Weinberge zunächst dem Ararat hat, und das ist Georgien. Ergo ist es das älteste Weinland, quod erat demon­ strandum. Und das muß wahr sein: ein edler, herrlicher Trauben­ saft ist es, der dort zu Lande gedeiht. Aber wie wurde er vor kurzem noch behandelt! Einem sachverständigen deutschen Winzer mußte sich das Herz im Leibe herumdrehen. Als ich vor etwa anderthalb Jahrzehnten zum erstenmal im Kaukasus war, wiegte ich mich noch in Illusionen über den kachetischen Wein, den Mirza Schaffy in seinen Liedern besingt. Es war in Petrowsk in Daghestan, als ich ihn zum erstenmale kostete, und ich prallte förm­ lich zurück. So ungefähr mußte ein alkoholischer Extrakt aus alten Glacehandschuhen schmecken. Das ist nun allerdings nicht weiter wunderbar, wenn man den noch unfertigen Traubensaft in mangel­ haft behandelten und gereinigten Schläuchen von Ziegenleder auf­ bewahrt! An anderer Stelle schmeckte der Landwein ganz prächtig nach Petroleum, weil man die Krüge und Holzgefäße mit NaphtaRückständen dicht zu machen pflegte. Merkwürdigerweise gewöhnte man sich aber ziemlich schnell an den unangenehmen Nebengeschmack, der doch immer noch erkennen ließ, daß man einen edlen Trauben­ saft vor sich hatte, dessen Eigenschaften die Weinbauern nur nicht zu entwickeln verstanden. Es waren deutsche Lehrmeister, die darin eine Änderung herbeigeführt haben. Die deutschen Kolonisten bereiteten schon längst einen vortrefflichen Landwein, aber ihr Bei­ spiel fand keine Nachahmung, bis in neuerer Zeit einige größere Weinfirmen darauf aufmerksam wurden. Sie zeigten den erstaunten Petersburgern und Moskauern, was sich aus den mißachteten kau­ kasischen Weinen machen ließ. Mit dem erwachten allgemeinen In­ teresse fingen auch die grusinischen Weingutsbesitzer an, bei den

83 Europäern in die Schule zu gehen. Wenn man jetzt in Trauskaukasien Wein trinkt, kennt man die Lage nicht wieder. Überall bekommt man gutes Getränk, das allerdings im Preise gestiegen ist, aber sonst keine unangenehmen Nebenempfindungen erweckt. Das Charakteristische des kaukasischen Weins ist, daß er bei viel Feuer und geringer Süßigkeit verhältnismäßig viel Gerbstoss enthält, so daß sich die Weißweine im Geschmack ziemlich unsern Rotweinen nähern und die Rotweine leicht einen tintenähnlichen Geschmack zeigen, der sie in unverdünntem Zustande weniger angenehm macht. Die edleren Sorten haben ein ihnen eigentümliches Aroma, das von dem Bouquet unserer heimischen Weine sehr verschieden ist. Der berühmteste Wein­ bezirk ist Kachetien, die Gegend in den Bergen östlich und nord­ östlich von Tiflis. Dort wächst u. a. der herrliche, durch Kraft, Feuer und Wohlgeschmack ausgezeichnete Zinondali. Aber auch Jmeretien hat seine vorzüglichen Sorten, die im Durchschnitt leichter und milder sind. Den dortigen Landweinen gebe ich vor den kachetischen den Vorzug. Am andern Morgen konnte ich meine Weiterreise leider erst sehr viel später antreten, als mir lieb war. Ich war zwar schon daran gewöhnt, daß man im Bereich des russischen Doppeladlers viel, sehr viel Zeit hat; jetzt aber überzeugte ich mich, daß der Russe geradezu die Verkörperung der Nervosität und Gesckmftigkeit ist im Vergleich mit dem Grusiner. In Tiflis habe ich zum ersten­ mal in meinem Leben den Spruch: „Zeit ist Geld" in russischer Sprache gelesen; er war mit großen Buchstaben in einem Laden angeschlagen. Ich weiß, daß ich mich mit der Erwähnung dieser Thatsache der Gefahr aussetze, der greulichsten Aufschneiderei be­ zichtigt zu werden. Jeder, der Rußland kennt, wird dazu den Kops schütteln; aber ich bitte eben zu bedenken, daß dieser seltsame Russe unter Grusinern lebt, und das erklärt alles. So mußte ich denn auch an jenem Morgen in Glola unendlich lange warten, bis der Mann, der die Pferde holen sollte, seine Morgentoilette beendet und sich endlich auf den Weg nach dem Tabun, der Koppel, in der die Pferde frei weiden, gemacht hatte. Es lag allerdings auch wieder etwas Versöhnendes darin, zu sehen, 6*

84 welche ungeheuren Mengen Seife der gute Mann bei der am Bach an der Dorfstraße vorgenommenen Wäsche seinem würdigen Haupte zuwendete. Nach jenem berühmten Wort über den Seifeverbrauch mußte der Mann auf den Höhen der Kultur wandeln. Nun, endlich hatte ich meine Pferde doch; ein etwa fünfzehnjähriger, leider des Russischen so gut wie gar nicht mächtiger Junge wurde mir mit­ gegeben, ein herzlicher Abschied von dem freundlichen Manne, der

Der Karagamgletscher am Adai Choch (Nach einer Photographie von V. Sella in Biella.)

mich beherbergt hatte und nun mit feierlichem Segenswunsch ent­ ließ, — dann ging es weiter in die Berge, dem Adai Choch entgegen, dessen gewaltiger Karagamgletscher gerade vor uns sichtbar wurde. Es war ein ziemlich anstrengender Ritt in beständiger Steigung an den nun weiterhin des Baumwuchses gänzlich entkleideten Bergen hinauf. Die Sonne brannte entsetzlich, und die Pferde wurden von Bremsen und Hornissen gequält. Aber wunderschön war es doch, wie man nun allmählich in immer freiere Bergregionen hinaufkam und in Schlangenlinien an den Wänden des Tchaltschachis-

85 Thales hinaufsteigend abwechselnd den Blick in die Tiefe der Schlucht und die immer näher und wuchtiger erscheinende Schnee- und Eis­ masse des Adai Choch genießen konnte. Dazu die in saftigem Grün prangenden Hänge der Berge mit ihrem Reichtum an Blumen! Ich hatte die Pferde für diesen Tag bis zu dem von Glola etwa 45 Kilometer entfernten Straßenwächterhause von Lisri ge­ mietet. Um die Mittagszeit hatte ich ungefähr die Hälfte des Weges hinter mir und rastete in dem Wächterhause von Gurschewi. Das zugehörige Dorf liegt etwas seitwärts von der Straße auf einem Felsenvorsprung, aber so, daß man in dem Augenblick, wo man unten an diesem Felsen vorbeikommt, nichts von den Häusern oben gewahren kann. Diese Art der Anlage von Ortschaften scheint im Kaukasus ziemlich häufig zu sein. Das Wächterhaus liegt da­ gegen mindestens 6—7 Werst weiter an der Straße, gar nicht weit von dem Punkt, wo diese die Moräne des Karagamgletschers und den von diesem Gletscher entspringenden Tschaltschachis überschreitet, um von da am Abhang des Adai Choch selbst zum Mamissonpaß emporzusteigen. In dieser Einsamkeit haust der Straßenwächter mit seinen Leuten, die eine bestimmte Strecke überwachen und Sperrungen und Beschädigungen, die durch Felsstürze, Lawinen und Hochwasser eintreten, zu melden und nach Möglichkeit zu be­ seitigen haben. Das Wächterhaus bietet den Vorüberreisenden genügende Unterkunft für Menschen und Tiere, dagegen werden nicht, wie auf den Poststationen, Pferde und Transportmittel bereit gehalten. Auch mit der Verpflegung sah es in Gurschewi schlecht aus; schlechter Thee, ossetischer Schnaps und Maiskuchen war alles, was zu haben war. Die Straße, die vom Wächterhause nach dem Paß hinaufführt, wird übrigens in vortrefflichem Zustande gehalten in Anbetracht der geringen Mittel, die darauf verwendet sind. Eine kunstvolle Chaussee darf man sich freilich nicht darunter vorstellen. Der Weg über die Moräne ist auf zartes Schuhwerk und zierliche Wagen­ räder nicht berechnet, und über das schäumende Gletscherwasser des Tschaltschachis muß man ohne Brücke hinübergelangen. Selbst die geschickten, an derartige Übergänge gewöhnten Gebirgspferde

86 sind in Gefahr, auf den schlüpfrigen Felsblöcken im Wasser aus­ zugleiten oder zwischen ihnen unversehens in eine tiefere Stelle zu treten, wobei dem Reiter leicht ein unfreiwilliges kaltes Bad be­ reitet werden kann. Der weitere Aufstieg an dem südöstlichen Abhang des Adai Choch führt unter herrlichen Ausblicken auf die Gipfel dieses ge­ waltigen Bergstocks, der das Hauptglied der eigentlichen Zentralfctte im Osten abschließt, bis dicht an den Gletscher heran und in

Der Kasbek.

scharfer Biegung über ein Schneefeld nach dem Bergjoch hinüber, dessen höchster Punkt dann in ein paar weiteren Zickzacklinien ge­ wonnen wird.

Ein kunstloser hölzerner Thorbogen, der an dieser

Stelle recht überflüssig wirkt, und ein Markstein mit Inschrift zeigt uns an, daß wir den höchsten Punkt der ossetischen Heerstraße, den

2862 Meter hoch gelegenen Mamissoupaß erreicht haben. In diesem Augenblick öffnet sich vor uns ein ganz neues Panorama. Neue Berggruppen erscheinen, zur Rechten die schneebedeckten Vor­ berge der Kasbekgruppe, zur Linken die nördlichen und nordöstlichen

87 Gipfel des vielköpfigen Adai Choch und vor uns die Gruppe des Kion Choch. Verschwunden sind die grünen Malten der Berge des Südabhangs; Felsgeröll und Gestein bedecken das spärliche Grün des weiten Thalgrundes, in den wir nun hinabsteigen, und das Gebirge zeigt ein wilderes, ernsteres Antlitz. In weit ausholenden Kehren senkt sich die Straße hinab; für den Reiter ist das ununter­ brochene langsame Bergabreiten eine recht anstrengende Sache, und den Versuch, die mit den Gebirgspferden ganz gut benutzbaren steileren Richtwege einzuschlagen, mußte ich leider aufgeben, da das andere Pferd durchaus folgen wollte und mein Gepäck auf dem steilen Wege in Gefahr kam, über den Kopf des Pferdes in die Tiefe zu purzeln. So kam ich nur langsam vorwärts, und der Eindruck der Felseneinöde, die ich während dieser ganzen Zeit vor mir sah, prägte sich um so fester ein. Es ist die einsamste Strecke der ganzen Heerstraße, bei der die mächtigen und massigen Formen der umliegenden Berge, die wenig gegliedert den weiten Thalkessel umgeben, in ihrer erstorbenen Starrheit um so wuchtiger hervor­ treten. Erst in den Nachmittagstunden war das Thal durchritten, und der Weg bog nun in die engere Schlucht des in einem tiefen Riß neben der Straße dahinfließenden Kibe Don ein. Hier be­ gannen wieder die Weideflächen und Getreidefelder, und Herden von Pferden und Kleinvieh deuteten auf die Nähe menschlicher Wohnungen. Da wurden auch in der Ferne die ersten Osseten­ dörfer sichtbar, und bald war das Ziel meines Rittes erreicht. Am Wächterhause von Lisri konnte ich vom Pferde steigen; ich befand mich an der ersten Station auf der Nordseite des Gebirges.

9- 3n den ossetischen Bergen. Was ist das für ein Volk, die Osseten? Im allgemeinen sind die Völker des Kaukasus so wenig bekannt, daß die Voranstellung dieser Frage wohl ihre Berechtigung haben dürfte, und deshalb will ich Ordnung halber gleich mit einer Borläufig orientierenden Antwort anfangen.

88 Die Osseten wohnen nördlich von der Zentralkette des Kaukasus und unmittelbar westlich vom oberen Terek; sie sind ein Bauernund Hirtenvolk, das auf etwa 150 000 Köpfe geschätzt wird. Was nun dieses Volk besonders beachtenswert macht, ist der Umstand, daß es sich nach Sitte und Art ganz auffallend von seinen sämt­ lichen Nachbarn unterscheidet und eine Sprache redet, die dem indo­ germanischen Stamme zuzurechnen ist. Das allein wäre nun zwar nichts Wunderbares; etwas merkwürdiger ist schon, daß die ossetische Sprache die einzige indogermanische nördlich des Kaukasus — also auf europäischem Boden — ist, die nicht einer europäischen Gruppe, sondern der iranischen (persischen) Sprachfamilie angehört. Sitten, Gebräuche und Einrichtungen der Osseten weisen jedoch wieder ganz und gar nicht nach Asien, sondern nach Europa. Dieses Volk giebt also den Forschern manches Rätsel auf, und so wurde es bald der Gegenstand von allerhand geistreichen Vermutungen. Man begann schließlich an die germanische Abstammung der Osseten so fest zu glauben, daß die Phantasie dem Glauben zu Hilfe kam und man noch heute in ernsthaften Werken die Behauptung lesen kann, die Osseten seien überwiegend blondhaarig und blauäugig. Ich habe nun zwar noch keinen blonden Osseten gesehen, und General v. Erckert, ein vorurteilsfreier und nüchterner Beobachter und Kenner der kaukasischen Bevölkerung, weiß auch nichts davon. Einmal in Tiflis fragte ich, um mein ethnographisches Gewissen zu beruhigen, einen blonden Jüngling in kaukasischer Tracht nach seiner Ab­ stammung; es war — ein Grusiner. Wie kommt man denn aber gerade auf die Annahme einer deutschen Abstammung der Osseten? Dafür giebt es natürlich mancherlei Gründe, deren erster folgender ist: Genau in den jetzigen Wohnsitzen der Osseten wohnte thatsäch­ lich noch im 13. Jahrhundert ein germanisches, wenn auch wahr­ scheinlich nicht rein germanisches Volk, die Alanen, ein versprengter Zweig jenes Volkes, das mit den Ostgoten zusammen von dem Ein­ bruch der Hunnen in Europa zuerst betroffen wurde. Die Alanen im Kaukasus sind später spurlos verschwunden. Auf welche Weise nachher das iranische Volk der Osseten an ihre Stelle getreten ist, das ist eben eine unbeantwortete Frage. Nicht

89 einmal das ist mit Sicherheit festzustellen, ob die Anklänge an deutsche Wörter, die sich in der o ssetischen Sprache finden, auf Entlehnung aus einer germanischen Sprache, oder auf die indogermanische Urverwandtschaft der deutschen und der iranischen Sprachen zurückzuführen sind. Wie vorsichtig man da sein muß, mag ein Beispiel zeigen. Unter den Wörtern, die häufig als „deutsche" im Ossetischen angeführt werden, befindet sich u. a. auch das Wort Cliocli der Berg, ein Wort, das in der Aussprache noch deutlicher an das deutsche Wort „hoch" an­ klingt und ja in der That etwas Hohes, eine Höhe bezeichnet. Man wird also geneigt sein, das Wort choch wirklich für ein deutsches zu halten. Wenn man aber weiß, daß in der dem Ossetischen nächstverwandten Sprache, dem Persischen, der Berg „lmh." heißt, so sieht man, daß die obige Deutung ganz unnötig und willkürlich ist. Der Gleichklang ist nicht durch Entlehnung, sondern dadurch entstanden, daß das deutsche „hoch" und das iranische „kuh" oder „choch" aus derselben Wurzel der arischen Ursprache hervorge­ wachsen sind. Und ähnlich verhält es sich auch wohl mit andern überraschenden Gleichklängen, wie kucli = bie Kuh, arm — die Hand u. s. w. Doch zurück von dieser kleinen Abschweifung in das sprachliche Gebiet! Unter den Osseten selbst besteht jedenfalls nicht der Glaube an ihre germanische Abstammung, wenigstens nicht, wo dieser Punkt ernsthaft und unbefangen berührt wird. Der Forschungseifer der Gelehrten hat nämlich die Bevölkerung vielfach schon auf diese Frage aufmerksam gemacht, und die Folge davon ist, daß manche Osseten den Fragenden einen Gefallen zu erweisen glauben, wenn sie ihnen allerlei merkwürdige Dinge auftischen, die ihren Ursprung in der freien Phantasie des Erzählers haben. So hat es sich auch bei ihnen herumgesprochen, daß sie eines Stammes mit den Deutschen sein sollten, und daher kommt es, daß beinahe den Anschein eines Volksglaubens und einer Überlieferung gewonnen hat, was ihnen in Wirklichkeit erst in allerneuester Zeit von Fremden eingeredet worden ist. Auch Erckert sagt: „Viel hat man ihnen vorerzählt, sie seien Deutsche, was sie ebenso wiedererzählen, ohne irgend darauf bezügliche Überlieferungen oder Sympathien zu besitzen." Ich habe

90 es daher auch nicht für angebracht gehalten, die Leute über Dinge auszufragen, die von der Forschung auf ganz anderm Wege festzu­ stellen sein würden.

Nur soviel habe ich aus unbefangen geführten

Gesprächen mit ossetischen Männern entnehmen zu können geglaubt, daß sie sich der Übernahme mancher ihrer von altersher über­ lieferten Einrichtungen und Sitten von einem anderen Volke bewußt sind, und das würde vielleicht auf die Alanen Hinweisen. Vorzugsweise gilt das von ihrem religiös-nationalen Mittel­ punkt, der nach ossetischer Erzählung andern Volkes gewesen sein soll.

ein altes Heiligtum jenes

Die Osseten haben, wenn man so

sagen darf, eine doppelte Religion, nämlich eine offizielle für den persönlichen Hausbedarf und eine nationale zur Pflege der Einheit ihres Volkstums.

Die erstere ist das Christentum oder der Islam)

„bald so, bald so, wie's trefft" — möchte ich hier nach berühmtem Muster sagen. Über seine Zugehörigkeit zu einer Religionsgemein­ schaft denkt der Ossete mehr als genial.

Es kommt vor, daß von

zwei Söhnen eines christlichen Vaters der ältere etwa Geistlicher der russischen Kirche, der jüngere aberMollah d.h. mohammedanischer Geistlicher ist.

Hat ein ossetischer christlicher Pope eine Tochter, so

wird sie sich in keiner Weise gehindert fühlen, die Gattin eines Mohammedaners zu werden und

dadurch nach orientalischer An­

schauung sich zum Islam zu bekennen.

Hat dagegen ein moham­

medanischer Ossete zufällig einen christlichen Geistlichen zur Hand, so läßt er mit Vergnügen seine Kinder christlich taufen. Die Osseten sind eben ihrer religiösen Grundanschauung nach Heiden.

Ihre Gottes­

vorstellung ist mit wunderlichem Dämonenglauben verquickt, und ein unklarer Aberglaube läßt sie von religiösen Zeremonien und kirch­ lichen Vorschriften alles mitnehmen, was sie, so zu sagen, am Wege finden. zu einer

Deshalb bleibt neben der rein äußerlichen Zugehörigkeit staatlich

anerkannten Religionsgemeinschaft vollkommen

Raum für die Gebräuche eines alten Kultus, der sie zur Bekundung ihrer nationalen Einheit von Zeit zu Zeit zusammenführt.

Wo der

Zejagletscher am Nordostabhang des Adai Choch, dieses gewaltigen Gebirgsstocks der kaukasischen Zentralkette, sich ausbreitet, liegt au seinem Fuße in hehrer Bergeinsamkeit, fern von den bewohnten

91

Stätten der Menschen, der Tempel Rekom. Ungern nur dulden die Osseten die Annäherung eines Fremdlings, und das Betreten des Heiligtums selbst ist verboten; denn sie meinen, der Gott werde den Frevler durch seinen Blitzstrahl vernichten. So ängstlich hüten sie diesen letzten Rest ihres selbständigen Volkstums. Ein zweites Heiligtum soll im nördlichen Ossetien in der Ebene liegen, kein eigentlicher Tempel, wohl aber ein Opferplatz und eine Stätte merk­ würdiger Sagen und Erinnerungen. Alljährlich sammeln sich die Volksgenossen von den benachbarten Bergen und Thälern, um zu ihrem heimischen Gott zu beten und Fruchtbarkeit sür ihre Saaten zu erflehen. Dann fließt zu Ehren des gewaltigen Wettergottes, der die Felder und Heerden beschirmt, das Blut der Widder, deren Schädel nachher den Dachsims des Tempels zieren; aus mächtigen Kesseln schöpfen die Männer den „Brag" — das „Bräu" — und im Festrausch schlingen sie nach alter Sitte den Reigen. So will es die von den Vätern überkommene Überlieferung, die also mög­ licherweise den Osseten einst von dem Volke übergeben wurde, das vor ihnen im Lande gewohnt hat. Wer erkennt nicht in diesen Grundzügen Anklänge an den germanischen Thorsdienst? Es ist eine eigene Vorstellung, daß der wettergewaltige, rotbärtige Äse, den unsere Vorfahren in den Wolken verehrten und den sie den Hammer in zuckendem Strahl schwingen ließen, in den fernen Bergen seinen letzten Zufluchtsort gefunden hat. Auch hier wird ihn einst eine Götter­ dämmerung erreichen; der Tempel von Rekom wird in Schutt zer­ fallen und die Schneegipfel des Adai Choch werden auf eine ver­ waiste Trümmerstätte Herabschauen. Denn es geht allmählich rückwärts mit den Osseten in den Bergen; ihr trotziger Sondergeist macht sie widerstandsunfähig gegen die siegreich vordringenden fremden Einflüsse. Jeder Ossete scheint eine natürliche Abneigung gegen staatliche Organisation und Einigkeit zu haben. Sollte das etwa auch ein aus deutschem Blut stammender Charakterzug sein? Nur notgedrungen traut einer dem andern und wirkt mit ihm zusammen. Kaum daß die Sippen notdürftig zu­ sammenhalten und die Wenigen, die durch die Natur des Gebirgslandes gezwungen sind, auf engem Raum zusammen zu wohnen.

92

Ein ossetisches Gebirgsdorf macht einen ganz merkwürdigen Eindrnck. An steilem Abhange sind in terrassenförmigen Abstnfnngen die Hütten reihenweise zusammengedrängt; der Eingang der oberen Hütte liegt meist in der Höhe des Dachs der unteren. In der Farbe heben sie sich gar nicht von dem Hintergründe ab; das verwitternde Gestein des Felsens, an den sie sich lehnen, giebt zu­ gleich das Banmaterial. Der Felsen selbst bildet meist die Rück­ wand; ein paar roh geschichtete Seitenwände, eine Vorderwand mit einer Thür- und Fensteröffnung oder auch nur einer Thür, ein horizontales Dach, das, vorn durch Balken gestützt, etwas überragt und einen verandaähnlichen Vorbau bildet — das ist der einfache Typus dieser Behausungen. Durch diese Ansiedlungen wird also in keiner Weise der landschaftliche Eindruck der Gegenden gehoben. Im Gegenteil, die Eigentümlichkeit der Dörfer erhöht den Eindruck des Wilden, Unbewohnten und Unberührten, den der Reisende von diesen Gebirgsthälern empfängt. Nur eins lenkt die Aufmerksamkeit auf die Ansiedlnngen hin, aber freilich in dem Sinne, daß das Groteske und Absonderliche ihres Aussehens nur noch mehr her­ vortritt. Da nämlich die Lage solcher Hütten zur Verteidigung gegen einen ans gleicher Höhe oder gar von oben kommenden Feind recht schwierig ist, so wurden früher an geeigneten Stellen Türme er­ richtet, von deren oberster Zinne aus ein freierer Überblick und eine bessere Verteidigung möglich ist. Diese Türme, die jetzt seit der Unterwerfung des Kaukasus und seit der Aufrechterhaltung des Landfriedens allmählich verfallen, finden sich übrigens auch bei anderen Bergvölkern, namentlich den ©matteten, stellenweise auch in grusinischen Niederlassungen. Während sie aber bei letzteren nur in geringer Zahl auftreten, hat bei den Osseten fast jeder von einer Sippe bewohnte Hüttenkomplex seinen Tnrm. Darin drückt sich die bezeichnende Neigung zur Vereinzelung, zur Unverträglich­ keit und zum Mißtrauen gegen den nächsten Nachbar ans, die den Osseten allgemein nachgesagt wird. Die ossetischen Türme unter­ scheiden sich von den ähnlichen Bauwerken der Grusiner und ©matteten durch eine merkwürdige Einzelheit; sie zeigen nämlich an Thüren

93

und Fenstern des viereckigen, nach oben sich verjüngenden Baus die Form des Spitzbogens, während man sonst im Kaukasus nur den Rundbogen findet, —- woraus die Forscher, die unter den Osseten nach Spuren des Germanentums suchen, vielleicht auch wieder allerhand merkwürdige Schlüsse ziehen können. Der ossetische Sondergeist zeigt sich noch in einer anderen sehr eigentümlichen Einrichtung der ossetischen Dörfer; das sind nämlich ihre Mühlen. Fast jede Niederlassung ist so gelegen, daß einer der zahlreichen Gebirgsbäche, die in den Felsenschluchten herabstürzen, in nächster Nähe ist. An dem herabfallenden Wasserlauf gewahrt der Wanderer eine ganze Reihe von kleinen, viereckigen, würfel­ förmigen Hütten, eine über der andern. Nähere Betrachtung zeigt, daß jede von ihnen mit einer eigentümlich konstruierten Turbine in Verbindung steht, die durch den Bach getrieben wird. Hier mahlt jeder Dorfbewohner in eigener Mühle sein eigenes Getreide; allen­ falls thut er sich notgedrungen mit einem oder zwei anderen zusanimen. Aber es darf beileibe nicht eine gemeinsame Mühle für das Dorf sein. Da haben einmal einige Russen ganz schlau sein wollen und im Ardonthal eine größere Mühle für die benachbarten Ortschaften angelegt; sie lieferten gutes Mehl und machten es den Leuten so bequem wie möglich, aber — sie machten elendiglich Bankerott! Es scheint, daß den Osseten jegliches Verständnis für Arbeitsteilung abgeht, und daran gehen sie selbst allmählich wirt­ schaftlich zu Grunde, nachdem ihnen die russische Regierung durch die Überwachung und strenge Regelung des Grundeigentums mehr und mehr die Bewegungsfreiheit geraubt hat, die früher ein ge­ wisses Gegengewicht gegen die wirtschaftlichen Mängel bildete. Er­ heblich besser geht es den Osseten, die in der Ebene im Norden des Gebirges wohnen; ihre Niederlassungen tragen sogar den Stempel einer gewissen Wohlhabenheit und zeigen mehr Züge europäischen Lebens, die wohl nicht alle erst später angenommen, sondern zum Teil gewiß ursprünglicher Natur sind. Irgend eine Aristokratie oder ständische Gliederung scheint, so viel ich habe erfahren können, unter den Osseten, sehr im Gegensatz zu den meisten ihrer Nachbarn im Kaukasus, nicht zu bestehen.

94 Die Neigung der einzelnen Familien, sich zu isolieren, hat wohl nie ein Bedürfnis dieser Art aufkommen lassen. schiedenen

Stämme

unterscheiden

Auch die ver­

sich nur durch

Wohnsitze und

Mundart, nicht durch irgendwelche Organisation, und keiner dieser Stämme kümmert sich sonderlich um den andern, es sei denn bei den erwähnten Opferfesten. In Lisri ließ ich mir von dem Straßenwächter, bei dem ich, vom Mamissonpaß kommend, eingekehrt war, allerlei von seinen Stammgenossen erzählen. Auch ich mußte natürlich Auskunft geben, woher ich kam. zu

schaffen;

Es war aber nicht ganz leicht, darüber Klarheit

denn

mit

der Geographie von Europa stand mein

guter Ossete auf sehr gespanntem Fuße, wie das ja auch eigentlich nicht zu verwundern war.

Er hatte wohl allerlei von den Ländern

und Völkern Europas gehört, aber wie das alles zusammengehört, war ihm vollständig dunkel.

So mußte ich ihn denn eingehend

darüber belehren, daß im Lande Germania keine Franzosen wohnen, sondern dasselbe Volk, das die Russen „Niemzy" nennen und das auch im Kaukasus durch Kolonien vertreten ist.

Das leuchtete ihm

ein, aber die mühsam erlangte Kenntnis kam wieder ins Wanken, als er ein französisches Buch entdeckte, das ich zufällig in meiner Reisetasche mitführte, und ich ihm auf die Frage, ob dieses Buch in meiner Sprache geschrieben sei, antworten mußte: „Nein, es sei die Sprache der Franzosen.

Nun galt ich doch wieder so lange

als Franzose, bis es mir gelungen war, auch diesen Stein des Anstoßes für sein Verständnis aus dem Wege zu räumen.

Und

dann erzählte ich ihm von unserm Vaterlande, vom deutsch-französischen Kriege, vom alten Kaiser Wilhelm und von Bismarck, von unserem jetzigen Kaiser, dem Freunde des Zaren u. s. w. daß

Ich wußte nicht,

eben in den Stunden, wo ich dem aufmerksam zuhörenden

Sohne dieser entlegenen Bergwildnis von Bismarcks Ruhm erzählte, der große Mann schon auf seinem letzten Lager schlummerte und sein treues Herz für Deutschland zu schlagen aufgehört hatte. Sehr

ausfallend

sind

für den Besucher

des Kaukasus die

umfangreichen Sprachkenntnisse der sonst so unwissenden und einfachen Bergbewohner.

Die Mehrzahl ist wohl mindestens zweisprachig,

95 und wenn es natürlich auch Leute giebt, die außer ihrem heimatlichen Idiom kein anderes verstehen, so wird das ausgeglichen durch die unverhältnismäßig große Zahl von Leuten, die vier, fünf und mehr Sprachen beherrschen. Das ist ganz natürlich, denn die Mischung der verschiedensten Völkerschaften aus engem Raum ist so bunt, daß die Leute in vielen Gegenden des Gebirges nur aus ihrem Thal herauszutreten brauchen, um unter einer Bevölkerung zu sein, deren Sprache häufig noch nicht einmal demselben Sprachstamm angehört und nicht die leiseste Spur einer Verwandtschaft aufweist. Daher lernen die Meisten neben ihrer Muttersprache notgedrungen die Sprache irgend eines Nachbarstammes. In einer so buntscheckigen Bevölkerung ist es außerdem beinah selbstverständlich, daß sich in den verschiedenen Gegenden bevorzugte Verkehrssprachen entwickelt haben, deren sich wenigstens die Geschäftsleute und angesehenere Persönlichkeiten allgemein neben der Muttersprache bedienen. Solche Sprachen sind im Norden des Gebirges das Tatarische, in Transkaukasien im Westen und Süden das Grusinische und Armenische, im Osten wiederum das Tatarische und das Persische. Aber auch diese einzelnen, neben den kleinen Sondergebieteu der Stammes­ sprachen und Mundarten bestehenden größeren Sprachgebiete bedürfen einer allgemeinen Verkehrssprache, und das ist natürlich die Sprache der Herren des Landes, der Russen. Das natürliche Bedürfnis hat der russischen Sprache diese Stellung angewiesen; es hat gar keiner Anstrengungen bedurft, um die Eingeborenen zu ihrer Erlernung und ihrem Gebrauch anzuhalten. Die Leute müssen ja doch eine Fremdsprache zur allgemeinen Verständigung haben; welche das ist, kann ihnen völlig gleichgültig sein. Früher sprachen sie Persisch und Türkisch; jetzt sprechen sie Russisch. Auch mein Wirt in Lisri beherrschte drei Sprachen: Ossetisch war seine Muttersprache; Gru­ sinisch mußte er können, weil er unmittelbar an der Grenze dieses Sprachgebiets wohnte; endlich Russisch kam als selbstverständliche Zugabe hinzu. Das Wächterhaus von Lisri machte einen etwas wohnlicheren Eindruck, als das auf der anderen Seite des Gebirgs liegende. Freilich bestand die Einrichtung des Zimmers, in dem ich nächtigte,

96 auch hier nur aus Tisch und Pritsche, aber es wurde doch eine Matratze dazu geliefert, und der Raum, in dem der Wächter selbst wohnte, erinnerte in verschiedenen Gerätschaften schon etwas mehr an europäische Sitten. Auch war hier die weibliche Hand erkenn­ bar, und wirklich erschien auch gegen Abend die Frau des Wächters mit ihren beiden Knaben, niedlichen, klug aussehenden Jungen im Alter von sechs und drei Jahren, um nach dem Rechten zu sehen. Ich wurde auch hier sehr freundlich bewirtet; es gab Brot, Käse und Eier. Fleisch lehnte ich, von düsteren Ahnungen getrieben, ab. Ich hatte nämlich auf dem Hof eine Anzahl Hühner erblickt, und eine bejahrte Henne hatte mich so ahnungsvoll von der Seite angesehen. Meine Ablehnung kam aber zu spät; denn schon ertönte vom Hofe her der Todesschrei des geopferten Huhns. Ich mußte wenigstens am andern Morgen zum Frühstück davon kosten. Der Abend war übrigens wundervoll. Auf der Bank vor dem Hause sitzend, sog man die frische, reine Bergluft ein. Zwar hatten sich einzelne der Berggipfel wieder in Wolken gehüllt, aber von Zeit zu Zeit wurde doch über der Wolkenschicht eine in magischem Licht glitzernde, eisstarrende Spitze frei, und im Osten umflutete das Licht des aufgehenden Mondes die schneebedeckte, über die nächsten Berge hoch hervorragende Zacke eines der vorgelagerten Gipfel aus der Kasbekgruppe. Ich wüßte keinen Anblick, der die Majestät des Hochgebirges eindrucksvoller zum Bewußtsein brächte, als das Auf­ tauchen einer solchen von einem matten, zauberhaften Schein um­ flossenen, gewaltig ragenden Schnee- und Eismasse hoch über den Wolken. Ich hatte das unerwartete Glück, hier im Wächterhause von Lisri mit einer Gesellschaft deutscher Herren zusammenzutreffen; die den Sommer in Alagir, einem Ort im Norden des Gebirges, verbrachten und jetzt auf einem Ausflug in die Berge begriffen waren. Bei ihrer Rückkehr schloß ich mich auf ihr Anerbieten mit Freuden ihnen bis Alagir an und fand, da sie zwei Wagen hatten, in dieser liebenswürdigen Gesellschaft zugleich eine verhältnismäßig bequeme Reisegelegenheit. Auch die kleinen Beschwerden der Reise gewannen nun bei der Möglichkeit des Gedankenaustausches mit

97 verständnisvollen Landsleuten ein anderes Gesicht.

Mit Vergnügen

erinnere ich mich unseres Mittagsmahls in St. Nikolaus, das wir nach Römersitte im Liegen einnahmen, freilich nicht ans üppigen Polstern, wie die Genossen des Lukullus, sondern auf dem schönen, grünen Rasen des Stationsgartens.

Der mußte Tisch samt Tisch­

tuch ersetzen, und so verzehrten wir fröhlich die mitgebrachten Vor­ räte, uns dabei hauptsächlich der fünfzinkigen Gabel bedienend, die

Bergstraße bei St. Nikolaus.

Mutter Natur dem Menschen beschert hat.

Ich freute mich, meine

letzte Flasche Jmeretinerweiu so würdig verwenden zu können. Aber auch dich werde ich nicht vergessen, mein trefflicher Gast­ freund Avanko, du Perle aller Osseten, in dessen Behausung ich am Abend dieses denkwürdigen Tages in Alagir mein Haupt zur Ruhe niederlegte!

Noch sehe ich dein gutes, ehrliches Gesicht unter

dem Berghut von ehrwürdigem Alter und unbestimmbarer Farbe, wie du stets fröhlich und guter Dinge als unser Kutscher dein Ge­ spann lenktest, die Nörgeleien und das ewige Räsonnieren deines ». Massow, AuS Krim und Kaukasus.

7

98 widerhaarigen, unliebenswürdigen Gefährten mit trockenem Humor oder einem drastischen Witzwort pariertest und dabei dein Liedchen trällertest. Und über welch reichen Schatz an ossetischen und russischen Volksliedern verfügtest du!

Und wenn wir dich fragten, warst du

niemals um eine Antwort verlegen, wenn du auch von der Sache nicht die leiseste Ahnung hattest, und je kühner deine Behauptungen wurden, desto unschuldiger sahst du dabei aus! Wundervoll ist dieses ossetische Bergland.

Die ossetische Heer­

straße nimmt es auch auf dieser Strecke an reichhaltiger, wunder­ barer Schönheit und wilder Großartigkeit reichlich mit der grusinischen Straße auf.

Aus dem Thal des am Adai Choch entspringenden

Kibe-Don senkt sie sich weiter hinab in die herrliche Ardonschlucht, dieses

großartige

Seitenstück

zu

der

berühmten

Darjalschlucht.

Hier ist es der brausende Ar-Don (ö. h. das „tolle Wasser"), der — wie dort der Terek — zwischen himmelhohen, in den schroffsten und seltsamsten Formen aufgetürmten Felsen sich hindurchwindet, kaum Raum lassend für die Straße, die vielfach in die Felsen ge­ sprengt nur mühsam hin und wieder den notwendigsten Platz zum Ausweichen gewinnt. Häufig genug begegnet man noch den Spuren von Felsstürzen und an einzelnen Stellen ist noch zu erkennen, das; ein junges Büffelgespann unter der Hand eines ungeschickten Führers, das Gestein und

die Pflanzen der Böschung mit sich reißend, in

die Tiefe gestürzt ist.

Vielfach

müssen an den Windungen der

Straße die Gespanne halten und sich erst durch Anruf überzeugen, daß die nächste Strecke von Wagen frei ist; denn nicht überall können sich Fuhrwerke ausweichen.

Der Eingang in die Ardon­

schlucht wird durch ein auf hohem Felskegel zwischen dem Ardon und Kibedon gelegenes altes Kastell bezeichnet.

Hier soll lange

ein grusinischer Prinz gehaust haben, der als Flüchtling die Gast­ freundschaft der Osseten in Anspruch nahm und zuletzt auch aus dieser Veste seine Tage beschloß. Sein Grabstein soll noch erhalten sein.

Die

einzigen

Erweiterungen

der

Ardonschlucht

sind bei

St. Nikolaus und Gulak zu finden. St. Nikolaus macht einen sehr freundlichen Eindruck; es erinnert äußerlich an die Stationen der grusinischen Heerstraße, obwohl es Poststation im eigentlichen Sinne

99

gar nicht ist.

Aber die geräumigen, freundlichen Gebäude, von

In der Ardonschlucht.

deren weißgetünchten Mauern sich die roten Dächer lebhaft ab­ heben, der kleine Obstgarten am Hause und das weite Viereck des sauber gehaltenen Hofes unterscheiden dieses Rasthaus sehr vor-

100 teilhaft von

allen

andern der ossetischen Heerstraße.

übrigens seinen guten Grund.

Das hat

Die Station ist deshalb besonders

in Stand gesetzt worden, weil der kranke Großfürst Thronfolger, Georg Alexandrowitsch, der kürzlich verstorbene Bruder des jetzigen Kaisers vor einigen Jahren hier seinen Aufenthalt nahm, als er auf der Reise nach Abbas Tuman begriffen war, dem jetzt bevor­ zugten klimatischen Kurort in Georgien, den er sich zum Wohnsitz gewählt

hatte.

Bei

St. Nikolaus

mündet das

Seitenthal der

Ardon-Schlucht, durch das man am besten den Ausstieg zum Zejagletscher, dem größten des Adai Choch, wählt. Man erhält einen Begriff von der ungeheuren Masse dieses Bergriesen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der ganze lange Weg vom Wächterhause von Gurschewi bis St. Nikolaus nur im Halbkreise um den Fuß des Adai Choch herumführt. Ich erwähnte schon, daß unsre beiden Kutscher Leute von sehr verschiedener Gemütsart waren. Storni so, der liebenswürdige, fröhliche Geselle, der immer ein lustiges Lied in der Kehle und einen ge­ lungenen Einfall auf der Zunge hatte, und dabei sein Gefährte, der jenes hypochondrische und unumgängliche, unbescheidene Wesen hatte, das nach der Meinung unfreundlicher Nachbarn für einen Charakterzug des ossetischen Volks ausgegeben wird, — allerdings in dieser Verallgemeinerung wohl mit Unrecht.

In St. Nikolaus

machte dieser unliebenswürdige Vertreter des ossetischen Volks den scheinbar ganz ernsthaften Versuch, zu streiken.

Er weigerte sich,

wieder anzuspannen, da seine Pferde überanstrengt seien. Kaltblütig luden wir unsre Sachen von seinem Wagen herunter und verhandelten mit Avanko, um mit ihm allein weiter zu fahren.

Das hatte er

nicht erwartet. Brummend schirrte er seine Pferde an, die übrigens nicht die leisesten Spuren von Ermüdung zeigten, und bald war die

alte Schlachtordnung wieder hergestellt.

Ich erwähne diese

kleine Episode, da sie zeigt, wie weit man mit ruhigem, festem Auf­ treten kommt, während Heftigkeit gar nichts nützt und sogar die Lage des Reisenden unter Umständen ernst mnd gefährlich gestalten kann. In Gulak wiederholte sich ein ähnlich erAnftritt, wurde aber ebenso schnell und glücklich überwunden.

(

Nicht weit von Gulak

101 befinden sich auch die Anlagen des großen Silber- und Bleiberg­ werks, das zum erstenmal nach langer Bergeinsamkeit die Nähe der geräuschvollen Welt außerhalb des Gebirges ankündigt. Große neuerrichtete Fabrikgebäude, Arbeiterkasernen und Wachthäuser — in der wilden Ardonschlucht ein ganz fremdes Treiben — zeigen, daß die Ausbeutung der Bergschätze jetzt erst rechten Aufschwung nimmt. Noch einmal verengt sich die Schlucht und entwickelt den vollen Zauber dieser großartigen Wildnis.

Dann aber, als sich soeben

die Dämmerung über die Berge senkte, waren wir auch am Aus­ gang des Thals angelangt) das Gebirge wurde jetzt ziemlich un­ vermittelt abgelöst von der Steppe.

HO. Alagir. Nur eine kurze Strecke ist die Straße im Ardonthal, nachdem sie aus der letzten engen Felsenpforte, herausgetreten ist, von etwas weiter zurücktretenden, niedrigen, bewaldeten Hügeln begleitet. Dann öffnet sich ganz plötzlich und fast ohne Übergang das Thal in eine vollkommen ebene Landschaft, und nur etwa zwei Werst weiter gelangt man bereits an den freundlichen, weit ausgebreiteten Flecken Alagir, wo ich auf die Einladung Avankös seine Gastfreundschaft genießen sollte. Hier in Alagir erhielt ich einen ganz andern Begriff von der Lebensweise der wohlhabenderen Osseten, die unten in der Ebene wohnen und sich von ihren Brüdern in den Bergen recht merklich unterscheiden.

Der Ort Alagir zerfällt übrigens in zwei, deutlich

von einander verschiedene Teile.

Der eine Teil ist ein europäischer

Flecken, der ganz das Ansehen einer kleinen russischen Provinzial­ stadt oder des Vororts einer größeren Stadt hat, einer sogenannten „sloboda", wie der Russe sagt.

Dieser Teil des Orts dient den

russischen Beamten, Krämern und sonstigen Gewerbetreibenden zum Aufenthalt, zugleich aber auch den Sommerfrischlern aus Südruß­ land, deren es hier nicht wenige giebt.

Ganz abgesondert von

102 diesem recht freundlich aussehenden europäischen Alagir liegt das ossetische Bauerndorf Alagir, das gleichfalls einen nicht üblen Ein­ druck macht und mit

den ossetischen Gebirgsdörfern gar nicht zu

vergleichen ist. Avankös Anwesen lag au der schnurgeraden Hauptstraße. Rings um den viereckigen, gut geebneten und mit einer Kiesschicht versehenen Hof gruppierten sich mehrere Gebäude. vom Thor

an

Das Hauptgebäude, links

der Straße gelegen, aber nur vom Hof aus zu­

gänglich, enthielt die Repräsentationsräume und war gleichsam der „Palas" dieser kleinen Burg: zur Rechten des Thors und gegen­ über lagen die bewohnten Räume, also dementsprechend die „Keme­ naten". Bon diesen war das vordere Haus für die Gäste bestimmt. Die andern Seiten des Hofes waren von Schuppen, Scheunen und Stallgebäuden eingenommen- dahinter breitete sich der Gemüsegarten aus.

Die Gebäude selbst waren von unsern Bauernhäusern nicht

allzu verschieden: nur der verandaähnliche Vorbau an der Hofseite des Hauptgebäudes und das Fehlen der Fenster an der Straßen­ seite erinnerte an die Verwandtschaft mit asiatischem Brauch. Im Vergleich mit grusinischen Gehöften hatte das Äußere dieses ossetischen Bauernhofs etwas sehr Auffallendes und für uns An­ heimelndes. Der gute Avankö erschien jetzt wie ausgewechselt. Vorher war er der lustige Postillon gewesen; hier war er der Herr und Gebieter. Und was für einer!

Jeder Zoll ein Herrscher!

Gewichtig tönte

in dem eigenen Tonfall der ossetischen Sprache seine Stimme durch den Hof, als er die Weibsleute auf die Beine brachte und dem Knechte seine Befehle erteilte.

Feierlich führte er mich in den für

die Gäste bestimmten Raum, wo mir allerdings ein etwas über­ raschender Anblick zuteil wurde.

Die beiden Lagerstätten fand ich

bereits von zwei ossetischen Männern besetzt, von denen der eine völlig angekleidet in Wehr und Waffen wie ein Bleiklumpen dalag und nur durch ein markerschütterndes Schnarchen allen Anwesenden die beruhigende Gewißheit gab, daß er noch am Leben sei.

Im

übrigen reagierte er auf die Außenwelt in keiner Weise. Es tonnte nicht der leiseste Zweifel darüber bestehen, daß der gute Mann den

103 an das Nirwana erinnernden Zustand seines Geistes dem reichlich genossenen Alkohol verdankte. Man wird es mir nachfühlen können, daß ich diese Nachbarschaft eines bezechten Fremdlings nicht gerade behaglich empfand; indessen „ländlich — sittlich", — ich mußte sehen, mich mit der Lage abzufinden, so gut es ging. Vorläufig erkundigte ich mich also nur nach einer Lagerstätte für mich, eine Frage, der Avankö mit unendlicher Hoheit und Überlegenheit in seinem fremdartigen Russisch nur das eine Wort: „dinickjoiu!" (Wir werden es finden) entgegensetzte, und bald entwickelte sich denn auch alles wie am Schnürchen. Ein Lager wurde durch eine auf dem Fußboden ausgebreitete gute Matratze hergerichtet, wobei sogar Kissen und Decke nicht fehlten, und auch für den Imbiß wurde gesorgt. Auf einer runden Platte, die auf ganz kurzen Füßen ruhte, so daß sie, auf den Boden gestellt, so niedrig wie eine Fuß­ bank war, wurde Brot und Käse ausgetragen, dazu als Getränk der ossetische „Arak". Darunter darf sich der Leser aber nicht den duftenden Inhalt jener Flaschen vorstellen, von denen die Inschrift „Arac de Goa" dem Freunde eines guten Schlummergrogs lieblich entgegenleuchtet. Nein! Da ich hoffe, daß die Leser es meinem Freunde Avankö nicht weiter sagen werden, will ich sogar verraten, daß der ossetische Arak eine der abscheulichsten Abarten von gebranntem Wasser ist, die mir bis jetzt vorgekommen sind. Es ist eine gräßliche Fusel­ brühe aus Mais. Ich weiß nicht, ob ich recht habe, da ich noch keine ernsthaften Versuche angestellt habe, aber ich kann mir nicht helfen: ich stelle mir eine entsprechende Verdünnung von denaturiertem Spiritus annähernd vor. Hier half nun alles nichts, getrunken mußte es werden, und zwar aus Gläsern, die gut fis Liter faßten. Drei „Offizielle" ergaben sich allein aus dem Austausch der not­ wendigsten Höflichkeiten; dann fing ich an, „kurz zu treten", auf die Gefahr hin, von Avankö nicht für arakehrlich gehalten zu werden. Glücklicherweise ging alles noch besser ab, als ich gefürchtet hatte und ich wundere mich noch heute, daß ich diese Genüsse ohne schweren Katzenjammer vertragen habe. Zuletzt mußte ich auch noch „Brag" (= Bräu, Bier) kosten. Wenn auf der Stufenleiter der Braukunst

104 das bayerische Bier die höchste Stufe der Vollkommenheit einnimmt, weiterhin die andern Lagerbiere, dann die obergärigen Biere folgen und nach ihnen der russische Kwas kommt, so steht der „Brag" als noch ursprünglichere Form wiederum eine Stufe tiefer. Er schmeckt gar nicht so übel, aber das Aussehen! Gütiger Himmel! Mir fiel die berühmte Geschichte vom alten Hansriede aus Ziegenhain bei Jena ein, der auf die unverständige Bemerkung eines Fremden, sein Bier sei so trübe, daß man keinen Frosch darin sehen könne, gleich­ mütig erwiderte: „Wenn Se keen'n 'nein dhun, können Se ooch keenen drin sih'". Aquarium

Nun, in

dem Brag könnte man ein ganzes

von Fröschen, Salamandern und Molchen einrichten,

ohne daß der vertrauensvolle Zecher eine Ahnung davon hätte. Während unsrer Mahlzeit wartete die Schwester des Hausherrn, ei» junges Mädchen von etwa achtzehn oder neunzehn Jahren, auf und sorgte für die Bequemlichkeit der Gäste.

Ich erwähne dies,

weil dieser geringfügige Umstand die ossetische Sitte ausfallend von der grusinischen Bauernsitte unterscheidet. Bei den Grusinern dürfen weibliche Wesen sich nicht vor den Gästen des Hauses zeigen. Ich spreche hier natürlich Ständen.

nicht von den Städtern und den höheren

Der Grusiner ist eben trotz seines christlichen Glaubens

nach Sitte und Brauch ganz und gar Asiate, während der Ossete, auch als Mohammedaner und Heide, trotz vielfacher Anpassung an asiatische Einrichtungen im Grunde doch Europäer, oder genauer sagt, Arier bleibt. Die Frauen und Kinder bewegen sich gewöhnlich im Haushalt des Osseten ganz wie bei unsern Bauern. Auch die Einrichtung des Hauses bietet mancherlei Anklänge au unseren heimischen Bauernbrauch. Das fällt fast allen Besuchern des Ossetenlandes auf und hat schon zu vielen eingehenden Forschungen Veranlassung gegeben, die natürlich auch der Theorie von der ger­ manischen Abstammung der Osseten neue Nahrung zugeführt haben. Freiherr von Haxthausen z. B., der sich um die Erforschung des Kaukasus sehr große Verdienste erworben und ein wertvolles Reisewerk über Transkaukasien verfaßt hat, — das Werk ist allerdings älteren Datums, schon 1856 erschienen, — hat über die Lebensweise der Osseten sehr

umfangreiche Untersuchungen angestellt und nach-

105 gewiesen, wie eine ganze Reihe von Einrichtungsgegenständen des ossetischen Haushalts weder bei Grusinern, noch Russen, noch bei irgend einem andern benachbarten Volk annähernd ähnlich zu finden ist, wohl aber noch heute bei deutschen Bauern. Die Gewohnheit, auf Stühlen, Schemeln und Bänken zu sitzen, statt des sonst bei den Bergvölkern gebräuchlichen Hockens auf dem Boden nach orien­ talischer Art, teilen die Osseten freilich mit den Russen. Aber die

Osseten und Kosaken bei Wladikawkas.

ossetische Bauernbettstelle ist beispielsweise ein Gerät, das auch der russische Bauernhaushalt ursprünglich nicht kennt, und der orientalische natürlich noch weniger. Auch sah ich eine Wiege, deren bunte Be­ malung mich sehr lebhaft an Muster erinnerte, wie ich sie in nieder­ hessischen Bauernhäusern gefunden habe. Haxthausen stellte schon um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts fest, daß auch die landwirt­ schaftlichen Geräte der Osseten uralten germanischen Mustern ent­ sprechen und daß auch die Osseten das einzige Volk sind, das die deutsche Art der Butterbereitung hat. Diese ist nämlich von Hause aus auch den Russen fremd; sie haben sie erst von den Deutschen

106 gelernt. Haxthausens Mitteilungen sind übrigens in dieser Beziehung wertvoller, als alle heutigen Beobachtungen. Denn damals waren die Osseten noch von der modernen europäischen Kultur ganz un­ berührt. Bei dem heutigen Verkehr und den überallhin reichenden Beziehungen der Industrie und des europäischen Markts gelangen natürlich gewerbliche Erzeugnisse der verschiedensten Art zu den entlegensten Völkerschaften, und man muß daher mit etwaigen Schlußfolgerungen sehr vorsichtig sein. Heutzutage trinken die Leute in den fernsten Gebirgsthälern Asiens aus Gläsern, die in deutschen Glashütten gemacht sind, und die bunten Tücher ihrer Frauen und Töchter sind vielleicht aus amerikanischer Baumwolle in Rußland gefertigt und mit Farben aus Deutschland gefärbt. Es bleibt aber immer doch manches erhalten, was den Stempel altüberlieferter Eigenart trägt, und dieses wenige bietet mitunter Überraschungen genug. Bei den Osseten findet man z. B. noch Holztrinkgefäße von offenbar althergebrachter Form, darunter auch solche, die sonst auf der Welt wohl nur in den jedem ehemaligen Jenenser Studenten wohlbekannten Lichtenhainer Kännchen vertreten sein dürften, — jene echt deutsche, charakteristische Form, die sich auch nach dem Aufkommen der Glasindustrie in der Form des deutschen Bierseidels erhalten hat. So erhält der Fremde bei den Osseten, ganz im Gegensatz zu allen andern kaukasischen Völkern, den bei jedem weitern Umschauen sich verstärkenden Eindruck, daß dieses Volk zwar schwerlich von Germanen abstammt, aber sicherlich seine Sitten und Einrichtungen von Lehrmeistern germanischen Stamms empfangen hat. Ein Gegenstand war es hier in Alagir, der mir entschiedene Hochachtung abnötigte, weil ich ihn in diesen Verhältnissen am wenigsten erwartet hatte, nämlich — eine Waschschüssel. Ist es mir doch mitten im lieben deutschen Vaterland in einem abgelegenen Gebirgsdorf begegnet, daß ein gewöhnlicher Suppenteller die Rolle dieses Geräts spielen mußte. Man war eben dort ebenso, wie auch meist im Kaukasus, der Ansicht, daß zu diesem Zwecke der Bach da sei, der durch das Dorf floß. Hier aber fand ich eine richtige flache Zinnschüssel von achtungswertem Umfange, die recht gut als

107 Unterbau zu einem Doucheapparat hätte dienen können. Dazu ge­ hörte ein hoher, enghalsiger Zinnkrug von sehr zierlicher, ich möchte sagen, klassischer Form.

Es wurde also doch für den Reinlichkeits­

zweck ein gewisser Luxus entfaltet. Die Sonderstellung, die die Osseten unter den Bergvölkern in Sitten und Einrichtungen einnehmen, könnte vielleicht zu der Vor­ stellung fuhren, als ob dieses Volk sich auch in Tracht und Typus erheblich von seinen Nachbarn unterscheiden müsse. durchaus nicht in besonderem Maße der Fall.

Das ist nun

Daß die häufig

wiederholte Behauptung von dem überwiegend blonden Typus der Osseten

eine Fabel ist, habe ich schon früher erwähnt.

Hellere

Schattierungen der Haarfarbe findet man in mindestens gleicher Weise auch unter den Grusinern und Tataren. Ich leugne natürlich keineswegs, daß genauere Beobachtung auf wissenschaftlicher Grund­ lage, vor allem Schädelmessungen u. dergl. sicherlich bedeutendere Unterschiede in dem Durchschnittstypus der Osseten und Grusiner feststellen werden. So glaube ich z. B., daß solche wissenschaftlichen Feststellungen wahrscheinlich einen durchschnittlichen Unterschied in der Körpergröße ergeben würden.

Man hat wenigstens den Ein­

druck, daß die Osseten im allgemeinen höher gewachsen sind, als die Grusiner. Auch sieht man unter den Osseten mehr vierschrötige Erscheinungen und weniger regelmäßige Gesichtsbildnng, als unter den Grusinern, und man findet auch nicht so häufig die gemessene und

anmutige Art, sich zu bewegen, die dem Fremden sonst bei

den Bergvölkern und auffallender Geschlecht.

den Transkaukasiern so

auffällt.

Etwas

erscheinen die typischen Unterschiede beim weiblichen Die eigentümlich scharf geschnittenen Gesichter der Gru-

sinerinnen mit der gewöhnlich im Verhältnis zur Kinnpartie etwas zu lang gestreckten Nase, die den meist außerordentlich früh alternden Zügen etwas von der Physiognomie eines Vogels verleiht, sieht man im Ossetenlande selten. Hier überwiegt eher das platte Mon­ golengesicht mit der Stumpfnase. man

diesen

Mongolentypus

Das Merkwürdige aber ist, daß

bei dem

männlichen Geschlecht fast

nirgends ausgeprägt findet. Vielleicht trügt auch die Tracht dazu bei, um gerade bei den

108 ossetischen Frauen Unterschiede von andern Stämmen in der äußern Erscheinung etwas mehr hervortreten zu lassen.

Die Ossetinnen

kleiden sich im allgemeinen bunter als die Grnsinerinnen. Die Mütze, die

sie

zum

Sonntagsstaat tragen, hat eine

ist etwas höher.

andere Form; sie

Auch ist sie nicht mit dem schleierartigen Kopf­

schmuck, der sogenannten Tschadra, versehen.

Dafür tragen die

Frauen und Mädchen bunte Kopftücher, die ebenso umgeschlagen werden, wie dies bei den russischen und polnischen Bäuerinnen und auch in manchen Gegenden Norddeutschlands üblich ist.

Charak­

teristisch für die ossetische Frauentracht ist auch das Mieder, dessen Verzierung in Schnüren von jener Form besteht, die die Franzosen „brandebourgs" nennen.

Erckert weist darauf hin, daß diese Ver­

zierung sich sonst vorzugsweise bei Völkern turanischen oder, wie man jetzt meist sagt, ural-altaischcn Stammes findet.

Sie ist ja

auch besonders durch die Nationaltracht eines andern turanischen Volks, der Magyaren, und die davon entlehnte Husarenuniform in Westeuropa bekannt und beliebt geworden. Die Tracht der ossetischen Männer hat dagegen so gut wie gar keine Besonderheiten.

Viele Schilderungen aus dem Kaukasus

erwecken überhaupt die falsche Vorstellung, als ob jeder Volksstamm dort seine

eigene Nationaltracht habe, die ihn von andern sofort

augenfällig unterscheidet.

Man thut gut, diese Vorstellung sogleich

fallen zu lassen, wenn man nicht beständigen Irrtümern ausgesetzt sein will.

Auch in den wilden Bergen des Kaukasus herrscht eine

Macht, die die ganze Kulturwelt zu Sklaven gemacht hat, — die Mode.

Wo der Verkehr eine kleidsame und geeignete Tracht hin­

getragen hat, da wird sie nachgeahmt; die ursprünglichen National­ trachten hören dann auf, die einzelnen Völkerschaften zu unterscheiden, und

erobern sich eine mehr nach örtlichen Bezirken

abgegrenzte

Geltung. So kommt es, daß man bei nahe verwandten Stämmen oder sogar Teilen desselben Stammes, wenn sie in verschiedenen, von einander getrennten Gebirgsthälern wohnen, auffällige Unter­ schiede in der Tracht findet, dagegen bei zusammenwohncnden Ver­ tretern der verschiedensten Völkerschaften oft gleiche Tracht antrifft; nur unter bestimmten Verhältnissen, z. B. in Tiflis, erhalten sich

verschiedene Trachten neben einander.

Während im östlichen Kau-

Ossetisches Mädchen

kasus aus leicht zu erkennenden Gründen die persische Tracht als Vorbild gedient hat, herrscht in Westen überwiegend die Tracht,

110

die bei uns in der Regel fälschlich unter dem Namen der „Tscherkesfentracht" bekannt ist. Sie ist den Grusinern und Osseten ge­ meinsam und ist gleich beliebt im Süden, wie im Norden des Gebirges. Nur einige wenige Stämme der Grusiner kleiden sich anders. So ist das malerische Kostüm der Gurier und Adsharen im südwestlichen Transkaukasicn wohl auf armenische und klein­ asiatische Muster zurückzuführen. An der sogenannten Tscherkessentracht sind die wirklichen Tschcrkessen eigentlich recht unschuldig. Sie stammt vielmehr aus der Kabarda, der nördlich dem Elbrus vorgelagerten Hochebene. Die leichtlebigen, geselligen und ritter­ lichen Bewohner der Kabarda galten nämlich früher den übrigen Bergbewohnern vorzugsweise als tonangebend auf dem Gebiet der Mode und Lebensart. Ihre kleidsame und praktische Tracht wurde bald überall von ihren Nachbarn nachgeahmt. Bekanntlich wurde sie auch sehr bald von den an der Grenze angesiedelten kaukasischen Kosaken übernommen, und so wurde dieses Kostüm schließlich auch die Uniform der kaiserlichen Gardekosaken und des kaiserlichen Kon­ vois, Truppen, bei denen seiner Zeit Kaiser Nikolaus I. mit Vorliebe junge kaukasische Edelleute, wenn auch nicht gerade Tscherkessen, dienen ließ. Heutzutage hat das so ziemlich aufgehört, aber die Offiziere dieser Truppen werden in ihrer eigentümlichen Tracht von fremden, der Uniformen unkundigen Besuchern Petersburgs noch häufig für „Tscherkessen" gehalten und als solche bewundert. Daher liest man in Reisebeschreibungen häufig von den in der russischen Hauptstadt umherlaufenden malerischen Tscherkessen, wohl zur stillen Verwunderung der eingeborenen Petersburger, von denen selbst die ältesten Leute vielleicht noch keinen lebendigen Tscherkessen gesehen haben. Die Unterschiede, die innerhalb dieser gemeinsamen Tracht der westlichen Kaukasier noch bestehen, erstrecken sich auf kleinere Ab­ weichungen, namentlich in der Kopfbedeckung, der Form der Waffen, u. s. w., aber diese Unterschiede werden durch die Mode einzelner Gegenden, nicht durch Stammeszugehörigkeit bedingt. In einer Gegend bevorzugt man den breitkrämpigen weichen Filzhut, in einer andern die Lammfellmütze, die hier niedrig und breit, dort hoch

111 und spitz, dort wieder unförmig hoch oder rund getragen wird. Die Osseten tragen sehr gern den weichen

Filzhut, und wenn

man sie damit in ihren langen dunklen Tscherkeßken, in der Hand den Bergstock, langsam einherschreiten sieht, so wartet man unwill­ kürlich auf den Augenblick, wo sie den Pilgerchor aus dem Tann­ häuser anstimmen. A propos singen!

Die Osseten haben noch eine Eigenheit

vor andern Kaukasiern voraus: sie sind musikalisch, und zwar im europäischen Sinne musikalisch.

Die unserm Ohr sonderbar er­

scheinende, unsern melodischen Gesetzen zuwiderlaufende kaukasische Musik ist den Osseten fremd; sie haben Melodien, die an unsre europäischen Volkslieder erinnern. Das Beispiel meines Gastfreundes Avanko zeigte mir, daß auch zahlreiche russische Volkslieder bei den Osseten Eingang gefunden haben. Er war unermüdlich in dem Vortrag dieser Lieder. Am andern Morgen hatte ich reichlich Gelegenheit, mich noch aus dem Hofe umzusehen, denn es dauerte eine ganze Weile, bis der Wagen reisefertig war. hier nicht zu lieben.

Das Frühaufstehen schien man auch

Der eine der beiden Gäste, der am Abend

vorher so schwer geladen und so glänzende Probe seines Schnarchtalents

abgelegt

hatte,

war

allerdings

schon in

allerfrühester

Morgenstunde weggegangen; der andere wollte mit uns bis Ardon fahren.

Dazu mußten nun erst die Pferde von außerhalb des

Dorfes geholt werden, wo sie die Nacht über im „tabun", d. h. in einer Umzäunung herdenweise zusammen sind.

Endlich war der

Wagen fertig, mit dem ich schon am Tage vorher durch das Ge­ birge gefahren war, — ein einfaches Gestell wie ein Rollwagen, auf dem man seitwärts mit der Front nach außen sitzt; doch sind wenigstens rechts und links Bretter angebracht, auf die man die Füße stellen kann. Ein Pferd geht in einer Gabeldeichsel, und nach Bedarf werden an den Seiten ein oder zwei Pferde dazugespannt. So ging denn nun die Reise los.

Die Straße führt durch

die ebene Steppe, aus der im Süden ganz unvermittelt die mächtigen Formen des Gebirges emporsteigen.

Jetzt waren die Berge zum

größten Teil in Wolken gehüllt; kühle Regenschauer wurden vom

112 Westwind über die Ebene getragen, und nur selten tauchte im fernen Südosten das weiße Haupt des Kasbek über den Wolken auf. Die Straße ist hier eine richtige russische Steppenstraße, d. h. eigentlich weiter nichts als ein Teil der Steppe, der in einer gewissen Breite unbebaut geblieben ist und auf dem sich Menschen, Tiere und Wagen nach Bedarf ihren Weg suchen.

Die einzige Abwechselung boten

hier die uns begegnenden Truppenabteilungen, meist Artillerie, die ans dem Marsch nach einem Übungsplatz oder einer neuen Garnison begriffen war.

Sonst passierten wir auf dem Wege nach Dargkoch

nur eine einzige Ortschaft, die Station Ardon, einen freundlichen, sehr weitläufig gebauten Ort an der Mündung des gleichnamigen Flusses in den Terek.

Hier verließ uns unser Reisegefährte, und

Avanktz benutzte diesen Abschied und Aufenthalt, um sich bei einem gemeinsamen Gastfreunde beim Arak festzukneipen; mit Mühe bewog ich ihn zur Abkürzung dieser Erholungspause. aber,

Er entschädigte mich

indem er bei der weiteren einförmigen Fahrt in dem jetzt

stärker strömenden Regen lieferte mir so

desto

fleißiger und lustiger saug, und

einen unanfechtbaren Beweis für den praktischen

Nutzen der in Ardon vollzogenen Anfeuchtung seiner Kehle und der Festigung Witterung.

seines innern Menschen gegen die Einflüsse der nassen „Böse Menschen haben keine Lieder", pflegen wir frei

nach Seume zu citieren.

Ehrlicher AvankS!

Du gabst mir mit

deinem Singen, ohne es zu wissen, eine reichlich bemessene Probe deines guten Herzens! Bald war auch die Fähre über den Terek glücklich überwunden; in schneller Fahrt ging es dann am rechten Ufer des Flusses auf­ wärts dem Bahnhof Dargkoch zu.

Dort nahm ich Abschied von

Avankö, der mich zum Schluß noch als seinen Freund in so über­ schwänglichen Worten pries, daß er fast einen Auflauf um mich veranlaßte und die Bahnbeamten mich mit sichtlicher Neugier zu betrachten anfingen. schiednehmen bald

Das Einlaufen des Zuges machte dem Ab­ ein

Ende;

zwei Stunden

später war ich in

Wladikawkas, von wo ich schon am folgenden Tage die Reise nach Tiflis fortsetzte.

113

U. Sommertage in Tiflis. Sommertage in Tiflis! Das ist eigentlich ein fürchterlicher Gedanke. Die Bewohner der transkankasischen Hanptstadt selbst pflegen im allgemeinen der Ansicht zn sein, daß der Sommer für sie dann am schönsten ist, wenn sie ihn nicht in Tiflis znznbringen branchen, sondern in Borshom, Abbas. Tnman, Kodschor, oder wie sonst die Orte im Snramgebirge, im armenischen Gebirge, in Kachetien unb an den Gebirgsstraßen heißen mögen, in die der geplagte Großstädter vor der sengenden Hitze unb dem erstickenden Stand der alten Hanptstadt am Knr zu flüchten pflegt. Ein Sommeraufenthalt in Tiflis ist nur dann erträglich, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens mnß man beim heiligen Petrus, oder wer sonst da oben das Wetter macht, so weit gut angeschrieben sein, daß er das Quartier einigermaßen vorbereitet, d. h. daß er durch ein paar kräftige Gewitter, wie sie meiner Ankunft vorangingen, erst einmal eine gewisse Reinigung und Abkühlung der Atmosphäre schafft. Und zweitens mnß man in einem Hotel wohnen, wie es das Hotel London ist, in dem eine deutsche Hausfrau ihr liebens­ würdiges und doch energisches Szepter schwingt. Dieses durch Sauberkeit, Bequemlichkeit, strenge Ordnung unb gute Verpflegung ausgezeichnete Hotel steht im ganzen Kaukasus einzig in seiner Art da. Speisesaal und Lesezimmer münden auf eine Veranda, aus der man in den Garten hinuntergelangt, der den Blick auf den jenseits des Flusses liegenden Stadtteil frei läßt. Auch die Fremdenzimmer darüber stehen mit einer geräumigen Galerie in Verbindung, von der aus man den Garten, die Kurbrücke, einen freundlichen Stadt­ teil und in der Ferne die Schneehäupter des Gebirges übersieht. Früher war das Hotel im Besitz eines Franzosen; es war schon damals in vieler Beziehung das beste am Ort, aber man trank für teures Geld schlechten Wein und völlig ungenießbares Bier. Dann übernahm es der deutsche Besitzer, Herr Richter, dessen Witwe noch jetzt das Hotel leitet. Gleich vor dem Hotel liegen die Anlagen des Alexandergartens, v. M a s s o w, Aus Krim und Kaukasus.

8

114 die zu dem hochgelegenen Golowiuski-Prospekt, der Hauptstraße des modernen Tiflis emporsteigen.

Früher war der Blick vom Golo-

winski-Prospekt nach dem Alexandergarten hinunter sehr hübsch und eine besondere Zierde dieses elegantesten Teiles der Stadt.

Unbe­

greiflicherweise aber hat man gerade diesen Ausblick verbaut und an die Straße hier den Bau der Ruhmeshalle gesetzt, der den Blick auf die grünen Bäume und Anlagen völlig versperrt.

Die Ruhmes­

halle, ein Bau, der einen einzigen, in eine Mittelhalle und zwei Seitenflügel gegliederten Raum umfaßt, ist dem Andenken der Unter­ werfung

des Kaukasus

durch die Russen bestimmt und in seiner

ganzen Einrichtung noch nicht vollendet.

Der Saal birgt die ver­

schiedensten Reliquien und Merkwürdigkeiten aus der Zeit der Kämpfe; seine Wände sind

mit den Bildnissen der russischen Herrscher seit

Paul I. und der verschiedenen Statthalter, Generalgouverneure und Heerführer geschmückt, die sich um die Eroberung verdient gemacht haben.

Daneben finden wir zahlreiche Schlachtenbilder und denk­

würdige Szenen aus der Geschichte des Kaukasus während seiner Eroberung durch die Russen. vorragender Bedeutung, durchaus dem

Künstlerisch nicht gerade von her­

dienen diese Gemälde doch

bestimmten Zweck,

als

insofern hier

sie mit der Sorgfalt, die

der russischen Malerei im Kopieren der Natur eigen ist, der Nach­ welt ein sehr getreues und anschauliches Bild von den Kämpfen im Kaukasus vermitteln.

Augenblicklich macht das Ganze noch einen

etwas öden und unfertigen Eindruck.

Als ich die Ruhmeshalle

besuchte, war ich zufällig der einzige Besucher und wurde von den Beamten so erstaunt und mißfällig forschend angesehen, daß ich mir fast wie ein Verbrecher vorkam. Da ging es doch im Museum, der Schöpfung unseres Lands­ manns Radde, der noch jetzt in außerordentlicher Frische jedes Jahr zur Bereicherung der Sammlungen und Vertiefung der Forschungen beiträgt, erheblich lebhafter zu.

Hier fand sich eine ganze Anzahl

von Besuchern zusammen, trotz der Sommerzeit.

Ich muß aber

leider gestehen, daß ich dem Museum nur kurze Zeit gewidmet habe. Denn das Material, das dort geboten wird, ist von erdrückender Fülle,

so daß man nach dem ersten Rundgang das Gefühl hat:

115

hier darf man, wenn man wenig Zeit hat, erst gar nicht anfangen, sonst kommt man überhaupt nicht los. Hier findet man alle Er­ gebnisse der Kaukasusforschung auf engem Raume zusammen, eigent­ lich auf allzu engem Raume, aber in mustergültiger Ordnung und Zusammenstellung. Der Geologe, der Mineraloge, der Botaniker, der Zoologe, der Paläontologe, der Anthropologe und Ethnologe, der Geograph und Historiker, — Jeder findet hier reiches Material

Tiflis, Festungsrumen, Botanischer Garten, Perserviertel.

beisammen in Präparaten, Fundgegenständen, Zeichnungen und Modellen, Karten und Photographien. Besonders reichhaltig ist die zoologische Abteilung. Hier kann man die Eigenart des Kau­ kasus, indessen abgelegenen Revieren noch manche sonst verschwundene Arten der Tierwelt hausen und in dem Auerochs und Steinbock noch heimisch find, sehr eingehend studieren. Einen würdigen künst­ lerischen Schmuck des Museums bilden in der Vorhalle des ersten Stocks die schon von mir erwähnten Fresken von Franz Simm, 8*

110 die Darstellungen aus der Argonautensage, der Prometheus, die Amazonen und der Weinberg Noahs. In der Nähe des Museums und der Ruhmeshalle liegen am Golowinski-Prospekt

auch

die

andern

hervorragenden

Gebäude

der Stadt: der Palast des Großfürsten Michael, die große Kathedrale, die größten europäischen Geschäftshäuser und weiterhin das neue Theater, ein sehr stattlicher Bau in mächtigen Dimensionen. Aber all­ zuviel Interesse vermag dieser ganze Stadtteil, zumal in der Sommers­ zeit, dem Fremden nicht einzuflößen. Derartige Sraßenanlagen be­ dürfen eines lebhaften Verkehrs; daran aber fehlt es im Sommer dort gänzlich.

Nein! wer das echte Tiflis kennen lernen will, braucht

hier nicht lange zu verweilen.

Tiflis ist im ganzen eine recht wunder­

liche Mischung verschiedener Kulturen und Zivilisationstypen.

Früher

bestanden diese alle ziemlich unvermittelt neben einander; jetzt aber fließen sie etwas mehr ineinander und vermischen sich, nicht gerade zum Vorteil des Ganzen.

Aber es bleiben in den einzelnen Stadt­

teilen immer noch genug seltsame Gegensätze.

Am meisten tritt die

durch Berührung mit allerlei fremden Wesen verursachte leise Ver­ änderung des ursprünglichen Charakters in dem ehemals deutschen Viertel hervor. Kaiser Alexander I. war es, der im Jahre 1818

vor den

Thoren des alten Tiflis auf dem linken Ufer des Kur eine deutsche Kolonie gründete. Die Kolonisten kamen aus der Heimat der Mutter des russischen Kaisers, dem Schwabenlande, und ihre Nachkommen bewahren noch mit bekannter Zähigkeit die Eigenheiten ihrer Mund­ art.

Mit der Zeit ist der Raum, der diese deutsche Kolonie schon

äußerlich von der Stadt Tiflis trennte, durch Bauten ausgefüllt worden, und seit gar der Bahnhof von Tiflis im Nordosten der deutschen Kolonie entstanden, also der Hauptverkehr vom Bahnhof nach der Stadt hier hindurchgeleitet ist, hat sich der frühere Charakter der Niederlassung nicht mehr aufrecht erhalten lassen. fach ein Stadtteil von Tiflis.

Sie ist jetzt ein­

Noch in den achtziger Jahren unter­

schied sich dieser aber sehr wesentlich von den übrigen.

Wenn man

vom Bahnhof nach der Stadt fuhr, hatte man den überraschenden Eindruck, als ob man in einer deutschen Provinzialstadt sei. Die Häuser

117 hatten in ihrer Anlage und Ausschmückung das Anheimelnde und Trauliche, worin der Deutsche sofort ein Stück von seinem Wesen und seiner Heimat erkennt.

Die engeren Straßen, das freundliche

Aussehen der Häuser, die Bepflanzung mit Bäumen, die Blumen­ töpfe an den Fenstern und viele kleine Züge, die dem schärferen Beobachter das Bild vervollständigen helfen, sagten auf Schritt und Tritt: Hier wohnen Deutsche. geworden.

Jetzt ist das doch vielfach anders

Wer gewisse russische Eigentümlichkeiten kennt, wird sehr

bald den Eindruck gewinnen, daß die Bewohner dieses Stadtteils zum großen Teil entweder völlig russifiziert sind oder überhaupt Russen das Feld geräumt haben.

So hat der deutsche Stadtteil

seinen besonderen Charakter eingebüßt, und nur die evangelisch­ lutherische Kirche, die schon durch ihren Baustil sofort als solche er­ kennbar ist, macht noch darauf aufmerksam, daß hier ein Vereinignngspunkt deutschen Lebens ist.

Ich kann mir aber denken,

daß heute vielleicht ein Fremder durch diese Straßen fährt, ohne das Geringste von einer deutschen Kolonie zu vermuten. Hier liegt überhaupt wenig von dem, was dem Besucher der Stadt so im allgemeinen als „Sehenswürdigkeit" gilt, und wer nicht zufällig besondere private Beziehungen hat, wird sich dort wenig aufhalten.

Auch der große Vergnügungspark Muschtaid am

Nordende der durch das deutsche Viertel führenden Hauptstraße be­ sitzt nicht gerade besondere Anziehungskraft in der Hochsommerzeit. Die Bäume und Büsche im Park sehen so müde und verschmachtet aus, obgleich die an sich recht hübschenWege und Anlagen mit Spazier­ gängern angefüllt sind, fehlt es doch an der Kundgebung eines be­ wegten, charakteristischen Volkslebens.

Weder Grusiner noch Arme­

nier haben das Zeug dazu, in ihrem äußeren Thun und Treiben ein frisch pulsierendes Leben zu entwickeln. Obwohl es ihnen nicht an Leidenschaft fehlt, geben sie sich doch in der Öffentlichkeit steif und ernst; nichts liegt ihrem Wesen ferner, als eine sich dem Augen­ blick hingebende, die Umgebung mit sich fortreißende, nach Bethätigung drängende Lustigkeit.

Ihr Blut ist heiß, aber schwer.

Die Euro­

päer vermögen diesen der ganzen Stimmung fehlenden Ton nicht hineinzubringen.

Die Russen können wohl ausgelassen sein, aber

118

hier ist die ganze Umgebung nicht dem volkstümlichen Geschmack angepaßt, der allein einer solchen Stimmung zum Durchbruch helfen kann. So geht es denn im Muschtaid recht ledern zu, und nur unten am Ufer des Kur herrscht größere Lebhaftigkeit unter den Gruppen der Badenden, deren paradiesische Ungeniertheit in diesem urwüchsigen Lande wohl nicht so sehr in Erstaunen setzt, als die Vertrauensseligkeit, mit der sie ihre Gewandung ruhig am Park­ ufer liegen lassen, während sie in ihrem Unschuldskostüm den Fluß durchqueren und am andern Ufer noch eine ganze Strecke spazieren gehen. Das größte Interesse der fremden Besucher nimmt doch immer der grusinische und armenische Stadtteil in Anspruch, ja eigentlich wohl nur der letztere; denn hier findet man die umfangreichen Bazare mit allen den Besonderheiten des asiatischen Lebens. In dem bergauf und bergab führenden Gewirr dieser engen und krummen Gassen und Gänge lernt der Reisende erst kennen, was er eigentlich von Tiflis erwartet und sich darunter vorgestellt hat. Erst hier komnit ihm das Völkergemisch zum Bewußtsein, das sich auf diesem Boden zusammenfindet und im Verhältnis zum Flüchenraum und zur Gesamtbevölkerung der Stadt eine Vielsprachigkeit erzeugt, die kaum in einer Weltstadt ihresgleichen finden dürfte. In diesen Strudel sich als stiller Beobachter, gelegentlich auch als Käufer hineinzustürzen, hat seinen ganz eigenen Reiz. Freilich ist der Blütenstaub orientalischer Romantik neuerdings auch hier etwas abgestreift. Die Tifliser Bazare arbeiten zum Teil bereits nach der Weise europäischer Kaufleute. Da sind z. B. einzelne sehr gute armenische Geschäfte, die für ihre Waren feste Preise eingeführt haben, und zwar Preise, die auf der Grundlage einer durchaus soliden Kalkulation bestimmt sind. Wenn dann etwa einer unsrer Landsleute die in seinem Reisehandbuch gegebene Instruktion be­ folgen will, auf den angegebenen Preis höchstens ein Drittel, wenn nicht ein Viertel zu bieten, so wird ihm mit höflichem Achselzucken bedeutet, daß er sich ganz und gar auf einem Holzwege befindet, von dem er nur schleunigst und reuig umzukehren hat. Der Geschäftsmann läßt unter Umständen sogar ruhig und kühl den

119 Kauflustigen unverrichteter Sache seines Weges ziehen, ein Zeichen, daß die Anpassung an europäische Verhältnisse schon ziemlich weit gediehen ist. Das hat einen gewissen Einfluß selbst auf solche Geschäfte geübt, die noch ganz nach orientalischer Art betrieben werden. Sie schlagen nicht mehr so viel auf, wie früher, und lassen sich in jedem Fall nur wenig abhandeln, am allerwenigsten natürlich dann, wenn sie sehen, daß der Fremde, nach seinem Angebot zu schließen, den wahren Wert der Ware offenbar nicht kennt. Wer also als Käufer die vorhin erwähnte Regel beobachtet, wird sich in Tiflis häufig selbst im Lichte stehen, so sehr die Regel an nianchen andern Orten angebracht sein mag. Ich habe allerdings in einigen Teppichmagazinen absichtlich übertrieben niedrige Angebote gemacht, um nämlich auf diesem Wege mir allmählich eine gewisse Kenntnis von dem wahren Wert der Ware zu verschaffen und dann erst ans Grund dieser Erfahrungen einen ernsthaften Handel abzuschließen. Ein solches Verfahren wäre allerdings wenig zu empfehlen, wenn man nicht erstens als Vergnügnngsreisender Zeit dazu hätte und zweitens das Herumschlendern in diesen Straßen mit dem ge­ legentlichen Eintritt in dieses oder jenes Magazin so überaus reizvoll wäre. Zu der Mannigfaltigkeit der Waren kommt die Mannig­ faltigkeit in den Typen der Verkäufer. Grusiner, Armenier und Perser stellen ihr Kontingent dazu. Aus ihnen setzt sich ja auch die Hauptmasse der Bevölkerung von Tiflis zusammen. Dazu kommt freilich ein starker, stetig wachsender Bruchteil von Europäern und daneben noch eine Anzahl von Vertretern andrer kaukasischer Völker­ schaften. Nach historischem Recht sind hier in Tiflis eigentlich die Gru­ siner die Hauptpersonen. Denn Tiflis ist ja die Hauptstadt ihres alten Königreichs. Wenn man vom Mittelpunkt des Bazars, deni Meidan (b. h. Marktplatz), in die enge Gasse hinuntersteigt, die zur alten Kurbrücke hinführt, sieht man drüben über dem Hüusergewirr die Mauern der alten Königsburg Mtecha aufsteigen. Jetzt ist sie nun schon hundert Jahre ihrer alten Bestimmung entfremdet; sie ist ein Gefängnis geworden. Vielleicht aber war sie zeitweise ihren früheren Bewohnern trotz irdischen Glanzes nicht etwas

120 wesentlich anderes. Denn die grusinische Geschichte ist reich an Wirren und jähen Wechselfällen. Es ist diesem Volk schwer genug gemacht worden, sich nach allen Seiten hin zu behaupten, gegen Armenier, Perser, Türken, die Flutwellen asiatischer Völkerschaften und die Bergvölker. Die Grusiner sind ein uraltes Kulturvolk, das wahrscheinlich von Süden kommend allmählich immer weiter gegen das Gebirge hin gedrängt wurde. Früher mochte es wohl ganz Transkaukasien bevölkert haben, doch schon im Altertum erscheint es aus dem öst­ lichen Teil des Landes ziemlich zurückgedrängt. Im westlichen Transkaukasien dagegen behaupteten sich die Grusiner trotz späterer fremder Beimischungen als Kern der Bevölkerung. Wie die Erinnerung an die erste Berührung mit der griechischen Kultur in der Argonauten­ sage erhalten ist, habe ich früher schon erwähnt. Ich bediene mich hier stets der Benennung dieses Volks, die in neuerer Zeit durch die Russen immer mehr in Aufnahme kommt. Früher war bei uns in Westeuropa ein andrer Name geläufiger, nämlich die Bezeichnung „Georgier", die wir wohl im Mittelalter von den Griechen und Genuesen übernommen haben. Diese hatten sie sich ohne Zweifel aus der persischen Bezeichnung „Gurdsch" zurechtgemacht, und letztere ist wiederum nichts anderes als eine der persischen Zunge entsprechende Umwandelung des grusinischen Wortes „kharth". Denn „Kharthli" nennen sich die Grusiner selber. Wieder einen andern Namen legten die Griechen und Römer im Altertum diesem Volke Bei; die alten Geographen nennen sie „Iberer", also mit demselben Namen, den auch die älteste bekannte Bevölkerung Spaniens, die Vorfahren der heutigen Basken, führten. Ob diese Übereinstimmung auf einem Zufall oder Mißverständnis beruht, oder ob sie tiefere Gründe hat, ist von der Wissenschaft noch nicht festgestellt worden. Es ist ja allerdings nicht unwahr­ scheinlich, daß der von Ariern, Semiten und Turaniern ganz ver­ schiedene Bestandteil der ältesten vorderasiatischen Bevölkerung, dessen letzter rein erhaltener Rest eben das grusinische Volk ist, nahe ver­ wandt, wenn nicht identisch sein könnte mit der vorarischen Bevöl­ kerung Südeuropas, von der zur Zeit des klassischen Altertums nur

121 noch die spanischen Iberer übrig waren.

Die körperlichen Rassen­

merkmale könnten diese Vermutung wohl bestätigen; eine Sprachen­ verwandtschaft ist noch nicht nachgewiesen. zu viele Mittelglieder,

es

Dazu fehlen wohl auch

fehlt auch die Kenntnis der sprachlichen

Vorgeschichte, die sich im grauesten Altertum verliert. dem Bau der Sprachen ist auch ausgeschlossen.

Aber nach

eine solche Verwandtschaft nicht

Heutzutage erscheinen die Sprachen und Mundarten

Tiflis, europäischer und grusinischer Stadtteil. (3m Hintergründe auf halber Berghöhe die Davidskircke).

der grusinischen Volksstämme völlig isolirt;

sie haben unter den

lebenden Sprachen keine näheren Verwandten und gelten daher bei den Gelehrten als Zugehörige eines besonderen, für sich bestehenden Sprachstamms.

Aus dem Altertum aber kennen wir Völker,

verwandte Sprachen redeten,

z. B. diejenigen,

die

die aus der Bibel

unter dem Namen der Hethiter und Elamiter bekannt sind, ebenso gehören dazu die Vorfahren der heutigen Armenier.

und Aber

alle diese Völker sind durch fremde Einwanderung oder Eroberung stark beeinflußt worden;

vor allem haben sie die Sprache dieser

122 Einwanderer oder Eroberer angenommen und werden deshalb den Jndogermanen und Semiten zugezählt, obwohl sie der Abstammung nach zu den Georgiern gehören.

So sind die Nachkommen der

Hethiter und Elamiter der Sprache nach zum größten Teil Semiten geworden, und die Armenier, die wohl hauptsächlich durch Zuzug benachbarter phrhgischer und lydischer Stämme beeinflußt wurden, reden schon seit Jahrhunderten eine indogermanische Sprache, deren älteste Gestalt ungefähr das Mittelglied zwischen dem Altpersischen und dem Altphrygischen bildete.

Die Grusiner haben sich natürlich

auch nicht rein von allerlei Beimischungen erhalten; das brachte schon die Lage ihres Landes mit sich, das sich trotz äußerlich be­ haupteter

Selbständigkeit

den

Einflüssen

barreiche niemals ganz entziehen konnte.

der

großen

Nach­

Assyrer, Armenier, Perser,

Tataren haben immer ein Wort mitzureden gehabt.

Es scheint,

als ob die Grusiner schon frühzeitig in gesonderten Stammfürsten­ tümern lebten und als ob erst fremder Einfluß über diesen Kleiufürsten ein

gemeinsames nationales Königtum

aufgerichtet habe.

Denn die georgischen Königsdynastien waren Stammfremde. Schon der erste geschichtlich beglaubigte König von Georgien aus der Zeit Alexanders des Großen scheint ein Perser gewesen zu sein.

Auch

später finden wir persische Dynastien, bis im sechsten Jahrhundert unserer Zeitrechnung das Szepter au einen Nebenzweig des ruhm­ reichen armenischen Königshauses der Bagratiden oder Bagratunen kam.

Diese Herrscherfamilie aber war ihrerseits wahrscheinlich semi­

tischen Stammes; wenigstens ist das wohl der thatsächliche Kern der alten Familienüberlieferung, die den biblischen König Salomo als Ahnherrn des Geschlechts nennt. Die Bagratiden haben in Georgien noch bis zum Ende des Reichs geherrscht, als bereits die Residenz dieses stolzen Geschlechts in Armenien längst in Trümmer gefallen war.

Der letzte in ihrer

Reihe war König Georg XIII., der zuletzt einsehen mußte, daß das innerlich zerklüftete Reich dem von zwei Seiten her kommenden Druck der Türken und Perser nicht mehr gewachsen sei.

Er erkannte,

daß die Rettung aus innern Wirren und die Erhaltung der alten Nationalkirche nur durch engen Anschluß an die einzige christliche,

/

123 den Türken und Persern überlegene Nachbarmacht zu gewinnen sei, und da überdies Erbfolgestreitigkeiten drohten, so that er den un­ gewöhnlichen Schritt, daß er testamentarisch den russischen Kaiser zum Erben seiner Krone einsetzte. So ging die alte Krone von Georgien im Jahre 1801 auf friedlichem Wege auf Kaiser Alexander I. von Rußlund über, und so wurde im Kaukasus die Herrschaft des Zaren begründet, die ihre Vollendung freilich erst durch die gewalt­ same Niederwerfung der Bergvölker in fast sechzigjährigem Ringen erhielt. Das Bagratidengeschlecht ist übrigens nicht ausgestorben. Nebenzweige von ihm bestehen noch in den Fürsten Bagration und Jmeretinski. Ein Vetter des letzten Königs von Grusien, Fürst Bagration, war bekanntlich einer der Heerführer in den Kriegen 1812—15, und die Vorfahren des letztverstorbenen Generalgouverneurs von Warschau waren souveräne Fürsten von Jmeretien, einem Teil­ fürstentum des ehemaligen Königreichs Georgien. Diese Fürsten der einzelnen Landschaften waren dem Könige tributpflichtig; sie waren aber sonst vollkommen selbständig und führten, je nach der po­ litischen Lage des Reichs, zeitweise selbst den Königstitel. Eigene Fürsten dieser Art (aus dem Geschlechte Dadian) hatte auch die Landschaft Mingrelien; dieses Verhältnis erhielt sich sogar noch unter russischer Herrschaft, und erst der jetzige Fürst Nikolaus ver­ zichtete 1864 auf seine Hoheitsrechte gegen Beibehalt des Titels und eine Geldentschädigung. Seit dem Verlust ihrer politischen Selbständigkeit sind die Grusiner wirtschaftlich sehr zurückgegangen. Bei ihrer Arbeitsscheu, ihrer Schwerfälligkeit und ihrer Neigung, dem Augenblick zu leben, konnte ein solcher Verfall nicht ausbleiben. Ihre Fehler traten schärfer hervor, als die kriegerische und politische Bethätigung auf­ hörte den Schwächen das Gegengewicht zu halten und die mannichfachen Vorzüge ihres Charakters zu entwickeln. Neuerdings ist aber, wie mir Kenner des Landes gesagt haben, bei den Grusinern in ganz auffallender Weise das Streben hervorgetreten, das geistige Niveau ihres Volkes zu heben, Volksbildung zu verbreiten und in den höheren Schichten ihrer Gesellschaft in einen kräftigen Wettbewerb mit den im Lande herrschenden Russen und Armeniern einzutreten.

124 Man muß abwarten, ob dieses geistige Streben irgend welche wirtschaftlichen Rückwirkungen haben wird.

Schwer wird es ihnen

werden, besonders gegen die Armenier aufzukommen, deren Schlau­ heit und Geschäftsgewandtheit im Lande mit fast abergläubischer und sicher übertriebener Scheu betrachtet wird.

Allerdings kommt

den Grusinern zu gut, daß die Armenier, ihre Hauptkonkurrenten und Feinde, durch ihre nationalen Bestrebungen auch den Russen nicht bequem und überhaupt bei der ganzen transkaukasischen Be­ völkerung tief verhaßt sind.

Ich kann nicht beurteilen, wie weit

dieser Haß wirklich begründet ist. eingehendsten Studien der werden.

Das kann nur durch die aller­

wirtschaftlichen

Verhältnisse festgestellt

Wenn freilich die Armenier selbst und ihre Freunde be­

haupten, ihr berüchtigtes Handelstalent sei nur die Folge davon, daß sie in ihrem eigentlichen Heimatgebiet durch den Druck der Fremdherrschaft künstlich dem Ackerbau und dem soliden Erwerb ent­ fremdet und moralisch verdorben würden, so muß dem aus allge­ meinen psychologischen Gründen jedenfalls widersprochen werden. Ein schlichtes Bauernvolk wird selbst im bittersten Kampf ums Da­ sein und trotz Loslösung von der Scholle niemals diesen ausgesucht feinen, spitzfindigen und skrupellosen Handelsgeist erwerben, wenn ein solcher nicht schon seiner eigensten Natur entspricht.

Wohl aber

kann die schlaue, gewissenlose und ränkevolle Sinnesart durch ge­ regelte Beschäftigung in schlichten Verhältnissen und durch die mit der Natur in steter Berührung bleibende Thätigkeit des einfachen Ackerbauers gemildert werden und die allen Lobes würdige Form allgemeiner geistiger Regsamkeit annehmen.

Eine solche Vereinigung

von Sitteneinfalt und schlichter Reinheit der Gesinnung mit der Freude an geistiger Thätigkeit und philosophischer Spekulation kann sogar etwas besonders Anziehendes haben.

Bei den Armeniern

scheint mir der Fall so zu liegen, und vielleicht ist es die letzter­ wähnte Eigentümlichkeit, die namentlich unsre Theologen häufig zu so begeisterten Freunden der Armenier macht.

Sicher ist, daß die

Arnienier da, wo sie in geschlossener Masse seßhaft sind, solide, streb­ same Landwirte und tüchtige, achtungswerte Gelehrte hervorbringen, überall sonst aber im Orient als blutsaugendes, mit allen Mitteln

125 arbeitendes Schmarotzervolk gefürchtet sind. Außer diesen auf all­ gemein bekannten Thatsachen fußenden Bemerkungen wage ich ein Urteil über die Armenier nicht abzugeben, indessen darf ich Wohl nicht ganz verschweigen, daß die wenigen Armenier, die ich kennen gelernt habe, sämtlich zu den unsympathischsten Menschenkindern ge­ hörten, die mir je vorgekommen sind. Welches Übergewicht die Armenier im Geschäftsleben von Tiflis haben, zeigt schon das Studium der Firmenschilder in den Mittel­ punkten des Geschäftsverkehrs. Die Mehrzahl dieser Schilder weist unverkennbar armenische Namen auf, und neben der russischen und grusinischen Inschrift findet sich in der Regel auch eine armenische. Die armenischen Geschäfte entwickeln auch die größte Vielseitigkeit, während die Perser sich mehr auf ihre besondere Domäne, Teppiche und Gewürze, beschränken, ebenso wie die Grusiner hauptsächlich ans Waffen, Schmucksachen und Früchte. Wie still und nüchtern er­ scheinen der russische und der grusinische Stadtteil gegenüber diesen engen, winkligen Gassen mit den niedrigen, düstern Magazinen und ihren bunten Warenhäufungen! Wie malerisch präsentiert sich die alte Kurbrücke am Fuß der alten Burg Mtecha, wo die schäumenden Wellen sich in schnellerem Fluß gegen die einengenden steilen Fels­ ufer drängen! Und was für ein Gewimmel von Menschen, Lasttieren und Karren hält dort Auge und Ohr in beständiger Thätigkeit! Es fiel mir übrigens auf, wie selten jetzt gegen früher Kamele dort als Lasttiere verwendet werden. Büffel und Esel scheinen jetzt das sonst zu einem orientalischen Bilde doch notwendig gehörende Schiff der Wüste immer mehr zu verdrängen. Tiflis wird eben immer europäischer. Auf die Grusiner selbst hat das freilich wenig Einfluß. Ein­ zelne, namentlich die sogenannten „Fürstenfamilien", unter welchem prunkenden Titel übrigens nur die Zugehörigkeit zum Adel zu ver­ stehen ist, fangen wohl hier und da schon an, sich europäischen Sitten anzubequemen. Aber im großen und ganzen macht sich dieser nivellierende Einfluß in viel geringerem Maße geltend, als man erwarten sollte. Es ist sehr bemerkenswert, daß auch studierte Grusiner, die in Odessa, Petersburg, Paris oder Wien sich voll-

126



kommen mit europäischem Wesen vertraut gemacht haben, in der Heimat ruhig wieder zu Sitte und Lebensweise ihrer Väter zurück­ kehren.

Es ist also nicht zu besorgen, daß die Eigenheiten dieses

Volkslebens so bald verwischt werden. Erwähnt habe ich früher schon die kleidsame, die äußere Er­ scheinung dieser Rasse sehr vorteilhaft hervorhebende Tracht, die die Grusiner, wie fast alle Kaukasier, von den Kabardinern über­ nommen haben.

Den grusinischen Männern steht sie besonders gut,

da der schwarzhaarige und dunkeläugige Typus dieses Volks und der im allgemeinen sehr regelmäßige Gesichtsschnitt ausgezeichnet zu dieser malerischen Kleidung paßt.

Auch nimmt sich dazu der

schlanke Wuchs, der den Grusinern eigen ist, sehr vorteilhaft aus. Was man mit einem diskreten Fremdwort „Embonpoint" zu nennen pflegt, ist bei den Grusinern schon nicht gerade häufig, und vollends nach einer Falstaffgestalt wird man lange suchen können. Eine eigentümliche Hagerkeit ist auch den Frauenerscheinungen eigen.

Wenn also ein bekanntes mephistophelisches Wort aus der

„klassischen Walpurgisnacht" richtig ist, so dürften im allgemeinen die Grusinerinnen bei Orientalen keine hohen Preise erzielen.

Und

so ist es auch wohl, denn offenbar irrig ist eine weitverbreitete Meinung, die die Grusinerinnen mit den Frauen andrer kaukasischer Stämme, vor allem der Tscherkessen, zusammenwirft, während in Wirklichkeit die christlichen Grusinerinnen doch nur ausnahmsweise in die Harems der moslemischen Fürsten

und Großen gerieten.

Indessen die Grusinerinnen zehren nun eimal mit von dem Schönhcitsruhm der Tscherkeffinnen und Abchasinnen, und warum soll man ihnen das nicht gönnen? So sind also die Grusinerinnen nicht schön? höre ich nun mit einiger Enttäuschung fragen.

Mein verehrter Leser und meine sehr

verehrte Leserin, ich werde mich hüten, eine so verfängliche Frage mit einer leichtfertigen Behauptung zu beantworten, die auf meine Grundsätze bezüglich

der Höflichkeit gegen Damen

günstiges Licht werfen könnte.

ein

sehr un­

Ich weiß, was ich Damen schuldig

bin, und versichere daher, daß die Grusinerinnen natürlich schön sind; das ist über allen Zweifel erhaben.

Nur bethätigt sich diese

127

Eigenschaft bei den Damen, die man gewöhnlich zu sehen bekommt, offenbar mehr auf dem Gebiete des Seelenlebens, als der äußern Erscheinung, und das ist ja schließlich die Hauptsache. Wie die Damen aussehen, die ich nicht zu sehen bekommen habe, das ent­ zieht sich natürlich meiner Beschreibung, aber ich zweifele nicht, daß sie unvergleichlich schön sind, und überlasse es der Phantasie der geehrten Leser, nach Bedürfnis von den schönen Georgierinnen weiter zu träumen.

Tiflis, der grusinische Stadtteil, vom Festungsberge aus gesehen.

Noch habe ich aber den Glanzpunkt von Tiflis nicht erwähnt, den kleinen, aber entzückend angelegten botanischen Garten. Auf dem Bergrücken über dem Süden der Stadt, die gegenüberliegende Burg Mtecha überragend, liegen die Trümmer der alten Zitadelle, in deren gewaltig gefügten Mauern einst Pompejus schon geweilt haben soll, als er den Mithridates bis an den Fuß des Kaukasus ver­ folgte. An dem Abhang dieses Festungsberges, der der Stadt ab­ gewandt ist, erstreckt sich bis in die Thalschlucht hinein die Anlage des botanischen Gartens. Vom armenischen Bazar aus erreicht

128 man an den vom Fürsten Orbcliani gestifteten großen Bädern vor­ bei das persische Viertel, das sich um die persische Moschee gruppiert. Man steigt einen schauderhaft gepflasterten steilen Weg empor und sieht sich bald im Bereich der herrlichen Schatten spendenden Bäume des Gartens.

Noch mehr aber fühlt man sich belohnt, wenn man

es gewagt hat, trotz

glühender Sommerhitze durch den südlichen

Teil der obern Stadt zum Festungsberge emporzuklettern.

Steil

geht der Weg aufwärts, teilweise mittelst unbequemer Treppenstufen, aber wundervoll breitet sich dann zu unsern Füßen das Panorama der ganzen Stadt au§;

man sieht aus der Vogelperspektive den

ganzen Golowinski-Prospekt entlang.

Nur leider Schatten findet

man dort oben nicht, und so kommt es nach einigen Augenblicken entzückter Betrachtung wohl jedem zum Bewußtsein, daß die liebe Sonne es gar zu gut meint.

Dann rettet man sich auf die andere

Seite des Berges hinüber, wo man den erquickenden Schatten als doppelte Wohlthat empfindet.

Dafür entsprechen die Erfrischungen,

die man dort findet, freilich mehr den Regeln der Gesundheitspflege, als dem germanischen Bedürfnis.

Bier giebt es dort nicht, wie

überhaupt keine alkoholischen Getränke; man muß sich an Thee und Limonade halten.

Doch jeder wird diesen prächtigen, erquickenden

Aufenthalt gern immer wieder aussuchen. Eines Nachmittags habe ich mir trotz sengender Hitze ein Herz gefaßt und bin eine andere, vollkommen kahle Höhe hinangeklettert, die es nicht weniger lohnt, daß man ihr einen Besuch abstattet.

Es

ist der Berg im Südwesten der Stadt, an dessen Abhang hoch über der Stadt die weithin sichtbare Davidskirche erbaut ist.

Von dem

mühsamen Felsenpfad, der teils in Windungen am Abhang, teils über einen schmalen Grat hinweg auf die Höhe führt, genießt man gleichfalls einen außerordentlich reizvollen Blick auf die in dem Thalkessel zwischen den hohen, kahlen Bergen liegende Stadt.

Oben

auf dem Berge findet man eine einfache Gelegenheit zur Erfrischung, und hier giebt es auch einen Trunk ganz leidlichen Landweins. Und dann wieder hinunter zur Davidskirche mit den zugehörigen Gebäuden, deren schlichter klösterlicher Charakter diesen stillen Ort am Felsenabhang in stimmungsvollem Gegensatz zu dem bunten

129

Stadtbild dort unten erscheinen läßt. Tiefes Schweigen herrscht ringsum, und man vertieft sich unwillkürlich in die Grabschriften der schlichten kahlen und schmucklosen Grabsteine, die den Klosterhof füllen. Dann wirft man auch einen Blick in den nur durch ein Gitter verschlossenen Raum unter der Kirche, in dem sich die Grab­ mäler des russischen Dichters Gribojedow und seiner Gattin befinden. Eines jener frühreifen Genies aus dem Zeitalter der Romantik, fand er — merkwürdiges Verhängnis der russischen Literaturgrößen jener Zeit! — gleich seinen Zeitgenossen Puschkin und Lermontow frühzeitig ein gewaltsames Ende. Freilich entbehrte Gribojedows Tod jener tragischen Umstände eignen Verschuldens, die den Unter­ gang der beiden Andern herbeiführten. Während jene im Duell fielen, wurde Gribojedow jäh aus einem kaum begründeten Familien­ glück und einer angesehenen Lebensstellung herausgerissen; als Ge­ sandter in Teheran wurden er und seine junge Gemahlin bei dem Aus­ bruch der Volksleidenschast gegen Rußland von dem Mordstahl eines Fanatikers getroffen. Die bittern Erfahrungen aber, mit denen der Be­ ruf eines Dichters zu jener Zeit in Rußland unlöslich verknüpft schien, hatte auch er bereits gekostet. Das Drama, das seinen Namen auch außerhalb seines Vaterlandes auf die Nachwelt gebracht hat, durfte bei seinen Lebzeiten weder gedruckt, noch aufgeführt werden. Und doch kannte es schon damals jedermann, jene köstliche Komödie „Gore ot uma“ („Wehe dem Gescheiten" oder „Verstand bringt Leiden.") Auch dieses Dichtergrab weckt also Erinnerungen an das herbe Geschick, das die Jünger der russischen Dichtkunst damals verfolgte. Die Sonne geht allmählich herum; in immer pächtigerem Lichte glänzt unten der Stadtteil um das Statthalterpalais und die Michaelskathedrale; nun ist es Zeit, den Heimweg anzutreten. Im Hotel London steht ein gemütlicher Abend bevor in Gesellschaft von liebenswürdigen Landsleuten, die sich dort zusammengefunden haben, je nach Neigung und Stimmung bei kühlem Bier oder feurigem Zinondali, und schließlich findet man, daß es trotz des schlechten Rufs, den der Sommer in Tiflis genießt, doch unter Umständen ein gar nicht so schlimmes Ding ist um ein paar Sommer­ tage in Tiflis! _ ! . Massow, Aus Krim und Kaukasus.

9

130

12. Auf der grusinischen Heerstraße. Die uralte Völkerstraße, die von Wladikawkas über den Kau­ kasus nach Tiflis führt, ist von altersher der bekannteste Teil des Gebirges. Wer überhaupt diese Gegenden berührt hat, der hat sicherlich auch die grusinische Heerstraße, wie die Russen diesen von ihnen kunstgemäß hergestellten Verbindungsweg zwischen Europa und Asien nennen, ganz oder teilweise zurückgelegt. Ich brauche daher nicht vielfach Beschriebenes zu wiederholen, sondern kann mich darauf beschränken, aus dem reichen Schatz dieser Eindrücke einiges herauszugreifen, was vielleicht noch weniger bekannt ist. Die Schönheiten dieser Reise treten am eindrucksvollsten hervor, wenn man sie von Tiflis aus beginnt. Von Norden kommend nimmt man das Schönste vorweg und läuft Gefahr, zuletzt zu er­ müden. Dringt man aber von Tiflis aus mit frischen Sinnen in diese Gebirgswelt ein, so erlebt man eine fortwährende Steigerung bis zuletzt zu der gewaltigen Darjalschlucht, die in der Welt ihres­ gleichen sucht. Freilich muß man sich so einrichten können, daß man bei Tage reift; wer im Herbst die Postbeförderung wählt, kann es leicht erleben, daß er die schönsten Strecken in der Dunkelheit zurücklegt. Die Postwagenbeförderung ist überhaupt ein nicht ganz ein­ wandfreies Vergnügen. Ich bereiste diesmal die Straße, wie ich schon erwähnt habe, zuerst in der Richtung von Wladikawkas nach Tiflis und benutzte dabei den sogenannten „fünfsitzigen Postwagen", ein vorsintflutliches Ungetüm, das gewöhnlich vier, auf steileren Strecken der Bergfahrt bis zu 8 Pferden Vorspann erhält. Da giebt es Plätze erster und zweiter Klasse. Deutschen Begriffen ent­ spricht aber diese Einteilung durchaus gar nicht; denn wir würden an den besten Platz vor allem die Anforderung stellen, daß er uns nicht nur Bequemlichkeit, sondern auch die beste Aussicht verschafft. Der Russe denkt darin anders; er verlangt Raum und Schutz gegen die Witterung und läßt sich im übrigen gern zu zweien in einen Kasten sperren, der ihm den Genuß der herrlichen Gegend nur halb

131 oder zu einem Viertel gestattet.

Da sind die Fahrgäste zweiter

Klasse besser dran; ihre Plätze haben nur ein Halbverdeck, das ihnen den Ausblick nach vorn gestattet. Der weniger aristokratische Charakter dieses Platzes wird dadurch bekundet, daß dort eine Person mehr untergebracht ist.

Tres faciunt collegium; es ist eigentlich

der gemütlichste Platz, während das gleiche Urteil über die erste Klasse wohl nur von Hochzeitsreisenden gefällt werden dürfte. Nun

Postkutsche im Gebirge bei Gudaur.

Der Gudberg und die „Sieben Brüder".

giebt es aber auch noch eine dritte Klasse.

Der Leser darf nicht

etwa glauben, daß durch weitere Steigerung der Platzzahl dieser Klasse der Stempel des Proletarierhaften aufgedrückt wäre. so unzart denkt die Postverwaltung nicht.

Nein,

Gewiß, sie bringt das

unerbittliche ökonomische Gesetz zur Geltung, daß sie dem, der am wenigsten zahlt, auch am wenigsten gewährt.

Sie umhüllt den

Fahrgast der ersten Klasse sorglich von allen Seiten, spendet dem der zweiten ein Halbverdeck und setzt den der dritten allen Unbilden der Witterung aus. Aber sie bietet diesem eine sinnige Entschädigung:

9*

132 sie läßt ihn allein auf einsamem Sitz thronen und hebt ihn durch diese Anordnung noch über die Aristokratie des Besitzes hinaus in die Klasse der Weltverüchter, die sich selbst genug sind. Jeder andere ist in seiner Klasse „ein" Passagier; er ist in der feinigen „der" Passagier.

Ganz hinten ist sein Sitz, den kritischen Blicken der

anderen entrückt' dort schwebt er einsam, als ob er nicht dazu ge­ hörte, und doch eng mit dem Ganzen verknüpft. Ist das nicht der gegebene Platz für Philosophen?

Freilich, vorwärts kann er nicht

schauen; da starrt ihm die Rückwand der Kutsche entgegen.

Aber

neben sich und hinter sich kann er alles ganz ungestört überblicken. Und damit müssen wir Menschen ja schließlich alle zufrieden sein. Ist nicht, was vor uns liegt, uns allen verhüllt? Wenn der Wagen hält, ist der Mann der dritten Klasse der erste von seinem Sitz herunter; geht es weiter, so ist er der letzte, der aufsteigt. Ersteht freundlich lächelnd in der Thür, wenn die andern aus ihrem Kasten herauskriechen, und er sieht mit überlegenem Mitleid zu, wenn sie wieder in ihre Sklaverei zurückkehren.

Die Hauptsache ist: aus

jeder Station ist er da; niemand sieht, wie und warum, und das giebt seinem Dasein

einen

gewissen mystischen Zug.

Ich hätte

diesen Mann beneiden können, wenn es nicht gar so arg — ge­ regnet hätte. Mein Reisegenosse in der ersten Klasse, in die ich mehr der Not gehorchend als dem eigenen Triebe geraten war — es war kein anderer Platz zu haben, — war ein echter Moskowiter und faßte daher die Lage wesentlich - anders auf als ich.

Während ich

wenig erbaut war, daß der geschlossene Wagen und der Regen die Aussicht hinderten, nahm der Russe dies mit großer Gelassenheit hin und versicherte ein über das andere Mal, es sei doch sehr an­ genehm, daß es regne; da gebe es keinen Staub.

Diese Genug­

thuung erfüllte ihn noch, als wir in Tiflis ankamen, und wir haben uns über diesen Punkt nicht geeinigt. So galt mir diese Fahrt so ziemlich als verunglückt, wozu freilich auch das Erlebnis beitrug, das mich nicht nur schmerzlich bewegte, herausriß.

sondern auch recht gründlich aus aller Ferienstimmung Man

übernachtet

aus

dieser Reise in Gudaur, der

133

höchstgelegenen Station der Straße unweit des Kreuzbergpasses. Hier war es, wo mir mein Reisegefährte beim Abendessen die Zeitung — es war eine Nummer des „Tifliskij Listok" — herüber­ reichte und eine verhängnisvolle Botschaft hinzufügte. Es waren nur drei Worte, die ich hier in fremder Zunge vernahm, drei Worte von schmerzlichstem Klang für ein deutsches Herz: „Knjas’ Bismarck pomer!" Fürst Bismarck ist gestorben! Tief bewegt trat ich bald daraus ins Freie hinaus. Der

Ananur.

Himmel hatte sich etwas aufgeklärt, und es war wenigstens nicht völlig finster. Das Riesenhanpt des Kasbek blieb eigensinnig ver­ hüllt; in dunklem Grau lagen die Berggipfel vor mir, nur die äußersten Spitzen der Siebenbrüderberge glänzten weiß; tiefschwarz dagegen hob sich das wundervolle, scharfe Profil des Gudberges gegen den Himmel ab, und sein schroffer Absturz verlor sich in dem nächtlichen Dunkel des abgrundtief zu meinen Füßen liegenden Kaischanrthals. Zeit und Umstände, in denen wir eine bedeutungs­ volle Kunde erhalten, prägen sich unauslöschlich dem Gedächtnis ein; in der Fremde aber empfindet man alles, was das Schicksal

134 des Vaterlandes angeht, noch viel stärker und persönlicher.

In

nächtlichem Schweigen lag vor mir die Grenzscheide zweier Welt­ teile.

Welche Fülle der Betrachtungen drängt sich da auf!

Wie

viele Völkerscharen mögen seit Jahrtausenden hier vorübergezogen sein; wie oft haben verschiedene Kulturwelten, die schärfsten Gegen­ sätze menschlicher Gesittung um diese Gebirgspässe blutig gerungen! Hierher hat die asiatische Kultur ihre letzten Fühler ausgestreckt,

Die Straße bei Kobi.

manchen Einbruch räuberischer Nomaden siegreich abgewehrt, hier hat das einst höher gesittete Asien gegen das damals noch barba­ rische Europa im Kampf gestanden.

Wie ist aber doch die Spur

dieser Thaten so arg verweht, wie gering die Frucht aller Arbeit und aller Siege! Überall inmitten einer großen und gütig spenden­ den Natur die Zeichen von Erstarrung und Verfall.

Die Unzu­

länglichkeit der asiatischen Kultur geht Hand in Hand mit dem Mangel an großen Persönlichkeiten.

Deshalb hat Europa Asien

überflügelt und zurückgedrängt, weil es mehr Persönlichkeiten zu

135 erzeugen verstand. Und unter allen andern in Europa hat Gott unser deutsches Volk sichtbar gesegnet, da er ihm so viele große und ganze Männer geschenkt hat. So war nun also der Größte der unsrigen von uns gegangen. Aber sein Nanie wird auf Erden nicht vergehen, so. lange an der fernen Grenze unseres Weltteils die Schneegipfel zum Himmel weisen und Menschen zu ihnen empor­ schauen. Du hattest recht, alter Kasbek, daß du in jenen Tagen dein Haupt verhülltest. Du trauertest mit um den Mann, der wie du in Sturm und Wetter sein Haupt stets aufrecht trug und Gott fürchtete, sonst nichts in der Welt! Daß ich in Tiflis eine Reihe schöner Tage erlebte, habe ich schon erzählt. Ich fand dort angenehme Gesellschaft, und so kam es, daß ich, obwohl mein Plan ursprünglich ein anderer war, mich doch gern überreden ließ, mit einem deutschen Landsmann, einem ältern Herrn, der die Fahrt in offener Kalesche machen wollte, die grusinische Heerstraße zum zweitenmal zu durchmessen und so Wladikawkas auf dem kürzesten Wege wieder zu erreichen. Die Fahrt ging glücklich von statten, und es traf sich auch darin gut, daß wir durch den Pferdewechsel auf den Stationen keinen unfrei­ willigen Aufenthalt hatten, — ein sehr wichtiger Umstand bei Reisen auf russischen Poststraßen. Im allgemeinen ist der Betrieb der Stationen der grusinischen Heerstraße gegen früher erheblich erweitert. Überall sind neue Stallungen erbaut. Auch die Posthäuser sind seit einigen Jahren erweitert und diejenigen unter ihnen, die die Mehrzahl der Post­ reisenden zur Nacht aufzunehmen haben, mit einfachen, aber ganz leidlichen und saubern Gastzimmern versehen. Als ich vor 14 Jahren zum erstenmal diese Reise machte, war davon noch nirgends die Rede. Die Reise ist also schon ganz bedeutend europäischen Be­ dürfnissen angepaßt und nicht mehr besonders beschwerlich. Auch die leibliche Verpflegung genügt mäßigen Ansprüchen. Die bevor­ zugte Rolle, die das mit Recht so beliebte Haushuhn (gallus do­ rn esticus) auf der Speisekarte spielt, mag ja mitunter etwas be­ fremden, aber das ist ein Übelstand, den der flüchtig durchreisende Fremde vielleicht gar nicht einmal bemerkt. Man darf sich übrigens

136 auch darin nicht verblüffen lassen. Auf der Station Passanaur z. B., wo die ganze Speisekarte nur „Hühnernes" aufwies, richtete ich heimlich an den Wirt unter Hinweis auf das herrliche Bergwasser der Aragwa eine Gewissensfrage. Der Erfolg war glänzend; bald prangte auf unserer Tafel ein köstliches Gericht frischer Forellen, sehr zum Vergnügen meines Reisegenossen und zum Erstaunen der anderen Gäste. Etwas prosaischer und schablonenhafter ist jetzt der Verkehr

Sion.

auf den Poststationen geworden. Ich begrüßte in den Postmeistern von Mlety und Passanaur noch zwei alte Bekannte von meiner ersten Reise. Aber was war in Passanaur aus dem bescheidenen Raum geworden, in dem damals den Ehrenplatz über dem Sofa der kleine Stahlstich einnahm, der den „Germanskij Nasslednik“, den deutschen Thronfolger, unsern damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm darstellte! Jetzt haben wir dort wie auf anderen Stationen ein „Speisezimmer" nach dem Muster kleiner und mittlerer Gast­ höfe; auf dem Tisch die Tafelaufsätze von Milchglas mit künstlichen Blumen und die bekannten Flaschenbatterien, an der Wand ein

137

mäßiges Öldruckbild Kaiser Nikolaus II. Daneben die eingerahm_ len Kunstbeilagen einer illustrierten Zeitschrift, hier und da Bilder früherer Kaiser, des Großfürsten Michael, der Fürsten Woronzow und Barjatinski oder auch des tapferen grusinischen Fürsten Heraklius, den wir Deutschen meist wohl nur aus „Minna von Barn­ helm" kennen. Etwas von der Postkutschenromantik früherer Zeiten ist aber immer noch geblieben, und die Menschen treten sich näher, als sonst Reisende unserer Zeit zu thun pflegen. Die größte Station der ganzen Straße ist unstreitig das Dorf Kasbek, so benannt, weil hier die Straße dem Bergriesen am nächsten kommt. Merkwürdigerweise steht der Kasbek bei vielen in dem Ruf, der höchste Berg des Kaukasus zu sein. Leute, die etwas besser in der Geographie beschlagen sind, wissen zwar, daß dieser Ruhm dem Elbrus gebührt, aber auch sie glauben mitunter, daß der Kasbek wenigstens an zweiter Stelle kommt. In Wirklichkeit kommt er erst an vierter oder gar fünfter Stelle; die höchsten Gipfel der eigent­ lichen Zentralkette sind fast durchweg höher, als er. Aber der Um­ stand, daß diese gewaltige Gebirgsmasse nur von wenigen Stellen aus in ihrer ganzen Wucht und Majestät gewürdigt werden kann und durch ihre ganze Lage die Anwohner selten zur Überschreitung veranlaßt, hat diesen Kern des Gebirges sehr lange unbekannt bleiben lassen. Erst die wissenschaftliche Forschung und der Berg­ sport haben ihn erschlossen, beide verhältnismäßig spät und nicht für das Bewußtsein der Bergbewohner selbst, unter denen man noch heute vergeblich nach sachkundigen Führern sucht, wie sie unsere Alpenländer erzeugen. So wie die kaukasischen Bergvölker ihre Berge anzusehen pflegen, ist es ganz verständlich, daß ihnen die beiden mächtigen Bastione, die dem Gebirgswall auf beiden Seiten vorgelagert sind, größeren Eindruck gemacht haben, als dieser selbst. Diese Bastione sind im Nordwesten der Elbrus und im Südosten der Kasbek. Während aber die Elbrusgruppe auch in ihren niederen Gipfeln gewaltige Höhen erreicht und durch sehr hohe und beschwer­ liche Bergjoche mit der Zentralkette zusammenhängt, ist die Kasbek­ gruppe wesentlich anders gestaltet. Einsam ragt hier eine stolze Bergpyramide aus einer Gruppe vergleichsweise niedriger Gipfel

138 empor, die durch die noch nicht ganz 2700 Meter hohe Brücke des Mamissonpasses mit der östlichen Berggruppe der Zentralkette, dem Adai Choch, zusammenhängen. Den Übergang von der Kasbekgruppe zu dem östlichen Kaukasus, den vielzerteilten Bergketten des Daghestan, bildet ein noch niedrigerer Sattel, der nur ungefähr 2500 Meter hohe Kreuzbergpaß, so benannt, weil die Paßhöhe der Straße durch ein altes steinernes Kreuz bezeichnet ist. Dicht an diesen Berg­ sattel heran drängen sich auf beiden Seiten des Gebirges zwei un-

Aus dem oberen Teil der Darjalschlucht.

gewöhnlich tief eingeschnittene Thäler, die sich ohne wesentliche Änderung der Hauptrichtung bis in die Ebene fortsetzen. Diese sind im Norden das Thal des Terek, im Süden das der Aragwa. So war der Weg durch das Terekthal aufwärts über den Kreuzberg­ paß in das Aragwathal allen Wanderungen über das Gebirge ge­ wissermaßen von der Natur vorgezeichnet. Kein Wunder, daß der hier alle anderen Gipfel so gewaltig überragende Kasbek den Wan­ derern als der höchste und mächtigste erschien. Es ist „der Berg" in besonderem Sinne. „Wot gora!“ (Da ist der Berg!) sagt der

139 Jämschtschik, sobald.ber Gipfel des Kasbek sichtbar wird, obwohl wir seit Stunden von lauter Bergen umgeben sind.

Und auch der

Grusiner meint den Kasbek, wenn er schlechtweg vom „mtja“ (Berg) spricht, und übertrügt auf ihn alle die Sagen, die Einheimische und Fremde von großen Bergen erzählen. Von dem vielgestaltigen Leben der kaukasischen Bergvölker be­ kommt man allerdings auf der grusinischen Heerstraße selbst wenig zu sehen; wenn sie auch im Norden zu einem kleinen Teil durch ossetisches Gebiet geht und das der Tschetschenzen wenigstens be­ rührt, so

ist sie doch in der Hauptsache wie ihr Name sagt,

grusinisch.

Schon im Altertum waren die „Iberer", — und das

war, wie schon erwähnt, der Name der Grusiner bei den Griechen — die Hüter dieses Gebirgspasses.

Von den Grusinern stammen alle

Befestigungen und geschichtlichen Denkmäler der Gegend.

An der

Mündung der Aragwa in den Kur lag der älteste Mittelpunkt ihres Reichs, die alte Stadt Mzch et, heute ein kleines Dorf über einem Trümmerfelde mit einer Eisenbahn und Poststation.

Mitten

aus diesen Trümmern ragt noch die alte Kirche hervor, in der sich die Königsgruft der Bagratiden befindet.

Die Legende der orien­

talischen Kirche läßt hierher den heiligen Rock Christi gelangen und vergraben werden.

An seiner Stelle sprießt eine Zeder auf, von der

wunderthätiges Harz tropft. aus dem

Als dann König Mirian von Georgien

Geschlecht der Sassaniden, der auf der benachbarten

Ormuzd-Burg — Armaz-Zichd nennen sie die Georgier, Harmozike die alten griechischen Geographen — residierte, durch eine grie­ chische Jungfrau, die heilige Nina, zum Christentum bekehrt wurde, baute er hier die erste christliche Kirche und verlegte seinen Herrscher­ sitz nach Mzchet. Das geschah nach der Überlieferung im Jahre 318. Ein Jahrhundert später wurde die Königsburg nach Tiflis verlegt, aber auch das neue Königsgeschlecht der Bugratiden hielt die Kirche von Mzchet in Ehren, wenn diese auch von den Persern und anderen Feinden des Landes viel zu leiden hatte und endlich durch Tamerlan gänzlich zerstört wurde. Das alte Heiligtum wurde sogleich wieder aufgebaut; aus dieser Zeit, also aus dem l 5. Jahrhundert, stammt der jetzige Bau; er blieb Gruftkirche der grusinischen Könige

140 — bis zum Ende des Reichs im Jahre 1801. Heraklius und Georg XIII. sind die letzten, die dort beigesetzt wurden. Fast an jeden Fußbreit diesen Thals knüpfen sich Sagen und volkstümliche Erinnerungen; so liegt auch in der Nähe die Burg der Königin Tamara, die um 1200 regierte und mit deren Namen die Grusiner fast alle merk­ würdigen Baudenkmäler ihres Landes in Verbindung bringen. Hier liegt auch ein alter Wallfahrtsort, die Kirche mit dem Grabe der heiligen Nina, jener ersten christlichen Sendbotin in Georgien.

Die Teuselsbrücke in der Darjalschlucht.

Die Grenzwacht aber weiter droben im Gebirge hielten die Fürsten Eristaw von der Aragwa; die malerischen Reste ihres Stammschlosses mit der schönen, alten Kirche in Ananur schmücken noch jetzt die Stelle des herrlichen romantischen Waldthals, wo die schwarze in die weiße Aragwa fließt. Jenes Flüßchen kommt aus dem Gebiet der rauhen ritterlichen Chewsuren, der Spartaner unter den georgischen Völkern, deren eigentümliche Tracht — sie tragen Kreuze auf dem Gewand, und im Kampfe Kettenpanzer und Stahl­ helm — Anlaß zu wunderlichen Sagen von verschollenen Kreuz­ fahrern gegeben hat.

141



Wunderbar sticht die sanfte Romantik dieser Thäler der Süd­ seite ab

von

der starren, schauerlichen Wildnis der vom Terek

durchströmten Darjalschlucht im Norden.

Großartig ist der Ein­

druck dieses von 2—3000 Meter hohen Felswänden eingeschlossenen Engwegs, wenn man von der Ebene aus in ihn einbringt;

aber

geradezu überwältigend wirkt es, wenn man von den oberen Regionen des Gebirges her hinuntersteigt in diese drohenden, den Ausgang sperrenden Felsenmassen, die immer enger zusammenrücken, immer

Nördlicher Ausgang der Darjalschlucht (Fort Darjal).

höher in den Himmel hinaufwachsen und zuletzt kaum Raum lassen für den tobenden Terek und die in die Felsen gesprengte Straße. An der Teufelsbrücke, wo die Straße auf das andere Ufer hinüber­ geführt wird, hat die Thalsohle höchstens die Breite von 130 Metern, während die Felswände nahezu 3000 Meter erreichen.

So mögen

sich wohl die Alten den Eingang zur Unterwelt vorgestellt haben.

Diese großartigste und eindrucksvollste Strecke des Weges führt in ziemlich unvermitteltem Übergang zu dem Ausgang des Gebirges, wo in freundlicher Ebene das hübsche Städtchen Wladikawkas vor uns

142 liegt. Sehr merklich ändert sich alsbald der ganze Charakter der Um­ gebung. Kaum hinausgetreten aus der mächtigen Gebirgsnatur,die den Übergang zu einem andern Erdteil bildet, erhielten auch wir damals die Beglaubigung, daß wir wieder in Europa waren; wir begegneten dem ersten — Radfahrer.

In Wladikawkas wurde nach kurzer Rast

schon am folgenden Tage die Heimreise angetreten.

Noch einmal

fährt uns der Rostower Schnellzug an der langen, stolzen Kette der Schneeberge vorüber, aber immer weiter tritt sie zurück und ver­ schwindet endlich in Wolken und Nebel. gar dieser großartigen Welt entrückt.

Nun sind wir ganz und

Eindrücke ganz andrer Art

treten uns entgegen, und weiter geht es nach Norden, der Heimat zu.

Druck von 3. B. Hirschfeld in Leipzig.

Verlag von Georg MUgand in Leipzig.

Dreiimddrtksig Jährt in 0$l-fl$ien. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten. Bon

fll). von Branfct, Wirkt. Geheimen Rat, Kaiserlichem Gesandten a. D.

3 Bände gr. 8°.

Preis geheftet Mk. 19.50, gebunden Ml. 24.—.

Band I mit dem Bilde des Verfassers. XI und 319 Seiten.

Die preussische Expedition nach Cst-Asien Japan, China. Siam 1S60—1862. == Zimicfc nach Japan 1862. Band II mit dem Bilde S. M. Mutsuhito's Tenno von^Japan XV und 386 Seiten.

3apan 1863—1875. 1866. Zn und durch Hmeriha 1871-1872. Band III mit dem Bilde J-Huan's, Prinz von Chun. XVII u. 333 S.

China 1875-1893. .... Man darf mit Recht den Worten eines Mannes, der Jahrzehnte hindurch im fernen Osten gelebt hat und daher Land und Leute genau kennen muß, Gehör leihen: Vieles von dem, was er sagt, muß dazu beitragen, die Ansichten zu klären. Wenn Herr von Brandt sich nunmehr entschlossen hat, das Ergebnis und die Erfahrungen seiner langen amtlichen Thätigieit zu veröffentlichen, so kann er der Aufmerksamkeit eines großen Leserkreises sicher sein. Hamburger Nachrichten.

IDerlaci von Georg Migand in Leipzig.

Aus dem Lande des Zopfes. Plaudereien eines alten Chinesen. Von

fll). von Brandt, ehemals deutscher Gesandter in Peking.

13 Bogen Oktav.

Elegant geheftet 2 Mk., elegant gebunden 3 Mk.

Zweite vermehrte Mufdinc Inhalt: Allerlei. — Wie China itzt und trinkt. — Sozialpolitisches und anderes. — Peking. — Vom chinesischen Soldaten — Deutschland und China. — Neuestes.

„Wer sich in angenehmer Lektüre über das Reich der Mitte, seine Bewohner, deren Sitten und Gebräuche, sowie die sozialen, politischen und industriellen Ver­ hältnisse des Landes unterrichten will, findet in diesem Buch, wenn auch keine erschöpfende Darstellung, so doch in anziehender Form über vieles Aufschluß."

Wie Jieo Tolstoi lebt und arbeitet. (Erinnerungen von

flX LergejenKo. Deutsch von H. Stümcke. Mit 17 Abbildungen und Faksimiles.

Gr. 8°.

6 Bogen.

Geh. 2 Mk., geb. 3 9)if.

30 numerierte Exemplare sind auf kaiserlich japanischem Pcrgamcntpapicr abgezogen. Preis geheftet 6 Mk. Diese Schrift wird von der Pich täglich mehrenden Anhängerschar des großen russischen Dichterphilosophen um so freundlicher begrüßt werden, als sie im Gegen­ satz zu vielen anderen, die Tolstoi als sonderbaren Schwärmer erscheinen lassen, ein klares Bild seines Lebens giebt.

Jegbdvl^kajur

iorryTttnaja

SalSr KirkvtaÄ

!.°>

(Asowskofe More..).

ß.Dshalgoj

^radnoje.

i.u

MryZrl 3Pr^'?iünd( WTadirr

**UJX 3fyss

sggs isStnebt ^llrrnak

biSOBI

Maßstab 1:8.250.000 oder 100 Kilometer in. der Fatur =12,12 Mm. auf der Karte. Kilometer