Auguren des Geldes: Eine Kulturgeschichte des Finanzjournalismus in Deutschland 1850–1914 [1 ed.] 9783666352065, 9783525352069

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Auguren des Geldes: Eine Kulturgeschichte des Finanzjournalismus in Deutschland 1850–1914 [1 ed.]
 9783666352065, 9783525352069

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Robert Radu

Auguren des Geldes Eine Kulturgeschichte des Finanzjournalismus in Deutschland 1850–1914

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)

Band 224

Vandenhoeck & Ruprecht

Robert Radu

Auguren des Geldes Eine Kulturgeschichte des Finanzjournalismus in Deutschland 1850–1914

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 10 Abbildungen und 3 Tabellen Umschlagabbildung: Mittagsstunde in der Fondsbörse (um 1895), aus: Gustav Dahms: Das litterarische[!] Berlin. Illustriertes Handbuch der Presse in der Reichshauptstadt, Berlin [1895], S. 152. (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0130 ISBN 978-3-666-35206-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Axel Springer Stiftung und der Eugen-Gutmann-Gesellschaft e. V. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Medien, Anleger und Finanzmarktgeschehen vor 1850 . . . . . . . . 37 1. Finanzielle Marktvergesellschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Staatsanleihen (38) Eisenbahnaktien (41)

2. Finanzkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Interpersonale Kommunikation und Preisöffentlichkeit  (44) Kursberichte (47) Kommunikationsverdichtung und Aufstieg der Zeitung als Finanzmedium (53)

II. Von den ersten Börsenzeitungen bis zur »Großen Depression«: Die Formierung des Finanzjournalismus (1850–1879) . . . . . . . . . 61 1. Programm und Praxis des Finanzjournalismus . . . . . . . . . . . 61 1.1 Medien des Vertrauens? Finanzzeitungen und die Unsicherheit der Märkte . . . . . . 62 Aktualität, Objektivität und Vollständigkeit (63) Konsolidierung und Verdichtung finanzjournalistischer Kommunikation  (66) Wirtschaftsboom und zweite Gründungswelle um 1870 (68)

1.2 Pioniere: Der subjektive Faktor im Pressegeschäft . . . . . . . 71 Zeitungsgründer der ersten Stunde: Killisch, Scherer, Sonnemann (71) Redaktionspersonal als Wissens- und Vertrauensressource (76)

2. Finanzmetropolen und journalistische Informationsakquise . . . 82 2.1 Bankenviertel und Zeitungsredaktionen . . . . . . . . . . . . 83 Urbane Topografien  (84) Private Räume: Zu Gast bei Bleichrö­ der (86) Formelle Räume: Journalisten im Großbankenbetrieb (89)

2.2 Telegrafische Kommunikationsräume . . . . . . . . . . . . . 91 Börsentelegramme (91) Nachrichtenagenturen und globaler Nachrichtenverkehr (93)

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2.3 Die Börse als Kontaktzone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Journalisten als Besuchergruppe (98) Status und Kontrolle (100) Praxis der Börsenberichterstattung  (104) Konflikte und Rivalitäten (108)

3. Der »Gründungsschwindel« und die Hypothek der Finanzpresse . 114 3.1 Interessenverschränkungen und Inseratengeschäfte . . . . . . 116 Besitzverhältnisse im Pressesektor (116) Handelsjournalisten als Gründer und Spekulanten (118) Emissionsprospekte (122)

3.2 »Allein die Börsen-Zeitung […] trägt die Schuld!«: Medienkritik und Normenwandel nach dem Börsenkrach . . 127 Antiliberale und antisemitische Machinationen  (128) Mehring gegen Schweitzer und Sonnemann (135) Normvorstellungen und Handlungsspielräume (142) Persistenz statt Reform (148)

III. Skandale, Schulden, Staatsbankrotte: Die Politisierung des Finanzjournalismus (1880–1896) . . . . . . . . 155 1. Die »ökonomische Meinung« als Politikum . . . . . . . . . . . . . 155 1.1 Presseausschnitte und Finanzmarktwirklichkeit . . . . . . . . 157 Zeitungslektüre als Modus der Welterschließung  (157) Bankarchive  (160) Behörden  (162) Spekulationsgefahr als Medieninszenierung? (167)

1.2 Pressepolitik: Bismarck und die Entdeckung der »ökonomischen Meinung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Institutionelle Orte von »Pressearbeit«  (175) Der Staat als Zeitungsmacher (177) Behördlich-journalistische Seilschaften (180)

2. Presse, Kapitalexport und Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . 187 2.1 Finanzjournalismus als Waffe: Bismarck, die Kölnische Zeitung und der »amtliche Pressekrieg« gegen russische Wertpapiere (1887–1889) . . . . . . . . . . . . 188 Finanzinteressen und Hohe Politik (189) Franz Fischer: Redakteur und Russlandgegner (191) Die »amtliche Pressekampagne« (197)

2.2 Die Verschiebung nationaler Zuständigkeit: Griechenlands Staatsbankrott von 1893 und die Eigendynamik der Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Deutsches Kapital in »Hellas« (205) Staatskredit und Öffentlichkeit (207) »Pressure groups«, Pressefuror und die Intervention der Reichsleitung (211)

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2.3 Bündnispolitik auf Anlegerkosten? Medien und politisches Kalkül in der italienischen Finanzkrise, 1889–1894 220 Hilferuf aus Rom (221) Berliner Pressemanöver (222) Auslandskorrespondenten und nationale Kommunikationskontrolle (227) Die Unbeherrschbarkeit der Medien (232)

3. Journalistiches Fehlverhalten im Fokus von Staat und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 3.1 »Zeitungsbankiers« und »Trinkgelder-Unwesen«: Skandale im Nahbereich von Journalismus und Hochfinanz . 238 Pluralisierung des Presseangebots  (238) »Mischlingsmenschen«: der Zeitungsbankier als Skandalfigur (240) Korruption, Bestechlichkeit, Erpressung (245)

3.2 »Der bewußten Irreleitung des Publikums […] entgegentreten«: Das Börsengesetz von 1896 als Rechtsordnung finanzieller Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Börsen-Enquete-Kommission I: Die Hochfinanz über die Presse (251) Börsen-Enquete-Kommission II: Die Presse über die Hochfinanz (254) Gesetzliche Bestimmungen oder »Selbstentwicklung der Presse« (259)

IV. Vom »Kuli der Börse« zum Anwalt der Öffentlichkeit? Die Professionalisierung des Finanzjournalismus (1897–1914) . . . . 265 1. Beschleunigung und Internationalisierung . . . . . . . . . . . . . 265 1.1 Mobilität und Korrespondentennetze . . . . . . . . . . . . . . 266 Berlin als Fluchtpunkt  (266) Journalisten auf Reisen  (270) Am Puls der Weltbörsen: Auslandskorrespondenten (272)

1.2 Journalistische Zeitstrukturen und die »moderne Nervosität« 276 »Die schnellste Zeitung der Welt« (276) Arbeitsalltag und Arbeitsüberlastung (282)

2. Emanzipationsversuche und informelle Professionalisierung . . . 287 2.1 »Geschlossene Gesellschaft« oder »offener Markt«? Der Kampf der Presse um die Börse . . . . . . . . . . . . . . . 288 Geduldete Besucher: Die Rechtsstellung des Journalisten an der Börse (288) Gegen Gebühren! Der Zugang zum Börsenraum (292) Expansion der Öffentlichkeit  (296) Das »berechtigte Interesse« und der Presseausschuss der Börse (302)

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2.2 »Es gilt jetzt als unehrenhaft, von Banken […] Vergütungen anzunehmen«: Standesbewusstsein, Sozialprestige und Distinktionsbestreben . . . . . . . . . . . . 309 Die »Ehre der Finanzpresse« und ihre Promotoren  (309) Wer nicht dazu gehört: Moralische Exklusion (318) Soziale Lage und soziales Prestige (324)

2.3 »Gar viel und gar mannigfaches Handwerkszeug«: Vorbildung, Erfahrung und Begabung als Qualifikationsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Was muss ein Handels- und Börsenjournalist können? (327) Spezialisierung und Theoretisierung (331)

Schluss: Die Medialisierung des Ökonomischen . . . . . . . . . . . . . . . 339

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380

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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abbildungen Abb. 1: »Hertel’scher Coursbericht« vom 19. April 1832 . . . . . . . . . 57 Abb. 2: »Frankfurter officielles Börse-Coursblatt« des Abraham Sulzbach. Ausgabe vom 1. März 1851 . . . . . . . 58 Abb. 3: »Coursblatt von S. Berlyn« vom 15. Juni 1852 . . . . . . . . . . 59 Abb. 4: Anzeige der »Neuen Börsenzeitung« in der »Vossischen Zeitung« vom 23. Dezember 1872 . . . . . . . 70 Abb. 5: Hermann Killisch von Horn ­(1821–1886) . . . . . . . . . . . . . 87 Abb. 6: George Davidsohn (1835–1897) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Abb. 7: Prospekt mit Julius Schweitzer als »erstem Zeichner« und Mitglied des Aufsichtsrats, veröffentlicht in der »National-Zeitung« vom 16. Februar 1872 . . . . . . . . . . . . 121 Abb. 8: »Erbfreundliches« – »Der wahre Jacob«, Nr. 44, Sept. 1887, karikierte die Wandelbarkeit in der Bewertung der russischen Anleihen durch die offiziöse Presse Deutschlands . . . . . . . . 202 Abb. 9: Werbeplakat der »B. Z. am Mittag« aus dem Jahr 1913 . . . . . 279 Abb. 10: Inszenierung als objektive Kritiker – Reporter an der Berliner Börse um 1895 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Tabellen Tab. 1:

Zweite Gründungswelle von Finanz- und Börsenzeitungen um 1870 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

Tab. 2:

Anteil der Pressevertreter an der Gesamtzahl der gegen Börsenbeitrag zugelassenen Besucher . . . . . . . . . 100

Tab. 3:

Neugründungen im Segment der Finanzpresse seit 1879 . . . . 239 9

Vorwort Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeitete und gekürzte Version meiner im September 2014 an der Universität Rostock unter dem gleichen Titel eingereichten Dissertation. Mit ihr wird erstmals eine wissenschaftliche Darstellung der Ursprünge und Entstehungskontexte des Finanzjournalismus in Deutschland vorgelegt. Ideen zu dieser Arbeit nahmen während meiner Studienjahre in Berlin Gestalt an. Es waren die Ereignisse des Septembers 2008, die wohl erstmals mein Interesse am Finanzjournalismus weckten: der Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers und seine mediale Dauerbegleitung. Was sich auf den Finanzmärkten zutrug, erreichte uns über die Medien, die Finanzmärkte und ihre mediale Repräsentation waren kaum noch voneinander zu trennen. Durch die Medien sprachen Bundeskanzlerin und Finanzminister zu uns – nicht zu uns als Bürger, sondern als Sparer. »Vertrauen schaffen« war die Losung der Stunde, und kein Weg führte hier an den Medien vorbei: Ihre Berichterstattung beförderte Vertrauen – oder sie zerstörte es. Die Jahre seit 2008 haben in einem Ausmaß wie wohl nie zuvor öffentliche Debatten über die Rolle der Medien im Kontext finanzieller Krisen angestoßen und Finanzjournalisten mehr als bisher zu einer kritischen Reflexion ihres beruflichen Tuns angehalten. Hatten die Medien die nach der Lehman-Pleite einsetzende und sich verschärfende Krise der Weltwirtschaft nur beschrieben oder hatten sie die Krise durch ihre Berichterstattung unweigerlich auch befördert? Denn je intensiver die Krise in den Medien begegnete – ob als Finanz-, Banken-, Schulden- oder Eurokrise –, desto krisenhafter schien die Wirklichkeit dem Einzelnen auch entgegenzutreten. Diese Ambiguität des Krisenjournalismus ist wohl das eigentliche Faszinosum der Jahre seit 2008. Sie ließ in mir die Frage aufkommen, wie sich das Verhältnis von medialer Berichterstattung und Finanzmarktgeschehen historisch entwickelt hatte, und ob sich dadurch nicht nur die Geschichte besser verstehen ließe, sondern auch unsere eigene krisengeprägte Gegenwart. Meinen Weg von der ersten, vagen Idee bis zur Fertigstellung dieser Studie haben viele Personen und Institutionen begleitet. Ohne sie wäre dieses Unterfangen niemals geglückt. Mein besonderer Dank gilt den Betreuern meiner Arbeit, Prof. Dr. Alexander Gallus und Prof. Dr. Ulrike von Hirschhausen. Sie haben mein Forschungsprojekt von Anfang an mit großem Interesse verfolgt, haben seine Entwicklung durch kritische Fragen und Denkanstöße gefördert, haben es in die richtige Richtung zu lenken gewusst und mich so vor Abwegen und Irrwegen bewahrt. Das Department »Wissen – Kultur – Transformation« der Interdisziplinären Fakultät der Universität Rostock hat die Entstehung 11

dieser Studie nicht nur durch ein dreijähriges Promotionsstipendium gefördert, sondern war mir in dieser Zeit auch immer ein Ort anregender Gespräche und fruchtbarer Diskussionen über die Grenzen der eigenen Disziplin hinweg. Allen Mitgliedern und Stipendiaten/innen des Departments möchte ich herzlich dafür danken. Profitiert hat diese Studie ebenso von zahlreichen persönlichen Gesprächen, wissenschaftlichen Kolloquien und Konferenzen, in denen ich die Möglichkeit hatte, Hypothesen und Kapitel der Arbeit vorzustellen und zu diskutieren. Ganz besonders bedanken für Rat und Kritik möchte ich mich bei Prof. Dr. Peter Berger, Prof. Dr. Frank Bösch, Prof. Dr. Dominik Geppert, Dr. Dörte Lerp, Dr. Lisa Medrow, Dr. Daniel Münzner und Prof. Dr. Bernd Sösemann. Viele andere Personen müssten an dieser Stelle noch genannt werden, wenn es der Platz zuließe – sie alle mögen sich in den Dank eingeschlossen fühlen. Bei der Suche nach Quellenmaterial standen mir überall fachkundige Mitarbeiter mit Rat und Tat zur Seite. Nennen möchte ich stellvertretend für Viele Sylvia Goldhammer am Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt a. M., Petra Schwarze (Redaktionsarchiv DuMont Schauberg, Köln) und Dr. Bernd Kulla am Historischen Institut der Deutschen Bank, Frankfurt a. M. Ein Archivaufenthalt an der Baker Library (Harvard Business School, Boston, USA) ist mir durch ein Doctoral Fellowship des German Historical Institute Washington ermöglicht worden. Schließlich möchte ich den Herausgebern der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft«, namentlich Professor Dr. Hans-Peter Ullmann, für die genaue Prüfung und Aufnahme meiner Studie in die Reihe danken ebenso wie dem Verlag Vandenhoek & Ruprecht für das umsichtige Lektorat des Manuskripts. Historisches Forschen ist streckenweise eine sehr einsame Angelegenheit. Umso mehr bin ich all jenen zu Dank verpflichtet, die mich in meinen freien Stunden begleitet haben und mir die emotionale Ausdauer gaben, die es zum Schreiben einer Dissertation braucht. An erster Stelle ist hier Luiyin Alejandro Berbesi zu nennen. Ebenso wie ihm gilt mein großer Dank dem M18-Zirkel: Alexander Rahn, Björn Weiß, Christoph Schippel und Phillip Ayoub. Sie haben es gewusst, mein wissenschaftliches Forschen wieder in ein gesundes Verhältnis zum Leben zu rücken. Mein größter Dank gilt schließlich meinen Eltern, Brigitte und Julian Radu. Sie haben mich von früh auf gelehrt, allen Herausforderungen des Lebens mit Neugier, Optimismus und Zuversicht zu begegnen. Wie hätte ich die Odyssee einer Doktorarbeit jemals durchgestanden ohne die Zuversicht, dass eines Tages Land in Sicht sein würde! Das Land ist nun erreicht, das Buch fertig gestellt. Meinen Eltern sei es in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Stavanger, im Dezember 2016

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Einleitung Im Februar 1908 verwiesen die Ältesten der Berliner Kaufmannschaft den Börsenjournalisten Bruno Buchwald per ehrengerichtlichem Entscheid von der Berliner Börse. Der Vorwurf, den das Gremium einflussreicher Beamter und Bankiers gegen den Reporter der Berliner Morgenpost erhoben hatte, wog schwer. Buchwald, einer von über hundert Presseberichterstattern, die sich täglich zu den Handelszeiten im Börsensaal aufhielten, sollte sich der Bestechung von Börsenpersonal schuldig gemacht haben. Für seine täglichen Zeitungsberichte habe er, erklärte das Börsenkommissariat, Angestellte von Kursmaklern durch Gewährung von Geschenken zu Mitteilungen bewegen wollen, deren Preisgabe gegen die Amtspflicht und das Anstellungsverhältnis verstoße.1 Der Fall entwickelte sich in der Presse der Reichshauptstadt schnell zum Politikum. Denn nicht wenigen Beobachtern drängte sich der Eindruck auf, dass die Börsenvorsteher hier einen investigativen und unbequemen Reporter unter fadenscheinigen Behauptungen mundtot machen wollten. In der Causa Börse gegen Buchwald ging es somit um viel mehr als einen Streit in ehrengerichtlicher Sache. In ihr spitzte sich die Frage zu, ob die Allgemeinheit ein legitimes Interesse daran habe zu erfahren, was an der Börse vor sich gehe. »Entweder die Börse ist eine geschlossene Gesellschaft mit geheimen Geschäftspraktiken«, bemerkte die konservative Kreuzzeitung zum Fall Buchwald, »oder sie ist ein offener Markt, und dann hat sie keine Geheimnisse zu hüten.« In jeden Fall sei die Presse vor der Willkür des Börsenvorstandes zu schützen, fuhr das Blatt fort: »Sie darf nicht auf das Gastrecht der Börse angewiesen bleiben.«2 Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion zeigte sich in dieser Hinsicht eins mit dem sonst bekämpften konservativen Organ. Für den SPD-Abgeordneten Ludwig Frank war der »bekannte Fall der Berliner Börse« eine Steilvorlage, um in den wenig später einsetzenden Beratungen des Reichstags zur Börsengesetznovelle mehr Transparenz beim Börsenhandel zu fordern. Denn die Interessen der Allgemeinheit seien nur dann ausreichend gewahrt, erläuterte Frank, wenn »unter allen Umständen an jeder Börse eine unabhängige Presse zugelassen wäre.« Der Fall Buchwald rechtfertige allerdings die Befürchtung, »daß unabhängige Journalisten, wenn sie unangenehm werden, von dem Besuch der Börse ausgeschlossen werden.«3 Die Angelegenheit verlor in den Monaten darauf zwar an öffentlicher Aufmerksamkeit, doch schon im Herbst desselben Jahres geriet sie erneut in den Fokus der Medien, nachdem eine Berufungsinstanz das Urteil des 1 Akten zum Prozess Buchwald finden sich in GStA PK, I. HA. Rep. 120, C XI 1, Nr. 2 H. 2 Kreuzzeitung, Nr. 79, 16.2.1908. 3 Rede vom 7.4.1908, in: Reichstag, Stenographische Berichte, Bd. 232, S. 4762.

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Börsengerichts aufgehoben und Buchwald seine Ehre wieder zugesprochen hatte. Das linksliberale Berliner Tageblatt nutzte diese Wende, um die Position der Presse gegenüber der Finanzwelt unmissverständlich klarzustellen. Durch den Urteilsspruch werde zum ersten Mal anerkannt, schrieb der Handelsredakteur des Blattes, Alfons Goldschmidt, »daß die Vorgänge an der Berliner Börse verbreitet werden müssen, und daß eine Interessengemeinschaft zum Schaden weiter Kreise der Volkswirtschaft dort nicht aufkommen darf.« Ob der Kaufmann an der Berliner Börse sich dadurch geschädigt fühle oder nicht, sei ganz und gar gleichgültig. »Die ehrliche Börsenpresse arbeitet nicht für den einzelnen, sondern für die Gesamtheit.« Ihr gehe es um die größtmögliche objektive Publizität und nicht um die Geheimhaltung von Tatsachen zugunsten anderer.4 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatten sich die Beziehungen zwischen Presse und Finanzwelt deutlich gewandelt – der Fall Buchwald und die öffentlichen Debatten in seinem Gefolge zeigen dies paradigmatisch. Sich ihrer (Deutungs-)Macht und selbst- wie fremdauferlegten Verantwortung bewusst, traten Handels- und Börsenjournalisten nun aufrechter denn je den Akteuren der Finanzindustrie  – den Bankiers, Kaufleuten und Unternehmensdirektoren – gegenüber. Nicht mehr »Kuli der Börse«5 wollte man sein, sondern stolzer Vertreter der Öffentlichkeit auf dem finanziellen Sektor des modernen Wirtschaftslebens. Die Eliten des wilhelminischen Kaiserreichs  – Parlamentarier, Ministerialbeamte ebenso wie Juristen und Nationalökonomen – mochten sie sich gegenüber dem politischen Journalismus zuteilen noch äußerst reserviert verhalten, zeigten sich jedoch mit Blick auf den finanziellen Journalismus zunehmend bereit, ihm eine solche öffentliche Funktion auch zuzugestehen. Viel zu lange schien ein undurchsichtiger Schleier auf dem Börsenhandel gelegen zu haben. Nun, im vermeintlichen »Zeitalter schrankenloser Publizität«,6 nach den Unregelmäßigkeiten und Finanzskandalen vorangegangener Dekaden,7 sollten ihn Journalisten lüften helfen und das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit auch auf den Finanzsektor richten. Finanzjournalismus – das war um 1900 im Selbstverständnis von Pressevertretern nicht lediglich eine Betätigung, um das 4 Berliner Tageblatt, Nr. 482, 21.9.1908 (Hvh. i. O.). 5 Jöhlinger, S. 153. 6 So bereits 1893 mit deutlich negativer Konnotation die Gegenwartsdiagnose Bernhard von Bülows, vgl. Röhl, Eulenburg, Bd. 2, S. 1007. 7 Starke öffentliche Aufmerksamkeit erregten nicht nur die sogenannten »Gründerjahre«, über denen seit dem Börsenkrach von 1873 der Schatten der Korruption und Verfilzung lag, sondern in den folgenden Jahrzehnten neben zahlreichen kleineren Vorkommnissen vor allem die überraschende Insolvenz des hochangesehenen Berliner Bankhauses Hirschfeld & Wolff 1891, dessen Inhaber die Einlagen und Wertpapierdepots seiner Kundschaft veruntreut hatte, ebenso wie der Zusammenbruch mehrerer deutscher Hypothekenbanken 1900/01, dessen nachfolgende Gerichtsprozesse einen ganzen Sumpf aus Schiebungen, Fälschungen und Betrug offenlegten. Vgl. Müller-Fürer; Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 854–884; Heini; Tilly.

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tägliche Auskommen zu sichern. Finanzjournalistisch zu wirken, bedeutete für sie weitaus mehr: Es war ein »munus publicum«,8 ein öffentliches Amt, das dem Gemeinwohl insgesamt verpflichtet war. So sei es gerade der Presse zu verdanken, konstatierte 1908 Robert Brunhuber, der Handelsredakteur der Kölnischen Zeitung, »wenn gefährliche Wirtschaftserscheinungen mit einem festen Schnitt vom ökonomischen Staatskörper beseitigt wurden.«9 Es sollte jedoch ein langer Weg sein, bis aus den personell notdürftig ausge­ statteten, mitunter nur unkritischen Verlautbarungsorganen der Banken und Aktiengesellschaften der Jahre um 1850 hochaktuelle, spezialisierte, zunehmend professionellere Finanz- und Börsenzeitungen wurden, die sich selbst, einem eigens ausgebildeten Ethos gemäß, als objektiv, kritisch und unparteiisch wahrnahmen. Die vorliegende Studie will diese Konstituierungsphase des Finanzjournalismus in Deutschland nachzeichnen. Ihre Kernthese lautet: Mit dem Übergang finanzieller Kommunikation in den Tätigkeitsbereich öffentlicher Medien entstand seit den 1850er Jahren eine genuin neue, medienvermittelte und von konkreten Orten entkoppelte Öffentlichkeit, in der finanzielle Informationen bereitgestellt und finanzielle Themen verhandelt wurden. Der Finanzjournalismus machte das Geschehen auf den Finanzmärkten medial erfahrbar und schuf so eigene Medienwirklichkeiten des Ökonomischen,10 die fortan als ein wichtiger Bezugs- und Handlungsrahmen von Markteilnehmern und Politikern fungierten. Zurückzuführen auf das praktische Bedürfnis von Markteilnehmern nach Finanzinformationen und begünstigt in seiner Entwicklung durch neue Kommunikationstechnologien und urbane Informationsknotenpunkte, zeigte der Finanzjournalismus sich, je politischer das Finanzmarktgeschehen im Zeitalter des »Finanzimperialismus« (Wolfgang J. Mommsen)11 wurde, desto mehr auch als politisch relevant, da er – so die zeitgenössische Annahme – »ökonomische Meinung«12 mache und das Markthandeln mit beeinflusse. Diese von außen und durch die politisch-wirtschaftlichen Zeitumstände an ihn herangetragene, nicht, so bleibt zu vermuten, endogen in ihm angelegte politische Aufladung führte zu einer gesellschaftlichen Beschäftigung mit den Funktions- und Arbeitsweisen des finanzjournalistischen Feldes und mündete in der Forderung einer ethischen Einbettung und dem Gemeinwohl verpflichteten Ausrichtung des Finanzjournalismus in den 1890er Jahren. Diese externen Anstöße, kombiniert mit berufsinternen, von Verbänden artikulierten Bestrebungen, stimulierten seit der Jahrhundertwende eine finanzjournalistische Professionalisierung, in deren Verlauf die Akteure des Feldes 8 Scholten, S. 95. 9 Brunhuber, Zeitungswesen, S. 106. 10 Die historische Formkraft von »Medienwirklichkeiten« seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist in letzter Zeit von der geschichtswissenschaftlichen Forschung vor allem mit Blick auf die politische Kultur betont worden, vgl. Bösch, Geheimnisse; Daniel u. a. 11 Mommsen, Finanzimperialismus. 12 Auf diesen Begriff wird an anderer Stelle der Einleitung noch näher eingegangen.

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berufsständische Normen und ein berufsspezifisches Anforderungsprofil als verbindlich durchzusetzen suchten. Finanzjournalisten rückten seit der Jahrhundertwende in eine Rolle vor, die ihnen nicht nur wachsende gesellschaftliche Anerkennung verschaffte, sondern auch hohe Erwartungen mit sich brachte: Allein dem Gemeinwesen verpflichtet, sollten Finanzjournalisten Börsen und Märkte mit kritischem Blick verfolgen und aus Zahlen, Statistiken und Stimmungen die wirtschaftliche Zukunft des Landes beschreiben. Ähnlich ihren Vorgängern der Antike, wurden Finanzjournalisten damit – dies ein Leitmotiv dieser Studie – zu modernen Auguren des Geldes, deren journalistische Berichte sich, wie bereits Zeitgenossen bemerkten, im Grenzgebiet von Prognose und Prophetie bewegten.13 Die Studie stellt die Geschichte des deutschen Finanzjournalismus entlang der drei Phasen der Formierung, Politisierung und Professionalisierung dar, ohne dass diese dabei in ihren Übergängen trennscharf voneinander abzugrenzen wären oder, dies gilt vor allem für die beiden letzten Phasen, einander ausschlössen: Politisierung kann vielmehr als durchgehender, wenngleich in seiner Intensität variierender Prozess verstanden werden, der um 1900 trotz einer einsetzenden und fortschreitenden Professionalisierung nicht an sein Ende gekommen war. Die Phasenbezeichnungen markieren damit die jeweils in einem Zeitabschnitt vorherrschenden Tendenzen. Ihre chronologische Anordnung verweist zugleich darauf, dass die drei beschriebenen Prozesse, trotz ihrer teilweisen Überschneidung oder Parallelität, in einem zeitlichen Bedingungsverhältnis zueinander stehen: Der Professionalisierung des Finanzjournalismus ging seine Politisierung voraus. Erst diese schuf jene öffentliche Resonanz und jenes berufsinterne Problembewusstsein, deren es bedurfte, um eine an gemeinsamen Verhaltensregeln und Normvorstellungen orientierte Verberuflichung jenseits politischer Lagergrenzen voranzutreiben. Die Geschichte des deutschen Finanzjournalismus entlang dieser Phasen darzustellen bedingt, über eine Fixierung auf Einzelmedien, journalistische Akteure und Inhalte, wie sie einer Medien- und Journalismushistoriografie häufig eignet, hinauszugehen und die Wechselwirkung mit dem jeweiligen temporär variablen gesellschaftlichen Kontext, in dem jede journalistische Tätigkeit eingebettet ist, mit in den Blick zu rücken. In diesem Sinne beabsichtigt die Studie, im Brennglas des Finanzjournalismus die deutsche Medien-, Politik- und Wirtschaftsgeschichte vor 1914 zu bündeln.14 Sie fragt nicht nur danach, wie die Medialisierung des Ökonomischen15 durch die Entstehung des Finanzjournalismus aus binnenjourna­ 13 Radius, S. 152. 14 Die gesellschaftlichen Bereiche der Wirtschaft und der Politik, darauf hat jüngst Hesse, Wirtschaftsgeschichte, S. 106 f., zurecht hingewiesen, müssen für die Moderne immer in ihrer Interdependenz gedacht werden und lassen sich allenfalls analytisch trennen. 15 Die Medialisierung des Ökonomischen kann als Parallelprozess der in letzter Zeit stärker in den Blick der Forschung gerückten Medialisierung des Politischen betrachtet werden, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu beobachten ist, vgl. etwa Arnold u. a. Sie impliziert

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listischer Sicht verlief und wie sich der deutsche Journalismus dadurch ausdifferenzierte und spezialisierte. Sie interessiert sich zugleich dafür, was diese Medialisierung für den Finanzsektor, seine Akteure und Institutionen sowie für das Finanzmarktgeschehen generell bedeutete. Erst mit einer solchen Koppelung mediengeschichtlicher an im weitesten Sinne gesellschaftshistorische Fragestellungen  – der »gesellschaftsgeschichtlichen Dimensionierung« von Mediengeschichte –16 kann ein substantieller Beitrag zu einer in jüngerer Zeit von der historischen Forschung immer wieder eingeforderten »Gesellschaftsgeschichte öffentlicher Kommunikation«17 oder »Mediengeschichte der Gesellschaft«18 geleistet werden. Das Erkenntnisinteresse dieser Studie richtet sich somit auf zwei historisch miteinander verschränkte und aufeinander bezogene Bereiche: erstens auf die Genese, Entwicklung und Professionalisierung eines finanzjournalistischen Feldes, seiner medialen Institutionen und Angebote, seiner Akteurskonstellationen sowie seinen sich wandelnden Normen und alltäglichen Praktiken; zweitens interessiert sich die Arbeit für die politische und handlungsleitende Relevanz, welche die finanzjournalistische Kommunikation für Staat und Gesellschaft des Kaiserreiches zeitigte und die schließlich auf die Frage nach der (politischen) Wirkmächtigkeit finanzjournalistischer Deutungsangebote zuläuft. Dabei können freilich keine Kausalzusammenhänge, sondern lediglich zeitgenössische Wirkungsunterstellungen beleuchtet können, die jedoch ihrerseits (im Sinne von Erwartungserwartungen) das Handeln von politischen und Marktakteuren und ihre Positionierung zum finanzjournalistischen Feld prägen konnten. Erst unter Einbeziehung solcher Fragen nach Konstruktion, Wahrnehmung, Deutung und (konfliktiven) Aushandlung von Wirklichkeit wird der deutsche Finanzjournalismus vor 1914 zu einem kulturhistorischen Gegenstand. Kulturalistische Ansätze sind seit den 1980er, insbesondere aber seit den 1990er Jahren in verschiedenen historischen Teildisziplinen rezipiert und angewandt worden. Mit ihnen steht nicht mehr so sehr die Frage im Mittelpunkt nach dem, was ist, sondern danach, wie es gemacht wird. Damit einher geht häufig eine Akzentverschiebung von unpersönlichen, scheinbar objektiven Strukturen hin zu Akteuren und ihren individuellen Sinnkonstruktionen und Handlungsweisen.19 Als besonders fruchtbar haben sich dabei Ansätze erwiesen, die unter dem Label einer »Politischen Kulturgeschichte« oder »Kulturgeschichte des Politischen« zusammengefasst werden können und von einem stark nicht nur, dass Ökonomie in der Moderne zunehmend einer medialen Vermittlung unterworfen ist bzw. dieser bedarf, sondern auch, dass sich dabei mediale Logiken und Eigendynamiken in die Ökonomie einschreiben und diese dadurch strukturell verändern können. 16 Führer u. a., S. 1. 17 Requate, Öffentlichkeit, S. 15 f. 18 Knoch u. Morat, S. 14. 19 Vgl. generell hierzu Mergel; Landwehr, Diskurs; Daniel, Kompendium; kritisch dazu und die grundsätzliche Neuheit des Ansatzes hinterfragend Rödder.

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erweiterten Politikbegriff geleitet sind.20 Sie bilden einen geeigneten Zugang zu einer Historiografie des Finanzjournalismus, die mehr leisten möchte, als Mediengeschichte zu betreiben. Nicht zuletzt erweist sich eine so konzipierte Geschichte des Finanzjournalismus als anschlussfähig an eine kulturhistorisch akzentuierte Wirtschaftsgeschichte, die der Rolle von Medien mehr Aufmerksamkeit zu teil werden lässt, als dies unter der Dominanz wirtschaftswissenschaftlicher Ansätze über viele Jahre hinweg geschehen ist.21 Schließlich kann ein besseres Verständnis finanzjournalistischer Kommunikation im 19.  und frühen 20. Jahrhundert auch einen Beitrag zur Geschichte des Kapitalismus und der Genese der »modernen« Wirtschaft im 19. Jahrhundert leisten, indem es den Blick schärft für den kulturellen Kontext, innerhalb dessen die historischen Organisationsformen der »westlichen« Wirtschaft entstanden sind.22 Jüngere Studien legen den Schluss nahe, Medien nicht lediglich auf eine infrastrukturelle Rolle etwa als Informationsvermittler zu reduzieren, sondern sie als mit Eigenlogiken behaftete und Eigendynamiken entwickelnde Entitäten, als »elementare Produktivkräfte des Geschichtlichen«23 zu begreifen, die ihrerseits auf wirtschaftliche Prozesse und wirtschaftliches Geschehen zurückwirken können.24 Im Mittelpunkt der Studie stehen Medien, Akteure und Publika, die an der finanzjournalistischen Kommunikation in Deutschland als Kommunikatoren, Adressaten oder Rezipienten partizipierten. Fluchtpunkt bleibt damit der nationale Kommunikationsraum, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert den wichtigsten Bezugsrahmen zur Verhandlung finanzieller Themen bildete. Das Hauptaugenmerk der Studie ruht dabei zwangsläufig auf Frankfurt am Main und Berlin. Denn als wichtigste deutsche Finanzzentren – für Berlin gilt dies auch im internationalen Vergleich  – markierten sie zugleich die vorrangigen Erscheinungsorte finanzjournalistischer Medienprodukte und bildeten die zentralen Schauplätze finanzjournalistischer Praxis. Neben dem Lokalen ragte jedoch immer auch das Globale in die finanzjournalistische Kommunikation hinein. Von den Weltbörsen in Europa und Nordamerika, von den Anlageplätzen deutschen Kapitals im Ausland fanden Nachrichten und Kursinformationen ihren Weg durch Telegrafenbüros und Auslandskorrespondenten in die deutsche Presse und durch sie in den nationalen Kommunikationsraum. Wie der deutsche Finanzjournalismus vor 1914 so changiert daher auch der geogra-

20 Aus der großen Zahl vorliegender Schriften seien hier nur solche erwähnt, die explizit auch die Rolle von Massenmedien reflektieren: Kohlrausch, Monarch; Geppert, Pressekriege; Altenhöner; Bösch, Geheimnisse; Domeier, Eulenburg-Skandal; Medrow u. a., Kampf. 21 Berghoff, Markterschließung; ders., Marketinggeschichte; Wilson; Wischermann u. Nieberding, S. 118–126, 251–255. 22 Hesse, Wirtschaftsgeschichte, S. 8.; Kocka, Kapitalismus, insb. 20 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen von Parsons, S. VIII, zur britischen und amerikanischen Finanzpresse. 23 Crivellari u. a., S. 20. 24 Siehe die in Fn. 20 genannte Literatur.

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fische Fokus dieser Studie stets zwischen dem Lokalen und dem Globalen.25 Der Kriegsausbruch von 1914 wirkte schließlich wie eine Zäsur. Er veränderte schlagartig die Bedingungen und Kontexte finanzjournalistischen Arbeitens, weshalb der Untersuchungszeitraum dieser Studie auch in diesem Jahr endet.26 Bis hierhin ist die Frage ausgeklammert worden, was unter »Finanzjournalismus« zu verstehen und wie folglich der Gegenstandsbereich dieser Arbeit einzugrenzen ist. Eine Theorie des Finanzjournalismus, die hier erste Ansätze hätten liefern können, liegt bislang nicht vor. Soziologische oder kommunikationswissenschaftliche Arbeiten, die sich dem Wirtschaftsjournalismus widmen, gehen nur am Rande, wenn überhaupt, auf den Finanzjournalismus ein, ohne dass dabei jedoch deutlich würde, ob letzterer ein Subtypus des ersteren ist oder sich essentiell von diesem unterscheidet.27 In einem jüngeren, eher praxisorientierten Handbuch zum Finanzjournalismus nähern sich die Verfasser daher dem Begriff über den Gegenstand der Berichterstattung und eine normative Funktionsbestimmung an, wenn sie ausführen: »In sein [des Finanzjournalismus, d. V.] Arbeitsfeld fallen in journalistischer Aufbereitung die Themen der Finanzwirtschaft. Das ist der Teil der Wirtschaft, der im weitesten Sinne mit der Anlage und Beschaffung von Geld zu tun hat. Der Finanzjournalismus soll also – so die Erwartung mit Blick auf die öffentliche Aufgabe – professionell und kritisch Öffentlichkeit herstellen zu allen Themen rund um die Beschaffung und Anlage von Geld.«28

Diese Definition von Finanzjournalismus verbindet eine spezifische thematische Fokussierung (Finanzwirtschaft) mit einer normativen Funktionsbezeichnung, wie sie häufig mit dem modernen Journalismus generell assoziiert wird (professionelle und kritische Herstellung von Öffentlichkeit). Mit Blick auf den Untersuchungszeitraum der Studie kann unter Finanzjournalismus daher jene journalistische Berichterstattung verstanden werden, die sich mit den Themengebieten Börse und Banken, Aktiengesellschaften, Staatsfinanzen und Wertpapieren sowie generell mit Fragen der Kapitalanlage beschäftigt. Dies führt schließlich zu der Frage, was unter »journalistischer Berichterstattung« bzw. »Journalismus« zu verstehen ist. Denn offensichtlich kann die heutige Funktionsbeschreibung, Journalismus stelle professionell und kritisch Öffentlich25 In den Arbeitsweisen, Aufmerksamkeitsökonomien und »mental maps« des Finanzjournalismus spiegeln sich somit zugleich die »Konsequenzen der Moderne«, die Anthony Giddens u. a. darin erkennt, dass »Schauplätze […] von entfernten sozialen Einflüssen gründlich geprägt und gestaltet [werden]. Der lokale Schauplatz wird nicht bloß durch Anwesendes strukturiert, denn die ›sichtbare Form‹ des Schauplatzes verbirgt die weit abgerückten Beziehungen, die sein Wesen bestimmen.« Giddens, Konsequenzen, S. 30. 26 Vgl. Bilanz und Ausblick dieser Studie. 27 Vgl. Mast; Knödler, S. 31ff; kursorisch streift das Thema Moss, S. 151 f., der dem Finanzjournalisten die »Welt der Börse und Banken« zuordnet und ihn vom Unternehmensreporter unterscheidet. 28 Reckinger u. Wolff, S. 169.

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keit her, nicht ohne Weiteres auf die historische Konstellation des 19. Jahrhunderts übertragen werden. Dieses moderne Verständnis von Journalismus bildete sich vielmehr erst um 1900 heraus und steht somit am Ende des Untersuchungszeitraums; seine Genese wird daher selbst Gegenstand der Studie sein müssen. Was also soll im Folgenden unter Journalismus verstanden werden? In der Forschung kursieren verschiedene Definitionen, angefangen von einem sehr eng gefassten, mithin stark normativen und an der Gegenwart orientierten bis hin zu einem weiten, zeitlich nicht allzu stark gebundenen Begriff von Journalismus, der sich daher auch leichter auf vorangegangene Jahrhunderte anwenden lässt.29 Mit Blick auf das 19. Jahrhundert unterscheidet sich finanzjournalistische Kommunikation von anderen Formen finanzieller Kommunikation wie etwa den Börsenberichten der Makler, den Handelskammerberichten oder der finanziellen Buch- oder Broschürenpublizistik vor allem durch ihr Medium und ihre Methode, Periodizität und ihren Modus.30 Finanzjournalismus bedient sich der Zeitung als Medium und erhält insbesondere, jedoch nicht ausschließlich, im Handels- und Börsenteil seinen bevorzugten medialen Platz; er arbeitet redaktionell, indem er an einem bestimmten Ort – der Redaktion – Informationen sammelt, ggf. verschriftlicht und bearbeitet oder selbst produziert; er zielt auf Aktualität, d. h. er behandelt seine Themen unter einer Tages- oder Wochenperspektive; schließlich vermittelt er seine Inhalte im Modus öffentlicher Kommunikation, d. h. sie sind jedem potentiell Interessierten zugänglich. An dieser Definition wird zugleich deutlich, was nicht notwendige Bestandteile des historischen Finanzjournalismus sind, wie er hier in den Blick genommen wird. So ist dieser weder an bestimmte, heute als selbstverständlich erscheinende Normen wie Unabhängigkeit und Objektivität gebunden, noch ist er ausschließlich an eine spezifische Akteursgruppe gekoppelt: Finanzjournalismus wird nicht lediglich von Finanzjournalisten betrieben. Eine solche Auffassung würde der historischen Wirklichkeit nicht gerecht, war doch der Beruf des Journalisten bis zum späten 19.  Jahrhundert nicht eindeutig von anderen Berufsgruppen wie etwa jenen der Schriftsteller oder Verleger abgrenzbar. Hinzu kommt, dass eine trennscharfe Unterscheidung von »Finanz-«, »Börsen-« und »Handelsjournalist« mit Blick auf den Untersuchungszeitraum schwierig. Die Begriffsbildung »Finanzjournalist« hat es zudem als zeitgenössische Selbstund Fremdbeschreibung über weite Strecken des Untersuchungszeitraums gar nicht gegeben. Begrifflich begegnet er erst um 1900 und dann auch nur selten. Zeitgenossen sprachen im Kontext finanzieller Berichterstattung in der Regel vom Handelsredakteur, Börsenreporter oder Finanzschriftsteller, deren Wege sich gleichwohl alle im Finanzjournalismus kreuzten.31 Diese Studie vermeidet 29 Vgl. hierzu Wilke, Journalismus. 30 Dieser Wandel in der finanziellen Kommunikation ist Gegenstand von Kapitel I und II. 31 Der Handelsredakteur kommt hinsichtlich seines Aufgabenfeldes dem Finanzjournalisten des 20. Jahrhunderts am nächsten und markiert auch begriffsgeschichtlich die älteste Bezeichnung für Tätigkeiten im Kontext journalistischer Wirtschaftsberichterstattung. Kom-

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es daher, von den Finanzjournalisten zu sprechen, da damit eine Homogenität der beteiligten Akteure vorgespiegelt würde, die es in Wirklichkeit nicht gegeneben hat. Stattdessen soll in Anlehnung an die Feldtheorie Pierre Bourdieus von Akteuren des »finanzjournalistischen Feldes« gesprochen werden.32 Zu ihnen gehörten nicht nur Börsen- und Handelsredakteure, Chefredakteure und Korrespondenten, Reporter und freie Journalisten, sondern, wie wir noch sehen werden, ebenso Makler oder Bankiers, die sich journalistisch betätigten; ja selbst Ministerialbeamte konnten auf diesem Feld wirken, wenn sie, etwa zu propagandistischen Zwecken, Inhalte produzierten, von denen die Öffentlichkeit annahm, sie seien journalistische Produkte. Gerade diese Offenheit des Feldes, mit der die Heterogenität seiner Akteure zusammenhing, wird im Verlauf dieser Studie mitsamt den mit ihr verbundenen Problematiken begegnen, und wir werden dabei sehen, wie finanzjournalistische Kommunikation erst allmählich zu einer Tätigkeit vergleichsweise professioneller Journalisten avancierte und in eine normative Ordnung eingebettet wurde, wie sie uns heute mit Blick auf den »modernen« Journalismus vertraut erscheint. Mit dem Feldbegriff lässt sich zugleich verdeutlichen, dass Akteure weder untereinander noch in Bezug auf andere Felder als gleichrangig zu betrachten sind. Gemäß seinem Umfang an sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital war jedem Akteur ein bestimmter Platz in der Hierarchie des Feldes zugewiesen. Chefredakteure oder Zeitungsherausgeber mit Reputation und einem festen Netzwerk an Kontakten hatten es einfacher bei der Informationsakquise, freie Journalisten ohne Anbindung an eine Redaktion dagegen schwerer. Symbolisches Kapital, das man nicht nur durch Fachwissen erwarb, sondern auch durch »Gesinnungsfestigkeit«, wirkte meist als Türöffner zu Staatsbürokratie wie Hochfinanz. Besonders relevante oder brisante Informationen, mit denen posita mit »Börse« treten erst um 1870 vermehrt hinzu, etwa in »Börsenjournalist« oder »Börsenreporter«, s. Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S.  439. Sie verweisen eher auf den Ort der Tätigkeit als auf eine thematische Fokussierung und berufliche Spezialisierung. Das Kompositum »Börsen-Korrespondent«, das bereits in den 1860er Jahren begegnet, meint dabei noch nicht einmal eine journalistische Betätigung, sondern lediglich jemanden, der einer Redaktion Börsenberichte zukommen ließ; dies konnten auch Bankiers oder Makler sein. Wortbildungen mit dem Präfix »Finanz-« begegnen zwar schon um 1870 etwa in »Finanz-Reporter« (s. Die Grenzboten, Bd.  30, 1871, S.  105), schienen jedoch semantisch gleichbedeutend mit entsprechenden Wortbildungen mit dem Präfix »Börsen-«. Erst im späten 19. Jahrhundert lassen sich Komposita ausmachen wie »Finanzjournalist«, »Finanz-Korrespondent« und »Finanzredakteur«. Obschon sie selten bleiben, deuten sie bereits an, dass mit ihnen nicht mehr Ortsbezüge, sondern auch eine berufliche Spezialisierung auf finanzielle Themen markiert werden soll. Sie treten neben den Begriff »Handelsredakteur«. Während aus dem »Handels-« in den 1920er Jahren allmählich der »Wirtschaftsjournalist« wird, (s. etwa Böse, S. 43, doch auch 1927 nennt sich die erste Berufsvereinigung dieses journalistischen Feldes »Verein Berliner Handelsredakteure«) hält sich der »Finanzjournalist« als diesem nebengeordnete oder untergeordnete Bezeichnung bis in die Gegenwart. 32 Zur Rezeption Bourdieus in der Journalismusforschung Willems; Hanitzsch; Benson u.­ Neveu.

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sich Zeitungen gegenüber ihren Konkurrentinnen profilieren konnten, flossen entlang informeller Beziehungen und nicht-professioneller Kontaktsituationen. Hinzu kommt, dass Institutionen formalisierter Informationsweitergabe, wie sie etwa nach 1914 in Form gouvernementaler oder unternehmerischer Pressekonferenzen entstanden, in dieser Zeit noch gänzlich fehlten.33 Zwei weitere Begriffe bedürfen in diesem Zusammenhang einer näheren Erläuterung: zum einen der Begriff der »Öffentlichkeit«, zum anderen jener der »ökonomischen Meinung«. Finanzjournalistische Kommunikation organisiert das gesellschaftliche »Selbstgespräch der Zeit«34 über finanzielle Themen und stellt durch ihren Kommunikationsmodus zugleich Öffentlichkeit her. Für eine Geschichte des Finanzjournalismus ergibt sich daraus die Frage, welche politische Bedeutung aus einer derartigen medial konstituierten Öffentlichkeit resultierte, d. h. welche tatsächliche oder nur unterstellte politische Wirkmächtigkeit dem Finanzjournalismus in seiner historischen Konstellation vor 1914 zugefallen war oder zugesprochen wurde. Hierfür ist es zunächst wichtig, sich Klarheit darüber zu verschaffen, welche Art von Öffentlichkeit durch finanzjournalistische Kommunikation hergestellt wird. Die Forschung ist heute weit davon entfernt, eine konsensfähige Definition und Theorie der Öffentlichkeit vorlegen zu können.35 Weitgehende Einigkeit scheint es zumindest darin zu geben, unter Öffentlichkeit einen (sozialen) Raum zu verstehen, in dem verschiedene Akteure (inter-)agieren.36 Dieser Raum kann sowohl konkret im Sinne eines geografischen Ortes, als auch virtuell sein, wie er im Fall einer (massen-)medialen Öffentlichkeit begegnet. Diese Auffächerung in verschiedene Aggregatzustände deutet bereits an, dass von Öffentlichkeit sinnvoll nur im Plural gesprochen werden kann.37 Finanzjournalistische Kommunikation stellt damit eine Teilöffentlichkeit her, die maßgeblich zur Konstitution dessen beiträgt, was im Folgenden als »finanzielle Öffentlichkeit« bezeichnet werden soll.38 An ihr partizipierten in der Regel, aber nicht ausschließlich Marktteilnehmer, die – im Sinne eines »uses-and-gratifications-approach« – öffentliche Inhalte zum Zweck persönlicher Nutzen-, d. h. hier: Gewinnmaximierung »aktiv und funktionsorien33 Vgl. zum Umgang des Auswärtigen Amtes mit (politischen) Journalisten Geppert, Pressekriege, S. 47–59. 34 So Birkner im Titel seiner Dissertation, der an einen Ausspruch des Publizisten Robert Prutz angelehnt ist. 35 Als zum Teil geschichtswissenschaftlich unbrauchbar hat sich Habermas erwiesen. Vgl. die Kritik von Gestrich. Jüngst aus philosophischer und ideengeschichtlicher Sicht Gerhardt. 36 So etwa Requate, Öffentlichkeit, S. 8 f. Die Konzeptualisierung von Gerhardt, S. 41, als »politische Form des Bewusstseins« ist, so intellektuell anregend sie auch erscheinen mag, für die historische Forschung nur schwer zu operationalisieren. 37 Vgl. Schildt, S. 188. 38 Öffentlichkeit wird damit nicht auf die Vorstellung einer politischen Arena beschränkt, wie dies andere Arbeiten häufig tun und damit zum Teil einer normativen Engführung unterliegen. Führer u. a. S. 15, verweisen zurecht darauf, dass gerade massenmediale Öffentlichkeiten nicht nur politische Inhalte haben.

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tiert« rezipierten.39 Die soziologische Forschung hat in letzter Zeit Wesen und Funktion einer derartigen finanziellen Öffentlichkeit zu beschreiben versucht. Einige der dabei angestellten Überlegungen können sich auch für diese Studie als fruchtbar erweisen. So hat Andreas Langenohl argumentiert, dass die Preisbildung an den Finanzmärkten allein nicht ausreiche, um das Handeln von Marktteilnehmern zu orientieren, »weil sie keine Deutungen der Ursachen der Preisentwicklung und damit keine Anhaltspunkte für zukünftige Entwicklungen bereithält.« In diese von der Preisbildung leer gelassene Funktionsstelle bei der Institutionalisierung von Finanzmärkten rücke die diskursive Öffentlichkeit. Finanzmarktöffentlichkeit ist nach Langenohl somit eine Interpretationsöffentlichkeit, welche die »Orientierungsinsuffizienz von Preisen« aufwiegt.40 Die »finanzielle Öffentlichkeit« ist historisch nichts Neues. Sie begegnet bereits, in diesem Fall fest institutionalisiert, in den regelmäßigen Börsenversammlungen der Frühneuzeit, des Weiteren, wenngleich weitaus flüchtiger, in den Generalversammlungen der Aktiengesellschaften, wie sie sich seit den 1850er Jahren als Versammlungsöffentlichkeiten konstituieren; im Prinzip ist es auch vorstellbar, Verkaufsgespräche zwischen dem Bankier und seiner Kundschaft als einen Teil der finanziellen Öffentlichkeit zu modellieren,41 denn wo genau die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Sphäre verlaufen, ist äußerst strittig und hängt zumeist von normativen Prämissen ab.42 Neu dagegen ist die Gestalt finanzieller Öffentlichkeit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Denn mit dem Aufkommen finanzjournalistischer Kommunikation im Medium der Presse löste sich diese zunehmend von konkreten Orten und durchlief eine Transformation hin zu einem medialen Aggregatzustand. Dieser medienvermittelten Form finanzieller Öffentlichkeit muss aufgrund ihres potentiell unbeschränkten Inklusionspotentials und ihrer potentiell unbegrenzten Reichweite eine höhere gesellschaftliche Bedeutung beigemessen werden als den älteren Formen finanzieller Öffentlichkeit, und sie beginnt diese umso stärker zu dominieren, je mehr sich die Presse im letzten Drittel des 39 Bonfadelli u. Wirth, S. 574; Rubin. 40 Langenohl, S. 253 f. 41 In Anlehnung an Gerhards u. Neidhardt, S. 20 ff., wäre dies die »Encounter«-Öffentlichkeit, die von den zwei weiteren Ausdifferenzierungsformen von Öffentlichkeit, der Versammlungs- und der massenmedialen Öffentlichkeit, zu unterscheiden ist. 42 Die Zugänglichkeit des konkreten oder virtuellen Raumes für potentiell jedermann als Kriterium heranzuziehen, löst dieses Problem nur zum Teil. Denn wie das Beispiel der Berliner Börse eingangs gezeigt hat, kann der Eintritt in eine Öffentlichkeit – in diesem Fall in die Versammlungsöffentlichkeit der Börse – durchaus mit Hürden behaftet sein, die von einer anderen Akteursgruppe einseitig oder einvernehmlich errichtet werden können. Öffentlichkeit als Analysekategorie ist damit immer auch an historisch wandelbare Vorstellungen von Öffentlichkeit als einem normativen Ideal geknüpft, wie sie von Zeitgenossen geteilt und formuliert wurden. Öffentlichkeit muss daher immer auch verstanden werden als eine Frage diskursiven Aushandelns unter asymmetrischen Machtverhältnissen über den Status eines Raumes. Dieser konnte zwischen privater und öffentlicher Etikettierung changieren.

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19. Jahrhunderts zum gesellschaftlichen Leitmedium entwickelte.43 Finanzjournalistische Kommunikation synchronisierte damit weitaus umfassender als andere Kommunika­tionsformen die Lebenswelt der einzelnen Markteilnehmer und prägte die Denk- und Handlungsweisen einer weitaus größeren Anzahl von Menschen. Dabei ist mit neueren Erkenntnissen der Medienwirkungsforschung jedoch davon auszugehen, dass journalistische Inhalte selten exakt so rezipiert werden, wie sie von ihren Kommunikatoren intendiert waren, dass Menschen sich jene vielmehr eigensinnig und situationsabhängig aneignen.44 Medien bestimmen daher nicht unmittelbar das, was Menschen denken, wohl aber, worüber diese sich Gedanken machen (agenda-setting).45 Wenn daher eindeutig bestimmbare Wirkungszusammenhänge, zumal für das vordemoskopische Zeitalter, kaum zu rekonstruieren sind, so bleiben gleichwohl die zeitgenössischen Wirkungsunterstellungen finanzieller Kommunikation zu berücksichtigen, denn auch diese konnten handlungsleitend sein und damit wirklichkeitsveränderndes Potential entfalten. Einer behavioristischen Denkweise verhaftet, gingen Zeitgenossen, einem Reiz-Reaktions-Mechanismus gleich, von einem direkten und eminenten Einfluss medialer Inhalte auf deren Rezipienten aus. Medien, so die Vorstellung, waren maßgeblich daran beteiligt, »öffentliche Meinung« zu machen. Alle presse- und informationspolitischen Initiativen, ob sie von Parteien, Unternehmen oder Interessengruppen ausgingen, basierten auf dieser Annahme. Analog zur »öffentlichen Meinung« konnte finanzjournalistischer Kommunikation daher direkter Einfluss auf Anlagepräferenzen und Gewinneinschätzungen, generell auf Einstellungen und Erwartungen von Markteilnehmern unterstellt werden. Die Studie verwendet hierfür den Begriff der »ökonomischen Meinung«.46 Er stellt eine Sammelbezeichnung für das dar, was Zeitgenossen als vorherrschende Haltung in ökonomischen Fragen wahrgenommen haben und worauf politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger mit ihren pressepolitischen Maßnahmen Einfluss zu nehmen suchten.

43 Requate, Einleitung, S. 19. 44 Hall. 45 Vgl. Bonfadelli u. Friemel, S. 181–195. 46 Die »ökonomische Meinung« ist nicht zu verwechseln mit der Meinung der Ökonomen oder der ökonomischen Lehrmeinung, und sie ist auch nicht auf die Anlegermeinung zu reduzieren, da auch Akteure jenseits des Marktes Haltungen zu ökonomischen Sachverhalten einnehmen konnten. Sie stellt vielmehr jenen Bestandteil der »öffentlichen Meinung« dar, der auf das Ökonomische gerichtet ist. – Es ist erstaunlich, wie wenig sich Presse- und Mediengeschichte bisher für das öffentliche Meinen in Bezug auf Wirtschaftsfragen interessiert haben. Ältere pressehistorische Studien dagegen behandeln (obschon untertheoretisiert) das Verhältnis von Presse und »wirtschaftlicher« bzw. »öffentlicher, wirtschaftlicher Meinung«, s. Maier, Aufgaben, S. 51, und Wöckener, S. 47. – Winkin, S. 88, grenzt sie von der öffentlichen Meinung ab, bleibt dabei jedoch sehr vage. – Parsons, S. 3, spricht in seiner Studie zur anglo-amerikanischen Finanzpresse von »economic thought and opinion«, zielt damit aber nicht auf aggregierte Anlegermeinungen, sondern mehr auf ideen- und dogmengeschichtliche Vorstellungen über Wirtschaft und löst sie so aus lebensweltlichen Zusammenhängen.

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Die zentrale Bedeutung, die zeitgenössische Denk- und Wahrnehmungs­ weisen, konkurrierende Deutungen und machtbesetzte Aushandlungsprozesse in dieser Studie einnehmen, korrespondiert mit einer spezifischen methodischen und theoretischen Ausrichtung. Der gewählte methodische Zugang kann grob dem zugeordnet werden, was in der Geschichtswissenschaft in jüngerer Zeit unter dem Begriff der Historischen Diskursanalyse firmiert.47 Diese trägt der Bedeutung von Sprache und Praktiken bei der Hervorbringung von Wirklichkeit besonders Rechnung. Damit soll nicht behauptet werden, dass sich Wirklichkeit in subjektlosen Diskursen auflöse. Historische Wirklichkeit wird ebenso sehr durch Strukturen und diskursive Formationen hervorgebracht wie durch darin eigensinnig handelnde Akteure.48 Die Studie geht daher in Anlehnung an soziologische Handlungs- und Strukturierungstheorien, wie sie Pierre Bourdieu und Anthony Giddens formuliert haben, davon aus, dass die Protagonisten des finanzjournalistischen Feldes mit agency ausgestattete Subjekte sind, Finanzjournalismus sich somit nicht in anonymen Diskursen erschöpfe oder vollständig von medialen Eigenlogiken determiniert sei, sondern von handlungsfähigen und kompetenten, wenngleich nicht allwissenden und allmächtigen Subjekten aktiv betrieben wird.49 Gerade Giddens verweist mit seiner Kate­ gorie der »Praxis« auf diese doppelte Konstitution der Wirklichkeit, die »aus den strukturierenden Folgen sozialen Handelns und den handlungsbefähigenden Bedingungen, die Strukturen dem Handeln setzen, resultiert«.50 In Anlehnung an diese theoretischen Bausteine wird hier ein dezidiert akteurszentrierter Ansatz verfolgte, der handelnde Subjekte in den Fokus rückt. Auch wird mit der neuen Wirtschaftssoziologie und den Social Studies of Finance51 davon ausgegangen, dass Finanzmärkte sozialer Einbettungsmechanismen bedürfen, sie also nicht losgelöst von ihren gesellschaftlichen, kulturellen und institutionellen Kontexten funktionieren können. Besonders Saskia Sassen hat in diesem Zusammenhang argumentiert, dass Finanzmärkte trotz ihrer Globalität nicht ohne Ortsbezüge auskämen.52 Die Entstehung von Finanzdistrikten in Großstädten seit der frühen Neuzeit und das Aufkommen sogenannter »Global ­Cities« seit dem späten 19. Jahrhundert, die nicht mehr nur allein in nationalstaatliche Kontexte eingebunden waren, korrespondieren mit diesen Bedürfnissen.53 Daneben legen finanzmarktsoziologische, verhaltenspsychologische und kommunikations-wissenschaftliche Arbeiten nahe, dass Finanzmärkte mit dem Aufstieg der Massen- bzw. Neuen Medien auch eine mediale und diskursive Form angenommen haben. Man kann in diesem Sinne von einer »reflexive[n] 47 Siehe hierzu Landwehr, Diskursanalyse; mit Blick auf massenmediale Quellen Classen. 48 Vgl. generell hierzu Mergel; Landwehr, Diskurs; Daniel, Kompendium. 49 Giddens, Konstitution; Bourdieu, Raum; ders., Feld. 50 Welskopp, Dualität, S. 104; siehe auch ders., Mensch. 51 Vgl. einführend Knorr-Cetina u. Preda; Lütz. 52 Sassen, City; dies., Embeddedness. 53 Schroer, Räume, S. 208 f.; historisch am Beispiel London Fahrmeir.

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Koppelung medialer Berichterstattung mit Finanzmarktdynamiken«54 sprechen. »[F]inance is also a never-ending series of daily stories, issuing form the pink pages of respectable broadsheet newspapers and other print media and increasingly dominated by the cacophony of voices, images and events broadcast by television and on-line real-time data services. Finance has become a media event, with its breathless reporters and star anchorpersons … .«55 Öffentliche Mediendiskurse zwingen der Finanzwirtschaft nach dieser Lesart ihre Logiken teilweise auf, »weil sie die Erwartungen der Marktteilnehmer und damit den Wert der Anlagen beeinflussen, weil sie Rhetoriken der Rechtfertigung zirkulieren, die die Attraktivität von Finanzprodukten steigern oder mindern, und weil durch das Wissen um diese Prozesse der Medieneinfluss in die Kalkulation der Finanzmarktprofessionalität eingebaut wird.«56 Einzeluntersuchungen zurückliegender Jahrzehnte legen allerdings den Schluss nahe, dass Wirtschaftsnachrichten in Massenmedien de facto und entgegen der ihnen oftmals insinuierten Bedeutung keinen nennenswerten Einfluss auf Börsenentwicklungen ausüben und Anleger keinen Vorteil daraus ziehen, wenn sie sich bei ihren Investitionsentscheidungen auf diese stützen.57 Der Kommunikationswissenschaftlicher Thomas Schuster spricht daher mit Blick auf Wirtschaftspresse und Finanzfernsehen von einem »Lärmsystem«, das mit seinen »entleerten Info-Partikeln« allenfalls eine Illusion von Informiertheit erzeuge.58 In welchem Maße dies auch für das ausgehende 19. Jahrhundert gilt, müsste in weiteren Detailstudien überprüft werden; diese Arbeit kann hierzu nur erste Hinweise liefern. Eine Geschichte des Finanzjournalismus in Deutschland liegt bisher nicht vor. Über die Konstitutionsphase einer journalistischen Berichterstattung über finanzielle Themen, über die daran beteiligten Medien und Akteure sowie die produzierten Aussagen wissen wir dementsprechend bisher nur sehr wenig. Ältere zeitungswissenschaftliche Arbeiten haben sich mit den Anfängen wirtschaftlicher Berichterstattung in der Presse, mit dem Handelsteil von Tages­zeitungen, seiner Entstehung und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert beschäftigt.59 In seltenen Fällen ist dabei auch näher auf Zeitungen eingegangen worden, die auf das Finanzsegment spezialisiert waren.60 Über die journalistische Praxis und ihre Einbettung in einen gesellschaftlichen, politischen und öko54 So fasst Langenohl, S. 247, diese Auffassung zusammen. 55 Clark u. a., Performing, S. 289. – Vgl. auch Blomert, Ende. 56 Langenohl, Finanzmarktöffentlichkeiten, S. 246. 57 Eine Übersicht dieser Studien findet sich in Schuster, Märkte, S. 15–36. 58 Ebd., S. 121. 59 Vgl. Bode; Scholten; Vogel; Schwindt; Wagner, Handels- und Wirtschaftsteil; Wirth, Wirtschaftsteile; Böse. 60 Die einzige Skizze lieferte in jenem Zeitraum Schmalenbach.  – Studien zu einzelnen Finanzzeitungen sind dagegen im anglo-amerikanischen Raum weitaus verbreiteter, obschon meist populärwissenschaftlich und unkritisch gehalten, vgl. etwa The Economist; Forsyth; Rosenberg, Wall Street Journal; Scharff; Kynaston; Steeples.

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nomischen Kontext lässt sich diesen Studien allerdings nur sehr wenig entnehmen, da ihr Fokus in der Regel auf dem Medium, der Presse, liegt. Auch ältere publizistikwissenschaftliche und neuere mediengeschichtliche Überblicksdarstellungen streifen das Thema journalistischer Wirtschaftsberichterstattung nur am Rande und auch dann zumeist nur durch Verweise auf einzelne Zeitungen.61 Einer reichhaltigen pressehistorischen Literatur können jedoch wichtige Angaben über Gründungskontexte, Programmatik, Redaktionspersonal und Auflagenhöhe vieler der hier relevanten Einzelmedien entnommen werden.62 Ebenso hat die Journalismushistoriografie in den letzten Jahren umfangreiche und quellengesättigte Studien vorgelegt, die unverzichtbare Vorarbeiten für eine Geschichte des Finanzjournalismus und Fragen nach seiner Professionalisierung und Periodisierung darstellen.63 Biographische Untersuchungen zu Einzelpersonen, die dem finanzjournalistischen Feld zuzurechnen sind oder mit diesem in Berührung kamen, liegen in kleinerer Zahl vor. Sie gingen nicht primär von der pressehistorischen Forschung aus, die über einen langen Zeitraum mehr strukturorientiert und systemtheoretisch ausgerichtet war, sondern von der Politik- oder Intellektuellengeschichte, was ihren besonderen Fokus begründet.64 Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Johannes Mikuteits Studie über den Handelsredakteur und späteren Chefredakteur der Vossischen Zeitung, Georg Bernhard, sowie Bernd Sösemanns Biographie Theodor Wolffs, des Chefredakteurs des Berliner Tageblatts. Ein Katalog, der anlässlich einer Ausstellung des Frankfurter Instituts für Stadtgeschichte 2009/2010 zur Person Leopold Sonnemanns herausgegeben wurde, kann mit einer Reihe von Aufsätzen und bisher unveröffentlichten Dokumenten aus dem Leben des Verlegers der Frankfurter Zeitung aufwarten. Zum Gründer und Chefredakteur der Berliner Börsen-Zeitung liegt eine biografische Skizze vor, die jedoch einschlägige Quellen unberücksichtigt lässt und nur bedingt brauchbar ist.65 Zu den interessantesten biografischen Studien, die herangezogen werden können, gehört schließlich Fritz Sterns Doppelbiografie über Bismarck und »seinen« Bankier Gerson von Bleichröder. Stern untersucht darin in einem eigenen Kapitel das Verhältnis Bleichröders zur Presse und wirft zugleich ein Schlaglicht 61 Otto Groth widmet dem Handelsteil in seinem klassischen vierbändigen Werk zur »Zeitungskunde« knapp vierzig Seiten, s. Groth, Zeitung, Bd. 1, S. 968–1007. Unter den neueren Überblicksdarstellungen behandelt Stöber, Pressegeschichte, das Thema systematisch, doch knapp auf sieben Seiten (S. 195–202), Wilke, Grundzüge, nur verstreut und marginal (S. 227, 230, 232, 273); Faulstich vernachlässigt wirtschaftliche Kommunikation in seiner gerade auf das »Industrie- und Massenzeitalter (1830–1900)« fokussierenden Studie erstaunlicherweise fast gänzlich (Ausnahmen bilden die Seiten 34 und 37). 62 Vgl. als Auswahl Buchheim, Geschichte, 3 Bde; die Aufsätze in Fischer, Zeitungen, und in ders., Presseverleger; Freyburg. 63 Vgl. etwa die diachron breit angelegte Studie von Birkner; inzwischen klassisch zum Journalistenberuf Requate, Journalismus. 64 Seit den 2000er Jahren ist jedoch wieder eine stärkere Hinwendung zu journalistischen Akteuren zu beobachten, vgl. hierzu etwa Bösch u. Geppert; Duchkowitsch. 65 Grote; Mikuteit; Schnädelbach; Sösemann, Wolff.

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auf einige finanzjournalistische Protagonisten der 1870er und 1880er Jahre.66 Dennoch muss trotz dieser Arbeiten auch heute noch für die historischen Disziplinen das gelten, was Jörg Requate schon 1995 in seiner Berufsgeschichte des Journalismus kurz und ernüchternd bemerkt hat: »Wirtschaftsjournalismus ist bislang noch so gut wie gar nicht untersucht.«67 Finanzjournalismus als historischer Gegenstand fällt jedoch nicht allein in den Zuständigkeitsbereich der Medien- und Kommunikationsgeschichtsschreibung. Als ein Phänomen, das sich im 19. Jahrhundert an der Schnittstelle von Medien, Öffentlichkeit und Finanzsektor konstituiert, können auch andere historische Disziplinen zu dessen Verständnis beitragen. Allen voran wäre dabei an die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie die Unternehmensgeschichte zu denken. Doch auch hier sind die bisherigen Erträge der Forschung, soweit sie für die vorliegende Studie in Betracht kommen, sehr dürftig. Gleichwohl, dies ist positiv anzumerken, hat sich die über lange Zeit eher quantitativen Zugängen verpflichtete Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, inspiriert durch die Neue Institutionenökonomie (NIÖ) der Wirtschaftswissenschaft, seit den 1990er Jahren mehr und mehr kulturhistorischen Ansätzen geöffnet und dabei wieder stärker individuelles Handeln in der Wirtschafsgeschichte akzentuiert.68 Dies hat zum einen zu einer intensivieren Beschäftigung mit der Geschichte von Börsen, Finanz- und Kapitalmärkten geführt, nicht nur in ihrer Funktion als ökonomische Institutionen, die Sicherheit und Vertrauen generieren können, sondern auch – im Sinne einer »Mikro-Ökonomie« – als Orte kultureller Praxis und spezifischer Akteurskonstellationen.69 So wichtig sich diese Studien für eine Geschichte des Finanzjournalismus erweisen können, weil sie Einblicke in die Funktionsweise von Märkten und in das konkrete Markthandeln im 19. Jahrhundert liefern und damit zugleich den Gegenstandsbereich finanzjournalistischer Berichterstattung klarer zu erfassen helfen, so erfährt man aus ihnen doch sehr wenig darüber, wie die zur gleichen Zeit zunehmende Öffentlichkeit dieser Orte (als Faktum und Forderung), das steigende mediale Interesse an ihnen, schließlich aber auch die physische Anwesenheit von Medienakteuren, jene Märkte und das Markthandeln auf ihnen verändert haben.70 Zum anderen hat die »kulturalistische Wende« dazu geführt, dass Sozial- und Wirtschaftsgeschichte die Bedeutung von Medien und Kommunikation für ihr Forschungs-

66 Stern, Gold, S. 372–394. 67 Requate, Journalismus, S. 455. 68 Programmatisch Williamson; Siegenthaler; Berghoff u. Vogel.  – Anwendungsbereiche der NIÖ in der deutschen Wirtschaftsgeschichte zeigen Wischermann u. Nieberding. Vgl. zu Fachgeschichte und Forschungsfeldern der Wirtschaftsgeschichte Hesse, Wirtschaftsgeschichte. 69 Vgl. etwa Gömmel; Holtfrerich, Frankfurt; Pohl, Berlin; Cassis, Capitals; Rischbieter; Rosch. 70 Eine frühe Ausnahme bildet in dieser Hinsicht Baasch, der die Bedeutung von Presse und Öffentlichkeit (als Legitimationsinstanz) für den Handel in Hamburg untersucht hat.

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feld (wieder-)entdeckt haben.71 Dabei ist vor allem das 19. Jahrhundert verstärkt in den Blick gerückt, das mit Erfindung der elektrischen Telegrafie und dem Aufstieg der Presse eine, so Hartmut Berghoff, wahre »Informationsrevolution für den Wertpapierhandel« herbeigeführt hat.72 Alles in allem harren die Wechselbeziehungen zwischen Presse und Öffentlichkeit einerseits und den Finanzmärkten und ihren Institutionen andererseits auch in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte noch einer näheren Untersuchung. Diese aber ist umso wichtiger, will man künftig über allgemeine, mithin allzu pauschale Urteile über die Wirkungen von Medien und Kommunikationstechnologen auf die Bereiche der Wirtschaft und Finanzindustrie hinauskommen, wie man ihnen noch heute häufig in der Literatur begegnet. Selten werden dabei die Eigenlogiken und Eigendynamiken von Medien reflektiert; stattdessen wird der zeitgenössische Fortschrittsoptimismus, der einst an neue Medienangebote und Technologien gekoppelt war, aufgenommen und kritiklos fortgeschrieben.73 Presse und Telegrafie erscheinen so als Hilfswerkzeuge, derer sich die Wirtschaft eigennützig bediente, ohne dass diese ihrerseits unabsehbare und unerwünschte Folgen für die Wirtschaft gezeitigt hätten. In ähnlicher Stoßrichtung mahnte auch Frank Bösch jüngst in seiner Überblicksdarstellung zur Mediengeschichte zu untersuchen, »welche Folgen Medienveränderungen (wie neue Telegrafenlinien, hochaktuelle Börsenkurse in der Presse u. ä.) für den Handel hatten.«74 Und tatsächlich scheint in letzter Zeit, angestoßen durch die weltweite Finanz-, Banken- und Schuldenkrise, auch das Interesse der Forschung an der historischen Dimension des Wechselverhältnises von Medien und Finanzkrisen zugenommen zu haben,75 so dass in den kommenden

71 Vgl. etwa Pohl, Kommunikation; North. – Wiederentdeckt besagt an dieser Stelle, dass die klassische Nationalökonomie des späten 19.  und frühen 20.  Jahrhunderts durchaus ein Interesse an diesen Themenfeldern gezeigt hat, vgl. z. B. Karl Knies’ Studie zum elektrischen Telegrafen oder Werner Sombarts umfangreiches Werk zur Geschichte des Kapitalismus mit seiner durchgängigen Berücksichtigung von Medien, und hierzu den instruktiven Aufsatz von Hesse, Information. Eine spätere Ausnahme bildete zudem auch der kanadische Wirtschaftshistoriker Harold Innis (1894–1952), vgl. Barck. 72 Berghoff, Kapitalmarkt, S. 80. – Verschiedene Studien haben seit dem Ende der 1970er Jahre die Bedeutung der Telegrafie im 19. Jahrhundert bei der Integration lokaler Börsenplätze in internationale Finanzmärkte nachzuweisen versucht, vgl. den Forschungsüberblick bei Wenzlhuemer, S. 86 ff. und Wobring, S. 155–163, 215–222. 73 So weist Gömmel, S. 150, der Handelspresse des 19. Jahrhunderts die »Aufgabe zur Erfüllung einer möglichst umfassenden Markttransparenz« zu. In Verbindung mit der elektrischen Telegrafie hätten Zeitungen durch ihre schnelle Unterrichtung des Publikums gerade in politischen Krisensituationen beruhigend auf die Märkte eingewirkt: »Was früher zu panischen Reaktionen und entsprechenden Börsenkrisen geführt hatte, wurde nun relativ besonnen und überlegt zu meistern versucht« (ebd.). Vgl. ähnlich optimistisch auch Wenzlhuemer, S. 85 f.; siehe hierzu auch Kapitel II. 2.1. 74 Bösch, Mediengeschichte, S. 141 f. 75 Schifferes u. Roberts.

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Jahren mit weiteren, kritischer operierenden Studien zu diesem Gegenstand zu rechnen ist. Auch die Unternehmensgeschichte, eine in letzter Zeit stark angewachsene Teildisziplin der Wirtschaftsgeschichte, hat informations- und kommunikationstheoretische Aspekte stärker berücksichtigt und damit Fragen des internen Informationsmanagements, der Unternehmenskommunikation und Public ­Relation von Industrieunternehmen und Finanzdienstleistern größere Aufmerksamkeit geschenkt.76 Dabei ist am Beispiel Frankreichs die Bedeutung der Presse bei der öffentlichen Bewertung von Unternehmen vor 1914 unterstrichen worden. Auf dem Markt finanzieller Informationen konkurrierten journalistische Urteile über Solidität und Gewinnaussichten einzelner Unternehmen nun mit denen von Banken und den sich zur gleichen Zeit formierenden RatingAgenturen; Markteilnehmer versuchten daher im Gegenzug, Einfluss auf derartige Presseurteile zu erlangen und konkurrierenden Unternehmern durch Diffamierung und Gerüchtestreuung zu schaden.77 Als eine besondere, bisher von der historischen Forschung kaum untersuchte Form finanzieller Öffentlichkeitsarbeit kann die staatliche »Finanzpropaganda«78 gesehen werden. Sie gewann nicht nur mit der Entstehung des modernen Steuerstaats – und hier zur Legitimation fiskalpolitischer Maßnahmen gegenüber seinen »Steuer­bürgern« an Bedeutung –,79 sondern vor allem auch im Kontext der öffentlichen Kreditaufnahme, insbesondere der Staatsverschuldung gegenüber dem In- und Ausland.80 76 Vgl. etwa Da Rin; Wischermann u. Nieberding, S.  118–126, 251–255; mit Blick auf die Rothschilds ausführlich Liedtke; Dahlem, S.  38 f., 62 ff., 128–134, 177–186.  – Hieraus hat sich in jüngster Zeit auch die Marketing-Geschichte entwickelt, vgl. Berghoff, Marketinggeschichte.  – Unter den älteren, zumeist im Zusammenhang einer politischen Geschichte von Interessenverbänden verfassten Darstellungen sind hervorzuheben Kaelble, Interessen­vertretung, S.  14- 20; Kocka, Unternehmensverwaltung, S.  442–449; Ullmann, Bund, S. 157–161. 77 Bignon u. Flandreau sprechen hierbei von »economics of badmouthing«. Vgl. auch Bignon u. Miscio. Zur Entstehung der Rating-Agenturen im 19. Jahrhundert vgl. Berghoff, Markterschließung, der in ihnen eine institutionelle Antwort auf das Problem der Informationsasymmetrien auf unvollkommenen Märkten sieht. Vgl. darüber hinaus Wilson. 78 So Schmölders, S. 140 f. 79 Zum Beispiel richtete das Reichsschatzamt zur propagandistischen Vorbereitung der Reichsfinanzreform 1908/09 ein »Volkswirtschaftliches Büro« ein, das die Notwendigkeit der Reform gegenüber der Öffentlichkeit erklären und die steuerlichen Bestimmungen gegen ihre Gegner verteidigen sollte, vgl. Witt, S. 217–226. 80 Studien zur Geschichte der Staatsverschuldung blenden diese Aspekte in der Regel aus. Aus kommunikationshistorischer Perspektive hat sich mit der Propaganda für die deutschen Kriegsanleihen des Ersten Weltkriegs beschäftigt Kilian. – Gerade im Kontext der finanziellen Globalisierung vor 1914 – vgl. Schularick. – wäre es lohnenswert zu untersuchen, mit welchen informations- und kommunikationspolitischen Strategien kapitalimportierende Länder um das Anlagekapital ausländischer Investoren »geworben« haben. Zeitgenössische Publikationen machen in diesem Zusammenhang immer wieder auf transnationale Be­ ziehungen zwischen Regierungen und einzelnen Zeitungen aufmerksam, wie etwa jene des Zarenreichs zur Pariser Finanzpresse, vgl. [Anonymus], Kulissen, S. 79 ff.

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Die Unternehmensgeschichte hat damit erste Konturen einer Beziehungsgeschichte von Banken und Presse bzw. Finanzakteuren und journalistischen Akteuren geliefert und zugleich aufgezeigt, wie finanzjournalistische bzw. Medieninhalte unternehmensintern verarbeitet und genutzt wurden und in der Folge eine institutionelle Ausdifferenzierung (in das sogenannte »Bank-Archiv« und die »Volkswirtschaftliche Abteilung«) vorangetrieben haben. Gleichwohl bleibt eine systematische Darstellung der Öffentlichkeitsarbeit von Finanzdienstleistern vor 1914 ein Desideratum der Forschung.81 In der Historiografie zur Geschichte einzelner Bankhäuser spielen die Aspekte der Presse und Öffentlichkeit nur eine marginale, häufig aber auch gar keine Rolle.82 Dies gilt ebenso für akteurszentrierte Arbeiten der Banken- und Unternehmensgeschichte. So geht Morten Reitmayer in seiner sozial- und kulturhistorischen Studie zu den Bankiers im Kaiserreich zwar auf deren Bild in der öffentlichen Diskussion ein und sucht dieses aus Presseausschnitten zu gewinnen, ohne dabei jedoch Journalisten als Vermittler des »Images« der Hochfinanz in den Blick zu nehmen oder die Beziehungen zwischen beiden Akteursgruppen nachzuzeichnen.83 Auch Christof Biggeleben kommt in seiner Arbeit über die Berliner Kaufmannschaft zwischen 1870 und 1920 gänzlich ohne Überlegungen zum Stellenwert von Öffentlichkeit aus. Dabei war die Berliner Börse, als deren Betreiber die Ältesten der Berliner Kaufmannschaft bis 1903 firmierten, seit den 1890er Jahren Mittelpunkt öffentlicher, medial geführter und von Medienakteuren mit beeinflusster Diskussionen, zu denen sich die Kaufmannschaft in irgendeiner Weise, proaktiv oder reaktiv, verhalten musste.84 An dem alles in allem unbefriedigenden Forschungsstand zum Bereich finanzjournalistischer Kommunikation vor 1914 sind jedoch nicht allein disziplinäre Paradigmen und Moden mit ursächlich, sondern vor allem auch die mit Blick auf den deutschen Raum eher disparate Quellenlage. Für diese Studie konnte einerseits auf Archivmaterial aus dem Bundesarchiv, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, dem Landesarchiv Berlin und dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Für die Zeit vor der Annexion durch Preußen (1866) konnten für den Frankfurter Finanzplatz zudem Aktenbestände im Institut für Stadtgeschichte (Frankfurt am Main), genutzt werden. 81 Erste Einblicke in dieses Forschungsfeld liefert das Beiheft zum Bankhistorischen Archiv (1997) unter dem Titelthema »Banken und Öffentlichkeit«. – Die Öffentlichkeitsarbeit von Industrieunternehmen im 19. Jahrhundert hat am Beispiel Krupp dargestellt Wolbring. 82 Dies überrascht weniger bei strukturhistorisch und funktionalistisch orientierten Arbeiten wie Krause, Commerz- und Disconto-Bank, bleibt jedoch auffällig bei Stürmer, Kleßmann; Ohmeis; Wiczlinski. Zumindest kurz streift das Thema Öffentlichkeit Gall, Deutsche Bank, S. 107–113; auch Ferguson, Propheten, geht in seiner voluminösen Darstellung des Hauses Rothschild immer wieder auf die Aspekte Öffentlichkeit, Kommunikation und Medien ein (etwa S. 20, 287f, 300 f.). 83 Reitmayer, S. 274–282. 84 Biggeleben.  – Dem letztgenannten Aspekt sucht diese Studie in Kap.  IV. 2.  Rechnung zu­ tragen.

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Die Beziehungen zwischen Journalismus und Finanzsektor konnten anhand der Überlieferungen im Historischen Institut der Deutschen Bank, unter denen sich auch Akten der Disconto-Gesellschaft befinden,85 und der Bleichröder Collection in der Baker-Library der Harvard Business School in Boston (Massachusetts, USA) exemplarisch rekonstruiert werden. In diesem Zusammenhang hat sich vor allem die in größerem Umfang erhalten gebliebene Korrespondenz des Bankhauses S. Bleichröder mit Presseakteuren aus den 1870er und 1880er Jahren als besonders wertvoll erwiesen; sie ist für diese Studie zum ersten Mal umfassend wissenschaftlich ausgewertet worden.86 Quellen, die Einblicke in Verlags- bzw. Redaktionsinterna und journalistische Arbeitsweisen geben können, sind nur für einige wenige Zeitungen und Protagonisten vorhanden. Das gilt etwa für den Nachlass von Georg Bernhard, dem Handelsredakteur und Herausgeber des Plutus (Bundesarchiv), ebenso wie für den sehr umfangreichen, wissenschaftlich bisher kaum genutzten Briefwechsel zwischen der Redaktion der Kölnischen Zeitung und ihrem Hauptstadtkorrespondenten, Franz Fischer, der neben politischen Fragen häufig auch Wirtschafts-, Finanz- und Börsenangelegenheiten behandelt (Redaktionsarchiv DuMont-Schauberg, Köln).87 Bei der Auswahl der Zeitungen und Zeitschriften konnte kein Anspruch quantitativer Repräsentativität erhoben werden. Es wurden in erster Linie jene Zeitungen und Zeitschriften ausgewählt, die zur Konstitution einer finanziellen Öffentlichkeit von Bedeutung waren und damit möglichst umfassend die diese formierenden Publika abbilden. Als Kriterien der Bedeutungsmessung wurden Auflagenhöhe, Periodizität und der Grad redaktioneller Institutionalisierung von Finanzberichterstattung zugrunde gelegt. Auflagenstarke Tageszeitungen mit einem eigenen Handelsteil rücken damit als erste in den Gesichtskreis. Bei der Auswahl der großen Tageszeitungen kann es jedoch nicht darum gehen, das (partei-)politische Spektrum der Zeit abbilden zu wollen, wie dies oft Studien tun, die sich auf die politischen Inhalte von Medien fokussieren. Denn wie oben bereits angedeutet, wird die finanzielle Öffentlichkeit als ihrem Wesen nach nicht politisch konzipiert. Die wirtschaftspolitischen Positionen von Zeitungen, die vielmehr einen Metadiskurs in Bezug auf die Finanzökonomie darstellen, fallen folglich nicht systematisch in den Blick der Studie. Die Auswahl unter dem Blickwinkel ihrer finanziellen Bedeutung hat somit ein Übergewicht von Zeitungen des liberalen und konservativen Spektrums ergeben. Berücksichtigt wurden vor allem die Vossische Zeitung (1722), Kölnische Zeitung (1798), National-Zeitung (1848), Kreuzzeitung (1848), Frankfurter Zeitung (1856) 85 Beide Banken fusionierten 1929. Das Archiv der Disconto-Gesellschaft wurde 1945 bei einem Luftangriff zerstört. 86 Fritz Stern hat für seine Bleichröder-Biografie nur vereinzelt darauf zugegriffen. Die Korrespondenz umfasst allein rund 150 Briefe von Korrespondenzpartnern, die dem finanzjournalistischen Feld zuzuordnen sind. 87 Die Briefe (1884–1890) liegen im Original sowie in einer in den 1960er Jahren durch Karl Buchheim angefertigten Abschrift vor, dessen mehrbändige »Geschichte der Kölnischen Zeitung« nur bis in das Jahr 1867 reicht.

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die ursprünglich als Handelsblatt gegründet worden war, sowie die Kölnische Volkszeitung (1869). Mitunter wurden auch sozialistische und sozialdemokratische Medien wie der Volksstaat (1869) und der Vorwärts (1876) herangezogen, dann jedoch nicht als Produzenten finanzjournalistischer Inhalte, sondern vielmehr als Foren eines kritischen Metadiskurses über den Finanzjournalismus insgesamt. Für die Zeit seit den 1870er Jahren, vor allem aber seit der Jahrhundertwende, konnten überdies Blätter der sogenannten Generalanzeiger- bzw. Massenpresse herangezogen werden, die sich sowohl in ihren finanzjournalistischen Inhalten als auch in der Art und Weise, wie sie diese präsentierten, zum Teil deutlich von der traditionellen Parteipresse unterschieden. Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei dem Berliner Tageblatt (1872), Berliner Lokal-Anzeiger (1883), der Berliner Morgenpost (1898) und der B. Z. am Mittag (1904) geschenkt. Vernachlässigt wurden dagegen Blätter, die sich in ihren Handelsteilen primär dem Warenhandel oder der Industrie widmeten, wie etwa der Hamburgische Correspondent (1731) oder die Rheinisch-Westfälische Zeitung (1883), das Blatt der westdeutschen Schwerindustrie. Unter den thematisch auf das Finanzsegment spezialisierten Zeitungen sind allen voran die Berliner Börsen-Zeitung (1855) und der Berliner Börsen-Courier (1868) zu nennen. Beide nehmen eine Sonderstellung zwischen Fachpresse und Tagespresse ein, da sie ihr inhaltliches Angebot mit der Zeit auf andere Themenfelder wie Politik, Kultur und Sport ausweiteten. Neben diesen Presseprodukten gab es eine Vielzahl an Zeitungen, die sich ausschließlich der Finanzberichterstattung widmeten und die, was ihre Qualität anbelangte, ein sehr breites Spektrum beschrieben. Die Auflage solcher, zeitgenössisch »Finanz«- oder »Börsenzeitungen« genannten Blätter war gegenüber der politischer Tageszeitungen weitaus geringer.88 Dies darf jedoch nicht über die Relevanz solcher Medien hinwegtäuschen. Denn erstens wurde eine Auswahl unter ihnen regelmäßig von der deutschen Entscheidungselite aus Politik und Wirtschaft rezipiert, was ihren Inhalten zumindest in politischer Hinsicht größeres Gewicht verlieh. Zweitens ist zu beachten, dass sich Tages­zeitungen immer wieder auf einzelne ihrer Artikel bezogen oder diese abdruckten und ihren Inhalten so zu einer stärkeren Verbreitung verhalfen, als ein Blick auf die Auflage suggerieren mag. Drittens muss in Rechnung gestellt werden, dass in den Börsengebäuden und den von Bankiers frequentierten Restaurants und Cafés stets eine Auswahl an Tages- und Finanzzeitungen auslag und deren Reichweite dadurch noch einmal gesteigert wurde. Grob gilt, dass die Überlieferungssituation bei jenen Zeitungen bedeutend besser ist, die sich tendenziell an ein Fachpublikum adressierten, da ihnen dadurch eine institutionelle Archivierung in Handelskammer- oder Behörden­ 88 Sie lag in der Regel zwischen einigen Hundert bis einigen Tausend Exemplaren, während die der Partei- oder Parteirichtungspresse grob bei 10 000 bis 20 000, die der Massenpresse bei 100 000 und noch mehr zu veranschlagen ist. Detaillierte Angaben finden sich im Verlauf der Untersuchung.

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bibliotheken zuteil geworden ist (z. B. der Aktionär und der Deutsche Ökonomist). Weitaus unbefriedigender ist die Überlieferung von populären, häufig auch kurzlebigeren Finanzzeitungen, deren Abonnenten mehr in einem Laienpublikum zu vermuten sind, auf dessen Grad an »financial literacy«89 sich Zeitungsmacher durch Inhalt und Präsentation entsprechend einzustellen hatten.90 Die Studie hat für den Zeitraum zwischen 1850 bis 1914 allein für Berlin und Frankfurt über zwanzig solcher Blätter identifizieren können. Die Wenigsten von ihnen sind jedoch systematisch überliefert. Dank Zufallsüberlieferungen in unternehmerischen oder behördlichen Akten und Presseausschnittsammlungen konnten einzelne Exemplare oder Artikel, häufig zum ersten Mal in einer Forschungsarbeit, genutzt werden.91 Um Fragen zur Metaebene des Finanzjournalismus, d. h. zu zeitgenössischen Vorstellungen über Anforderungsprofile und Verhaltensregeln, berufsinterne Ethiken und Standespolitiken beantworten zu können, wurden zudem journalistische und verlegerische Verbandszeitschriften wie der Zeitungs-Verlag (1900) herangezogen. Überdies berücksichtigt die Studie kulturpolitische Zeitschriften des sozialkonservativen bis liberaldemokratischen Spektrums.92 Sie formulierten Erwartungen an den Finanzjournalismus mehr aus einer gesellschaftlichen denn aus einer Binnenperspektive. Schließlich sind aber Bücher und Broschüren der sogenannten journalistischen Praktikerliteratur zu erwähnen. Diese widmeten sich seit der Jahrhundertwende vermehrt Fragen nach Kompetenzen, Ausbildung und Berufsethos des Handels- und Börsenredakteurs und können daher zur Rekonstruktion zeitgenössischer Erwartungen und Funktionszuschreibungen an den Finanzjournalismus herangezogen werden. Die Studie gliedert sich in vier Teile. Der erste, im Umfang gering gehaltene Teil  widmet sich den Medien und Akteuren finanzieller Kommunikation vor 1850. Sein Fokus geht dem eigentlichen Untersuchungszeitraum dieser Arbeit voraus, ist jedoch zum Verständnis finanzjournalistischer Kommunikation, wie sie sich seit den 1850er Jahren institutionalisierte, unverzichtbar, waren in den Entwicklungen vor 1850 doch viele der Grundzüge und Grundprobleme des späteren Finanzjournalismus bereits angelegt. Die drei anschließenden, größeren Blöcke stellen die Geschichte des deutschen Finanzjournalismus bis zum Ersten Weltkrieg entlang einzelner, aufeinander folgender Prozesse dar: der Formierung, der Politisierung und der Professionalisierung. Wie jede Auswahl und Anordnung des Materials immer auch eine Form seiner Interpretation ist, so basiert auch die hier vorgeschlagene Phasenabfolge auf Heuristiken, die be89 Zu diesem Konzept s. Langley. 90 Die Unterscheidung in Fach- und Laienpublikum hat hier nur schematischen Charakter, die Grenzen dazwischen waren fließend. 91 Ich verzichte an dieser Stelle auf eine detaillierte Aufzählung und verweise auf die Tabellen in Kapitel II.1.1 und III.3.1. 92 Wie z. B. »Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland« (1838), »Die Grenzboten« (1841), »Die neue Zeit« (1883) »Die Zukunft« (1892) und »März« (1907).

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stimmte Aspekte in den Mittelpunkt rücken, andere dagegen an den Rand verweisen. So sind Professionalisierungstendenzen freilich schon vor 1896 zu beobachten, und ebenso wenig verschwand zur Jahrhundertwende die politische Relevanz des Finanzjournalismus, wie ein flüchtiger Blick auf die Gliederung dieser Studie suggerieren könnte. Vielmehr sollen die Begriffe der Formierung, Politisierung und Professionalisierung die im jeweiligen Zeitabschnitt dominierenden Prozesse beschreiben helfen. Zeitliche Vor- und Rückgriffe in den einzelnen Kapiteln sind daher unvermeidlich und dienen dem besseren Verständnis und der besseren Nachvollziehbarkeit der Argumentation. Die Studie folgt damit keiner streng chronologischen Darstellungsweise. Mit der beschriebenen Phasenabfolge ist zugleich eine Interpretation der Geschichte des Finanzjournalismus in Deutschland vorgelegt, insofern als dessen Professionalisierung als eine Folge der Politisierung, d. h. auch: öffentlichen Problematisierung, finanzjournalistischer Kommunikation begriffen wird. Das erste Kapitel widmet sich dem wechselseitigen Bedingungsprozess von finanzieller Marktvergesellschaftung und dem Wandel finanzieller Kommunikation in der Zeit vor 1850. Wir werden dabei sehen, wie Finanzkommunikation sich mit steigender Zahl der Marktteilnehmer zunehmend aus lokalen Kontexten und von den Modi interpersonaler Kommunikation löste und sich in den Bereich öffentlicher Medien verschob – dies ein erster wichtiger Schritt in Richtung der Entstehung des Finanzjournalismus. Im Fokus des zweiten Kapitels steht der seit den 1850er Jahren zu beobachtende Übergang finanzieller Kommunikation in einen journalistischen Aggregatzustand. Dabei werden die wichtigsten Medien, ihre Programme und Akteure vorgestellt sowie die Praktiken und zentralen Orte der finanzjournalistischen Informationsakquise untersucht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf urbanen Kontaktzonen wie dem Bankhaus und der Börse. Schließlich wird mit den »Gründerjahren«, dem Börsenkrach von 1873 und seinen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft eine zentrale Phase in der Entwicklung des Finanzjournalismus in den Blick genommen und dabei seiner öffentlichen Wahrnehmung und an ihn gerichteten kulturellen Sinnzuschreibungen nachgegangen. Die späten 1870er Jahre leiteten, so wird zu zeigen sein, eine Phase der Politisierung finanzjournalistischer Kommunikation ein, die Gegenstand des dritten Kapitels ist. In ihm wird dem Verhältnis von Finanzjournalismus, seinen Rezipienten und der politischen Öffentlichkeit nachgegangen: zum einen, indem die Einbettung finanzjournalistischer Inhalte in einen politischen und ökonomischen, alltagspraktischen Zusammenhang aufgezeigt wird; zum anderen am Beispiel des deutschen Kapitalexports, der die außenpolitische Dimension finanzjournalistischer Kommunikation offenkundig werden ließ. Zum Finanzjournalismus hatten staatliche Entscheidungsträger sich fortan zu positionieren und ihn, wie das mediale Setting generell, in ihr außenpolitisches Kalkül mit einzubeziehen. Das abschließende vierte Kapitel widmet sich der Professionalisierung finanzjournalistischer Kommunikation, die sich im Jahrzehnt vor 1914 mit besonderer Rasanz vollzog. Die Herausbildung und immer nachdrücklicher verfolgte Durchsetzung berufsständischer 35

Normen, eines sogenannten code of ethics, stehen hierbei ebenso im Fokus wie die Steigerung der Effizienz und Verbesserung der Qualität finanzjournalistischer Abläufe bzw. Inhalte. In den Status einer Profession im engeren Sinn sollte der Finanzjournalismus dabei jedoch niemals aufrücken können.

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I. Medien, Anleger und Finanzmarktgeschehen vor 1850 »Jetzt aber hat sich im grellen Gegensatz zu der Bettlerarmuth, unter welcher ein nicht unbeträchtlicher Teil unseres Volkes fast erliegt, mancher Kreise eine fieberhafte Wut nach Geld bemächtigt. Sie wollen erwerben, ohne zu arbeiten, sie wollen im Fluge reich werden, sie wollen genießen, ohne sich anzustrengen, und treten in ihrem Rennen und Haschen nach Gold allen Anstand und alle Solidität mit Füßen. […] Wir ereifern gegen […] das Börsenspiel […], weil es alle Kreise der bürgerlichen Gesellschaft ansteckt […]. Da geht jedes höhere Streben unter, da wird nur an Geld gedacht, da wird alles, Vermögen und Familienglück, auf ein Stück Papier gesetzt.« Kölnische Zeitung (1844)

Dem Finanzjournalismus, wie er sich seit den 1850er Jahren allmählich in eigenen Medien, Inhalten und mit spezifischen Akteuren konstituierte, ging die finanzielle Marktvergesellschaftung der in den deutschen Ländern lebenden Menschen seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts voraus. Sie schuf jenes Lesepublikum, das seit den 1850er Jahren als Absatzmarkt für finanzjournalistische Produkte fungieren konnte. Wir müssen diesen Prozess und die ihn begleitenden Formen der Finanzkommunikation einen Augenblick genauer betrachten, um das Neue zu verstehen, das mit den Börsen- und Finanzzeitungen über Wirtschaft und Gesellschaft hereinbrach.

1. Finanzielle Marktvergesellschaftung Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten in Deutschland nur wenige Menschen, deren Lebenswelt sich mit dem Finanzsektor berührte. Zwar reüssierten zu diesem Zeitpunkt bereits die ersten Privatbankiers in Frankfurt und Berlin – M. A. Rothschild, S. Bleichröder, Gebrüder Schickler und Mendelsohn, um nur einige zu nennen  –, deren wichtigster Geschäftszweig die Emission von Staatsanleihen bildete, Bankstuben dagegen waren dem Alltag der meisten fremd, Börsen im städtischen Raum noch unscheinbar und unter der Landbevölkerung wohl 37

weitgehend unbekannt.1 Noch gab es nur einen kleinen Personenkreis, der Notiz von ihnen nahm. Über die genaue Zahl der Kapitalanleger in dieser Zeit ist nichts bekannt, aussagekräftiges Material nur für wenige Handelsplätze greifbar. In Frankfurt, dem damals größten Kapitalmarkt in Deutschland, unterhielten um 1800 bereits eine Reihe von Investoren Konten und Wertpapierdepots – aus der Stadt selbst und aus dem Umland stammend, ja sogar niederländische Adressen waren darunter. Sozial standen sie weit oben: Adelige, wie etwa der Landgraf und spätere Kurfürst von Hessen-Kassel, der zwischen 1801 und 1806 jährlich knapp eine Million Gulden anlegte, waren unter ihnen, zudem höhere Beamte, Kaufleute, Gewerbetreibende und vereinzelt Privatiers. Auch Verwalter von Stiftungen, Mündelgeldern und Familienfideikommissen traten in der dieser Zeit bereits als Wertpapierkäufer in Erscheinung.2 Die Auswahl an Finanzprodukten war noch sehr begrenzt. An der Berliner Börse fand der Handel vor allem in landwirtschaftlichen Pfandbriefen und den Aktien einiger Zucker- und Tabaksgesellschaften statt.3 Der Umsatz in diesen Papieren muss sehr niedrig gewesen sein; es gab Tage, da setzte der Kurszettel der Börse hinter das betreffende Wertpapier nur einen langen Querstrich: Es gab dann keinen Kurs für das Papier, niemand hatte es angeboten, niemand nachgefragt. Reger für die damaligen Verhältnisse war der Verkehr in Frankfurt. Dort wurden auch schon Geschäfte in Staatsanleihen abgewickelt, einer für die weitere Entwicklung äußerst bedeutsamen Sorte von Wertpapieren.4 Staatsanleihen Schwung in den Handel kam erst nach den Napoleonischen Kriegen, Anfang der 1820er Jahre. Die Staatsfinanzen vieler ehemals kriegführender Staaten waren zerrüttet, der Kurswert ihrer Anleihen auf einem Tiefstand angelangt. Als nun Länder wie Österreich und Preußen dazu schritten, ihre Finanzen zu ordnen, avancierten Staatsanleihen schnell zu einer begehrten Anlageform, welche die traditionellen Pfandbriefe, die immer weniger abwarfen, in den Hintergrund drängte und dem Kapitalmarkt bis dahin fernstehende Schichten, in denen sich mehr und mehr Privatvermögen gebildet hatte, zuführten. Ihre niedrigen Kurse 1 Berghoff, Kapitalmarkt, S.  55.  – Die Berliner Börse war bis zum Beschluss der örtlichen Händler zu einem Neubau 1797 in einem baufälligen Haus, der sogenannten »Grotte im Lustgarten«, untergebracht, s. Biggeleben, S. 67. 2 Ullmann, Staat, S. 113–119. – Effektenhandel hat es im 18. Jahrhundert in Deutschland mit wenigen Ausnahmen gar nicht gegeben: in Hamburg um 1720 zu Zeiten des »Law-Schwindels«, in Berlin tauchen erste Aktien 1769 bzw. 1772 mit der durch Friedrich den Großen begründeten Heringsfang-Kompanie und der Seehandlung auf. Siehe hierzu Samuel, S. 168 ff. 3 Siehe den Kurszettel vom 9. August 1805, abgedruckt in Spangenthal, S. 17. Er verzeichnet lediglich fünf Aktien und sechs Pfandbriefe. Den Handel in Wechseln und Devisen, der damals noch das Effektengeschäft weit überwog, lasse ich hier außer Acht, da er nicht so sehr zur längerfristigen Kapitalanlage geeignet war und er die Inklusion von Menschen in das Marktgeschehen auch nicht wesentlich befördert hat. 4 Scholten, S. 22 f.

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boten Händlern und Spekulanten5 zudem ein lohnendes Betätigungsfeld: Sie kauften diese Papiere in der Hoffnung auf rasch steigende Kurse.6 Für die Herausbildung überregionaler Kapitalmärkte ebenso wie für die quantitative Ausweitung des Finanzpublikums ist die Staatsanleihe von herausragender Bedeutung. Ihre Geschichte ist mit der Entstehung moderner Staatsschulden untrennbar verknüpft.7 Diese waren an der Schwelle vom 18.  zum 19. Jahrhundert entstanden, als die deutschen Territorialstaaten dazu übergingen, ihre zersplitterten Teilschulden zu einer einheitlichen, durch Staatseinnahmen fundierten und von der Privatschatulle des Herrschers getrennten Schuldenmasse zusammenzufassen. Die Staaten unterwarfen sich damit zugleich einer Kontrolle ihrer Finanzen durch die Stände einerseits ebenso wie sie sich andererseits einem breiten Publikum an Kreditgebern öffneten, das so in die staatliche Schuldenwirtschaft inkludiert wurde. Staaten schlossen zur Schuldenaufnahme nun nicht mehr wie früher individuelle Darlehensverträge mit einigen wenigen Gläubigern, sondern gingen zur Massenemission von Forderungstiteln über.8 Sie streuten ihre Schulden durch die Ausgabe von Staatsanleihen, die so gestückelt waren, dass sie für einen weitaus größeren Personenkreis erschwinglich waren.9 Für ihre Besitzer boten Anleihen nicht nur die Gewissheit regelmäßiger Zinseinahmen, sondern auch den unschätzbaren Vorteil, dass man sich ihrer, wollte man sein Kapital auslösen, in der Regel auf dem dafür geeigneten Markt – der Börse – entledigen konnte, indem man sie zum Tageskurs weiterverkaufte. Schuldverschreibungen wurden so, im Gegensatz zu privaten Darlehen, handelbar.10 Wohl kein anderes Wertpapier markiert den 5 Der Begriff »Spekulant« ist nicht unproblematisch, oszilliert er doch zwischen »ökonomischem Fach- und politischem Kampfbegriff«, wie jüngst Priemel, S. 11, zurecht angemerkt hat. Wenn an dieser Stelle und im Folgenden von »Spekulanten« gesprochen wird, so soll damit lediglich auf den »zeitlichen Vorausblick« (ebd., S. 10) in der Kaufentscheidung aufmerksam gemacht werden. – Feller gibt dem einführenden Kapitel seines Anlageratgebers den bezeichnenden Titel »Einleitung für Kapitalisten (d. h. Nicht-Spekulanten)«, Feller, S. 1. Doch so eindeutig, wie es zeitgenössische Schriften suggerierten, war die Trennlinie zwischen Kapitalisten und Spekulanten in Wirklichkeit nicht. 6 Gömmel, S. 136 ff.; zu Frankfurt s. Holtfrerich, Frankfurt, S. 144ff; zur Vermögensverteilung und -bildung in Preußen vgl. Brockhage, S. 182–195. 7 Siehe den Überblick bei Hesse, Wirtschaftsgeschichte, S. 133 ff. 8 Ullmann, Staat, S. 61–87. 9 Holtfrerich, Frankfurt, S.  144 f.; Gömmel, S.  136 f.  – Je kleiner die Stückelung durch den Emittenten festgesetzt wurde, desto größer der Kreis derjenigen, der angesprochen werden sollte. Ein Handbuch für Staatspapiere wusste 1849: »Um eine um so größere Betheiligung bei einer Anleihe zu veranlassen oder möglich zu machen, werden in Zeiten, die für Anleihen nicht eben günstig sind, die einzelnen Stücke nicht zu groß gemacht sein dürfen, sondern auch Stücke von geringern Beträgen sich mit darunter befinden müssen«, Schick, S. 18. 10 Die sog. »Inhaber-Schuldverschreibung« löste in dieser Zeit allmählich die noch persönlich gebundene »Namens-Schuldverschreibung« oder »Namensaktie« ab, und vereinfachte dadurch die Liquidation von Wertpapieren ebenso wie sie deren Umlaufgeschwindigkeit um ein Vielfaches erhöhte, s. Gömmel, S. 150.

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Anbruch des »goldenen Zeitalters der Rentiers in Europa«11 so deutlich wie die moderne Staatsanleihe (doch wären all diese Produktinnovationen wahrscheinlich folgenlos geblieben, wenn sich zur selben Zeit nicht auch die kulturellen Einstellungen der Menschen zum Geld generell und zur Kapitalanlage speziell geändert hätten; ein Vorgang, über den wir bisher nur sehr wenig wissen12). Bald schon zirkulierten in Berlin und Frankfurt eine Vielzahl von Staatspapieren unterschiedlichster Herkunft: badische und bayerische, hessische und preußische neben norwegischen, neapolitanischen, spanischen und brasilianischen, um nur einige zu nennen.13 Diese Mannigfaltigkeit zeigt nicht nur, wie schnell der Markt in Staatsanleihen anschwoll; sie lässt auch erahnen, wie international sich bereits das Portfolio ihrer Besitzer gestaltete. Spätestens im dritten Dezennium des 19. Jahrhunderts zeigt sich neben einer steigenden sozialen Streuung auch eine zunehmende geographische Verbreitung von Wertpapieren über die finanziellen Zentren Deutschlands hinaus.14 1825 wusste ein Bankier aus Augsburg zu berichten, dass in seiner Stadt viele Bräuer und Gutsbesitzer an dem spekulativen Staatspapierhandel tätigen Anteil hätten.15 Der Korrespondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung schrieb unter dem 22. Juli 1834 in deutlich abschätzigem Ton aus Berlin: »Niemals war die Sucht, in Staatspapiere zu spielen, zügelloser, als in dieser Zeit der Fondsschwankungen; das Unglück ist unberechenbar, welches diese Leidenschaft in den Familien kleiner Kapitalisten anrichtet.«16 Ein anderes Blatt verwies ebenso auf einen sich sozial ausdehnenden Anlegerkreis: »Hier [in Berlin] war die Sucht in spanischen Papieren zu spekulieren so groß, daß man eine Menge Kapitalisten und Rentiers zählt, die ihre Hypotheken aufzukündigen keinen Anstand nahmen, um ihr Geld in jene fremden Fonds anzulegen. Um hohe Zinsen  – 9 Prozent – zu genießen, setzt man sich der Gefahr aus, das Kapital zu verlieren; auch Handwerker, die kaum 1000 Rhthlr. in Vermögen hatten, kauften spanische Papiere. Selbst Landleute sollen in solchen Papiere spekuliert haben.«17 11 Ferguson, Aufstieg, S. 91. 12 So schreibt auch Holtfrerich, Frankfurt, S.  144, ohne hierfür nähere Gründe angeben zu können: »In the postwar period, however, the high demand for capital from various countries […] coincided with an increased readiness to invest«. [Hvh. d. V.] Mit dem Blick auf England hat auf diesen Einstellungswandel jüngst sehr überzeugend aufmerksam gemacht Eisenberg, S. 76–105; vgl. auch Wischermann u. Nieberding, S. 186. – Eher feuilletonistisch, doch mit zahlreichen Belegen aus der philosophischen Klassikerliteratur Europas geht Hirschman der positiven Umdeutung ehemals pejorativ konnotierter menschlicher Verhaltensweisen wie dem Gelderwerb im 18. Jahrhundert nach. 13 Vgl. etwa das Handbuch von Feller und Scholten, S. 24. 14 Zur sozialen Zusammensetzung des »Spekulantenkreises« in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts liefert Neidlinger, S. 72–76, einige Angaben auf schmaler Quellengrundlage. 15 Die Rede des Bankiers namens Krämer anlässlich der Bayerischen Landtagsverhandlungen 1825 zitiert Neidlinger, S. 76. 16 Allgemeine Zeitung, 22.7.1834, zit. n. Leiskow, S. 3. 17 Friedens- und Kriegskurier, Nr. 257, 5.9.1834, zit. n. Leiskow, S. 3.

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Das »Spekulationsfieber« grassierte jedoch nicht nur in Berlin, das als Börsenplatz und durch seine Dichte an Banken ein weitaus größeres Inklusionspotential aufgewiesen haben dürfte als etwa ländliche Regionen mit schlechter infrastruktureller Anbindung an den Finanzsektor. Ein Reisender war zur Mitte der 1830er Jahre nicht schlecht erstaunt, als er selbst unter den Landleuten der Marken und Schlesiens auf Besitzer spanischer Staatspapiere traf.18 Dieser allmählichen Überhitzung des Fondsmarkts schob die preußische Regierung schließlich im Januar 1836 einen Riegel vor, als sie das Zeitgeschäft in spanischen Anleihen kurzerhand verbot. Solche staatlichen Prohibitivmaßnahmen stellten vor 1850 kein selten angewandtes Mittel dar, um auf das Anlegerverhalten Einfluss zu nehmen. Das Verbot wurde im Mai 1840 auf alle ausländischen, d. h. nicht-preußischen Wertpapiere – auf Staats- und Kommunalanleihen, Aktien, Obligationen etc. – ausgeweitet.19 Eisenbahnaktien Der finanziellen Markvergesellschaftung der Deutschen war hiermit kein Abbruch getan, denn schon stand ein neues, lukratives Investitionsfeld bereit, um die frei gewordenen Kapitalien aufzunehmen. Im Dezember 1835 war mit der feierlichen Eröffnung der Strecke Nürnberg-Fürth das Zeitalter der Eisenbahn auch in Deutschland eingeläutet worden. Mit ihm sollte die größte Inklusion von Menschen in den Wertpapierhandel stattfinden, die es im deutschen Raum bis dahin gegeben hatte.20 Denn der Staat gedachte nicht, sich durch Aufnahme neuer Schulden am kostspieligen Aufbau des Streckennetzes zu beteiligten, sondern überließ ihn privater Initiative, freilich nicht ohne sich das Recht der Konzessionierung vorzubehalten.21 Und so gingen die Industrieunternehmer dazu über, Eisenbahngesellschaften auf Aktien zu gründen und die Verkehrsrevolution des 19. Jahrhunderts durch Ausgabe von Anteilsscheinen zu initiieren. Die staatliche Ächtung des spanischen, später des ganzen ausländischen Fondsgeschäfts kam dieser Entwicklung nur zupass. Die Zeichnungsbedingungen waren so gestaltet, dass zum ersten Mal auch die Inhaber kleinerer Sparguthaben teilnehmen konnten. Ratenzahlung machte dies möglich; erst nach 18 Monaten hatte der Betrag für die gezeichnete Aktie voll eingezahlt zu sein.22 Die hohen Renditen, welche die ersten Eisenbahngesellschaften bald schon erwirtschafteten und als Dividenden an ihre Aktionäre ausschütteten, führten zu einem regelrechten Ansturm auf Eisenbahnaktien, deren Kurse in himmlische Höhen stiegen.23 Die Aktien der Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft Nürnberg18 Neidlinger, S. 76. 19 Berghoff, Kapitalmarkt, S. 53 f. 20 Vgl. Berghoff, Kapitalmarkt, S. 61 ff.; Merkt, S. 52, sieht hier die »eigentliche ›Demokratisierung‹ der Börsenspekulation« begründet. 21 Es kann hier auf die politischen Hintergründe nicht näher eingegangen werden. Vgl. hierzu ausführlich Gall, Eisenbahn, S. 28–39. 22 Diese Angabe findet sich bei Leiskow, S. 6. 23 Roth, Eisenbahn, S. 61–64.

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Fürth brachte es binnen kürzester Zeit auf eine Dividende von zwanzig Prozent, ihr Börsenkurs schnellte binnen zweier Monate von achtzig am Ausgabetag auf 200.24 In die Subskriptionslisten für Aktien der geplanten Taunusbahn von Frankfurt nach Wiesbaden, die im März 1837 in den Geschäftsräumen der Frankfurter Bankhäuser Bethmann und M. A. Rothschild auslagen, trugen sich so viele Interessenten ein, dass statt der erwarteten halben Million in kürzester Zeit 21 Millionen Gulden gezeichnet waren.25 Zwischen 1838 und 1846 flossen so über 100 Millionen Taler allein in den preußischen Eisenbahnbau, die Börsenkurse einzelner Aktien verfünffachten sich in den ersten Jahren und lagen selbst 1847 im Schnitt noch drei Mal so hoch, wie ihr Emissionspreis betragen hatte. »Der Eisenbahnboom verhalf der Institution der Aktiengesellschaft zum Durchbruch.«26 Die soziale Zusammensetzung des sich kontinuierlich vergrößernden Anlegerpublikums ist auch für diesen Zeitraum nicht mit quantitativen Mitteln bestimmbar. Korrespondentenberichte, die in der Presse kursierten, liefern allerdings eine Vorstellung davon. Viele dieser Schilderungen deuten darauf hin, dass mit dem Eisenbahnboom Ende der 1830er Jahre auch das hieran beteiligte Publikum sowohl in seinem Umfang als auch in seiner sozialen Heterogenität einen neuen Grad erreicht hatte.27 Vor den Zeichnungsstellen beobachtete der Berlin-Korrespondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung »Kaufleute, Krämer, Beamte und Handwerker, Geistliche und Weltliche, Künstler und Gelehrte, reiche Herrschaften und arme Dienstboten, Christen und Nichtchristen«.28 Der Frankfurter Platz bot ein ähnliches Bild. »Menschen aller Stände drängten sich beinahe mit Lebensgefahr« vor den Zeichnungsbüros, vermeldeten die Frankfurter Jahrbücher 1837. »[E]s paradieren die Unterschriften von Millionärs, Banquiers, Rentenirern[!], Handels- und Gewerbsleuten und sehr vielen anderen achtbaren Bürgern und Bürgerinnen neben den Namen von Proletariern verschiedener Art.«29 Die astronomischen Kurssteigerungen der Eisenbahnaktien, ihre hundertfachen Überzeichnungen deuteten schon nach nicht allzu langer Zeit auf eine ungesunde Überspekulation hin. »Das Eisenbahn­f ieber ist stärker als jemals, es grenzt an Wahnsinn«, notierte ein Kölner Bankier Anfang 1844.30 Obwohl die preußische Regierung den Eisenbahnbau anfangs durch großzügige 24 Gömmel, S. 139; Leiskow, S. 5; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 616, nennt für die Jahre zwischen 1840 und 1847 Durchschnittsdividenden von fünf bis 6,2 Prozent. Die Aktien der preußischen Bahn Berlin-Potsdam waren nur zu einem Aufgeld (Agio) von dreißig Prozent zu haben, d. h. Käufer zahlten 130 Thaler für eine Aktie, die auf den Nominalwert von 100 Thalern lautete. 25 Gall, Eisenbahn, S. 18. Zum Eisenbahnaktienhandel generell Leiskow, S. 4–37. 26 Berghoff, Kapitalmarkt, S. 62. 27 Vgl. auch das Urteil von Steitz, S.  25, wonach das größere Publikum das Aktiengeschäft eigentlich erst mit den Eisenbahneffekten kennengelernt habe. 28 Allgemeine Zeitung, Nr. 77, 8.3.1836, zit. n. Leiskow, S. 6. 29 Frankfurter Jahrbücher, Jg. 9, 1837, S. 120, zit. n. Gall, Eisenbahn, S. 19. 30 Ludolf Camphausen, zit. n. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 620.

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Konzessionierungen weiter befördert hatte, sah sie sich im April 1844 zu einer Börsenverordnung veranlasst, die, so Hans-Ulrich Wehler, wie eine »antikapitalistische Strafexpedition« gewirkt habe. Eisenbahnaktien konnten fortan nur noch mit Genehmigung des Finanzministeriums gezeichnet werden, Zeitgeschäfte in preußischen Aktien und generell alle Geschäfte in ausländischen Aktien wurden verboten. Die Spekulation brach zusammen, an der Berliner Börse herrschte helle Panik. Erst nach der Revolution von 1848/49 sollte sich das Börsengeschäft wieder erholen.31 Blickt man auf den Prozess der finanziellen Marktvergesellschaftung vor 1850, so lassen sich grob drei Phasen unterscheiden. Bis zur ersten Dekade des 19. Jahrhunderts begegnen nur Formen einer rudimentären Vergesellschaftung; neben den professionals, Bankiers, Wechselhändlern und Maklern, schien nur eine dünne Schicht aus Adel und gehobenem Bürgertum mit den Finanzmärkten, die selbst erst im Entstehen begriffen waren, verknüpft gewesen zu sein. In der Blütezeit des Staatsanleihehandels zwischen ca. 1815 und 1835 hatte sich dies zu ändern begonnen. Sinkende Ertragschancen im landwirtschaftlichen Sektor führten zu einer Verschiebung des Anlagekapitals in Staatsanleihen, zugleich strömten dem Anleihemarkt, begünstigt durch steigende Privatvermögen, vormals unbeteiligte Personenkreise zu. Spekulationsexzesse prägten immer wieder das Geschehen an den Börsen. Schließlich begann mit dem Eisenbahnbau eine rasante Ausweitung des Kreises jener, die durch Effektenbesitz Anteil am Finanzmarktgeschehen hatten. Mit dieser fortschreitenden finanziellen Marktvergesellschaftung ging zugleich ein Wandel in der finanziellen Kommunikation in Deutschland einher, der ebenfalls verschiedene Phasen durchschreitet.

2. Finanzkommunikation Finanzielle Kommunikation war in der Zeit um 1800 noch ganz auf die Bedürfnisse eines kleineren Kreises privilegierter Kapitalanleger und berufsmäßig im Effektengeschäft tätiger Personen abgestellt. Ihre Hauptträger bildeten größtenteils noch Bankiers und Wechselhändler, Börsenmakler und jene Kaufleute, die mit Wechseln, Devisen und Wertpapieren handelten oder An- bzw. Verkäufe in diesen vermittelten. Diese Tätigkeit erforderte nicht nur eine exakte Kenntnis der Marktlage, sondern auch möglichst aktuelle Informationen von auswärtigen Börsenplätzen, wollte man Kursunterschiede in zeitlicher oder räumlicher Hinsicht (Spekulation bzw. Arbitrage) zu Geschäftszwecken ausnutzen.

31 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 621.

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Interpersonale Kommunikation und Preisöffentlichkeit Neben dem persönlichen Besuch der lokalen Börse war zu diesem Zweck die Briefkorrespondenz mit auswärtigen Geschäftspartnern, meist gestützt auf ein eigenes Kuriersystem, das wichtigste Medium, in dem man sich über finanzielle Themen austauschte und das Kenntnis über Kursstände an anderen Handelsplätzen ermöglichte. Schon in einer Schrift aus dem Jahr 1743 heißt es: »Dann jetzo bestehet das Geheimniß der Kaufleute und Wechsler darinnen, daß sie alle Posttage zeitig erfahren, sowohl den Preis der Waaren, als auch den Cours und agio der Wechsel.«32 Wenngleich sich die Präponderanz der Privatkorrespondenz in der finanziellen Kommunikation langsam ihrem Ende zuneigte, so hatte sie doch auch noch am Anfang des 19. Jahrhunderts nur wenig von ihrer zentralen Stellung eingebüßt, in die sie mit Beginn der Neuzeit aufgerückt war. Finanzkommunikation, so ist zu betonen, bedeute auch zu diesem Zeitpunkt noch vornehmlich interpersonale Kommunikation zwischen Geschäftspartnern.33 Werner Sombart hat dies dazu veranlasst, den Zeitraum zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert als die »Periode der schreibseligen Kaufleute« zu bezeichnen.34 Doch auch in der langsam entstehenden Gruppe der privaten Effektenbesitzer, der Rentiers, zeigte sich bereits, wenngleich weniger ausgeprägt, ein Bedürfnis nach Unterrichtung über finanzielle Themen. Die Rezeption entsprechender Inhalte diente dabei nicht so sehr spekulativen Zwecken, sondern sollte bei den meist längerfristigen Kapitalanlagen das Risiko reduzieren helfen und dem Anleger dabei ein Gefühl der Sicherheit geben.35 »Der Kapitalist will […] in der Regel sein Geld nicht nur sicher unterbringen, er will es auch zu möglichst hohen Zinsen anlegen«, hieß es in einem Anlegerhandbuch 1834 – augenscheinlich ohne dass Zeitgenossen dabei des Widerspruchs, der in dieser Haltung steckte, gewahr geworden wären.36 Diesem Bedürfnis entsprechend gestaltete sich die finanzielle Kommunikation im Publikum privater Investoren. Neben face-to-face Kontakten zu Bankiers, denen nicht nur auftragsausführende, sondern wohl schon früh auch beratende Funktion zufiel,37 fungierten Ratgeber und Handbücher, die sich schon im Titel explizit an den wachsenden Kreis privater Effektenbesitzer wandten, primär als Medien finanzieller Kommunikation. Sie klärten über die Usancen und Techniken des Anleihekaufs auf, lieferten einen Überblick über das Sortiment an Papieren und über ihre Haupthandelsplätze und gaben Anleitungen zur Berechnung der Zinsen, kurzum: sie popularisierten zusehends finanziel32 Gelehrte Anzeigen, Jg. 1, 1743, S. 543, zit. n. Sombart, Kapitalismus, Bd. II/1, S. 412. 33 Vgl. zur in jüngerer Zeit auch wieder stärker in der Geschichtswissenschaft berücksichtigten »interpersonalen Kommunikation« Föllmer, Sehnsucht. 34 Sombart, Kapitalismus, Bd. II/1, S. 413. 35 Ullmann, Staat, S. 113–119. 36 Feller, Archiv, S. 3. (Hvh. i. O.) – Ähnlich heißt es auch in der Allgemeinen Encyklopädie für Kaufleute und Fabrikanten, S. 702: »Die Mehrzahl der Gläubiger des Staates kauft dessen Papiere nicht, um damit zu speculieren, sondern um ihr Vermögen sicher darin anzulegen«. 37 Borchardt, Einleitung, S. 37.

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les Wissen. Wer nach einer langfristigen Kapitalverzinsung strebte, der handelte in längeren Zeithorizonten und war daher nicht auf eine tagesaktuelle Berichterstattung angewiesen, wie sie die Briefkorrespondenz etwa dem Geschäftsmann ermöglichte. Die Konsultation der Buchpublizistik genügte dabei, gelegentlich auch ein Blick in die Zeitung. In dem skizzierten Medienverbund war die Presse noch von untergeordneter Bedeutung, ihr praktisch-geschäftlicher Nutzen nahm sich wohl eher gering aus für professionals, die noch auf eigene Korrespondentennetze setzten und sich diese auch Einiges kosten ließen.38 Ihr grundsätzlicher Wert in jener Zeit lag aber darin, eine Preisöffentlichkeit zu befördern, zur Bekanntheit von Kursund Preisständen beizutragen.39 Sie spielten damit eher jenen in die Hände, die nicht über ein privates Netz an Briefpartnern verfügten, wie dies bei Privatanlegern zumeist der Fall gewesen sein dürfte. Schon zum Ende des 18. Jahrhunderts lieferten Zeitungen wie die zweimal wöchentlich erscheinenden Hamburgischen Adreß-Comtoir-Nachrichten (1767) oder das Journal de Frankfort (1793) Wechsel-, Geld- und Effektenkurse lokaler, aber auch auswärtiger Börsen wie der Londoner und der Pariser.40 Solche Zeitungen suchten daher gerade auch ein Publikum außerhalb der Kaufmannschaften zu erreichen. In Berlin notierte die Vossische Zeitung von 1802 an Getreidepreise, Wechsel- und Geldkurse, die ihr ein Börsenmakler zur Verfügung stellte. Das Blatt war bereit, ihm dafür acht Thaler jährlich zu zahlen. Offensichtlich handelte es sich dabei um eine Investition, die man mit Blick auf die Leserbedürfnisse gerne einzugehen gewillt war.41 1803 ging schließlich auch das Frankfurter Journal dazu über, lokale Wechselkurse zu drucken.42 Finanzkommunikation verlagerte sich zu diesem Zeitpunkt schon zunehmend in einen öffentlichen Raum, der weit über jenen tradierten, abgeschotteten Raum privater Briefkommunikation und persönlicher Kontakte hinausging. Zielgerichtet oder zwangsläufig war diese Entwicklung jedoch keineswegs. Denn gegen eine Preisöffentlichkeit stemmten sich noch bis weit ins 19. Jahrhundert die traditionellen Eliten der Geldwelt, die Wechsler, Kaufleute und Bankiers, die durch weiten Bevölkerungskreisen zugängliche Zeitungen ihr Nachrichtenmonopol in Gefahr sahen. Denn der »Kaufmann hatte seine Handelskorrespondenzen, durch die er Nachrichten tage-, ja wochenlang vor anderen erhielt; aus ihnen berechnete er künftige Preisgestaltungen, auf sie baute er 38 Ich folge hier in meiner Argumentation Bode, S. 25. 39 Für Langenohl, S. 253 f., ist die »Preisöffentlichkeit« eine strukturelle Vorstufe der diskursiven Finanzöffentlichkeit, da die Abstraktheit und begrenzte Aussagekraft der Preise zum Bedürfnis eines Diskurses über deren Ursachen und Bedeutungen führe, der primär massenmedial organisiert sei. – Die Ausführungen in diesem Kapital zeigen, dass die »Preisöffentlichkeit« auch historisch der finanziellen Öffentlichkeit vorausging. 40 Neben ihnen müssten noch einige weitere Intelligenzblätter des 18.  Jahrhundert genannt werden. Verwiesen sei hierfür auf Bode, S. 47–62. 41 Buchholtz, S. 66. 42 Bode, S. 41.

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seine Spekulation.«43 Die Öffentlichkeit der Preise und Kurse stand seinen Interessen diametral entgegen. Was dem großen Publikum eine Stärkung seiner Position, das erschien den etablierten Kaufleuten als Bedrohung. Denn die Meinung, dass das Wissen über Kursstände ein öffentliches Gut darstelle und daher allen (potentiellen) Marktteilnehmern zur Verfügung stehen solle,44 begann sich unter den professionellen Akteuren des Finanzsektors erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts und dann auch nur zögerlich sowie mit regional differierender Intensität durchzusetzen.45 »Es ist dem Publico nichts nütze und verursacht für uns eine schädliche und unbedachtsame Concurrenz«, gaben etwa noch 1781 Hamburger Kaufleute ihrer ablehnenden Haltung in einer Eingabe an den Senat Ausdruck.46 Als in Frankfurt ein Buchhändler zur Mitte des 18. Jahrhunderts dazu überging, den Kurszettel der örtlichen Börse in seine Zeitung aufzunehmen, stieß er damit auf heftigen Widerstand der ansässigen Wechselmakler, die fürchteten, Kaufleute und Bankiers als Abonnenten ihrer Kurszettel zu verlieren. Auch auf den Einwand des Buchhändlers hin, »die Kurse seien keine Sache, die geheim zu halten sei; ihre Veröffentlichung gereiche vielmehr der Allgemeinheit zum Nutzen«, bedeutete man ihm vonseiten der Börsenvorsteher nachdrücklich, von einer Fortsetzung der Publikation abzusehen.47 Und auch der Vossischen Zeitung begegnete 1802 noch Widerstand, als sie zur Kursveröffentlichung überging. Dieser kam jedoch nicht aus Kaufmannskreisen, sondern vom staatlich protegierten Berliner Intelligenzblatt, das sein Privileg zum Abdruck solcher Informationen verletzt sah. Ein Gericht entschied die Angelegenheit zu Ungunsten der Vossischen Zeitung. Nun schaltete sich aber Friedrich Wilhelm III. persönlich ein und bestimmte durch königliche Ordre die Wiederaufnahme des Abdrucks, solange dem Intelligenzblatt daraus keine Nachteile entstünden. Das Publikum, begründete der Monarch, habe sich nämlich daran gewöhnt, »solche Rubriken in der Zeitung zu finden«.48 Erst langsam schienen die Widerstände gegen Kurspublikationen in der Presse auch vonseiten der Kaufmannschaften abzunehmen. 1834 bekannten in Hamburg 24 Handels­ firmen in einer Eingabe an den Senat zögerlich, im Grunde immer noch wider43 Ebd., S. 34. 44 Borchardt, Einleitung, S. 18, bemerkt hierzu: »Die Kurse sind Ausdruck einer permanenten Kritik der einzelnen Kapitalanlagen. Ihre Veröffentlichung vermittelt freilich nicht leicht zu lesende, weil auf Zahlenwerte reduzierte Rezensionen des wirtschaftlichen Verhaltens von Staaten und Unternehmen.« 45 Hinweise hierauf bei Sombart, Kapitalismus, Bd. II/1, S. 60 f. – Die Maxime des Großhändlers habe, so mutmaßt Sombart, gelautet: »[E]r will im Dunkel bleiben, wenn nur sein Nachbar auch im Dunkel erhalten wird.« (S. 61) 46 Eingabe von 21 Kaufmannshäusern an die Hamburger Kommerzdiputation, 11.4.1781, zit. n. Baasch, S. 132. – Noch 1827 hieß es aus denselben Kreisen, derartige Veröffentlichungen »dienten zum Nachtheil unserer Börse«; zit. n. ebd., S. 138. 47 Von diesem Fall berichtet Sombart, Kapitalismus, Bd.  II/1, S.  60.  – Ein ähnlicher Fall ist bei Bode, S. 38, noch für das Jahr 1826 belegt; solange sträubte ein Teil der Makler sich, die Kurspublikation mit der Presse zu teilen! 48 Bode, S. 44.

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willig, dass »Oeffentlichkeit, auf Thatsachen begründet, zu den Erfordernissen der Zeit gehören mag«.49 Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts begann damit die Öffentlichkeit als Legitimations- und Appellationsinstanz Einzug in die Finanz- und Wirtschaftswelt zu halten; ein Prozess der bis 1914 und darüber hinaus, virulent und umkämpft, andauern sollte.50 Kursberichte Trotz einzelner opponierender Kaufleute entwickelte sich in den ersten Dekaden des 19.  Jahrhunderts schrittweise eine Preisöffentlichkeit  – eine wichtige Voraussetzung für die spätere Konstituierung eines finanzjournalistischen Feldes. Wer über Börsenkursstände aktuell unterrichtet sein wollte, hatte dazu – auch ohne Privatkorrespondenz – immer bessere Chancen. Neben den verstreuten Kursnotizen in ausgewählten und privilegierten Presseorganen leisteten hierzu vor allem Kurszettel und Kursberichte einen wichtigen Beitrag. So gingen einerseits die örtlichen Börsenbetreiber dazu über, die tagesaktuellen Kurse im Börsenhaus anschlagen zu lassen, andererseits entwickelte sich der Handel mit Kursinformationen zu einen lukrativen Geschäftsfeld für Makler und Wechselsensale, die aufgrund ihrer Vermittlungsfunktion zwischen Anbietern und Nachfragern besonders gut mit den Marktpreisen vertraut waren. Diese Veränderungen der Finanzkommunikation deuten auf eine Ausweitung des Kreises jener hin, die sich an den Finanzmärkten zu engagieren begannen, jedoch nicht persönlich an der Börse zugegen sein konnten. »Durch dieses Werk«, begründete der vereidete Wechsel- und Fondsmakler A. Philipsborn 1828 seine »General-Übersicht des täglichen Standes der Course von den in- und ausländischen Staats-Papieren und den Wechsel-Coursen an der Börse zu Berlin«, wird »einem längst gefühlten Bedürfnisse abgeholfen, indem dasselbe dem Banquier sowohl, als dem Waarenhändler – dem Kaufmann im Allgemeinen – dem Gerichts-, Kassen- und Rechnungsbeamten, ja selbst dem Vormunde bemittelter Pupillen, dem Besitzer von Staatspapieren, dem Rentier, und mehreren Andern, welche, ohne Kaufmann zu sein, mit Staatspapieren, und dem Courswesen zu tun bekommen, eine fortwährende und generelle und spezielle, eine glaubwürdige und deutliche Übersicht der täglichen Geld- und Wechsel-Course […] an die Hand gibt.«51 Seit Juli 1805 – und damit knapp ein halbes Jahrhundert vor ihrem Frankfurter Pendant  – gab die Berliner Börse an allen Handelstagen den Berliner Amtlichen Kurszettel heraus. Dieser verzeichnete die Brief- und Geldkurse von 49 Eingabe von 24 Handelsfirmen an den Hamburger Senat, Januar 1837, zit. n. Baasch, S. 140. – Es ist schwierig, eindeutige Ursachen für diesen sukzessiven Einstellungswandel auszumachen. Doch offensichtlich war eine Unterbindung der Preisöffentlichkeit durch die angestammten Marktakteure immer schwerer praktisch zu bewerkstelligen (sie hatten dabei die Presse gegen sich), aber auch moralisch gegenüber dem wachsenden Privatpublikum zu rechtfertigen. 50 Vgl. Kapitel IV. 2.1. 51 Ankündigung, 15.12.1828, GStA PK, I. HA, Rep. 90 A, Nr. 4248.

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Wechseln, Devisen und Fonds und trug zur Beglaubigung seiner Korrektheit die Unterschrift der vereideten Wechsel-Makler der Börse. Er sollte umgehend nach Handelsschluss noch im Börsengebäude selbst in Druck gehen und schon am Nachmittag angeschlagen werden.52 Der Amtliche Kurszettel war insofern ein Novum, als mit ihm von offizieller Seite notierte und beglaubigte Kurse in die Öffentlichkeit gelangten. Sie gaben bei Geschäftsabschlüssen Sicherheit, da sie als verbindlich galten und »auch in streitigen Fällen den richterlichen Entscheidungen als Grundlage« dienen sollten, wie die Berliner Börsenordnung bestimmte.53 Einem lokalen Publikum wurde somit ermöglicht, sich einen Überblick über die Marktpreise am eigenen Platz zu verschaffen. Die Grenzen dieser Öffentlichkeit waren dabei freilich durch den Modus der Publikation als lokalen Anschlag festgesetzt. An einer weiträumigen Verbreitung der Kurse konnte der Kaufmannschaft allein schon vom Gesichtspunkt des Arbitragegeschäfts nicht gelegen sein. Doch offensichtlich suchten einzelne Makler die Preisöffentlichkeit über den lokalen Platz hinaus auszuweiten, indem sie Abschriften des Kurszettels an auswärtige Abonnenten verkauften. In ihrer überarbeiteten Börsenordnung vom 7. Mai 1825 bestimmten die Börsenvorsteher zusätzlich, dass »keinem Makler […] das versenden der Kurszettel nach anderen Orten erlaubt« sei.54 Die professionellen Marktakteure stemmten sich daher keineswegs geschlossen gegen die in ihr Terrain eindringende Öffentlichkeit. Während Kaufleute noch auf eine Kurspublikation im möglichst engen Grenzen bedacht waren, schienen sich Makler im Gegenteil immer mehr auf das wachsende Finanzpublikum und seine Informationsbedürfnisse einzustellen. Ein guter Geschäftssinn leitete sie dabei. Denn zum einen gaben Makler Kursnotierungen gegen ein Entgelt an die Presse weiter, wie dies bereits für die Vossische Zeitung erwähnt wurde (weil sie über kein eigenes Personal an der Börse verfügten, blieben Zeitungen wesentlich auf solche private Kursmitteilungen angewiesen).55 Zudem erschlossen sich Makler mit der Herausgabe privater Kursberichte ein eigenes Geschäftsfeld und etablierten so einen Informationsdienst für jene, die während der Handelszeiten nicht persönlich im Börsengebäude zugegen sein konnten, sich jedoch zum Abschluss ihrer Geschäfte rasch ein Bild der Kursbewegungen verschaffen wollten.56 52 Auf Grundlage des Börsen-Reglements v. 15. Juli 1805. Ein Schema vom 9.8.1805 ist abgedruckt in Spangenthal, S. 17. – Mit der neuen Börsenordnung vom 7. Mai 1825 wurde der Titel in »Börse von Berlin« geändert und die Unterschriften der Makler durch einen Stempel ersetzt. 53 Siehe § 16 der Börsenordnung v. 7. Mai 1825, zit. n. Bender, S. 608. 54 Börsenordnung v. 7. Mai 1825, § 15, abgedruckt in Bender, S. 607. 55 Scholten, S. 21. 56 Diese Kursberichte sind aus den Kaufmannsbriefen der Frühneuzeit hervorgegangen. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts lässt sich in England und den Niederlanden beobachten, wie sich Kursmitteilungen aus persönlichen Kommunikationskontexten herauszulösen begannen. Kaufleute gingen nun vermehrt dazu über, Kursnachrichten, die sie vorher im Schlussabsatz ihrer Briefe als Addenda angefügt hatten, zu gedrungenen, tabellarischen Kursüber-

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Auch diese Entwicklung vollzog sich in enger Wechselwirkung mit der finanziellen Marktvergesellschaftung. Denn die Publikation von Kursen, ob durch Zeitungen oder durch spezielle Kursberichte, musste so lange ökonomisch unrentabel bleiben, solange die Zahl der Marktteilnehmer gering war und der größte Teil  von ihnen den Börsenversammlungen persönlich beiwohnte. Im ersten Drittel des 19.  Jahrhunderts änderte sich dies. In Berlin war es der Wechselmakler H. A. Hertel, der als erster einen vollständig durch die Druckerpresse hergestellten Kursbericht herausgab, den sogenannten Hertel’schen Coursbericht (vgl. Abb. 1).57 Hier fanden Leser bereits eine detaillierte Auflistung der in Berlin gehandelten in- und ausländischen Wechsel, der preußischen und ausländischen Staatspapiere; ein gegenüber den handschriftlichen Kurszetteln früherer Zeiten besonders bedeutsames Novum war dabei die unter der Kurstabelle platzierte, auf drei bis vier Zeilen komprimierte Beschreibung des Börsentages.58 Mit dieser atmosphärischen Darstellung ging man erstmals über die bis dahin üblichen Zahlenmitteilungen hinaus und versuchte mit den dadurch eingefangenen Stimmungen des Handelstages, zugleich etwas über die Ursachen und Tendenzen der Kursbewegungen mitzuteilen. Auch in Frankfurt finden sich in den 1820er Jahren Kursberichte verschiedener Makler und Wechselsensale. Die beiden bekanntesten unter ihnen waren das seit 1825 von Abraham Sulzbach herausgegebene Frankfurter officielle Börse-Cours-Blatt[!] und das seit 1829 durch Samson Berlyn publizierte Officielle Frankfurter Börsen-Coursblatt (vgl. Abb. 2 und 3).59 Beide Kursberichte erschienen börsentäglich und warteten mit einer detaillierten Notierung der in Frankfurt gehandelten Staatspapiere, Wechsel, Fonds und Geldsorten auf. Um 1840/50 traten die Kurse auswärtiger Wertpapiere hinzu, so z. B. die Berlins und Wiens mit zweisichten zusammenzustellen und ihren Briefen jetzt separat beizulegen. Der Empfänger seinerseits konnte diese dann leicht vervielfältigen und an Dritte weiterreichen, so dass immer mehr seiner Geschäftsfreunde immer schneller in den Besitz der erhaltenen Nachrichten gelangten. Bald schon begann man aus Gründen der Arbeitseffizienz auf Vordrucke zurückzugreifen, in die die Kurse vom Absender handschriftlich eingetragen wurden. Vgl. hierzu McCusker. 57 Hertel hatte schon in den Jahren davor einen privaten Kurszettel herausgegeben, in den die Kurse noch handschriftlich eingetragen waren. Ein Faksimile findet sich in Spangenthal, Rückseite des Titelblattes. – Ein vollständig durch die Druckerpresse erzeugter Kursbericht war im Übrigen keine Selbstverständlichkeit. Noch in den 1820er Jahren begegnen Berichte, wie der für Staatspapiere des Wechsel-Sensals Johann Heinrich Müller aus Frankfurt, deren Schema zwar vorgedruckt waren, in die Datum und Kurse aber noch mit Tinte eingetragen werden mussten. Ein Exemplar dieses unter dem Titel »Cours der Staatspapiere« erschienenen Berichts vom 10.12.1827 ist abgebildet in Holtfrerich, Frankfurt, S. 149. Schon für die Niederlande des späten 16. Jahrhunderts sind Kursberichte dieser Gestalt belegt, Sombart, Kapitalismus, Bd. II/1, S. 413 f. 58 Löb, S. 272. – Eine Abbildung des Kurszettels findet sich in Berghoff, Kapitalmarkt, S. 54. 59 Sulzbach lieferte zudem die täglichen Kursnotierungen für die Frankfurter »Oberpostamtszeitung«, siehe generell seine Selbstauskunft in Frankfurter Jahrbücher, Nr.  9, 10.3.1836, S. 47. – Die Angabe bei Berger, Bankier, S. 60, wonach Sulzbach seinen Kursbericht 1832 begründet habe, ist falsch.

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tägiger, die Londons, Paris’ und Amsterdams mit dreitätiger sowie die des Madrider Platzes mit achttägiger Verzögerung.60 Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Kursblätter auch optisch der Tagespresse angeglichen, von Kurszetteln kann daher streng genommen nicht mehr die Rede sein, denn mit ihrem Quartformat waren derartige Medien über das früher übliche Format eines Handzettels hinausgewachsen und näherten sich dem der Tagespresse an.61 Auch der Modus der Informationsakquise wurde dem einer Zeitungsredaktion ähnlicher: Denn die Ausweitung des Inhalts auf auswärtige und ausländische Börsenplätze erforderte ein Zusammentragen und Kompilieren der Informationen aus unterschiedlichen Quellen und mittels verschiedener brieflicher und telegrafischer Kommunikationskanäle. Die Herausgabe eines Kursblattes war keine Aufgabe mehr, die ein Makler oder Bankier nebenher erledigen konnte, sie erforderte ein hohes Maß an Zeit und Hingabe. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis sich einige von ihnen – wie etwa Leopold Sonnemann in den 1850er Jahren  – entschlossen, im großen Stil in das Verlags- und Zeitungsgeschäft einzusteigen.62 So wichtig derartige Privatinitiativen in der Kursnotierung und Kurspublikation auch waren – denn im Unterschied zum Berliner Platz, gab es in Frankfurt bis zu Anfang der 1850er Jahre keine durch die Börsenbetreiber autorisierten Kurse –, so zogen diese doch häufig auch Konflikte zwischen Maklern und Kaufleuten nach sich, da die Notierungen der einzelnen Makler zum Teil erheblich voneinander abwichen, was schließlich auch Unsicherheit in das Privatpublikum tragen musste.63 »Wir haben hier doch nur eine Börse«, bemerkten die Frankfurter Jahrbücher Anfang 1836, die sich die Lieferung zuverlässiger Kurse durch die Makler, wie andere Zeitungen auch, etwas kosten ließen. »Welcher der […] Herren Makler berichtet also richtig, und welcher unrichtig? Oder ist dennoch jedem unbedingt zu glauben?«.64 Ein Staatspapierhändler, der vorgab, »im Namen vieler Handelsleute« zu sprechen, erhob anonym den Vorwurf, dass bei der »Verfertigung dieser Courszettel […] bisher die reinste Willkühr« geherrscht habe. Die Kursangaben seien »alle unrichtig, und derjenige kommt zu Schaden, der ihnen sein Vertrauen schenkt.« Man solle, forderte der Staatspapierhändler, die Kurspublikation aus der Hand der Makler nehmen und in die Verantwortung einer amtlichen Stelle legen sowie deren Erscheinen auf zweimal wöchentlich begrenzen.65 Sulzbach, der sich dadurch angegriffen fühlte, konterte, er notiere tagtäglich die Kurse öffentlich an der Börse nach seiner Überzeugung, »mit einer Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit, wie solche einem 60 Vgl. die überlieferten Exemplare in IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 1853. 61 Im März 1851 warb Berlyn mit der »wöchentlich zweimal erscheinenden sehr nützlichen Handels-Beilage« zu seinem Kursblatt, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 1853. 62 Siehe hierzu Kap. II. 1.1. 63 Zu den unterschiedlichen Berechnungsarten der Kurse, auf die jene Abweichungen zurückzuführen sind, vgl. Kap. II. 2.3. 64 Frankfurter Jahrbücher, Nr. 6, 24.2.1836, S. 28 (Hvh. i. O.). 65 Frankfurter Jahrbücher, Nr. 7, 1.3.1836, S. 33 f.

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rechtschaffenen Manne geziemt«. Über die Motive des anonymen Beschwerdeführers mutmaßte Sulzbach: »Es mag wohl ein Händler seyn, dem die Oeffentlichkeit und Genauigkeit der Course in den Tagblättern ein Dorn im Auge ist; er wünscht sie zu beschränken, und denkt, wenn sie nur zweimal in der Woche erscheinen, die Privatleute in der Zwischenzeit desto leichter benachtheiligen zu können.«66 Wie später Journalisten so gaben sich vor 1850 Makler als Beförderer einer finanziellen Öffentlichkeit, die hier allerdings noch auf Kursstände beschränkt war. Moralische Zeitforderungen, wie sie in der Vorstellung von Preisen als öffentlichem Gut begegneten, gingen dabei Hand in Hand mit dem privaten Geschäftsinteresse der Makler. Denn der Handel mit Preisinformationen war für diese eine lukrative Einnahmequelle. Je weniger die Kursfeststellung reguliert war, desto anfälliger war dieses Geschäft aber auch für Manipulationen und desto weniger gereichte die Kurspublikation, zumal wenn Notierungen voneinander abwichen, den Marktteilnehmern zum Vorteil. Diesen Missstand suchte die Frankfurter Handelskammer 1850 abzuschaffen. In der Notierung der Kurse hätten sich in letzter Zeit »solche Unregelmäßigkeiten und Ungenauigkeiten ergeben, daß daraus ernste Besorgniß für den redlichen Verkehr entstanden« sei.67 Mit dieser Diagnose begründete die Frankfurter Handelskammer ihr Vorhaben, das dem Berliner Beispiel folgte, ein offizielles BörsenCoursblatt einzuführen, dessen Notierungen verbindlicher Charakter zukommen sollte. Zu diesem Zweck schloss sich ein Teil der vereideten Wechselmakler zu einem Syndikat zusammen – zum sogenannten »Wechselmakler-Syndikat« der Frankfurter Börse –, das fortan »auf Grund seiner eigenen Wahrnehmungen und der Mittheilungen, die ihm von den beeidigten Maklern während der Börse gemacht worden sind«, das Börsenkursblatt offiziell zu redigieren und, unterschrieben, im Börsensaal anzuschlagen hatte.68 Dieser auf Eindeutigkeit in Sachen Kursnotierung und damit auf Vertrauensbildung unter den Markteilnehmern zielende Vorstoß richtete sich zugleich gegen den Handel mit privaten Kursnotierungen, wie ihn Sulzbach und Berlyn seit Jahrzehnten betrieben hatten; indem er die Deutungshoheit über Kurse bei einer von Börse und Handelsstand autorisierten Instanz verankerte, entzog er zugleich den privaten Kursberichten ihre Legitimation und Orientierungsfunktion.69 Dies unterstrich die Handelskammer auch durch dezidierte Sprachregelungen, denn außer dem »allein offiziellen Börsen-Coursblatte« sollte es »keinem sonstigen Unternehmer gestattet [sein], einem Courseblatte den Namen ›Börsen-Coursblatt‹ beizulegen.«70 Die etablierten Herausgeber von Kursblättern liefen gegen dieses Verbot 66 Frankfurter Jahrbücher, Nr. 9, 10.3.1836, S. 47. 67 Handelskammer (Frankfurt a. M.) an Reichnei- und Rentenamt, 28.12.1850, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 1853, Bl. 2. 68 Vgl. §§ 10 und 11 der »Syndikats-Ordnung der beeidigten Wechsel-Makler zu Frankfurt am Main« vom 19.12.1850, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 1853, Bl. 3. 69 Scholten, S. 22 f. 70 Ebd., § 14.

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Sturm. Berlyn wandte sich Hilfe suchend an das städtische Rechnei-Amt. Das neue Kursblatt habe ihm große Verluste zugefügt, klagte er.71 Doch der Engere Rat der Stadt, der sich mit der Angelegenheit befasste, lehnte jedes Einschreiten ab.72 Auch Sulzbach erhob Beschwerde. Er habe als Wechsel-Sensal den gleichen Eid geleistet, wie die Herren, die das Kursblatt redigierten, und »insofern ist mein Börsencoursblatt gerade so officiell wie das des Syndikats auch.« Dem Maklerzusammenschluss warf Sulzbach überdies vor, keinen anderen Zweck zu verfolgen, als »mein seit vielen Jahren in Ehren bestandenes Börsencoursblatt […] offiziell aufzuheben und mich in meiner ökonomischen Stellung zu beeinträchtigen.« Er verlangte vom Reichneiamt, dies ein überaus findiger Schachzug, dass folglich keines der Blätter das Prädikat »offiziell« tragen solle.73 Tatsächlich war man in der städtischen Verwaltung, nun da man sich näher mit jenem Prädikat beschäftigte, das mittlerweile den Titel gleich mehrerer Kursblätter zierte, irritiert, und sah sich zu einer Klarstellung genötigt. Keines der öffentlichen Börsenkursblätter habe, erklärte das Rechnei-Amt, »den Charakter einer öffentlichen Urkunde«, da diese lediglich auf Privatunternehmungen beruhen. Die Bezeichnung »offiziell«, die das Maklerkursblatt trage, solle nur andeuten, dass dieses »unter Autorität der den hiesigen Handelsstand repräsentirenden Handelskammer redigirt und ausgegeben wird«.74 Die Handelskammer verlangte nun ihrerseits, das Amt möge gegen die Verwirrungen einschreiten, die Sulzbach und Berlyn durch ihre Kursblätter mit dem Zusatz »offiziell« stifteten.75 Der Rat der Stadt beschied jedoch wenig später ernüchternd: Da das Syndikat auf dem Wege der freien Vereinigung zusammen gekommen sei, beträfen seine Bestimmungen nur jene, die dieser Vereinigung beigetreten seien. Man könne Sulzbach und Berlyn daher die Herausgabe ihrer Blätter nicht verbieten. Die Bezeichnung »offiziell« komme eigentlich weder der einen noch der anderen Partei zu.76 Mochte ein solcher Beschluss den Maklern Sulzbach und Berlyn auch einen Etappensieg beschert haben, die Zeit spielte doch gegen das Medium der privaten Börsenkursblätter. Denn mit der Einführung der Börsenrubrik und des Handelsteils als Bestandteile der Tageszeitung seit den 1850er Jahren war ein Börsenkursdienst in einer Aktualität und ohne hohe Kosten für jedermann zu haben, mit dem Makler kaum konkurrieren konnten. So wurden mit dem Übergang der Kurspublikation in das Medium der Zeitung Finanzinformationen für ein breites Publikum erschwinglich. Kostete der Hertel’sche Coursbericht in den 71 Eingabe vom 11.1.1851, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 1853, Bl. 4. 72 Beschluss vom 16.1.1851, ebd. 73 Eingabe, 4.2.1851, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 1853, Bl. 5. 74 Amtsblatt der freien Stadt Frankfurt, Nr. 25, 27.2.1851. 75 Handelskammer (Frankfurt a. M.) an Rechnei-Amt, 9.3.1851, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 1853, Bl. 6. 76 Beschluss vom 3.4.1851, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 1853, Bl. 7. – In dieser terminologischen Debatte kommt zugleich die Bedeutung von Vertrauen im Markthandeln zum Ausdruck, das das Prädikat »offiziell« befördert zu haben scheint.

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1850er Jahren pro Quartal neun Thaler, so lag der Abonnementspreis der 1855 gegründeten, zwei Mal täglich erscheinenden Berliner Börsen-Zeitung bei lediglich zwei Thalern und 15 Silbergroschen.77 So wichtig der Beitrag von Börsenkursblättern zur Etablierung einer Preisöffentlichkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch war, zur Unterrichtung eines Massenpublikums, wie es seit den späten 1830er Jahren immer häufiger an den Finanzmärkten begegnete, mussten diese Medien ungeeignet erscheinen. Dies lag nicht nur an ihren vergleichsweise hohen Bezugspreisen. Auch in ihrer technischen Sprache waren sie nur jenen geistig zugänglich, die über Vorkenntnisse im Börsenwesen verfügten, welche die jeweiligen Handelsusancen, Notierungsweisen und geläufigen Abkürzungen kannten. Ihre Adressaten waren primär professionelle Marktakteure, ihre Auflage und Reichweite blieb entsprechend gering.78 Ein Handbuch für Kapitalisten skizzierte die Rezipienten 1849 folgendermaßen: »Da nun bei denen, für welche diese Courszettel zunächst bestimmt sind, nämlich bei Bankiers und Kaufleuten, die nöthige Kenntnis hiervon vorausgesetzt wird, so sind sie in der Regel nur kurz abgefasst und nur einzelne enthalten ausnahmsweise nähere Angaben darüber, wie oder wofür die bemerkten Course zu verstehen sind.«79 Doch es war gerade dieses Wie, das immer mehr unerfahrene Anleger interessierte und das das Aufkommen einer Finanzberichterstattung stimulierte, die im Medium der Maklerberichte nicht zu verwirklichen war. Kommunikationsverdichtung und Aufstieg der Zeitung als Finanzmedium Zeiten der Spekulation waren immer auch Zeiten kommunikativer Verdichtung und Beschleunigung. Hohe Gewinne im Börsenhandel erwarteten häufiger denjenigen, der als erster in den Besitz einer wichtigen Nachricht gelangte, um sie sodann am Mark geschäftlich zu verwerten. Das Haus Rothschild, so will es eine im Europa des 19.  Jahrhunderts weithin bekannte Legende, habe sein Vermögen dadurch erzielt, dass es wenige Stunden vor seinen Kontrahenten über den Ausgang der Schlacht bei Waterloo informiert gewesen sei. Diesen Wissensvorsprung ermöglichte kein technisches Objekt, sondern ein Tier: eine Brieftaube, die Rothschild zur Beförderung der begehrten Nachricht eingesetzt habe.80 Seit den 1820er Jahren, vor allem aber mit Anbruch des Eisenbahnzeitalters, stieg die Zahl derer, die, wie wir gesehen haben, sich zumindest zeitweise und in der Hoffnung auf schnellen Gewinn an den Finanzmärkten betätigten. Längst nicht mehr befanden sich unter ihnen allein die erfahrenen Händler des Frankfurter oder Berliner Finanzdistrikts, sondern ebenso Privat77 Bertkau, S. 10. 78 In der »Nachweisung der in Berlin erscheinenden politischen und in politischer Beziehung erheblichen Zeitungen und Zeitschriften«, 31.8.1854, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr.  14410, Bl.  29–31, wird die Zahl der durch die Post expedierten Exemplare wie folgt angegeben: »Hertelscher Coursbericht« 118 Ex.; der »Berliner Börsen-Bericht« des Maklers Cohn 22 Ex.; »Berliner Cours-Anzeiger« 67 Ex. 79 Schick, S. 67. 80 Liedtke, S. 77 f.; Ferguson, Propheten, Bd. 1, S. 31 f.

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personen unterschiedlichster sozialer Herkunft und Erfahrung in Sachen Kapitalanlage. Mit dieser Entwicklung musste aber auch das Bedürfnis nach Finanzinformationen und die Erwartungen an ihre Aktualität und Periodizität steigen, mussten sich aber auch die Ansprüche an die Präsentation finanzieller Inhalte verändern. Schon der Verfasser eines 1836 erschienenen Ratgebers, der im Titel seiner Schrift die Frage stellte Ist es vortheilhaft, sein Geld in Actien anzulegen?, wusste: »Wer endlich im Stande ist, den Lauf der Weltbegebenheiten und die Verkettung aller Umstände in dem Grade zu überblicken, daß er im Voraus zu erkennen vermag, ob und wann der Preis einer Actie steigen oder fallen werde; ein Solcher kann aus Speculation und mit der Absicht, im günstigen Augenblick zu kaufen, zur rechten Zeit aber auch wieder zu verkaufen, sein Geld mit Vortheil in Actien anlegen.«81 Erste Versuche, im Medium der Zeitung diesen Bedürfnissen der Markteilnehmer nachzukommen, ließen nicht lange auf sich warten. Im September 1836 entstand mit der bei Friedrich Wilmans verlegten Frankfurter Börsen-­Zeitung erstmals ein Presseorgan, das sich primär Börsenangelegenheiten widmete.82 Es warb mit Korrespondenzen aus London und Paris, und suchte sich bei seiner Kundschaft besonders durch seine Aktualität hervorzutun, wenn es betonte: »Die neuesten Nachrichten der Börsen-Zeitung haben durch Handels-Verbindungen oft 24 Stunden Vorsprung vor den übrigen Main- und Rheinzeitungen, wodurch besonders im Norden und Osten Deutschlands den Interessenten derselben ein wesentlicher Vorteil geboten wird.«83 Dem Unternehmen war allerdings keine lange Lebensdauer beschieden, es endete nach nur wenigen Monaten, Anfang 1837, in einem finanziellen Fiasko. Offensichtlich standen die Kosten für ein derartiges Unternehmen in keinem Verhältnis zu seinen Einnahmen; noch war die kritische Masse der Subskribenten nicht erreicht, die ein solches Blatt erst rentabel gemacht hätte; noch minimierten staatliche Restriktionen (Stempel- und »Conceptions«-Abgaben) die Erfolgschancen solcher Unternehmungen.84 Seit dem Aktienboom Ende der 1830er Jahren verlagerte sich die finanzielle Kommunikation in Deutschland zunehmend in das Medium der Presse. Wer die Tageszeitung aufschlug, dem begegneten darin immer häufiger Berichte über neugründete Eisenbahngesellschaften, über tumultuarische Szenen an den Zeichnungsstellen und Rekordnotierungen auf den Aktienmärkten. Diese Präsenz finanzieller Themen darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Redaktionen sich noch verhältnismäßig wenig auf diesem Gebiet betätigten. Ihre Eigenleistung war gering, und es mangelte ihnen an sachkun81 Pons, S. 95. 82 Gründer des Blattes war Karl Gutzkow, der aufgrund politischer Verfolgung nicht verantwortlich zeichnen konnte. An seiner Statt firmierte der Kaufmann Wilhelm Speyer, die Leitartikel schrieb Gutzkow anonym, s. Gutzkow, S. 85 f., 542. 83 Anzeige in der Allgemeinen Zeitung, Nr. 342, 7.12.1836. 84 Vgl. den internen Schriftwechsel des Reichnei-Amtes, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 3208, Bl. 1–11.

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digem Personal, das die Vorgänge auf dem Finanzsektor hätte beurteilen können. Redaktionen beschränkten sich zumeist auf den kritiklosen Abdruck der ihnen zugegangenen Korrespondenzberichte, die zum Teil selbst von Kaufleuten und Bankbeamten verfasst worden waren und denen es daher zwangsläufig an Distanz zu ihrem Gegenstand fehlen musste.85 Die Eisenbahn-, Aktien- und Börsenspalten der Zeitung dienten damit weniger öffentlichen oder Anlegerinteressen als vielmehr dem geschäftlichen Interesse von Eisenbahnunternehmern und Kaufleuten, die sie entsprechend zu benutzten suchten. Für jene bildete die Presse, wie ein Beobachter bemerkte, »nun noch eine neue Waffe für ihre Kämpfe« um das Kapital der Anleger. »Zeitungs-Artikel (natürlich bezahlte) mußten hier beweisen, wie diese oder jene Bahn den außerordentlichsten Personen- und Güter-Transport hätte oder haben würde, wie sich von ihr eine bedeutende Dividende voraussehen ließe, folglich ihre Aktien noch lange nicht hoch genug ständen«.86 Wenn sich Zeitungen den Vorgängen an den Börsen einmal kritisch zuwandten, dann war die Kritik nicht fachlicher, sondern moralischer Art. Für die Kölnische Zeitung waren die Vorgänge an den Aktienmärkten nur Ausdruck einer »fieberhafte[n] Wut nach Geld«, die sich eines beträchtlichen Teils des Volkes bemächtigt habe. »Sie wollen erwerben, ohne zu arbeiten, sie wollen im Fluge reich werden, wollen genießen, ohne sich anzustrengen, und treten in ihrem Rennen und Haschen nach Gold allen Anstand und alle Solidität mit Füßen. […] Es ist noch schädlicher, weil es alle Kreise der bürgerlichen Gesellschaft ansteckt […]. Da geht jedes höhere Streben unter, da wird nur an Geld gedacht, da wird alles, Vermögen und Familienglück, auf ein Stück Papier gesetzt.«87 Zeitungen, die das öffentliche Interesse an finanziellen Themen zu bedienen suchten, sahen sich der Kritik ausgesetzt, den Börsenexzessen nur noch weiteren Vorschub zu leisten. »[D]er Zeitungslesende Fabrikant, Rentier, Privatmann wurde mehr und mehr für das Aktienwesen interessirt, er nahm Parthei und wurde bald selbst in steigender Progression Anfangs Aktienkäufer, dann Aktienspekulant«, so lautete die Dekadenzerzählung, die den Wertpapierbesitzer unweigerlich vom Anleger zum Glücksspieler herabsinken sah.88 Ungeachtet solcher moralischer Vorbehalte gegen das Börsenwesen setzten Zeitungen seit den 1840er Jahren alles daran, ihre Kursberichterstattung auszubauen. Während sich die Kölnische Zeitung in ihren Leitartikeln über die Spielsucht am Aktienmarkt ereiferte, schloss ihr Verleger Joseph DuMont noncha­lant einen Vertrag mit dem Betreiber einer Brieftaubenpost, der Pariser Börsennachrichten durch Tauben nach Brüssel und von da nach Aachen befördern sollte. Dort erreichten sie einen passenden Zug der Rheinischen Eisen85 So Leiskow, S. 20, 24 f., der rund ein Dutzend Zeitungen für die Jahre zwischen 1838 und 1844 ausgewertet hat. 86 Lesser, S. 8. 87 Kölnische Zeitung, 29.2.1844, zit. n. Leiskow, S. 21. 88 Lesser, S. 9. – Zur zeitgenössischen Kritik an Spekulation und am »unproduktiven Börsenspieler« vgl. Engel, S. 53 f.

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bahn nach Köln. »Die Zeitung erhielt auf diese Weise die Schlußkurse der Pariser Börse […] regelmäßig binnen 16 Stunden von Paris, während die Eisenbahnbeförderung mehr als das Doppelte dieser Zeit in Anspruch nahm.«89 Zeitungsmacher betrachteten die Börsenberichterstattung weniger unter moralischen als unter geschäftlichen Gesichtspunkten. Zum einen registrierten sie die wachsende Nachfrage nach Finanzinformationen, weshalb eine verbesserte Kursberichterstattung der Absetzbarkeit ihres Zeitungsprodukts und damit dem eigenen Geschäftsinteresse nur förderlich erscheinen konnte. Doch auch im Interesse des Gemeinwesens schien ein Ausbau der Börsenberichterstattung durch die Presse gerechtfertigt. Denn die Presse leiste der Handelswelt wichtige Dienste, wie der Gründer einer Börsen-Korrespondenz 1857 betonte. »[S]ie hat den Kreis der Teilnehmer erweitert, und ein allgemeines Interesse für das Geschäftsleben selbst in den Sphären angeregt, in denen dieser bürgerliche Beruf noch jüngst geringer Achtung sich zu erfreuen hatte. Ob der Aufschwung des Geschäftslebens die gesteigerte Tätigkeit der Presse hervorgerufen, ob diese jenen vorbereitet hat: gleich viel.«90 * Bis 1850 konnte sich in Deutschland eine Preisöffentlichkeit weitestgehend etablieren, deren Leitmedien lokale Kurszettel, Maklerberichte und später die Tagespresse bildeten. Immer mehr Menschen waren so über die Marktlage, wie sie sich in Kursen ausdrückte, informiert, was zugleich die Hemmschwelle, selbst am Marktgeschehen zu partizipieren, gesenkt haben dürfte. Die Erweiterung des Finanzpublikums und die Intensivierung öffentlicher Finanzkommunikation müssen daher als ein sich wechselseitig bedingender Prozess verstanden werden. Die Proliferation finanzieller Informationen oblag vor 1850 noch weitgehend den professionellen Marktakteuren wie etwa Maklern und Bankiers. Finanzberichterstattung war damit noch nicht Teil  des journalistischen Feldes, und redaktionelle Eigenleistungen im finanziellen Segment nur rudimentär vorhanden. Seit den 1850er Jahren sollte sich dies, wie wir im Folgenden sehen werden, grundlegend ändern.

89 Buchheim, Geschichte, Bd. 2, S. 121 f. – Die britische »Times« bediente sich seit 1837 der Taubenpost zwischen Paris und Boulogne, um schneller an europäische Börsenkurse zu gelangen, s. Storey, S. 10. 90 Berliner Börsen-Correspondenz, Nr. 1, 2.1.1857, S.1.

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Abb. 1: »Hertel’scher Coursbericht« vom 19. April 1832 (Quelle: Berghoff, Kapitalmarkt, S. 54)

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Abb. 2: »Frankfurter officielles Börse-Coursblatt« des Abraham Sulzbach. Ausgabe vom 1. März 1851 (Quelle: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, aus: Rechnei nach 1816, Nr. 1853)

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Abb. 3: »Coursblatt von S. Berlyn« vom 15. Juni 1852 (Quelle: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, aus: Rechnei nach 1816, Nr. 1853)

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II. Von den ersten Börsenzeitungen bis zur »Großen Depression«: Die Formierung des Finanzjournalismus (1850–1879) 1. Programm und Praxis des Finanzjournalismus »Die Zahl derjenigen, deren Wohlstand und Existenz von den Vorgängen und den vorherrschenden Neigungen auf der Börse unserer Hauptstadt abhängig ist, wird täglich grösser, und das Bedürfnis nach genauen Nachrichten von daher steigt natürlich in gleichem Maße. Diesen Interessenten kann die Privatcorrespondenz keine Befriedigung gewähren […]. Nur die Presse ist fähig, ein so grosses Publikum schnell und gleichmässig zu informieren und den unparteiischen Standpunkt eines gewissenhaften Beobachters und getreuen Berichter-statters unverrückbar einzunehmen.« Berliner Börsen-Correspondenz (1856)

Zur Jahrhundertmitte veränderte sich die Finanzkommunikation in Deutschland nachhaltig. Mit der Bank- und Handelszeitung (1853), dem Aktionär (1854), der Berliner Börsen-Zeitung (1855), Frankfurter Handels-Zeitung (1856) und­ Berliner Börsen-Correspondenz (1857) entstanden in den 1850er Jahren erstmals Medien, die einen öffentlichen Diskurs über finanzielle Themen dauerhaft organisierten und durch redaktionelle Eigenleistungen stimulierten. Durch sie sah sich zugleich die Tagespresse herausgefordert, die die Finanzberichterstattung bis dahin eher nachrangig behandelt hatte. Sie begann mit dem Aufbau eigener Handels- und Börsenteile, stellte Redakteure eigens auf dieses Themengebiet ab und entsandte Reporter an die örtlichen Börsen. Dieser Übergang finanzieller Kommunikation in einen journalistischen Produktionsmodus markiert den Beginn der Geschichte des Finanzjournalismus in Deutschland. Dass sich diese Transformationen in den 1850er Jahren vollziehen konnten, ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Ganz zweifellos spielten neue technische Möglichkeiten eine wichtige Rolle, wie sie z. B. seit Ende der 1840er Jahre mit der elektrischen Telegrafie bereit standen (wir werden dies später noch genauer verfolgen). Ebenso aber wäre die zaghafte rechtliche Liberalisierung im Verlags- und Pressegewerbe zu nennen, die als Erbe der 1848er-Revolution fortwirkte und die ökonomische Basis von Zeitungsunternehmen nicht mehr so 61

stark belastete, wie dies vorher der Fall gewesen war.1 Doch vor allem war es die fortschreitende Marktvergesellschaftung, stimuliert durch eine »Demokratisierung« der Staatsanleihe mittels immer kleinerer Stückelung und öffentlichem Subskriptionsverfahren2, einen neuerlichen Boom im Aktienemissionswesen3 und die »banking revolution« der 1850er Jahre4, die ab einem bestimmten Punkt jene kritische Masse von Anlegern und damit potentiellen Lesern hervorbrachte, die die Herstellung und Bereitstellung finanzjournalistischer Produkte für Zeitungsunternehmer rentabel erscheinen ließ. Gleichzeitig aber dürfte die mediale Präsenz finanzieller Themen ihrerseits zur Marktvergesellschaftung beigetragen habe. Aus Lesern wurden Anleger. Gesellschaftswandel und Medienwandel standen damit, wie bereits Kapitel I nachgezeichnet hat, in einem komplexen, wechselseitigen Bedingungsverhältnis. 1.1 Medien des Vertrauens? Finanzzeitungen und die Unsicherheit der Märkte Am Anfang finanzieller Berichterstattung in Medien stand das Versprechen an den Leser, seine Investitionsentscheidungen durch regelmäßige Lektüre der Presse auf eine sichere, durch Zahlen-, Fakten- und Erfahrungswissen fundierte Grundlage zu stellen. Dieses Versprechen wirkte umso verheißungsvoller in Zeiten, da die Zahl verfügbarer und gehandelter Finanzprodukte sprunghaft zunahm, sich Geschäftsbeziehungen generell internationaler und damit auch anonymer gestalteten. Die ersten Börsen- und Finanzzeitungen standen nicht zuletzt am Beginn einer Epoche der »Eskalation der Unsicherheit«, wie Hartmut Berghoff pointiert formuliert hat, und stießen damit in jene Lücke des Defizits an Orientierung und Vertrauen, die sich mit der anbrechenden Phase

1 Ähnlich hat Scholten, S. 17–21, als Gründe für die Entstehung des Handelsteils in der Tagespresse ins Feld geführt: die Aufhebung staatlicher Restriktionen wie der Vorzensur, technische Innovationen sowie das Abnehmen der Widerstände in den Kaufmannschaften. 2 Vgl. hierzu knapp Rosenberg, Weltwirtschaftskrisis, S. 48–56. – Wer wenigstens 10 Thaler aufbringen konnte, kam 1848 in den Genuss einer mit 4,5 Prozent verzinsten Anleihe Preußens, für 20 Gulden (ca. 13 Thaler) winkte dem Investor ein Papier der 5-prozentigen National-Anleihe Österreichs (1854), für 25 Dollar (ca. 38 Thaler) wurde er zum Gläubiger der USA, die auf ihre Anleihe von 1862 sogar 6 Prozent Zinsen gewährten, Angaben nach Swoboda, S. 258, 275, 292. 3 Vgl. Rießer, S. 35, 109; zusammenfassend Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 68–81. 4 So Cassis, S.  42.  – Die bedeutendsten unter ihnen waren die Disconto-Gesellschaft (1851, Berlin), die Bank für Handel und Industrie (Darmstadt, 1853) sowie die Berliner Handelsgesellschaft (1856). In einer zweiten Gründungswelle entstanden schließlich die sogenannten »Universalbanken«, die Commerz- und Disconto-Bank (1870) und Deutsche Bank (1870), Dresdner Bank (1872), mit denen die unternehmensspezifische Trennung zwischen Kontokorrentgeschäft und Investmentgeschäft aufgehoben war. – Einen Überblick und weiterführende Literaturhinweise liefern Burhop, Wirtschaftsgeschichte, S. 170 ff. und Merkt.

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finan­zieller Globalisierung aufgetan hatte.5 Die Akteure des sich formierenden finanzjournalistischen Feldes traten daher mit dem ambitionierten Programm vor ihr Publikum, die »wahrscheinlichen Aussichten für die Zukunft« zu enthüllen; nicht nur Gegenwartsdiagnosen wollte man liefern, wie sie die Börsenkurstabellen der Makler versammelten, sondern dem Leser begründete und sachliche Prognosen für künftige Entwicklungen an die Hand geben.6 Realismus und Utopie lagen dabei eng beieinander und dementsprechend waren auch die Grenzen zwischen seriöser Prognostik und waghalsiger Prophetie fließend. Aktualität, Objektivität und Vollständigkeit Auf Zeitungsgründer schien das wirtschaftsliberale Klima, das sich nach 1850 in schroffem Gegensatz zur politischen Großwetterlage verbreitete, attraktiv gewirkt zu haben, und sie nutzten es, um den Pressemarkt mit ihren neuen Produkten zu betreten.7 Niemals zuvor, so schien es ihnen, waren so viele, sozial so unterschiedlich gestellte Personen in Operationen des Finanzsektors verwickelt, niemals zuvor zeigten sich aber auch die traditionellen Medien und Kommunikationsformen als so wenig geeignet, den Informationsbedürfnissen des Finanzpublikums zu genügen. Denn nicht nur die Quantität der nachgefragten Informationen hatte beträchtlich zugenommen, auch an ihre Qualität, Aufbereitung und Präsentation wurden nun ganz neue Erwartungen gestellt. Die persönlichen Geschäftsinteressen der Zeitungsmacher vermengten sich mit dem (vorgeblich) altruistischen Ansinnen, die Position der Effektenbesitzer durch die Herausgabe öffentlicher Organe gegenüber den Emittenten zu verbessern. Man fühle, schrieb die Berliner Börsen-Zeitung 1856, »die hohe Verantwortlichkeit, aber auch die Größe und Schwere unseres Berufs, dem Publikum nach Kräften mit ein Führer zu sein in diesem Labyrinth von Plänen, die unter verlockenden Namen und oft trügerischen Auspicien vor die Öffentlichkeit treten […]«.8 Für Zeitungsmacher bestand ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen dem Anwachsen des Anlegerpublikums und einer steigenden Nachfrage nach Finanzinformationen. »Die Zahl derjenigen, deren Wohlstand und Existenz von den Vorgängen und den vorherrschenden Neigungen auf der Börse unserer Hauptstadt abhängig ist, wird täglich grösser«, schrieb die Berliner Börsen-Correspondenz und schlussfolgerte: »das Bedürfnis nach genauen Nach5 Siehe hierzu generell Berghoff, Zähmung, das Zitat findet sich auf S. 146 f. – Zum Vertrauen als Schlüsselkategorie wirtschaftlichen Handelns vgl. Fiedler; Frevert, S. 104–146. 6 So die Ankündigungen in den Prospekten der Berliner Börsen-Zeitung, 1.6.1856, und des Aktionärs, [Nov. 1853], LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Tit 95, Sect. 4, Nr. 14789, Bl. 3 und IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 3244. 7 So vergaß etwa der in Frankfurt erscheinende »Aktionär« in seinem Gründungsprospekt nicht, darauf hinzuweisen, dass Frankfurt »mit Begründung einer Bank noch solidarischer auf den Geldmarkt Europas [tritt] und […] dann in seinen Operationen den Fragen höherer Finanz- und Handelspolitik noch weniger fremd bleiben [kann] als seither.« Prospekt, [Nov. 1853], IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 3244. 8 Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 63, 3.3.1856.

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richten von daher steigt natürlich in gleichem Maße.« Die Privatkorrespondenz könne hier keine Befriedigung gewähren, »schon um deswillen nicht, weil der Stoff zu umfangreich ist, und eine sorgfältigere Behandlung verlangt, als eine Privatperson neben ihren Geschäften ihm zuwenden kann.« Entscheidend war aus Sicht des Blattes jedoch noch ein anderer Punkt. Ein Geschäftsmann, hieß es weiter, der selbst an der Börse tätig sei, könne kaum im Stande sein, »sich von den Interessen frei zu halten, welche er beim Feststellen der Preise hat, und noch weniger von dem Einflusse, welchen das lebhafte Tagesgeschäft auf ihn ausübt«. Der Privatkorrespondenz, wie sie etwa von Bankiers in Form sogenannter Geschäfts- oder Börsenberichte an ihre Kundschaft versandt wurde, mangelte es also an zwei wesentlichen Merkmalen: sie war weder umfangreich noch objektiv genug, um dem Privatanleger eine sichere Entscheidungsgrundlage zu bieten. »Nur die Presse«, so betonte die Börsen-Correspondenz, »ist fähig, ein so grosses Publikum schnell und gleichmäßig zu informieren und den unparteiischen Standpunkt eines gewissenhaften Beobachters und getreuen Berichterstatters unverrückbar einzunehmen.«9 Im Unterschied zum politischen »Gesinnungsjournalismus« firmierten Objektivität und Unparteilichkeit damit von Anbeginn als Qualitätsnormen finanzjournalistischer Kommunikation.10 Die durch die Presse suggerierte »Demokratisierung« von Finanzinformationen dürfte eine hohe Anziehungskraft auf Investoren besessen haben, verhieß sie doch nicht weniger, als dass auch diejenigen, die bei der Kapitalanlage einen strukturellen Informationsnachteil zu gewärtigen hatten, potentiell auf Augenhöhe stehen konnten mit den vermeintlich »Eingeweihten« der Finanzmärkte, den Gründerkonsortien von Aktiengesellschaften, den Finanzbeamten oder Privatbankiers.11 Der »kleine Capitalist« sei darauf angewiesen, in »Zeitungsblättern Belehrung zu suchen«, gerade weil ihm »jene Verbindungen mit einflussreicheren Persönlichkeiten, jene blitzschnellen Mittheilungen verläßlicher Correspondenten und Associés auf allen Punkten des Erdballs nicht zu Gebote [stehen], wie den Männern, die über Millionen gebieten.«12 Doch auch das, was man bisher in privaten oder öffentlichen Medien über Finanzthemen berichtet, die Art und Weise, wie man es präsentiert hatte, schien den Ansprüchen der Rezipienten längst nicht mehr zu genügen und einem Markthandeln, das sich in schrumpfenden Zeithorizonten vollzog, alles andere als zuträglich. Wir haben bereits an anderer Stelle gesehen, dass Spekulationsgeschäfte, deren Techniken der Terminhandel und das Ultimogeschäft waren, ihrem Betreiber 9 So das Blatt in seinem Gründungsprospekt vom November 1856, GStA PK, I.HA, Rep. 77, tit 54a, Nr. 27, Bl. 5 f. 10 Diese Traditionslinie der Unparteilichkeit im deutschen Journalismus hat Schönhagen in ihrer Studie herausgearbeitet. 11 Vgl. hierzu generell und in Anlehnung an die Prinzipal-Agent-Theorie der Wirtschaftswissenschaften Borchardt, Einleitung, S. 35–39. 12 Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 57, 1856, zit. n. Bertkau, S. 9. – Zu den Nachrichtenkanälen der Rothschilds, die jedermann zugängliche ›neue Medien‹ wie den elektrischen Telegrafen tatsächlich als Bedrohung ihres Informationsmonopols sahen, siehe ausführlich Liedtke.

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stetige Fühlungnahme mit dem Marktgeschehen abverlangten. Das Verhältnis des Anlegers zur Zeit hatte sich so grundlegend gewandelt und sein Handeln war nun von den neuen Erfordernissen bestimmt, »jeden Tag und schleunigst auf dem Laufenden gehalten zu werden«, wie die Frankfurter Zeitung formulierte.13 Längst vorbei schienen in den 1850er Jahren daher die Zeiten, in denen ein Wertpapier »ohne die geringste Rücksicht auf das Steigen oder Fallen der Course mit anderen wichtigen Familiendocumenten in der eisernen Truhe wohlverschlossen durch Generationen aufbewahrt blieb, und nur in jenen feierlichen Momenten das Tageslicht erblickte, wo laut sorgfältig geführter Kalendervormerkung der Coupon abzuschneiden kam.«14

Mit dem Effektenkauf war der Kapitalanleger, ob er wollte oder nicht, den Zeitstrukturen einer Ökonomie ausgeliefert, die denen seiner Lebenswelt oft diametral entgegengesetzt waren. Selbst wöchentliche Börsenberichte, »wie sie gegenwärtig vielfach beliebt werden«, genügten nach Meinung der Berliner­ Börsen-Zeitung dem Bedürfnis der Gegenwart in keinerlei Weise. »Denn es handelt sich eben vor Allem darum, die täglich wandelnden Gestaltungen des Verkehrs nebst den darauf einwirkenden Momenten in einer ununterbrochenen nebenher gehenden Weise darzustellen und zu prüfen.«15 Die Situation, in der sich Finanzakteure befanden, entbehrte nicht einer gewissen Paradoxie: Die Beschleunigung des Handels hatte einerseits dazu geführt, dass immer mehr Informationen in immer kürzeren Zeitabständen verarbeitet werden mussten, dass hierzu aber andererseits immer weniger Zeit übrig blieb und daher die heraufbeschworene Informationsflut ihrerseits reduziert werden musste. Mit einer effizienten, auf rein praktische Bedürfnisse zielenden Organisation des Stoffes versuchten sich Finanzzeitungen daher von anderen Medien abzugrenzen. »Ohne alle Theorie« wolle man auskommen, erklärte der Frankfurter Aktionär in seinem Gründungsprospekt. »Nationalökonomische Blätter mit raisonnierenden Artikeln sind Nichts für die grosse Mehrzahl der Geschäftsleute, die nicht Zeit zum Lesen derselben haben«, und sie fänden für ihr »rein praktisches Bedürfnis« darin auch keine Befriedigung.16 Ähnlicher Ansicht waren Zeitungsmacher auch am Berliner Platz. Die Berliner Börsen-Correspondenz warb damit »in dem Börsen-Teile so umfangreich und klar gefasst zu sein, dass die hiesigen Beteiligten, welche keine Zeit haben, täglich die Börse zu besuchen, sowie die Auswärtigen den Nachteilen, welche die Abwesenheit von der Börse sonst mit sich zu führen pflegt, so wenig wie möglich unterworfen sein sollen.«17

13 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 19. 14 Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 57, 1856, zit. n. Bertkau, 75 Jahre, S. 9. 15 Prospekt, 1.6.1855, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Tit 95, Sect. 4, Nr. 14789, Bl. 3 (H. d. V.). 16 Prospekt, [Nov. 1853], IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 3244. 17 Prospekt, Nov. 1856, GStA PK, I.HA, Rep. 77, tit 54a, Nr. 27, Bl. 5 f.

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Neben der Bereitstellung von Fakten  – Zahlen und Ereignisse  – sollte zugleich deren Interpretation gewagt werden: Ursachen sollten benannt, Erklärungen geliefert und Prognosen gegeben werden, um damit dem »wahren Werth der verschiedenen Effecten« näher zu kommen.18 Kursstände und Zahlen sprachen nicht mehr für sich selbst, sondern erschienen nun als deutungsbedürftig. Was von den Geschäften an der Börse verlaute, gab die Berliner Börsen-Zeitung zu bedenken, reduziere sich mehr oder minder auf die Zahlen des offiziellen Kursberichts, »die wohl ein Bild von den Coursbewegungen von einem zum andern Tage« geben könnten, dagegen über die Gründe, welche das Geschäft bestimmten und beherrschten, »fast vollständig im Unklaren« lassen.19 So versprach das Blatt seinen Lesern nicht weniger als »eine genaue Darstellung der momentanen Sachlage wie der Ursachen, durch welche dieselbe herbeigeführt wurde, und endlich der wahrscheinlichen Aussichten für die Zukunft«.20 Auch der Aktionär wandte sich kritisch gegen den Kurszettel. Seiner »todten Zahlengruppierung«, bemerkte das Blatt, fehle »das thatsächliche Material des Lebens, aus dem sie hervorgegangen.« Bei der ungeheuren Verbreitung der Wertpapiere, »wie sie Gegenstand des internationalen Börsenverkehrs, eine gewöhnliche Capitalsanlage von Privatpersonen, ein ganz ansehnliches Objekt des National-Vermögens und des Handels geworden sind«, dürfe ein Organ nicht fehlen, das regelmäßig und zuverlässig informiere und so die Spekulation auf einen »positiven Grund« stelle.21 Konsolidierung und Verdichtung finanzjournalistischer Kommunikation Die Finanzzeitungen der ersten Gründungswelle in den 1850er Jahren konnten sich fast ausnahmslos auf dem Pressemarkt etablieren und bestanden in der Regel bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts fort.22 Schon dieser Umstand schien die von Zeitungsmachern geäußerte Diagnose einer Dringlichkeit journalistisch organisierter Finanzberichterstattung zu bestätigen. Einige dieser Finanzzeitungen, wie die Frankfurter Handels-Zeitung, wandelten sich mit den Jahren zu politischen Tagesblättern und hatten damit Prägekraft weit über den finanziellen Diskurs des Landes hinaus. Andere, wie der Aktionär, verblieben in der Nischenposition einer spezialisierten Fachzeitung und verloren mit den Jahrzehnten an Bedeutung und Einfluss. Während einige Blätter im Wandel der Zeit gleichwohl programmatische Kontinuität zeigten, wurde das Profil anderer durch unzählige Besitzerwechsel immer unkenntlicher. Die Bank- und­

18 Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 57, 1856, zit. n. Bertkau, S. 9. 19 Berliner Börsen-Zeitung, 1.7.1865, zit. n. Bertkau, S. 10. 20 Prospekt, 1.6.1855, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Tit 95, Sect. 4, Nr. 14789, Bl. 3. 21 Prospekt, [Nov. 1853], IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 3244. 22 Die »Bank- und Handelszeitung« erschien bis 1915, der »Aktionär« bis 1922, die »Berliner Börsen-Zeitung« bis 1940. Lediglich die »Berliner Börsen-Correspondenz« stellte ihr Erscheinen bereits nach wenigen Jahren ein.

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Handels-Zeitung etwa erlebte bis zu ihrem Ende 1915 mindestens fünf solcher Wechsel und versank zum Schluss in der Bedeutungslosigkeit.23 Periodizität und Auflagenentwicklungen bis in die 1870er Jahre deuten zunächst auf eine Konsolidierung und Verdichtung finanzieller Kommunikation hin. Die Bank- und Handelszeitung, anfangs sogar zweimal täglich ausgegeben, brachte es 1858 auf eine Auflage von ca. 1450 und steigerte diese bis 1871 auf 5500 Exemplare. Zugute dürfte ihr dabei gekommen sein, dass sie 1868 durch Erlass des preußischen Handelsministers in den Rang eines Organs erhoben wurde, das die Behörde zu amtlichen Publikationen benutzen durfte.24 Der Aktionär bewegte sich in den 1860er Jahren bei einer Auflage in der Größenordnung von rund 1400 Exemplaren, verblieb jedoch bei einer wöchentlichen Erscheinungsweise. Die Berliner Börsen-Zeitung verzeichnete den größten Zuwachs. Gestartet mit 1900 Exemplaren (1855) erschien sie 1871 in einer Auflage von 14 100 und lag damit in etwa auf dem Niveau politischer Tageszeitungen. Seit dem 1. Oktober 1856 erschien das Blatt überdies in einer Morgen- und einer Abendausgabe. Die Frankfurter (Handels-)Zeitung, nunmehr umgewandelt in ein politisches Blatt unter dem Titel Neue Frankfurter Zeitung, kam 1863 auf eine Auflage von 3500 Exemplaren und 1866 sogar schon auf ca. 6500, seit dem 1.9.1859 erschien sie überdies drei Mal täglich.25 Bereits im August 1856 hatte man den Abonnementspreis um ein Drittel auf zwei Gulden vierteljährlich gesenkt und signalisierte damit bereits, dass man weit mehr Menschen anzusprechen gedachte, als ursprünglich beabsichtigt und als Scherer es mit seinem Konkurrenzblatt tat, das sechs Gulden pro Quartal kostete.26 Schließlich begannen auch genuin politische Tageszeitungen mit der Einrichtung von Börsen- und Handelsteilen, die zum Teil weit über eine bloße Zahlenreproduktion und den Abdruck der Bekanntmachungen von Aktiengesellschaften, den sog. »Waschzetteln«, hinausgingen, wie dies für die Jahre vor 1850 zu beobachten war. Die National-Zeitung (1848) hatte in den ersten Jahren nach ihrer Gründung lediglich Kursmitteilungen gebracht, die sie im hinteren Teil  der Zeitung neben den Inseraten abdruckte. Bald jedoch forderten ihre Leser in zahlreichen Zuschriften eine grundsätzliche Andersgestaltung der Handelsspalten. Im Mai 1856 entschloss man sich schließlich, einen selb23 Als Besitzer firmierten Theodor Heymann (bis 1878), Julius Matz (seit 1878), Oscar Lange (1888), Walter Mancke (1890), Richard Gersdorf (1898), danach erneut Mancke. Schmalenbach, S. 279, bemerkte 1906, das Blatt habe »schon seit langem eine Färbung bekommen, die ihren Finanzblatt-Charakter gänzlich unkenntlich macht.« Es habe es, ebenso wie der »Aktionär«, nicht vermocht, »den Vorsprung der Zeit, den sie ursprünglich hatten, auszunutzen, sie gehören beide nicht zu den führenden Blättern, nicht einmal innerhalb des engeren Kreises der Finanz-Wochenblätter.« 24 Erlass v. 28.5.1868, GStA PK, I. HA Rep. 120 CB, Nr. 318, Bl. 142). 25 Vgl. für die Berliner Zeitungen die Angaben bei Bertkau, 75 Jahre, S. 12, und die dem Statistischen Bureau von Berlin (1871) entnommenen Zahlen bei Baltzer, S. 71, für Frankfurt das »Conto-Buch für Concessions- und Stempelgebühren«, IfS, Rechneiamt, Bücher, Sign. 694. 26 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 24.

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ständigen Handelsteil unter der Überschrift »Berliner Börsenhalle« einzurichten und zu diesem Zweck eine eigene Handelsredaktion zu gründen. In diese Zeit fallen auch die ersten längeren und ausführlichen Börsenberichte (vgl. Kapitel II. 2.3). Seit 1872 brachte die Zeitung zusätzlich einen Wochenbericht der Berliner Börse, der das zurückliegende Geschehen interpretierte und in größere wirtschaftliche Zusammenhänge einordnete.27 Seine »stärksten Impulse«, so urteilte Otto Groth, erhielt der Handelsteil der Tagespresse in der Gründerzeit seit 1870.28 War der Handelsteil der Frankfurter Zeitung zwischen 1859 und 1866 im Umfang um ca. ein Drittel gestiegen, wuchs er danach so rasch, dass er 1873 allein für seine Artikel fast doppelt so viel Raum beanspruchte wie 1859 das ganze Blatt.29 Das Berliner Tageblatt, eine der ersten Zeitungen der Reichshauptstadt, die sich nicht in das Korsett enger parteipolitischer Zugehörigkeit zwängte und sich stattdessen unabhängig zu einer politischen Richtung, dem Liberalismus, bekannte, lagerte seinen Börsen- und Handelsteil 1873 in eine eigene Beilage aus, die unter dem Titel »Handelszeitung« erschien. Sie solle, schrieb das Blatt zur Jahreswende 1872/73, durch »klare und unparteiische Darstellung … unseren Lesern ein willkommener Führer für die gefährlichen Börsengeschäfte« sein.30 Wirtschaftsboom und zweite Gründungswelle um 1870 Mit den Gründerjahren multiplizierte und differenzierte sich das Angebot an Börsen- und Finanzzeitungen weiter (vgl. Tab. 1). Es könne »solcher Organe in jetziger Zeit nie genug geben«, erklärte etwa Julius Hesdörffer, als er Anfang 1873 mit seiner Frankfurter Börsen- und Handelszeitung vor die Öffentlichkeit trat.31 Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte der Umstand, dass nun  – wie so häufig in Phasen wirtschaftlichen Aufschwungs  – unerfahrene Anleger, Spekulanten und Glücksritter an die Finanzmärkte strömten und am Börsenhandel teilhaben wollten. »[I]n unseren Tagen«, schrieb der Handelsrechtler Carl Gareis 1873, »sind Augen aus allen Gesellschaftsklassen auf die Kurszettel und Börsennachrichten gerichtet, es wird spekulirt, gehandelt und verhandelt, auf Fallen, Steigen oder Kurshalten wird gehofft, nicht allein in Kontors, sondern ebenso wohl auch in Werkstätten und ländlichen Stuben, in Beamtenbüreaus und in aristokratischen Salons.« Der Effektenbesitz sei »ins Unendliche parcellirt und popularisirt«, sei »allgemein und volksthümlich« geworden. »[W]er ein paar Gulden erspart hat, ein paar Hundert Gulden zurücklegen kann, der kauft sich heutzutage ›ein Papierchen‹ dafür – wenn er nicht ein Bauer ist, dessen Familienüberlieferung ihm das Vergraben des Sparguts oder 27 Friehe, S. 70–76. – Meinungsartikel fanden im Handelsteil allerdings keinen Raum. Wollte die Handelsredaktion zu einem Thema Stellung nehmen, wies sie die politische Redaktion an, dies in Form eines Leitartikels zu tun (ebd.). 28 Groth, Zeitung, Bd. 1, S. 968. 29 Scholten, S. 53. 30 Berliner Tageblatt, Nr. 360, 29.12.1872. 31 Siehe die Annonce in Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 602, 24.12.1872.

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das Aufheben in Strümpfen empfehlenswerther […] erscheinen lassen.«32 Auf diese Entwicklung antworteten findige Geschäftsleute mit der Gründung massentauglicher Finanzzeitungen, die sich bevorzugt populärer Elemente bedienten und mit niedrigen Abonnementpreisen lockten. So suggerierte der Börsenwächter (1872) bereits im Titel Wachsamkeit und Rechtschaffenheit zum Wohle des Kleinanlegers, und die Neue Börsenzeitung (1871) warb damit, die »billigste aller Börsenzeitungen« zu sein.33 Sie war es auch, die als erste Finanzzeitung überhaupt das sogenannte »Frage- und Antwortspiel« erfand: Leser konnten sich mit Fragen nach gewinnversprechenden Investitionen an die Redaktion wenden, die diese samt Antwort in der Rubrik »Briefkasten« abdruckte – ein wirksamer Hebel freilich, wie Banken und Gründerkonsortien bald schon merkten, um die Nachfrage in gewissen Papieren anzukurbeln.34 Vor allem aber gerierten sich diese betont populären Zeitungen als Vertreterinnen der Kleinanlegerinteressen, die etablierte Organe wie die Berliner BörsenZeitung wegen ihrer vermeintlichen Nähe zu Börse und Hochfinanz nicht zu wahren in der Lage seien. Freilich war dieser Gegensatz von Börse und Publikum mehr konstruiert als real. Denn weder waren die Interessen der Börse einheitliche, noch trachteten ihre Akteure per se nach Übervorteilung der breiten Anlegermassen, der sogenannten »Kulisse«. Doch als sich in den Boomjahren einzelne Spekulanten und Gründercliquen auf Kosten unerfahrener Anleger bereicherten,35 warf dies schnell ein schlechtes Licht auf die Institution der Börse insgesamt. Zeitungen, die dieser eher aus einer allgemeinen Überzeugung in ihre volkswirtschaftliche Notwendigkeit nahestanden, konnten so allzu leicht, mit Klischees und Vorurteilen behaftet, zu Sprachrohren der Hochfinanz abgestempelt werden. Das Anlegerpublikum schien dagegen ohne publizistische Interessenvertretung. Die traditionellen Börsenzeitungen hielten sich »für berechtigt nicht nur, sondern ausschließlich dazu bestimmt, den Interessen der Börse zu Diensten zu sein […]«, echauffierte sich etwa die Leipziger Zeitung. Zwar sei das System so offenkundig, dass eine Täuschung durch sie nur bei den »allerunerfahrensten Schichten« möglich scheine, doch »sind gerade diese ausgedehnt genug, um willkommene Opfer der Ausbeutung zu bieten«. Es bedürfe daher eines Börsenblattes, »das sich die Belehrung des Publikums, die Warnung vor den Fallen, welche ihm die Börse stellt, zur Aufgabe gesetzt hat.«36 Als ein solches, scheinbar lang ersehntes Börsenblatt gab sich die Neue Börsen­zeitung. »Nicht für den Banquier, nicht für den Speculanten oder gar für den ›Gründer‹« erscheine das Blatt, bekräftige sein Herausgeber, lediglich »des Publikums Interessen« wollen man vertreten und wahren.37 Rund ein Jahr nach 32 Gareis, S. 351. 33 Siehe Annonce in Vossische Zeitung, Nr. 300, 23.12.1872. 34 Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 318. 35 Vgl. Kap. II. 3.2. 36 Leipziger Zeitung (Wissenschaftliche Beilage), Nr. 12, 11.2.1872, S. 66. 37 Werbeannonce in Kladderadatsch, Nr.  55, 26.11.1871, und Vossische Zeitung, 23.12.1872 (Hvh. i. O.).

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Abb. 4: Anzeige der »Neuen Börsenzeitung« in der »Vossischen Zeitung« vom 23. Dezember 1872.

ihrer Gründung konnte sich die Neue Börsenzeitung bereits rühmen, »in Berlin […] jetzt sehr erbitterte Gegner« zu haben. »Die Bankiers, die Gründer, die eigentlichen Speculanten können, seitdem dieses Blatt erschienen ist, nicht wie früher die Schafe scheeren.« Wer nämlich hinsichtlich der Kapitalanlage keinen Rat wisse, »wendet sich einfach an den Rathgeber der Neuen Börsenzeitung und erhält dort unentgeltlich die genaueste und gewissenhafteste Anweisung.«38 Nur zu häufig jedoch entpuppten sich jene populären Finanzzeitungen der »Gründerjahre«, die Kleinanleger vor den Fallstricken der Kapitalanlage zu schützen vorgaben, selbst als gefährlich. Ihre Macher waren mitunter höchst zweifelhaften Rufes, wie etwa der Leiter und Besitzer des Börsenwächters, Christian Hollander. Vor seiner Übersiedlung in die preußische Hauptstadt 1870 war er in Hamburg wegen Prellerei, versuchten Betrugs, Erpressungsversuchen und der Ausgabe gefälschten Geldes bestraft, zwei Mal, 1866 und 1869, war der kaufmännische Konkurs über ihn eröffnet worden. Ein interner Bericht des Berliner Polizeipräsidiums stufte seine Zeitung als »gemeingefährlich« ein, da sie das Privatkapital »durch falsche Vorspiegelungen« schädige.39 Finanzzeitungen wie der Börsenwächter, die unter dem Deckmantel eines unparteilichen Finanzjournalismus agierten, hatten nach dem Börsenkrach von 1873, wie wir noch sehen werden, einen nicht unerheblichen Anteil an der daraufhin einsetzenden und langanhaltenden Ansehens- und Vertrauenskrise finanzjournalistischer Berichterstattung in Deutschland.

38 Werbeannonce in Allgemeine Zeitung, Nr. 1, 1.1.1873 (Beilage), S. 13. 39 Bericht des Polizeipräsidiums, 31.5.1874, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 14834, Bl. 34. – Vgl. auch Wuttke, S. 381.

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Tab. 1: Zweite Gründungswelle von Finanz- und Börsenzeitungen um 1870 Name

Preis /Quartal

Ort

Erste Nummer

Periodizität

Der Börsenwächter

2 Th. + Steuer

Hamburg/ seit 1.1.1873 Berlin

1.3.1872

wöchentlich, seit 1.3.1873 täglich

Neue Börsenzeitung

1 Th., 10 Sgr.

Berlin

15.11.1871

täglich

Saling’s Börsenblatt

2 Th.

Berlin

1871

täglich (?)

Berliner Börsen-­ Courier

2 Th., 15 Sgr.

Berlin

1.10.1868

zwölfmal ­ wöchentlich

Berliner Actionair

1 Th., 2 ½ Sgr.

Berlin

1.1.1873

zweimal ­ wöchentlich

Frankfurter Börsenund Handelszeitung

2 Th., 2 ½ Sgr.

Frankfurt

1.1.1873

sechsmal ­ wöchentlich

1.2 Pioniere: Der subjektive Faktor im Pressegeschäft Das Beispiel Christian Hollanders hat es bereits angedeutet: Finanzzeitungen waren immer auch ein Spiegel ihres Herausgebers und seiner hehren oder auch gemeingefährlichen Ambitionen. Dies gilt insbesondere für die frühen Jahre des Finanzjournalismus, in denen Zeitungen noch kleine Betriebe mit einer Handvoll Personal waren. Die Persönlichkeit der auf dem finanzjournalistischen Feld tätigen Akteure, ihre Reputation und Kontakte zur Politik und in die Finanzwelt, ihr Fach- und Erfahrungswissen, kurzum: das soziale, kulturelle und symbolische Kapital, das in einer Zeitung angelegt war, konnte entscheidend zum wirtschaftlichen Erfolg (oder auch Misserfolg) eines Zeitungsunternehmens beitragen, es verlieh dem einzelnen Zeitungsprodukt seine besonderen Charakteristika, mithin seine Alleinstellungsmerkmale gegenüber der Konkurrenz. Im Folgenden soll der Blick daher auf die Zeitungsmacher und das Redaktionspersonal der finanzjournalistischen Formierungsphase gerichtet werden. Zeitungsgründer der ersten Stunde: Killisch, Scherer, Sonnemann Unter den ersten Zeitungsunternehmern im Finanzsegment sind drei besonders hervorzuheben, da sich ihre Gründungen langfristig als die erfolgreichsten erweisen sollten. In der preußischen Hauptstadt zählte hierzu Theodor Hermann Killisch von Horn (1821–1886) mit seiner im Juli 1855 geschaffenen Berliner Börsen-Zeitung, in Frankfurt Hermann Scherer (1816–1903), der dort 1854 den Aktionär begründet hatte sowie mit seinem 1856 ins Leben gerufenen Frankfurter Geschäftsbericht der noch junge Leopold Sonnemann, der später zu einem der profiliertesten demokratischen Politiker des Kaiserreichs aufsteigen sollte. 71

Killisch von Horn, in Bromberg geboren, kam 1839 im Alter von 18 Jahren als Student der Rechte nach Berlin, wo er schon bald, so heißt es in einer späteren Jubiläumsschrift, »Anschluß an die Kreise der Politik und Presse« fand.40 Zumindest als gesichert gilt, dass Killisch während seines Studiums in der preußischen Hauptstadt Kontakte zu Ernst von Bülow-Cummerow (1775–1851) knüpfte, einem reformkonservativen Gutsbesitzer, der sich politisch und publizistisch für eine finanzielle Besserstellung der Landwirtschaft einsetzte.41 Bülow-Cummerow hatte sich 1841 in Berlin von einem Jagdunfall erholen müssen und man empfahl ihm den jungen Studenten als Vorleser. Schnell entwickelte sich ein reger Verkehr zwischen den beiden, so dass Bülow-Cummerow Killisch bald schon als seinen Privatsekretär engagierte.42 Seit Ende 1843 vermittelte er ihm auch journalistische Gelegenheitsarbeiten für August Wönigers Monatsschrift Der Staat.43 Über Bülow-Cummerow, der sich in den 1840er Jahren handels- und steuerpolitische Kontroversen mit dem Nationalökonomen Friedrich List und dem späteren Gründer der Disconto-Gesellschaft, David Hansemann, lieferte, scheint Killisch schließlich zum ersten Mal in Tuchfühlung mit der Finanz- und Bankenwelt gekommen zu sein. Durch seine Tätigkeit als Ghost­ writer zahlreicher Werke seines Gönners wurde er überdies mit den finanz- und wirtschaftspolitischen Zeit- und Streitfragen der 1840er Jahre vertraut.44 Die Zusammenarbeit endete 1843, als Killisch wegen Duellierens zu vier Jahren Festungshaft verurteilt wurde, von denen er zwei Jahre verbüßte. Nach seiner Entlassung konnte Killisch an seine früheren Tätigkeiten wieder anknüpfen. Er trat erneut in den Dienst Bülow-Cummerows und lieferte journalistische Beiträge für Tageszeitungen, so etwa für die Vossische Zeitung. In den Revolutionsjahren 1848/49 firmierte er zudem als Berlin-Korrespondent der Kölnischen Zeitung und schrieb  – ganz auf der Linie seines Protektors  – über die Steueropposition des Landadels und gegen Hansemann, blieb daneben jedoch politisch passiv.45 Das Berliner Polizeipräsidium vermerkte 1854, »Killisch gehörte vor 1848 zu den sogenannten liberalen Literaten. […] In den Zeiten der Bewegung hat 40 Bertkau, S. 11. Biografische Literatur zu Killisch von Horn gibt es neben der gefärbten Darstellung im Jubiläumsband der »Berliner Börsen-Zeitung« [Bertkau, 75 Jahre, S. 11 ff.] und der weitestgehend auf unkritischer Quellenrezitation fußenden Skizze von Grote, der nicht einmal Killischs Personenakte des Berliner Polizei-Präsidiums eingesehen hat, keine. 41 Angermann, S. 373 f. 42 Krauss, S. 78. 43 Ein darin veröffentlichter Artikel Killischs erregte im Oktober 1843 großes Aufsehen und rief den Namen des späteren Gründers der Börsenzeitung wohl zum ersten Mal einem breiteren Personenkreis ins Bewusstsein. Unter der Überschrift »Leipziger ZollvereinsSchmuggelei« hatte Killisch behauptet, Leipziger Kaufleute unterschlügen den Zoll der von ihnen importierten Waren, s. Das Zollvereinsblatt, Nr. 36, 2.9.1844, S. 729 ff. 44 Bülow-Cummerow veröffentlichte in diesen Jahren unter anderem: Über Preußens Finanzen (1841); Der Zollverein, sein System und dessen Gegner (1844); Politische und finanzielle Abhandlungen (1844/45); Das Bankwesen in Preußen (1846). 45 Petersdorff, S. 47; Buchheim, Kölnische Zeitung, Bd. 2, S. 136.

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er sich still verhalten.«46 Diese politische Unauffälligkeit dürfte ihm die Gründung seiner Zeitung in der einsetzenden Restaurationsphase erleichtert haben. Ihre genauen Umstände sind nicht bekannt.47 Verlagsoffiziell hieß es später: »Sein gesellschaftlicher Verkehr mit politisch führenden Persönlichkeiten und eigene Neigung führten ihn [Killisch] allmählich auf den Gedanken, sich selbst auf dem Gebiete der Presse zu versuchen und seine starke kaufmännische Veranlagung ließ ihn mit scharfem Blick aussichtsreiches Neuland finden.«48 Peter de Mendelssohn hat behauptet, ohne dies weiter ausgeführt oder belegt zu haben, dass Killisch die Börsen-Zeitung auf Veranlassung Bismarcks gegründet habe.49 In den Akten gibt es keine eindeutigen Hinweise, die diese Version stützen; Bismarck weilte zwischen 1851 und 1858 als Gesandter Preußens beim Deutschen Bund in Frankfurt. Es ist allenfalls denkbar, dass Bismarck die Gründung des Blattes unter der Hand angeregt hat. Zumindest war Bismarck in den 1840er Jahren des Öfteren in Pommern bei Gesprächen im Kreis um Adolf von Thadden-Trieglaff auf Killischs Gönner Bülow-Cummerow getroffen, mit dem ihn damals ähnliche wirtschaftliche Ansichten verbunden hatten.50 Von amtlicher Seite hat Killisch bei der Gründung seines Blattes zumindest keine Unterstützung erhalten. Im preußischen Innenministerium war er zudem völlig unbekannt,51 ja man weigerte sich sogar, das Blatt durch Mitteilungen zu unterstützen.52 Es spricht somit vieles dafür, dass Killisch, als er 1855 die Berliner Börsen-Zeitung gründete, weniger politischen Ambitionen, denn primär seinen eigenen unternehmerischen Interessen gefolgt war, da er glaubte, eine Marktlücke im Berliner Pressesegment entdeckt zu haben.53 46 Auskunft v. 7.7.1854, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 11005, Bl. 6. 47 Schon 1930 beklagte Bertkau, S. 11, dass alle Akten aus der Gründungsphase der Zeitung bei einem Hausbrand vernichtet worden seien. Den Rest vernichtete der Zweite Weltkrieg. 48 Ebd. 49 Mendelssohn, S. 457. 50 Gall, Bismarck, S. 58; Henning, S. 229. Es gibt jedoch keine Belege dafür, dass sich Bismarck und Killisch in jenen frühen Jahren begegnet sind. 51 Als das Berliner Polizei-Präsidium das Innenministerium darauf aufmerksam machte, dass ein Killisch von Horn in Berlin eine Börsenzeitung gegründet habe, notierte Innenminister Westphalen an den Rand des Schreibens: »heißt er wirklich so?«, Brief, 7.7.1855, GStA PK, I. HA., Rep. 77, tit 54a, Nr. 27, Bl. 1. 52 Eingabe Büxensteins an Innenminister, 19.7.1855, Antwortschreiben, 2.8.1855, GStA PK, I. HA., Rep. 77, tit 54a, Nr. 27, Bl. 3 und 4. 53 Dies wird auch nicht durch den Umstand in Zweifel gezogen, dass das neue Blatt sich, wie es darlegte, den »konservativen Elemente[n]« und der »von der Regierung befolgten« Politik zugehörig fühlte. Denn dies geschah nicht etwa deshalb, weil man hiermit eine politische Programmatik verbunden hätte, sondern schlicht weil man »wesentlich und vornehmlich die Interessen des Besitzes und der besitzenden Klassen vertrete«, was eine solche Anlehnung von selbst bedinge, s. Prospekt der »Berliner Börsen-Zeitung«, 1.6.1855, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, tit 95, secr. 4, Nr. 14789, Bl. 3. – Es ist zudem nicht auszuschließen, dass man das junge Unternehmen mit dieser Anbiederung an die Staatsmacht vor repressiven Maßnahmen durch die Behörden bewahren wollte, die unter dem restriktiven Pressegesetz der Restaurationszeit an der Tagesordnung waren; vgl. hierzu generell Naujoks, Entstehung.

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Killisch mochte auch bereits vom Aktionär gehört haben, den Hermann Scherer ein Jahr zuvor in Frankfurt gegründet hatte. Scherer hatte zu diesem Zeitpunkt schon ein bewegtes Leben hinter sich. Nach seinem Jurastudium betätigte er sich schriftstellerisch, reiste nach England und Frankreich (1842–44) und schrieb von dort politische und volkswirtschaftliche Artikel für die Kölnische Zeitung.54 Nach seiner Rückkehr folgte er einem Ruf der Spenerschen Zeitung und wurde in Berlin ihr Leitartikler. In der preußischen Hauptstadt machte Scherer – trotz oder vielleicht gerade wegen seiner ostentativ vertretenen handelsliberalen Gesinnung – rasch auf sich aufmerksam. Hans Adolf von Bülow, Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, entschloss sich 1845 kurzerhand, Scherer als seinen Sekretär mit nach Kopenhagen zu den Verhandlungen über die Aufhebung des Sundzolls zu nehmen. Mithilfe des Journalisten gedachte Bülow die »öffentliche Meinung« im Sinne der preußischen Regierung zu bearbeiten. Allerdings hielt es Scherer nicht lange in Berlin. 1846/47 besuchte er die Schweiz, wo er kurze Zeit für die Berner Zeitung schrieb; anschließend zog es ihn in den Norden zur Hamburger Börsenhalle. In der Hansestadt wagte er dann auch den Schritt zu einer eigenen Zeitungsgründung, in der er seine wirtschaftspolitische Einstellung schon im Titel zum Ausdruck brachte, den Deutschen Freihafen. Die Hamburger Kaufmannschaft unterstützte das Projekt, das so gut zu ihrer eigenen handelspolitischen Haltung passte, durch großzügige finanzielle Zuwendungen. Doch auch hier gab Scherer lediglich ein Gastspiel. Nachdem er 1848/49 zeitweilig in Frankfurt für die Kölnische Zeitung Sonderberichterstatter über die Verhandlungen in der Paulskirche gewesen war, holte ihn der österreichische Handelsminister v. Bruck, ein Bekannter aus Frankfurter Tagen, als Ministerialsekretär in seine Behörde nach Wien. Seine Korrespondententätigkeit setzte er von hier für die Kölnische Zeitung fort. Je reaktionärer aber das Klima in Wien wurde, desto schonungsloser griff Scherer in anonym veröffentlichten Artikeln den Wiener Hof an. Nach seiner Enttarnung 1852/53 konnte er sich nur knapp ins Ausland flüchten. Er gelangte nach Paris, wo man ihm als Verfolgten der »Reaktion« freundlich Asyl gewährte. Hier, so heißt es in seinem Nachruf, habe er »angesichts des raschen Entwicklung des Aktienwesens an der damaligen Weltbörse« den Entschluss gefasst, eine Finanzzeitung zu gründen.55 Tatsächlich muss die ausgedehnte Reisetätigkeit Scherers im Allgemeinen, sein Parisaufenthalt im Besonderen, für die Gründung des Aktio-

54 Über Scherers Leben ist, abgesehen von seinen fachlichen Publikationen, wenig bekannt. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf einen in der Kölnischen Zeitung, Nr.  53, 20.1.1903, S. 1, erschienenen Nachruf sowie auf eine knappe biografische Skizze, die sein Sohn, Charles Scherer, 1907 als Vorwort für eine Ausgabe der gesammelten Feuilletons Scherers angefertigt hat, s. Scherer, S.  III–VI. Der Nachruf basiert, wie es dort heißt, auf eigenhändigen Aufzeichnungen, die Scherer zwei Jahre vor seinem Tod angefertigt habe. Sie müssen heute als verschollen gelten. 55 Kölnische Zeitung, Nr.  53, 20.1.1903, S.1.  – 1852/53 veröffentlichte Scherer zudem seine zweibändige »Allgemeine Geschichte des Welthandels«.

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närs sowie für seine Entwicklung wichtige Weichen gestellt haben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Scherer, als er später in London, Wien und Paris Korrespondenzpartner für sein Journal suchte, auf Bekannte vergangener Tage zurückgreifen konnte. Zudem verschafften ihm seine Reisen auch ein Bild über den ausländischen Pressemarkt. Im Gründungsprospekt seines Blattes konnte er so auch darauf hinweisen, dass in Deutschland kein vergleichbares Organ bestehe, »während England, Frankreich, selbst Holland und Belgien dafür verschiedene in der merkantilistischen Welt akkreditierte und einflussreiche Organe besitzen«.56 Es waren anders gelagerte Umstände, die zur Gründung des Frankfurter­ Geschäftsberichts, der späteren Frankfurter Zeitung, geführt haben. Denn in diesem Fall ging der Anstoß nicht von journalistisch erprobten Publizisten aus, sondern unmittelbar von den Bankiers des Frankfurter Finanzplatzes. Seit 1853 gab dort der Bankier Heinrich Bernhard Rosenthal täglich nach Börsenschluss einen privaten »Geschäftsbericht« heraus, der – in der Tradition der bereits erwähnten Kursblätter – dem überschaubaren Kreis seiner Bankkunden zuging und über Verlauf des Handelstages, Neuemissionen sowie wichtige Kursbewegungen informierte.57 Mitte Juli 1856 ließ er seine Kundschaft jedoch wissen, dass sein Periodikum »allmälig[!] eine so günstige Aufnahme gefunden [hat], und die Gesuche, um Zusendung desselben, haben sich so gehäuft, dass ich nicht mehr im Stande bin, ihn in der Weise, wie bisher zu liefern.« Er habe sich daher entschlossen, seinen Geschäftsbericht einem Verleger zu übergeben.58 Für dieses Projekt war Rosenthal auf Leopold Sonnemann (1831–1909) zugegangen, der seit 1853 in Frankfurt das Speditionsgeschäft seines verstorbenen Vaters weiterführte.59 Schnell verständigten sich beide auf die Gründung einer entsprechenden Zeitung, ohne damit allerdings, schenkt man den späteren Aussagen Sonnemanns Glauben, weitergehende, etwa politische oder geschäftliche Ziele im Blick gehabt zu haben. Sie betrachteten ihr Unternehmen als ein nur kurzzeitiges, das auf der Peripetie des Aktienbooms Mitte der 1850er Jahre erfahrenen Geschäftsleuten ebenso wie einem Laienpublikum den Weg durch die Fährnisse der Kapitalanlage bahnen sollte. »Gleich wie bisher«, wandte sich Rosenthal an die Leser seines Blattes, »wird der Frankfurter Geschäftsbericht über alle commerziellen und industriellen Unternehmungen unpartheiisch Bericht erstatten und so einen zuverlässigen Wegweiser und Ratgeber für die Geschäftswelt vorstellen, welche Letztere sonst oft durch abhängige oder einseitige Beur56 Prospekt, [Nov. 1853], IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 3244. – Schließlich wird auch die Gründung des »Crédit mobilier« in Paris 1852, lange zentrales Gesprächsthema der Hauptstadt und Vorbild für die wenige Zeit später gegründeten deutschen Kreditbanken, seine Wirkung auf Scherer nicht verfehlt haben. 57 Berger, Bankier, S. 60; Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 18–21. 58 Zirkular, Mitte Juli 1856, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 3244. 59 Ich verzichte hier auf eine biografische Einführung, da die Lebensgeschichte Sonnemanns hinreichend bekannt ist. Vgl. etwa Schnädelbach.

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teilungen irre gemacht wird, indem ihr nicht selten gute Unternehmungen als bedenklich, und zweifelhafte als günstig dargestellt werden.«60 Im Fall der Gründung des Frankfurter Geschäftsberichts, wenig später in Frankfurter Handels-Zeitung umbenannt, scheinen jedoch nicht nur die zur Vorsicht mahnenden Zeitumstände hineingespielt zu haben. Ausschlaggebend dürfte auch eine persönliche Erfahrung Sonnemanns gewesen sein. Noch kurz von seinem Tod hatte dessen Vater für 10 000 Lire (etwa 4600 Gulden) Aktien der Toskanischen Lucca-Pistoia-Eisenbahn gezeichnet. Doch schon 1856 war die Gesellschaft zahlungsunfähig, ihre Aktien wertlos. Sonnemann wandte sich daraufhin mit Artikeln an mehrere Frankfurter Zeitungen, in denen er dem Bankhaus, das die Papiere auf dem Frankfurter Platz ausgegeben hatte, vorwarf, im Emissionsprospekt Risiken bewusst verschwiegen zu haben. Keiner dieser Artikel jedoch gelangte zur Veröffentlichung. Sonnemann behauptete später, es sei diese Erfahrung gewesen, dass er unseriöse Geschäftspraktiken einer Bank nicht habe öffentlich kritisieren können, die ihn dazu geführt habe, sich verlegerisch zu betätigen. »Ich fühlte, daß hier eine Lücke in der Tagespresse bestand und daß ich vielleicht berufen sein könnte, an der Ausfüllung derselben mitzuwirken.«61 Ob diese Aussage in das Reich der Legenden zu verweisen ist, muss dahin gestellt bleiben. Gleichwohl mochte ein Zeitungsmacher, der seine geschäftliche mit einer solchen persönlichen Motivation verknüpfte, leichter das Vertrauen des Publikums in die Lauterkeit seiner Absichten gewonnen haben. Redaktionspersonal als Wissens- und Vertrauensressource Auf welche personellen Ressourcen konnten Redaktionen in der Formierungsphase des Finanzjournalismus zurückgreifen? Welches Fach- und Erfahrungswissen brachten Redakteure mit? Von hochgradig horizontal (nach Sachgebieten) und vertikal (in Hierarchien) ausdifferenzierten Redaktionen, wie sie die großen Tageszeitungen zum Ende des 19. Jahrhunderts aufweisen sollten, kann in dieser Frühphase noch lange nicht die Rede sein. Die redaktionellen Kapazitäten waren bescheiden.62 Die Berliner Börsen-Zeitung besaß 1856 neben ihrem Herausgeber Killisch von Horn nur drei weitere Redakteure.63 Für den Aktionär ist nicht auszuschließen, dass er zumindest anfangs von Hermann Scherer allein redigiert wurde; erst in den 1860er Jahren sind zwei Redakteure, Emil F ­ reystadt (1840–1892) und Josef Neumann (1831–1902), belegt. Die journalistisch wenig 60 Zirkular, Mitte Juli 1856, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 3244. 61 Aufzeichnungen um 1900, zit. n. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 8. – Simon, S. 151, merkt zurecht an, dass Sonnemann diesen Kausalzusammenhang in seiner Erinnerung stärker gemacht haben könnte, als er in Wirklichkeit gewesen war. Allerdings schmälert dies nicht die Prägekraft, die von der monetären Verlusterfahrung im unmittelbaren Vorfeld der Zeitungsgründung ausgegangen ist. 62 Schweitzer, Börse, S. 94. 63 Bertkau, S. 17. – Eigene Korrespondenten sind in dieser Zeit dagegen schon in Paris, Petersburg, Wien, Prag, Köln, Breslau, Gleiwitz, Freiberg i. Sa., Posen, Königsberg, Hamburg und Braunschweig belegt, ebd., S. 16.

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erprobten Herausgeber der Frankfurter Handels-Zeitung, Rosenthal und Sonnemann, mussten sich anfangs überhaupt erst einen geeigneten Redakteur für ihr Blatt suchen und fanden ihn in dem fachlich versierten Nationalökonomen Max Wirth (1822–1900), der zu diesem Zeitpunkt noch bei der Mittelrheinischen Zeitung beschäftigt war. Wirth gehörte der Redaktion von September 1856 bis September 1857 an und arbeitete in dieser Zeit auch parallel an seiner 1858 erstmals erschienenen und in den folgenden Dekaden immer wieder erweiterten »Geschichte der Handelskrisen«. Nachdem die Frankfurter Handels-Zeitung seit dem 1. September 1859 unter dem Namen Neue Frankfurter Zeitung zum einem politischen Blatt erweitert worden war, wuchs auch die Zahl ihrer Redaktionsmitglieder an und damit auch der Grad fachlich-thematischer Ausdifferenzierung. Während im Handelsressort nun Friedrich Hasselbaum für den Warenmarkt zuständig war, widmete sich Bernhard Doctor (1807–1881), der der Kaufmannspraxis entstammte, den Börsen- und Finanzfragen.64 Der Eintritt von Kaufleuten, Prokuristen oder ehemaligen Bankangestellten in den Dienst von Redaktionen ist ein allgegenwärtiges Phänomen in der Formierungsphase des finanzjournalistischen Feldes seit den 1850er Jahren. Nicht primär aus dem Reservoir journalistisch oder publizistisch erprobter Männer rekrutierte sich das Personal, das den Handelsteil redigierte oder den Börsendienst besorgte, sondern zu einem Großteil aus den Praktikern der Börse und Finanzwelt. Dies brachte gleich mehrere Vorteile mit sich. Zum einen besaßen jene Gruppen fachliche Kenntnisse über Finanzprodukte, Emissionstechniken und die Formalia von Prospektveröffentlichungen. Andererseits wiesen sie praktische Erfahrung im Börsenhandel auf, waren mit den Usancen an den Finanzplätzen, den Wechsellagen der Börse und ihrer Wechselwirkungen mit der Industrie vertraut. Nicht zuletzt jedoch verfügten sie über bestehende Kontakte zur Finanzwelt aus ihrer vorangegangenen Tätigkeit, die ihnen als Börsenberichterstatter Zugang zu den Zirkeln der professionals und zuweilen auch zu exklusiven Informationen ermöglichen konnten. Die Frankfurter Zeitung verdankte ihren Erfolg in den Anfangsjahren gerade dem Bankier Sonnemann selbst, der ihr nicht nur Nachrichtenstoff zutrug, den er aus Gesprächen mit Geschäftsfreunden und Kunden oder aus dem Besuch der Generalversammlungen von Aktiengesellschaften gewonnen hatte.65 Auch der erste Börsenreporter Berlins, Julius Schweitzer (1820–1893), war ein ehemaliger Bankier.66 Er trat 64 Vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 24, 44 f., 98 f. – Doctor war festes Redaktionsmitglied bis 1863, jedoch auch später noch für die Zeitung tätig, seit 1860 war er überdies ihr Miteigentümer. Doctor fungierte in den 1860er Jahren zugleich als Handelskorrespondent der Times und des New York Herald. Vgl. den Nachruf in der Frankfurter Zeitung, 9.9.1881, S. 2 f. 65 Sonnemann meldete sich, mit Insiderwissen ausgestattet, häufig in Leitartikeln selbst zu Wort, s. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 23. 66 Siehe den Artikel der Vossischen Zeitung, Nr. 90, 18.4.1875, anlässlich Schweitzers 25-jährigen Dienstjubiläums. Er wird dort als der »erste und […] älteste Börsenjournalist Berlins« bezeichnet.

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1850 in den Dienst der National-Zeitung. Wie der bereits erwähnte Bernhard Doctor so war auch der Begründer des Berliner Börsen-Couriers, George Davidsohn, zunächst Kaufmann gewesen, bevor ihn sein Weg in den Journalismus führte. Ähnliches gilt für Julius Hesdörffer, der sich 1862 in Frankfurt zunächst mit einem Bankgeschäft nebst Kommission und Spedition niedergelassen hatte. Heinrich Schüler (1836–1917), anfangs New York-Korrespondent der Frankfurter Zeitung, dann seit Mitte der 1870er Jahre ihr Handelsredakteur, begann seine Karriere 1862 als Prokurist im Bankhaus M. S. Sonnemann. Der Sohn von Julius Schweitzer, Georg Schweitzer (1850–1940), absolvierte eine Banklehre, bis ihn sein Vater 1873 in die Handelsredaktion der National-Zeitung holte. Einen ähnlichen Weg in den Journalismus beschritt Ludwig Cohnstaedt (1847–1934) von der Frankfurter Zeitung. Er war zunächst als Kaufmann in Handel und Fabrikation tätig, wechselte 1872 in ein Frankfurter Bankinstitut, um sich dann ein Jahr später auch als Journalist zu betätigen, anfangs noch parallel zu seinem Beruf als Bankangestellter.67 Mit dieser Dominanz von Praktikern korrelierte eine auffällige Unterrepräsentation von Akademikern in den Handelsredaktionen. Während der Anteil derer, die über ein abgeschlossenes Studium verfügten, in einer Zeitungsredaktion bei achtzig bis neunzig Prozent lag und das Politikressorts fast ausnahmslos Akademikern vorbehalten war, hatten unter denjenigen, die sich in der Handelsberichterstattung betätigten, etwa 44 Prozent keine Universität besucht. Von fünfzig erfassten Journalisten mit Bank- und Kaufmannausbildung arbeiteten dreißig für das Handels- oder Wirtschaftsressort einer Zeitung.68 Was für den Handelsjournalismus generell gilt, das gilt auch für den Finanzjournalismus im Besonderen: praktische Erfahrung in der Finanzwelt zählte hier mehr als akademische Vorbildung. Die wenigen Akademiker unter den Handels- und Börsenredakteuren hatten ihr Wissen zumeist im Rahmen eines rechts- und staatswissenschaftlichen Studiums erworben. Die National-Zeitung besaß mit Otto Michaelis (1826–1890), um ein besonders prominentes Beispiel der frühen Jahre anzuführen, einen ausgewiesenen Experten auf volkswirtschaftlichem Gebiet. Michaelis, der ein Studium der Rechte und Staatswissenschaften absolviert hatte, war seit 1856 Leiter des Handelsteils, 1858 trat er als Mitbegründer des »Kongress Deutscher Volkswirte« auf. Er verließ die Redaktion 1867 und wechselte als Vortragender Rat und Dezernent für Münz- und Bankangelegenheiten ins Reichskanzleramt, von 1876 bis 1879 war er dort schließlich Direktor der Finanzabteilung.69 Für den Aktionär, später dann für die Neue Börsenzeitung, 67 Vgl. die Kurzbiografien zu Doctor und Cohnstaedt in Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 44, S. 344, S. 558 f.; zu H. Schüler: IfS, S2, Sign. 7209; zu R. Davidsohn: DBA, Teil 1, Fiche 224, S. 16 und die kurze Schilderung eines Zeitgenossen, Kastan, Berlin, S. 195–199; zum Bankgeschäft Hesdörffers s. den Eintrag im Handels-Register und Anzeige Blatt, Nr.  31, S. 151 (Sammlung der deutschen Handelsregister, Bd. 1, Köln 1862); zu Georg Schweitzer s. Zeitungswissenschaft, Jg. 5, 1930, Nr. 3, S. 186 f. und ebd., Jg. 8, 1933, Nr. 1, S. 60–62. 68 Zahlen nach Requate, Journalismus, S. 146–148. 69 DBA, Teil 3, Fiche 626, S. 132.

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arbeitete Jonas Minoprio, der Staatswissenschaften in Göttingen studiert hatte und neben seiner Redakteurstätigkeit zahlreiche Broschüren zu volks- und finanzwirtschaftlichen Themen veröffentlichte.70 Und mit Bruno Mertelmeyer besaß der Berliner Börsen-Courier zwischen 1873 und 1880 einen promovierten Staatsrechtler auf dem Stuhl des Handelsredakteurs.71 Im Idealfall ergänzten sich somit volks- bzw. finanzwirtschaftliche Theoretiker und Börsenpraktiker gegenseitig. Redaktionen, in denen kein volkswirtschaftliches Wissen präsent war, konnten gerade dann ins Hintertreffen geraten, wenn es darum ging, große wirtschaftliche Zusammenhänge zu erhellen. Nach dem Börsenkrach von 1873 sahen Dresdener Blätter sich außer Stande, »über den Grund und die näheren Umstände der allgemeinen sowohl als der localen Börsenkrisis aufzuklären«, wie der Korrespondent der Berliner Börsen-Zeitung monierte. Zwar hätten alle dortigen politischen Zeitungen einen volkswirtschaftlichen Teil, »keine einzige aber hat für diesen einen volkswirthschaftlich gebildeten Redacteur«. Dies erkläre sich aus dem Umstand, dass Dresden als Börsenplatz noch jung sei.72 Wie kompetent eine Zeitung bestimmte Sachthemen zu bearbeiten im Stande war, lag nicht zuletzt, wie das Beispiel Dresden zeigt, an ihrem geografischen Standort, der die Akquise qualifizierten Personals mitbestimmte. Aus diesem Erfahrungs- und Fachwissen der finanzjournalistischen Akteure resultierten noch bis weit in die 1870er Jahre eine Vielzahl an Dienstleistungen, die über die journalistische Berichterstattung hinausgingen, angefangen bei persönlicher Anlageberatung bis hin zu Auftragsarbeiten für Bankinstitute. So betrachteten es etwa die Redakteure des Aktionärs als ihre Ehrenpflicht, Abonnenten »in den Generalversammlungen, deren Aktionäre sie sind, zu vertreten, […] ihnen zu rathen, ob sie kaufen, verkaufen oder behalten sollen, im Allgemeinen sie in einer sichern und positiven Art der Unterbringung ihrer Gelder zu leiten«, wie es 1856 in einem Inserat hieß.73 Offensichtlich kannten sich viele Privatanleger mit dem Wesen und der Funktionsweise von Generalversammlungen kaum aus und konnten ihre Interessen in diesen Organen nur wenig zur Geltung bringen. Derartige Versammlungen seien zur Komödie herabgesunken, klagte der Aktionär im Januar 1870. »[D]ie Aktionäre erscheinen planlos ohne nähere Kenntniss[!] und Einsicht einem fest organisirten, sich seiner Zwecke bewussten und von einheitlicher Disziplin beherrschten Verwalt.-Rat gegenüber.«74 Doch auch zur fachlichen Vorbereitung von Emissionen wurden Journalisten herangezogen. »Seinerzeit«, erinnerte sich im Jahr 1913 der Herausgeber des Berliner Actionairs, Ernst Busch, an die 1870er Jahre, »waren die Beziehungen der Geschäftskreise zu den Fachschriftstellern inso70 DBA, Teil 1, Fiche 847, S. 398. – U. a. veröffentliche Minoprio Die Frankfurter Börse (1878); Staat und Volkswirthschaft (1880); Wie macht man Geschäfte an der Börse? (1900). 71 DBA, Teil 1, Fiche 830, S. 273. 72 Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 473, 10.10.1873 (Abendausgabe), S. 12. 73 Der Aktionär, Nr. 138, 17.8.1856 (Hvh. i. O.). – Auch Sonnemann hat in dieser Funktion häufig Generalversammlungen besucht, s. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 23. 74 Der Aktionär, Nr. 837, 9.1.1870.

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fern besonders intim, weil es damals nur wenige gab, welche imstande waren, einen ›Prospekt‹ nach den Vorschriften des Börsenkommissariats zu bearbeiten und dafür denn auch meist hoch bezahlt wurden, während heute jede Großbank über einen Syndikus und einen Archivar verfügt, denen die Ausarbeitung der Zeichnungseinladungen und der für die Kundschaft bestimmten Berichte obliegt.«75 Schließlich boten Zeitungen wie der Aktionär ihren Abonnenten auch Hilfe beim An- und Verkauf von Wertpapieren – eine Dienstleistung, die bald schon Konflikte mit der Berufsgruppe der Makler provozierte. Denn diese erblickten darin »Eingriffe in ihre Nahrung«, wie die Frankfurter Wechselmakler im August 1856 in einem Beschwerdebrief an die städtische Verwaltung formulierten. Da die Redaktion des Aktionärs weder Handelsmann noch Makler sei, dürfe diese »auch nicht diejenigen Geschäfte machen, welche den Banquiers, Handelsleuten und Wechsel-Sensalen zukommen und wofür letztere ein jährliches Concessions-Geld zahlen müssen.«76 Hermann Scherer hatte sich daraufhin vor dem zuständigen Reichnei-Amt zu erklären. Er wolle, gab er dort zu Protokoll, mit dem Angebot der Vermittlung nicht als Makler auftreten. »Ein solches Geschäft ließe sich mit meinen Redaktionspflichten gar nicht vereinigen.« Er biete sich nicht zur Ausführung, sondern lediglich als Vermittler an.77 Das Redaktionspersonal war schließlich nicht nur Träger eines Fach- und Erfahrungswissens, welches der Zeitung zum Vorteil gereichte. Die ausgewiesene Expertise und Prominenz einzelner, exponierter Redaktionsmitglieder konnte dazu dienen, öffentliches Vertrauen aufzubauen und so Leser zu gewinnen und sich zu erhalten. Die Person des Journalisten konnte zur Vertrauensressource für eine Zeitung werden. Dieses Potenzial hatten Zeitungsmacher spätestens zu Beginn der 1870er Jahre erkannt und es zu nutzen gesucht. Der Berliner Actionair warb, für die damalige Zeit ungewöhnlich explizit, mit den Namen seiner beiden Besitzer und Redakteure und unterstrich deren Kompetenz, die sich gleichermaßen aus journalistischer sowie wirtschaftlicher Praxiserfahrung speiste. »J. Neumann, s.Z. Ober-Inspector der Westdeutschen Versicherungs-Aktien-Bank in Essen und E. Freystadt, s.Z. Redacteur des ›Berliner Börsen-Courier‹ [sind] altgeschulte Fachleute, die in einer langjährigen Praxis als Redacteure und Correspondenten […] reiche Erfahrungen im Börsenverkehr gesammelt haben […].«78 Die Neue Börsenzeitung trat mit dem Hinweis auf eine beinahe zwanzigjährige Erfahrung ihres Personals im Geschäftsleben und Getriebe der Börse vor ihre Leserschaft. »Die Kräfte, die sich in der Redaction vereinigen – an ihrer Spitze Dr. Treuherz […] – versprechen die kundigste, sachgemäßeste und parteiloseste Führung.«79 75 Zeitungs-Verlag, Nr. 24, 13.6.1913, Sp. 475. 76 Wechselmakler an Renten und Rechnei-Amt, 26.8.1856, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 1605. 77 Aussageprotokoll Scherers, 11.9.1856, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 1605. 78 Siehe Annonce in Vossische Zeitung, Nr. 296, 18.12.1872. 79 Siehe Annonce in Kladderadatsch, Nr. 55, 26.11.1871. – Derartige Verweise auf die eigene Kompetenz taten umso mehr not, da von anderen Presseorganen zur selben Zeit immer wieder Zweifel an der Expertise von Handelsredakteuren geäußert wurden. Der »Österrei-

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Viele jener Redakteure, die durch die Schule der ersten Finanzzeitungen gegangen waren, gebrauchten das dort erworbene kulturelle, soziale und symbolische Kapital später, um sich mit einem eigenen Blatt selbstständig zu machen. Angespornt vom Wirtschaftsaufschwung im Gefolge der Reichsgründung leiteten sie die zweite finanzjournalistische Gründungswelle ein. August Saling verließ die Berliner Börsen-Zeitung, für die er seit Anfang der 1860er Jahre gearbeitet hatte, und gründete 1871 Saling’s Börsenblatt.80 Julius Treuherz, langjähriger Mitarbeiter der Bank- und Handelszeitung, machte sich zur selben Zeit mit der bereits erwähnten Neuen Börsenzeitung unabhängig. Auch George Davidsohn kündigte im Sommer 1868 seinen Vertrag bei Killisch, um mit dem Berliner Börsen-Courier eine eigene Zeitung zu gründen. Er konnte sich dabei auf Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten aus Finanz-, aber auch aus Literatenund Musikerkreisen stützen, die er in seiner Zeit als Redakteur der Börsen-Zeitung geknüpft hatte.81 Die Redakteure des Aktionärs, Freystadt und Neumann, siedelten nach Berlin über und gründeten dort 1873 einen Ableger des Frankfurter Blattes, den Berliner Actionair. Julius Hesdörffer schließlich verließ die Redaktion der Frankfurter Zeitung und schuf sich mit der Frankfurter Börsenund Handelszeitung sein eigenes publizistisches Organ. * Börsen- und Finanzzeitungen waren seit den 1850er Jahren mit dem Anspruch vor die Öffentlichkeit getreten, die von Informationsdefiziten gekennzeichnete Position des wachsenden Investorenpublikums gegenüber den Wertpapieremittenten durch eine unabhängige Berichterstattung und durch eine Bereitstellung aktueller und objektiver Inhalte zu verbessern und so schließlich auch Finanzmärkte effizienter zu gestalten. Traditionelle Medien und Akteure wurden für diese Aufgabe als zunehmend ungeeignet angesehen bzw. aufgrund der Verschränkung ihrer Berichterstattertätigkeit mit den Partikularinteressen der Finanzwelt als nicht unabhängig genug erachtet. Finanzielle Kommunikation verlagerte sich so in den Tätigkeitsbericht journalistischer Akteure. Trotz einer immer wieder betonten und zur Norm erhobenen Unabhängigkeit war chische Ökonomist«, 14.12.1872, schrieb: »Individuen, ohne eine blasse Idee von dem Berufe und der Aufgabe der Presse, Jüngelchen, ohne irgendwelche Kenntnisse und Bildung […] fungieren als ›Redakteure‹ und Vertreter der berechtigen öffentlichen Meinung«. »Die Aktie«, 17.12.1872, wunderte sich, dass jedes Organ plötzlich über »einen Spezial-Nationalökonom [verfüge], der für seine Aussprüche, die oft nicht den Tag über verhalten, nichts verlangt als die Anerkennung der nationalökonomischen Unfehlbarkeit.« Zit. n. Reich, S. 44. 80 Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 452; Bertkau, S. 30. – Nach dem Börsenkrach kam das Blatt für 20 Thaler unter den Hammer, s. Archiv für Buchdruckerkunst und verwandte Geschäftszweige, Jg. 13, 1876, S. 170. 81 Lerg-Kill, S. 284, 288. – Das Blatt sollte vor allem auf kulturellem Gebiet reüssieren: Es trat bereits früh als Unterstützer der Musik Richard Wagners auf und führte 1885 als erste Zeitung Berlins einen Sportteil ein.

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der Finanzjournalismus von seinen Anfängen an eng mit den Institutionen und Akteuren des Finanzsektors verflochten. Dies war zum Zweck der Rekrutierung eines fachlich versierten und über Praxiserfahrung verfügenden Personals ebenso unumgänglich wie zum Zweck der Informationsakquise.

2. Finanzmetropolen und journalistische Informationsakquise »Die Lage Frankfurts inmitten des internationalen Verkehrs des gesitteten Europas, und am Kreuzweg der alle Hauptplätze des Kontinents in kürzester Zeit verbindenden Eisenbahnen, der seit Alters anerkannte und bewährte Credit seiner Börse und ihr mächtiger Einfluss auf den Geldmarkt […] machen diesen Platz vorzüglich geschickt zur Her­ ausgabe des projektierten Organes.« Gründungsprospekt des Aktionärs (1853)

Der Finanzjournalismus ist in räumlicher Nähe zu den Institutionen des Finanzsektors und seinen Akteuren entstanden. Seine Schauplätze waren damit jene verkehrsgünstig gelegenen Großstädte mit langer Tradition im Handel, die sich im Laufe des 19.  Jahrhunderts zu den führenden deutschen Finanzmetropolen entwickeln sollten: allen voran Berlin und Frankfurt.82 Hier, umgeben von Banken und Börse, von Handelsgesellschaften und Kaufmannskontoren nahmen die Redaktionen ihren Sitz; hier arbeiteten, recherchierten und schrieben die Journalisten; hier gingen die Zeitungen sofort nach Börsenschluss in Druck und von hier aus expedierte man sie bis in alle Winkel des Reiches. Dieses Umfeld bot der finanzjournalistischen Arbeitspraxis einen kaum zu überschätzenden Vorteil: Die räumliche Nähe zur Bankenwelt und Börse ermöglichte nicht nur effizientere Verfahren der Informationsgewinnung  – etwa durch den persönlichen Börsenbesuch von Pressevertretern. Sie erlaubte darüber hinaus auch interpersonale Kommunikation zwischen Journalisten und den wichtigen Akteuren aus Wirtschaft und Politik, gewissermaßen Hintergrundgespräche, in denen exklusive Informationen ausgetauscht wurden, die räumlich abwesenden Journalisten zumeist unzugänglich blieben. Schließlich konnten aus persönlichen Begegnungen auch Vertrauensverhältnisse er82 Diese waren natürlich auch untereinander nicht gleichrangig und erlebten im historischen Längsschnitt Phasen des Bedeutungsanstiegs und -verlusts. Der Begriff »Finanzmetropole« wird hier in seiner erweiterten Bedeutung verwendet, da er sich so auch auf das 19. Jahrhundert übertragen lässt. Er bezeichnet »eng abgegrenzte Orte mit einer beträchtlichen Konzentration wichtiger professioneller Aktivitäten aus dem Finanzdienstleistungsbereich und der entsprechenden Institutionen«, Schmidt u. Grote, S. 11.

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wachsen, die sich journalistisch im Zugang zu Insiderwissen und verlegerisch in der Zuweisung von Inseraten durch Bankhäuser bemerkbar machten.83 Hermann Scherer begründete die Wahl Frankfurts als Standort für seinen Aktionär nicht zuletzt mit der Lage der Stadt »inmitten des internationalen Verkehrs des gesitteten Europas, und am Kreuzweg der alle Hauptplätze des Kontinents in kürzester Zeit verbindenden Eisenbahnen […].«84 Die finanzjournalistische Praxis war stets in persönliche und lokale Kontexte eingebettet. Auf sie wird im Folgenden näher eingegangen.85 2.1 Bankenviertel und Zeitungsredaktionen Die Effekte der räumlichen Nähe von Bankhaus und Zeitungsredaktion lassen sich besonders prägnant am Beispiel Berlins aufzeigen. In der preußischen und späteren Reichshauptstadt lagen das Zeitungs- und das Bankenviertel dicht beieinander, ja gingen an mehreren Stellen sogar ineinander über. Entwicklungsgeschichtlich ist das Bankenviertel das ältere der beiden.86 Bereits um 1800 verlegten Privatbankiers ihren Wohn- und Geschäftssitz aus dem engen mittelalterlichen Stadtkern in die westlich davon gelegene Friedrichstadt. Hier, im Umfeld des Gendarmenmarkts, entstand seit der Jahrhundertmitte allmählich ein fest umrissenes Bankenviertel als Teil  einer modernen City, in dem neben den wichtigen traditionsreichen Privatbanken Berlins auch die später gegründeten kapitalstarken Handelsgesellschaften und Universalbanken ihre Geschäftszentrale errichteten. Spätestens um 1900 residierten somit zwischen der Prachtstraße Unter den Linden, die die nördliche Grenze des Bankenviertels markierte, und der Leipziger Straße, die es nach Süden hin abschirmte, alle 83 Siehe zum Komplex interpersonaler Kommunikation und den Schwierigkeiten ihrer Historisierung Föllmer. Ihre Bedeutung für die Gestaltung auch der modernen Welt ist erst in den letzten Jahren verstärkt in den Gesichtskreis der Forschung gerückt. 84 Prospekt des Aktionärs, Nov. 1853, IfS, Rechnei nach 1816, Sign. 3244. 85 Die Kategorie des Raumes hat, nach jahrelanger Vernachlässigung, erst in jüngerer Zeit Einzug in die medien- und kommunikationshistorische Forschung gehalten, vgl. etwa Zimmermann. – Fruchtbar erscheint in dieser Hinsicht eine Zusammenarbeit zwischen Geschichtswissenschaft und den Urban and Regional Sciences. Letztere verweisen schon seit Längerem auf die Bedeutung von Metropolregionen als Knoten globaler Wissensnetzwerke und Ressourcenpools, vgl. Kujath, S. 25 und 41. Entgegen älteren Vorstellungen von einem »Ende der Geographie« durch moderne Medien (so etwa O’Brien), die man mit Blick auf die zunehmend transnationale Integration von Finanzmärkten ausmachen zu können geglaubt hat, konstatiert die jüngere Forschung zwar eine Virtualisierung der Finanzökonomie, nicht aber ihre Enträumlichung, und betont die Bedeutung von face-to-face Kontakten bei der Produktion komplexer Finanzdienstleistungen, vgl. Hoyler. Richtig und pointiert auch Strulik, S.  143: »Finanzplätze […] beziehen ihre Bedeutung nicht zuletzt aus dem Sach­ verhalt, dass sich die relevanten Akteure bei Bedarf persönlich begegnen können«. 86 Die Ausführungen im nachfolgenden Abschnitt stützen sich vornehmlich auf Wagner, Dorotheenstadt, S. 229 ff., 380 ff. 643 ff.; Komander; Krause, Berliner City, S.25–49.

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Häuser und Gesellschaften, die in der deutschen Hochfinanz Rang und Namen hatten. Von »großen Festungen« schrieb Werner Sombart in seiner »Geschichte der Deutschen Volkswirtschaft im 19.  Jahrhundert« mit Blick auf diese Banken, von den »neuen Mittelpunkten der Welt: Neu-Sanssouci, Neu Versailles«.87 Urbane Topografien Wie gestaltete sich im Vergleich dazu das Zeitungsviertel? Eine erste räumliche Konzentration der Berliner Presse hatte sich in den 1850er und 1860er Jahren schon deutlich bemerkbar gemacht. Von den 248 Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen, die der Wohnungsanzeiger für 1868 verzeichnete, befanden sich allein 128 Redaktionen in der südlichen Friedrichstadt, also unweit des Bankenviertels. Somit hatten bereits vor der Reichsgründung 51,6 Prozent aller registrierten Redaktionen ihren Sitz in dem späteren Zeitungsviertel um die Kochstraße bezogen und noch ehe die großen Verlagshäuser – Mosse (1871), Ullstein (1877) und Scherl (1883) – ganze Straßenzüge für die Redaktionen und Druckereien ihrer Zeitungen aufkauften, war bereits zu beobachten, wie einige Häuser vom Erdgeschoss bis unter das Dach von einer Vielzahl kleiner Zeitungsredaktionen besetzt war.88 Eine solche räumliche Konzentration von Redaktionen, Verlagen und Druckereien war vor allem aus ökonomischen Gesichtspunkten, dem Grundsatz einer vertikalen Verflechtung gemäß, sinnvoll. Hinzu traten die kommunikationstechnologische Anbindung, die hier, unweit des Haupttelegrafenamtes vorteilhaft war, und, zumal für die politischen Redaktionen, die Nähe zu den Ministerien im Umfeld der Wilhelmstraße. Im Falle von Finanz- und Börsenzeitungen muss jedoch mit in Betracht gezogen werden, dass das angrenzende Bankenviertel ein nicht unerheblicher Beweggrund bei der Wahl des Standorts gewesen sein dürfte. Bereits die erste Gründungswelle entsprechender Zeitungen in den 1850er Jahren gab diesen Trend vor. So hatte sich die Bank- und Handelszeitung (1853) von Anfang an im entstehenden Bankenviertel (Französische Straße 59) niedergelassen. Theodor Killisch von Horn, der Gründer der Berliner Börsen-Zeitung, begann seine Arbeit 1855 zwar noch unweit des historischen Stadtkerns­ (Jüdenstraße 49), verlegte seine Redaktion jedoch schon im darauffolgenden Jahr ebenfalls in das Bankenviertel (Charlottenstraße 28). Er vollzog damit, vermutlich ohne es zu wissen, die gleiche Wanderungsbewegung wie im selben Jahr der junge Privatbankier Gerson Bleichröder, der für das Zeitungsunternehmen Killisch von Horns später noch eine wichtige Rolle spielen sollte.89 Auch die Finanz- und Börsenzeitungen der zweiten Gründungswelle um 1870 kon87 Sombart, Volkswirtschaft, S. 183. 88 Wagner, Dorotheenstadt, S. 231 f. In der Zimmerstraße 91 waren allein neun, in den Häusern Anhalter Straße 11 und 12 sogar 15 Redaktionen untergebracht (ebd., S. 231). Vgl. auch Schauer, Architektur. 89 Zur Frühgeschichte der Berliner Börsen-Zeitung vgl. Bertkau, S.  9–15; zum selben Zeitabschnitt im Leben Bleichröders vgl. Stern, S. 30 ff.

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zentrierten sich allesamt in einigen wenigen Straßen des Zeitungsviertels, so die 1871 gegründete Neue Börsenzeitung (Krausenstraße 41), die Allgemeine BörsenZeitung für Privat-Kapitalisten und Rentiers (1872), die sich in der Leipziger Straße 50 niederließ, sowie der Berliner Actionair, der 1873 ins Leben gerufen wurde und seinen Redaktionsraum in der Lindenstraße 47 bezog. Der Berliner Börsen-Courier (1868) schließlich stieß mit der Wahl seines Standortes (Mohrenstraße 24) bis in das Bankenviertel vor. Ähnliche räumliche Konzentrationsprozesse lassen sich zur selben Zeit auch in Frankfurt beobachten, dem zweiten bedeutenden Finanzplatz Deutschlands. Dort hatten führende Privatbanken wie das Haus Bethmann und M. A. Rothschild & Söhne ihren Sitz nahe dem historischen Roßmarkt, an dem sich zugleich die Börse befand. In diesem Umfeld begannen sich seit den 1850er Jahren auch Finanz- und Börsenzeitungen anzusiedeln. Der Aktionär bezog seine Redaktionsräume in der Buchgasse 2, südlich des Roßmarktes; die Frankfurter Handels-Zeitung Leopold Sonnemanns wiederum saß wenige Hundert Meter nördlich davon. Die gleiche räumliche Schwerpunktsetzung beschrieben auch Zeitungen der zweiten Gründungswelle, wie die 1872 gegründete Frankfurter Börsen- und Handelszeitung (Großer Hirschgraben) Julius Hesdörffers.90 Während in Frankfurt journalistische und finanzielle Akteure und Institutionen im Umfeld des Roßmarkts lagen, befand sich die Berliner Börse nicht direkt im Bankenviertel, sondern rund eineinhalb Kilometer entfernt nahe der Museumsinsel. Bis auf wenige spätere Ausnahmen91 zogen es Zeitungsmacher dennoch vor, in der Friedrichstadt zu bleiben und nahmen den täglichen Weg in Kauf. »Um die Mittagsstunde beginnt die Auswanderung zur Börse«, beschrieb der Handelsredakteur der Berliner Morgenpost, Georg Bernhard, diesen Exodus auf Zeit, und meinte damit nicht nur Journalisten, sondern auch die Börsenvertreter der zahlreichen Bankinstitute, die ihr Büro in den Handelszeiten ebenfalls gegen den Börsensaal eintauschten. Akteure von Finanzwirtschaft und Presse waren an der Börse beisammen.92 90 Diese und die folgenden Adressangaben sind den Köpfen der jeweiligen Zeitungen entnommen oder beruhen auf den Angaben in Sperlings Zeitschriften Adressbuch (1890) und (1911) sowie Kürschner. 91 Erst seit den 1890er Jahren lassen sich allenfalls einige kleinere, vorwiegend auf Börsenberichterstattung spezialisierte Zeitungen nachweisen, die sich direkt neben dem Börsengebäude ansiedelten: so etwa die Börsen-Post (1889), die Kuxen-Zeitung (1897) und der 1892 gegründete Börsennachrichtendienst Correspondenz Gelb. Diese Nähe mochte Satz, Druck und Vertrieb der Zeitungen beschleunigt und verbilligt haben. Allerdings waren größere Blätter zu diesem Zeitpunkt bereits dazu übergangen, sich die Börsenkurse telefonisch von ihren Reportern aus dem Börsengebäude melden zu lassen, so dass das neue Medium in diesem Fall den Vorteil räumlicher Nähe aufhob. Vgl. hierzu die »Verordnung zur BörsenFernsprecheinrichtung« an der Berliner Börse, 24.2.1896, in: Bericht über Handel und Industrie von Berlin, 1896, S. 32. 92 Bernhard, Banken, S. 8 f. – Zur Börse als Kontaktzone von Journalisten und Bankiers siehe Kapitel II.2.3.

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Private Räume: Zu Gast bei Bleichröder Einer der in der Frühzeit des Kaiserreichs prominentesten Börsenbesucher war der Gründer und Chefredakteur der Berliner Börsen-Zeitung Theodor Hermann Killisch von Horn. Seit dem Erscheinen des Blattes Mitte der 1850er Jahre bis zu seinem Tod 1886 betrat er stets zur Mittagszeit den Börsensaal, um hier seine schon bald als klassisch geltenden Marktberichte zu verfassen.93 In frühen Jahren dürfte er bei diesen Besuchen auch dem jungen Bleichröder begegnet sein, der damals noch persönlich zu den Börsenversammlungen erschien. Spätestens in den 1870er Jahren – Bleichröder war mittlerweile zu einem der renommiertesten Bankiers Berlins und einem seiner reichsten Bürger aufgestiegen –94 zeigten die Begegnungen zwischen Killisch von Horn und dem Privatbankier einen vertraulicheren Charakter. Killisch von Horn war es nun gestattet, Bleichröder, den er in seinen Briefen häufig mit »mein hochverehrtester Gönner« ansprach, direkt in seinem Bankhaus aufzusuchen und in der Regel auch bei kurzfristig angekündigten Besuchen vorgelassen zu werden. »Sehr gerne werde ich Sie morgen vormittags 12 Uhr Behufs der gewünschten Rücksprache besuchen«, ließ er den Bankier in einem Brief vom Februar 1879 wissen. Solche und ähnliche Wendungen begegnen in den Briefen Killisch von Horns auch in den folgenden Jahren immer wieder. Sie zeigen, dass er regelmäßig bei Bleichröder vorstellig wurde. Die Lage der Redaktion, die sich nur wenige Parallelstraßen südlich der in der Behrenstraße gelegenen Bleichröder-Bank befand, dürfte diese Intensivierung des Kontakts erleichtert und befördert haben. Auf einen Brief des Bankiers erwiderte Killisch gehorsam, »daß ich auf dem Wege zur Börse kurz nach 12 Uhr bei Ihnen mitvorsprechen werde«. An einem anderen Tag bat er um Entschuldigung, »wenn ich mir die Erlaubnis erbitte, gleich heute noch auf eine Minute zu Ihnen zu kommen.«95 In der schriftlichen Korrespondenz beider klingt vereinzelt noch das Echo ihrer persönlichen Gespräche nach. So nutzte Killisch von Horn den Kontakt zu Bleichröder, um Hintergrundinformationen über laufende Emissionsverhandlungen zwischen Hochfinanz und Politik einzuholen, die er für sein Blatt zu verwerten gedachte. Als das Haus Bleichröder im Oktober 1879 in Verhandlungen mit der Zarenregierung über die Emission einer neuen Anleihe getreten war, wandte sich Killisch umgehend an seinen Gönner: »Es steht heute in den Pariser Blättern die Nachricht von der Entsendung Ihrer Delegierten nach Petersburg, freilich mit Angabe von Gründen, die mir nicht ganz zutreffend erscheinen. Da ich nun doch jedenfalls auch auf die Sache zurückkommen möchte, ist mein Wunsch mich bei Ihnen zu informieren, in welcher Weise ich dies thun kann, ohne indiscret zu erscheinen. Ich werde Sie nur eine Minute dabei aufhalten.«96 93 Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 450 f. 94 Stern, S. 213. 95 Killisch von Horn an Bleichröder, Briefe vom 2.2.1879, 14.10.1879, 15.10.1879, BP, Box XXIII. 96 Killisch von Horn an Bleichröder, 15.10.1879, BP, Box XXIII.

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Abb. 5: Hermann Killisch von Horn ­(1821–1886) (Quelle: Bertkau, S. 32)

Abb. 6: George Davidsohn (1835–1897) (Quelle: Wrede, S. 54)

Ein anderes Mal erbat der Chefredakteur »weitere Informationen« für eine Reihe von Artikeln, die, so vergaß er nicht anzufügen, »hoffentlich dazu beitra­ gen werden, die richtige Auffassung Platz greifen zu lassen«. Ganz abwegig wäre die Vorstellung, Bleichröder gewährte uneigennützig Blicke hinter die Ku­ lissen finanzieller Geschäfte. Denn die »richtige Auffassung«, der Killisch von Horn öffentlich zur Durchsetzung verhelfen wollte, hatte sich in solchen Fällen mit den Interessen Bleichröders zu decken. Am Ende glaubten sich beide im Vorteil: Bleichröder benutzte die Berliner Börsen-Zeitung, um Einfluss auf die »öffentliche Meinung« zu nehmen, Killisch seinerseits kam in den Genuss exklusiver Informationen, mit denen er gegenüber seinen Lesern aufwarten konnte. Vertrauliche Gespräche in der intimen Atmosphäre des Bankhauses gaben persönlichen Kontakten, wie sie flüchtig an der Börse entstanden, eine ganz andere Qualität und Tiefe. Vorgelassen zu werden in die innersten Zirkel der deutschen Hochfinanz, bedeutete für viele Zeitungsmacher einen unschätzbaren Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten auf dem Pressemarkt. Dies wusste nicht nur Killisch von Horn. Ebenfalls Platz im Direktorenzimmer der Bleichröder-Bank nahm George Davidsohn, der bis 1868 selbst als Redakteur für die Zeitung Killisch von Horns gearbeitet hatte, sich dann aber sein eigenes Blatt, den Berliner Börsen-Courier, geschaffen hatte und dadurch in unliebsame Konkurrenz zu seinem ehemaligen Arbeitgeber getreten war. So buhlten denn auch beide um die Gunst des Bankiers. Davidsohn, dessen Bruder Robert ein Freund Richard Wagners war, schenkte Bleichröder manchmal Karten zu einem 87

Konzert des Komponisten.97 Ein anderes Mal wiederum versäumte es Killisch von Horn nicht, Bleichröder auf einen »böswilligen Artikel« in Davidsohns Berliner Börsen-Courier hinzuweisen und daran die Bemerkung anzuschließen, dass man einen solchen »angesichts der vielen Freundlichkeiten, die Sie Davidsohn erweisen, kaum für möglich halten sollte«.98 Die Gunstzuweisungen des Bankiers registrierten beide Chefredakteure genau, und jede Minute, die Bleichröder mal diesem, mal jenem gewährte, war kostbar für das Zeitungsunternehmen insgesamt. Als Davidsohn im August 1880 mehrmals nicht zu Bleichröder vorgelassen wurde, klagte er sogleich in einem Brief an den Bankier über diese »wiederholte Zurückweisung, die ich bei meinen häufigen Besuchen während der letzten vierzehn Tage erfahren habe«. Er würde ja von weiteren Versuchen absehen, wenn es allein um sein persönliches Interesse ginge. »Indes handelt es sich für mich nicht um meine Person, sondern um das Interesse meines Unternehmens und ich bin nicht berechtigt, dasselbe durch meine persönliche Empfindlichkeit zu gefährden«. Unzweideutig bat er Bleichröder daher, ihn wissen zu lassen, ob »ich auch fernerhin den für die Zeitung so wesentlichen Vorzug haben kann, Ihnen meine Aufwartung machen zu dürfen.«99 Killisch von Horn und Davidsohn waren keine gewöhnlichen Journalisten, sondern Exponenten des finanzjournalistischen Feldes, ihre Blätter die auflagenstärksten des Finanzsegments.100 Mithilfe der Berliner Börsen-Zeitung war Killisch von Horn sogar zu einem wohlhabenden Bürger aufgestiegen und bezog in Berlin eine »fürstlich eingerichtete Villa«, in der man ihn, wie ein Zeitgenosse spöttelte, nur »der Baron« nannte.101 Davidsohn seinerseits war eine »vielumworbene Persönlichkeit; von den verschiedensten Seiten her bemühte man sich um [sein] Wohlwollen.«102 Mit beiden verkehrten nicht lediglich Chefredakteure im Hause eines Privatbankiers, sondern in ein und derselben Person Verleger, Unternehmer und Geschäftskunden, die sozial weit über gewöhnlichen Journalisten rangierten. Nicht jeder Vertreter der Presse, so muss betont werden, hatte damit Zugang zu Bleichröder. Wem dieses Privileg zu Teil wurde, entschied der Bankier vermutlich situationsabhängig und nach Nützlichkeitsgesichtspunkten. Ein, wenn auch nur moralisches Recht der Presse auf Auskünfte über den Weg persönlicher Gespräche gab es nicht.103 Gleichwohl 97 Davidsohn an Bleichröder, o. D. [um 1880], BP, Box XXIII. 98 Killisch an Bleichröder, 6.12.187, BP, Box XXIII. 99 Davidson an Bleichröder, 22.4.1880, BP, Box XXIII. Der kursiv hervorgehobene Teil  ist vom Empfänger des Briefes unterstrichen worden. 100 Die Berliner Börsen-Zeitung erschien 1878 in einer Auflage von 12 000, der Berliner BörsenCourier von 9000 Exemplaren, siehe die Angaben LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 14410, Bl. 65 ff. 101 Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 450. – Daneben war Killisch von Horn in der Reichshauptstadt bereits zu Beginn der 1870er Jahre als Besitzer einer prächtigen Gartenanlage im Norden der Stadt bekannt, vgl. Killisch-Horn. 102 Kastan, S. 197. 103 Siehe zu den Kontakten Bleichröders zur politischen Presse Stern, S. 372–394. Bleichröder hatte 1870 kurzzeitig erwogen, gemeinsam mit dem Frankfurter Bankhaus Rothschild ein eigenes Finanzblatt zu gründen (Ebd., S. 391).

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zeigte sich die Berliner haute finance  gegenüber ausgewählten Vertretern der Presse entgegenkommend, man wusste um die Vorteile guter Beziehungen zu Zeitungsunternehmern und tonangebenden Redakteuren und bezeugte seine Freundschaft zu ihnen durch öffentlich erbrachte symbolträchtige Reverenzen. Das 25-jährige Dienstjubiläum von Julius Schweitzer, dem ersten Börsenjournalisten Berlins, wurde im April 1875 groß begangen. Die vereideten Makler der Berliner Börse richteten ein Festessen zu Ehren des Jubilars aus und die Ältesten der Berliner Kaufmannschaft setzten ein Gratulationsschreiben auf, in dem sie die Hoffnung aussprachen, »dass die göttliche Vorsehung es Ihnen gestatten möge, noch weitere 25 Jahre auf dem von Ihnen stets so unpartheiisch gewanderten Wege wirken zu können, wie wir auch hoffen, dass die angenehmen Beziehungen, die uns mit Ihnen verbinden, während dieser Zeit stets dieselben bleiben werden.«104 Prächtiger fielen die Ehrerweise zum 25-jährigen Bestehen der Berliner Börsen-Zeitung aus. Gemeinsam übergaben die Disconto-Gesellschaft, die Bank für Handel und Industrie sowie das Haus S. Bleichröder ihrem Besitzer und Chefredakteur einen aufwendig gearbeiteten Tafelaufsatz. Killisch bedankte sich für dieses »Wunderwerk der Goldschmiedekunst«. Es sei ihm ein überaus wohltuendes Gefühl gewesen zu sehen, »wie es mir gelang, durch meine langjährige angestrengte Tätigkeit einen Kreis wohlwollender Freunde zu erwerben«.105 Formelle Räume: Journalisten im Großbankenbetrieb Die Beziehungen zwischen dem verlegerisch-journalistischen Führungsperso­ nal von Zeitungen und den mächtigen Privatbankiers der Reichshauptstadt lassen sich damit keinesfalls als bloßes Abhängigkeitsverhältnis charakterisieren. Sie waren vielmehr nach dem Prinzip des Do ut des strukturiert: Man brauchte sich in der Regel gegenseitig, die Zeitungsmacher dabei vielleicht ein wenig mehr die Hochfinanz als umgekehrt. Doch je wichtiger die »öffentliche Meinung« im Kalkül von Bankiers und Unternehmern wurde, desto mehr konnten sich Pressevertreter eines wohlwollenden Entgegenkommens vonseiten der Wirtschaftsführer gewiss sein. Großstädte wie Berlin und Frankfurt boten dabei die geeignete Kulisse, um zwei Akteursgruppen, die einst nur wenig verbunden hatte, einander näher zu bringen. Orte persönlichen Kontakts waren dabei nicht nur Bankhäuser, sondern ebenso Restaurants. Bereits in den 1870er Jahren trafen sich Pressevertreter und Bankiers in einem neben dem Börsengebäude gelegenen Lokal, das ihnen eine intimere Gesprächsatmosphäre bot als der laute Börsensaal.106 Der Börsenjournalist Georg Bernhard wusste um 104 Älteste der Berliner Kaufmannschaft an Schweitzer, 19.4.1875, zit n. Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 248 f. 105 Killisch an Bleichröder, 4.7.1880, BP, Box XXIII; Bertkau, S. 41. 106 Bericht der Ältesten der Berliner Kaufmannschaft an das preußische Handelsministerium, 4.10.1875, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1 Nr.2, Bd.1. In diesem Fall handelte es sich um eine Begegnung von Killisch von Horn und dem Bankier Curt Sobernheim.

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1900 von zwei Weinrestaurants im Bankenviertel zu berichten, in denen »die Herren Chefs und Bankdirektoren« zu frühstücken pflegten: »Hier am Frühstückstisch wird die Börse vorbereitet und hier ist schon manches Geschäfts von erheblicher Wichtigkeit eingeleitet worden. Man darf glauben, daß die Zahlkellner jener Restaurants manch armem Schlucker an der Börse durch das, was sie vom intimen Stammtischgespräch erlauschen, ein Vermögen verschaffen könnten.«107 Mit den monumentalen Prachtbauten der Großbanken entstanden seit den 1880er Jahren neue Kontaktzonen im urbanen Raum. Die Architektur traditioneller Privatbanken entsprach den Arbeits- und Wohngepflogenheiten vergangener Zeiten: Hier bestand noch keine strikte räumliche Trennung von Büround Privaträumen, das Bankhaus Bleichröders umfasste zugleich auch seine Privatwohnung.108 In den Großbanken war dies anders. Nach dem Muster moderner Unternehmen organisiert, war hier das Prinzip der funktionalen Differenzierung umgesetzt, und im gleichen Maße formalisierten sich dadurch auch die Zusammenkünfte mit den Vertretern der Presse. Bernhard lieferte zur Jahrhundertwende folgende Beschreibung der Direktion einer typischen Großbank: »Wir befinden uns in einem Sprechzimmer. Jeder Direktor hat neben seinem Bureau­ raum ein solches Zimmer zur Verfügung. Er empfängt nur seine ganz Intimen in dem hohen, teppichbelegten Raum, der ihm als ständige Arbeitsstätte dient. Im Sprechzimmer steht hinter einem kleinen Tisch mit dem notwendigsten Schreibmaterial ein mehr oder weniger altes, elegantes Sofa, das von ein paar Sesseln flankiert wird. Für eine Besprechung mit einer größeren Personenzahl stehen Konferenzsäle zur Verfügung.«109

Für die Jahrhundertwende lassen sich somit zahlreiche Orte unterschiedlicher Funktion ausmachen, in denen Journalisten den Vertretern des Finanzsektors begegneten. Man traf sich an der Börse, auf öffentlichen Aktionärs- oder Aufsichtsratsversammlungen oder bei diversen gesellschaftlichen Anlässen, man lernte sich kennen, führte Konversation und sammelte als Journalist soziales Kapital. Das Verhältnis von Journalisten und Bankiers war nun weniger durch persönliche Bande bestimmt, wie noch in den 1870er Jahren im Falle der Chefredakteure Killisch von Horn bzw. Davidsohn und Bleichröder, sondern nun auf formalisierte, gleichsam bürokratische Grundlagen gestellt. Dies zeigte sich auch institutionell in den nun in Unternehmen vermehrt eingerichteten Pressebüros, die die Kommunikation mit der Öffentlichkeit mittels der Presse vermitteln sollten.110 Ein interner Polizeibericht machte schon zu Beginn der 1890er Jahre auf den Usus aufmerksam, wonach Börsenredakteure ihre Visitenkarten 107 Bernhard, Banken, S. 9. 108 Vgl. die Schilderung bei Fürstenberg, S. 56. 109 Bernhard, Banken, S. 13. 110 Siehe hierzu Kapitel III.1.1.

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bei den Bankhäusern einreichten, um sich in entsprechenden Kreisen bekannt zu machen; auch führten viele Bankinstitute bereits Listen über Börsenredakteure, die »in den betreffenden Bankkreisen genau bekannt« seien.111 2.2 Telegrafische Kommunikationsräume Über Städte wie Berlin, Frankfurt und Hamburg spannte sich seit der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts ein immer dichter werdendes Netz telegrafischer und telefonischer Verbindungen, über die Informationen in einer niemals zuvor gekannten Geschwindigkeit um den Globus zirkulierten. Die Nachricht vom Tode Friedrichs des Großen brauchte 1786 noch 14 Tage, um von Potsdam nach Karlsbad, wo Goethe sich damals aufhielt, zu gelangen. Und auch von der Eroberung von Paris 1814 erfuhr man in Berlin erst ganze neun Tage später. Der elektrische Telegraf, 1837 von Samuel Morse erstmals erprobt und in den Jahren danach weiterentwickelt, verkürzte diese Zeiten dramatisch. 1850 bereits erreichten in Paris, London oder Wien aufgegebene Telegramme die preußische Hauptstadt nach nur einem Tag; auch der volle Monat, den eine Nachricht aus Bombay unterwegs war, bis sie in Berlin eintraf, nahm sich verschwindend gering aus im Vergleich zu früheren Zeitspannen. Mit der Verlegung eines transatlantischen Telegrafenkabels 1865 wurde der amerikanische Kontinent an das europäische Netz angeschlossen. Briefe, die vorher noch zwei bis drei Wochen per Schiffspost zwischen den Kontinenten unterwegs gewesen waren, übermittelte der »elektrische Funke« in nur einer Nacht. Und bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs hatten sich auch diese Beförderungszeiten aufs Neue um ein Vielfaches minimiert und in kaum mehr wahrgenommene Halbstunden- oder Minutenintervalle aufgelöst.112 Börsentelegramme Neben der Börse war die Presse die erste Einrichtung, die von dem neuen Medium profitierte und sein Potenzial gezielt zu nutzen verstand. Bereits im Laufe des Jahres 1849 waren die ersten Telegrafenlinien zwischen Berlin und Frankfurt bzw. Hamburg fertiggestellt und wenig später durch Beschluss des preu­ ßischen Staatsministeriums, wenngleich noch unter Einschränkungen, für den Privatverkehr freigegeben worden.113 Nun war es auch den Zeitungsredak111 Interner Bericht für den Polizei-Präsidenten von Berlin, 20.11.1892, LAB, A Pr Br, Rep. 030, Nr. 12129, Bl. 97 f. 112 Vgl. den neueren kultur- und technikgeschichtlichen Überblick hierzu von Hartmann, S. 9–79. Die Beispiele sind entnommen aus Thrun, S. 143. Vgl. zum ersten, nur kurzzeitig funktionsfähigen Transatlantikkabel von 1858 die vorzügliche Studie von Holtorf. 113 Reindl, S. 62–71. – Das Regulativ vom 6. August 1849 hielt beispielsweise fest, dass eine Beförderung von Privattelegrammen nur insoweit stattfinden könne, »als die vertragsmäßige Beförderung der verschiedenen Staatsdepeschen und der Depeschen der Eisenbahn-Verwaltungen solches gestatten« (zit. nach ebd., S. 70).

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tionen möglich, sich durch Nutzung des Telegrafen Nachrichten von auswärts kommen zu lassen. Als eines der ersten deutschen Blätter war es die liberale Berliner National-Zeitung, die Telegramme in ihre Spalten aufnahm. Einer ihrer Gründer und zugleich ihr Geschäftsführer, Bernhard Wolff (1811–1879), kündigte Ende November 1849 an, »durch ausgedehnte Verträge in den Stand gesetzt [zu sein], einstweilen täglich telegraphische Depeschen aus Paris, London, Amsterdam und Frankfurt geben zu können. Dieselben werden nicht nur das kaufmännische Interesse nach allen Richtungen hin berücksichtigen, sondern auch die wichtigsten politischen Thatsachen auf das Schnellste zur Kenntnis des Publikums bringen.« Man habe geglaubt, begründete Wolff diesen Schritt, »im Interesse unserer Leser das neue Kommunikations-Mittel des Telegraphen nicht unbeachtet lassen zu dürfen.«114 Aufgrund der hohen Kosten ging Wolff schon bald dazu über, die von seinen Korrespondenten erhaltenen Telegramme gegen eine Gebühr auch anderen Berliner Zeitungen zugänglich zu machen. Er legte mit dieser Dienstleistung, Nachrichten mit schnellsten Beförderungsmitteln »zentral zu sammeln, zu sichten und an feste Bezieher weiter zu verbreiten«,115 den Grundstein zur ersten deutschen Nachrichtenagentur, des später Wolff’s Telegraphisches Bureau (WTB) genannten Unternehmens.116 Für eine finanzjournalistische Berichterstattung, wie sie sich seit den 1850er Jahren allmählich konstituierte, war die elektrische Telegrafie von hohem Wert. Gerade zur Übermittlung von Kursnotierungen auswärtiger Börsenplätze eignete sich das neue Medium besonders gut, denn hier war durch Nennung des Kursstandes das Wesentliche in der denkbar kürzesten Form gesagt – ein Vorteil, der gerade in den Anfangsjahren und ihren extrem hohen und recht willkürlich festgesetzten Telegrammgebühren eine gewichtige Rolle spielte.117 Auf den Aufwand, den die Presse schon in Zeiten vor Einführung des elektrischen Telegrafen zur Erlangung von Börsenmeldungen unternommen hatte, ist anderer Stelle bereits eingegangen worden.118 Ganz in diesem Sinne war auch die erste von Wolff verbreitete Depesche eine über Kursstände von Staatsanleihen und Eisenbahnobligationen an der Frankfurter Börse.119 Und auch in den folgenden Jahrzehnten rangierten Zahlen- und Börsenmeldungen an oberster Stelle aller in der Tagespresse veröffentlichter telegrafischer Meldungen. 1849 entfielen auf dieses Segment ganze 72 Prozent aller in der NationalZeitung abgedruckten Depeschen, 1879 waren es schon 79  Prozent und 1899 sogar

114 National-Zeitung, Nr. 434 (Abendausgabe), 28.11.1849, S.1. 115 Wilke, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 245 f. 116 Vgl. hierzu Basse. 117 Noch 1858 zahlte man für ein Telegramm von 20 Worten von Frankfurt nach Nürnberg (2 Gulden 6 Kreuzer) fast genau so viel wie nach Amsterdam (2 Gulden 48 Kreuzer), nach Bochum (4 Gulden 14 Kreuzer) fast ebenso viel wie nach Tilsit (4 Gulden 54 Kreuzer), vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 17. 118 Siehe Kap. I. 2. 119 Abgedruckt in Thrun, S. 143.

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82 Prozent.120 Im Verbund mit der Presse beförderte die elektrische Telegrafie eine geografisch ausgreifende Kursöffentlichkeit, die bis in die ländlichen Regionen, in die Spalten der Lokalzeitungen, expandierte und Börsenkurse damit einer immer größeren Zahl von Menschen in einer immer weiter gesteigerten Aktualität zugänglich machte. Nachrichtenagenturen und globaler Nachrichtenverkehr Großstädtische Leser von Finanz- und Tageszeitungen waren also seit den 1850er Jahren über die in- und ausländischen Börsenverhältnisse zunehmend aktueller im Bilde und konnten dieses Wissen in ihr lokales Markthandeln mit einbeziehen. Vom Ausbau des Telegrafennetzes und dem Aufbau von professionellen Sammel- und Distributionsinstitutionen, also Nachrichtenagenturen, schienen damit sowohl professionelle Marktakteure als auch Privatanleger zu profitieren.121 Seit ihrem Entstehen haben Nachrichtenagenturen die Versorgung der Gesellschaft mit Finanzinformationen zu einem ihrer hauptsächlichen Ziele erkoren, dies gilt, wie wir bereits gesehen haben, für das WTB, ebenso aber auch für sein englisches bzw. französischen Pendant, Reuters und Havas.122 Sie alle stiegen bald schon zu weltweit dominierenden Agenturen auf – das WTB mithilfe staatlicher Protektion  –, sie beherrschten den internationalen Nachrichtenmarkt, teilten die Welt unter sich in Interessensphären auf und vereinbarten im Kartellvertrag von 1870 den Austausch von Nachrichten untereinander aus der Sphäre des jeweils anderen. Dies senkte zwar die Kosten, machte die Börsenberichterstattung in der Tagespresse allerdings auch uniformer, da sie zumeist lediglich auf den Meldungen eines der drei großen Nachrichten­büros basierte.123 Kleinere Agenturen hatten es dagegen schwer, sich eine Nische zu erkämpfen. Louis Hirsch (um 1828–1905), ein Berliner Unternehmer, gründete 1862 Louis Hirsch’s Telegraphisches Büro, das sich in seiner Anfangszeit fast ausschließlich auf die Handelsberichterstattung konzentrierte. Zwar überdauerten auch solche kleineren Nachrichtenagenturen die Jahrzehnte, mussten sich dabei jedoch nicht nur gegen die großen Drei mit ihrer marktbeherrschenden Stellung durchsetzen, sondern ebenso gegen eine misstrauisch gestimmte Re-

120 Die Angaben folgen der statistischen Auswertung von Wilke, Depeschen, S. 125–151, insbesondere S. 130. 121 So betonten auch immer wieder Organe des Handels gegenüber staatlichen und städtischen Stellen die Dringlichkeit einer stärkeren Öffnung des Telegrafen für den Privat- und Handelsverkehr. Vgl. Eingabe der Frankfurter Handelskammer an das Rechnei- und Rentenamt, 14.2.1851, in: Gundlfinger, S. 36. 122 Die Ursprünge der drei großen Nachrichtenagenturen – Reuters, Havas und Wolff – liegen alle in der Nachfrage nach »financial intelligence from an increasingly international­ business community«, wie Palmer u. a., S. 62, feststellen. Charles Havas kam, ebenso wie der Deutsche Reuters, aus dem Bankensektor, bevor er sein Unternehmen gründete. Beide eröffneten ihre Büros im unmittelbaren Umfeld der Börse. 123 He, S. 71; Ahvenainen; Wilke, Depeschen, S. 149.

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gierung, die durch sie die Möglichkeit einer wirksamen Kommunikationskontrolle gefährdet sah.124 Von einer solchen Konkurrenz unter den Nachrichtenagenturen, wie sie an manchen Standorten anzutreffen war, konnten Zeitungen profitieren. Der Finanz- und Zeitungsstandort Frankfurt zeigt dies besonders deutlich. Dort war man zur telegrafischen Nachrichtenbeschaffung noch bis zum Ende der 1850er Jahre auf das Berliner WTB angewiesen, dessen Zweigstelle den Frankfurter Markt monopolistisch beherrschte. Zeitungen waren dabei genötigt, so sie den Vorzug telegrafischer Meldungen überhaupt nutzen wollten, für die horrende Summe von 1500 Gulden den Dienst des WTB zu abonnieren, der  – wie der Herausgeber der Frankfurter Handels-Zeitung Leopold Sonnemann kritisierte – dafür nicht viel biete. Sonnemann selbst hatte damals für seine Zeitung Depeschen von den Hauptbörsenplätzen durch eigene Korrespondenten direkt bezogen, was aber »pekuniäre Opfer, die sehr bedeutend« waren, erfordert hatte. Für die Leser seines Blattes war dieser Dienst allerdings äußerst wertvoll. Als im August 1857 in den USA zahlreiche Banken fallierten und damit die erste als weltweit zu bezeichnende Wirtschaftskrise auslösten, war die Frankfurter Handels-Zeitung durch diesen Dienst in die Lage versetzt, ihre Leser 12 bis 24 Stunden früher als andere Blätter über das Ereignis zu informieren.125 In einem Artikel seiner Zeitung regte Sonnemann daher wenig später an, ein »Frankfurter Depeschen-Bureau« zu errichten, das unter die Aufsicht der Handelskammer gestellt werden sollte.126 Bis zur Verwirklichung dieses Vorschlags sollten allerdings noch knapp zwei Jahre vergehen. Denn erst im August 1859 betrat mit der Gründung von Wagners Telegraphischem Bureau eine weitere Nachrichtenagentur den Frankfurter Markt.127 Doch verschaffte auch das neue Büro dem Frankfurter Platz keine nachhaltige Besserung seiner Nachrichtenversorgung. Die Annexion Frankfurts durch Preußen 1866 hatte überdies zu einer Verschlechterung des Telegrafendienstes geführt, da mit ihr die sich in Frankfurt befindenden süddeutschen Telegrafenstationen aufgehoben wurden und so die Benutzung verschiedener internationaler Linien verlorenen gegangen war. Dies war umso schmerzlicher, als die Frankfurter Börse sich in den 1860er Jahren dem amerikanischen Wertpapiermarkt zugewandt hatte und daher auf umfangreichere Meldungen aus den USA angewiesen war, als sie das WTB bereitzustellen vermochte.128 Abhilfe schuf 1867, wenngleich nur vorübergehend, die Gründung des Telegraphischen 124 Wunderlich, S. 24, 29.  125 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 35. 126 Frankfurter Handels-Zeitung, 24.11.1857. 127 Die wenigen dazu überlieferten Angaben hat zusammengetragen Wunderlich, S. 45 f. Das nach seinem Leiter Anton Martin Wagner (1828–1907) benannte Büro bestand bis zu seiner Übernahme durch das WTB 1893, wurde jedoch zu keiner Zeit ernsthaft zu dessen Konkurrenten. 128 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 174. – Die Frankfurter Handelskammer drängte mit einer Eingabe an Handelsminister Bismarck auf eine Verbesserung der Situation.

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Bureaus für Mittel-, West- und Süddeutschland durch den Frankfurter Kaufmann Matthäus Reul. Diesem war es durch Verträge mit dem britischen Nachrichtenbüro Reuters möglich geworden, in London einlaufende Börsenkursmeldungen aus den USA direkt aus der britischen Hauptstadt zu beziehen und in Frankfurt zugänglich zu machen. »Nun erst«, beschrieb die Frankfurter Handelskammer die Vorzüge des neuen Dienstes in einer Eingabe an Bismarck, »wurden die New Yorker Course, welche für Frankfurt a. M. die bestimmenden sind, und zwar durch das Reuter’sche Telegraphen-Büreau, schnell, regelmäßig, frühzeitig und sicher mitgetheilt, und gewährten dem Frankfurter Geschäfte in diesen Sachen einen festen und beruhigenden Anhalt. Unter dem Alleinbestehen der Wolff ’schen Agentur fehlten diese so gearteten telegraphischen Mitteilungen.«129

Das preußische Handelsministerium jedoch wähnte, dass Reuters über das Reul’sche Büro in den deutschen Markt eindringen wolle. So war dem neuen Büro keine lange Dauer beschieden: im Februar 1870 wurde es auf behördlichen Beschluss geschlossen.130 Weitere Unzulänglichkeiten in der telegrafischen Nachrichtenversorgung der deutschen Presse offenbarte aufs Neue die zweite Weltwirtschaftskrise, die, nach einem Krach der Wiener Börse im Mai 1873, im Herbst desselben Jahres mit der Zahlungseinstellung mehrerer New Yorker Bankhäuser und einer auf sie folgenden Börsenpanik einsetzte. In Deutschland erfuhren Zeitungsleser bereits zwei Tage später von den Ereignissen in New York. Die Presse musste dabei jedoch auf Telegramme zurückgreifen, die ihr durch das WTB zugegangen waren und welche dieses wiederum von der britischen Nachrichtenagentur Reuters erhalten hatte. Ihre Zuverlässigkeit war daher kaum zu prüfen, und schon bald wurden Beschwerden in der Berliner Presse laut, »die Reuter’schen Telegramme aus Amerika [hätten] in den letzten Tagen vielfach Schönfärberei getrieben«.131 Einzig die Frankfurter Zeitung hatte damals, wie sie sich später rühmte, als einzige »unter allen kontinentalen Blättern« einen festen Korrespondenten in New York, der ihr von dort eigene Telegramme zukommen ließ.132 Durch das einst in Frankfurt als Konkurrenz zum WTB ins Leben gerufene Wagner’sche Büro gelangten lokale Zeitungen in den Besitz von Reuter-Telegramm, ohne dass diese zuvor den Umweg über das Berliner WTB hatten machen müssen. Gleichwohl wurde die Nachrichtenagentur den Ansprüchen, die man an sie richtete, nicht gerecht. Wie nicht selten im Telegrafenverkehr des 19. Jahrhunderts blieben technisches und menschliches Vgl. das Schreiben vom 8. November 1867, abgedruckt in: Handelskammer Frankfurt am Main, Jahresbericht 1867 (1868), S. 28 f. 129 Schreiben vom 23.9.1867, abgedruckt in: Frankfurter Handelskammer: Jahresbericht 1867 (1868), S. 33 (Hvh. i. O.). 130 Wunderlich, S. 37–41. 131 Frankfurter Zeitung, Nr. 268 (Zweites Blatt), 25.9.1873, S. 3. 132 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 174. – Neben dem Frankfurter Blatt besaß unter den europäischen Zeitungen einzig die Times einen Spezialkorrespondenten in New York, vgl. Kellen, S. 147.

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Versagen stets unberechenbare Größen. »Ließen in den letzten Wochen schon die Reuter’schen Telegramme aus Amerika sehr viel zu wünschen übrig«, monierte die Frankfurter Zeitung Anfang Oktober 1873, »so werden sie doch durch die Leistungen des hiesigen Wagner’schen Telegraphenbureau’s noch bedeutend in den Schatten gestellt.« Dessen einfache Aufgabe sei es gewesen, die in London ankommenden Depeschen Reuters nach Frankfurter weiter telegrafieren zu lassen. Dem Büro waren dabei jedoch Fehler unterlaufen, die eine korrekte Beurteilung der amerikanischen Verhältnisse durch deutsche Marktteilnehmer gänzlich unmöglich machten: »Reuter’s Agent telegraphierte, dass das Gold-Clearinghouse geschlossen sei. Dem Agenten des Wagner’schen Bureau’s scheint das Wörtchen Gold überflüssig zu sein; er telegraphiert einfach, dass das Clearing House geschlossen sei. Bekanntlich ist das Gold-Clearinghouse nur das wenig einflussreiche Abrechnungsbureau einer Winkelbörse, das man schon bei minder wichtigen Anlässen auf einige Tage geschlossen hatte, während das allgemeine Clearinghouse den gesamten Geld- und Bankverkehr der Metropole vermittelt. Die angebliche Schließung dieser Anstalt musste wirklich als eine Calamität von großer Tragweite angesehen werden. Wenige Tage darauf meldet eine Wagner’sche Depesche: ›Der Handelsrath von Chicago hat Verkäufe von Getreide verboten‹. Diese Nachricht war absolut unverständlich. Die Reuter’sche Depesche erklärte bald das Räthsel. Man hatte es wieder nicht der Mühe werth befunden, das Wörtchen Zeit, mit zu telegraphieren. ›Zeitverkäufe‹ hatte der Handelsrath verboten«.133

Es erwiese sich somit als voreilig, wollte man die elektrische Telegrafie als Medium feiern, das automatisch zu mehr Marktransparenz beigetragen und Markthandeln damit rationaler gestaltet habe.134 Wie das Beispiel zeigt, war bisweilen genau das Gegenteil der Fall. Mit dem weiteren Ausbau des weltweiten Telegrafennetzes in den 1880er und 1890er Jahren gehörten Behelfsmaßnahmen wie das fehleranfällige Weitertelegrafieren über zahllose Relaisstationen bald schon der Vergangenheit an.135 Neue Verbindungen erschlossen weitere Städte, besseres Isoliermaterial erhöhte die Leitfähigkeit und Kapazität der Kabel, und immer mehr Direktverbindungen machten ein Weitertelegrafieren von Nachrichten unnötig. Durch diese Entwicklung erfuhr der Finanzjournalismus in seinen Arbeitsabläufen einen weiteren Beschleunigungsschub und die Börsenspalten der Tagespresse eine nie gekannte Informationsfülle und Aktualität. Augenfällig wird dies in der steigenden Periodizität und dem wachsenden Umfang der Zeitungen. Seit den 1880er Jahren erschien die Frankfurter Zeitung wochentags dreimal täglich. Das sogenannte »1. Morgenblatt« wurde schon am Vorabend gedruckt und aus133 Frankfurter Zeitung, Nr. 276 (Erstes Blatt), 3.10.1873, S. 3 (Hvh. i. O.). 134 So pauschal Gömmel, S. 150. – Siehe dagegen die abwägende Studie von Holtorf. 135 Zwischen 1870 und 1890 hatte sich die Länge des deutschen Telegrafennetzes nahezu verdreifacht von 20 400 Meilen (1870) auf 57 700 Meilen (1888), vgl. Mulhall, S. 460.

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gegeben. Es enthielt den vollständigen »Berliner Coursbericht« der Wertpapierbörse vom Nachmittag, der dem Blatt von einem eigenen Hauptstadt-Korrespondenten übermittelt wurde sowie die Schlusskurse der Pariser, Hamburger, Amsterdamer und Londoner Effektenbörsen des gleichen Tages, wie sie das WTB mitteilte. Das »2. Morgenblatt« – in der Nacht gesetzt und gedruckt, am frühen Morgen zum Verkauf bereitgestellt – brachte die Schlusskurse der New Yorker-Aktienbörse vom Vortag, die der dortige Korrespondent um 17 Uhr per Telegramm abgeschickt hatte. Im »Abendblatt«, das mittags sofort nach Börsenschluss gesetzt, gedruckt und in Frankfurt bereits am Nachmittag verkauft wurde, folgte anschließend ein ausführlicher »Frankfurter Börsenbericht« sowie aus Berlin erste Kursstände wichtiger Notierungen während des dort noch laufenden Börsenhandels. Zudem brachte die Abendausgabe die vom WTB verbreiteten Anfangskurse der Pariser Börse (12.20 Uhr) und die durch einen eigenen Korrespondenten erhaltenen Kurse der Londoner Börse.136 Ähnlich dicht, doch mit leicht verschobenem geografischem Blickfeld erwies sich die Börsenberichterstattung des Berliner Börsen-Courier. Das Blatt war mit einer Morgen- und einer Abendausgabe auf dem Markt vertreten und lieferte darin im Unterschied zu der Frankfurter Zeitung auch die Schlusskurse der Börsen in Triest, Wien, Breslau und Leipzig sowie einen ausführlichen Bericht des Börsen­ handelstags in Berlin.137 Die Vossische Zeitung ihrerseits brachte in den 1890er Jahren eigene Drahtberichte der Börsen von London, Wien, Paris und Mailand vom selben Tag in ihrer Abendausgabe sowie die Kurse der New Yorker Börse vom Vortag.138 Und zu Beginn des 20.  Jahrhundert erhielten Leser der Morgenausgabe der Kölnischen Zeitung zum Frühstück bereits die Schlusskurse der Börsen in Rom, Wien, Amsterdam, Brüssel, Paris (mit ausführlichem Börsenbericht), Lissabon, London und New York.139 2.3 Die Börse als Kontaktzone »Gerade gegenüber dem Dome oder genauer dem unvollendeten ›Campo Santo‹ Friedrich Wilhelm’s des Vierten erhebt sich ein imposanter Prachtbau im neueren Renaissancestyl, gewissermaßen auch ein Tempel, wo der Gott oder Götze unserer Zeit von seinen zahlreichen Priestern und Verehrern angebetet wird. Dieses moderne Heiligthum des Materialismus ist die Berliner Börse, seine Besucher sind die verschiedenen Banquiers, Speculanten à la hausse und à la 136 Vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S.  388, und exemplarisch die Ausgaben der Frankfurter Zeitung in der Woche vom 16. Juli bis zum 22. Juli 1894. Sonntags brachte das Blatt zudem in der Rubrik »Berliner Börse« einen ausführlichen Wochenbericht aller fünf zurückliegenden Handelstage. 137 Siehe den Berliner Börsen Courier in der gleichen Wochen wie in der vorangegangenen Fn. 138 Siehe die Ausgaben vom 20.12.1893 (Nr. 594) und vom 23.11.1897 (Nr. 549). 139 Siehe die Ausgabe vom 23.1.1903.

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baisse, Makler und Agenten.«140 Mit diesen Worten leitete die populäre und auflagenstarke Familienzeitschrift Die Gartenlaube im Januar 1869 ihre Reportage »Ein Mittag an der Berliner Börse« ein. Das Blatt war eines der ersten, das den »Tempel des Mammon« als einen Gegenstand feuilletonistischer Betrachtungen entdeckte und das Treiben ihrer Besucher einem Millionenpublikum näher zu bringen suchte. Denn die Börsen des europäischen Kontinents waren – im Unterschied zu ihren britischen oder US-amerikanischen Pendants – keine abgeschotteten Bereiche einer sozial homogenen Finanzelite. Sie waren, um mit Georg Simmel zu sprechen, Orte, an dem soziale Kreise sich kreuzten, darunter auch die Vertreter der Presse.141 Journalisten als Besuchergruppe Das 1863 errichtete neue Börsengebäude bot Platz für rund 5000 Menschen.142 Durch das zum Spreeufer hin ausgerichtete Hauptportal gelangte der Besucher in das Vestibül der Börse. An der Garderobe vorbei erreichte er dann beiderseits eine mit grünem Tuche ausgeschlagene Drehtür, an der er einem Kontrolleur seine Einlasskarte vorzuzeigen hatte. Hinter der Drehtür lag der Börsensaal, der damals größte geschlossene Raum Berlins. In ihm stand der Besucher plötzlich auf holzgetäfeltem Fußboden, über ihm wölbte sich eine über zwanzig Meter hohe Decke und vor seinen Augen reihten sich polierte Säulen aus schlesischem Granit aneinander. Auf den Säulen ruhte eine umlaufende Galerie, die über einen separaten Aufgang auch dem Schaulustigen ohne Eintrittskarte einen Blick in den Saal gewährte.143 Der Börsenhandel begann um 12 Uhr und dauerte bis 14 Uhr. In diesen Stunden wimmelte es auf dem Börsenparkett vor Menschen. Der Verfasser des Gartenlaube-Artikels blickte auf ein Gedränge, »daß […] der Nachbar dem Nachbarn auf die Ferse tritt«. Und Otto Glagau schrieb Mitte der 1870er Jahre, die Börse sei zwar lange nicht mehr so besucht wie in den Jahren des Gründerbooms. »Trotzdem herrscht noch immer Gedränge, staut und stopft sich zuweilen die Menge und wir müssen uns mit Armen und Schultern Bahn brechen.«144 Unter der Menge, die sich im Börsensaal drängte, befand sich auch eine Berufsgruppe, die mit dem dort stattfindenden Handel auf den ersten Blick nichts zu tun zu haben schien: die Vertreter der Presse. Es ist heute schwer, exakte Aussagen über die Größe dieser Gruppe zu treffen. Die Anfänge journalistischer Präsenz an deutschen Börsen liegen vollständig im Dunkeln. Es mag plausibel erscheinen, ihren Beginn mit dem Aufkommen der ersten Handelsteile in Tageszeitungen und der Einführung einer neuen journalistischen Darstellungsform, des täglichen Börsenberichts, 140 Die Gartenlaube, 1869, H. 1, S. 11. 141 Wörtlich spricht Simmel von der »Kreuzung sozialer Kreise«, zit. n. Eisenberg, S. 77. 142 Diese Zahl nennt Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 300. 143 Vgl. die Schilderungen bei Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 299 ff. und Hirschbach, S. 25. 144 Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 302 f.

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um 1850 anzusetzen. Diese Neuerungen machten die persönliche Anwesenheit eines Redakteurs im Börsensaal erforderlich. Der erste belegte Börsenjournalist Berlins war Julius Schweitzer (1820–1893), der 1850 in den Dienst der NationalZeitung getreten war.145 Der Journalist Isidor Kastan porträtierte Schweitzer in seinen Lebenserinnerungen, die unter dem Titel »Berlin wie es war« (1919) zu einem Bestseller wurden, als der jahrzehntelang »geachtetste und gefürchtetste Beurteiler der Vorgänge auf der Berliner Börse«. Seine Wochenberichte hätten der National-Zeitung sehr bald »den Ruf eines in allen Fragen des Geldmarktes führenden Blattes« eingebracht.146 Nach 1850 schienen immer mehr Zeitungen dem Beispiel Schweitzers gefolgt zu sein. Zeitgenössische Schilderungen legen den Schluss nahe, dass Pressevertreter an der Börse schon um 1870 keine flüchtige Erscheinung mehr waren, sondern vielmehr eine fest etablierte Besuchergruppe. Aus ihnen stachen Herausgeber und Chefredakteure wie Killisch von Horn, Schweitzer oder George Davidsohn als prominente Gesichter ihres Faches hervor. Man begegnet ihnen nicht nur namentlich in der Reportage der Gartenlaube.147 Auch Glagau rückte sie in den Mittelpunkt seiner Börsenschriften.148 Während über die faktische Präsenz und, in einigen Fällen, auch größere Bekanntheit einzelner Journalisten an der Börse kein Zweifel besteht, ist es dagegen schwierig, quantitative Aussagen zu treffen. Wenn es in der Gartenlaube heißt, dass »sämmtliche politische und mercantilische Zeitungen« Berlins mit einem Berichterstatter an der Börse vertreten waren, lässt dies schon die Größe dieser Berufsgruppe auf dem Parkett der Burgstraße erahnen.149 Selbst wenn man davon ausgeht, dass ein und 145 Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 315. 146 Kastan, S. 175 f. – Schweitzer gehörte 1862 zu den Mitbegründern des Vereins der Berliner Presse, dessen Schatzmeister er bis zu seinem Tod 1893 ohne Unterbrechung bleiben sollte. 147 Vgl. Gartenlaube, 1869, H. 1, S. 15: »Eine eximirte Stellung unter den Literaten nimmt der Herr von Killisch […] ein. Als gewandter und höchst talentvoller Journalist hat er sich seine französischen Collegen zum Muster genommen und, wie diese in Paris, sich in Berlin eine lucrative Stellung zu erwerben gewußt, die mit einem Einkommen von mehr als dreißigtausend Thalern jährlich verbunden sein soll. Über die Unparteilichkeit der Börsen-Zeitung sind jedoch die Meinungen sehr getheilt. Er lebt auf großem Fuß ganz wie seine bekannten Vorbilder, bewohnt eine prächtige Villa und giebt ausgesuchte Diners für die Feinschmecker der haute finance. […] Außer dem Genannten nehmen Herr Davidsohn, der Redacteur des neubegründeten ›Berliner Börsen-Courier‹, und Herr Theodor Heymann, Besitzer der »Bank- und Handelszeitung‹, eine einflußreiche Stellung ein, von denen der Letztere sich einer großen persönlichen Beliebtheit und des besten Rufes wegen der Unparteilichkeit seines Organs erfreut.« (Hvh. i. O.) 148 Ganze Seiten füllen in seinen Börsenschriften Beschreibungen Killisch von Horns, Davidsohns oder Schweitzers, in denen immer auch die persönliche Abneigung ihres Verfassers gegenüber diesen Pressevertretern zum Ausdruck kommt, Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 315 ff. und ders.: Gründungsschwindel in Deutschland, S. 240–253. 149 Die Gartenlaube, 1869, H. 1, S. 15. – Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 318, schreibt ähnlich, es seien an der Börse »sämmtliche politische Zeitungen, grössere wie kleinere, und sogar die unpolitischen Local- und Klatschblätter repräsentirt«.

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derselbe Journalist den Börsendienst gleich mehrerer Blätter übernahm, wird die Anzahl der Pressevertreter nicht beträchtlich geringer ausgefallen sein, da es im Gegenzug bei größeren Zeitungen Usus war, pro Blatt mit gleich mehreren Redakteuren an der Börse zu erscheinen, wie dies für die Berliner BörsenZeitung schon zu Beginn der 1870er Jahre belegt ist.150 Glagau sprach 1876 von »einigen dreissig an der Zahl«151. Seit 1882 weisen Statistiken die Anzahl der an Pressevertreter ausgegebenen Einlasskarten mit 60 bis 88 Stück pro Semester aus (vgl. Tab. 2). Die journalistische Präsenz an der Börse war damit schon zur Reichsgründung deutlich ausgeprägt und wurde durch den folgenden Aufstieg Berlins zur führenden Börse des Reiches nur noch gesteigert. Nun entsandten auch auswärtige Zeitungen immer häufiger eigene Berichterstatter an die Berliner Börse, um sich von ihnen Nachrichten und Berichte liefern zu lassen.152 Tab. 2: Anteil der Pressevertreter an der Gesamtzahl der gegen Börsenbeitrag zugelassenen Besucher153

Pressevertreter Gesamtbesucherzahl

Pressevertreter Gesamtbesucherzahl

1882

1883

1884

1885

1886

1887

1888

60

62

62

71

84

78

81

2984

2897

2876

2883

2883

2895

2874

1889

1890

1891

1892

1893

1894

1895

88

93

98

101

85

84

91

3045

3152

3268

3362

3156

3364

3309

Status und Kontrolle Der Zustrom von Journalisten an die Börsen Deutschlands, insbesondere an die Berliner Börse, mag zwar angesichts des gestiegenen Bedürfnisses der Öffentlichkeit nach Finanzinformationen naheliegend erscheinen. Dass die professionellen Akteure der Börse dieses Eindringen einer fremden Berufsgruppe in ihr Terrain zuließen, bleibt gleichwohl erklärungsbedürftig. Wie reagierten die Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin, denen die Börsenaufsicht oblag, auf den Zustrom von Presseberichterstattern, und wie suchten sie diesen admi­ 150 Bericht der Ältesten der Kaufmannschaft (Berlin) an preußischer Handelsminister, 4.10.1875, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2, Bd.1. – Radius, S. 153, spricht davon, dass größere Zeitungen in Berlin gleich vier bis fünf Redakteure zur Börse entsandt hätten. 151 Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 315. – Weiter heißt es, dass Journalisten während der »Gründerperiode […] an der Börse mit mehren[!] Adjutanten aufgezogen [sind], unter denen die Coursnotierung der verschiedenen Fonds und Actien vertheilt ist.« (Ebd.) 152 Siehe Kapitel IV. 1.1. 153 Zusammengestellt nach: Bericht über Handel und Industrie von Berlin (1882 ff.).

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nistrativ zu regeln?154 Noch in den 1850er Jahren war der Zutritt zur Börse, wie die Börsen-Ordnung für Berlin in ihrer Fassung vom 7.  Mai 1825 bestimmte, »jedermann frei«.155 Auch dem (männlichen) Journalisten standen damit die Türen der Börse offen. Hieran änderte sich auch nichts, als das Ältestenkollegium der Kaufmannschaft 1859 die Eintrittskartenpflicht einführte.156 Sie war jeweils für die Dauer eines Halbjahres zu erwerben und wurde, wie Max Weber später kritisierte, »an jeden Einheimischen erteilt, der glaubhaft darthut, daß er zum Zweck des Handels die Börse besuchen will und von Mitgliedern der Börse zur Aufnahme empfohlen wird – eine Empfehlung, die den, der sie giebt, zu nichts verpflichtet und deshalb von jedem ohne Ausnahme erlangt werden kann.«157 In Frankfurt war bereits 1855 erstmals eine Legitimationskarte zum Besuch der Börse ausgegeben worden.158 Journalisten bekamen die Karte nach Zahlung der festgesetzten Gebühr und Vorweisung einer Empfehlung ebenso ausgestellt wie jeder Geschäftsmann auch.159 An eine entsprechende Empfehlung zu gelangen war nicht sonderlich schwer, vor allem dann nicht, wenn man für eine angesehene Zeitung arbeitete, die sich auch in Finanzkreisen einer gewissen Beliebtheit erfreute. In seinen »Berliner Börsenerinnerungen« beschrieb Georg Tischert, wie er im Jahr 1900 als Handelsredakteur der Vossischen Zeitung das Aufnahmeverfahren durchlaufen hatte: »Mein Chef Hirschberg […] führte mich an der Börse zur Deutschen Bank, stellt mich Herrn Direktor Paul Mankiewitz vor. Mankiewitz leistete die Unterschrift. In zwei Minuten war die Operation vollzogen. Wenn einer von der ›Vossischen Zeitung‹ kam, war die Sache in Ordnung.«160 Obwohl Pressevertreter bereits um 1870, wie wir sahen, eine verhältnismäßig große Besuchergruppe an der Berliner Börse bildeten, sucht man in den Statu154 Als Selbstverwaltungskörperschaft mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben unterstand die Börse nicht unmittelbar staatlichem Einfluss, allerdings musste die Börsenordnung vom preußischen Handelsminister genehmigt werden, vgl. Berghoff, Finanzplatz, S. 74. 155 Börsen-Ordnung (1825). Ausgenommen blieben Frauen und Personen, die nicht im Vollbesitz der bürgerlichen Ehrenrechte waren oder über deren Vermögen der kaufmännische Konkurs eröffnet war (§ 3). Auch die überarbeitete Fassung vom 20.  April 1866 änderte hieran nichts, vgl. Kautsch, S. 15. 156 Gebhard, S. 13 157 Weber, Börse I, S. 165 f. – Vgl. auch die Schilderung bei Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 299: »Der Controleur kennt Jeden, und wen er nicht kennt, den hält er an, fragt nach der ›Karte‹ oder nach dem ›Hause‹, und führt den Unberechtigten höflich am Kragen wieder hinaus.« 158 Handelskammer, S. 653. 159 Die auf grünem kartoniertem Papier gedruckten Eintrittskarten enthielten ein Feld, in das der Name des Karteninhabers einzutragen war, darunter wurden der entrichtete Betrag und der Zeitraum der Gültigkeit vermerkt. Interessant ist, dass die Vordrucke vier Besucherkategorien nannten (»Inhaber – Mitinhaber – Disponent – Commis«). Pressevertretern wurde damit kein eigener Status zugewiesen. In den 1870er Jahren gab man zudem eigene »Botenkarten« und »Commiskarten« aus, LAB, A Rep. 200–01, Nr. 256 und Nr. 949. 160 Tischert, S. 192.

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ten der Börse vergeblich nach einer Spezifizierung ihrer Stellung. Dies ist umso erstaunlicher, als Pressevertreter die Börse offensichtlich nicht zum Zweck des Handels aufsuchten, wie dies für Besucher eigentlich Voraussetzung zum Erhalt einer Einlasskarte war, sondern zur Wahrnehmung der Interessen des jeweiligen Zeitungsunternehmens und damit, zumindest dem Anspruch nach, zur Wahrnehmung öffentlicher Interessen. Ein Blick auf die Entwicklung der 1870er und 1880er Jahre kann helfen, diese auffällige Abwesenheit der Pressevertreter in den statuarischen Bestimmungen der Börsen zu verstehen. Mit dem Spekulationsfieber stieg seit 1871 auch die Zahl der Börsenbesucher sprunghaft an. Wir können dies an der Zunahme der vereideten Kursmakler ablesen, die an der Berliner Börse die Geschäfte zwischen den Käufern und Verkäufern zu vermitteln hatten. Genügten zur Bewältigung dieser Aufgabe 1871 noch 37 Makler, stieg ihre Zahl im folgenden Jahr auf fünfzig und betrug 1873 mit 110 schon mehr als Doppelte des Vorjahres.161 Dieser Besucherandrang ließ die Börsenversammlungen unübersichtlicher werden, erschwerte und durchkreuzte eingespielte Handlungsroutinen, die auf Bekanntschaft der Marktteilnehmer untereinander beruhten. Nicht selten sorgten verbale oder tätliche Zusammenstöße zwischen den Besuchern für Aufsehen. Um den Zustrom zu regulieren, nahmen die Ältesten der Kaufmannschaft schon im Mai 1872 zusätzliche Bestimmungen in die Börsenordnung auf.162 Auch als mit dem Krach im Herbst 1873 die Besucherzahlen wieder sanken, machte die Börse weiterhin unrühmliche Schlagzeilen: Nun war es die kritische wirtschaftliche Lage, die so manchen Besucher nervös machte und Konflikte schnell eskalieren ließ. In den Akten preußischer Ministerien ist in den folgenden Jahren immer wieder von Ruhestörungen die Rede, die »anscheinend leider nicht vereinzelt dastehen«, wie Handelsminister Achenbach gegenüber den Börsenvorstehern spitz bemerkte.163 Ein Referent aus dem preußischen Innenministerium mutmaßte gegenüber dem Handelsministerium, dass es »die äußeren Umstände« seien, die »gerade in der heutigen Zeit […] derartige Exzesse häufig« machten. Wolle man einzelne Personen von der Börse fernhalten, so »würden als solche vielleicht die zu jungen Commis und unzuverlässigen Zeitungs-Correspondenten zu bezeichnen sein.«164 Obwohl das preußische Handelsministerium diesen Vorschlag zunächst nicht weiter verfolgt zu haben scheint, ist er doch bedeutsam. Denn mit ihm geraten die Pressevertreter an der Börse nicht nur zum ersten Mal als eine eigenständige Besuchergruppe in den Blick staatlicher Behörden, sondern es greift allmählich auch die Vorstellung Platz, dass mit ihnen künftig in irgendeiner Weise verfahren werden müsse, dass die »[U]nzuver161 Löb, S. 246. 162 »Motive zu den zusätzlichen Bestimmungen der Börsen-Ordnung für Berlin«, 29.5.1872, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2). 163 Handelsminister an Älteste der Kaufmannschaft, 15.9.1875, GStA PK, I. HA, Rep. 120 C XI 1, Nr. 2, Bd.1. 164 Innenministerium (Referent Wichgraf) an Handelsminister, 23.4.1876, GStA PK, I. HA, Rep. 120 C XI 1, Nr. 2, Bd. 1.

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lässigen« unter ihnen  – ein sehr dehnbarer Begriff  – notfalls auszuschließen seien. Dies bedeutete nicht, dass man die Presse künftig gänzlich von der Börse fernzuhalten gedachte – so mancher Bankier wusste um die Vorzüge entsprechender Kontakte und bewarb sich, wie Glagau behauptete, »namentlich in der Gründungsperiode, eifrig um ihre Gunst.«165 Allerdings wollte man nicht jedem Pressevertreter automatisch die Zulassung gestatten. Es bedurfte daher, diese Einsicht reifte allmählich bei den Börsenbetreibern ebenso wie bei den staatlichen Behörden, einer rechtlichen Handhabe, um jene ausschließen zu können, die sich eines wie auch immer zu definierenden Verhaltenskodexes nicht in der gewünschten Weise unterordneten. Mit der neuerlichen Überarbeitung des Statuts 1885 schufen die Börsenvorsteher schließlich die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen dazu. In der »Revidierten Börsenordnung für Berlin« bestimmte nun § 4, dass die Eintrittskarte »nach dem Ermessen der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin« an die »Berichterstatter der Presse« erteilt werden dürfe. Journalisten wurden damit erstmals statuarisch von den Geschäftsleuten an der Börse geschieden. Es oblag nun den Börsenvorstehern, über ihre Zulassung zu entscheiden. Der Rechtsweg stand im Falle einer Abweisung nicht offen. Ausdrücklich sprach man in der Begründung der revidierten Fassung davon, dass mit dieser Norm eine »Schutzmaßregel« geschaffen worden sei. Obwohl die Berichterstatter der Presse für den Börsenverkehr »nicht zu entbehren« seien, sei »gerade ihnen gegenüber […] das vorgeschlagene diskretionäre Ermessen in Erteilung der Eintrittskarte von besonderem Wert, weil die Praxis erwiesen hat, dass es mitunter dringend erwünscht war, einem Berichterstatter wegen der Art, in welcher er seine Tätigkeit in den Zeitungen ausübte, die Börsen-Eintrittskarte wieder zu entziehen, während die bisherige Börsen-Ordnung dazu keine Handhabe gab.«166 In der seit den 1880er Jahren sich vollziehenden Sichtbarwerdung von Pressevertretern in der Berliner Börsen-Ordnung zeigt sich das wachsende Bedürfnis nach rechtlicher Kontrolle jener Besuchergruppe durch die Börsenbetreiber  – ein Bedürfnis, das so zunächst nur in Berlin als dem bedeutendsten und von der Presse am stärksten frequentierten Platz zum Ausdruck kam.167 Doch nicht nur auf börsenrechtlicher Ebene wurden Pressevertreter in jener Zeit zunehmend sichtbar. Auch in der funktionalen Umgestaltung des Börsenraumes können wir beobachten, wie Journalisten sich zu einer eigenständigen, von den Händlern 165 Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 315. 166 Älteste der Kaufmannschaft, »Begründung zu dem Entwurf einer Börsen-Ordnung für Berlin«, 20.3.1885, GStA PK, I. HA, Rep. 120 C XI 1, Nr. 2, Bd. 2. 167 Die Börse von Dresden, Frankfurt, München und Hamburg nahmen entsprechende Passus erst auf, als das Börsengesetz von 1896 sie zu einer Anpassung ihrer Statuten verpflichtete, vgl. BA-L, R 3101/100 und Spenkuch, Münchener Börse, S.  51.  – Erst in der Frankfurter Börsenordnung vom 19. April/3. Mai 1909 findet sich der Zusatz (§ 4): »Zum Börsenbesuche können ferner nach freiem Ermessen des Börsenvorstandes zugelassen werden: […] 2. Berichterstatter der Presse, jedoch ohne Befugnis zur Teilnahme am Börsenhandel«, in: GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 12, Bd. 2.

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in Tätigkeit wie Arbeitsweise distinkten Besuchergruppe zu entwickeln begannen. Betrachtet man die Baupläne für das neue Börsengebäude (1859/60), so zeigt sich zwar, dass die einzelnen Räume bereits stark nach funktionalen Kriterien differenziert waren – so verwiesen die Kaufmannsältesten in der Projektausschreibung explizit auf die Notwendigkeit eines eigenen Post- sowie eines eigenen Telegrafenzimmers. Hinweise auf Pressevertreter finden sich in der Topografie des Börsengebäudes zunächst allerdings nicht.168 Mit dem Zustrom von Journalisten und des Aufstiegs Berlins zum deutschlandweit führenden Finanzplatz schien es sich jedoch als praktikabel erwiesen zu haben, die Presse auch räumlich im Börsengebäude zu verankern. Glagau erwähnte 1876 ein den Pressevertretern zugewiesenes »eigenes Zimmer, neben dem Telegraphen-­ Bureau«.169 Später müssen weitere Räume hinzugekommen sein. 1903 vermerkte ein Bericht, dass »den Vertretern der Presse … zwei Säle des Börsengebäudes zur ausschließlichen Benutzung überlassen« worden seien. »Außerdem wird von einer Anzahl von Pressevertretern noch ein dritter Saal des Börsengebäudes benutzt, in welchem im übrigen vorwiegend Angestellte von Herausgebern von Kursberichten tätig sind.«170 Obwohl nicht geklärt werden kann, ob diese Veränderungen auf Initiative der Presse selbst oder der der Börsenbetreiber erfolgten, so verweist die Okkupation des Börsenraums durch Journalisten gleichwohl auf deren steigende Relevanz und auf eine Anerkennung ihrer Funktion sowohl durch Finanzakteure als auch durch staatliche Behörden. Praxis der Börsenberichterstattung Blicken wir nun auf die Praxis der Börsenberichterstattung und die Kontakte, die sich aus ihr ergaben. Es ist bereits an anderer Stelle gezeigt worden, dass die ältesten finanzjournalistischen Eigenleistungen in Kursmitteilungen, Tagesund Wochenbörsenberichten bestanden. Sie alle erforderten die physische Präsenz des Journalisten auf dem Börsenparkett. Wenn die Börse im Folgenden als Kontaktzone charakterisiert wird, so muss nach dreierlei gefragt werden: erstens mit wem Pressevertreter dort in Kontakt traten bzw. hätten treten können; zweitens was der qualitative Unterschied dieser Kontaktsituation im Vergleich mit anderen Orten wie dem Bankhaus war, und drittens wie sich dies auf die Praxis der Berichterstattung ausgewirkt haben könnte. Die Börse muss als Ort begriffen werden, an dem die Kreuzung sozialer Kreise besonders augen­fällig hervortrat. An ihm kamen Journalisten mit sozial höchst unterschiedlich gestellten Akteuren des Finanzsektors in Kontakt. In der Hierarchie am höchsten standen hier die Privatbankiers traditionsreicher Häuser und die Direktoren der großen, kapitalstarken Aktienbanken, wie sie um 1850 entstanden waren. Dabei 168 Vgl. Projektausschreibung und Bebauungsplan in: LAB, A Rep. 200-01, Nr. 1392–Nr. 1395. 169 Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 318. Auch ein Berlinführer aus dem Jahr 1895 erwähnt ein »Preßzimmer«, vgl. Lindenberg, S. 546. 170 Älteste der Kaufmannschaft an Handelsminister, 26.5.1903, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2 H, Bd. 1.

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war es bis weit in die 1870er Jahre üblich, dass die führenden Köpfe der haute­ finance zur Mittagsstunde persönlich im Börsensaal erschienen, sie bildeten »in gewissem Sinne eine große Familie«.171 Neben dem erlesenen Kreis der deutschen Finanzaristokratie, die meist am Rande des Saals auf den ihr angestammten Bänken Platz nahm, waren es vor allem die Inhaber von kleineren Bankhäusern und Handelsfirmen, Prokuristen und Kommissionäre, die die Szenerie der Börse beherrschten, flankiert von umher eilenden Maklern und wagemutigen Spekulanten, von denen einige es zu Ruhm und Reichtum brachten, andere nach einem nur kurzen, glücklosen Auftritt für immer vom Parkett der Börse verschwanden. Es wäre abwegig anzunehmen, dass alle diese, mit differierenden Quantitäten sozialen, ökonomischen und kulturellen Kapitals ausgestatteten Gruppen leicht miteinander in Kontakt zu treten vermochten, nur weil ein Ort sie zusammenführte und eine Tätigkeit sie vereinte.172 Was innerhalb des Geschäftspublikums galt, das galt auch für den Umgang seiner Gruppierungen mit den Vertretern der Presse. Einem angesehenen, materiell gut situierten Zeitungsbesitzer wie Killisch von Horn waren die wenigen Schritte zu den Sitzplätzen der Hochfinanz durch keine sozialen Schranken versperrt. Untergeordnete Redakteure oder weniger bekannte und ökonomisch weniger potente Journalisten dagegen hatten es ungleich schwerer; mochten nur einige Meter sie räumlich von Bleichröder und Hansemann trennen, sozial waren es Welten. Wie hat man sich die Kontakte in praxi vorzustellen? Während der täglichen Handelszeiten mischten Journalisten sich unter das versammelte Publikum, zogen »über den Stand der Geschäfte Erkundigungen«173 ein, und verschafften sich so, auch durch persönliche Gespräche, einen Eindruck vom Handelsklima und von der Stimmung unter den Marktteilnehmern. Bei der Verfertigung ihrer Berichte arbeiteten Journalisten unter einem enormen Zeitdruck, wollte man den Lesern doch schon in der Abendausgabe, die am frühen Nachmittag in Druck ging, ein vollständiges Bild des zurückliegenden Handelstags liefern. Killisch von Horn diktierte seinen Börsenbericht und auch andere seiner Artikel noch auf dem Börsenparkett einem seiner anwesenden Redakteure in die Feder; ein Bote brachte das Manuskript sodann auf direktem Weg zur Druckerei.174 Auch bei der Einholung der amtlich festgestellten Kursstände zum 171 So der Direktor der Berliner Handels-Gesellschaft Carl Fürstenberg in seinen Lebenserinnerungen, s. Fürstenberg, S. 312 f. 172 Vgl. etwa die Schilderung bei Hirschbach, S. 25. – Zum Feld der Hochfinanz im Kaiserreich mit Bezug auf Bourdieu Reitmayer, S. 21 ff., 53 ff. 173 Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 314. 174 Hierauf lässt der Bericht schließen: Älteste der Kaufmannschaft an Handelsminister, 4.10.1875, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2, Bd. 1. – Eine ähnliche Arbeitsteilung lässt sich auch bei der Parlamentsberichterstattung im Reichstag beobachten, die sich ebenfalls unter größtem Zeitdruck vollzog, vgl. Biefang, S. 86–89. Die Konkurrenzsituation der Zeitungen untereinander und die Lesererwartungen sind als Multiplikatoren der Beschleunigung von Parlaments- und Börsenberichterstattung gar nicht hoch genug zu veranschlagen.

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Handelsende war höchste Eile geboten. Die National-Zeitung schilderte den Ablauf 1871 wie folgt: »Unsere Berichterstatter müssen, wollen wir die Zeitung pünktlich erscheinen … lassen, um 2 Uhr die Börse verlassen, oft ohne viele Kurse und besonders diejenigen der Bank- und Industrie-Papiere auch nur annähernd erfahren zu können. Der Berichterstatter über letztere bleibt, um den Ansprüchen der Leser gerecht werden zu können, über 2 Uhr hinaus an der Börse.«175 Es zeigt sich hier nicht nur, wie stark Zeitungen sich an den Bedürfnissen ihres Publikums zu orientieren hatten, wollten sie auf dem Pressemarkt reüssieren, sondern ebenso, in welch enge Zeithorizonte die journalistische Praxis an der Börse eingebettet war. So warb etwa die Berliner Börsen-Zeitung schon im Jahr ihrer Gründung damit, »täglich ein ausführliches Referat über den Gang des Geschäftes an der Berliner Börse« zu liefern. Zudem erhalte »jeder Abonnent den zur Zeitung gehörigen Courszettel, der an Vollständigkeit und Genauigkeit keinem nachsteht, täglich als besondere Beilage, sofort nach Schluss der Börse unentgeltlich«.176 Nach Handelsschluss blieb Journalisten nur wenig Zeit, um die noch fehlenden Kurse in Erfahrung zu bringen und an ihre Redaktion zu melden. Hierfür mussten sie zunächst abwarten, bis die Kurse offiziell festgestellt worden waren. Dieses Verfahren fand klandestin unter Ausschluss der Öffentlichkeit und damit auch der Pressevertreter statt. Exakt um 14 Uhr hatten alle Handelsmakler sich dafür im Kurszimmer der Börse einzufinden. Hier meldeten sie unter Eid den Börsenkommissaren, die aus der Mitte der Korporationsmitglieder bestimmt waren, zu welchem Preis Wertpapiere zu haben gewesen waren, was dafür geboten und zu welchem Kurs tatsächlich abgeschlossen worden war. »Auf Grund der mündlichen Angabe der Makler oder der aus ihren Notizbüchern gesammelten Materialien bestimmen die Börsencommissarien in Gegenwart der Makler die Course«, beschrieb ein Börsenhandbuch das Procedere.177 Seit 1868 kam dabei ein neues Verfahren der Kursermittlung zum Einsatz. Es wurden nun nicht mehr laufende Kurse notiert, sondern – hierin unterschied die Berliner Börse sich von allen anderen des Reiches – ein sogenannter »Einheitskurs«, bei dem das gesamte Angebot und die gesamte Nachfrage, die sich während der Handelszeit für ein Wertpapier ergeben hatten, gesammelt wurden, um nach Börsenschluss zu einem einzigen Kurs zusammengeführt zu werden.178 Dieses Verfahren war ungleich aufwendiger und nahm mehr Zeit in Anspruch. Die so festgestellten Kurse fanden Eingang in den »amtlichen Kurszettel«, den Tageszeitungen in der Regel auszugsweise abdruckten und erst dadurch einem weiten

175 National-Zeitung, Nr. 215, 9.5.1871 (Beiblatt). 176 Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 76, 14.9.1855, zit. n. Bertkau, 75 Jahre, S. 12 (Hvh. i. O.). 177 Swoboda, S. 15. 178 Die Kursfeststellung ist ein sehr komplexes Verfahren und ihre Methoden haben sich über die Zeit häufig geändert. Es kann auf sie an dieser Stelle daher nicht detailliert eingegangen werden. Erschöpfend behandelt das Thema bis zur Börsenreform 1896 Löb.

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Personenkreis zugänglich machten.179 Zeitungen wie die Berliner Börsen-Zeitung und Bank- und Handelszeitung druckten in den Anfangsjahren die umfangreichsten Kurstabellen, was ihnen ein gewisses Ansehen einbrachte.180 Erschwerend kam für solche Blätter allerdings der Umstand hinzu, dass der offizielle Kurszettel nur inländische Wertpapiere verzeichnete, da die vereideten Makler nur in diesen handeln durften. Die Kurse der in Berlin gehandelten ausländischen Werte, für die in der Leserschaft gleichwohl Nachfrage bestand, mussten durch Befragung der inoffiziellen Makler, pejorativ »Pfuschmakler« genannt, oder der als Kommissionäre fungierenden Bankiers zusammengetragen werden. In den Kursmitteilungen gaben Börsenjournalisten der abstrakten Finanzökonomie eine symbolische Form, denn die »langen Ziffernreihen am Schluß der Zeitungen, welche der Leser … überschlägt«, so hat es Max Weber einmal formuliert, »sind nicht nur für Kapitalisten und Geschäftsleute von Bedeutung, sondern die Art, wie sich im Laufe der Jahre die trockenen Zahlen darin ändern, bedeuten Aufblühen und Niedergang ganzer Produktionszweige, an deren Bestand heute das Glück und Elend von Tausenden hängt.«181 Die Arbeit der Pressevertreter an der Börse erschöpfte sich allerdings nicht in der Marktbeobachtung, Kursnotierung und Textproduktion. Die Börse war auch ein Ort der Kontaktpflege, des regelmäßigen Wiedersehens von Bekannten und des Informationsaustausches mit den Vertretern der Finanzwelt. Entsprechend erfolgten Kontaktaufnahmen nicht einseitig durch Journalisten. »[A]n der Börse versteht man sich miteinander. Man schleift sich auch aneinander ab«, charakterisierte ein Börsenkorrespondent der Vossischen Zeitung den Umgang von Presse und Hochfinanz in der Burgstraße nach der Jahrhundertwende. »Für Leute meines Berufs hat die Börse eine besondere Eigenschaft. Man weiß da die Presse zu schätzen. Vom Stift bis zum Bankdirektor gibt jeder Auskunft; … Bleichröder [gemeint ist James, der Sohn Gerson von Bleichröders, d.V.] knurrt zwar, wenn man ihn fragt, aber er öffnet dann doch den Schatz seines Wissens.«182 Emil Russell, der Geschäftsinhaber der Disconto-­ Gesellschaft charakterisierte sein Verhältnis zu den Pressevertretern an der Börse folgendermaßen: »Ich werde selbst sehr häufig in Anspruch genommen, bald von diesem, bald von jenem. Ich empfange nur den Redakteur eines anständigen Blattes, den anderen empfange ich nicht; aber ich habe auch gar kein Bedenken, dem Redakteur eines anständigen Blattes, wenn er mich über dieses oder jenes fragt, eine Mittheilung zu machen. 179 Die Reichweite des »amtlichen Kurszettels« selbst dürfte gering gewesen sein und sich auf den kleinen Kreis berufsmäßiger Marktteilnehmer beschränkt haben. Gleiches gilt für Kursberichte, die insbesondere noch in den 1850er und 1860er Jahren von einzelnen Maklern wie Otto Philipsborn und Wilhelm Hertel herausgegeben wurden. Siehe die Übersicht in: LAB, A. Pr. Br. Rep. 030, Nr. 14410, Bl. 29 ff. 180 Swoboda, Börse, S. 14. 181 Weber, Börse I, S. 161. 182 Tischert, Männer, S. 195.

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Derartige Mittheilungen sind ja unter Umständen für eine Zeitung werthvoll und begründen eine, ich will nicht sagen freundliche, aber doch nicht feindliche Haltung, weil der Redakteur weiß, nächstens wird er bei mir wieder anfragen.«183

Beide Seiten wussten um die Vorteile solcher Beziehungen. Da diese jedoch stets flüchtig blieben, ist ihre Rekonstruktion im Rückblick äußerst schwierig. Ein zufällig erhaltener Brief des Berliner Börsenvertreters der Deutschen Bank mag hier einen ersten Eindruck liefern. Der Verfasser übersandte Killisch von Horn im November 1884 eine Anzahl von Zeitungsartikeln zur »Benutzung für Ihr geehrtes Blatt« und fügte den Hinweis an, »dass wir uns erlauben werden, noch morgen an der Börse über den Gegenstand mit Ihnen Rücksprache zu nehmen.«184 Es war offensichtlich üblich, dass auch Bankiers und Prokuristen Journalisten auf dem Börsenparkett mit Nachrichten versorgten, um so auf die Tendenz der Berichterstattung Einfluss zu nehmen. Dass dabei auch mancher Auftragsartikel zustande gekommen sein könnte, darf naheliegend erscheinen.185 Konflikte und Rivalitäten Wir haben bis hierin alltägliche Routinen beleuchtet, die ein geregeltes Ineinandergreifen von entstehendem Finanzjournalismus und Börse zeigten. Unser Bild über die finanzjournalistische Praxis an der Börse wird allerdings erst vollständig, wenn wir zugleich die Störanfälligkeit und Konflikthaftigkeit vieler dieser Praktiken berücksichtigen. Mit dem zahlmäßigen Anstieg der gehandelten Wertpapiere, ihrer Volumina und wachsenden Umlaufgeschwindigkeit, aber auch mit der Umstellung im Verfahren der Kursnotierung, gestaltete es sich für Journalisten schwieriger, pünktlich vor Redaktionsschluss in den Besitz der amtlichen Kursstände zu gelangen.186 Konnte ein Börsenbesucher noch 1864 183 BEK/St, S. 579. 184 Deutsche Bank an Killisch von Horn, 5.11.1884, HADB, OR 530. 185 Der Börsenraum ermöglichte allerdings auch Kontakte zwischen Presseunternehmern und der Hochfinanz, die weit über Erörterungen journalistischer Angelegenheiten hinausgingen. Auf dem Höhepunkt der Krise der »Berliner Handels-Gesellschaft« 1882 wurde Robert Davidsohn, der zwischenzeitig die Leitung des Berliner Börsen-Couriers innehatte, von den Aktionären beauftrag, den ihm von der Börse gut bekannten Bankier Carl Fürstenberg für das Unternehmen zu gewinnen. Davidsohn sprach Fürstenberg, der zu diesem Zeitpunkt noch für S. Bleichröder arbeitete, während eines Börsentages darauf an und konnte ihn für die Handels-Gesellschaft abwerben. Vgl. Fürstenberg, S. 127 f. 186 Die Zahl der an der Berliner Börse notierten Papiere betrug jeweils Mitte Mai des angegeben Jahres 301 (1868), 329 (1869), 343 (1870) und 397 (1871), vgl. Bericht der Ältesten der Kaufmannschaft an Handelsminister, 23.5.1871, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 318, Bl.  171. Im März 1871 räumte auch der Präsident der Kaufmannsältesten Schwierigkeiten bei der Kursnotierung ein: »Die fast wöchentlich zunehmende Erweiterung des Kurs­ zettels durch Aufnahme neuer Papiere nimmt für die Feststellung der Kurse, fast unmerklich, immer mehr Zeit in Anspruch […].« Joseph Berendt an Kurator Zitelmann, 6.3.1871 (Ebd., Bl. 152).

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beobachten, dass um 13.30 Uhr, also bereits eine halbe Stunde vor Handelsende, »die Zeitungsberichterstatter […] sich von den Maklern und Agenten Course dicitiren [lassen]«,187 warteten Journalisten in den Jahren des Wirtschaftsbooms immer länger vor den verschlossenen Türen des Maklerzimmers. Schon im Januar 1871 mehrten sich in der Presse Beschwerden über die Verspätung der amtlichen Börsenkurse. »Die vereideten Courtiers [Makler, d. V.]«, klagte etwa die Tribüne, »finden sich erst nach zwei Uhr zusammen, um ihre Kurse festzustellen«, und die Kompromisse, die dabei geschlossen würde, fänden »nicht immer zu Gunsten der Reellität« statt.188 Ähnlich monierte der Kurator des Preußischen Staats-Anzeigers, des offiziellen Publikationsorgans der Regierung, gegenüber den Ältesten der Kaufmannschaft, dass die Makler sich nach Handelsschluss noch mit ihren Kommis in einem anderen Zimmer über die Kurse berieten und erst dann, wenn sie sich geeinigt hätten, in das Zimmer des Börsenkommissariats begäben. »Dies[!] Verfahren verstößt gegen die BörsenOrdnung und hat die Verzögerung der Notierung zur Folge, was besonders für den Reporter der Zeitungen störend ist, da diesen erst nachher die Kurse mitgeteilt werden, so dass sie selten vor 2 Uhr 25 bis 30 Minuten ihren Kurszettel in die Druckerei befördern können.«189 Zuweilen konnten Zeitungen ihren Lesern daher nur lückenhafte Kursinformationen liefern. Wartete man dagegen, bis die Kurse vollständig ermittelt waren, lief man Gefahr, die wichtigsten Eisenbahnen zur Ablieferung der Zeitungen in die Provinzen des Reiches zu verpassen. »Da das handeltreibende Publikum in den Provinzen seine Geschäfte nach dem Börsen-Kurs-Zettel des Staatsanzeigers abschließt«, meldete der Kurator des StaatsAnzeigers im April 1871 besorgt an den preußischen Handelsminister, »entsteht durch diese Verzögerung eine Unordnung in den ganzen Geldgeschäften des Landes, welche durch die Bankiers in den kleinen Märkten nicht selten zu Ungunsten des Publikums benutzt wird. Es ist demnach ein öffentliches allgemeines Interesse, daß der Börsen-Kurs-Bericht des Staats-Anzeigers als der allgemein anerkannte und gebräuchliche Regulator für die Geldgeschäfte des Landes regelmäßig und pünktlich erscheint und in die Provinzen gelangt.« Komme der Kurszettel zu spät, blieben die Zeitungen auf der Post liegen und gelangten erst 24 Stunden später in die Provinzen.190

Offensichtlich bestand zumindest noch in den 1870er Jahren aufgrund der nur rudimentär ausgebauten Kommunikationsinfrastruktur ein steiles Informa­ tionsgefälle zwischen den Finanzzentren und den ländlichen Regionen des Reiches, das Privatanlegern oftmals zum Nachteil gereichte. »Das Publikum in der Provinz [ist] namentlich bei außergewöhnlichem Fallen der Course, nothwen187 Hirschbach, S. 38. 188 Tribüne, 12.1.1871; ähnlich auch Kreuzzeitung, 12.1.1871 und 12.5.1871. 189 Eingabe an den Kurator des »Staats-Anzeigers«, 20.3.1871, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 318, Bl. 157. 190 Zitelmann an Handelsminister, 1.4.1871, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 318, Bl. 150 f.

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dig die Beute der Speculation an Börsenplätzen, weil sie durch die Entfernung […] gar leicht zum panischen Schrecken getrieben werden. Ein solcher aber wird stets durch die großen Speculanten ausgebeutet, welche zuerst im Stande sind[,] die Lage zu übersehen.«191 Solange Provinzzeitungen nicht selbst tagesaktuelle Kurse zu bringen in der Lage waren,192 fungierte die großstädtische Presse als das wichtigste Medium zur Versorgung des ländlichen Raumes mit Finanzinformationen. Die Aufrechterhaltung dieses Nachrichtenflusses sollte daher nicht nur das Funktionieren des Marktes gewährleisten, sondern auch Kapitalanleger in den Provinzen vor Übervorteilung schützen. War diesen Kursfeststellungen jedoch immer zu trauen? Das dabei angewandte Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit nährte häufig Zweifel an der »Reellität« der Kurse, wie einzelne Zeitungen monierten. Und derartige Zweifel wuchsen, je exzessiver sich das Spekulationstreiben an den Börsen gestaltete und je häufiger Fälle auftraten, in denen Makler trotz entsprechender Verbote selbst in Geschäfte involviert waren, statt diese nur zu vermitteln.193 In Frankfurt beschränkte die Presse sich nicht nur auf öffentliche Kritik wie in Berlin, hier weigerte man sich, die Kurse des ansässigen Maklersyndikats überhaupt in das Blatt aufzunehmen. Hatte die Frankfurter Zeitung bereits 1866 damit begonnen, vereinzelt Kursstände selbst zu erheben, brachte sie im Verbund mit anderen Blättern seit dem 2. Oktober 1870 ein eigenes »Coursblatt der vereinigten Frankfurter Zeitungen« heraus, das – ein Affront gegen das Wechselmakler-Syndikat – »nur die wirklich bezahlten Course notiren« wollte. Die Zeitungen Frankfurts hielten diesen Boykott zwei Jahre aufrecht und drängten das Maklersyndikat damit schließlich zu Reformen, die die Korrektheit der Kurse gewährleisten sollten.194 Die Presse bildete seit den Jahren um 1870 somit mehr als nur eine unbeteiligte Beobachterin des Börsenhandels. Sie provozierte, wie das Beispiel der Frankfurter Zeitung zeigt, Friktionen zwischen Maklern und Journalisten und forderte damit ebenso überlebte Verfahren der Kursnotierung heraus wie sie die verkrusteten und mithin verfilzten Strukturen im Maklerwesen aufbrach. Liberale Zeitgenossen würdigten diese besondere Leistung der Presse, etwa indem der Delegierte der Fortschrittspartei, Otto Michaelis, in einer Rede vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus im Januar 1867 daran erinnert, dass es die Presse war, »welche in den Jahren 1856 und 1857 wesentliche Reformen der 191 Wirth, Handelskrisen, S.  551 f.  – Vgl. auch Ferguson, Geld, S.  111, anschaulich Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 491. 192 Die Provinzpresse ist vergleichsweise schlecht erforscht. Zwar zeigt das Beispiel des »Teltower Anzeigers«, dass ländliche Zeitungen zuweilen Kursnotizen, darunter häufiger Warenpreisnotizen, druckten. Bei einer nur zweimal wöchentlichen Erscheinungsweise dürfte der praktische Wert solcher Informationen jedoch gering gewesen sein. Viele Anleger waren daher auf den Bezug der in den Finanzzentren erscheinenden Zeitungen angewiesen. Zur Zustellpraxis abonnierter Zeitungen Weichlein, S. 123–127, 170–176. 193 Der Börsenwächter, Nr. 42, 26.9.1872. 194 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 175.

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Courszettel dadurch herbeigeführt hatte, daß unbetheiligte Personen an der Börse das Notieren betrieben; und ich erinnere auch daran, daß z. B. in Stettin […] lange Zeit hindurch die Notizen einer dortigen Zeitungen für ungleich vertrauenswürdiger und vollständiger galten, als die sogenannten amtlichen Berichte.«195 Als ehemaliger Handelsredakteur der National-Zeitung sprach Michaelis vielleicht nicht ganz unvoreingenommen, wenn er die Leistung seiner einstigen Berufskollegen lobend erwähnte. Mit den vorherrschenden Notierungspraktiken an der Börse, die immer wieder für Empörung bei Bankiers und Anlegern sorgten, war Michaelis dafür als Wirtschaftsexperte umso mehr vertraut und muss daher als glaubwürdiger Zeuge gelten.196 Die noch zu Beginn des 19.  Jahrhunderts als Motoren einer Preisöffentlichkeit fungierenden Makler waren seit den 1850er Jahren, als die Presse die Kursberichterstattung in ihre eigenen Hände nahm, zunehmend selbst zur Zielscheibe journalistischer Kritik geworden. Die Börse bildete damit nicht nur eine Kontakt-, sondern ebenso sehr auch eine Konfliktzone. Befanden sich die Markteilnehmer untereinander schon in einem Verhältnis der Rivalität – sei es in Form konkurrierender Bankhäuser197, sei es in Form wechselnder Spekulantengruppen à la hausse und à la baisse –, so verkompliziert sich dieses Kräfteparallelogramm noch um eine weitere Dimension, nimmt man die Vertreter der Presse hinzu. Denn ein Journalist, der selbstständig und kritisch berichtete, schuf sich ebenso Feinde wie einer, der im Solde eines Bankhauses stand, um gegen dessen Konkurrenzunternehmen zu wettern. Die Finanzwelt registrierte genau, wer was über wen schrieb. Im September 1875 geriet Killisch von Horn zwischen die Fronten rivalisierender Börsencliquen.198 Am 9. September kursierten während des Börsentages Gerüchte, das gesamte Direktorium der Disconto-Gesellschaft sei verhaftet worden, ein Manöver, mit dem der Kurs der Disconto-Commandit-Anteile herunterge­ drückt werden sollte. Am selben Tag zirkulierten rote Handzettel im Börsengebäude, die mit ihrem antisemitischen Inhalt jüdische Handelstreibende, allen voran Bleichröder und Hansemann, dem Spott der Börse preiszugeben suchten.199 Killisch von Horn griff die Geschehnisse des Tages in einem zornigen Artikel auf, in dem er befürchtete, dass durch derartige Methoden »die letzte 195 Rede vom 8.1.1867, in: Haus der Abgeordneten, Stenographische Berichte, Bd. 3 (1866/67), S. 1380. 196 Michaelis äußerte sich hierzu in derselben Rede: »Ich habe selbst unter meinen eigenen Augen die Börsengeschäfte vor sich gehen sehen und ich kann Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung sagen, daß manche Geschäfte, die nicht gemacht sind, im amtlichen Courszettel notirt erscheinen und daß viele Geschäfte, die gemacht sind, im amtlichen Courszettel nicht notirt sind.« (ebd.) 197 Reitmayer, S. 49 f. 198 Die Angaben zum folgenden Vorfall sind den Aktenstücken und Zeitungsausschnitten entnommen in GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2, Bd. 1. 199 Kaufmannschaft an Handelsministerium, 4.10.1875, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2, Bd. 2.

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Spur von Vertrauen«, die im Publikum noch gegenüber der Börse bestehe, untergraben werde. Es müsse daran erinnert werden, »dass man damit den Hass gegen die Börse und, fügen wir nur noch offen hinzu, gegen das Judenthum in Kreise hineinzutragen beginnt, aus denen der Rückschlag die ganzen Veranstalter in einer ihnen voraussichtlich sehr unerwarteten Weise treffen dürfte.«200 Als Killisch am darauffolgenden Morgen die Börse betrat, warnte ihn ein befreundeter Bankier, dass wegen seines Artikels eine ausgesprochene Missstimmung gegen ihn herrsche. Killisch ließ sich hiervon nicht beirren, wurde jedoch bald schon eines Börsenbesuchers gewahr, der lautstark auf sein Blatt schimpfte: »Auf ein solches Abendblatt […] kann oder muß Niemand mehr abonniren, pfui, pfui, pfui!«.201 Eine größere Anzahl von Besuchern versammelte sich daraufhin, von den lauten Äußerungen angelockt, um Killisch und drängte ihn in Richtung Ausgang, bis der Chefredakteur aus dem Börsensaal vertrieben war. Die finanzjournalistische Berichterstattung konnte durch Räume wie die Börse nicht nur befördert, sondern ebenso sehr, dies zeigt der skizzierte Vorfall, behindert und eingeengt werden. Dies muss in besonderem Maße für die unmittelbaren Jahre nach dem Börsenkrach gelten, deren Klima ökonomischen Niedergangs und anhebender antisemitischer Agitation auch die Alltagspraxis des Finanzjournalismus erfasste. Die besondere Situation der Börse, in der Kritiker und Kritisierte aufeinandertrafen, führte auch später noch zu ähnlichen Vorfällen. Dies erfuhr der Herausgeber des Berliner Börsen-Couriers, George Davidsohn, im Dezember 1894 am eigenen Leib, nachdem ein Artikel in seinem Blatt erschienen war, der sich gegen die Makler an der Berliner Börse richtete. Davidsohn sah sich plötzlich von Börsenbesuchern umdrängt und »durch laute Zurufe und Geschrei zum Verlassen der Börse aufgefordert wurde. Zu seiner eigenen Sicherung wurde er nach Verlauf von höchstens zehn Minuten von dem Geheimen Commerzienrath Herz unter Beistand einiger anderen Börsenkommissarien aus dem Saale geleitet.« Eine »körperliche Beschädigung« habe er nicht erlitten und »seitdem wiederholt die Börse besucht, ohne irgendwie behelligt worden zu sein.«202

Wer Kritik an der Finanzwelt oder einzelnen Instituten üben wollte, der wusste, dass er den Kritisierten danach persönlich im Börsensaal begegnen würde. Mancher dürfte mit kritischen Invektiven nicht nur aus diesem Grund sparsam umgegangen sein, sondern auch, um sich in der Folge nicht von wichtigen Informationsquellen abzuschneiden. Zwar wiesen Bankiers den Vorwurf zurück, einer Zeitung »das Recht verkümmern zu wollen, an allen öffentlichen Vorgängen in sachlicher Weise Kritik zu üben«, wie der Geschäftsinhaber der Disconto-Gesellschaft, Emil Russell, gegenüber dem Berlin-Vertreter der 200 Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 418 (Abendausgabe), 9.9.1875, S. 1. 201 Angaben nach: Älteste der Kaufmannschaft an Handelsministerium, 5.11.1875, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2, Bd. 2. 202 Bericht an Handelsminister, 5.1.1895, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2, Bd. 2.

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Kölnischen Zeitung, Franz Fischer, betonte.203 Doch schien dabei jeder seine eigene Vorstellung davon zu haben, was sachliche Kritik in der Praxis bedeutete. Ein Artikel des Kölner Blattes über die Vorgänge in einer von der DiscontoGesellschaft gegründeten Aktiengesellschaft stieß nicht auf Gegenliebe bei dem Berliner Bankinstitut. Russell war verstimmt und ließ dies Fischer auch wissen. Fischer, selbst politischer Korrespondent, traute sich zwar nicht zu, die sachliche Angemessenheit des in der Handelsredaktion entstandenen Artikels zu beurteilen, kam jedoch zu der Ansicht, dass es der Inhalt nicht wert war, das Verhältnis zur Disconto-Gesellschaft aufs Spiel zu setzen. »[M]ir liegt sehr daran, mit den Geschäftsinhabern, mit denen ich persönlich sehr befreundet bin, sehr gut zu stehen, da ich von ihnen sehr viele Förderung erhalten habe und auch ferner erwarte«, ließ er Paul Steller unzweideutig wissen, den Handelsredakteur des Kölner Blattes, in dessen Verantwortung der Artikel publiziert worden war.204 Steller seinerseits verteidigte den Artikel seines Börsenkorrespondenten und führte die Beschwerde der Disconto-Gesellschaft darauf zurück, dass diese »überhaupt sehr patzig gegen die Presse« sei.205 »Die Discontogesellschaft mag von den meisten Börsenjournalisten einen schlechten Begriff haben«, dies berechtige sie aber nicht, dem Börsenkorrespondenten der Kölnischen Zeitung eine »unangemessene Haltung« zu unterstellen.206 Pressevertreter an der Börse hatten stets die Konsequenzen ihrer journalistische Kritik zu gewärtigen: Diese konnten zum einen Einschüchterungsversuche vonseiten der professionellen Börsenbesucher zur Folge haben, wenngleich diese Fälle eher die Ausnahme gebildet haben dürften; zum anderen und viel häufiger konnte diese aber auch in Informationsentzug und innerredaktionellen Auseinandersetzungen enden, wie dies an der Kölnischen Zeitung aufgezeigt werden konnte. Der öffentliche Nutzen kritischer Artikel musste stets mit den möglichen Schäden für das Zeitungsunternehmen abgewogen werden. * Finanzmetropolen lieferten den institutionellen Rahmen, in den finanzjournalistische Praktiken der Informationsakquise eingebettet waren. Als Knotenpunkte im Netz globaler Kommunikation und Sitz der wichtigsten Nachrichtenagenturen ermöglichten sie finanzjournalistischen Akteuren Zugang zum internationalen Nachrichtenmarkt. Neben diesem »virtuellen« Kommunikationsraum verfügten Finanzmetropolen zugleich über konkrete Räume, die journalistische Recherchen vor Ort ermöglichten und so redaktionelle Eigenleistungen stimulierten. Finanzmetropolen garantierten oder erzwangen zwar keine Kontakte zwischen Journalismus und Finanzwelt, erleichterten aber deren 203 Russell an Fischer, 11.1.1888, RDS, FK, Bl. 833. 204 Fischer an Steller, 5.10.1887, RDS, FK, Bl. 681. 205 Steller an Fischer, 4.10.1887, RDS, FK, Bl. 680. 206 Steller an Fischer, 6.10.1887, RDS, FK, Bl. 683.

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Anbahnung. Die Nähe zwischen Zeitungsredaktion und Bankhaus ermöglichte face-to-face Begegnungen, die auch kurzfristig, je nach Tageserfordernis, vereinbart werden konnten, und die intime Atmosphäre des Bankhauses gab diesen eine besondere Qualität, bot Gelegenheit für Hintergrundgespräche und vereinfachte den Austausch exklusiver Informationen. Ihr Pendant bildete die Börse. Die während der Handelszeit charakteristische Hektik legt den Schluss nahe, dass dort entstandene Kontakte mehr der schnellen Informationsgewinnung und des Informationsaustausches dienten denn des ausführlichen, vertiefenden Gesprächs. Die Börse war zugleich eine Arena, in der Konflikte ausgetragen wurden, die in Ansätzen bereits eine wachsende Eigenständigkeit des Börsenjournalismus und die Herausbildung eines eigenen code of ethics andeuten.

3. Der »Gründungsschwindel« und die Hypothek der Finanzpresse »Er nennt es Schwindel, wir Usance.« Ein Börsenmann (1873)207 »Die deutsche Presse im Großen und Ganzen hat während der Gründerepoche den Bauernfängern der Börse als Zuschlepperin gedient, ihnen das leichtgläubige Publikum ins Garn geführt, und sich für diese Liebesdienste bezahlen lassen, sehr gut bezahlen lassen.« Der Volksstaat (1874)

Im Sommer 1877 veröffentlichte Otto Glagau den zweiten Band seiner antiliberalen und judenfeindlichen Schrift »Der Börsen- und Gründungsschwindel in Deutschland«. Der nach dem Börsenkrach 1873 jäh vom politischen Liberalismus abgerückte Publizist bezeichnete darin die Gründerperiode zwischen 1870 und 1873 als die Geschichte eines von Juden verübten »unerhört grossen und frechen, raffinirten und intensiven Schwindels«. In dem Band findet sich auch ein Kapitel, das die Überschrift »Die Presse im Dienste der Börse und der Gründer« trägt. Zeitungen und Journalisten, allen voran liberale, hätten, so konnte man dort nachlesen, »von vorne herein den Schwindel als solchen erkannt, ihn mit vollem Bewusstsein unterstützt«, sie seien dafür reichlich bezahlt worden und hätten »von dem grossen Raube ihren gut gemessenen Antheil erhalten«. Überall meinte Glagau »intime Beziehungen der Presse zu Gründern und Gründungen« ausmachen zu können, hinter jeder Schlagzeile witterte er Korruption, hinter jeder Zeitung den dunklen Einfluss von »Semiten« und ihren Helfers207 Zit. n. Zeitschrift für Kapital und Rente, Jg. 9, 1873, Januar, S. 12.

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helfern.208 Mit seiner Anklage gegen die Presse, vor allem gegen die liberale, stand Glagau nicht alleine da. Das »irrationale und neurotische Denken«209, das sich nach dem Börsenkrach vom Herbst 1873 allenthalben ausbreitete, begegnet in unterschiedlichen Ausdrucksformen. Die Grenzen zwischen berechtigter Kritik, Verleumdung, Instrumentalisierung zu politischen Zwecken und paranoischen Verschwörungsvorstellungen waren hier fließend. Und so war auch das Spektrum jener Kritiker ein sehr breites, die sich über die Zustände der Presse echauffierten, die über ihre zunehmende Kommerzialisierung durch das Inseratenwesen klagten und meinten, der deutsche Journalismus würde zum Schaden des Gemeinwesens zur Käuflichkeit degradiert. Es reichte von Sozialisten über Liberale bis hin zu Sozialkonservativen und Antisemiten, freilich mit je unterschiedlicher Stoßrichtung und ohne dabei zwangsläufig in einer judenfeindlichen Agitation zu kulminieren. Der nicht nur wirtschaftliche, sondern ebenso auch politische, gesellschaftliche und kulturelle Zäsurcharakter der Jahre nach 1873 ist mit Blick auf das junge Kaiserreich immer wieder von der Forschung hervorgehoben worden.210 Inwieweit gewinnt dieser Zeitraum auch für eine Geschichte des Finanzjournalismus an Bedeutung? Um dies beurteilen zu können, müssen wir zunächst die strukturellen sowie personellen Beziehungen zwischen Pressegewerbe und Finanzsektor in den 1870er Jahren betrachten und fragen, wie diese öffentlich wahrgenommen und im politischen Kommunikationsraum des Kaiserreichs thematisiert wurden. Anschließend ist der Frage nachzugehen, inwieweit der Börsenkrach und die ihm folgende wirtschaftliche Depression die Wahrnehmung gängiger Praktiken und Beziehungen zwischen Presse und Finanz­ sektor verändert haben und welche Konsequenzen dies für die Entwicklung des Finanz­journalismus nach sich zog.

208 Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. XVII, 448 f. und 486. – Zu Glagau s. Weiland. 209 Rosenberg, Depression, S. 66. 210 Für Hans Rosenberg begründen die Jahre den »Anfang vom Ende des ›liberalen Zeitalters‹ und der Hegemonie der individualistischen Wirtschafts- und Sozialphilosophie«. Es habe sich zugleich die Denkweise durchgesetzt, dass der Staat für das »Wirtschaftsschicksal seiner mit politischen Freiheitsrechten ausgerüsteten Bürger […] verantwortlich sei«, s. Rosenberg, Depression, S. 62 und 80. Vgl. auch Grabas, Gründerkrise. Anders dagegen und den volkswirtschaftlichen Einschnitt der Jahre seit 1873 relativierend Burhop u. Wolff. Dass die Folgewirkungen der Krise sowie die staatlichen und gesellschaftlichen Reaktionen auf sie keinesfalls in allen Industrienationen identisch waren, zeigen jüngere Studien, die mit der Methode des historischen Vergleichs arbeiten, vgl. mit Blick auf Deutschland und die USA Davies. Der Zäsurcharakter des Börsenkrachs ist mit Blick auf die Frage nach der Herausbildung des modernen Antisemitismus von der neueren Forschung allerdings relativiert worden. Während seit den 1860er Jahren eine durchaus inhaltliche Kontinuität zu beobachten sei, veränderte und erweiterte sich mit dem Gründerkrach vielmehr die soziale Basis und gesellschaftliche Wirkung des Antisemitismus, vgl. Albrecht, S. 517 ff., S. 535.

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3.1 Interessenverschränkungen und Inseratengeschäfte Welche Verflechtungen und Abhängigkeitsverhältnisse hatten sich in den Gründerjahren zwischen den Akteuren des finanzjournalistischen Feldes und jenen der Banken- und Börsenwelt etabliert? Aus der Vielzahl fester, gelegentlicher oder gar loser Bindungen, die für die Gemengelage der Jahre um 1870 kennzeichnend waren, sollen im Folgenden drei Formen genauer betrachtet werden, da sie für den zeitgenössischen Diskurs über den Finanzjournalismus von besonderer Bedeutung waren. Erstens sind die Besitzverhältnisse von Zeitungsunternehmen anzusprechen, die besonders dann Aufsehen erregten, wenn Bankiers oder Unternehmer als Eigentümer firmierten. Zweitens ist auf Verschränkungen journalistischer und privater Interessen einzugehen. Sie lagen etwa dann vor, wenn Zeitungsherausgeber oder Journalisten, die gemeinhin vorgaben, öffentliche Interessen zu vertreten, selbst Wertpapierbesitzer waren und folglich Urteile über finanzielle Sach- und Anlagefragen abzugeben hatten, die sie zugleich privat betreffen konnten. Schließlich ist drittens auf Beziehungen einzugehen, die sich über die Zuteilung von Inseraten etablierten und die stets die Unabhängigkeit des redaktionellen Teiles zu gefährden drohten. Besitzverhältnisse im Pressesektor Seit dem Ende der 1860er Jahre gingen politische Tageszeitungen, insbesondere des liberalen und konservativen Spektrums, ebenso aber auch spezialisierte Börsenzeitungen immer häufiger in den Besitz einzelner Bankiers oder ganzer Bankinstitute über. Sie wurden in diesem Zuge zumeist in die Rechtsform der Aktiengesellschaft überführt, als deren Teilhaber dann Finanzleute, Großgrundbesitzer oder Industrieunternehmer auftraten. Manchmal ging die Gründung eines neuen Blattes direkt von diesen Personengruppen aus. Was den Ankauf oder die Gründung von Zeitungen so attraktiv machte, waren wohl weniger die Gewinnmargen, die auf diesem Geschäftsfeld zu erzielen waren, als vielmehr die Möglichkeit, die Ambitionen ihrer Besitzer oder Teilhaber auf anderen wirtschaftlichen Feldern werbewirksam zu flankieren. Im Kalkül der Finanzakteure begann in jener Zeit die »öffentliche Meinung« als eine Größe, die der Lenkung bedurfte, zunehmend wichtiger zu werden.211 Den ersten Versuch, »systematisch mit der Presse die Öffentlichkeit für Privatinteressen zu gewinnen«,212 machte Henry Bethel Strousberg (1823–1884).213 Der Berliner Eisenbahnunternehmer, seit Anfang der 1860er Jahre in Ostpreußen eifrig engagiert, rief im Sommer 1866 Die Post ins Leben, eine aufwendig gestaltete und kostspielige Tageszeitung wirtschaftsliberaler Couleur, die mit 13 Ausgaben pro Woche und einer großen Zahl an Ressorts aufwartete. Das Blatt war ambitioniert geführt und stand den anderen großen Zeitungen auf dem Berliner Pressemarkt 211 Reinhardt, S. 178. 212 So Groth, Zeitung, Bd.2, S. 574. 213 Zu Strousberg s. Borchart; Roth, Sturz.

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in nichts nach. Es flankierte und unterstütze jedoch auch, getarnt als Organ der »öffentlichen Meinung«, die Eisenbahnprojekte seines Besitzers. Strousberg war in den 1860er Jahren ein kometenhafter Aufstieg als Unternehmer gelungen, er schuf einen vertikal strukturierten Konzern mit über 100 000 Mitarbeitern und war zeitweilig in Preußen, England und Russland gleichermaßen zu Hause. »Solch eine Verbindung zwischen Großunternehmertum auf industriellem Gebiet und Journalistik, solch eine unverhüllt zugegebene ›Personalunion‹«, erinnerte sich ein zeitgenössischer Journalist Jahrzehnte später, »war eine in dem damaligen Berlin, ja in ganz Preußen und darüber hinaus, soweit die deutsche Zunge klingt, ungekannte, kaum geahnte Erscheinung.«214 1868 gelang es Strousberg ein Großprojekt an Land zu ziehen: Er erhielt vom rumänischen Staat die Konzession, das noch junge Fürstentum mit einem Schienennetz zu versorgen.215 Für die dafür ausgegebenen Obligationen warb wiederum seine Post, machten aber auch andere Zeitungen Stimmung, deren Herausgeber oder untergeordnete Redakteure von Strousberg finanzielle Zuwendungen erhalten hatten. Zeitgenossen waren über diese Praktiken wahrscheinlich informiert. Als »alter Journalist« wisse Strousberg auch die Presse zu würdigen, bemerkte der Aktionär im Oktober 1869 in einem Porträt des Eisenbahnunternehmers ganz unverhüllt und nicht ohne Ironie. Nicht genug, dass er sich »die meisten Organe derselben dienstbar und gefügig« zu machen verstünde, habe er in Berlin auch ein eigenes politisches Blatt begründet.216 Die redaktionellen Inhalte derartiger Zeitungen standen daher nicht selten in schroffem Gegensatz zur ökonomischen Wirklichkeit. Als im Juni 1870 bereits eine Reihe technischer und finanzieller Probleme den Ausbau der rumänischen Eisenbahn fast zum Erliegen gebracht hatte, sprach die Post noch von »Kauflust zu steigenden Kursen« in rumänischen Obligationen. Leser, die sich hierdurch zum Kauf animiert gefühlt hatten, sollten wenig später das Nachsehen haben. Im Januar 1871 stellte der rumänische Staat seine Zinszahlungen für ebenjene Papiere ein.217 Strousberg war keine Ausnahme. Um 1870 versuchten sich viele an der lukrativen Verbindung von Gründer- und Pressetätigkeit. Gemeinsam mit den Wiener Rothschilds erwog Bleichröder etwa 1870 kurzzeitig die Gründung eines internationales Finanzblattes, ließ das Vorhaben dann aber fallen  – vielleicht scheute er die Investitionen (Strousberg soll seine Post jährlich mit 40 000 bis 80 000 Thalern unterstützt haben).218 In der Provinzhauptstadt Ostpreußens schufen Ende 1871 der Geheime Kommerzienrat Moritz Simon und der Bankier Carl Jacob die Königsberger Hartung’sche Zeitung, deren Börsenteil Jacob selbst redigierte. Das Blatt wurde als Aktiengesellschaft gegründet und 200 000 Thaler Aktien zur öffentlichen Subskription aufgelegt; im Aufsichtsrat der Gesellschaft 214 Kastan, S. 194. 215 Koch, S. 115–119; Borchart, S. 107 f.; Roth, Sturz, S. 88–93. 216 Der Aktionär, Nr. 827, 31.10.1869, S. 669. 217 Die Post, 4.7.1870; Borchart, Eisenbahnkönig, S. 144–164. 218 Stern, Gold, S. 345; Borchart, Eisenbahnkönig, S. 108.

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saßen u. a. der Königsberger Bankier Adolf Samter sowie Simon selbst. Wenig später ließ Simon das zweite große Blatt Königsbergs, die Ostpreußische Zeitung, ankaufen und in eine Aktiengesellschaft umwandeln, in deren Aufsichtsrat er sich ebenfalls einen Posten sicherte.219 In Breslau kaufte der Schlesische Bankverein die Breslauer Zeitung. Ein anderes Konsortium unter Führung der Discontobank gründete im Juni 1873 die Schlesische Presse. Ähnliches geschah in Dresden. In der sächsischen Hauptstadt schuf das Bankhaus M. Schie Nachfolger im Oktober 1872 die Dresdner Presse. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, die seit ihrer Gründung 1862 als offiziöses Organ der preußischen Regierung galt, ging ebenfalls 1872 in den Besitz eines Konsortiums aus Hamburger Geschäftsleuten und der Norddeutschen Bank über. Die Bairische Handelsbank in München kaufte im Frühjahr 1873 die Süddeutsche Presse. Die traditionsreiche, 1740 in Berlin gegründete Spenersche Zeitung, ging im März 1872 zum Preis von 228 000 Thalern in den Besitz der Preußischen Boden-Creditanstalt über, die das Blatt nach sinkenden Abonnentenzahlen schon wenig später an den Schönheimerschen Bankverein abstieß. Doch auch in dessen Händen ruhte die Zeitung nicht lange. Schließlich erwarb Bernhard Wolff 1874 das heruntergewirtschaftete Blatt und vereinte es mit seiner National-Zeitung.220 Aus der Strousbergschen Konkursmasse übernahm im April 1872 die Disconto-Gesellschaft das ehemalige Leiborgan des Eisenbahnunternehmers und verwandelte es in eine Aktiengesellschaft auf 200 000 Thaler Grundkapital.221 Handelsjournalisten als Gründer und Spekulanten Die späten 1860er und frühen 1870er Jahre dokumentieren ebenso eine Verschränkung journalistisch-verlegerischer, dem Anspruch nach öffentlicher mit privat-geschäftlichen Interessen. Der Eigentümer und Chefredakteur des Berliner Börsen-Couriers, George Davidsohn, hatte einen Teil seines Vermögens in den durch Strousberg auf den deutschen Markt gelangten rumänischen Eisenbahnobligationen angelegt, freilich noch bevor diese notleidend wurden. Ihm gleich tat es der Inhaber des Breslauer Handelsblatts, Oscar Freund, der neben seiner publizistischen Tätigkeit noch Aufsichtsratsposten in zahlreichen industriellen Aktiengesellschaften bekleidete. Beide standen im November 1871, nach dem Zusammenbruch der Strousbergschen Unternehmungen, an der Spitze von Wertpapierinhaber-Komitees, die eine Zivilklage gegen Strousberg anstrengten. Sie taten dies öffentlichkeitswirksam, und niemand schien zu diesem Zeitpunkt Anstoß daran genommen zu haben, dass sich Zeitungsunternehmer und Chefredakteure frei und öffentlich als Anleger oder Spekulanten 219 Vgl. Listowsky, Jahrhundert, S. 22; Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 455 f. – Die Ostpreußische Zeitung warf 1873 eine Dividende von 6,5 Prozent ab, 1874 allerdings null Prozent. 220 Zum Verkauf der Spenerschen Zeitung s. Widdecke, S. 341 f.; Koszyk, S. 236; Meyer. 221 Nach seiner Rückkehr aus dem Moskauer Exil versuchte Strousberg erneut, mit der Presse für seine Zwecke zu werben und gründete 1879 das Kleine Journal, s. Dahms, S. 66.

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zu erkennen gaben.222 Davidsohn überdies dürfte sich in der Zeit der Gründerbooms nicht nur in rumänischen Eisenbahnpapieren verspekuliert haben, sondern noch in Effekten weiterer, wenig rentabler Unternehmen. Mitte der 1870er Jahre sah er sich gezwungen, seine »Verhältnisse zu consolidiren«, indem er einige seiner Berliner Immobilien zu veräußern suchte.223 Seine in finanzielle Kalamitäten geratene Zeitung musste er kurzzeitig seinem Bruder Robert Davidsohn ­(1853–1937) überschreiben, dem eine Sanierung des Blattes gelang.224 Auch Killisch von Horn verband seine Tätigkeit als Verleger und Journalist mit privaten Anlageoperationen. Seine Kontakte zu Bleichröder konnten ihm hierbei behilflich sein, dann etwa, wenn er den Bankier bat, ihm »heute irgendeinen Posten Rheinischer Aktien kaufen zu lassen«, da er bald mit einem Kursanstieg rechne.225 Völlig unbemerkt blieb diese Vermischung beruflicher und privater Interessen nicht. Glagau spottete etwa, man könne dem Börsenbericht Killisch von Horns entnehmen, ob »der Verfasser gerade à la hausse oder à la baisse engagiert ist«, also auf steigende oder auf fallende Kurse setze.226 Einige Journalisten, bei weitem nicht allein jene aus dem Börsen- und Finanzfach,227 traten selbst als Gründer von Fabriken auf Aktien in Erscheinung, über deren Rentabilität sie dann im Handelsteil der Presse ihr Urteil als Redakteure abzugeben hatten. So war etwa Heinrich Ebeling, der Börsenredakteur der Vossischen Zeitung, an der Gründung zweier Chemiefabriken in Potsdam und Gotha beteiligt.228 Sein Kollege von der National-Zeitung, Julius Schweitzer, betätigte sich 1872 als Mitgründer der »Nienburger Zuckerfabrik« und der »Straßburger Chemischen Fabrik«.229 Wenige Tage nach Veröffentlichung des Gründungsprospekts konnte der von Schweitzer redigierte Handelsteil der National-Zeitung melden, dass die »Zeichnungen auf die Aktien der Nienburger Zuckerfabrik […] sehr befriedigend« seien, was deren Absatz nur weiter befördert haben dürfte.230

222 Borchart, S. 298, Fn. 74; Vom Rhein, S. 44 f.; Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 460, 530. 223 Davidsohn an Bleichröder, 10.8.1876, BP, XXIII.  – Kastan, S.  199, erinnerte sich später: »Georg Davidsohns wirtschaftlicher Stern erlosch indessen sehr bald. Auf den Taumel der Gründerjahre folgte bekanntlich sein jäher Absturz. Der Eigentümer des ›Börsen-Courier‹ war ein schlechter Rechner, und sein Unternehmen war in hohem Maße gefährdet.« 224 Vgl. Kastan, S. 199. 225 Killisch von Horn an Bleichröder, 20.10.1879, BP, XXIII. 226 Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 316. 227 Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 486, nennt rund zwei Dutzend, darunter Feuilletonredakteure und Parlamentsberichterstatter, aber auch den Herausgeber des »Berliner Actionairs«, Emil Freystadt. 228 Ebd., S. 224 und 226. 229 Siehe den Gründungsprospekt in National-Zeitung, 16.2.1872. Vgl. zu Schweitzers Gründertätigkeit die nicht immer tendenzfreien Bemerkungen bei Mehring, S. 70–75. 230 National-Zeitung, Nr.  83, 19.2.1872.  – Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. XIII, nennt Beispiele für »Reclamen« im Börsenteil der National-Zeitung für Gründungen, an denen Schweitzer beteiligt war.

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Interessenkonflikte erblickten Leser in einer derartigen Berichterstattung nicht, obwohl Schweitzers Gründertätigkeit in aller Öffentlichkeit dokumentiert war. Denn unter dem in zahlreichen Tageszeitungen, selbst der National-Zeitung, abgedruckten »Gründungsprospekt« standen auch für jedermann sichtbar Name und Berufsbezeichnung des Redakteurs (Abb. 7). Offensichtlich schien das unerfahrene Anlegerpublikum gerade in der privaten Beteiligung prominenter Persönlichkeiten an Gründungen einen Hinweis auf die Solidität des projektierten Unternehmens gesehen zu haben. Ihr guter Ruf wirkte, wie der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt vermutet, »für das kaufende Publikum wie eine Bürgschaft«.231 Der Handelsrechtler Carl Gareis beobachtete während der Gründerjahre, dass »hocharistokratische Namen […] unter den Gründern […] manches kleinbürgerliche Ersparniß« anzogen, und der konservative Publizistik Franz Perrot ereiferte sich darüber, dass Abgeordnete in den Gründungsprospekten mit ihrem Amtstitel firmierten, um das beworbene Unternehmen attraktiver zu machen.232 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass zumindest exponierten Börsenredakteuren um 1870 noch eine ähnliche Funktion zugefallen war. Denn vor allem Finanzjournalisten angesehener, bürgerlich-liberaler Tageszeitungen galten vielen auch als Experten auf ökonomischem Gebiet. Ein Dessauer Unternehmer etwa lobte »die volkswirtschaftliche Bildung unserer Publizisten und der Börsenreferenten der wichtigsten Pressorgane«, die auf sehr hohem Niveau stehe. Vor allem die Wochenberichte der National-Zeitung über die Börsenbewegungen und wirtschaftlichen Zustände Deutschlands waren ihm ein Muster »klarer Auffassung und vollständiger wissenschaftlicher und technischer Beherrschung des Gegenstandes«.233 Bereicherten Adelige neue Aktiengesellschaften mit symbolischem Kapital, so tat es wohl mancher Journalist mit kulturellem Kapital. Julius Schweitzer war dabei nicht nur ein Börsenreporter unter vielen, sondern der wohl bekannteste Berlins und eine im gesellschaftlichen Leben der Reichshauptstadt prominente Figur. In bürgerlichen Kreisen erfreute Schweitzer sich hoher Achtung, er zählte zu den Mitbegründern des Vereins Berliner Presse (1862), dessen Schatzmeister er bis an sein Lebensende (1893) blieb, und nahm auch eine hohe Stellung in der Royal York Loge (1760) ein, der jüngsten der drei altpreußischen Großlogen.234 Es bestand in den Jahren des Gründer231 Borchardt, Einleitung, S. 38. 232 Gareis, Börse, S. 10; Perrot, Bank-, Börsen- und Actienschwindel, S. 203. 233 Oechelhäuser, S. 106. – Ähnliches Lob erhielt das Blatt auch von der Zeitschrift für Kapital und Rente, Jg. 9, 1873, S. 12: »Ihre täglichen Börsenreferate scheinen uns trotz aller Concurrenz der Neuzeit an Gediegenheit noch nicht überflügelt worden zu sein.« Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S.  475, dagegen schreibt über Schweitzers Arbeiten in der National-Zeitung: »Seine unendlich langen Wochenberichte sind ewige Wiederholungen, enthalten immer denselben nichtssagenden oder doch zweideutigen Wortschwall, und dienen nur dazu, dem Publikum Sand in die Augen zu streuen.« 234 Kastan, S. 175 f. – Auf die Glückwunschschreiben der unterschiedlichsten Notabeln der Berliner haute volée anlässlich Schweitzers 25-jährigem Dienstjubiläum ist an anderer Stelle bereits eingegangen worden.

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Abb. 7: Prospekt mit Julius Schweitzer als »erstem Zeichner« und Mitglied des Aufsichtsrats, veröffentlicht in der »National-Zeitung« vom 16. Februar 1872.

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booms folglich kein Grund dazu, dem Sachverstand von Börsenredakteuren im Hinblick auf ihre privaten Investitionsentscheidungen weniger zu trauen als im Hinblick auf ihre redaktionell verfassten Börsenberichte und öffentlich geäußerten Investitionsratschläge. Der Name eines renommierten Journalisten unter dem Gründungsprospekt wurde noch Anfang der 1870er Jahre vor allem als Ausdruck der Profitabilität des Unternehmens aufgefasst und wohl weniger als Indiz unlauterer Interessenverquickungen zwischen privatem Gewinnstreben und einem dem Anspruch nach öffentlichen Amt. Emissionsprospekte Eine weitere, vielleicht die engste und nachhaltigste Beziehung zwischen Presse und Finanzsektor wurde über das Zeitungsinserat etabliert. Nach dem Fall des staatlichen Anzeigenmonopols (»Intelligenzzwang«) im Zuge der Revolution von 1848/49 stand auch privatwirtschaftlich geführten Zeitungen und Zeitschriften der Weg offen, einen Teil ihrer Produktionskosten durch Anzeigenfinanzierung zu decken.235 Zugleich koinzidierte mit dieser Liberalisierung im Pressegewerbe der Aufstieg der Aktiengesellschaft und der öffentlichen Subskriptionsanleihen seit den 1850er Jahren. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Entwicklungen eröffnete sich insbesondere für Tageszeitungen mit einer Handelssparte, noch mehr aber für Finanz- und Börsenzeitungen, eine lukrative Einnahmequelle. Sie bestand in einer spezifischen Form des Inserats, dem sogenannten »Prospekt«. Diesen veröffentlichten Aktiengesellschaften bzw. mit der Ausgabe von Anleihen beauftragte Bankhäuser in der Tagespresse, um damit auf Unternehmensgründungen und Neuemissionen aufmerksam zu machen, um über deren Konditionen (Verzinsung, Tilgung) aufzuklären und um schließlich Investoren zur Subskription einzuladen.236 Zeitungen entwickelten sich damit zu einem Bindeglied zwischen kapitalsuchenden Gesellschaften, Kommunen oder Staaten und einem dispersen Investorenpublikum. Ihnen war diese Rolle schrittweise und größtenteils ohne eigenes Zutun zugefallen. Als treibende Kräfte hierbei hatten sich der Staat bzw. die unter kaufmännischer Selbstverwaltung oder Aufsicht der Handelskammern stehenden Börsen erwiesen. Ihre Bestrebungen zielten darauf, mehr Publizität bei der Gründung von Aktiengesellschaften und der Wertpapieremission zu erwirken und so Anle-

235 Siehe hierzu allgemein Reinhardt, Reklame. – Zurecht weist Requate, Kommerzialisierung, S. 125, darauf hin, dass die Kommerzialisierung der Presse bereits lange vor dem Aufkommen der sogenannten »Generalanzeiger« in den 1880er Jahren eingesetzt habe. 236 Siehe allgemein zum Emissionsprospekt Jucker. – Prospekte lassen sich seit dem 16. Jahrhundert nachweisen. Ihre generelle Funktion bestand darin, über ein Projekt, gleich welcher Art, Auskunft zu geben und zur Teilnahme durch Subskription aufzurufen. Die Ursprünge des Prospektwesens liegen aller Wahrscheinlichkeit nach im Buchhandel und Verlagsgewerbe des 15.  und 16.  Jahrhunderts. Über Prospekte versuchten Verleger ihren Buchabsatz zu erhöhen, durch Subskription erlangten sie eine Vorstellung von der Nachfrage ihrer Presserzeugnisse und konnten deren Auflagenhöhe danach ausrichten, Jucker, S. 29 f.

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ger vor Übervorteilung und Betrug zu schützen.237 Die zunehmende Anonymisierung des Anlegerpublikums seit den 1840er Jahren, nicht zuletzt befördert durch die Inhaberaktie, welche die Namensaktie ablöste, ließ die Presse dabei als das einzig wirksame Medium erscheinen, über das eine solche Publizität zu erzielen war. Mit dem Deutschen Handelsgesetzbuch von 1861 wurde für ganz Deutschland bestimmt, dass Neugründungen auf Aktien in der Presse anzuzeigen und Aktionäre über ausgewählte Zeitungen (»Gesellschaftsblätter«) auf dem Laufenden zu halten waren.238 Neben die »Gründungspublizität« trat 1870 nun auch eine »Bilanzpublizität«. Sie erlegte den Aktiengesellschaften die Pflicht auf, ihre Bilanzen jährlich in der Presse offenzulegen.239 Während einerseits staatliche Rechtskodifikationen unter Zuhilfenahme der Presse eine Unternehmenspublizität zu befördern versuchten, trugen die deutschen Börsen ihrerseits mit dem durch ihre Statute »selbstgeschaffenen Recht der Wirtschaft«240 dazu bei, eine auf die Presse gestützte Publizität im Emissionswesen voranzutreiben. Im April 1868 beschloss die Frankfurter Handelskammer, dass vor Zulassung eines Wertpapiers zum Börsenhandel ein entsprechender Prospekt vom Emittenten in den öffentlichen Blättern der Stadt zu publizieren sei.241 Anfang der 1870er Jahre zog der Berliner Platz mit einer ähnlichen Regelung nach.242 Aktiengesellschaften oder Bankhäuser kamen so seit den Jahren um 1870 nicht mehr umhin, der Presse Insertionsaufträge zu erteilen, wollten sie ihre Wertpapiere auf den bedeutendsten deutschen Kapitalmärkten, dem Berliner und Frankfurter, emittieren.243 Die Jahre wirtschaftlicher Prosperität seit 1870, in denen fast täglich Aktiengesellschaften entstanden und das Geld für Inserate locker saß, bedeuteten für das Pressegewerbe zugleich goldene Jahre des Prospektgeschäfts. In zwanzig bis fünfzig Zeitungen und teils mehrmals an aufeinander folgenden Tagen abgedruckt, konnten die Gründungsspesen einer Aktiengesellschaft für Emis237 Zu staatlichen und privaten Publizitätsbemühungen, die bis in die frühe Neuzeit zurückreichen (Registerpublizität; selbstauferlegte Offenlegungspflicht im Markt-, Mess- und Börsenverkehr), siehe den rechtshistorischen Überblick von Merkt, Unternehmenspublizität. 238 Deutsches Handelsgesetzbuch (1861), Art. 209, Abs. 11, Art. 210, Abs. 6, und Art. 221. 239 Vgl. Merkt, Unternehmenspublizität, S. 63–67. 240 So bereits 1933 (und mittlerweile eine feste Wendung) der Ordoliberale Hans GroßmannDoerth, vgl. Blaurock u. Goldschmidt. 241 Handelskammer, S. 1127 f. – Diese Regelung wurde auch auf Druck der Frankfurter Presse getroffen. Bereits 1860 hatte die Frankfurter Zeitung auf eine »Überwachung der Börsenzulassungen« gedrungen und immer wieder die Unterbringung zweifelhafter Anleihen auf dem Frankfurter Platz sowie das Einschmuggeln von Papieren unter der Hand kritisiert, Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 105 f. 242 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 489. 243 Es kam freilich auch immer wieder vor, dass Papiere ohne Börsenzulassung emittiert wurden. Auf Anleger dürften diese allerdings eher abschreckend gewirkt haben, da derartige Papiere zwangsläufig auch eines offiziellen Kurses entbehrten und das Fehlen eines Marktes – der Börse – ihre Liquidierbarkeit erschwerte.

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sionswerbung schnell 10 000 Thaler und mehr betragen. Prospekte druckten sämtliche Börsenzeitungen sowie alle großen politischen Tageszeitungen, ja sogar Lokalblätter.244 Zeitungsbesitzer witterten in der Inseratenakquise ein gewinnbringendes Geschäft und glaubten, sich einer schier niemals versiegenden Geldquelle gegenüber, die reichhaltig aus dem Industrie- und Bankensektor sprudelte. Nicht immer war dabei persönliches Profitstreben handlungsleitend, sondern auch die Absicht, durch Reinvestition der Erlöse das Zeitungsprodukt zu verbessern, den Korrespondentendienst auszuweiten, den Verkaufspreis zu senken, wie es ohnehin schwierig geworden war, die Kosten ausschließlich über den Abonnentenpreis zu decken.245 Die im wirtschaftlichen Aufschwung zuweilen ins Maßlose gesteigerten Gewinnforderungen der Zeitungsmacher spiegelten sich nicht zuletzt in den Anzeigenpreisen. Zeitungen gingen nun dazu über, verschiedene Gebührensätze, je nach Art des Inserats, einzuführen. Während der Preis pro Zeile für gewöhnliche Inserate (z. B. Familienanzeigen) in der Regel zwischen 15 und 30 Pfg. lag, ließen sich Zeitungen sogenannte industrielle »Reclamen« mit dem Drei- bis Vierfachen vergüten. Die Neue Börsenzeitung verlangte gegenüber den gewöhnlichen Inseraten (35 Pfg.) sogar 150 Pfg. pro Zeile.246 Die Augsburger Allgemeine Zeitung ihrerseits unterschied zwischen »Gründungsemissionen- und Reclamen« (1 Gulden/Zeile), »ärztlichen Reclamen« (3 Gulden), und Reklamen für Anleihen (5 Gulden).247 Immer offensiver bemühten sich Zeitungen um Inserate, vor allem kleinere, die fürchteten, übergangen zu werden. Groteske Praktiken griffen Platz. So war es keine Seltenheit, dass nach Bekanntwerden einer geplanten oder bereits vollzogenen Neuemission unzählige Telegramme bei dem mit der Begebung beauftragen Bankhaus einströmten. Zeitungen drängten darin auf Zuweisung des Prospekts oder präsentierten gleich die Rechnung für eine Veröffentlichung, die niemals in Auftrag gegeben worden war.248 »Dürfen wir Prospect Preußische Anleihe inserieren? Unser Blatt in Capitalistenkreisen sehr verbreitet«, telegrafierte etwa das weithin unbekannte Neue Börsenblatt aus Dresden an die »Preußische Seehandlung« am Berliner Gendarmenmarkt, welche als Bankhaus im Juli 1876 mit der Ausgabe der neuen vierprozentigen Staatsanleihen Preußens (100 Mio. Mk.) beauftragt worden war. Die Schlesische Presse erbat per Telegramm »Insertionsauftrag für Prospect preußische Staatsanleihe auch an breslauer handelsblatt, auflage 8000[,] einziges handelsorgan für schlesien und posen«. Die Seehandlung sah sich hierauf zur Klarstellung genötigt: »Nur in ›Schlesischer Presse‹ […] Insertionsauftrag daher unzulässig«.249 244 Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 61 ff., Zitat: S. 61. 245 Vgl. Birkner, S. 220 ff., 280–286; zur ähnlichen Situation in Österreich s. Matis, S. 212. 246 Angaben nach Schmölder, S. 14 ff. 247 Vgl. Wuttke, S. 388. 248 Vgl. hierzu Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 75, und ders., Gründungsschwindel in Deutschland, S. 467 ff. 249 Telegramme vom 4.7.1876 und 5.7.1876, GStA PK, I. HA., Rep. 109, Nr. 3339.

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War das Emissionsprospekt somit einerseits eine profitable Einnahmequelle für die Verlagsseite der Zeitung, so erwies es sich für Inserenten zugleich auch als Sprungbrett zum redaktionellen Teil. Um in der Konkurrenz mit den großen politischen Tageszeitungen nicht unterzugehen, hofierten gerade kleinere Finanz- und Börsenzeitungen Bankhäuser immer wieder und lockten mit besonderen Diensten. Die »Redaktion und Expedition der Allgemeinen BörsenZeitung« aus Berlin, eine Gründung des bereits aktenkundigen Christian­ Hollander, versandte ein vorgedrucktes und mit geübter Raffinesse formuliertes Schreiben an die Seehandlung, die vermutlich nicht die einzige Empfängerin geblieben war: »Wie ihnen bekannt sein dürfte, sind wenige Zeitungen so ausschließlich in Kreisen von Privat-Capitalisten, Rentiers und Actionairen über ganz Deutschland verbreitet, als gerade die ›ABZ‹. Ihre Inseration dürfte daher vorzugsweise in dieser Zeitung Ihrem Zweck entsprechen. Gern bereit, geeigneten Falls Ihre event. Wünsche bezüglich redactioneller Besprechung zu berücksichtigen, sehen wir ihren Aufträgen entgegen.«250

Es ist schwer einzuschätzen, inwieweit sich die zunehmende Inseratenfinanzie­ rung auf Form und Inhalte finanzjournalistischer Berichterstattung ausgewirkt hat und welches Maß an Freiheit Journalisten ihrerseits gegenüber der Verlagsseite und den Großinserenten zu behaupten vermochten. Der demokratische Historiker Heinrich Wuttke, kurzzeitig Sympathisant des Lassalle’schen Arbeitervereins, kritisierte bereits Mitte der 1860er Jahre, dass das »Urtheil der Zeitung […] mithin durch den ›Inseratentheil‹ bestimmt« werde. Manchmal schickten Unternehmen mit dem Insertionsauftrag gleich »einen für die Spalten der eigentlichen Zeitung bestimmten Aufsatz« mit.251 Zugleich spreche der Inserent ganz ausdrücklich aus, »daß wenn das Unternehmen im Blatt (natürlich höchst ungerechterweise) mißgünstig beurtheilt werden sollte, die Anzeigen selbstverständlich zurückgezogen« würden.252 Hier übertrieb Wuttke nicht, wie das Beispiel Bleichröder zeigt. Nachdem 1876 einige Artikel in der Vossischen Zeitung Bleichröders Missfallen erregt hatten, entzog er dem Blatt alle Annoncenaufträge.253 Es liegt nahe anzunehmen, dass größere Zeitungen mit einem breiten Inseratenkundenstamm derartige Sanktionen besser abfedern konnten als kleinere Blätter, die manchmal einem Großinserenten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. In einer unkomfortablen Lage befand sich Julius Hesdörffer, der Herausgeber der Frankfurter Börsen- und Handelszeitung. Er war auf die 250 Schreiben vom 4.7.1876, GStA PK, I. HA., Rep. 109, Nr. 3339, Bl. 8 (H. d. V.). 251 Ein solches Musteranschreiben des Bankhauses S. Bleichröder aus dem Jahr 1889 »zu gefälliger eventl. Benutzung im redaktionellen Theile Ihres Blattes« hat sich in den Akten erhalten, BA-L, N 2526 (Nachlass Bleichröder), Nr. 64871. 252 Wuttke, S. 7 f. – In einer zweiten Auflage seiner Schrift – publiziert zwei Jahre nach dem Gründerkrach, 1875, und im Umfang fast verdreifacht – widmete Wuttke dem »Anzeigewesen und dem Börseneinfluss« nun sogar ein eigenes Kapitel. 253 Schwabach an Bleichröder, 4.7.1876, in: Stern, S. 388.

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Zuweisung oder Vermittlung von Prospekten und anderen Bekanntmachungen durch das Bankhaus S. Bleichröder angewiesen und vergaß in kaum einem seiner Briefe an Bleichröder oder dessen Mitarbeiterstab an den »Inseratensegen von Ihrem Hause« zu erinnern.254 Erfolgte eine Zuweisung einmal nicht wie erwartet, wurde Hesdörffer schnell aktiv. Bleichröder habe versprochen, schrieb er im Februar 1875 an das Bankhaus, ihm die Bekanntmachungen der »Preußischen Central-Bodencredit-Actiengesellschaft« verschaffen zu wollen: »[B]itte erinnern Sie denselben in seinen Mußestunden daran, da es seinerseits nur einer Andeutung bedarf, um das Gewünschte mir zuzuwenden.« Er versäumte es bei dieser Gelegenheit auch nicht, auf weitere Zuweisungen zu drängen. »Auch die ›holde Laura‹« – gemeint war die Königs- und Laurahütte, eine Aktiengesellschaft für Bergbau und Hüttenbetrieb  – »und wie die inseraten­ bedürftigen Kinder der Unter- und Oberwelten sonst heißen mögen«, solle man nicht vergessen.255 Der Weg zur Zuweisung eines Inserats gestaltete sich für Hesdörffer oftmals beschwerlich und zeitraubend. Er war begleitet von regem Schriftverkehr, ständigem Nachhaken, fortwährendem Erinnern, von Bitten und Betteln.256 Häufig ließ der Erfolg auf sich warten, wenn er in den inseratenarmen Jahren nach dem »Gründerkrach« überhaupt kam. Im Juni 1875 klagte Hesdörffer über abspringende Inserenten.257 Im August desselben Jahres schrieb er indigniert nach Berlin: »Die Laurahütte hat geantwortet, will mich aber ihres Inseratensegens nicht theilhaftig werden lassen«, da sie nur einem süddeutschen Blatt derartige Publikationen übergebe. Doch der Zeitungsmacher blieb beharrlich und betonte gegenüber der Bleichröder-Bank, dass eine Gesellschaft, die trotz Wirtschaftseinbruchs noch in der Lage sei, zehn Prozent Dividende zu verteilen, in Süddeutschland wenigstens zweier Organe für ihre Bekanntmachungen bedürfe. »Vielleicht können Sie das gute Werk fördern!«258 Dieser stets präsente Gestus des Bittstellers dürfte Hesdörffers Position als Journalist, die er in seinen Briefen auch zu vertreten hatte, nicht gestärkt haben. Immer wenn er »materiell« wurde, wie er selbst zu sagen pflegte, tat er dies mit einer vielleicht vorgeschobenen, vielleicht aber auch aufrichtigen Scham. »Was für das Butterbrot Butter, das sind für Zeitungen die Annoncen«, umschrieb Hesdörffer

254 Hesdörffer an Bankhaus S. Bleichröder (Dr. Lehmann), 10.1.1875, BP, Box XXIII. Hesdörffer korrespondierte im Frühjahr 1875 mit den Mitarbeitern des Bankhauses, da Bleich­ röder unpässlich war. 255 Hesdörffer an Bankhaus S.  Bleichröder (Dr. Lehmann), 20.2.1875, BP, Box XXIII. Am 2.3.1875 erneuerte er seine Bitte um Zuweisung der Inserate. Vgl. auch die Briefe vom 31.3.1875, 10.4.1875, 4.5.1875, 9.5.1875. 256 Im August 1875 etwa hatte Hesdörffer Bleichröder zwei Mal telegrafisch um die Zuweisung der »Preußischen Bodencredit-Pfandbriefe« ersucht, ohne eine Antwort zu erhalten. Er versuchte es daraufhin auf brieflichem Weg, Hesdörffer an Bleichröder, 16.8.1875, BP, Box XXIII. 257 Hesdörffer an Bleichröder, 25.6.1875, BP, Box XXIII. 258 Hesdörffer an Bankhaus S. Bleichröder, 30.8.1875, BP, Box XXIII.

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einmal seine missliche Lage und bat zugleich um Verständnis: »Wenn Sie diesen höheren und leider oft höchsten Standpunct im Auge behalten, so werden sie meine […] Correspondenz gewiß mit Nachsicht beurtheilen.«259 3.2 »Allein die Börsen-Zeitung […] trägt die Schuld!«: Medienkritik und Normenwandel nach dem Börsenkrach Zwischen dem Frühling und Herbst 1873 krachten weltweit die Aktienbörsen. Den Anfang machte Wien am 9. Mai, New York folgte am 18./19. September, nur wenig später, im Oktober, brach die Hausse-Spekulation schließlich auch in Berlin zusammen, wo man sich lange in trügerischer Sicherheit gewähnt hatte.260 Eine jahrelange Phase wirtschaftlicher Prosperität fand in Deutschland ihr jähes Ende, eine magere Zeit großer Ernüchterung und Entbehrung begann. Reihenweise erklärten Unternehmen, meist junge, nicht immer unsolide, ihren Bankrott. Das Kapital kleiner Sparer und großer Investoren gleichermaßen, Beamter und Aristokraten, erwies sich von heute auf morgen als unwiederbringlich verloren. Auf die materielle Verheerung folgte die psychische. In Wien und Berlin irrten Bankbeamte »allein zu Tausenden umher«, wie Max Wirth beobachtet haben wollte. »In keiner früheren Epoche ähnlicher Art war die Zahl der Selbstmorde so groß – vom Bankdirector bis zum armen Arbeiter, vom Börsenspeculanten bis zum lorbeergeschmückten General – in keiner solchen Perioden suchten so viele junge Brautleute, denen die Katastrophe die theuersten Lebenshoffnungen zerstört, ihren Trost im Tode.«261 Schuldige an der ökonomische Misere wurden gesucht und schnell gefunden: in Liberalen, in Juden, in Kapitalisten und »Manchesterianern«. Doch auch gegen einzelne Journalisten, zuweilen gegen die Presse als Gesamtheit, erhoben sich Vorwürfe. Das Anlegerpublikum sei von ihr betrogen, nicht aufgeklärt, nicht gewarnt worden, schallte es aus politischen Kreisen nahezu jeder Couleur. Besonders mit Blick auf jenen Ort, wo Presse und Finanzwelt sich am nächsten kamen, im Börsen- und Finanzjournalismus, erzürnten Publizisten, Ökonomen und Politiker sich plötzlich über Beziehungen und Praktiken, die kurze Zeit vorher noch mehrheitlich hingenommen worden und kaum dazu angetan gewesen waren, breites Aufsehen zu erregen. Wie und warum veränderte sich im Zuge des Gründerkrachs die öffentliche Wahrnehmung von Finanzpresse und Finanzjournalismus, wie die Wahrnehmung dessen, was statthaft und erlaubt, was verwerflich und zu verurteilen war?

259 Hesdörffer an Bankhaus S. Bleichröder, 9.5.1875, BP, Box XXIII. 260 Für eine detaillierte Rekonstruktion s. Wirth, Handelskrisen [1874], S. 518–575. 261 Wirth, Handelskrisen [1874], S. 701.

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Antiliberale und antisemitische Machinationen Die Kritik an den Zuständen im Pressenwesen – der Inseratenabhängigkeit, den Besitzverschiebungen und den Praktiken einzelner Journalisten – hob zur Jahreswende 1872/73 an. Sie formierte sich in verschiedenen, mit einander interagierenden Teilöffenlichkeiten, in der Tagespresse gleichermaßen wie in den Parlamenten und der Buch- bzw. Broschürenpublizistik. Dieser Diskurs, so muss hinzugefügt werden, war Teil  einer viel breiter geführten Korruptionsdebatte im noch jungen Kaiserreich, die nicht nur Journalisten, sondern auch Parlamentarier und preußische Staatsbedienstete erfasste.262 Am 7.  Februar 1873 hielt der Abgeordnete der Nationalliberalen, Eduard Lasker, seine berühmte Rede im Preußischen Abgeordnetenhaus, in der er das »System Strousberg« offenlegte und die Bestechlichkeit preußischer Beamter anprangerte.263 Von der Korruption in den Beamtenstuben und Direktorenzimmern war es für viele Beobachter nur ein kleiner Schritt hin zur Korruption der Redakteure und Zeitungsmacher.264 Zwar hatte Lasker mögliche Verstrickungen der Presse in den »Gründungsschwindel« vorerst nicht zum Thema gemacht. Für die katholischen Historisch-politischen Blätter dagegen bildeten zur selben Zeit schon der »Materialismus in der Politik und die Corruption in der Presse« zwei Seiten ein und derselben Medaille.265 Im Folgenden soll das Hauptaugenmerk auf die zeitgenössischen Debatten über ein ethisches Fehlverhalten der Presse gerichtet werden. Sie sind jedoch stets in dem skizzierten Kontext der Korruptionsdiskurse in den 1870er Jahren zu sehen.266 Zwar waren in den 1860er Jahren schon die als schädlich empfundene Kommerzialisierung der Presse durch das Inseratenwesen und das Aufkommen korrupter Beziehungen in den Organen der »öffentlichen Meinung« sowohl von demokratischen Publizisten als auch von sozialistischen Wortführern diskutiert worden;267 erst die späten Gründerjahre allerdings hatten dem Problemkomplex zum ersten Mal größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu Teil werden lassen. Die Zeitumstände der Jahreswende 1872/73 dürften ein öffentliches Misstrauen nur noch bestärkt haben: die gehäuften Gründungen von Zeitungen, an deren Spitze Bankiers und Börsenmänner standen, die rasant fortschreitende Umwandlungen traditionsreicher Blätter in Aktiengesellschaften, ihr An- und Weiterverkauf durch Bankkonsortien – all dies hinterließ bei Beobachtern ein beklemmendes Gefühl des geistig-ideellen Niedergangs, zumal bei jenen, die den »modernen Errungenschaften« des Bank-, Börsen- und Aktienwesens, der buchstäblichen »Veraktionierung« aller Lebensbereiche, wie die Volkszeitung 262 Vgl. die bereits im März 1873 erschienene Schrift von Perrot, Bank-, Börsen- und Actienschwindel. Perrot geißelte darin die »Verquickung des Abgeordnetenmandats mit finanziellen Speculationen« (S. 208). 263 Zeitschrift für Kapital und Rente, Jg. 9, 1873, S. 492. 264 Vgl. etwa Perrot, Bank-, Börsen- und Actienschwindel, S. 27. 265 Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, Bd. 71, 1873, S. 874. 266 Vgl. hierzu generell in der neueren Forschung Asch u. a.; Grüne u. Slanicka; Engels. 267 Siehe Kap. II.3.1.

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es formulierte,268 misstrauisch, ja, ablehnend gegenüber standen.269 Doch auch angesichts einer immer ungesünderen, einer spürbar überhitzten Entwicklung an den Aktienmärkten, angesichts schwindenden Vertrauens in die Solidität der vormals aufwendig beworbenen Gründungen, stellte sich immer häufiger die Frage, wie zuverlässig und vertrauens­w ürdig die Tages­presse, die traditionsreichen Finanzzeitungen und vielen neuen, populär aufgezogenen Börsenblätter eigentlich waren.270 Nachrichten aus Wien verhießen in dieser Hinsicht nichts Gutes. Im Dezember 1872 enthüllte die Finanzielle ­Revue ungeahnte Ausmaße von »Preßkorruption« in der österreichischen Hauptstadt. In einem Artikel legte das Wiener Blatt detailliert dar, dass die »Anglo-Bank« für ihre Emission der türkischen Prämienanleihe (»Türkenloose«) über siebzig in Wien vertretene Zeitungen mit variierenden, in der Höhe genau bezifferten »Schweigegeldern« oder »Gelder für Reclame-Artikel« bestochen hatte.271 Der Fall schlug auch in Deutschland hohe Wellen.272 Zwar meinten auch jetzt noch Fachblätter wie die Zeitschrift für Kapital und Rente die Ansicht vertreten zu können, die Zustände in Deutschland seien nicht so schlimm wie in Österreich. Die politische Tagespresse jedoch, insbesondere die konservative und katholische, verweigerten sich diesem Urteil vehement. Die Berliner Germania, das Organ des politischen Katholizismus, behauptete provokativ, es sehe in der Presse der preußischen Haupt-

268 Volkszeitung, 6.2.1873. 269 Vgl. hierzu generell Rosenberg, Depression, S. 58–117. 270 So etwa die Spenersche Zeitung, 31.12.1872, die zur Jahreswende zu bedenken gab, dass viele »Prospekte« hinsichtlich der Rentabilitätsberechnung arge Täuschungen und grobe Unwahrheiten enthielten, paraphrasiert n. Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, S. 73 f. 271 Vgl. Matis, S. 218. – Der Fall war keinesfalls singulär, erfuhr jedoch wegen seiner Ausmaße weitaus größere Beachtung als vorangegangene Korruptionsvorfälle unter den Wiener Presseorganen. Doch auch diese Vorläufer waren bereits in Deutschland registriert worden, offensichtlich ohne dass von ihnen der Anstoß ausgegangen wäre, den eigenen Zuständen genauere Aufmerksamkeit zu schenken, vgl. Leipziger Zeitung (Wissenschaftliche Beilage), Nr. 5, 18.1.1872 und Nr. 12, 11.2.1872, die Anfang 1872 zwei Artikel (»Ein Wiener Pressprocess. Beitrag zur Sittengeschichte unserer Zeit« und »Die Tagespresse und die Börse«) veröffentlichte. Darin berichtete das Blatt, dass eine kürzlich in Wien gegründete »Raten- und Rentenbank« zu Reklamezwecken 33 325 fl. an Journalisten gezahlt hätte, darunter österreichische Wirtschaftsblätter wie der »Capitalist«, die »Volkswirthschaftliche Presse«, die »Actie«, das »Wiener Handelsblatt«, der »Volkswirth« etc. Als deutsches Blatt wurde der Frankfurter »Aktionär« mit 500 fl. bedacht (Nr. 5). Noch urteile die »Leipziger Zeitung« allerdings, die deutsche Tagespresse habe sich von ähnlichen Auswüchsen bisher ferngehalten. »Leider liegen indessen bereits einzelne Anzeichen vor, welche der Besorgnis Raum geben, daß eine ähnliche Corrumpierung auch hier wenigstens im Anzuge ist.« (S. 23). – Die Rolle der Wiener Presse im österreichischen »Gründungsschwindel« ist – im Gegensatz zum deutschen Fall – Gegenstand einiger älterer Forschungsarbeiten gewesen, vgl. Fischer, Zeitungsannonce, und Reich. 272 Die Enthüllungen des Wiener Blattes wurden selbst in deutschen Kreis- und Lokalblättern reproduziert, s. Lindauer Tageblatt, Nr. 289, 7.12.1872; Intelligenzblatt (Beiblatt zur Aschaffenburger Zeitung), Nr. 282, 11.12.1872.

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stadt nicht viel besser aus.273 Nun war es aber keinesfalls so, als hätten liberale und demokratische, dem Aktienwesen prinzipiell aufgeschlossen gegenüberstehende Blätter die gravierenden Misstände im deutschen Pressewesen totzuschweigen gesucht, wie ihnen dies von sozialkonservativen Gegnern später häufig vorgehalten werden sollte. Die Allgemeine Zeitung in München beschäftigte sich am 5. Januar 1873 in einem Leitartikel mit dem »Gründerthum in der Tagespresse«. »Solcher Corruption und Degeneration«, wie sie in Wien zutage getreten sei, würde man auch in Deutschland verfallen, »wenn der Übergang der Tagespresse in die Hände von Banken und Gründern mit solchen Riesenschritten weiter ginge, wie wir es in der jüngsten Zeit beobachten mußten.« In Berlin, hieß es weiter, »schießen die Bank- und Börsenblätter wie Pilze aus dem wohlgedüngten Boden, und von den alten Zeitungen sind kaum noch drei bis vier unabhängig von Bankconsortien und Börseninstituten.« Eindringlich warnte das sonst im Ton eher moderate Blatt vor einer schweren Gefahr, die nicht nur der »gesammten ehrlichen Preßindustrie«, sondern dem »wirthschaftlichen, sozialen und politischen Leben« insgesamt drohe.274 Mit dem sogenannten »Gründungsschwindel«, der bald schon in den Gründerkrach münden sollte, schien diese beschworene Gefahr für manchen Zeitgenossen längst Wirklichkeit geworden. »Ohne eine feile Presse hätten die Krebsschäden nie in dieser Weise um sich greifen können«, urteilte etwa die Tribüne, ein bei Leopold Ullstein in Berlin erscheinendes Blatt.275 Und bald schon war von der »moderne[n] Preß-Pest in der preußischen Hauptstadt« die Rede.276 Unter den sozialkonservativen Wortführern, die nach dem Börsenkrach zum Frontalangriff auf den politischen und ökonomischen Liberalismus blasen sollten, zählte Franz Perrot, der Sekretär des Mecklenburgischen Handelsvereins in Rostock und spätere Reichstagsabgeordnete für die Deutschkonservative Partei, zu den ersten, der die »freie Presse« als »intimste Mitschuldige und Helfershelferin des Actienschwindels« brandmarkte. In seiner, noch vor dem Zusammenbruch der Wiener und Berliner Börse erschienenen Schrift »Der Bank-, Börsen- und Actienschwindel. Eine Hauptursache der drohenden Gefahr« behauptete Perrot, dass alle größeren Blätter sich auch in Deutschland »meist vollkommen in den Händen der großen Actien-Gesellschaften« befänden. Für Perrot mussten derartige Besitzverhältnisse zwangsläufig mit dem journalistischen Anspruch auf Unabhängigkeit und Unparteilichkeit kollidieren. Er umriss in seinen Schriften einen Komplex aus Aktiengesellschaften und Presse, der seit dem »ersten Auftauchen des Actienwesens« dazu geführt habe, dass »die ›freie Presse‹ das mächtigste Instrument zur Förderung und Propagierung des tollsten, unsittlichsten Schwindels« geworden sei.277 273 Zeitschrift für Kapital und Rente, Jg. 9, 1873, S. 14; Germania, 15.12.1872. 274 Allgemeine Zeitung, Nr. 5, 5.1.1873. 275 Tribüne, 20.4.1873. 276 Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, Bd. 71, 1873, S. 884. 277 Perrot, Bank-, Börsen- und Actienschwindel, S. 110, 193 ff. und 209 f.

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Die in Presse, Parlament und Publizistik erhobenen Anklagen gegen liberale Zeitungen, gegen Börsen- und Finanzblätter sowie gegen das als verwerflich empfundene Gebaren einzelner Journalisten sollten jedoch erst nach der Panik vom Oktober 1873, unter dem Eindruck wirtschaftlicher Krisenerscheinungen, Unternehmenskonkursen, Kurseinbrüchen, sinkender Löhne und wachsender Existenzängste, vor allem in den kleinbürgerlichen Schichten, ihren quantitativen und qualitativen Höhepunkt erreichen und ihre politische Breitenwirkung voll entfalten. Die Presse, so lautete ein bald schon populäres Narrativ, habe entscheidend am »Gründungsschwindel« mitgewirkt. Sozialkonservative, Ultra­ montane, preußische Rittergutsbesitzer und Großagrarier holten nun zu ihrer Generalabrechnung mit dem ökonomischen Liberalismus, der Politik des »­laisser faire, laisser aller« und dem »Börsenkapitalismus« aus.278 Ihre Kritik zielte auch auf den finanziellen Journalismus als Repräsentanten jenes Wirtschaftssystems, hinter dem sie als Strippenzieher das »internationale Judentum« witterten. Im Dezember 1874 begann Otto Glagau seine umfangreiche Artikelserie zum »Börsen- und Gründungsschwindel« in der vielgelesenen Gartenlaube.279 Glagau brandmarkte die »Gründerära« darin als großen Schwindel, als »das Werk von Juden und Semiten« aus Finanzwelt, Parlament und Presse mit dem Ziel, das deutsche Volk auszuplündern: »Dass es ein Schwindel war, begriff ich sofort; aber erst allmählich erkannte ich seinen riesigen Umfang, seine furchbare Gemeingefährlichkeit, die Frechheit und das Raffinement, womit er betrieben wurde, die Schamlosigkeit mit der fest die gesammte Presse ihn duldete, ihn beschönigte, die Feilheit, mit der sie ihm huldigte und diente.«280

In dieser Verschwörungserzählung fungierte die »fortschreitende Verjudung der Presse« – den »Börsen- und Handelstheil der Zeitungen haben die Juden gewissermaßen in Pacht genommen« – als eine vulgäre, dafür wohl nicht weniger wirkmächtige Erklärung des »Schwindels« der Gründerära. Dieser sei »ohne die mächtige Beihülfe und Unterstützung der Presse in solchem Umfang gar nicht möglich gewesen.« Die Presse habe »von vorne herein den Schwindel als solchen erkannt, ihn mit vollen Bewusstsein unterstützt; und nicht etwa umsonst, sondern sie ist dafür reichlich bezahlt worden, sie hat von dem grossen Raube ihren gut bemessenen Anteil erhalten.«281 Kaum ein Blatt liberaler Tendenz, kaum ein Zeitungsbesitzer oder Redakteur, gegen den Glagau nicht den Vorwurf der Korruption erhob: Hermann Killisch von Horn, Leopold Sonnemann und George Davidsohn, um nur einige wenige zu nennen, traten in seinen Artikeln immer wieder als korrupte oder zur Korruption verführende Figuren auf.282 278 Vgl. Löffler; Lange. 279 Die Serie begann im Dezember 1874 und erstreckte sich über das gesamte Jahr 1875, vgl. Die Gartenlaube, Nr. 49, 1874, S. 788. 280 Glagau, Gründungsschwindel in Berlin, IX. 281 Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 447 ff. 282 Vgl. das Kapitel »Die Presse im Dienste der Börse und der Gründer«, Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 439 ff.

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Auch für die Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland war es die Presse  – hier allerdings die liberale, die mit ihren freihändlerischen Ordnungsvorstellungen konträr zu denen des politischen Katholizismus stand –, welche die »Hauptschuld an der herrschenden Corruption« trage und selbst durch und durch korrumpiert sei.283 Und Franz Perrot schließlich lieferte 1876 mit dem dritten Band seines »Bank-, Börsen- und Actienschwindels« eine neuerliche Auflage seiner gegen die Presse gerichteten Agitation. »Daß Gewalten, wie die modernen Finanzmächte, ein hervorragendes Interesse daran haben müssen, die Presse mehr und mehr sich dienstbar, von sich abhängig zu machen, liegt auf der Hand«, und diese Tendenz sei auch von einem »bedauerlichen Erfolg« begleitet. Es müsse »als eine der verhängnisvollsten Folgen des Actienwesens bezeichnet werden, daß es allenthalben die Organe der Presse von sich abhängig macht, und zwar in wirklich beängstigender Progression«. Dass dabei Blätter missbraucht würden zu »faulen Reclamen, lügenhaften Prospecten und schwindelhaften Annoncen«, sei noch der geringste Schaden. Der Journalismus überhaupt würde zur Käuflichkeit degradiert und es komme ihm damit der sittliche Halt und Gehalt mehr und mehr abhanden. »Denn es ist eine sehr nahe liegende Consequenz, daß Blätter, deren Eigenthümer und Redacteure sich von den Bankhäusern ›betheiligen‹ und bezahlen lassen, vor Allem in Bezug auf Finanz- und Wirthschaftsgesetzgebung niemals ehrlich sein werden.«284 Es ist für das »vordemoskopische Zeitalter« unmöglich, quantitative Aussagen darüber zu treffen, inwieweit derartige Erklärungen für das wirtschaftliche Krisengeschehen und die mit ihnen einhergehenden Diffamierung einer ganzen, wenn auch nur vage greifbaren Berufsgruppe, einer religiösen Gemeinschaft oder politischen Bewegung auf einen gesellschaftlichen Nährboden in Deutschland gefallen sind. Gleichwohl lässt sich qualitativ für die Jahre nach dem Börsenkrach ein Anstieg antiliberaler, politisch und ökonomisch konservativer, häufig auch antisemitischer Einstellungen und Äußerungen feststellen.285 Hans Rosenberg attestiert den Jahren nach 1873 eine »zunehmende Anfälligkeit für irrationales und neurotisches Denken«.286 Anlegern boten derartige simplifizierende Erklärungsangebote eine willkommene Entlastung des eigenen Gewissens. »Wer sein Vermögen in schlechten Aktien zugesetzt hat, klagt nicht seine Unvorsicht, sondern das Aktiengesetz an. Wer an soliden ­Papieren verloren hat, sieht die Schuld nicht in dem Wechsel alles Irdischen, der seit Pharaos Zeiten auf fette Jahre magere folgen ließ, sondern in unserer falschen Wirtschaftspolitik.«287 Und die Grenzboten mutmaßten, Schriften à la Glagau könnten 283 Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, 1875, S. 462. 284 Perrot, Actienschwindel, S. 258 f., 261 und 268. 285 Der Gründerkrach verstärkte antisemitische Einstellungen, markiert jedoch nicht, wie neuere Studien gezeigt haben, die Geburtsstunde des modernen Antisemitismus, s. hierzu Albrecht. 286 Rosenberg, Depression, S. 67. 287 So der liberale Parlamentarier Wilhelm Wehrenpfennig in den Preußischen Jahrbüchern, 1876, zit. n. Rosenberg, Depression, S. 64.

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dazu führen, dass »Viele, die infolge des Gründungs- und Börsenschwindels auch nur eine Kleinigkeit verloren hatten«, die angegriffenen liberalen Zeitungen »zum Opfer ihrer Erbitterungen« nähmen.288 Eine Bestärkung der eigenen Opferrolle lieferten zudem einzelne Justizfälle aus den Niederungen des »Revolverjournalismus«, von denen vor allem in der sozialistischen Presse zu lesen war. So wurde im Juni 1874 in Berlin der bereits vorbestrafte Herausgeber und Redakteur des Börsenwächters, Christian Hollander, wegen versuchter Erpressung verhaftet. Ihm wurde zur Last gelegt, er habe Direktoren von Aktiengesellschaften gedroht, ungünstige Artikel über das betreffende Unternehmen zu veröffentlichen, falls diese ihm keine Inseratenaufträge erteilten.289 Für Aufsehen sorgte etwa zur gleichen Zeit ein Prozess, in den der Börsenberichterstatter der Volkszeitung, Julius Mayer, verwickelt war. Die mit der Panik vom Oktober 1873 in Konkurs gegangene Quistorp’sche Vereinsbank wollte von dem Journalisten offene Kontokorrentforderungen einklagen. Die in der Tagespresse dokumentierten Verhandlungen enthüllten nun, »welche Geschäfte von einigen Börsenberichterstattern während der Gründerperiode getrieben wurden, um die öffentliche Meinung irre zu führen«. Denn Julius Mayer bestritt, dass er der Vereinsbank Geld schulde. Mit entwaffnender Ehrlichkeit führte er vor Gericht aus: »Der Prokurist Koch sicherte mir für den Fall, daß ich die dermaligen[!] neuen Unternehmungen der Vereinsbank vortheilhaft schildere, als Gegenleistung zu, die eingeklagten erwähnten Aktien auf Rechnung der Vereinsbank für mich erwerben und für mich in Depot nehmen zu wollen.« Mayer kündigte an, durch Einreichung der entsprechenden Zeitungsartikel nachzuweisen, »daß ich die gesammten Quistorp’schen Emissionen als sehr vortheilhaft geschildert habe.«290

Inwieweit von solchen Einzelfällen auf die moralische Verfassung der Gesamtheit der Akteure des finanzjournalistischen Feldes zu schließen war, musste jeder Zeitgenosse freilich für sich selbst beantworten. Für den sozialistischen Volksstaat stand jedoch fest, dass Mayer und Hollander »keine Personen, sondern Typen, Vertreter des modernen Journalismus« waren. »Die deutsche Presse im Großen und Ganzen hat während der Gründerepoche den Bauernfängern der Börse als Zuschlepperin gedient, ihnen das leichtgläubige Publikum ins Garn geführt, und sich für diese Liebesdienste bezahlen lassen, sehr gut bezahlen lassen.«291 In den Archiven haben sich Schriftstücke erhalten, die zeigen, wie solche, vornehmlich durch die sozialkonservative, katholische und sozialistische Publizistik in den Diskurs eingespeisten Narrative, Einzug in das Denken von Zeitgenossen gehalten haben. Für einen Privatmann aus Mannheim stand bereits kurz nach dem Börsenkrach fest, dass die großen Verluste, die das Publikum zu er288 Die Grenzboten, Jg. 35, 1876, S. 435. 289 Der Volksstaat, Nr. 73, 26.6.1874. 290 Gerichtszeitung, 27.6.1874. 291 Der Volkstaat, Nr. 120, 13.10.1874, S.1 (H. i. O).

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tragen habe, »durch gewissenlose Gründer-Cliquen und durch die Hilfe einer gänzlich demoralisierten Börsen-Presse« herbeigeführt worden seien.292 Besonders aufschlussreich ist die ausführliche Eingabe eines anonymen Absenders, die das Preußische Handelsministerium im März 1875 erreichte. Denn der unbekannte Verfasser und Zeitungsleser wandte sich darin gegen »unsere Börsen-Fachblätter«, die »nur zum kleinsten Teil den Forderungen, die man an solche Journale stellen muß«, entsprächen. Die Berliner Börsen-Zeitung, die ihm in seinen Ausführungen als Beispiel diente, drucke nur ihr zugesandte Berichte und Auszüge aus anderen deutschen und fremden Zeitungen, selten erlaube sie sich, ein Resümee oder eine Begutachtung anzuschließen. »Bringt die BörsenZeitung jemals Original-Berichte von Bedeutung, Aufsätze über Schäden und Verhältnisse, die öffentliches Interesse haben, allgemein besprochen werden und einer Änderung bedürfen!?«, fragte der Verfasser rhetorisch. »Beschäftigt sich das Blatt mit Aufsuchung und Aufdeckung derartiger Verhältnisse?« Die Börsen-Zeitung schien den großen Bankhäusern zu sehr zugeneigt, das Interesse des besitzenden Publikums liege ihr fern. Statt für die Öffentlichkeit zu schreiben, spreche das Blatt »stets die Spekulation seines Besitzers und Mitarbeiters aus und nach dieser richten sich die Correspondenzen, nach dieser werden auch die Börsenberichte gefeilt. Das ist ja allbekannt! Wer hat dem Publikum die Eisenbahnwerthe empfohlen und für diese Effekten Hausse gemacht, als die industriellen Gründungen krachten? Allein die Börsen-Zeitung! Sie allein trägt die Schuld, dem Publikum auch hiermit neue und schwere Verluste beigefügt zu haben! Denn Publikum und die anderen Organe tanzen nach, was dieses Evangelium vorschreibt!«293

Ex negativo zeigt sich hier eine normative Beschreibung dessen, was Finanzjournalismus aus Lesersicht sein sollte und zu leisten hatte: Die investigative Eigenrecherche bildete hierbei ebenso eine Komponente wie die strikte Trennung von Inseraten- und redaktionellem Teil, die dezidierte Unabhängigkeit von der Hochfinanz und die private Unabhängigkeit von Zeitungsmachern bzw. Redakteuren vom spekulativen Wertpapiergeschäft. Diese Normvorstellungen waren keine grundsätzlich neuen. Wir sahen bereits, dass der Finanzjournalismus seit seinen Anfängen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu Qualitätsmerkmalen erhoben hatte. Ob Akteure diese jedoch in der Praxis lebten, war eine andere Frage. Für die Akteure des finanzjournalistischen Feldes gab es vor 1873 nur wenige externe Anreize zu einem ethisch korrekten Verhalten. Keine staatliche oder berufsständige Instanz wachte über sie. Leser ihrerseits schienen nur selten durch Kaufverweigerung Einfluss genommen und stattdessen eine gewisse Abhängigkeit als unvermeidbar akzeptiert, gewisse Interessenverquickungen, wie im Falle Julius Schweitzers, sogar als nützlich wahrgenommen zu haben. 292 [Unleserlich] Müller an Handelsministerium, 22.10.1873, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C IX 1 Nr. 28, Bd. 2. 293 [Anonymus], Eingabe v. 15.3.1875, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C IX 1 Nr. 28, Bd. 2.

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Nach dem Börsenkrach änderte sich dies. Der eben erwähnte Beschwerde­ führer sah mit Blick auf die Verfehlungen der Berliner Börsen-Zeitung die Regierung in der Pflicht. Er forderte die Behörden auf, »hier einzuschreiten gegen solch frevelhaftes Treiben eines Zeitungsblattes«, man möge im Regierungsorgan, dem Preußischen Staats-Anzeiger, davon Kenntnis geben und das Blatt zur Rechenschaft ziehen.294 Das Gesuch blieb unerhört. Und es muss zweifelhaft erscheinen, ob die preußischen Börden die richtige Instanz darstellten, die zur qualitativen Hebung des Journalismus anzurufen war, verspottete doch Bismarck selbst Journalisten als »bösartige Reptilien […, die] bis in ihre Höhlen hinein« zu verfolgen waren.295 Mehring gegen Schweitzer und Sonnemann Das Kesseltreiben gegen liberale und demokratische Journalisten und Zeitungen erreichte 1876/77 seinen Höhepunkt. Das gesellschaftliche Klima dazu war günstig. In der »öffentlichen Meinung« hatte sich ein genereller Stimmungsumschwung in Richtung eines mehr konservativen, kollektivistischen und protektionistischen Staats- und Gesellschaftsverständnisses vollzogen, gegenüber dem der Finanzjournalismus, von seinen Gegnern immer auch despektierlich mit dem politischen Liberalismus und dem Börsenkapitalismus in Verbindung gebracht, zunehmend ins Hintertreffen geriet. Neu gegründete großagrarische Verbände und Interessenvereinigungen betraten offensiv die politische Arena und suchten ihre antiliberalen, antikapitalistischen und teils antisemitischen Positionen mit »neuen, aggressiven Werbe- und Agitationsmethoden« 294 Ebd. 295 Reichstagsrede v. 30.1.1869, zit. n. Sösemann, Publizistik, S. 284. – Überdies schien sich die Staatsführung zunächst auch gar nicht dafür zuständig gesehen zu haben, die ökonomischen Verwerfungen durch politische Maßnahmen abzumildern. Vor dem Reichstag sagte Bismarck am 27.10.1875: »Wenn in Handel und Verkehr dennoch eine der Stagnationen stattfindet, wie sie im Laufe der Zeit periodisch wiederkehren, so liegt es leider nicht in der Macht der Regierung, diesem Übelstande abzuhelfen, der sich in anderen Ländern in gleicher Weise wie in Deutschland fühlbar macht.« Zit. n. Rosenberg, Depression, S. 175. – Bismarck war nach dem Wiener Börsenkrach im Mai 1873 nach Rücksprache mit einzelnen Ministern und »Finanz-Autoritäten« noch davon ausgegangen, wie er Wilhelm I. unter dem 16. Mai 1873 schrieb, »daß eine ähnliche Crisis hier nicht zu befürchten ist«, in: Bismarck, Werke (NFA), Bd. 1, S. 525. – Doch auch gesellschaftlich war es noch nicht üblich, bei Marktversagen den Staat um Hilfe anzurufen, wie ein Artikel der Zeitschrift für Kapital und Rente, Jg. 10, 1874, S. 295, nahelegt: »Eigentlich macht es einen komischen Eindruck dem Staate zuzumuthen, den Börsenkarren, welcher durch Ueberspeculation und Schwindeleien einzelner Personen, welche im Kreise der übrigen Staatsbürger doch eine kaum zu rechnende Zahl bilden, festgefahren wird, aus dem Schlamme wieder hauszuziehen. Im Allgemeinen erscheint Staatshülfe nur bei wirklichen Landeskalamitäten, hervorgerufen durch höhere Gewalt oder schädliche Naturereignisse gerechtfertigt, oder wann es gilt, eine ganze Arbeiterbevölkerung, die momentan durch Handelsconjuncturen verbunden mit Misserndten oder ähnlichen Ereignissen sich in bedrängtester Lage befindet, vor dem Hungertod zu bewahren […].«

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gegenüber Regierung und Öffentlichkeit zu vertreten.296 In das Kreuzfeuer der Kritik gerieten schon bald zwei traditionsreiche und weithin bekannte Organe der nationalliberalen bzw. demokratischen Presse: die National-Zeitung und die Frankfurter Zeitung, und mit ihnen Julius Schweitzer sowie Leopold Sonnemann. Den Auftakt bildete eine Rede des konservativen Politikers und Publi­ zisten Otto von Diest-Daber auf dem »Congress der Landwirte«, einer Versammlung preußisch-protestantischer Großgrundbesitzer, die im Februar 1875 in Berlin tagte.297 Wie so häufig sprach Diest auch diesmal, ganz so wie es das versammelte Publikum hören wollte, von der »anderen Macht im Staate«, der »Geldmacht« und »Börsenmacht«, die »stärker als wir und stärker als unser Interesse« sei. Nun schob er zur Illustration wie beiläufig eine Anekdote hinterher. Im vergangenen Jahr, 1874, habe er eine börsenkritische Schrift298 veröffentlicht, die in der National-Zeitung in sehr abschätziger Weise besprochen worden sei. Er habe sich daraufhin an deren Chefredakteur, Friedrich Zabel, gewandt, einen »sehr ehrenwerten Mann und durchaus offenen Charakter«, und von ihm eine Erklärung verlangt. Dieser habe ihm gestanden, dass die Kritik seiner Redaktion wirklich ungerechtfertigt sei, zugleich aber auf Verständnis gehofft. »Sie müssen auch in Betracht ziehen, wie ich hier stehe«, habe Zabel geantwortet. »Habe ich Jemanden, dem ich eine solche Kritik über Schriften, welche gegen die Börse und die Geldmacht gerichtet sind, übertragen kann? Habe ich hierzu einen Unter-Redacteur, der unabhängig genug von der Börse ist? […] Bis vor einiger Zeit hatte ich geglaubt, endlich einen von der Börse unabhängigen Mann gefunden zu haben, (und nun nannte er den Namen, den ich hier nicht nennen will, der aber jedem Bethei­ligten zur Disposition steht). Zu meinem Bedauern habe ich mich aber vom Gegentheil überzeugen müssen und habe gehört, daß auch dieser von der Börse abhängig ist. Er hat sich 2 Häuser gekauft und sich an Gründungen betheiligt, ohne früher Vermögen gehabt zu haben.«299

Diest führte seinen Schlag gegen die National-Zeitung über Bande aus, indem er den Chefredakteur des Blattes selbst in den Zeugenstand berief. Er hatte auch nicht zu befürchten, von diesem widersprochen zu werden, denn Zabel war wenige Wochen zuvor verstorben. So stand der Vorwurf der Käuflichkeit und Abhängigkeit der Redaktion der National-Zeitung von der Börse im Raum, offenbar geäußert von dem verzweifelten Chefredakteur des Blattes selbst. Vielen dürfte bekannt gewesen sein, wer mit jenem jäh zu Reichtum gelangten Gründer 296 Ullrich, S. 54. Vgl. auch Böhme, S. 484 ff.; Aldenhoff-Hübinger. Gegründet wurden u. a. der »Verein Deutscher Stahl- und Eisenindustrieller« (Nov. 1873), der »Centralverband deutscher Industrieller« (Jan. 1876) sowie die »Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer« (Febr. 1876). 297 Aldenhoff-Hübinger, S. 103 und 108. Zu Diest siehe Knabe, S. 664 298 Der Titel lautet: Geldmacht und Socialismus, Berlin 1874. 299 Rede vom 24. Februar 1875, abgedruckt in Congress Deutscher Landwirthe, Bericht (1875), S. 140 f.

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und Börsenredakteur gemeint war: Julius Schweitzer. Die Redaktionsmitglieder der National-Zeitung, darunter auch Schweitzer selbst, reagierten auf die Anschuldigungen bereits einen Tag später mit einer knappen Erklärung, in der sie die »Reinheit unseres Verhaltens« unterstrichen.300 Für Kritiker des ­Blattes war die Angelegenheit damit noch lange nicht beendet. Auch künftig begegnete der National-Zeitung noch der Vorwurf, »Meisterin des Todtschweigens« zu sein.301 Gleichwohl verlagerte sich der Schwerpunkt der Invektiven in den kommenden Monaten von der Zeitung als Ganzer auf ihren Börsenredakteur, Schweitzer, im Besonderen. Gerne entsann man sich nun, nicht nur auf konservativer Seite, der eifrigen Gründertätigkeit Schweitzers vor dem Börsenkrach. Die gemäßigt nationalliberale Magdeburgische Zeitung begann Schweitzers Engagement auf industriellem Gebiet in mehreren Artikeln zu beleuchten. Doch offensichtlich scheute sich ihr Chefredakteur, Wilhelm Splittgerber, vor einer allzu rücksichtlosen Kritik, da er aufgrund der konkurrierenden Stellung seines Blattes zur National-Zeitung fürchtete, man könne ihm sein Vorgehen gegen deren Redakteur als Konkurrenzneid auslegen. Nicht lange vorher hatte Splittgerber jedoch Franz Mehring (1846–1919) kennengelernt, der zu diesem Zeitpunkt noch ein demokratisch gesinnter Journalist war und erst später zu einem der bedeutendsten marxistischen Historiker Deutschlands aufsteigen sollte. »[U]nd so übergab er mir«, erinnerte sich Mehring fünfzehn Jahre später, »sein Material mit dem guten Zutrauen, daß ich den Fuchs schon aus dem Bau räuchern würde.«302 Im April 1875 hatte Schweitzer noch unter lobender Anerkennung seiner Berufskollegen sowie der Berliner Hochfinanz sein 25-jähriges Dienstjubiläum als Börsenredakteur der National-Zeitung feiern können.303 Anfang 1876 schließlich startete Mehring dann seine Artikelserie in der damals noch liberal ausgerichteten Staatsbürger-Zeitung. Höhepunkt bildete am 11. Februar 1876 ein mit »Herr Schweiger« betitelter, die erste Seite vollständig ausfüllender Leitartikel. Für die Leser des Blattes war es unschwer zu erkennen, wer sich hinter diesem Namen verbarg. Das Wortspiel schien gleich in doppelter Hinsicht zutreffend: Nicht nur, dass sich Schweitzer beharrlich in Schweigen hüllte, auch hatte er, wie kurz zuvor bekannt geworden war, diesen Namen einst selbst als Pseudonym gewählt, um seine Aufsichtsratstätigkeit in der »Straßfurter Chemischen Fabrik«, die nach dem Börsenkrach kaum noch etwas wert war, zu verschleiern.304 Zugleich suchte Mehring sich mit der fik­tiven Namenswahl sowie der prima facie fiktiven, gleichwohl auf wirkliche 300 National-Zeitung, 26.2.1875, zit. n. Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 478. 301 Der Ausspruch geht auf Lassalle zurück, wurde in diesem Kontext jedoch häufig gegen die National-Zeitung gewandt, vgl. Mehring, S. 73. 302 Mehring, S. 73. 303 Siehe Kap. I.1.3. 304 Als Schweitzer seinen Posten in dem ruinierten Betrieb unauffällig niederlegen wollte, meldete der von ihm redigierte Handelsteil der National-Zeitung, Nr. 457, 2.10.1874: »An Stelle des ausscheidenden Aufsichtsrathsmitgliedes, des Herrn Dr. Schweiger, wurde Herr Ingenieur Böcker aus Duisburg neu gewählt.«

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Begebenheiten verweisenden Aufbereitung des Materials gegen mögliche rechtliche Schritte vonseiten Schweitzers abzusichern. Der Leitartikel stellte in seiner Aufmachung das Schreiben eines Lesers an die Redaktion der StaatsbürgerZeitung dar. Dieser Leser hatte, wie er mitteilte, den Anlageratschlägen der National-Zeitung folgend, sein Vermögen in Aktien der »Nienburger Zuckerfabrik« und der »Straßfurter Chemischen Fabrik« angelegt und später verloren. Schuld treffe allerdings nicht »die reinen Hände«, die den Handelsteil der Zeitung schrieben, sondern allein jenen Herrn Schweiger aus dem Aufsichtsrat. Seit Längerem suche er diesen vergeblich, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, aber »kein Adreßkalender und kein Polizeibureau nennt seinen Namen«. Eine Erklärung hierfür habe er erst von einem Studenten erhalten, der ein möbliertes Zimmer bei ihm bewohne: »Geben Sie sich keine vergebliche Mühe. Hr. Schweiger ist keine Person von Fleisch und Blut; Hr. Schweiger ist der Überall und Nirgends der Corruption; Hr. Schweiger ist der echte und rechte Urtypus des Gründerthums, das um schnöden Gewinnstes willen alles fälscht und zuletzt sich selbst.« Für Mehring war Schweitzer damit kein isoliertes oder besonders hervorstechendes Beispiel für die Korruption der Gründerjahre. Er stand emblematisch für jene Vielen, wirkten sie nun als Journalisten, Beamte oder Politiker, die sich in der »Schwindelperiode« schuldig gemacht hatten. »Schweiger sind sie alle, alle die ›Edelsten und Besten‹, denen das deutsche Volk die ›Industrie­ blüthe‹ und den ›wirthschaftlichen Aufschwung‹ verdankt. Haben Sie je eine Zeit erlebt, wo so viel geschwiegen wird wie jetzt?«305 Die Schweiger-Schweitzer-Affäre sprang schnell aus der medialen auf andere Teilöffentlichkeiten über und wurde dort zum Diskussionsgegenstand. Im nationalliberalen Verein zu Berlin fielen die »stärksten Ausdrücke« gegen die National-Zeitung, die man bis dahin als das Hauptorgan dieser Partei anzusehen gewohnt war,306 in der Reichshauptstadt zirkulierten gegen Schweitzer gerichtete Flugblätter, und mit einer neuerlichen Rede Laskers im Preußischen Abgeordnetenhaus am 29. März 1876 schien der Stab über das Blatt der eigenen Partei endgültig gebrochen. Denn die Äußerungen des nationalliberalen Parlamentariers über gewisse unmoralische Börsenjournalisten, die bei politischen Tageszeitungen arbeiteten, konnten nur als auf Schweitzer gemünzt aufgefasst werden. »Selbst bei so hochachtbaren Organen«, erklärte Lasker, »die in ihrem politischen Theile unzweifelhaft, und bei denen die Personen, welche den politischen Theil vertreten, ebenso unzweifelhaft von allen schmutzigen Handlungen weit entfernt sich gehalten haben, auch wahrscheinlich in Unkenntniß gewesen sind –, selbst bei solchen Organen haben diejenigen, welche die Vermittlung zwischen diesen Organen und jenem ansteckenden Platze, den man die Börse nennt, zu besorgen hatten, sich nicht fern gehalten, an dem für sie doppelt unerlaubten Gewinn theilzunehmen und das Publikum zu verführen«.307 305 Alle Zitate finden sich in Staatsbürger-Zeitung, Nr. 42 A, 11.2.1876. 306 Die Grenzboten, Jg. 35, 1876, 1. Sem., 2. Bd., S. 434 f. 307 Rede v. 29.3.1876, in: Stenographische Berichte. Haus der Abgeordneten, Bd. 2, 1876, S. 898.

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Ähnlich wie Mehring kritisierte auch Lasker die Interessenverschränkung zwischen Journalismus und privatem Börsengeschäft. An das Verhalten von Börsenredakteuren waren seiner Ansicht nach strengere Maßstäbe anzulegen als etwa an politische Journalisten, da die Wirkung ihrer Artikel auf das Anlegerverhalten eine ungleich größere schien. Beteiligungen an Unternehmen oder am Börsenhandel mussten für Börsenberichterstatter daher als »doppelt unerlaubt« gelten. Während die öffentliche Empörung über die National-Zeitung und ihren Börsenredakteur allmählich ihrem Höhepunkt zusteuerte  – die Kreuzzeitung sprach von einem »moralischen Stoß«, der von Lasker gegen das Organ seiner Partei geführt worden sei,308 griff Mehring nun, diesmal namentlich, einen weiteren vermeintlichen Repräsentanten der Korruption der Gründerjahre an: Leopold Sonnemann und sein Blatt, die Frankfurter Zeitung.309 In der Staats­ bürger-Zeitung vom 21. Mai 1876 behauptete Mehring, Sonnemann habe »während der Schwindelperiode seine öffentliche Vertrauensstellung als Besitzer und Leiter der ›Frankfurter Zeitung‹ […] zu heimlichen Gewinnsten aus Gründungen [benutzt], über welche das Publikum in seinem Blatte ein unbestochenes und unparteiisches Urtheil zu erwarten berechtigt war.«310 Mehring meinte dies an Dokumenten nachweisen zu können, die ihm von Karl Volckhausen, dem ehemaligen, nunmehr mit Sonnemann zerstrittenen Chefredakteur der Frankfurter Zeitung zugespielt worden waren. Demnach sei Sonnemann ebenso wie einer der Handelsredakteure des Blattes, Bernhard Doctor, anlässlich der Gründung der »Deutschen Effecten- und Wechselbank« Mitte 1872 vom Gründersyndikat mit jeweils 500 Aktien beteiligt worden, aus denen ihnen ein Gewinn von 12 000 Gulden erwachsen sei. Mehring insinuierte, dass damit auf die Berichterstattung des Blattes hatte eingewirkt werden sollen, denn »beim Hinaufjagen der Course ist das Urtheil einflussreicher Handelsblätter nicht mehr und nicht weniger als das A und O.« Zwar räumte Mehring ein, dass Sonnemanns Beteiligung an und für sich genommen nichts »Incorrectes« sei. Denn in keinem Paragraphen des Strafgesetzbuches sei »heimliche Preßbetheiligung bei Gründungen« als strafrechtliches Delikt vorgesehen. Doch spekulierte Mehring auf das moralische Empfinden der Leserschaft, die sich in den Jahren nach dem Börsenkrach angesichts der zutage getretenen Interessenverschränkungen empören musste. »[Wir] würden … keinen Tropfen Tinte an Hrn. Sonnemann verschwenden«, erklärte Mehring, »wenn sich sein Ehrgeiz darauf beschränkte, ein scrupelloser Börsenjobber zu sein. Aber er ist daneben Besitzer und Leiter einer politischen Zeitung, er ist Mitglied des Reichstags, er prätendirt, Füh308 Kreuzzeitung, 26.4.1876. 309 Mehring sind seine Angriffe auf liberale und demokratische Organe auch von seiner eigenen Partei, der Sozialdemokratie, namentlich von Bebel und Liebknecht, häufig zum Vorwurf gemacht worden, da er damit der konservativen Sache gedient und antisemitische Klischees bedient habe. Vgl. hierzu Wistrich, S. 37. 310 Staatsbürger-Zeitung, Nr. 141 A, 21.5.1876.

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rer der demokratischen Partei zu sein.« Es stände schlecht um das öffentliche Leben in Deutschland, wenn sich »diese seine öffentliche Thätigkeit mit jenem seinem heimlichen Treiben in Ehren paaren läßt.«311 Für Mehring war es gerade der Umstand, dass Sonnemann sowohl Kapitalanleger als auch Zeitungsmacher war – und damit eines »öffentlichen Amtes« waltete –, der Anstoß erregen musste. Obwohl legal, erschienen derartige Praktiken unter dem Eindruck des Börsenkrachs immer weniger als gesellschaftlich legitim und toleriert. Sonnemann reagierte, anders als Schweitzer, unvermittelt auf die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen. In einer öffentlichen Erklärung bekräftigte er, er habe sich als privater Kapitalist völlig rechtmäßig »unter Einzahlung und voller Haftung für den Betrag« beteiligt. Mehring zieh er einen »notorischen Verleumder«. Nun heizte allerdings die Magdeburgische Zeitung die Kontroverse weiter an, als sie die von Mehring vorgelegten Dokumente am 22. Juli 1876 als »Quittungen über scham- und ehrlosen Gelderwerb« titulierte und den entsprechenden Artikel durch einen Angestellten in 6000 Exemplaren nach Frankfurt senden und ihn dort durch Dutzende von Dienstleuten verteilen ließ.312 Um eine juristische Beurteilung der Angelegenheit zu erzwingen, entschloss sich Mehring, die Sache vor Gericht zu bringen. Es kam zu einem Beleidigungsprozess, den die Tagespresse des Kaiserreichs aufmerksam verfolgte und in dessen Verlauf hochrangige Bankdirektoren, darunter Mayer Carl von Rothschild, als Zeugen vorgeladen wurden. Die Verhandlung kreiste um die Frage, ob Sonnemann als Privatkapitalist oder Zeitungsbesitzer engagiert gewesen war, die ihm übertragenen Aktien somit dem Zweck der Kapitalanlage unter Einzahlung des Betrags und Einschluss aller Risiken gedient hätten oder stattdessen als »Preßbetheiligungen« zu begreifen waren mit der Absicht, auf das Urteil der Zeitung einzuwirken. Die Repräsentanten des Finanzsektors positionierten sich eindeutig. »Das Wort ›Bestechlichkeit‹ steht nicht in meinen Büchern«, gab etwa Rothschild auf die Frage zu Protokoll, ob Sonnemann Beteiligungen erhalten habe. Raphael von Erlanger, Chef des angesehenen Frankfurter Emissionshauses Erlanger und Söhne, bestätigte zwar, dass Sonnemann an vielen seiner Emissionen beteiligt gewesen sei, dabei jedoch nicht als Zeitungseigentümer, sondern ausschließlich als Kapitalist, »wie viele andere« auch. Die Haltung der Frankfurter Zeitung gegen ihn sei dennoch nie sehr günstig gewesen. Die Verhandlungen enthüllten allerdings auch Praktiken bei der Kapitalanlage, welche die Trennlinie zwischen einem Engagement als Kapitalbesitzer einerseits und Zeitungsbesitzer andererseits als zunehmend unscharf erscheinen lassen musste. »Präs[ident]: Wurde ihm [Sonnemann] die Betheiligung angeboten?  – Zeuge [Erlanger, Anm. d. V.]: Ja wohl, als einem angesehenen Mann. – Präs.: Kam es vor, daß er refusirte? – Zeuge: Das ist wohl möglich. – Dr. Holdheim [Sonnemanns Anwalt, Anm. d. V.]: War die Betheiligung risicofrei? – Zeuge: Das gibt es nicht. – Präs.: Hat Hr. Sonnemann Einzahlung geleistet? – Zeuge: Bei vielen Emissionen gibt es gar keine 311 Ebd. (Hvh. i. O.) 312 Magdeburgische Zeitung, 22.7.1876; Mehring, S. 94 f.

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Einzahlungen. Geht die Sache gut, so erhebe ich keine Einzahlung; geht sie schlecht, so fordere ich dieselbe ein. – Dr. Geiger [Mehrings Anwalt, Anm. d. V.]: War Sonnemann im letzteren Falle verpflichtet, für den Verlust aufzukommen? – Zeuge: Wenn ich es verlangt hätte. – Dr. Geiger: Ach so, wenn Sie es verlangt hätten. – Zeuge schweigt.«313

Nach diesen Aussagen musste sich abzeichnen, dass die Angelegenheit allein juristisch nicht hinreichend erfasst werden konnte: Selbst wenn Sonnemann lediglich als Kapitalist engagiert gewesen war, genoss er doch aufgrund seiner exponierten Stellung in der Frankfurter Gesellschaft nolens volens eine privilegiertere Behandlung seitens der Hochfinanz als der durchschnittliche Kapitalanleger. Für Mehrings Anwalt war daher auch unbestreitbar, dass Sonnemann niemals bloß als Kapitalist beteiligt gewesen sein konnte. »Das seien Redensarten; er sei Besitzer einer großen Handelszeitung, und in der Absicht, mindestens in der Hoffnung, ihn zu gewinnen, habe man ihm Betheiligungen gewährt. Hr. Sonnemann habe in seinen Handelsredacteurs[!], den Hrrn. Bernhard Doctor und Julius Heßdörfer[!], früher und jetzt Blitzableiter gefunden; beiden seien die faulsten Sachen nachgewiesen, und davon solle der Besitzer der Zeitung, der börsenkundige Hr. Sonnemann nichts gewußt haben?«314 Sonnemann seinerseits zeigte sich in seinem Schlusswort vor Gericht verwundert. »Seit 1856 sei er gleichzeitig Chef eines Bankhauses und an der Frankfurter Zeitung beteiligt gewesen, ohne daß ihm je vorgeworfen wurde, er hätte seine Stellung als Bankier oder als Journalist mißbraucht.«315 Doch die Normvorstellungen hatten sich mittlerweile, für Sonnemann vielleicht unmerklich, gewandelt. Nach der »Gründerära« konnte der Herausgeber einer Handelszeitung, der zugleich als Kapitalist engagiert und in Börsenoperationen verwickelt war, nicht mehr auf die Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit hoffen, vielmehr hatte er sich nun gegenüber dieser zu erklären. Zwar erkannte die Frankfurter Strafkammer auf Freispruch Sonnemanns, da dieser, so die Einschätzung des Gerichts, wie »jede andere Privatperson« an Gewinn und Verlust aus den Börsengeschäften beteiligt worden sei und kein Zeuge bestätigt hatte, dass diese Beteiligungen in der Absicht erfolgt seien, auf die Haltung der Handelsredaktion Einfluss zu nehmen. Die allein formaljuristisch gehaltene Begründung des Gerichts, das an Sonnemanns Gebaren nichts Unstatthaftes erkennen zu können meinte, erwies sich dabei jedoch alles andere als konsensfähig unter den deutschen Gerichten. So bestätigte das Appellationsgericht zwar, das sich im Juni 1877 erneut mit den Streitfall beschäftigte, das Urteil der ersten Instanz, sah sich seinerseits aber dazu genötigt, näher auf die ethischen Implikationen der Verhandlungssache einzugehen. Diese nun sprachen nicht zweifelsfrei für Sonnemann. Ein »so hervorragendes Handelsblatt, dessen Herausgeber sich an so verschiedenartigen finanziellen und industriellen Unternehmungen betheiligt«, kommentierte das Gericht, könne nicht den Anspruch 313 Protokoll der Verhandlungen zit. n. Staatsbürger Zeitung, Nr. 351 A, 18.12.1876. 314 Staatsbürger-Zeitung, Nr. 354 C, 21.12.1876. 315 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 330.

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erheben, dass sein Urteil völlig unparteiisch sei, selbst dann nicht, wenn es sich der größten Objektivität befleißige. »Das Interesse des Kapitalisten […] muß hierbei nothwendig mit den Pflichten der unparteiischen Berichterstattung und Kritik in eine Kollision gerathen, deren allseitig befriedigende Lösung der Leserkreis der Zeitung zu bezweifeln berechtigt ist.«316 Diese Feststellung ist sehr bedeutsam, zeigt sie doch, dass sich jenseits des kodifizierten Rechts Normen zu wandeln begonnen und sich neue moralische Maßstabe entwickelt hatten, mittels derer nun auch Praktiken des finanzjournalistischen Feldes kritischer als vor 1873 wahrgenommen werden konnten. Normvorstellungen und Handlungsspielräume Finanzjournalistische Akteure, dies ist bereits an verschiedenen Stellen angeklungen, bewegten sich vor Mitte der 1870er Jahre nicht in einem normenfreien Raum. So formulierte die Berliner Börsen-Correspondenz bereits 1857 eine eigene Ethik derjenigen Journalisten, die über Handelsangelegenheiten berichteten. Pressevertreter »an dem Nutzen zu beteiligen, welchen die Handelswelt aus ihrer Mitwirkung zieht, ist kein Gewinn, den die Presse anstrebt, das ist der schlimmste Gegendienst und der feindlichste Angriff, den sie erfahren kann.« Natürlich wolle man es einem Kaufmann nicht verargen, dass er mit Hilfe von Schriftstellern seine Waren in Inseraten und gedruckten Berichten anpreise. »Aber das ist nicht Tätigkeit der öffentlichen Presse, und welchen Namen auch solche Inserate und Berichte sich geben, welche Verbreitung sie gewinnen mögen, sie bleiben Privatunternehmungen, oder gar Privatmanöver. Mit dieser Tätigkeit hat die öffentliche Presse nur in so fern zu schaffen, als sie dieselbe unter steter Aufsicht halten, und, wo sie mit dem öffentlichen Interesse in Widerspruch gerät, unschädlich machen muss. Die öffentliche Presse hat ein höheres Ziel, als die Bereicherung einzelner Personen. Ihr Beruf ist die Beförderung des öffentlichen Wohles. … Es ist das gemeinschaftliche Interesse, welches die öffentlichen Schriftsteller an einander kettet, und von den Privatschriftstellern trennt.«317

Bereits früh war damit der Anspruch formuliert, privatwirtschaftliche und öffentliche Interessen strikt zu trennen. Dies änderte sich auch in der Folgezeit nicht, doch liegt die Annahme nahe, dass mit dem steigenden Inseratenvolumen aus industriellen Gründungen auch die Moral der Journalisten auf eine neue Bewährungsprobe gestellt wurde. Hermann Kletke, der Chefredakteur der Vossischen Zeitung, berichtete im Mai 1868 auf dem dritten Journalistentag, ihm seien »bisher unzählige … Bestechungsversuche« vorgekommen. »[M]an erbietet sich zu einem längeren Inserat, wenn gleichzeitig das betreffende Unternehmen – Eisenbahnprojekte usw., Unternehmungen der Spekulation, und zuweilen einer recht gemeinschädlichen  – im redaktionellen Teils empfohlen 316 Ebd., S. 331 f.; Mehring, Kapital, S. 106 f. 317 Berliner Börsen-Correspondenz, Nr. 1, 2.1.1857, überliefert in: GStA PK, I. HA, Rep. 77 tit 54a Nr. 27.

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würden.« Kletke, ein gestandener und erfahrener Journalist, der sich seit Ende der 1830er Jahre als solcher betätigte und 1849 als politischer Redakteur in die Vossische Zeitung eingetreten war, ließ auf der Versammlung keinen Zweifel über das korrekte Verhalten in einer derartigen Situation. »Eine anständige Redaktion wirft selbstverständlich die ihr bequemlichkeitshalber im Wortlaut gleich mitgeschickte Empfehlung in den Papierkorb, und überläßt es dem Spekulanten, sich in den hinteren Teil  des Blattes gegen Zahlung der Insertionsgebühren selbst mit dem Publikum abzufinden.«318 Kleinere Finanzzeitungen besaßen diese Freiheit seltener, wollte man das finanzielle Überleben des Unternehmens nicht aufs Spiel setzen.319 Und offensichtlich misstraute ihnen das Publikum eher als den etablierten politischen Zeitungen. Dass Qualitätsnormen wie Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auch für diese Blätter Gültigkeit hatten, musste daher in Werbeannoncen breit und ostentativ unterstrichen werden. Mit »rücksichtsloser und unpartheiischer Kritik« warb der Börsenwächter. Dies suchte der Berliner Börsen-Courier zu steigern, wenn er »entschiedenste Unparteilichkeit und zwar […] Unparteilichkeit im wahren Sinne des Wortes« versicherte. Die Neue Börsenzeitung gelobte: »Reclame, Bestechung, Willfährigkeit für selbstsüchtige Wünsche, feile Mithülfe zur Unterbringung werthloser Papiere sollen dieser Zeitung niemals zum Vorwurf gemacht werden können.«320 Je häufiger Zeitungen, so bleibt zu vermuten, ihre Unabhängigkeit werbewirksam zu betonen brauchten, desto gefährdeter schien diese in Wirklichkeit zu sein, wie dies zahlreiche Fälle nach dem Börsenkrach von 1873 gezeigt haben. Die Gründe für die teils nur mangelhafte Anwendung althergebrachter journalistischer Normen in der Praxis sind vielgestaltig. Die »Gründerära« mit ihrer unübersichtlichen Aufwärtsdynamik und ihrer rasanten Prosperität bot naturgemäß jenen ein besonders günstiges Umfeld, die auf Lug und Betrug aus waren, welche die Gutgläubigkeit von Anlegern auszunutzen suchten. Doch auch gewöhnliche, unbescholtene Journalisten waren stets, vielleicht noch mehr als zu anderen Zeiten, der unmoralischen Versuchung ausgesetzt, teilzuhaben an dem schnellen Gelde, das überall zu erzielen möglich schien. »Ehre und Gewissen betrachteten viele fast wie Vorurteile beschränkter Köpfe, indem sie es in

318 Vgl. Bericht über die Verhandlungen des dritten Deutschen Journalistentages in Berlin am 17. und 18. Mai 1868, S. 29 f., überliefert in: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 12128. – Zu Hermann Kletke siehe Fränkel, S. 213 ff. 319 Siehe weiter oben. Vgl. auch den Kommentar George Davidsohns auf dem 9.  Journalistentag 1874, wonach Zeitungen wie die Vossische der Inseraten-Bureaus vielleicht entbehren könnten, nicht aber die »kleinen Zeitungen«. Man dürfe in dieser Angelegenheit daher »nicht blos[!] den ethischen Standpunkt betonen«, zit. n. Vossische Zeitung, Nr. 172, 29.7.1874. 320 Die Annoncen sind entnommen: National-Zeitung, Nr.  143, 26.3.1873 (Börsenwächter), Vossische Zeitung, Nr. 294, 15.12.1872 (Berliner Börsen-Courier), Kladderadatsch, Nr. 55, 26.11.1871 (Neue Börsenzeitung).

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der Ordnung fanden, Geld zu nehmen, sobald man es bekommen konnte.«321 Inwieweit sich Journalisten ihres unethischen Verhaltens bewusst waren, inwieweit sie es überhaupt als solches reflektierten, mochte von Fall zu Fall variieren und ist heute nur schwer zu rekonstruieren. Lediglich kriminelle Energie und persönliche Bereicherungsgelüste anzuführen, wie dies Glagau und andere zeitgenössische Kritiker häufig getan haben, geht an der Wirklichkeit vorbei. Der historische Normalfall lag weitaus komplexer. So sah sich beispielsweise Julius Hesdörffer trotz seiner relativen Abhängigkeit von Bleichröder keineswegs in seiner journalistischen Bewegungsfreiheit eingeschränkt oder den ethischen Ansprüchen seiner Zunft untreu. In seinen Briefen an den Berliner Bankier suggerierte er vielmehr, dass ihm erst durch Bleichröder die Möglichkeit erwachse, seine Unabhängigkeit gegenüber den Frankfurter Bankhäusern, allen voran den Rothschilds, zu wahren und diese daher umso freier zu kritisieren. Bleichröder seinerseits musste wissen, dass ihm nur sein »Inseratensegen« auf Dauer die Loyalität Hesdörffers sichern konnte. Und Hesdörffer suchte den Berliner Bankier in diesem Glauben zu wiegen, so gut er konnte. Im Juni 1875 veröffentlichte er in seinem Blatt einen Artikel, der bei den Rothschilds großes Missfallen hervorrief. Geradezu stolz konnte Hesdörffer daraufhin nach Berlin schreiben, dass er sich mit Mayer Carl von Rothschild »stark überworfen« habe. »Es schadet nichts – v. R[othschild] wundert sich ja immer, daß Andere die Wahrheit nicht hören wollen, hoffentlich macht er in dieser Beziehung eine erfreuliche Ausnahme.«322 Als Rothschild ihm daraufhin den Prospekt für die ausgegebenen preußischen »Bodencredit-Pfandbriefe« nicht zuweisen wollte, obwohl »alle Lokalblätter, das unbedeutendste nicht ausgenommen«, damit bedacht worden waren, konnte Hesdörffer sich gegenüber Bleichröder als einer der wenigen von Rothschild unabhängigen Journalisten Frankfurts gerieren. »Sie mögen aus dem Ganzen erkennen, wie kleinlich v. R[othschild] ist, indem er sich die Publikation des Prospectes lediglich nur ausbehält, um einige Blätter zu chikanieren. Ich könnte auch unter die glücklichen Organe rangiren, welche die Bekanntmachung drei- und viermal erhalten (morgens und abends!), wenn ich verstände, gegen gewisse Kreise nach dem Willen des Frankfurter Börsenherrschers loszulegen«, aber er drucke zum Wohl der Allgemeinheit.323 Doch nicht nur für die Allgemeinheit, auch für Bleichröder druckte Hesdörffer, und er konnte darin sicher sein, dass Bleichröder alles daran setzen würde, ihn nicht unter den finanziellen Einfluss Rothschilds geraten zu lassen. »Ich weiß nur«, bekräftigte er ein anderes Mal, »daß ich lieber auf alle Rothschildschen Inserate verzichte, ehe ich mein Blatt dem liebenswürdigen Baron nach Wunsch zur Verfügung stelle.«324 Seine persönliche Integrität unterstrich Hesdörffer auch gegenüber dem Teilhaber der Bleichröder-Bank, Julius Schwabach, als dieser 321 Wuttke, Zeitungswesen [1875], S. 404. 322 Hesdörffer an Bleichröder, 25.6.1875, BP, Box XXIII. 323 Hesdörffer an Bleichröder, 16.8.1875, BP, Box XXIII. 324 Hesdörffer an Bleichröder, 23.8.1875, BP, Box XXIII.

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sich einmal anlässlich einer Neuemission des Hauses über zu hohe Insertionsgebühren beklagte. Hesdörffer erklärte dem Bankier, dass sein Blatt sich ausschließlich darauf beschränkte, die tatsächlich anfallenden Gebühren in Rechnung zu stellen, während andere Zeitungen den »Modus der Betheiligung etc« vorzögen und dadurch einen Teil  der Gebühren kompensierten; wahrscheinlich stünden diese Blätter dadurch pekuniär sogar erheblich besser da. Er sei seiner Verpflichtung nachgekommen und habe auf die Emission verschiedentlich hingewiesen, »aber ohne jede [redaktionelle] Reklame, da ich, offen gestanden, die Sicherheit der in Rede stehenden Papiere für keine unzweifelhafte halte und m. E. nur das eine Factum dafür spricht, dass Ihr Haus dieselben an den Markt bringt. Ich habe aus dieser Ansicht nie ein Hehl gemacht und dieselbe bei früheren Gelegenheiten auch dem Herrn von Bleichröder gegenüber geäußert.«325

Diese Beispiele deuten an, dass zwischen Akteuren des Finanzsektors und der Presse nicht pauschal ein Abhängigkeits- und Subordinationsverhältnis bestanden haben muss. Wer tatsächlich am längeren Hebel saß, hing von der konkreten Situation, der individuellen Lage des Zeitungsunternehmens und der Stärke des Bankhauses ab. Spielräume für eine unabhängige, anlegerorientierte Berichterstattung wurden durch Großinserenten aus dem Finanzsektor nicht zwangsläufig eingeengt oder gar zum Verschwinden gebracht.326 Doch sollten die Handlungsspielräume von Journalisten auch nicht überschätzt, die sozialen und strukturellen Faktoren gegenüber den individuellen nicht unterschätzt werden. Das Abweichen von tradierten Verhaltensregeln war nicht immer vorsätzlicher Art, sondern konnte auch durch Zwangslagen herbeigeführt worden sein. Journalisten handelten weder völlig selbst- noch gänzlich fremdbestimmt. Das redaktionelle, aber auch unternehmerisch-verlegerische Umfeld konnte ihre Handlungsfreiheit und die Einhaltung ethischer Grundsätze zu jeder Zeit begrenzen und beschneiden. Da, wo Redakteur, Herausgeber und Eigentümer nicht in einer Person zusammenfielen, herrschten zwischen den einzelnen Akteuren – dem Verleger, dem Chef- und den untergeordneten Redakteuren sowie Reportern  – in der Regel asymmetrische Machtbeziehungen.327 »Nur wenige Redacteure [sind] in der Lage, dem Verleger mit einem bestimmten Willen er325 Hesdörffer an Schwabach, 16.9.1875, BP, Box XXIII. 326 Zeitgenössische Korruptionsvorwürfe beinhalteten auch immer die Kritik, dass durch »redaktionelle Reklame« das Anlegerpublikum geschädigt werde, da es so zum Kauf unsolider Werte verleitet würde. Auch dieser Vorwurf muss vor der Hintergrund neuerer Forschungsergebnisse relativiert werden. Bignon u. Miscio kommen am Beispiel der französischen Finanzpresse vor 1914 zu einem differenzierteren Bild. Obwohl die Presseberichterstattung zu einzelnen Unternehmen beeinflusst war, zeigten die von der Presse empfohlenen Aktien dieser Unternehmen eine gute Performanz. Zeitungen hätten, so die Erklärung, nur für jene Unternehmen im redaktionellen Teil  geworben, die der Redaktionspolitik entsprochen hätten und bei denen man von einer gewissen Solidität ausgehen konnte. 327 Vgl. zum Verhältnis von Redakteuren und Verlegern Requate, Journalismus, S. 203–209.

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folgreich entgegenzutreten«, bemerkte etwa Heinrich Bürgers, Mitarbeiter beim Aktionär, im Kreise seiner Berufskollegen.328 Bei den älteren »Herausgeber-Zeitungen« kann deshalb jedoch noch lange nicht von einer zwangsläufig größeren Integrität ausgegangen werden.329 Wohl die wenigstens waren bereit, für ihre Ideale so weit zu gehen wie Karl Volckhausen (1822–1899) dies allem Anschein nach getan hat. Der Chefredakteur der Frankfurter Zeitung war im Juli 1873 überraschend von seinem Posten zurückgetreten.330 Über die Motive erfuhr die Öffentlichkeit erst Näheres im Zusammenhang mit dem Prozess MehringSonnemann im Dezember 1876.331 Volckhausen sah seine Tätigkeit unvereinbar mit seinem beruflichen Ethos als Journalist. »Ich konnte es nicht über das Herz bringen«, gab Volckhausen vor Gericht zu Protokoll, »eine Zeitung zu leiten, deren Eigenthümer neben mir sitzt und sich an Gründungen consortialiter betheiligen läßt.« Für ihn sei es dabei völlig gleich gewesen, ob Sonnemann sich als Kapitalist oder als Journalist beteiligen lasse, denn beides müsse »einen Druck auf die Redaction ausüben, und das kann und mag ich nicht ertragen. … Als demokratischer Journalist habe ich die Ansicht, daß es für einen Banquier, für einen Börsenagenten etwas vollkommen Harmloses sein mag, sich consortial betheiligen zu lassen, nicht aber für einen Zeitungs-Eigenthümer, einen Journalisten … .«332 Dass sich mit Volckhausen ein langjähriger politischer Journalist, überzeugter Demokrat und aktiver Teilnehmer der Revolution von 1848333 gegen Sonnemann stellte und nicht etwa ein Mitglied der Handelsredaktion, deutet darauf hin, dass zwischen politischem und finanziellem Journalismus eine Divergenz im Grad berufsethischer Fundierung bestanden hat, die zahlreiche, 328 Auf dem Journalistentag 1874, zit. n. dem Bericht der Vossischen Zeitung, Nr.  174, 29.7.1874. 329 Siehe zu diesen Zeitungen, bei denen geschäftliche und redaktionelle Funktionen zumeist in einer Person zusammenfielen, Requate, Journalismus, S. 118 ff. 330 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 137. 331 In ihrer Festschrift schreibt die Frankfurter Zeitung, S.  141, irreführend, Volckhausen habe die Redaktion »infolge von Missverständnissen« verlassen. An anderer Stelle (S. 348) wird Volckhausens Austritt nicht mit moralischen Bedenken begründet, sondern mit einer fehlgeschlagenen Intrige gegen Sonnemann. Volckhausen habe, im Besitz des belastenden Materials, versucht, Sonnemann dazu zu drängen, die Frankfurter Zeitung in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Dieser habe sich jedoch geweigert. – Tatsächlich hatte Volckhausen die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft angestrebt, bei der Sonnemann den größten Teil der Aktien, Volckhausen dagegen nur einen kleinen Teil, erhalten hätte, wie er vor Gericht bestätigte. Auf die Frage, warum er unter diesen Umständen dennoch Chefredakteur hätte bleiben wollen, argumentierte Volckhausen: »Der Unterschied bestand darin, daß erstens ein Aufsichtsrath vorhanden war, der nicht nur den Handelstheil, sondern das ganze geschäftliche Gebahren der Zeitung zu überwachen hätte, und zweitens, daß Hr. Sonnemann nicht mehr de facto Eigenthümer war, daß er nicht mehr nach Belieben schalten und walten konnte, wie er wollte, daß er zurückgeschoben war in die Stelle eines Actionärs aus der omnipotenten Position eines Zeitungsbesitzers.« Zit. n. Staatsbürger-Zeitung, Nr. 353 C, 20.12.1876. 332 Zit. n. Staatsbürger-Zeitung, Nr. 353 C, 20.12.1876. 333 Für einen kurzen biographischen Abriss vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 138.

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in ethischen Grauzonen verlaufende Praktiken der Gründerjahre mit erklären kann.334 Ein Berliner Journalist erinnerte sich später an Konflikte in der Redaktion des Berliner Börsen-Couriers während der Gründerzeit: »[M]ehr als einmal geriet der politische Teil des ›Börsen-Courier‹ zu jener Zeit … mit der Haltung der wirtschaftlichen Abteilung in einen schroffen Widerspruch. Es gab dann wohl manche erregte Auftritte, man ging dann auch wohl etwas schmollend auseinander, sonst aber blieb alles beim alten.«335 Die vermutete Divergenz ließe sich mit spezifisch biografischen und berufspraktischen Merkmalen erklären. Bei der Mehrzahl der Akteure des finanzjournalistischen Feldes war einer journalistischen Tätigkeit eine finanzpraktische Erfahrung als Bankier, Kaufmann oder Prokurist vorausgegangen. Wir haben dies bereits an anderer Stelle detailliert sehen können.336 Dieser spezifische Weg in den Journalismus ging daher mit einer Nähe zur Finanzwelt, ja, zuweilen mit einem Gefühl freundschaftlicher Verbundenheit zu ihr einher, trafen Journalisten bei ihrem Börsenbesuch doch mitunter auf einstige Berufskollegen. Überdies waren Journalisten im Börsengebäude in der Regel der Kontrolle durch ihre Vorgesetzten, etwa durch den Chefredakteur, entzogen, sie tauchten ein in eine Welt mit anderen Spielregeln und Verheißungen. Lasker sprach in seiner Abgeordnetenhausrede vom März 1876 »von jenem ansteckenden Platze, den man die Börse nennt«, um auf die Gefahren für den Journalismus hinzuweisen, die aus dieser persönlichen Nähe resultierten.337 In dieselbe Richtung stieß später Maximilian Harden vor, wenn er von »fatalen Vertraulichkeiten« schrieb, die an der Börse schnell zwischen Journalisten und den professionals entstünden.338 Schließlich muss zur Beantwortung der Frage, warum gerade in den Gründerjahren Akteure des finanzjournalistischen Feldes offenbar häufiger von etablierten journalistischen Qualitätsnormen abgewichen sind, auch der Mangel an externen Anreizen und Kontrollmechanismen mitberücksichtigt werden. Verstöße ließen sich, so sie überhaupt bekannt wurden, allenfalls zeitungsintern etwa durch Entlassung, nicht aber berufsständisch, ahnden. Hierzu fehlte es in den 1870er Jahren an geeigneten Mitteln und Institutionen, der Organisationsgrad des journalistischen Berufsstandes war gering. Vereinigungen, wie es sie 334 Friehe, S. 75, vermutet, dass politische Redaktion und Handelsredaktion der National-Zeitung in Konflikt gerieten, da sie unterschiedliche Adressaten ansprachen. Während der politische Teil nach wie vor die »Gesamtheit des Volkes« adressierte, hab sich der Handelsteil an Spekulanten und kapitalbesitzende Kreise gewandt. Ein »spürbarer Zwiespalt in der Gesamteinstellung des Blattes« sei so offenbar geworden. 335 Kastan, S. 198. 336 Vgl. Kap. II.1.2. – Ausnahmen in dieser Hinsicht bildeten Sonnemann selbst und Otto Michaelis, der volkswirtschaftliche Redakteur der National-Zeitung (s. DBA, Teil  3, Fiche 626, S. 132). Doch sind diese freilich nicht als Börsenjournalisten im engeren Sinne anzusehen, da sie nicht in das finanzjournalistische Tagesgeschäft involviert waren, sondern, in gehobener Stellung, die groben (wirtschafts-)politischen Linien ihrer Blätter vorgaben. 337 Rede v. 29.3.1876, in: Stenographische Berichte. Haus der Abgeordneten, Bd.  2, 1876, S. 898. 338 Die Zukunft, 9.7.1904, S. 51 f.

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etwa mit dem Verein Berliner Presse gab, verhielten sich still gegenüber jenen Mitgliedern, denen unethisches Verhalten vorgeworfen wurde. Nicht zuletzt waren korrupte Journalisten aber auch juristisch nicht zu belangen. Das deutsche Strafgesetzbuch kannte weder den Tatbestand der Pressebestechung noch der Pressenötigung.339 Der einzig effektive Sanktionsmechanismus gegen unethisches Verhalten dürfte in den 1870er Jahren noch immer der Markt gewesen sein. Eine Zeitung, deren Redaktion in schlechtem Ruf stand, traute man nicht mehr länger, was sich in sinkenden Leserzahlen niederschlug. Besonders hart konnte sich dies in den Jahren nach dem Börsenkrach bemerkbar machen, als die Erlöse aus dem Inseratenteil, der zweiten Einnahmequelle, dramatisch zurückgingen. Nach einem verunglimpfenden Artikel in Glagaus Zeitschrift Der Kulturkämpfer klagte Hesdörffer gegen das Blatt, da er seine ökonomische Stellung durch die ihm zugefügte »Ehrverletzung« geschädigt sah. »Ein Journalist, der als Herausgeber eines Handelsblattes mit dem Makel der Käuflichkeit behaftet ist«, erklärte Hesdörffers Anwalt, »muß naturgemäß jedes Ansehen beim Publicum und jeden Glauben bei demselben einbüßen; das von ihm geleitete journalistische Unternehmen wird dadurch vollständig ruinirt.«340 Auch das Leserpublikum schien nach den »Enthüllungen« über die Pressezustände der »Gründerära« genauer auf die Integrität von Journalisten und Zeitungen geachtet zu haben, was letztere wiederum dazu nötigte, vehementer auf ethisch korrektes Verhalten in den eigenen Reihen zu pochen. Bis zu einem nahezu als allgemein verbindlich anerkannten code of ethics und zur Ausbildung von Institutionen, die streng über die Einhaltung dieser Normen wachten, sollte es allerdings noch ein langer Weg sein. Persistenz statt Reform Die teils offenkundigen, teils nur unterstellten Verstrickungen deutscher Zeitungen und einzelner Journalisten in die »Gründerexzesse« sollten das öffentliche Ansehen der Finanzpresse und das der Handelsteile vor allem der liberalen Tagespresse nachhaltig beschädigen. Noch Jahre nach dem Ersten Weltkrieg konnte der deutsche Ökonom August Sartorius von Waltershausen in seiner »Deutschen Wirtschaftsgeschichte« feststellen, dass »seit der Gründerzeit […] in Deutschland das Mißtrauen gegen die Börsen und ihre Presse nicht geschwunden« sei.341 Daran hatte nicht nur das antiliberale Zeitklima Schuld, wie es oben bereits beschrieben wurde. Auch Zeitungsmacher und Journalisten hat339 Vgl. hierzu die rechtswissenschaftliche Dissertation von Berger, Preßbestechung. Kam es in den 1870er Jahren zu Gerichtsprozessen gegen Journalisten, dann nicht etwa wegen korrupter Praktiken, sondern im Rahmen von Beleidungs- oder Verleumdungsklagen (§§ 185 und 186, StGB), wie wir gesehen haben, oder wegen Erpressung und Täuschung, wie im Fall Christian Hollander. 340 Zit. n. Der Kulturkämpfer, Jg. 2, 1881, H. 34, 15.5.1881, S. 30. Der betreffende Artikel, der den Anlass zur Klage bildete, erschien unter dem Titel »Frankfurt – die Börsen- und Judenstadt« im Kulturkämpfer, Jg. 1, 1880, H 6, 15.3.1880, S. 18–32. 341 Sartorius von Walterhausen, S. 290.

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ten ihren Anteil daran, dass sich die Vorwürfe der 1870er Jahre zu einer Hypothek des Finanzjournalismus verfestigten, die in den folgenden Dekaden belastend wirken sollte. »Aufgeklärt muß werden, und Jedermann muß überzeugt werden, daß mit der Fackel bis in den letzten Winkel hinein geleuchtet worden ist; dann wird das Volk beruhigt sein«, hatte Lasker noch im Februar 1873 vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus gefordert.342 Taten folgten kaum. Wenn sich die Medien des finanzjournalistischen Feld überhaupt mit der Rolle der eigenen Redaktion, mit ihrer Stellung zum Inseratenteil und zur Bankenwelt, auseinander gesetzt haben, dann zumindest nicht öffentlich. Diese Passivität hinterließ ein Vakuum, in das Kritiker wie Glagau mit ihren antisemitisch unterfütterten Pauschalvorwürfen gegen die Akteure des finanzjournalistischen Feldes vorstoßen konnten. »Sie, die das Publikum belehren, orientiren, warnen sollten, haben es getäuscht und ausplündern helfen. Das ist nicht anders, als wenn der Priester verräth, der Richter stiehlt, der Arzt vergiftet!« Keine anständige ehrliebende Zeitung dürfe solche Mitarbeiter auf ihrem Posten belassen.343 Welche personellen Konsequenzen zogen Zeitungsverleger angesichts der öffent­lich erhobenen Zweifel an der Integrität ihrer Redaktionsmitarbeiter? Es lässt sich hier aufgrund fehlenden Quellenmaterials nur auf einige wenige Einzelfälle eingehen. Sie legen allerdings den Schluss nahe, dass Handelsredaktionen und Finanzzeitungen ihre Arbeit mit einer relativen personellen Kontinuität in den Jahren nach dem Gründerkrach fortgesetzt haben. Wer nicht, wie etwa der Herausgeber des Börsenwächters, Christian Hollander, durch den Staatsanwalt daran gehindert wurde, der hatte gute Chancen, seiner Tätigkeit auch weiterhin unbehelligt nachgehen zu können.344 Entlassungen folgten, wenn überhaupt, erst auf öffentlichen Druck. Nach Veröffentlichung kompromittierender Briefe der »Effekten- und Wechselbank« durch die StaatsbürgerZeitung im Frühjahr 1876, entließ das Frankfurter Journal seine beiden Börsenberichterstatter Wagner und Peißer.345 Die Vossische Zeitung trennte sich 342 Rede v. 15.2.1873 in: Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd.  2, 1873, S. 1046. 343 Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 254 f. 344 Der »Börsenwächter« überdauerte Hollander allerdings und ging in den Besitz seines moralisch nicht weniger zweifelhaften Redakteurs Richard Lehmann über. Nach Haftverbüßung kehrte Hollander bereits 1875/76 in die Redaktion des Blattes zurück, das sich mittlerweile in »Allgemeine Börsen-Zeitung« umbenannt hatte. Nach einer neuerlichen Erpressungsaffäre Anfang der 1880er Jahre tauchte Hollander schließlich unter, und hier verlieren sich seine Spuren. Vgl. hierzu die umfangreiche Aktensammlung des Berliner Polizeipräsidiums, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 14834, Bl. 1–46. 345 Mehring, S. 93. – Julius Hesdörffer, dem im Juni 1873 vom »Syndikat für Dresdner Bankaktien« ebenfalls Gelder zugegangen waren, hatte keine Konsequenzen zu fürchten, da er zu diesem Zeitpunkt bereits die Frankfurter Zeitung verlassen und sich mit einem eigenen Blatt selbständig gemacht hatte. Der antisemitische Kulturkämpfer, Jg. 1, 1880, H. 6, 15.3.1880, S. 29, behauptete später, Hesdörffer habe die Frankfurter Zeitung 1872 wegen einer »Revolver-Affäre, die zu stark aufblitze«, verlassen, »es soll sich um 30 000 Gulden gehandelt haben«.

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1875 – über die näheren Umstände ist nichts bekannt – von Heinrich Ebeling, der sich bald darauf in Italien als Privatgelehrter niederließ.346 Julius Schweitzer schließlich verließ, wohl aus freiem Entschluss und nicht weil ihm gekündigt worden wäre, am 13.  Juni 1876 die Redaktion der National-Zeitung. »Ich war einer der Ersten«, rechtfertige er sich am Tage seines Ausscheidens, »der, unterstützt durch sorgfältige Beobachtung aller Verhältnisse, auf die unausbleiblichen Folgen der Gründungs-Periode hingewiesen, der die später eingetretene Krisis als unvermeidlich erklärt und deren Entwicklung richtig geschildert hat.«347 Die Redaktion der National-Zeitung wollte Schweitzers Weggang keines­wegs als Eingeständnis eigener moralischer Verfehlungen während der Gründerzeit verstanden wissen, sondern beharrte im Gegenteil nach wie vor auf der uneingeschränkten Integrität ihres Personals. Man habe keinen Grund, schrieb das Blatt, »zur Wahrung unserer Ehre Schritte zu thun, noch auf ein Mitglied der Redaktion irgendwelchen Druck in dieser Richtung zu üben.«348 Diese ausweichende, mithin konfrontative Haltung war durchaus paradigmatisch für alle jene Presseorgane, die im Fokus öffentlicher Kritik standen. Statt Anklagen zu entkräften, zog man es vor zu schweigen oder »jede Art von Rathschlägen oder Vorschriften für unser Verhalten … mit voller Entschiedenheit« zurückzuweisen.349 Man verbat sich Kritik durch konkurrierende Blätter, vor allem durch jene einer anderen politischen Ausrichtung. Die Frankfurter Zeitung warf der Kölnischen Zeitung vor, mit ihren voluminösen und überteuerten Inseraten während der Gründerperiode den Schwindel nur noch angeheizt zu haben, worauf diese mit gleichen Vorwürfen an die Adresse des Frankfurter Blattes antwortete.350 Schweitzer kündigte zwar an, gegen die seitens der Staatsbürger-Zeitung erhobenen Beschuldigungen gerichtlich vorgehen zu wollen, ließ es aber schließlich nicht zu einem Iniurienprozess kommen, was seine Gegner wiederum gegen ihn auslegten.351 Noch mehr waren liberalgesinnte Zeitungen darüber verwundert, dass die National-Zeitung die Anschuldigungen Diest-Dabers ohne juristische Folgen beließ. »Es bleibt unerfindlich«, äußerte das Frankfurter Journal, »weshalb die Nat.-Ztg. Herrn v. Diest nicht gerichtlich belangt; es geht nicht an, daß ein Parteiorgan mit Verläumdungen[!] sich überschütten lassen darf, unter denen die Partei selbst leidet, und Klar346 DBA, Teil 3, Fiche 0196. 347 National-Zeitung, Nr. 270, 13.6.1876. 348 Ebd. 349 Ebd. 350 Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S.  468 f.  – Noch Ende der 1880er Jahre glaubte der Verleger der Kölnischen Zeitung, Neven DuMont, die Frankfurter Zeitung nicht frei von den Interessen der Finanzwelt, wie er an Franz Fischer schrieb: »Ebenso­ wenig werden Sie aber selbst wünschen, dass die K. Z. auf das Niveau von Frankfurter, Börsencourier und Börsenzeitung herabsteigt und nur das bringt, was gewissen Finanzleuten in den Kram passt.« Brief vom 10.1.1888, RDS, FK, Bl. 829. 351 So schrieb Mehring, S. 74, Schweitzer habe einen »unbesiegbaren Widerstand gegen eine urkundliche [gerichtliche, d. V.] Feststellung seiner Nienburger Kulturthaten«.

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heit kann nur durch die Feststellung des Strafrichters gebracht werden; die Nat.Ztg. schuldet die Klage auch der deutschen Presse überhaupt: es muß offenbar werden, daß deutsche Journalisten sich nicht bestechen lassen.«352 In gleicher Lage würde, so schrieben die Grenzboten, »nach allgemeinen Begriffen von Anstand und Ehrgefühl jeder Privatmann, der sich frei von Schuld fühlt, nicht säumen, den … Weg des correctesten Austrags der Sache zu beschreiten.«353 Die Magdebur­gische Zeitung sprach bald schon von einem »förmlichen ›Preßring‹, der sich zur Vertuschung von Gründersünden und was damit zusammenhängt, gebildet zu haben scheint.« Es stände schlimm um die deutsche Presse und das deutsche Parteiwesen, schrieb das Blatt nicht zuletzt tadelnd an die Adresse ihrer politischen Gesinnungsgenossin, der National-Zeitung, »wenn es möglich gewesen wäre, Dinge radical todtzuschweigen, welche in dieser Weise einmal in die öffentliche Discussion geworfen worden sind.«354 Schließlich aber zeigen auch jene wenigen Fälle, in denen Redaktionen personelle Veränderungen einleiteten, dass damit dem öffentlichen Ansehen des finanzjournalistischen Feldes nur wenig gedient war. Denn wer entlassen wurde oder selber den Austritt vorzog, musste innerhalb seiner Zunft offensichtlich nicht als persona non grata um sein symbolisches Kapital fürchten. Karl ­Wagner etwa blieb weiterhin leitender Redakteur des Aktionärs und wurde später, nach Scherers Rückzug, sogar dessen Herausgeber. Schweitzer seinerseits tauschte seinen Redaktionstisch gegen den nur wenige Straßenzüge weiter gelegenen der Vossischen Zeitung ein, für die er fortan den Börsendienst besorgte.355 Blickt man von der Mikroebene der Redaktionen auf die Mesoebene der Verbände und Vereine, bietet sich ein ähnliches Bild: Wirkliche Lehren aus den Gründerjahren zog man auch hier nicht. Der Verein Berliner Presse fand keinen Anstoß daran, Schweitzer nach wie vor in seinen Reihen willkommen zu heißen. Nach Drängen mehrerer Zeitungen diskutierte der Verein die Angelegenheit in einer seiner Sitzungen kurz, nur um wenig später ergebnislos zur Tagesordnung überzugehen. Das Schatzmeisteramt des Vereins sollte Schweitzer bis zu seinem Tod 1893 innehaben.356 Der »Deutsche Journalistentag« (1864)  – die deutschlandweit erste Vereinigung von Redakteuren, Herausgebern und Zeitungsverlegern  – hatte bereits 1868 einen Ausschuss damit beauftragt, Vorschläge zur »Ordnung des Verhältnisses der Zeitungen zu den Annoncenbureaus« 352 Frankfurter Journal, 8.2.1876. 353 Die Grenzboten, Jg. 35, 1876, 1. Sem., 2. Bd., S. 433. 354 Magdeburgische Zeitung, Nr. 272, 14.6.1876. 355 Glagau, Gründungsschwindel in Deutschland, S. 250 f. und 480 ff. 356 Schlenther; Mehring, S.  75.  – Das Beispiel des Wiener Schriftstellervereins »Concordia« zeigt dagegen, dass ein strengeres Vorgehen auf Vereinsebene durchaus möglich war. Bereits im Februar 1873 beschloss man dort, ein Ehrengericht einzusetzen, das jeden Verdacht auf Pressebestechung an den Vorstand melden sollte. Dieser hatte sodann einen Berichterstatter mit der Untersuchung zu beauftragen und zu beschließen, ob ein ehrengerichtliches Verfahren einzuleiten war. Als Strafe drohte dem Überführten ein zeitweiser oder dauerhafter Ausschluss aus dem Verein, vgl. Berger: Preßbestechung, S. 116 f.

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auszu­arbeiten.357 Doch lange tat sich in dieser Angelegenheit nichts. Erst auf dem achten Journalistentag im August 1873 legte der Ausschuss seinen Bericht vor und empfahl die Gründung eines eigenen Annoncenbüros der Presse, um Zeitungen unabhängiger von Inserenten zu machen. Eine nun eingesetzte Kommission, der u. a. der Chefredakteur der Vossischen Zeitung, Hermann Kletke, sowie George Davidsohn angehörten, sollte ein entsprechendes Statut ausarbeiten. Überdies rang man sich nach längerer Diskussion zu der sehr allgemein gehaltenen Erklärung durch, dass die Vereinigung es als »Ehrenpflicht der gesamten periodischen Presse Deutschlands« ansehe, »die Aufnahme aller Annoncen, Reclamen u. dgl. zu verweigern, welche dem offenbaren Schwindel auf medizinischem, gewerblichem, industriellem und commerziellem Gebiete Vorschub leisten.« Ein anderer, weitaus entschlossener formulierter Antrag, demzufolge die »Aufnahme einer Annonce verweigert werden [soll], wenn dieselbe … von der gleichzeitigen Aufnahme einer Reclame im [redaktionellen] Teil  der Zeitung abhängig gemacht wird«, fand dagegen keine Mehrheit. Dies bedeutete nicht, dass man derartiges Gebaren billigte, nur auf eine Formulierung festlegen konnte man sich nicht, weil die Teilnehmer sich gegenseitig blockierten. Doch ohnehin war solchen Erklärungen lediglich symbolischer Wert beizumessen. Über deren praktische Umsetzung entschied jede Zeitung selbst, und das letzte Wort hatten dort häufig die Verleger, eine Gruppe, die auf dem Journalistentag kaum präsent war. Zurecht bemerkte daher ein Vertreter der Ostdeutschen Zeitung, dass der Begriff der »Ehrenpflicht« unpassend sei. Es sei dem Redakteur oft nicht möglich, die Aufnahme von Annoncen zu verhüten, man könne ihm also etwas, das nicht im Bereich seiner Macht stehe, nicht als Ehrenpflicht aufbürden.358 Auch die Gründung eines eigenen Annoncenbüros war ohne Beteiligung der Verleger nicht ins Werk zu setzen. Zwar präsentierte Davidsohn im darauffolgenden Jahr, 1874, einen Statutenentwurf, den der Journalistentag annahm und mit dem Appell an die deutschen Zeitungs- und Zeitschriften­ verleger verknüpfte, ihn praktisch umzusetzen. Doch kam das Projekt über diese erste Phase seiner Planung niemals hinaus.359 Kletke machte keinen Hehl daraus, dass der Beschluss des Journalistentags »kein unmittelbar praktisches Resultat« haben würde, zog sich allerdings auf den Standpunkt zurück, dass in ihm zumindest eine höchst wichtige Anregung gegeben sei, »insofern wieder einmal die deutschen Zeitungen auf die großen Gefahren aufmerksam gemacht werden, mit welchen die Annoncen-Bureaux das Bestehen einer unabhängigen Presse bedrohen und auf die Mittel, dieselben unschädlich zu machen.«360 Ob 357 Vgl. Bericht über die Verhandlungen des dritten Deutschen Journalistentages in Berlin am 17. und 18. Mai 1868, überliefert in: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 12128; zum »Deutschen Journalistentag« vgl. Brückmann. 358 Zitate nach den Berichten der Vossischen Zeitung vom achten Deutschen Journalistentag in Hamburg, 17./18. Mai 1873, Nr. 192 und Nr. 194, 19.8.1873 und 21.8.1873. 359 Vgl. den Bericht der Vossischen Zeitung, Nr. 173 und Nr. 174, 28.7.1874 und 29.7.1874. 360 Vossische Zeitung, Nr. 181, 6.8.1874.

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durch Anregungen ohne praktische Folgen allerdings eine unabhängige Presse gestärkt und ein Rahmen geschaffen werden konnte, der ethisches Verhalten förderte, war mehr als zweifelhaft. * Die Institutionen und Akteure des finanzjournalistischen Feldes erwiesen sich in den 1870er Jahren als unfähig, den durch den Gründerkrach teils offen­ gelegten, teils auch nur imaginierten ethischen Herausforderungen wirksam zu begegnen. Noch war das Feld dafür nicht geschlossen genug und ein Standes- und Zusammengehörigkeitsbewusstsein der Akteure nur in Ansätzen ausgeprägt. Konflikte konnten daher nicht innerhalb der Grenzen des journalistischen Berufsstandes ausgetragen werden, sondern manifestierten sich entlang der Grenzen politischer Lager und Ideologen, wie das Beispiel der sozialkonservativen, ultramontanen oder sozialistischen Kritiker des Finanzjournalismus gezeigt hat. Es mag daher nicht verwundern, dass es mit Eduard Lasker gerade ein Vertreter der politischen Liberalismus war, der die Politik insgesamt in der Pflicht sah, jene Kontroll- und Korrektivfunktion zu übernehmen, die der journalistische Berufsstand nicht zu leisten vermochte. »Auch die politischen Parteien und die politischen Vertreter der Zeitungen«, umriss Lasker diese Aufgabe, »werden jetzt nicht mehr denjenigen Abschnitt, den sie als den verlorenen betrachten, der sich mit den Börsenangelegenheiten beschäftigt, als einen völlig abgesonderten betrachten dürfen, den sie selbst vielleicht nicht einmal lesen, sondern sie werden um ihres eigenen Charakters willen und um die öffentliche Läuterung mit vollziehen zu helfen, darüber wachen müssen, daß in diesen nicht die unreinen Elemente sich einschleichen, und wo sie vorhanden sind, ausgeschieden werden.«361

Damit war der erste Schritt in Richtung einer Politisierung des Finanzjournalismus getan, dessen »Spielregeln« nun nicht mehr nur für das journalistische Feld von Relevanz waren, sondern denen angesichts möglicher Gefahren für das Gemeinwesen fortan auch öffentliche Bedeutung zufallen sollte. Der Gründerkrach markiert insofern eine Zäsur, als er die gesellschaftliche Wahrnehmung auf die bei der Produktion finanzjournalistischer Aussagen mitwirkenden Akteure und zugrunde liegenden Normen lenkte.

361 Rede v. 29.3.1876, in: Stenographische Berichte. Haus der Abgeordneten, Bd. 2, 1876, S. 898.

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III. Skandale, Schulden, Staatsbankrotte: Die Politisierung des Finanzjournalismus (1880–1896)

1. Die »ökonomische Meinung« als Politikum »Ich lege Wert darauf, dass […] auch aus dem Bereiche der Handels- und Gewerbe-Verwaltung mehr, als es bisher geschehen ist, durch Mit­ teilung von Tatsachen und namentlich durch Berichtigung unrichtiger Nachrichten und irriger Urteile der Presse eine Einwirkung auf die öffentliche Meinung ausgeübt werde.« Hans v. Berlepsch, preußischer Handelsminister (1894)

Nachdem wir im vorangegangenen Kapitel unser Hauptaugenmerk auf die Formierungsphase des finanzjournalistischen Feldes in Deutschland gerichtet haben, geht es im Folgenden um die Politisierung des Finanzjournalismus, die seiner Formierung zeitlich folgte, sich zuteilen aber auch mit ihr überschnitt. »Politisierung« beschreibt hier jenen Prozess, in dessen Verlauf ein vormals außerhalb des Politischen liegender Gegenstandsbereich Relevanz für das Gemeinwesen erlangt, öffentliches Interesse beansprucht bzw. zu einem Gegenstand öffentlicher Diskussion avanciert.1 Die Politisierung des Finanzjourna­lismus war nicht zuletzt eine Begleiterscheinung und Folge jener großen Transformations- und grenzüberschreitenden Verflechtungsprozesse des späten 19. Jahrhunderts, die gemeinhin mit den Begriffen der Industrialisierung und wirtschaftlichen bzw. finanziellen Globalisierung erfasst werden.2 Einst autark nebeneinander bestehende oder nur lose miteinander verbundene Kapitalmärkte begannen sich nun in einen gemeinsamen weltweiten Finanzmarkt zu integrieren.3 Kapital zirkulierte global. 10,2 Prozent der deutschen Ersparnisse waren in den 1870er Jahren im Ausland gebunden und im darauffolgenden Jahrzehnt schon durchschnitt1 Das Politische ist damit nicht deckungsgleich mit dem gesellschaftlichen Subsystem der Politik und seinen Akteuren. Es ist vielmehr ein gesellschaftlicher Handlungs- und Kommunikationsraum, in dem prinzipiell alles das zum Gegenstand werden kann, was die Belange des Gemeinwesens berührt oder von dem dies zumindest angenommen wird. Damit kann auch das ›journalistische Sprechen‹ über finanzielle Themen eine politische Aufladung erfahren. Vgl. hierzu die theoretischen Erörterungen in der Einleitung der Arbeit. 2 Noch immer instruktiv Hobsbawm; s. überdies Schularick. 3 Vgl. Clemens u. Williamson, S. 324.

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lich über 18 Prozent.4 Die Politisierung des Finanzjournalismus war allerdings auch ein durch bestimmte Akteursgruppen aktiv vorangetriebener Prozess: sie war Ziel und Strategie von Meinungsführern und Interessenverbänden, die den Finanzjournalismus, seine Inhalte, Praktiken und Betreiber zu einer Angelegenheit öffentlichen Interesses zu erklären suchten. Die Politisierung des Finanzjournalismus konnte sich so auch als eine Folge kultureller Zuschreibungen durch Zeitgenossen erweisen, die ihm eine Wirkmächtigkeit unterstellten, die er in Wirklichkeit so wohlmöglich gar nicht hatte. Erst der Börsenkrach von 1873 machte all dies möglich. Seine Schockwirkung rief den Zeitgenossen schlagartig ins Bewusststein, dass von Börse und Finanzindustrie zugleich Wohl und Wehe des Gemeinwesens abhängen konnten. In dieser Vorstellung paarte sich die richtige Erkenntnis von der zunehmend wichtiger werdenden Stellung der modernen Großbanken und nicht zuletzt der Börse selbst – »der Herzkammer des volkswirtschaftlichen Organismus«5 – mit teils berechtigten, teils irrationalen Ängsten vor einer ungezügelten Machtentfaltung des Finanzsektors, vor einer Zurückdrängung des »schaffenden Kapitals« durch das »raffende Kapital« der Börse.6 Vor einem »Giftbaum […], der auf das Leben der Nation seinen verderblichen Schatten wirft«, warnte 1879 der preußische Minister für öffentliche Arbeiten, Albert von Maybach, und meinte die Börse.7 Er kleidete die weitverbreitete Abneigung gegen jene Einrichtung damit in eine einprägsame Metapher, die noch auf Jahrzehnte hinaus zum Repertoire konservativer und großagrarischer Agitation gehören sollte.8 Von hier aus war es nur noch ein kurzer Schritt zu den verschwörungstheoretisch ummantelten, im Kern krud antisemitischen Insinuationen, wie sie etwa der gescheiterte Hamburger Kaufmann Arthur Richard Weber in seinem Pamphlet »Der Geheimbund der Börse« (1893) anstellte. Unter seinem Pseudonym Arwed Solano behauptete Weber, »daß die deutsche Judenschaft sich zu einem Geheimbunde vereinigt hat, um mittelst der Terminbörsen das deutsche Publikum auszubeuten, dasselbe gänzlich von sich abhängig zu machen, und die Herrschaft im Staate an sich zu reißen.«9 So wie das Ökonomische allmählich politisch wurde, so wurde parallel dazu auch die »ökonomische Meinung« zum Politikum.10 Welche Ansichten und Einschätzungen Markteilnehmer ihrem Markthandeln zugrunde legten, berührte nun sehr wohl – vor allem aus Sicht der politischen Führung und der Unternehmerschaft – das gesamtgesellschaftliche Interesse.11 4 Erst danach sinkt der Anteil wieder, um sich vor dem Ersten Weltkrieg bei sieben bis acht Prozent einzupendeln. Vgl. die Übersicht in Daudin u. Morys, S. 10. 5 Minoprio, Börse, S. 3. 6 Loeffler. 7 Rede im Preußischen Abgeordnetenhaus, 11.11.1879, zit. n. Borchardt, Einleitung, S. 27. 8 Vgl. etwa Deutsche Tageszeitung, 13.9.1895. 9 Solano, S. 3. 10 Zum Begriff s. Einleitung. 11 Auf dem Tiefpunkt des Wirtschaftsabschwungs 1876/77 begannen denn auch, nach einer anfänglichen Phase der Untätigkeit und des Schleifenlassens, preußische Regierung und

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Mit diesem Wandel in der Bewertung der »ökonomischen Meinung« richtete sich der Blick zugleich auf jene Personen, die – wie es den Anschein hatte – berufsmäßig »ökonomische Meinung« machten: auf die Akteure des finanzjournalistischen Feldes, ihre Arbeitspraxis und berufsethische Einbettung. »Politisierung« heißt mit Blick auf den Finanzjournalismus damit zum einen, dass die »Spielregeln« des finanzjournalistischen Feldes öffentliche Bedeutung erlangten, und zum anderen, dass sich die redaktionell hergestellten und medial verbreiteten Inhalte des Finanzjournalismus als politisch erwiesen, da sie, so die zeitgenössische Vorstellung, auf die »ökonomische Meinung« und damit unmittelbar auf das Anlegerverhalten einwirkten. 1.1 Presseausschnitte und Finanzmarktwirklichkeit Die Zeiten seien längst vorbei, bemerkte der Verfasser eines 1901 erschienenen kaufmännischen Ratgebers, »wo der Geschäftsmann nichts weiter zu beachten für nötig hielt, als was in seinem Geschäftslokal« vorgehe. »Wer seinen Blick nicht in die Welt zu richten und den Zusammenhang der politischen und ökonomischen Erscheinungen mit den kleinen Vorkommnissen des alltäglichen Geschäftslebens zu verstehen gelernt hat«, werde schwerlich im Stande sein, »ein kaufmännisches Unternehmen selbständig mit Erfolg zu leiten.«12 In einer Zeit sich formierender Weltmärkte und rasanter ökonomischer Globalisierung, so suggerierten diese Zeilen, war ein Überblick über die Marktlage immer weniger aus der eigenen, erfahrbaren Lebenswelt zu gewinnen.13 Die Inhalte der Tagespresse, die Nachrichten der Handelsteile und Börsenrubriken erfuhren so zum Ausgang des 19. Jahrhunderts eine bis dahin ungekannte Beachtung, nicht nur durch professionelle und private Finanzakteure, sondern auch durch staatliche Behörden und Regierungsbeamte. Die Zeitung versprach Ordnung und Orientierung in einer immer unübersichtlicher werdenden Wirtschaftswelt.14 Zeitungslektüre als Modus der Welterschließung Nationalökonomen und praktische Kaufleute propagierten um 1900 allenthalben die Bedeutung der Presse für das Wirtschaftsleben und mit ihr die Pflicht eines jeden Marktteilnehmers zur Zeitungslektüre. Werner Sombart ließ in seinem Werk über den »Modernen Kapitalismus« keinen Zweifel daran, dass erst die Entstehung der Wirtschaftspresse im 19. Jahrhundert den Übergang vom Zeitalter des »Sonderwissens« zu dem des »Gesamtwissens« eingedeutsche Reichsleitung sich ernsthafter mit der Krise der Industriewirtschaft im Gefolge des Börsenkrachs zu befassen und »einige der aus ihr erwachsenen sozialen und politischen Probleme zu begreifen«, so Rosenberg, Depression, S. 125. 12 Minoprio, Weltbildung, S. 361 f. 13 Zum Bewusstsein der Zeitgenossen, in einer sich globalisierenden Welt zu leben, vgl. Conrad, S. 50 ff. 14 Zum Zeitungsauschnitt als »Papierobjekt der Moderne« vgl. Te Heesen.

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leitet habe. Jetzt erst, konstatierte er mit überbordendem Optimismus, falle auf die Märkte »das Licht eines vollendeten Wissens der Markteilnehmer; Käufer und Verkäufer sind über die Marktlage bestens unterrichtet.«15 Für den Ökonomen Max Roscher waren die Zeitungen der Gegenwart zu den Hauptvermittlern der wirtschaftlich relevanten Nachrichten geworden. »Sie bringen die Berichte über alle auf die Markt- und Preisverhältnisse einwirkenden Momente, über die Preise selbst nicht nur zur Kenntnis der Geschäftswelt, sondern jedermanns, bis in den einzelnen Haushalt hinein.«16 Dass Zeitungen über das Finanzmarktgeschehen nicht nur informierten und berichteten, sondern dieses gleichsam stimulierten und mit prägten, stellte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine überraschende Erkenntnis mehr dar. »Das Zünglein, das die Ziffer des Tageskurses anzeigt«, schrieb ein Handelsjournalist 1908, werde bewegt »von Angebot, Nachfrage und den Nachrichten«, die die Zeitungen in die Waagschalen der börsenmäßigen Kalkulation würfen.17 Die Anzahl Zeitungen, ihr Umfang und ihre Auflage wuchsen bis zur Jahrhundertwende kontinuierlich. Allein in Berlin, dem finanziellen Zentrum des Deutschen Reiches, erschienen um 1900 über dreißig Tageszeitungen, von denen zwar nicht alle über einen eigenen Handelsteil verfügten, die überwiegende Mehrheit jedoch zumindest telegrafische Handelsnachrichten und aktuelle Börsenkursmeldungen brachte. Reichsweit gab es zur selben Zeit rund vierzig auf das Börsen- und Finanzsegment spezialisierte Zeitungen bzw. Zeitschriften, von denen mindestens 25 ein Mal wöchentlich erschienen.18 Der Blick in den Handelsteil der Presse bildete einen festen Bestandteil der Alltagspraxis vieler Menschen. Gerade für Bankiers, Kaufleute und Unternehmer gehörte seine Lektüre zur beruflichen Routine. »Ohne eine richtige Kenntnis von den Vorgängen am Weltmarkt stellt sich die Thätigkeit des Geschäftsmannes als unmotiviert und nur vom Zufall geleitet dar«, warnte der aus einer Bankiersfamilie stammende Finanzschriftsteller Jonas Minoprio 1901. So stünden die Kosten für die Anschaffung einer Zeitung in keinem Verhältnis zu den »durch rechtzeitige Information über sich vorbereitende Konjunkturen und Preisbewegungen zu erreichenden Vorteilen.«19 Doch auch Privatanleger lenkten ihren Blick regelmäßig auf die Handelsspalten der Presse. Ebenso wie der Mann in der City, betonte Sombart, »morgens, mittags, abends, nachts – in den Vereinigten Staaten laufen die Depeschenbänder in den Clubs und Hotels die ganze Nacht ab – über die Marktlage in seiner Branche sowie über die allgemeine Wirtschaftslage unterrichtet« werde, so lese auch »der Gutsherr im fernen Winkel der Provinz 15 Sombart, Kapitalismus, Bd. 2.1 [1928], S. 411–418, und ders., Kapitalismus, Bd. 3.2 [1927] S. 643. 16 Roscher, S. 164 f. 17 Brunhuber, Zeitungswesen, S. 103 f. (H. d. V.) – Heute wird dies meist in der formelhaften Feststellung »news move markets« zusammengefasst, vgl. hierzu kritisch Schuster, Markets. 18 Zum Vergleich: Frankfurt und München besaßen 1902 jeweils acht solcher Blätter, Hamburg nur drei. Angaben nach Kürschner, Sp. 1422 f. 19 Minoprio, Weltbildung, S. 362.

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[…] beim Frühstück die Weizennotierungen an der Chikagoer Börse, die ihm seine Zeitung vermeldet«.20 Zugleich erwies sich die Presse durch ihre kostengünstige und massenhafte Bereitstellung wirtschaftlich relevanter Informationen als ein wirksames Medium der Vertrauensstiftung; wir haben dies bereits an anderer Stelle genauer sehen können.21 Dass Privatanleger seit den letzten Dekaden des 19. Jahr­ hunderts immer häufiger dazu bereit waren, ihre Ersparnisse in Länder zu investieren, über die sie wenig bis gar nichts wussten, schrieben Zeitgenossen auch der Vertrauen generierenden Wirkung der Presse zu. Lange Zeit habe es der »kleinere Kapitalist« vermieden, seine Ersparnisse in ausländischen Effekten anzulegen, »weil man mit den Verhältnissen der Emittenten nicht genau bekannt war und diese nothwendige Kenntniss bei ausländischen nicht hinreichend zu erlangen möglich sei.«22 All dies gehörte mit der telegrafischen Erschließung der Welt, der voranschreitenden Professionalisierung der Finanzberichterstattung und dem Ausbau des Handelsteils zum eigenständigen Zeitungsressort der Vergangenheit an. Durch das Medium »Zeitung«, so schien es vielen, war ein unverstellter Blick auf das Weltgeschehen zu gewinnen. Selbst in den deutschen Privathaushalten stieg das Sammeln, Ordnen und Archivieren von Zeitungssauschnitten zu einer weitverbreiteten und sich weiter verbreitenden Beschäftigung auf.23 »Es gibt wohl heute keinen im öffentlichen Leben stehenden Menschen, der nicht Zeitungsausschnitte sammelt bezw. den Segen solcher Sammlungen bei seinen Arbeiten empfunden hätte.«24 Dieses Ausschneiden, Neumontieren und Kompilieren von Zeitungsschnipseln  – bald auch schon künstlerische Ausdrucksform avantgardistischer Strömungen  – erkor ein deutscher Verleger zum Geschäftsprinzip seiner projektierten Zeitung, für die er 1913 beim preußischen Handelsministerium warb. Sie sollte  – unter dem Titel »Zeitung der Zeitungen«  – aus ca. 300 in 20 Sprachen erscheinenden Presseorganen ein tägliches Weltbild in kurzer übersichtlicher Form zusammenstellen. Leitend war dabei die Vorstellung, dass die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der Gegenwart nur noch von einem globalen Standpunkt aus beurteilt werden konnten. »Noch vor 25 Jahren war Europa das unbestrittene Zentrum der Erde, das ist anders geworden.« Ungeheure wirtschaftliche und politische Machtzentren hätten sich auf dem amerikanischen Kontinent und im Osten von Asien gebildet. »Wohin man sieht, bereiten sich Umwälzungen vor, die geeignet sind, von weitgehendem Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse ganzer Industriezweige, ganzer Handelsbranchen, ja auch das wirtschaftliche Leben ganzer Staaten zu werden.« Tausend feine Fäden verbänden die Länder und die 20 Sombart, Kapitalismus, Bd. 3.2 [1927], S. 650. 21 Vgl. Kap. II.1.1. 22 Zeitschrift für Kapital und Rente, Jg. 12, 1876, S. 714. 23 Vgl. Te Heesen, S. 63–98. 24 Volkwirtschaftliche Blätter, Nr. 4, 28.2.1911, S. 71.

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Kontinente heute wirtschaftlich miteinander. »Der Finanzmann, der Großkaufmann, der Großindustrielle, der Politiker, sie müssen die Augen offen halten, wenn sie nicht durch die Ereignisse überrascht werden wollen. Die sich vorbereitenden Dinge rechtzeitig zu erkennen, ist für alle im Wirtschaftsleben stehenden Kreise, für alle in verantwortlicher Stellung befindlichen Politiker heute mehr als je von größter Bedeutung.«25 Für Wirtschaftsführer wie Politiker, für den Geschäftsmann wie für den Privatanleger war der Zeitungsausschnitt in den Dekaden vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein unverzichtbares Mittel zur Erschließung ökonomischer Wirklichkeit. Sowohl Bankinstitute als auch die staatliche Verwaltung hatten sich hierauf einzustellen. Bankarchive In den zunehmend professioneller arbeitenden Groß- und Universalbanken des Kaiserreichs gewann die tägliche Auswertung der Presse eine kontinuierlich wachsende Bedeutung.26 Dies lässt sich anschaulich am Wandel ihrer inneren Organisationsstruktur verfolgen. Denn seit den 1880er Jahren richteten immer mehr Banken sogenannte »Archive« ein, die der Unternehmensleitung bei den täglich anfallenden Aufgaben zur Seite stehen sollten und in der Regel dem Direktorium einer Bank direkt angegliedert waren. Diese »Bankarchive« sind nicht mit historischen Unternehmensarchiven zu verwechseln, denn ihre Aufgabe bestand nicht darin, das für die Geschichte des Unternehmens relevante Material für die Zukunft zu bewahren. »Bankarchive« sammelten und bereiteten vielmehr laufend anfallende, open-source Information auf, die sie größtenteils aus der Presse schöpften, und machten diese für den täglichen Geschäftsbetrieb nutzbar. Sie arbeiteten »für die Gegenwart, für die Erfordernisse des Tages«.27 Ursprünglich hatte man es bei der Auswertung der Tagespresse gar nicht so sehr auf journalistische Inhalte abgesehen – diese rezipierten Bankiers anfangs, ganz den Lesegewohnheiten ihrer Zeit verhaftet, durch individuelle Zeitungslektüre einer einzigen oder auch mehrerer Leiborgane –, sondern auf die darin publizierten Geschäftsberichte und Bilanzen anderer Unternehmen. Banken wollten sich somit zunächst eine Wissensgrundlage schaffen, um auf Fragen ihrer Kundschaft nach investitionswürdigen Aktiengesellschaften antworten zu können.28 In den 1870er Jahren sammelte man noch unsystematisch und improvisiert. Bei der Deutschen Bank soll es zunächst Elise Siemens, die Frau des ersten Vorstandssprechers Georg Siemens, gewesen sein, die sich mit Schere und Kleber an den Zeitungen zu schaffen machte. Da der Siemens’sche Haushalt jedoch nur auf ein Blatt abonniert war, wandte sie sich »an ihre Bekannten mit der Bitte, von Zeit zu Zeit kommen zu dürfen, um aus den alten 25 Arthur Kirchhoff an Handelsminister von Sydow, 23.3.1904 nebst Denkschrift, Juli 1913, GStPK, I. HA., Rep. 120, A I 2, Nr. 7, Bl. 343 f. 26 Vgl. Te Heesen, S. 235–240. 27 Pfennig, S. 6 ff. 28 Dies vermutet zumindest Obst, S. 592.

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Blättern die Bilanzen auszuschneiden.«29 1886 richtete das Bankhaus dann eine eigene Abteilung zur Presseauswertung ein.30 Die Gegenspielerin der Deutschen Bank, die Disconto-Gesellschaft, durchlief in etwa derselben Zeit eine ähnliche organisationsstrukturelle Ausdifferenzierung. In jenen Jahren vervielfachten sich auch die Aufgaben des »Bankarchivs«. Es war nun nicht mehr nur mit der Anfertigung von Zeitungsausschnitten, der Verarbeitung, Auswertung und Aufbereitung des gesammelten Materials befasst, sondern half auch bei der Abfassung von Prospekten jener Unternehmen, die ihre Aktien durch das Bankhaus emittieren lassen wollten; es verfasste zudem Presseinformationen, die sogenannten »Waschzettel«31, knüpfte Kontakte zur Finanzpresse und nutzte diese als »Mittel der Marktpflege«.32 Damit stieg naturgemäß auch der Personalbedarf. Das Bankgeschäft S. Friedberg unterhielt zur Jahrhundertwende zwölf Beamte zur Führung der Presseregistratur, und Beobachter schrieben den Aufschwung des Hauses »hauptsächlich seinen Zeitungsausschnitten« zu.33 Das »Archiv« der Berliner Handelsgesellschaft beschäftigte 1903 lediglich zwei Mitarbeiter, 1912 waren es dagegen schon sieben. Die Sammeltätigkeit der Abteilung beinhaltete »eine systematische Auswertung des Reichsanzeigers und der maßgeblichen Börsenzeitungen hinsichtlich relevanter Bekanntmachungen, Berichte und Notizen. Sammelmappen, die zu bestimmten Themen bzw. für die einzelnen Unternehmen angelegt wurden, erleichterten im Bedarfsfall den Abruf der zusammengetragenen Informationen.«34 Arthur Friedrich, der ehemalige Chefarchivar der Nationalbank für Deutschland, beschrieb 1911 die Alltagspraxis in einem »Bankarchiv«: »Das Archiv ist ein großer Raum, in dem in mächtigen Regalen oder Schränken die vielen Tausend Akten aufbewahrt werden. Entweder liegen die Akten alphabetisch geordnet in den Regalen, oder sie sind mit fortlaufenden Nummern versehen und ein Katalog ermöglicht das sofortige Auffinden des gewünschten Aktenstücks. Eine ungeheure minutiöse Arbeit ist es, die im Archiv bewältig wird. So werden z. B. bei der Nationalbank für Deutschland wöchentlich über 5000 Zeitungsauschnitte hergestellt, die richtig in die betreffenden Aktenstücke eingeklebt sein wollen. Sehr wichtige Zeitungen, wie die Frankfurter, Berliner Börsen-Courier, Reichsanzeiger usw. werden außerdem in einem Exemplar besonders gesammelt und monatlich eingebunden.«35

Die Hauptaufgabe des Archivars sei es, fuhr Friedrich fort, »tagtäglich die wichtigsten Zeitungen Deutschlands (etwa 40) und einige des Auslandes durchzu­ sehen und der Direktion (bzw. den einzelnen Direktoren) alle interessierenden Notizen und Artikel vorzulegen.« Das Gleiche gelte für die Börsenblätter und 29 Müller, S. 160. 30 Ebd., S. 160 ff. 31 Siehe Kap. II.3.1. 32 Dahlem, S. 52 f., 62–64, 134 f.; vgl. auch Trier, S. 139 f. 33 Volkwirtschaftliche Blätter, Nr. 4, 28.2.1911, S. 71. 34 Ebd., S. 179, 182. 35 Friedrich, S. 234 f.

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wichtigen Zeitschriften. Zudem obliege dem Archivar der »Verkehr mit der Presse«. Dieser umfasse die Absendung und Anfertigung aller Mitteilungen der Direktion an die Presse. Alles in allem sei der Archivar somit »Direktionssekretär, volkswirtschaftlicher Syndikus, Statistiker, Bibliothekar, Propagandachef usw. in einer Person.«36 Bis zur Jahrhundertwende hatte sich das »Bankarchiv« schließlich zu einer zentralen Einrichtung im Bankbetrieb entwickelt, durch welche das Institut seine Interessen gegenüber Presse und Öffentlichkeit vertrat, durch welche aber auch die konkrete Geschäftspolitik einer Bank entscheidend flankiert wurde. Man sammle das Material nicht bloß »um zu wissen, was auf der Welt vorgeht«, bemerkte etwa Emil Prager, ein Wiener Bankbeamter, sondern »um im Wettkampfe mit den anderen Firmen einen leichteren Stand zu haben.« Jedermann müsse klar sein, dass Zeitungen, »richtig gewählt, gründlich und vernünftig gelesen«, viel dazu beitragen könnten, die Ziele der Banken zu fördern.37 Zeitungsauschnitte, zu Pressemappen zusammengestellt und den Bankdirektoren vorgelegt, hatten somit entscheidenden Anteil daran, wie ökonomische Entscheidungsträger finanzwirtschaftliches Geschehen wahrnahmen und wie sie ihr Handeln daraufhin ausrichteten.38 Behörden Ähnliches gilt für Entscheidungsträger aus Politik und Ministerialbürokratie. Auch in diesen Bereichen gewann die Auswertung der Presse unter den thematischen Gesichtspunkten von Börse und Finanzmarkt an Gewicht. Dies lag nicht zuletzt daran, dass kaum andere Informationskanäle und Medien zur Verfügung standen, um den Regierungsbehörden ähnlich fortlaufend und aktuell Mitteilungen über das Finanzmarktgeschehen zu liefern.39 Doch ging es nicht 36 Ebd., S. 235. 37 Prager, S. 277 f. 38 So machten Zeitungsausschnitte mithin Richtigstellungen im Sinne des Reichspressegesetzes § 11 nötig, die das »Archiv« verfasste und an die jeweilige Zeitung sandte, vgl. Pfennig, S.  14. Im HADB haben sich einige dieser Briefe erhalten, s. etwa Deutsche Bank an Frankfurter Zeitung (Cohnstaedt), 2.5.1899 und 4.5.1900, HADB, S 2070, sowie Antrag der Deutschen Bank beim Amtsgericht Berlin gegen den Berliner Börsen-Courier (Paul­ Bormann), 30.10.1882, HADB, S 4495, da die Richtigstellung nicht den Anforderungen des Reichspresse­gesetzes genügt habe. – Dies zeigt, dass Banken sich nicht nur aus dem praktischen Grund der Informationssammlung mit der Presse beschäftigten, sondern auch, weil sie Wert darauf legten, welches Bild diese von dem eigenen Unternehmen vermittelte und um dieses Bild, im Sinne einer Imagepflege, mitzugestalten. 39 Freilich stand das Handelsministerium in engem Schriftverkehr mit den Handels­kammern und Kaufmannskorporationen, die der Behörde überdies jährlich Berichte über den Fortgang des Handels und des Börsenverkehrs vorzulegen hatten, s. Kompe. Die Periodizität dieser Jahresberichte kündete allerdings noch von dem Tempo und den Bedürfnissen eines Zeitalters, das sich seit den 1880er Jahren seinem Ende zuneigte. – Auch andere Informationskanäle konnten die Presse als Nachrichtenlieferantin allenfalls ergänzen, nicht jedoch ersetzen: genannt seien schriftliche und face-to-face Kontakte mit der Finanzelite des

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nur um die Beobachtung und Speicherung jedermann zugänglichen Materials. Staatliche Stellen versuchten überdies, durch die Art der Zusammenstellung von Zeitungsausschnitten, durch ihre Aggregation, »ein geheimes Wissen zu produzieren und so einen Informationsvorteil zu erlangen«.40 Die preußische Ministerialbürokratie hatte den Vorgängen an der Berliner Börse zunächst wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Als Bismarck 1868 gegenüber Handelsminister Heinrich von Itzenplitz anregte, die Börse »nicht länger ohne organisierte Kontrolle zu lassen«, fand sein Vorschlag noch kein Gehör.41 Nach dem Börsenkrach von 1873 und der wirtschaftlichen Depression in seinem Gefolge begegnet eine solche Haltung seitens des Handelsministeriums nicht mehr. Der ökonomische Zusammenbruch formte die Wahrnehmung aller künftigen Börsenkrisen und hielt Behörden fortan zu einer sensibleren Beobachtung des Finanzmarktgeschehens an. Börsenkrisen stellten zwar kein neuartiges Phänomen dar, »in neuerer Zeit aber«, so schien es, »wiederholen sie sich in immer kürzeren Zwischenräumen«.42 Hinzu kam, dass die potentielle geografische Unbegrenztheit finanzökonomischer Krisen in Zeiten rasanter wirtschaftlicher Globalisierung verstärkt in das Bewusstsein von Politikern rückte. Dies lässt sich nicht zuletzt am Vokabular der Zeit ablesen. Neben ältere Begriffe wie »Handels­ krisis« und »Geldkrise« traten nun neue, auf die potentielle Unbegrenztheit dieser Phänomene abhebende Komposita wie »Weltkrisis«.43 So erwiesen sich nicht mehr nur Vorgänge nationaler Reichweite für die Berliner Ministerialbürokratie als beachtenswert, sondern auch das, was außerhalb der politischen Grenzen Preußens oder des Reiches geschah. In der handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, ebenso aber auch im preußischen Handelsministerium, dem Bismarck seit September 1880 neben seinen Ämtern als preußischer Ministerpräsident und deutscher Reichskanzler vorstand, begann man nun akribisch Zeitungsausschnitte über das finanzielle und ökonomische Geschehen im Ausland zu sammeln. Als im Januar 1882 ein schwerer Krach die Börsen von ­Paris und Lyon erschütterte, legte das Handelsministerium eine umfangreiche Sammlung von Presseartikeln an, durch die es die öffentliche Darstellung der Ereignisse in Frankreich verfolgte.44 Die Staatsbankrotte Portugals und Argentiniens zu Beginn der 1890er Jahre schlugen sich in den Behördenakten durch Unmengen an Zeitungsausschnitten nieder.45 Auch hier erzeugten

Landes, wie sie Reichskanzlei und Auswärtiges Amt, namentlich Bismarck, unterhielten, ebenso aber auch formelle Beziehungen zu den Staatsinstituten der Königlichen Seehandlung und der Reichsbank. 40 Te Heesen, S. 240. 41 Bismarck an Itzenplitz, 9.2.1868, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 28 adh.1; Antwortschreiben, 23.4.1868, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr.28 adh.1. 42 Deutscher Ökonomist, Nr. 490, 7.5.1892. 43 Vgl. Koselleck, S. 641 f. 44 Siehe GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 28, Bd. 2. 45 Siehe ebd., Bd. 6.

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Presse­ausschnitte, zumindest prima facie, Evidenz: Ihr Sammeln versprach schon der erste Schritt zur Krisenbeherrschung zu sein.46 Ein weiterer institutioneller Schwerpunkt der Presseauswertung in Finanzund Börsenangelegenheiten neben preußischem Handelsministerium und Auswärtigem Amt bildete sich infolge des Börsengesetzes von 1896, das die deutschen Börsen unter Staatsaufsicht stellte. Fortan waren an jeder Börse sogenannte »Börsen-Staatskommissare« als Organe der Landesregierung zu bestellen. In Berlin, dem wichtigsten deutschen Börsenplatz und dem einzigen, an dem gleich zwei Staatskommissare tätig waren, bekleidete Theodor Hempten­ macher das Amt des Ersten Staatskommissars.47 Aus den Unterlagen seines Büros in der Kaiser-Wilhelm-Straße 348, geht hervor, welchen Stellenwert die Presse in der täglichen Arbeitspraxis dieser Behörde besaß. Demnach war man dort auf zehn Tages- und Börsenzeitungen sowie drei Kursberichte abonniert. Die Auswahl aus den Berliner Blättern lässt zugleich erkennen, welche Hauptstadtzeitungen aus Behördensicht den Ton in der Finanzberichterstattung der Jahrhundertwende angaben. Liberale Blätter überwogen hier deutlich: es finden sich die Vossische Zeitung, das Berliner Tageblatt, der Berliner BörsenCourier sowie die nationalliberale Berliner Börsen-Zeitung. Vom rechten Spektrum waren die konservative Kreuzzeitung und die großagrarische Deutsche Tageszeitung vertreten, von den spezialisierten Zeitungen der Deutsche Ökonomist, der Berliner Actionair und die Bank- und Handelszeitung.49 Die einstmals in der Finanzberichterstattung überaus profilierte National-Zeitung fehlte, ihr Stern war zu diesem Zeitpunkt schon längst erloschen. Bei den außerhalb der Reichshauptstadt erscheinenden Zeitungen richtete sich das Hauptaugenmerk in erster Linie auf das Sonnemann’sche Blatt. »Ich messe den Artikeln der ›Frankfurter Zeitung‹ über finanzwirtschaftliche Fragen und Börsenverhältnisse den größten Wert bei und beginne mein Tagewerk regelmäßig mit deren Durchsicht«, äußerte Hemptenmacher gegenüber einem höheren Beamten des Handelsministeriums.50 Die Erschließung ökonomischer Wirklichkeit im Medium des Zeitungsauschnitts führte nicht zu einer lediglich passiven Rezeption derartiger me­ dialer Inhalte durch Behörden, sondern sie stieß ihrerseits Handlungen an und beeinflusste den Umgang der Ministerialbürokratie mit den Institutionen der Wirtschaft. Im Schriftverkehr zwischen Handelsministerium und den Handelskammern bzw. Kaufmannskorporationen bildeten Zeitungsartikel häufig den Dreh- und Angelpunkt der Konversation. Nachdem die Frankfurter Zeitung 46 Vgl. die kursorischen Überlegungen bei Te Heesen, S. 7–16. 47 Vgl. Schweitzer, Leitfaden, S. 25. 48 Heute Karl-Liebknecht-Straße. 49 »Verzeichnis der Zeitungen, die für das Bureau des Staatskommissars bei der Berliner Börse geliefert werden« [um 1903], GStA PK, I. HA Rep. 120, C XI 1 Nr. 2. 50 Hemptenmacher an Regierungsassessor Neumann, 17.11.1906, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 320.

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im April 1886 auf die »ungewöhnlich starke Übergründung« der SchwedischNorwegischen Eisenbahn-Gesellschaft hingewiesen hatte, deren Obligationen auch auf den deutschen Markt gelangen sollten, schaltete sich umgehend das Handelsministerium ein und ersuchte die Ältesten der Berliner Kaufmannschaft zu einer Stellungnahme.51 Im April 1888 erregte ein Artikel des in Berlin erscheinenden Deutschen Ökonomisten die Aufmerksamkeit der Behörden. Sein Verfasser hatte darin auf die Bonds der Georgia Company verwiesen, die im Februar 1888 in Deutschland durch M. A. Rothschild zur Ausgabe gelangt waren. Durch vielfache Änderung ihres Namens in der Vergangenheit, kritisierte der Verfasser, habe die nordamerikanische Eisenbahngesellschaft das Publikum über die tatsächlichen Risiken der Papiere im Unklaren lassen wollen.52 Diesmal forderte das Handelsministerium von der Frankfurt Handelskammer eine Klarstellung, die als Betreiberin der dortigen Börse die Zulassung dieses Papiers zum Handel zu verantworten gehabt hatte.53 Diese fiel denkbar harsch aus. Die Handelskammer wies alle Vorwürfe des Artikelschreibers zurück und attestierte ihm einen »ganz außergewöhnlichen Grad von Beschränktheit«. Das Publikum sei durch den Emissionsprosekt ausreichend über die Risiken der Bonds unterrichtet. Im Übrigen sei es nicht Aufgabe der Handelskammer, ein »Urteil über die Bonität derjenigen Effekten abzugeben, für welche die Notiz [an der Börse] nachgesucht wird«. An die Adresse des Berliner Ministeriums gewandt, warnte die Handelskammer schließlich: »Es hieße übrigens die durch den deutschen Handel und die deutsche Industrie errungene Stellung Deutschlands auf dem Weltmarkte gefährden, wenn die deutschen Börsen sich ängstlich gegen ausländische industrielle Unternehmungen abschließen wollten.«54 Für die zu einer liberalen, progressiven Anlagestrategie neigenden Handelskammer bildeten konservativ-mahnende Artikel, wie sie der Deutsche Ökonomist verfasste, nur ein unerwünschtes journalistisches Störfeuer beim zu fördernden Export deutschen Kapitals.55 Einfach ignorieren ließen sich solche journalistischen 51 Vgl. Älteste der Kaufmannschaft an Bismarck, 28.4.1886, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr.28 Bd. 4; Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 502. 52 Der Deutsche Ökonomist, 17.3.1888; auch die Frankfurter Zeitung hatte in ihren Ausgaben vom 8.2., 9.2. und 10.2.1888, Nr. 39, 40 und 44, auf die Risiken hingewiesen. 53 Handelsministerium an Handelskammer Frankfurt, 17.4.1888, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr.28, Bd. 4. 54 Handelsministerium an Handelskammer Frankfurt, 17.4.1888, und Antwortschreiben, 22.5.1888, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr.28, Bd. 4. 55 Für die deutschen Bondsbesitzer sollte es allerdings noch ein böses Erwachen geben. Im Juli 1892 ging die »Georgia Company« in die Insolvenz und ihre Papiere wurden wertlos. Als die Gläubiger der Gesellschaft daraufhin eine Schadensersatzklage gegen das Haus Rothschild anstrengten, berief sich die Verteidigung kurioserweise auf ebenjene Artikel der Presse, die zur Vorsicht gemahnt hatten: Sie hätten dem Besitzer das Risiko, das er beim Kauf zu gewärtigen gehabt habe, deutlich vor Augen geführt, vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 722. Für den Deutschen Ökonomisten, Nr. 575, 23.12.1893, handelte es sich bei dieser Angelegenheit, wie er später bemerkte, »um das Empörendste, was auf dem Gebiet des Emissionswesens geleistet« worden sei.

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Aussagen allerdings nicht mehr. Immer häufiger musste die Frankfurter Handelskammer gegenüber den Berliner Behörden die Inhalte ihrer Ansicht nach überzogen warnender Artikel relativieren oder zurückweisen. Es lässt sich damit seit den 1880er Jahren verstärkt beobachten, wie traditionelle Einrichtungen des Wirtschaftssektors (Kammern und Korporationen) mit journalistischen Akteuren hinsichtlich der Deutung finanzökonomischen Geschehens in Konflikt gerieten. Eine tragende Rolle in diesen Deutungsmachtkonflikten fiel dabei nicht selten dem Deutschen Ökonomist zu, einer in Berlin erscheinenden »Wochenschrift für finanzielle und volkswirthschaftliche Angelegenheiten«, wie es im Untertitel hieß. Das Blatt war Ende Dezember 1882 von Wilhelm Christians (1842-nach 1914), einem ehemaligen Bankbeamten, gegründet worden und hielt sich, später unter der Leitung von Christians’ Schwager, Robert Franz, bis 1935 auf dem Markt.56 Christians war zum Zeitpunkt seiner Zeitungsgründung in journalistischen und finanziellen Kreisen kein Unbekannter: Als ehemaliger Bankangestellter dürfte er bereits über Kontakte in die Finanzwelt verfügt haben, für die Berliner Börsen-Zeitung hatte er regelmäßig Artikel geschrieben.57 Auf die Handelskammer zu Frankfurt wirkte die Berichterstattung des Deutschen Ökonomisten bald schon enervierend, zumal sie aus Berlin immer wieder zu Stellungnahmen hinsichtlich der dort erhobenen Kritik aufgefordert wurde. In ihren Augen handelte es sich schlicht um Polemik, der keinerlei Bedeutung beizumessen sei.58 Dem Handelsministerium suchte man zu suggerieren, dass das Blatt weder über Kompetenz noch über Einfluss verfüge. Als das Frankfurter Journal im November 1888 über einen Rechtsstreit zwischen Christians und der Weimarer Bank berichtete, der sich um Veröffentlichungen im Deutschen Ökonomisten drehte, sandte die Handelskammer den Artikel sogleich befriedigt nach Berlin und frohlockte: »Wenn aus dem Umstande, dass bereits mehrfach Artikel des in Berlin erscheinenden finanziellen Blattes ›Der deutsche Ökonomist‹ Veranlassung boten, uns zu Berichten über Emissionen an hiesiger Börse aufzufordern – geschlossen werden darf, dass genanntes Blatt in maßgebenden Kreise eines gewissen Ansehens genießt«, so beweise die beiliegende Bekanntmachung das Gegenteil.59 In einem anderen 56 Zur Geschichte des »Deutschen Ökonomisten« liegen nur sehr spärliche Informationen vor; Jubiläumsartikel hat das Blatt selbst keine publiziert, zum 25-jährigen Bestehen rückte man nur einen kurzen Dank an die Leser in das Blatt (s. Ausgabe vom 1.1.1908). Im Landesarchiv Berlin ist die Akte des Handelsregisters Charlottenburg zu »Wilhelm Christans Zeitungsverlag« überliefert, LAB, A Rep. 342–02, Nr. 39770. 57 Schon 1872 war Christians mit der Herausgabe des »Effektenkalenders für die Berliner Börse« publizistisch in Erscheinung getreten. Zur selben Zeit veröffentlichte er einen Bankratgeber, der mehrere Auflagen erleben sollte, s. Christians. Seit 1880 war er Herausgeber von Christians Deutschen Börsenpapieren, einer Übersicht über Personal- und Finanzverhältnisse der deutschen und ausländischen Aktiengesellschaften. 58 Handelskammer Frankfurt an Handelsministerium, 22.5.1888, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr.28, Bd. 4. 59 Handelskammer Frankfurt an Handelsminister, 3.11.1888, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr.28, Bd. 4; Frankfurter Journal, Nr. 816, 1.11.1888.

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Fall, in dem die Handelskammer nicht mit einer Forderung Karl Wagners, des Herausgebers des Aktionärs, konform ging, suchte man gegenüber Berlin – in diesem Fall nicht ganz zu Unrecht – die Bedeutung des Blattes herunterzuspielen, indem man nicht unerwähnt ließ, dass es »nur noch in kleiner Auflage« erscheine, und zugleich die Integrität seines Chefs anzweifelte, der einer der »bedeutendsten Bauspekulanten« Frankfurts sei.60 Derartige Angriffe auf die Deutungsmacht der Presse brachten ihrerseits die Berliner Ministerialbürokratie dazu, sich näher mit den Akteuren des finanzjournalistischen Feldes zu befassen. Im November 1888 wandte Bismarck sich an den Berliner Polizeipräsidenten, Bernhard von Richthofen, und verlangte Auskunft über die Stellung, die der Deutsche Ökonomist »in der Börsenpresse einnimmt und namentlich auch darüber, ob [er] mit Fachkenntnis geleitet wird und unabhängig ist.«61 Der Bericht des Polizeipräsidiums ergab ein zwiespältiges Bild. Zum einen leite der Herausgeber Wilhelm Christians das Blatt mit Fachkenntnis und erfreue sich eines guten Rufes. Zum anderen könne der Deutsche Ökonomist nicht als unabhängiges Blatt angesehen werden. »Die Wochenschrift wird von der ›Deutschen Bank‹ subventioniert und vertritt in erster Linie deren Interessen, indem sie alle Bankoperationen dieses Finanzinstituts unterstützt.«62 Dieses Urteil hielt das Handelsministerium auch künftig nicht davon ab, Artikel des Deutschen Ökonomisten aufmerksam zu verfolgen und wirtschaftliche Einrichtungen im Zweifelsfall um eine Stellungnahme zu ersuchen. Spekulationsgefahr als Medieninszenierung? Der Blick auf die ökonomische Wirklichkeit durch das Medium des Zeitungsausschnitts zeitigte noch weitere Folgen. Ökonomisches Geschehen gelangte zu einem beträchtlichen Teil überhaupt erst durch Zeitungslektüre in den Gesichtskreis von Beamten und Politikern. Wirtschaftliche Themen bezogen ihre Relevanz und Dringlichkeit nicht zuletzt aus dem Umstand, dass sie zu Gegenständen medialer Berichterstattung wurden: Die Presse problematisierte sie und setzte sie so zuweilen auf die Tagesordnung politischen Handelns. Dies bedeutet nicht, dass Zeitungen, einer Reiz-Reaktions-Wirkung gleich, bestimmten, was politische Entscheidungsträger dachten, doch sie prägten in hohem Maße das, worüber jene sich Gedanken machten.63 Dies lässt sich gut an der öffentlichen Debatte um den spekulativen Handel an den Börsen ablesen. Zeitgenossen fassten hierunter sogenannte »Zeit-«, »Termin-« oder »Differenzgeschäfte«, bei denen Markteilnehmer auf steigende oder 60 Handelskammer Frankfurt an Handelsminister, 23.6.1886, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr.28, Bd. 4. 61 Bismarck an Richthofen, 14.11.1888, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr.28 Bd. 4. 62 Bericht des Polizei-Präsidiums, 27.11.1888, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr.28 Bd. 4. 63 Ich lehne mich hier an die in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung entwickelte »Agenda-Setting-Theorie« an, vgl. Bonfadelli u. Friemel, S. 181–195.

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fallende Kurse eines Wertpapieres oder den Preis einer Ware setzten.64 »Spekulation« rückte so in die Nähe des Glückspiels, für viele eine verwerfliche Tätigkeit.65 Wer den Begriff im Mund führte, tat dies zumeist pejorativ und in der Absicht moralischer Disqualifizierung. Dabei war allerdings keineswegs unumstritten, was im Einzelfall unter »Spekulation« zu verstehen sei. Dass sich ein Geschäft auf eine in der Zukunft eintretende Entwicklung ausrichtete, war dabei allein noch keine hinreichende Bedingung. Auch die innere Einstellung des Käufers bzw. Verkäufers zum Geschäft spielte eine Rolle. Denn auch ein Müller, der Weizen zu einem im Voraus festgelegten Preis einkaufte, um es später zu verarbeiten, tat dies mithilfe von Terminkontrakten, ohne dass man ihn deshalb des »Börsenspiels« gezeiht hätte.66 Jene Berufsspekulanten allerdings, verächtlich »Jobber« genannt, »welche nur kaufen, um zu verkaufen, unbekümmert um den inneren Wert der Waare, sogar im Bewußtsein des schwindelhaften Preises[,] aber in der Hoffnung, immer noch mit neuem Gewinn den Besitz einem dritten aufzuladen«,  – auf diese Markteilnehmer richtete sich der Argwohn politischer und weiter gesellschaftlicher Kreise.67 So suchten denn auch die vielen Börsen- und Anlageratgeber der Zeit  – auch um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, eine unmoralische Tätigkeit zu propagieren – eine vermeintlich scharfe Trennlinie zwischen nützlicher Spekulation und bloßem Glücksspiel zu ziehen. »Nicht etwa, dass eine wohl begründete, auf guter Basis beruhende Spekulation zu verwerfen wäre«, hieß es 1889 in einer dieser Schriften. »[D]as Spiel aber, das reine Börsenspiel, ist sicherlich zu verdammen und Jedermann zu widerrathen, am meisten aber denen, welche nicht täglich die Börse besuchen und die Finessen des Handels nicht genau kennen.«68 Worin allerdings der genaue Unterschied zwischen jener »wohl begründeten« Spekulation und dem »reinen Börsenspiel« lag, vermochte der Ratgeber nicht zu benennen. Generell räumte man der Spekulation somit zwar auch ihre Daseinsberechtigung ein, wollte sie jedoch ausschließlich einem überschaubaren Kreis versierter Markteilnehmer vorbehalten wissen. Als Betätigungsfeld des breiten Publikums – der »kapitallosen Spekulanten«, wie Weber sie nannte69 – schienen 64 Aufschluss über die historische Semantik der im Börsenverkehr vorkommenden Ausdrücke gibt die »Terminologie des Effekten und Geldverkehrs«, die die Zeitschrift für Kapital und Rente, Jg. 10, 1874, S. 537–586, veröffentlicht hat. 65 Vgl. Engel. – Durch die symbolträchtige Zerschlagung der Rheinischen Spielkasinos 1872 statuierte auch die Reichsleitung ein Exempel und zementierte damit die moralische Unterscheidung zwischen industriellem und finanziellem bzw. produktivem und parasitärem Kapitalismus, vgl. Carter. 66 Dies betont Weber, Börse II, S. 629 ff. – Auch in dieser Zeit begegnet bereits die Vorstellung des Terminmarkts als Versicherung, s. Borchardt, Einleitung, S.  47, und Hamburgischer Correspondent, Nr. 93, 3.4.1889, S. 3: »Das Termingeschäft gewährt dem Großhandel die Möglichkeit, durch Abschlüsse auf spätere Lieferungstermine sich annehmbare Preise für zu erwartende Waare zu sichern und dadurch das geschäftliche Risiko zu verringern.« 67 Vossische Zeitung, Nr. 460, 2.10.1889. 68 Kalisch, Börse [1889], S. 66 f. 69 Weber, Börse II, S. 654.

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derartige Geschäfte gänzlich unangemessen. Ob berechtigte Spekulation oder frevelhaftes Glücksspiel – das war für Zeitgenossen zumeist nur mit Blick auf die daran beteiligten Personen zu bestimmen, mit Blick auf ihre soziale Lage und den Grad ihrer Versiertheit.70 »Spekulation« blieb damit stets ein schillernder Begriff, um dessen Definition öffentlich gestritten wurde. Er markierte zugleich einen Kampfbegriff, der von Katholiken, Deutschkonservativen, seit den 1890er Jahren von der »Neuen Rechten«, bevorzugt ins Feld geführt wurde, um die Institution Börse als Ganze zu diskreditieren.71 Solange sich das Spekulationsgeschäft allerdings, wie in den Jahren nach dem Krach, in engen Grenzen hielt, sowohl was sein Volumen als auch die Zahl seiner Beteiligten anbelangte, und sich überdies keine gefährlichen Spekulationsblasen bemerkbar machten, sah die Regierung keinen konkreten Anlass gegeben, auf diesem Feld einzuschreiten. Dies änderte sich jedoch seit der Mitte der 1880er Jahre, augenfällig 1889, als die vormals matte Stimmung an den deutschen Börsen einer zunehmend euphorischen wich und immer mehr Kleinanleger erfasste. »Exotische« Rentenpapiere, die mehr Rendite versprachen als deutsche Reichsanleihen, darunter die Griechenlands, Mexikos und Argentiniens, erfreuten sich reißenden Absatzes; deutsche Montanaktien erlebten eine »geradezu wilde Preissteigerung«, die von dem im Mai 1889 unerwartet ausgebrochenen Arbeiterstreik im Ruhrrevier nur noch angefacht wurde; Zirkulare und Inserate steigerten diese Fieberhitze weiter, versprachen Kursstände von 300, 400 und 500 Prozent.72 Die Presse verfolgte das Finanzmarktgeschehen mit Argusaugen. Renommierte Tageszeitungen und Fachjournale machten immer wieder auf die ungesunde Entwicklung aufmerksam und griffen dabei auf das Deutungsmuster der Überspekulation zurück, die  – so schienen die Erfahrungen der Vergangenheit zu lehren – unweigerlich in einen Krach und eine schweren Krise münden müsse.73 Die Spekulation in Rentenpapieren habe »alles Maß überschritten«, warnte etwa die konservative Kreuzzeitung im Dezember 1886 und malte dabei das Gespenst einer »tollen Emissions- und Gründungsära« an die Wand, »welche die Zeit des ›Gründer-Schwindels‹ erreichen, vielleicht gar übertreffen wird.« Wenn das Publikum nicht größte Vorsicht und Zurückhaltung walten lasse, dann gehe man einer »gefährlichen Krisis« entgegen.74 Die befürchtete Krise blieb allerdings in den kommenden Jahren aus. Dennoch erlahmten 70 Dieses Denkmuster mitsamt seiner gesellschaftspolitischen Implikationen, wonach Laien durch moralisch begründete Restriktionen vom Börsengeschäft möglichst fern gehalten werden sollten, ist von besonderer Bedeutung und wird uns im Zusammenhang mit der Börsengesetzgebung (1892–1896) noch begegnen. 71 Vgl. Borchardt, Einleitung, S. 11–17. 72 Vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 537–546. 73 Der seinerzeit stark rezipierte Ökonom und Journalist Max Wirth hatte diese Deutung (»hochfluthende Speculation«) bereits für den Börsenkrach von 1873 angeboten, Wirth, Handelskrisen [1874], S. XXII. Ähnlich auch Neuwirth, der bezeichnenderweise von einer »Spekulationskrisis« sprach. 74 Kreuzzeitung, Nr. 285, 5.12.1886.

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die tonangebenden politischen Tageszeitungen des Landes nicht in ihrem Eifer, das Publikum zu warnen, ja, ihm bisweilen ganz vom Börsengeschäft abzuraten. Der Gründerkrach hatte auch die Akteure des finanzjournalistischen Feldes sensibilisiert. So startete die Frankfurter Zeitung im Februar 1889 eine Artikelserie unter der Frage »Wohin steuert die Börse?«.75 Ihre Kritik richtete sich dabei nicht auf die Börse per se, sondern auf eine Handvoll Bankhäuser, die zu Hauf Industrieaktien auf den Markt würfen und diese mit immer höherem Agio an ein unwissendes Laienpublikum verkauften. In der Redaktion der Frankfurter Zeitung ahnte man schon, dass, »[w]enn eines Tages der Zusammenbruch des Agio-Treibens gekommen sein wird, dann wird man zweifellos auch wieder den ›Giftbaum‹ dafür verantwortlich machen wollen.« Man könne sich gut ausmalen, wie heftig die konservative und agrarische Presse gegen die Börse, das Zeitgeschäft und gegen die Juden losziehen werde.76 Polemisch ging die Kreuzzeitung vor. Das Blatt wetterte gegen den »Glückstempel in der Burgstraße«, der »unermeßliches Elend in die Familien trage und das Erwerbsleben wieder auf Jahre hinaus zurückwerfen müsse.«77 Einmal war von amerikanischen Eisenbahnobligationen die Rede, die, von deutschen Kleinanlegern gekauft, im Reich kursierten und »das Traurigste« befürchten ließen78; ein anderes Mal waren es die heimischen Zustände auf dem Hütten- und Bergwerksaktienmarkt, die zur Sorge Anlass gaben. »Die öffentlichen Börsen dürfen keine öffentlichen Spielhöllen werden, in denen das Mark des Landes durch gewissenlose Capitalverwalter mit Hülfe von gefälligen Vermittlern vergeudet wird«, forderte die Kölnische Zeitung mit Blick auf diese Entwicklung.79 Mit ihren zahlreichen, im Tenor teils behutsam warnenden, teils schrill alarmierenden Artikeln hatten Tages- und Finanzzeitungen bedeutenden Anteil an der (Re-)Problematisierung der »Börsenspekulation« und setzten das Thema dadurch erneut auf die politische Agenda, ohne dabei freilich in ihren Lösungsansätzen übereinzustimmen. Das preußische Handelsministerium sei75 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 539. 76 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 541. – Zwar gab es auch unter den konservativen Zeitungen Organe, die die Börse nicht per se ablehnten, dem Terminhandel in seiner damaligen Form allerdings zutiefst kritisch gegenüber standen. Die Kreuzzeitung z. B. sah einen klaren Zusammenhang zwischen Zeitgeschäften und (vermeintlich künstlich herbeigeführten) Kursschwankungen: »Das rapide Auf- und Niederschwanken der Preise, das Steigen bis zu einer bedeutenden Höhe in dem einen Monat, und das Fallen derselben bis auf ein früher nie gekanntes Niveau im anderen, sind wesentliche Folgen des Einflusses der Termin-Börsen. Hier richten sie ja Käufe nicht mehr nach einem wirtschaftlichen Angebot und Nachfrage, sondern lediglich nach der ›Meinung!‹.« (Nr. 301, 24.12.1886). 77 Kreuzzeitung, 2.10.1889. 78 So die Deutsche Volkswirthschaftliche Correspondenz, Nr. 43, 4.6.1889. – Der preußische Handelsminister nötigte die Ältesten der Kaufmannschaft, wie so häufig, sich zu diesem Artikel zu äußern (Schreiben vom 18.6.1889); sie taten dies in einem längeren Bericht, der den Äußerungen des Artikels Vieles von ihrer Bedrohlichkeit zu nehmen suchte (Bericht vom 1.7.1889), GStA PK, I. HA, Rep. 120, C IX 1, Nr. 28, Bd. 5. 79 Kölnische Zeitung, Nr. 275, 4.10.1889.

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nerseits verfolgte die besorgniserregenden Äußerungen der Presse genau. Unter dem Schlagwort »Spekulation« angefertigte Zeitungsausschnitte füllten seit 1888 ganze Aktenbände.80 Die mediale Berichterstattung stand dabei nicht selten in auffälligem Gegensatz zu jener eher optimistischen Sichtweise auf das Finanzmarktgeschehen, die Großbanken, selbst eifrige Emittenten von Industrieaktien, verbreiteten. In ihrem Geschäftsbericht für 1889 sprach die Disconto-Gesellschaft beschönigend von einer »lebhaften Bewegung« im Effektenverkehr. Zwar ließ sie die »übertriebene Steigerung« der Bergwerks- und Hüttenaktien nicht unerwähnt, sah diese jedoch als Folge der Arbeiterstreiks in den Kohlenbergwerken, die den »regelmässigen Aufschwung der Industrie« unterbrochen hätten.81 Konservative politische Entscheidungsträger neigten ihrerseits – nicht immer ohne Kalkül – eher dem pessimistischeren Szenario zu und sahen Handlungsbedarf gegeben. So erreichte Handelsminister Bismarck unter dem 10.  Oktober 1889 ein Schreiben des stellvertretenden Düsseldorfer Regierungspräsidenten, Gustav Königs, das die Börsenzustände des Landes scharf geißelte. »Der wirtschaftliche Aufschwung, welcher sich im Laufe dieses Jahres kräftig entwickelt hat«, hieß es darin einleitend, »ist leider von ähnlichen Erscheinungen begleitet wie die sogenannte Gründerzeit von 1871 bis 1873«. Das Kennzeichen beider Perioden sei »die Sucht nach mühelosem, leichtem Gewinn«. Die »Besitzenden wenden sich dem Börsenspiel zu, beteiligen sich an Gründung von Aktien-Gesellschaften, huldigen einem übertriebenen Luxus, die Arbeiter erstreben Abkürzung der Arbeitszeit und Lohn-Erhöhungen, nötigenfalls durch Arbeitseinstellungen und vergeuden den erhöhten Lohn in Festlichkeiten und im Wirtshaus.« Ihre eigentlichen Orgien jedoch feiere die Gewinnsucht an der Börse, spitzte Königs seine Diagnose zu. Insbesondere die Zeit- und Differenzgeschäfte erregten hierbei das Missfallen des Regierungsbeamten. Sie seien »moralisch von anderen Glückspielen nicht zu unterscheiden«; wirtschaftlich sei das Börsenspiel gefährlicher als das gewöhnliche Hazardspiel, »weil es die Wertschätzung der ehrlichen Arbeit« herabsetze.82 Wie war Königs zu dieser Lagebeurteilung gelangt? Als rechte Hand des Düsseldorfer Regierungspräsidenten und späteren Handelsministers von Berlepsch war Königs zwar mit dem Geschehen an den Börsen der Rheinprovinz, vor allem aber mit den zuvor erwähnten Arbeiterunruhen im Bergbau aus eigener Anschauung und persönlicher Erfahrung wohlvertraut.83 Sein Urteil über die Börsenzustände des Landes stützte sich allerdings nicht allein, vielleicht nicht einmal primär, auf diese lebensweltliche Grundlage. Denn Schauplatz jener düster gezeichneten »Orgien« bildete zuerst und vor allem die ferne Berliner Börse, und was sich dort vermeintlich abspielte, dürfte der Regierungsbeamte 80 Vgl. etwa GStA PK, I. HA, Rep. 120, C IX 1, Nr. 28, Bd. 5 und 6.  81 Disconto-Gesellschaft, Geschäftsbericht (1890), S. 6. 82 Königs an Handelsminister, 10.10.1889, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C IX 1, Nr. 28, Bd. 5. 83 Vgl. DBA, Teil 1, Fiche 683, S. 235. – Berlepsch fungierte in seiner Funktion des Oberpräsidenten der Rheinprovinz als Verhandlungsführer während eines Bergarbeiterstreiks.

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eher der Presse bzw. den ihm vorgelegten Pressemappen entnommen haben. Dies be­deutet nicht, dass Königs in seiner Meinung gänzlich von Zeitungen gelenkt worden wäre, deren Stimmen ja selbst nicht konsonant waren. Wohl aber mochte in ihm eine vage Ahnung oder lange kultivierte Aversion gegen die Börsenzustände durch (selektive) Presselektüre ihre Bestätigung erhalten haben. Vor allem ein Leitartikel in der Vossischen Zeitung unter dem Titel »Das Börsenspiel« hatte bleibenden Eindruck bei Königs hinterlassen. Von »tollsten Kurstreibereien« konnte man dort lesen, von »waghalsigen Jobbern« und »Bacchanalien der Selbstsucht«. Jeder wisse, »daß der Krach kommen wird«, hieß es bedrohlich.84 Während das liberale Blatt nun allerdings die Börsenbetreiber in der Pflicht sah, Abhilfe zu schaffen und vor einer »Bevormundung der Börse durch den Staat« warnte, zielten die von Königs ins Spiel gebrachten Maßnahmen genau in diese Richtung: Eine Verschärfung der Börsen-Ordnung schien für den Beamten »aufs dringendste« angeraten. Vor allem sollten Personen von der Börse ausgeschlossen werden, die »gewerbsmäßig Differenzgeschäfte« betrieben. Solche »Gegenmaßregeln gegen das Börsenspiel« seien nicht nur aus allgemein wirtschaftlichen Gründen, sondern »auch in Hinblick auf die bevorstehenden Reichstagswahlen von größter Wichtigkeit«.85 Bismarck griff diese Anregung gerne auf. Er mochte auch selbst schon seit längerer Zeit auf einen passenden Moment gewartet haben, die deutschen Börsen unter staatliche Aufsicht zu stellen. Im Verlauf der 1880er Jahre war seine Einstellung gegenüber der Effektenbörse generell, aber auch gegenüber den Waren-Terminmarkt in seiner bestehenden Form zunehmend skeptischer geworden.86 Schon 1885 war er mit der Einführung einer Börsensteuer agrarisch-konservativen Forderungen entgegen gekommen  – aus der Sicht dieser Kreise gingen jene Maßnahmen freilich nicht weit genug.87 Nun, im Herbst 1889, schien die Gelegenheit, schärfere Maßnahmen durchzusetzen, günstig. Die konservative, ultramontane und großagrarische Presse hatte ein ausgesprochen börsenfeindliches Klima verbreitet. Liberale und gemäßigte Zeitungen, obschon einer freien Entwicklung des Börsenverkehrs prinzipiell positiv gegenüberstehend, hatten ihrerseits mit Kritik an dem Finanzmarktgeschehen nicht gespart, das sie als schädliche Überhitzung und gefährliche Überspekulation deuteten. Die »öffentliche Meinung«, wie sie Politiker in der Tagespresse zu erkennen glaubten, schrie zur Jahreswende 1889/90 förmlich nach einem Einschreiten. Am 13. November 1889

84 Vossische Zeitung, Nr. 460, 2.10.1889. 85 Königs an Handelsminister, 10.10.1889, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C IX 1, Nr. 28, Bd. 5. 86 Bismarck schien dabei seine persönliche Einstellung dem zunehmend negativen Bild der Börse in der deutschen Öffentlichkeit angepasst zu haben. 1889 verhinderte er die Einrichtung einer Kammzugbörse in Berlin, vgl. Borchardt, Einleitung, S. 26 f., 59 f. – Zum Wandel in den wirtschaftspolitischen Vorstellungen Bismarcks, allerdings ohne explizite Berücksichtigung der Börsenpolitik, siehe Henning, Wandel. 87 Die Agrarier forderten den Erlass eines Gesetzes, das die Börse unter staatliche Aufsicht stellen sollte, vgl. Borchardt, Einleitung, S. 57.

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ließ Bismarck Reichsinnenminister Karl von Boetticher mitteilen, er sei mit der Tendenz der von Königs »angeregten Fragen in Betreff des Terminhandels und des Börsenspiels im Allgemeinen einverstanden«. Allerdings sollten »dergleichen Maßregeln nicht plötzlich durch amtliches Verfahren zur Erledigung gebracht, sondern erst in der Presse eingeleitet werden.« So wollte Bismarck sich des Rückhalts in der Öffentlichkeit versichern. Ohne solche vorbereitenden Maßnahmen  – »Probegefechte«, wie der Reichskanzler sich ausdrückte  – wolle er in der Sache nicht vorgehen. Doch werde es nicht schwer fallen, einen Meinungsaustausch in der Presse über den Terminhandel herbeizuführen, »die Blätter verschiedenster Richtung werden auf diesen Köder gern anbeißen.«88 Dieses Vorgehen war typisch für Bismarck. So wie die Presse maßgeblich daran beteiligt war, Vorgänge auf dem Finanzsektor zu problematisieren und in der Folge Handlungen der Politik anzustoßen, so diente sie Bismarck im Gegenzug dazu, angedachte Handlungen auf ihre Popularität hin zu prüfen. Stets ging es darum, gouvernementale Entscheidungen mit der öffentlichen Stimmung in Deutschland in Einklang zu bringen: Die Presse diente dabei als ihr Barometer und zugleich als das Instrument ihrer Lenkung.89 In der Presseabteilung der Reichskanzlei begann man sogleich, einen entsprechenden Artikel auszuarbeiten. Dieser sollte, getarnt platziert in einer vielgelesenen Tageszeitung, den Startschuss für die öffentliche Debatte über die Zukunft der Börse geben. Als Grundlage diente seinem Verfasser das Schreiben des Düsseldorfer Regierungsbeamten, aus dem ganze Passagen Eingang in den Entwurf fanden. Anfang Dezember 1889 lag der Text vor. »Falls nicht alle An­zeichen trügen, so bereitet sich eine Wiederholung der sogenannten Gründerjahre vor, ja wir stehen bereits mitten in derselben«, hieß es darin düster. »Alle Erscheinungen, welche den wirtschaftlichen Aufschwung in jenen Jahren begleiteten, treten auch jetzt unverkennbar hervor. Die Sucht nach mühelosem Gewinn, verbunden mit stetig zunehmendem Luxus«, übernahm man fast wörtlich aus dem Düsseldorfer Schreiben, »ist das charakteristische Zeichen der damaligen wie der heutigen Zeit.« Die Gründerperiode vom Beginn der 1870er Jahre und ihr furioses Ende im Krach vom Herbst 1873 – traumatische Erfahrungen, die sich fest im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung verankert hatten  – dienten Bismarck als ein willkommenes Schreckensbild und als Argument, um ein hartes Durchgreifen gegen die »Ausschreitungen« an den Börsen in den Jahren seit 1889 zu legitimieren. Denn dass diesen ein »mit schweren Nachteilen für unsere gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse verbundene[r] Rückschlag folgen wird, kann nicht in Zweifel gezogen werden.« Die Börsenbetreiber zeigten allerdings keine Absicht einzuschreiten und das Publikum vor Verlusten zu schützen. Aufgrund dieser Untätigkeit musste die Regierung, so

88 Brauer an Rottenburg, 13.11.1889, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C IX 1, Nr. 28, Bd. 5. 89 Siehe ausführlich Kap.  III.1.2 sowie den Überblick bei Sösemann, Publizistik und ders., Presse.

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suggerierte man, das Heft des Handelns an sich reißen und »dem allgemeinen Drängen auf Verschärfung der Staatsaufsicht über die Börsen« nachgeben.90 Die folgenden sechs Jahre sollten, wenngleich ohne den Ruheständler Bismarck, im Zeichen des Ringens um ein Börsengesetz stehen, das der Reichstag schließlich im Sommer 1896 verabschiedete. Es wird an anderer Stelle noch darauf zurückzukommen sein. Bis hierhin gilt resümierend die eminent wichtige Bedeutung zu unterstreichen, welche die Presselektüre in der Politisierungsphase des Finanzjournalismus für die Wahrnehmung ökonomischer Wirklichkeit durch politische Entscheidungsträger und für die Handlungskonsequenzen, die diese daraus zogen, erhalten hatte. Damit rückt zugleich die »ökonomische Meinung« als Faktor und Fluchtpunkt politischen Handelns in den Blick. Betrachten wir im Folgenden genauer, wie Bismarck und die ihm folgenden Kabinette auf das wirtschaftliche Meinen durch pressepolitische Maßnahmen Einfluss zu gewinnen suchten. 1.2 Pressepolitik: Bismarck und die Entdeckung der »ökonomischen Meinung« Die »ökonomische Meinung« lag solange außerhalb des Gesichtskreises staatlicher Behörden und Entscheidungsträger, wie das Ökonomische selbst, der Devise laissez faire, laissez aller getreu, der privaten Sphäre zugerechnet und daher nicht als dem Regelungsbereich der Politik zugehörig erachtet wurde. Mit der Politisierung des Ökonomischen zum Ausgang der 1870er Jahre zogen auch Praktiken privater Kapitalanlage das Interesse von Politikern und Regierungsvertretern auf sich. Die »ökonomische Meinung« musste sich damit als ein Feld erweisen, das nicht nur einer genaueren Beobachtung wert erschien  – davon zeugt die rege Sammlung von Presseausschnitten, wie wir gesehen haben  –, sondern ebenso sehr auch der Lenkung und Beeinflussung mithilfe pressepolitischer Maßnahmen.91 Freilich hatte der Staat bereits in der Vergangenheit 90 Artikelentwurf [Anfang Dezember 1889], GStA PK, I. HA, Rep. 120, C IX 1, Nr. 28, Bd. 5. – Der Artikel scheint wegen der sich überschlagenden Ereignisse zu Beginn des Jahres 1890 niemals publiziert worden zu sein (zumindest bemerkte eine Notiz vom 12.2.1890, dass eine Veröffentlichung nach wie vor ausstehe). Völlig unerwartet gab Bismarck Ende Januar 1890 das Amt des Handelsministers auf, um nur sechs Wochen später auch um Entlassung als Reichskanzler zu ersuchen. Vgl. Gall, Revolutionär, S. 806 ff. – Zudem stabilisierten sich die Börsen 1890 kurzzeitig; und auch der lange Zeit niedrige Weizenpreis, den die Großagrarier dem Terminhandel anlasteten, schoss nun wieder in die Höhe, vgl. Borchardt, Einleitung, S.  60. Unter diesen Umständen versprach eine Veröffentlichung des Artikels nicht mehr die gewünschte Resonanz zu zeitigen. Es bedurfte erst des Zusammenbruchs einiger Berliner Bankhäuser infolge von Fehlspekulationen und veruntreuter Depots, um die Rufe nach einem Börsengesetz wieder lauter werden zu lassen, vgl. Tilly und Kap. III. 3.2. 91 Unter ›Pressepolitik‹ soll hier mit Bernd Sösemann verstanden werden eine »positive oder restriktive bzw. repressive Einwirkung auf alle Personen und Institutionen, die journalistisch tätig sind«, Sösemann, Publizistik, S. 282.

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ein Auge auf die Anlageentscheidungen und Börsenoperationen seiner Untertanen geworfen und in Phasen euphorischer Börsenaktivitäten, so zu Beginn der 1840er Jahre, Maßnahmen getroffen, um Markteilnehmer in ihren Investitionsoptionen einzuschränken.92 Der Unterschied zwischen den Jahren vor 1848 und nach 1880 liegt allerdings in der Wahl der Mittel, mit denen man Einfluss auf das Finanzmarkthandeln zu nehmen suchte. Erwiesen sich einst gesetzliche Prohibitivbestimmungen als probates Mittel, so war man später auf ein subtileres Vorgehen angewiesen, das nicht lediglich Verbote proklamierte – zumal Anleger dann schnell auf ausländische Börsen hätten ausweichen können. Es galt vielmehr im Bewusstsein der politischen Dimension von Auslandsinvestitionen, das Anlegerpublikum bei seinem Markthandeln vorsichtig zu lenken, um eine bestimmte, politisch gewünschte Allokation von Kapital zu erreichen. Nun erst erschien eine Einflussnahme auf die »ökonomische Meinung« bzw. auf das, was Politiker darunter verstanden, als eine Notwendigkeit gouvernementalen Handelns. Institutionelle Orte von »Pressearbeit« Wir sind vergleichsweise gut über die Versuche Bismarcks unterrichtet, auf die »öffentliche Meinung« Deutschlands und des Auslandes hinsichtlich politischer Fragen Einfluss zu nehmen.93 Über Maßnahmen, die auf ihr ökonomisches Pendant gerichtet waren, wissen wir dagegen nur sehr wenig. Dabei spielte die »ökonomische Meinung« im politischen Kalkül Bismarcks (und nicht minder in dem seiner Nachfolger) seit den Jahren um 1880 eine eminente Rolle. Seitdem Bismarck die Führung des Handelsressorts übernommen hatte, dürften entsprechende Maßnahmen überdies auch auf diesem Politikfeld verstärkt zum Zuge gekommen sein. Für den Reichskanzler hatten politische Vorgänge, gleich in welchem Ressort sie sich abspielten, propagandistisches Potential. »Der Fürst [Bismarck] ist wohl der einzige deutsche Diplomat«, schrieb 1886 der BerlinKorrespondent der Kölnischen Zeitung, Franz Fischer, »der außerordentliches Gewicht auf die Mithülfe der Presse legt; er denkt fast bei jedem Aktenstück daran, was damit in der Presse gemacht werden kann […].«94 Hierbei darf man allerdings nicht dem Fehlschluss erliegen, den die spätere Memoirenliteratur nur begünstigte95 und der auch in der Forschung bisweilen begegnet, wonach sich Pressepolitik vor 1890 allein in der Person Bismarcks erschöpfe.96 Sowohl preußische Regierung als auch deutsche Reichsleitung verfügten in den 1880er Jahre über zwei institutionelle Orte pressepolitischer Tätigkeit. Zum einen war 92 Vgl. Kap. I.1. 93 Vgl. die klassischen Studien Naujoks, Bismarck; Naujoks, Pressepolitik; Naujoks, Lindau; Wetzel. 94 Fischer an Vogel, 5.2.1886, RDS, FK, Nr. 1, Bl. 136. 95 Wo Bismarck, erinnerte sich ein hochrangiger Diplomat später, »die unmittelbare Leitung in der Hand hatte wie im Auswärtigen Amt und später im Handelsministerium, da wurde ›von oben nach unten‹ gearbeitet. Die Anregungen gingen von ihm aus.« Brauer, S. 104. 96 Vgl. Sösemann, Publizistik, S. 286. – Wir werden dies in Kap. III. 2.1, noch genauer sehen.

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dies die »Pressestelle« des preußischen Innenministeriums, das sogenannte »Literarische Bureau«, zum anderen das Pressereferat des Auswärtigen Amtes.97 Wenden wir uns zunächst den Presseaktivitäten des preußischen Innenministeriums zu. Im Unterschied zum Auswärtigen Amt, das eher informelle, primär private Kontakte zu Journalisten regierungsnaher, aber unabhängiger Zeitungen unterhielt,98 war die Tätigkeit des »Literarischen Bureaus« ganz auf eine direkte Einflussnahme auf redaktionelle Inhalte oft mittels vorgefertigter Artikel ausgerichtet. Es stand täglich in Kontakt mit den einzelnen Ministerien, in denen morgens Lektoren die wichtigsten Blätter lasen und auf Angriffe gegen die Regierung oder Gerüchte hin überprüften. Ein Vertreter des »Literarischen Bureaus« sammelte die anfallenden Zeitungsausschnitte bei seinem täglichen Rundgang ein und notierte dabei Wünsche für journalistische Auftragsarbeiten. Die »Pressestelle« arbeitete dann entsprechende Artikel aus und suchte geeignete Zeitungen für deren Platzierung.99 Doch geschah es auch, dass sich Finanzzeitungen, insbesondere kleinere, deren Kapazitäten für redaktionelle Eigenleistungen nicht immer ausreichten, an das »Literarische Bureau« wandten und um Zusendung von Material baten. Das Innenministerium verteilte dabei nicht wahllos Informationen, sondern achtete penibel auf die politische Loyalität jener Blätter, die in den Genuss staatlicher Belieferung kommen wollten. Als Josef Neumann, der Mitbegründer und Redakteur des Berliner Actionairs, sich im April 1882 an das »Literarische Bureau« wandte und um Material nachsuchte, erkundigte sich Innenminister Puttkamer zunächst bei Bismarck, ob »die Haltung des ›Aktionairs‹ namentlich in den die Wirthschafts- und Zoll-Politik betreffenden Fragen beim Handelsministerium zu Bedenken Veranlassung gegeben« habe.100 Erst als man von dort bestätigte, dass der Berliner­ Actionair sich die Förderung der staatlichen Eisenbahnpolitik »zur besonderen Aufgabe« gemacht habe und seine Haltung in zollpolitischen Fragen »überaus regierungsfreundlich« sei, gab der Minister grünes Licht.101 Wer um Kontakte ins Handelsministerium bedacht war, der tat besser daran, die Loyalität seines Blattes zur Regierung dezidiert zu betonen. Das 1890 gegründete Berliner Finanz-Blatt gab sich geradezu unterwürfig. Eigentümer des Blattes war der Verleger W. T. Bruer, der den deutschen Behörden kein Unbekannter war. In seinem Verlag erschienen seit 1881 amtliche Mitteilungen des Reichsamts des Innern sowie Gesetzessammlungen des Reichsgerichts. Auf diese bereits bestehenden Kontakte zu Regierungsstellen versuchte Bruer nun für sein neues Zeitungsprojekt zurückzugreifen. Sein Blatt werde eine »der Regierung freundliche 97 Naujoks, Lindau, insb. S. 339 ff. 98 Vgl. Geppert, Pressekriege, S. 47 ff. 99 Naujoks, Bismarck, S. 59 f. – Vgl. generell zum »Literarischen Büro« Nöth-Greis. 100 Puttkamer an Bismarck, 26.4.1882, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB Nr. 319, Bl. 126. 101 Bismarck an Puttkamer, 8.5.1882, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB Nr. 319, Bl. 127. – Der »Berliner Actionär« hatte bereits Mitte der 1870er Jahre begonnen, sich für die EisenbahnVerstaatlichungspolitik der Regierung redaktionell zu engagieren, nun zahlte sich die Unterstützung aus, vgl. Neumann u. Freystadt.

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Haltung einschlagen«, so Bruer im Oktober 1890 gegenüber Handelsminister Hans von Berlepsch. Es sei ihm »eine Ehre und eine Freude«, wenn die Regierung sein Blatt benützen würde und zugleich eine Ehrenpflicht, die dabei »gebotene Discretion zu wahren«.102 Dies hinderte das Finanzblatt freilich nicht daran, sich gegenüber der Öffentlichkeit als »unabhängiges und unparteiisches Organ für die Interessen deutscher Kapitalisten« zu gerieren.103 Der Staat als Zeitungsmacher Während Orte wie das »Literarische Bureau« oder das Pressedezernat des Auswärtigen Amtes als Scharnierstellen zwischen dem politischen und dem journalistischen Feld zu begreifen sind, trat der Staat in anderen Fällen vollständig auf das journalistische Feld über, um dort als Zeitungsmacher Finanzjournalismus zu simulieren. So nahmen im Herbst 1879 Pläne des Ministeriums für Elsass-Lothringen Gestalt an, in dem neu eingegliederten »Reichsland« eine offiziöse Zeitung herauszugeben. Als Chefredakteur wurde Hugo Jacobi (1842–1906), ein strenger Anhänger Bismarcks, engagiert. Jacobi, der bereits als Mitarbeiter der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, dem Sprachrohr Bismarcks und der Reichsleitung, mit allen Registern gouvernementaler Pressearbeit vertraut war,104 widmete dabei dem Aufbau des Handelsteils besondere Beachtung. So bat er Bleichröder um Unterstützung »durch gute und zuverlässige Handels- und Geschäftsnachrichten« oder »durch gelegentliche Inserate«. Jacobi wusste, wie er dem Berliner Bankier gegenüber darlegte, dass ein »gut geleitete[r] Handelstheil« außerordentlich wichtig war, um den »zersetzenden Einfluss« der Frankfurter Zeitung in Süddeutschland zu brechen und die Geschäfts- und Investitionstätigkeit in dem »Reichsland« anzukurbeln. Denn Elsass-Lothringen müsse »erst in materieller Beziehung erobert und durch tausende von Fäden dieser Art mit dem Zentrum deutschen Lebens verbunden sein, bevor wir es politisch sicher besitzen werden.« Von »deutscher kapitalistischer Seite« sei in dieser Hinsicht leider noch gar nichts geschehen.105 Finanzjournalistische Kommunikation und politische Ambitionen waren hier aufs Engste miteinander verknüpft. Bismarcks Hinwendung zur Handels- und Schutzzollpolitik am Ende der 1870er Jahre, mit der der Fürst zum ersten Mal überhaupt aktiv Wirtschaftspolitik betrieb,106 machte es allerdings nicht nur erforderlich, wirtschaftliches Handeln zu lenken, sondern zugleich auch wirtschaftliches Denken zu beeinflussen. Denn seine Politik der Zölle musste auch medial vermittelt, erklärt und gegen ihre Gegner in Schutz genommen werden. Hierzu dienten nicht nur 102 Bruer an Handelsminister, 7.10.1890, GStA PK, I. HA, Rep. 120, A I 2, Nr. 7, Bd. 3. 103 Siehe den Kopf der Zeitung und die Werbung in: Berliner Finanz-Blatt, Nr. 12, 7.3.1891 (Hvh. i. O.). 104 Vgl. Stöber, Pressepolitik, S. 100 f. 105 Jacobi an Bleichröder, 29.11.1879, BP, Box XXIII, F. 11. – Leopold Sonnemann hatte die Annexion des Gebietes 1874 abgelehnt. 106 Siehe hierzu Rose.

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einzelne Presseartikel, die in regierungsfreundlichen Zeitungen platziert wurden, sondern auch eigene Zeitungsprojekte oder Zeitungsübernahmen.107 Zu den missglückten Initiativen zählt in diesem Zusammenhang der Versuch, die National-Zeitung für die »Wirtschaftspolitik des Fürsten« zu gewinnen oder das Blatt gleich ganz zu erwerben, womit Bleichröder dem Reichskanzler einen Freundschaftsdienst erweisen wollte.108 Ein dagegen tatsächlich realisiertes Projekt war die 1882 erfolgte Gründung der Neuesten Mittheilungen, eine als Privatunternehmen getarnte Korrespondenz, die die Provinzzeitungen Preußens (und zum Teil auch anderer Bundesstaaten) flächendeckend mit Artikeln und Nachrichtenstoff versorgten. Da sich die Meinungslenkung in den mittleren und Großstädten wegen der Vielzahl an verfügbaren Medien bereits zu komplex gestaltete, sollte mit der neuen Korrespondenz zumindest versucht werden, die Meinung der Landbevölkerung umfassend zu gewinnen.109 Sie erwies sich dabei, wie wir später noch an Bismarcks Kampf gegen russische Wertpapiere und für italienische Staatsanleihen sehen werden, als wichtiges Mittel, um den finanziellen Diskurs in den Provinzen mit zu formen. Innenpolitisch dienten die Neuesten Mittheilungen u. a. dazu, Bismarcks Zollpolitik zu propagieren und eventuellen Vorbehalten, die man unter der Bevölkerung gegen sie hegte, entgegenzutreten. So sollte beispielsweise ihr Redakteur, Hermann Klee, im Februar 1883 Flugblätter zum Thema »Vertheuern Zölle das Leben[?]« ausarbeiten, die schließlich über die Kreisblätter verbreitet wurden.110 Auch Handelskammer- und Korporationsberichte, also jene Materialsammlungen, die vormals nur für das Handelsministerium erstellt und lediglich von einem kleinen Personenkreis berufsmäßig Interessierter rezipiert worden waren,111 rückten seit den 1880er Jahren immer stärker in den Gesichtskreis der Regierung, da sie einer wirtschaftlichen Meinungslenkung und der Schutzzollpropaganda förderlich erschienen. Im Sommer 1882 wandte sich Innenminister Robert von Puttkamer an Bismarck und schlug vor, den Berichten der Handelskammern, »die gegenwärtig verhältnismäßig wenig bekannt werden«, durch die Presse eine größere Verbreitung zu geben. Der Minister sah darin eine Möglichkeit, »die Notwendigkeit und die Erfolge der unseren Wirtschaftspolitik auf Grund eines zuverlässigen und reichhaltigen Materials in weiteren Kreisen 107 Auf den Übergang der »Post«, des einstigen Leibblattes des Industriellen Strousberg, in die Hände freikonservativer Parlamentarier ist an anderer Stelle bereits hingewiesen worden. Zwar wurde das Blatt damit nicht zu einer amtlichen Zeitung, stand Bismarck aber insofern jederzeit zur Verfügung, als seine Besitzer gerade Befürworter seiner Schutzzollpolitik waren. 108 Davon berichtet Rudolf Lindau in einem Brief an Wilhelm Bismarck, 10.7.1884, in: Hillenbrand, S. 576. 109 Stöber, Presseorganisation, S. 428 ff. 110 Ebd., S. 439. 111 Verbreitet wurden die Berichte durch das im Auftrag des Handelsministeriums herausgegebene »Handels-Archiv«, das als Spezialblatt allerdings nur in Fachkreisen gelesen wurde.

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wirksam zu vertreten.« Als Publikationsorgan sollten dabei die Neuesten Mittheilungen dienen. Vor ihrer Veröffentlichung sollten die Berichte »genau geprüft und gesichtet werden.«112 Bismarck begrüßte den Vorstoß Puttkamers und gab in seiner Eigenschaft als Handelsminister entsprechende Anweisungen an sein Ministerium.113 Insgesamt jedoch stieß das Korrespondenz-Projekt nicht auf uneingeschränkt begeisterte Aufnahme in den einzelnen Ressorts. Man maß dort dem Umgang mit der Öffentlichkeit augenscheinlich keine große Bedeutung bei. Zwar waren die Ministerien aufgefordert worden, den Neuesten Mittheilungen »mit der Priorität vor anderen Zeitungen« Informationen zukommen zu lassen. Bismarcks Vorschlag, aus jedem Ressorts jeweils eine Person zur Vermittlung von Informationen an die Neuesten Nachrichten abzustellen, stieß allerdings schon in der Staatsministerialsitzung vom April 1882 auf offenen Widerspruch. Pressepolitik schien in den 1880er Jahren noch von persönlichen Schwerpunktsetzungen der Ressortminister abzuhängen, denn als feste Notwendigkeit einer »Zeit schrankenloser Publizität«114 begriffen worden zu sein. Zuspruch kam nur vom Finanz- sowie Verkehrsministerium und selbstverständlich vom Bismarck unterstellten Handelsministerium. 1892, nach Bismarcks Rückstritt, stellten schließlich nur noch das Finanz- und Kultusministerium regelmäßig Mitteilungen für die Korrespondenz zur Verfügung.115 Handelsminister Berlepsch äußerte im November 1894 auf einer Sitzung des Staatsministeriums, das Bedürfnis, mit der Presse »in Verkehr« zu treten, sei in seinem Ressort nur ein geringes. Habe er etwas der Öffentlichkeit zu übergeben, so wähle er meistens den amtlichen Reichsanzeiger.116 Auf eine Pressepolitik im Sinne einer Interaktion mit Journalisten, wie sie seit den 1890er Jahren verstärkt in wirtschaftlichen Unternehmen Einzug hielt, hatte sich das Handelsministerium ebenso wenig eingestellt wie die meisten anderen preußischen Behörden und Reichsämter. Das Machtvakuum, das Bismarck nach seinem Rücktritt im März 1890 hinterlassen hatte, machte sich auch in der Pressepolitik bemerkbar, die nun immer weniger zwischen den Ressorts abgestimmt war.117 Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst registrierte im November 1894 eine »Konfusion« in der Öffentlichkeit aufgrund widersprüchlicher Mitteilungen, die aus der Verwaltung an die Presse lanciert würden. Und Innenminister Ernst von Köller

112 Puttkamer an Bismarck, 18.6.1882, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB Nr. 319, Bl. 15. 113 Vgl. Antwortschreiben und Erlass vom 23.6.1882, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB Nr. 319, Bl. 16 f. 114 Diese Wendung gebrauchte der deutsche Gesandte in Bukarest und spätere Reichskanzler, Bernhard von Bülow, in seinem Brief an Philipp Eulenburg, 9.1.1893, Röhl, Eulenburg, Bd. 2, S. 1007. 115 Stöber, Presseorganisation, S. 444. 116 Vgl. Sitzungsprotokoll, 30.11.1894, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB Nr. 319, Bl. 125. 117 Mit Blick auf die Reichsebene spricht Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1021, sogar von einer »Anarchie der Ressorts«.

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forderte seine Ministerkollegen zu einer einheitlicheren Aktion in Presseangelegenheiten auf. In letzter Zeit habe man den Zeitungen nicht entnehmen können, was die Regierung eigentlich wolle.118 Die Staatsführung suchte diesen Missklang in der öffentlichen Wahrnehmung abzustellen, griff dafür aber nur auf ein altbekanntes Mittel zurück. Auf einer Sitzung des Staatsministeriums regte Köller an, »ein anerkannt offiziöses Organ« zu schaffen, »in welchem die Meinung der Regierung klar ausgesprochen werde und von welchem aus diese Meinung dann ihren Weg in die Presse findet.«119 Man verständigte sich daher auf die Gründung einer neuen Korrespondenz, die nun allerdings nicht mehr verbergen sollte, wes Geistes Kind sie war.120 Berlepsch wies sein Ministerium nun zu einer stärkeren Versorgung des neuen Organs mit Informationen an. »Ich lege Wert darauf«, schrieb der Minister in einer Verfügung von Anfang Dezember 1894, »dass […] auch aus dem Bereiche der Handels- und Gewerbe-Verwaltung mehr, als es bisher geschehen ist, durch Mitteilung von Tatsachen und namentlich durch Berichtigung unrichtiger Nachrichten und irriger Urteile der Presse eine Einwirkung auf die öffentliche Meinung ausgeübt werde.«121 Ob die Regierung ihr Ziel erreichen und ihre Stimme im politischen und wirtschaftlichen Diskurs des Landes durch die seit Jahreswende 1894/95 erscheinende Berliner Correspondenz einheitlich zur Geltung würde bringen können, war mehr als fraglich. Das Organ war das Produkt starren Behördengeistes, das mit seinem Konzept »öffentlicher Offiziosität« im Prinzip an die alte Strategie der Provinzial-Correspondenz anknüpfte, eines halbamtlichen Presseorgans, das seine »goldenen Jahre« zu Zeiten des Preußischen Verfassungskonflikts gehabt hatte und 1884 eingestellt worden war. Die Aufnahme der Berliner Correspondenz auf dem Medienmarkt fiel daher nur mäßig bis ablehnend aus. »Wir hatten geglaubt, diese Korrespondenz solle das ganze irreguläre und reguläre Offiziösentum ersetzen und einziges offiziöses Organ der Regierung werden. Das war ein Irrtum«, spottete die Deutsche VolksZeitung. »[E]s hat sich herausgestellt, dass wir in der ›Berliner Correspondenz‹ lediglich ein offiziöses Organ mehr haben. Dabei ist sie noch nicht einmal das hervorragendste.«122 Behördlich-journalistische Seilschaften Ein anderer Modus gouvernementaler Pressepolitik, bevorzugt bei der großstädtischen Presse angewandt, waren informelle Kooperationen und Beeinflussungsversuche durch direkte und persönliche Kontakte zu einzelnen Journalisten.123 Vor allem das Auswärtige Amt in der Berliner Wilhelmstraße avancierte 118 Sitzungsprotokoll, 30.11.1894, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB Nr. 319, Bl. 125. 119 Ebd. 120 Siehe auch die Verfügung des Innenministers, 3.12.1894, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 319. 121 Verfügung, 15.12.1894, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 319, Bl. 133. 122 Deutsche Volks-Zeitung, 4.1.1895. 123 Stöber, Presseorganisation, S. 427, 449.

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hierbei zu einem Ort journalistisch-behördlicher Zusammenkünfte. Das dort eingerichtete Pressedezernat vermittelte zwischen Bismarcks pressepolitischen Anweisungen und ausgewählten Journalisten. Einer von ihnen war der Vertreter der Kölnischen Zeitung. Das traditionsreiche, weit über den rheinischen Reichsteil hinaus gelesene Blatt hatte seine außenpolitische Berichterstattung seit 1867 eng an die durch das Auswärtige Amt vorgegebene Linie angelehnt.124 Es wurde dafür mit exklusivem Zugang zur Wilhelmstraße belohnt. Seit 1884 fungierte Franz Fischer (1847–1904), der als Korrespondent nach Berlin gekommen war, als Verbindungsmann zwischen der Kölner Redaktion und der Wilhelmstraße.125 Ihm verdanken wir einen Einblick in die Beziehungen beider Akteursgruppen, die sich in der Regel nur über mündliche Absprachen konstituierten und daher selten aktenkundig wurden. Dabei zeigt sich, dass für die späten 1880er Jahre von einer einseitigen Beeinflussung und virtuosen Lenkung der Journalisten durch die Regierung per se nicht gesprochen werden kann. Es käme immer wieder vor, dass Ausarbeitungen des Pressedezernats von den betreffenden Zeitungen zurückgewiesen würden oder dass um Änderungen nachgesucht werde. Andererseits zeige sich auch, »wie leicht […] die häufigere Nichtberücksichtigung solcher, anscheinend kleiner Wünsche [seitens des Auswärtigen Amtes, d. V.] dazu führen kann, dass uns die wichtigsten Quellen abgeschnitten werden.«126 Die Beziehung zwischen Staatsführung und Presse war demnach keine, die sich einfach als Subordination charakterisieren ließe. Die Reichsleitung hatte zu akzeptieren, dass sie Artikel nicht nach Gutdünken an unabhängige Zeitungen zur Publikation delegieren konnte, so regierungsnah diese in ihrer politischen Haltung auch sein mochten. Renommierte Tageszeitungen ihrerseits hatten mit Blick auf ihre Käufer jeden Eindruck zu vermeiden, sie seien Verlautbarungsorgane der Regierung. Fischer seinerseits war kein Finanz- oder Börsenberichterstatter im eigentlichen Sinne, wobei er sich in seinen Artikeln immer wieder auf diesem Terrain bewegte. Doch er war ein wichtiger Akteur des finanzjournalistischen Feldes, denn unter allen Mitarbeitern der Kölnischen Zeitung war nur er es, der Zugang zum Auswärtigen Amt hatte und so auch mit handelspolitischen Vorgängen in Berührung kam, wie wir im Zusammenhang mit Bismarcks »Pressekrieg« gegen russische Wertpapiere noch genauer sehen werden. Die Kölner Redaktion profitierte so von dem sozialen und symbolischen Kapital ihres Berliner Korrespondenten, der sich zuweilen, seinen tatsächlichen Einfluss geschickt herunterspielend, als »Briefträger« zwischen dem »Fürsten B.« und der Kölnischen Zeitung bezeichnete.127 Der privilegierte Zugang zur Reichsbehörde barg allerdings noch einen weiteren Vorteil. Fischer kam hierdurch auch mit politischen Vertretern anderer Staaten in Kontakt, mit Diplo124 Vgl. Pohl, DuMont, S. 35, dort auch Näheres zur Geschichte der Kölnischen Zeitung. 125 Kurze biografische Angaben bei Lehmann, S. 24. 126 Fischer an Vogel, 5.2.1886, RDS, FK, Bl. 136. 127 Fischer an Neven DuMont, 22.9.1886, RDS, FK, Bl. 288.

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maten, Ministern oder Regierungschefs, die in der Reichshauptstadt weilten. Im Januar 1888 konnte Fischer seiner Redaktion von einer zweistündigen Unter­ redung mit dem rumänischen Außenminister Dimitrie A. Sturdza berichten. Der Minister habe wiederholt dringend gebeten, die Kölnische Zeitung »möge bald einmal wieder einen tüchtigen Redakteur nach Rumänien schicken, der reichen, interessanten Stoff zu berichten finden werde.« Die innere Entwicklung des Landes erziele immer bessere Erfolge. Er, Sturdza, werde demnächst einem Korrespondenten des Blattes in Wien eine »lehrreiche Zusammenstellung über die finanzielle Entwicklung Rumäniens« für einen Aufsatz in der Kölnischen Zeitung geben.128 Es fehlte nicht an Versuchen von journalistischer Seite, durch Loyalitätsbeweise (oder schlicht Vorspiegelung von Loyalität) an redaktionell verwertbares Material aus dem Handelsministerium zu gelangen; und es nimmt daher nicht Wunder, dass man dort eher Verhalten auf derartige Kontaktaufnahmen reagierte und ihnen den traditionellen Kommunikationskanal über das »Literarische Bureau« vorzog. Bismarcks Hinwendung zum wirtschaftlichen Protektionismus rief auch Journalisten auf den Plan. Sie boten sich willfährig als Sprachrohr dieser »von Eurer Durchlaucht mit so großem Erfolge angestrebten wirtschaftlichen Reformen« an, wie Paul Ruhemann im Januar 1882 an Bismarck schrieb.129 Ruhemann war Handelsredakteur des Berliner BörsenCourier, trug sich aber Anfang 1882 mit dem Gedanken, eine eigene »Handelsund Finanz-Zeitung« zu gründen, für die er beim Reichskanzler um Unterstützung warb. »Vor allen Dingen gilt es, ein Blatt zu schaffen, das, vom Kostenpunkt aus Jedermann zugänglich, das versehen mit genauen und besten Informationen über all das, was Handel, Industrie, Gewerbe, Finanz, Börse etc. anlangt, seine Hauptaufgabe darin findet, in fachlicher und auch für den kleinen Mann leicht faßlicher Weise ehrenhafte Propaganda zu machen für diese, schönsten Aufgaben einer für das Wohl ihrer Bürgen sorgenden Regierung.«

Leider sei von den bestehenden Organen in dieser Hinsicht bisher viel zu wenig geschehen, glaubte Ruhemann beobachten zu können. Das »politische Gezänk des Tages« nehme bei ihnen die erste Stelle ein, »während jene großen Wirtschafts-Projecte, die das materielle Wohl der Bevölkerung heben sollen […] stets nur so nebenbei behandelt werden.«130 Dass sich ausgerechnet Ruhemann für ein derartiges Projekt geeignet sah, bedurfte gewisser Überzeugungsarbeit. Denn der Berliner Börsen-Courier war bis dahin nicht sonderlich durch Regierungstreue aufgefallen; das preußische Innenministerium stufte ihn 1878 in einem geheimen Bericht als »fortschrittlich, auch demokratisch und social­

128 Fischer an Neven DuMont, 24.1.1888, RDS, FK, Bl. 844. 129 Ruhemann an Bismarck, 31.1.1882, GStA PK, I. HA, Rep. 120, A I 2, Nr. 7, Bd. 2, Bl. 87. 130 Ebd., Bl. 88.

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demokratisch[es] Handelsblatt« ein,131 und in den zurückliegenden Jahren war es immer wieder zu Prozessen gegen das Blatt wegen Beleidigung von Ministern, Gotteslästerungen und anderer Verstöße gekommen.132 Daher vergaß Ruhemann nicht, darauf hinzuweisen, dass der Handelsteil des Börsen-Couriers  – der vom politischen Teil  »durchaus getrennt redigiert« werde  – schon lange vor 1879 »zuerst und allein die Stimme erhoben [hat] für jene WirtschaftsPolitik, die jetzt zum Heile unseres Vaterlandes eingeschlagen worden ist«, und machte Bismarck zugleich darauf aufmerksam, dass die meisten jener Artikel von ihm selbst verfasst worden seien. Schließlich würden auch die vielen Beziehungen, die er »zu allen industriellen und finanziellen Kreisen« unterhalte sowie seine »jahrelange Tätigkeit im Handelsfach« ihn besonders für ein den »materiellen Interessen der Allgemeinheit nützliches Blatt« qualifizieren. Dieses könne allerdings nur ins Leben gerufen werden, wenn das Ministerium ihm das dafür nötige Material zur Verfügung stelle.133 Bismarck reagierte reserviert auf die Offerte des ihm unbekannten Handelsredakteurs. Er mochte vielleicht nicht einmal die Einschätzung Ruhemanns geteilt haben, wonach die Presse bisher viel zu wenig für seine wirtschaftlichen Reformen geworben habe (implizierte dies doch ein Versagen seiner vermeintlichen Virtuosität in Sachen Presselenkung). In seinem knappen Antwortschreiben teilte Bismarck lediglich mit, dass es vor der Gründung unmöglich sei, dem Unternehmen Material zukommen zu lassen. Falls das Blatt sich »inner­halb der Presse behauptet haben sollte«, könne dies erwogen werden.134 Zu einer ersten Ausgabe sollte es jedoch niemals kommen. Denn schon Ende Dezember 1882 war Ruhemann in der Handelsredaktion der Frankfurter Zeitung unterkommen, der freihändlerischen Kritikerin der Bismarck’schen Schutzzollpolitik.135 Statt Bismarcks Wirtschaftspolitik zu bewerben, arbeitete Ruhemann nun für ein Blatt, das sie bekämpfte: auch diese Wandlungsfähigkeit in der Gesinnung oder auch nur Anpassungsfähigkeit an die politische Ausrichtung eines neuen Arbeitgebers waren ein Aspekt journalistischer Wirklichkeit. Damit verstärkte sich freilich das ohnehin negative Bild, das sich viele politische Entscheidungsträger von den Vertretern der Presse machten, obschon die staatliche Presse- und Informationspolitik eine solche Haltung, auf die man dann verächtlich herabblicken konnte, ja nur begünstigte. Denn »Pressepolitik« bedeutete nicht, Journalisten auf Augenhöhe zu begegnen, sie per se als legitime Vertreter öffentlicher Interessen, als gleichberechtigte Gesprächspartner anzuerkennen. Gleichwohl interessierten sich staatliche Stellen für das Wirken von Börsen- und Handelsjournalisten. Es gibt Hinweise 131 »Verzeichnis der in Berlin herausgegebenen periodischen Druckschriften politischen Inhalts« [Okt. 1878] GStA PK, I. HA, Rep. 77, tit. 54a, Nr. 19, Bd. 2. 132 Vgl. die zum Berliner Börsen-Courier angelegte Akte des Berliner Polizeipräsidiums, LAB, A Pr. Br. 030, Nr. 14815. 133 Ruhemann an Bismarck, 31.1.1882, GStA PK, I. HA, Rep. 120, A I 2, Nr. 7, Bd. 2, Bl. 89–91. 134 Vgl. GStA PK, I. HA, I A 2, Nr. 7, Bd. 2. 135 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 558.

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darauf, obschon die Quellen hierzu spärlich sind, dass sich auch das Handelsministerium seit der Jahrhundertwende vermehrt mit den Akteuren des journalistischen Feldes beschäftigt und ihre Zuverlässigkeit sowie »Gesinnungsfestigkeit« – eine Kategorie, mit der Politiker nach wie vor journalistisches Arbeiten bewerteten – genauer zu eruieren gesucht hat. Seit dem Sommer 1906 begann das Handelsministerium detaillierte Angaben über die »Autoren der handelspolitischen Artikel in den wichtigsten Zeitungen sowie die hinter ihnen stehenden Einflüsse wirtschaftspolitischer Art« zu sammeln. Es wandte sich dafür an das »Literarische Bureau«, welches schließlich das Berliner Polizei-Präsidium um Auskunft bitten musste. Von dort kam nur wenig brauchbares Material. Die Polizeibeamten hatten lediglich die leitenden Handelsredakteure der größeren Tageszeitungen ermitteln können. »Ob Banken oder sonstige in der Finanzwelt maßgebende Persönlichkeiten hinter den wirtschafts- und handelspolitischen Artikeln dieser Zeitungen stehen«, habe sich mit Sicherheit nicht feststellen lassen.136 Offenbar legte Handelsminister Clemens von Delbrück, in dessen Auftrag die Informationen zusammengetragen wurden, Wert darauf, Genaueres über Persönlichkeit und (Un-)Abhängigkeit der Handels- und Börsenredakteure von der Finanzwelt zu erfahren. So erging im Oktober 1906 ein gleiches Ersuchen an den Staatskommissar bei der Berliner Börse – diesmal mit mehr Erfolg.137 Hemptenmacher konsultierte in den kommenden Wochen die ihm »zugänglichen Kreise«, ohne dass er seine Quellen dabei gegenüber dem Ministerium näher bezeichnete (es ist von Bankiers und Bankbeamten auszugehen, mit denen Hemptenmacher an der Berliner Börse verkehrte). Mitte November 1906 lag Hemptenmachers Bericht vor. Er sprach darin ein deutliches Urteil über die einzelnen Pressevertreter an der Börse aus, bisweilen so harsch, dass er das Ministerium bat, die Mitteilungen »mit höchster Diskretion« zu behandeln. »Denn ich möchte mir meine Vertrauensstellung bei der Presse auch nicht gern verscherzen.«138 Anhand der Einschätzungen Hemptenmachers, aus denen das Handelsministerium für Delbrück ein streng geheimes »Verzeichnis der Verfasser handelspolitischer Artikel« erarbeitete,139 können wir – zumindest in einer Momentaufnahme – sehen, wie und nach welchen Kriterien staatliche Behörden die Akteure des finanzjournalistischen Feldes beurteilten bzw. wie man sie im Handelsministerium wahrnahm. Eine »börsenfreundliche Tendenz«, wie sie z. B. der Berliner Actionair zeigte, galt den Behörden grundsätzlich als suspekt, 136 Direktor Wyncken (Literarisches Bureau) an Regierungsassessor Neuhaus (Handelsminis­ terium), 2.8.1906, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 320. 137 Handelsministerium an Hemptenmacher, 15.10.1906, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 320. 138 Hemptenmacher an Regierungsassessor Neuhaus (Handelsministerium), 17.11.1906, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 320. 139 Das Verzeichnis ist überliefert in GStA PK, I. HA, Rep, 120, CB, Nr. 320. – Es gliedert sich in vier Spalten (1. Zeitung; 2. Verfasser der handelspolitischen Artikel; 3. Charakteristik des Verfassers; 4. Bemerkungen). Die Spalte »Zeitung« verzeichnete I. Berliner Zeitungen (14), II. Andere preußische Zeitungen (9) sowie III. Zeitungen anderer Bundesstaaten (5).

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doch hielt Hemptenmacher dem Blatt zugute, dass es »mitunter Warnungen vor Spekulationsgeschäften an ausländischen Börsen« wage. Die Kölnische Zeitung werde von Fritz Fuchs bedient, einem »schwankende[n] Charakter«; der Reporter der Breslauer Zeitung sei ein »sensationslüsterner Mann«; Erich Caspers von den Münchener Neuesten Nachrichten wisse und könne viel, sei aber »verschroben«; der Börsenvertreter des Leipziger Tageblatts »unzuverlässig und gewissenlos in seinen Ansichten«; bei den Reportern des Berliner Börsen-Courier, Salomon und Marcuse, sei man sich nicht sicher, »ob sie für Beteiligungen etc. zugänglich seien«; die Vertreter des Berliner Tageblatts seien »eifrig in der Jagd nach Neuigkeiten« und verarbeiteten das Material »leider meist in etwas sensationellem Sinne«; Georg Bernhard, der Herausgeber des Plutus und berühmtes Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, sei zwar sehr tüchtig, bearbeite »die Dinge aber gern in sensationellem Sinne und liebt Radau«.140 Zwar gelangte Hemptenmacher auch zu uneingeschränkt anerkennenden Urteilen wie etwa bei den Börsenreportern der Frankfurter Zeitung, Georg Schweitzer und Albert Oeser (»zuverlässige und objektive Beurteiler«), der Vossischen Zeitung, des Berliner Lokal-Anzeigers und der Berliner Morgenpost (»nicht anrüchig«). Generell stünden jedoch »allesamt […] mehr oder weniger unter dem Druck des Inseratenhungers.« Dieser Einfluss mache sich in allen Nummern bemerkbar »von demjenigen, der zu scharf urteilt und Revolver-Taktik versucht, um die Inserate zu bekommen, bis zu demjenigen, der seine Meinung nicht klar und deutlich ausspricht, um seiner Zeitung die Inserate nicht zu verscherzen.«141 Solche, mitunter vernichtenden Urteile über Journalisten, die bis auf den Schreibtisch des Handelsministers gelangten, dürften wenig dazu beigetragen haben, dass sich der Ressortchef oder andere höhere Beamte den Vertretern der Presse annäherten. Die Zusammenstellung zeigt jedoch, dass Börsen- und Finanzjournalisten von Behördenseite zunehmend als eigene Akteursgruppe wahrgenommen wurden, zu der man sich in irgendeiner Weise zu positionieren hatte. In der Regel geschah dies durch betonte Distanz, doch gibt es Belege dafür, dass nach der Jahrhundertwende auch im Handelsministerium Journalisten empfangen wurden und es somit zu face-to-face Kontakten mit den Behördenvertretern kam. Allerdings achtete das Ministerium sehr genau darauf, wem es Zutritt gewährte: die richtige politische Gesinnung wurde dabei 140 Hemptenmacher an Regierungsassessor Neuhaus (Handelsministerium), 17.11.1906, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 320. – Bernhard war auch vorher häufiger in den Blick der Berliner Polizeibehörden geraten. In einer Auskunft für den Kölner Polizei-Präsidenten wird sein journalistischer Standpunkt als »regierungsfeindlich« bezeichnet und sein Wirken an der Berliner Börse als schädlich charakterisiert: »Als Handelsredakteur besucht Bernhard regelmäßig die Börse; seine ›Börsenbriefe‹ und ›Börsen-Kritiken‹ erregten häufig in kaufmännischen Kreisen Aufsehen, weil darin alle möglichen Handelsgesellschaften, Industriegruppen und sonstigen Unternehmungen heruntergerissen werden.« Polizeiliche Auskunft für den Kölner Polizei-Präsidenten, 6.4.1900, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 9161, Bl. 2. 141 Hemptenmacher an Regierungsassessor Neuhaus (Handelsministerium), 17.11.1906, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 320.

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zum Eintrittsbillets. Im März 1913 bat der Redakteur eines Berliner Korrespondenzbüros beim Handelsministerium, »zum Zwecke der Einholung von Informationen persönlich« vorsprechen zu dürfen.142 Hierauf folgten mehrere Verwaltungsakte. Das Ministerium holte zunächst eine Personenauskunft ein und erst als der Polizeipräsident bestätigt hatte, der Journalist stehe »auf dem rechten Flügel der nationalliberalen Partei und gilt in den Kreisen seiner Fachgenossen als ein kenntnisreicher und fleißiger Mann«, gestattete man dem Herrn zutritt.143 Anders verhielt es sich bei dem Börsenjournalisten Georg Tischert. Dieser ging, wie er unter dem 26. November 1909 an Handelsminister Reinhold von Sydow schrieb, »seit vielen Jahren […] im preußischen Handelsministerium ein und aus« und sei auch von den früheren Ministern stets empfangen worden. »[D]eshalb wollte ich mir die ergebene Anfrage erlauben, wann ich Euer Exzellenz meine Aufwartung machen kann.«144 Sydow allerdings wollte Tischert nicht empfangen, nachdem der Börsen-Staatskommissar dem Ministerium mitgeteilt hatte, Tischert sei »wilder Journalist«, er stehe in keiner festen Beziehung zu einem Blatt, schreibe links und rechts und suche »seine Artikel unterzubringen, wo er kann«.145 Politische Entscheidungsträger und ebenso die Funktionselite in Staat und Verwaltung bewerteten Journalisten auch am Vorabend des Ersten Weltkriegs anhand von Kategorien wie politischer Gefolgschaft und Gesinnungsfestigkeit. Journalist zu sein bedeutete unter dieser Perspektive weniger eine berufliche Rolle auszufüllen als vielmehr eine politische Position einzunehmen und öffentlich zu vertreten. Neben politisch anders denkenden Pressevertretern waren insbesondere frei arbeitende Journalisten ohne Anstellung von den staatlichen Informationskanälen abgeschnitten, erschienen doch gerade sie in den Augen der Behörden als gesinnungslose Opportunisten, da sie für Blätter verschiedenster politischer Couleur schrieben. * Presse und Finanzjournalismus avancierten in den 1880er Jahren zu einer für politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger zentralen Vermittlungsund Deutungsinstanz des Finanzmarktgeschehens und erlangten so bedeuten­ den Anteil an der Konstruktion finanzökonomischer Wirklichkeit. Exemplarisch ist dies am systematischen und institutionell verankerten Sammeln von finanziell relevanten Presseausschnitten bei staatlichen Behörden und Finanzdienstleistern gezeigt worden. Mit der Politisierung des Ökonomischen im Zuge des »Gründerkrachs« und dem Beginn proaktiver Wirtschaftspolitik stieg 142 Alfred Kopp (Berliner Zentral-Redaktion) an Handelsminister, 16.4.1913, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 320. 143 Berliner Polizei-Präsident an Innenminister, 1.5.1913 (Kopie) und Innenminister an Kopp, 13.5.1913, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 320. 144 Tischert an Handelsminister, 26.11.1909, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 320. 145 Göppert (Staatskommissar) an Oberhauptmann von Velsen, [o. D.], GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 320.

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die Bedeutung, die staatliche Stellen dem öffentlichen Meinen hinsichtlich wirtschaftlicher und finanzieller Themen beimaßen. Dies hatte auch pressepolitische Konsequenzen, glaubte man doch, auf diese Weise die »ökonomische Meinung« lenken zu können. Der Umgang mit der Presse war dabei keineswegs durch Anerkennung ihrer normativen oder tatsächlichen gesellschaftlichen Funktion geprägt, insbesondere nicht in der »Ära Bismarck«. Die Preisgabe finanzjournalistisch relevanten Materials durch staatliche Stellen ebenso wie der Empfang von Journalisten durch Regierungsvertreter war zumeist an politische Gefolgschaft geknüpft. Dies förderte einerseits behördlich-journalistische Seilschaften, andererseits aber auch einen journalistischen Habitus der Subordination, den sich eine Reihe der Akteure zu eigen machte, um Zugang zu behördlichen Informationen zu erlangen. Obschon finanzjournalistische Kommunikation in den 1880er Jahren an gesellschaftlicher und politischer Relevanz gewann, fiel es ihren Trägern, den Journalisten, damit nach wie vor schwer, sich unter den obwaltenden Rahmenbedingungen als professionelle Berufsgruppe zu konstituieren.

2. Presse, Kapitalexport und Außenpolitik »Wir sind und bleiben doch eine Zeitung und keine Diplomaten, wenn sich auch diese beiden Wege häufig kreuzen. Der Diplomatie kommt alles auf den Erfolg an, während wir doch unsern Lesern in etwa auch mit Gründen dienen müssen.« Josef Neven DuMont an Franz Fischer, 24.6.1887 »Le seul trésor des empires, c’est le crédit.« Gabriel-Julien Ouvrard (1826)

»Wir sehen, wie unser schwer erarbeitetes Geld in die Türkei und nach Russland wandert, wir senden den ersparten Pfennig nach Amerika, damit dort über die Schneeberge hinweg die Schienen gelegt werden, und gleichzeitig richtet sich der Blick nach Osten und Westen, nach Süd und Nord. Nirgends wird Etwas unternommen, ohne dass das Capital aller Länder dabei mitwirkte. Unter den Auspicien der Industrie bildet sich eine grosse Vereinigung friedlicher Interessen.«146 Mit ungetrübtem Optimismus pries Felix Hecht, der Direktor der Rheinischen Hypothekenbank in Mannheim, Anfang der 1870er Jahre die finanziellen Bande, die sich mithilfe eines Stücks bedruckten Papiers zwischen deutschen Anlegern und dem Ausland zu spannen begannen. Tatsächlich aber war dieser Prozess, der unter dem Schlagwort des Kapitalexports einen wichtigen Beitrag 146 Hecht, S. 26.

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zur finanziellen Globalisierung leisten sollte, nicht immer befriedend oder völkerverbindend, sondern viel häufiger konfliktträchtig, machtbesetzt und politisch brisant. Denn in ihn spielten die Privatinteressen von Investoren ebenso hinein wie das außenpolitische Kalkül von Regierungen. Finanzjournalistischer Kommunikation fiel durch die politische Aufladung des Kapitalexports ihrerseits außenpolitische Bedeutung in den 1880er und 1890er Jahren zu. 2.1 Finanzjournalismus als Waffe: Bismarck, die Kölnische Zeitung und der »amtliche Pressekrieg« gegen russische Wertpapiere (1887–1889) Im Juli 1887 schreckten deutsche Kapitalanleger beim Blick in die Presse auf. Verschiedene Tageszeitungen warnten vor russischen Staatsanleihen. Einst als sichere Geldanlage angepriesen, sollten diese Papiere auf einmal mit einem­ Risiko behaftet sein, ja, vereinzelt warnte man sogar vor ihrem Ankauf oder Besitz. Nicht wenige Anleger entledigten sich in den kommenden Wochen ihrer russischen Wertpapiere, so dass deren Kurs an der Berliner Börse bis zum Ende des Monats um bis zu fünf Prozent nachgab. Was die verschreckten Wertpapierbesitzer nicht wussten: Die als Redaktionsmeinung präsentierten Artikel waren allesamt regierungsamtlich inspiriert, sie waren Teil einer verdeckten Kampagne des Auswärtigen Amtes, die sich gegen russische Wertpapiere richtete und die finanzielle Stabilität des Zarenreichs zu erschüttern suchte. Wenn deutsche Anleger ihren russischen Wertpapierbesitz abstießen und dadurch den Kurs russischer Anleihen drückten, so Bismarcks Hoffnung, würde das sich dem Deutschen Reich gegenüber immer widerspenstiger gebärdende Russland endlich und schmerzlich seine finanzielle Abhängigkeit vom deutschen Kapitalmarkt anerkennen und in der Folge auch wieder eine politische Annäherung an die Mittelmächte suchen.147 Das Bemerkenswerte an diesem im Folgenden näher zu betrachtenden »Presse­ krieg« Bismarcks ist nicht so sehr der Umstand, dass die Reichsleitung über den Hebel des Finanzmarktes subtil versuchte, Außenpolitik zu betreiben  – dies war auch früher schon vorgekommen. Ein Novum stellen vielmehr die Mittel dar, die hierzu eingesetzt wurden, nämlich der Rückgriff auf die Presse: Finanzjournalismus – ein von politischen Entscheidungsträgern lange nur wenig beachtetes Segment der Presse  – bot sich nun an als Waffe in der außenpolitischen Auseinandersetzung der europäischen Mächte, ein Indiz für die politische Aufladung finanzieller Berichterstattung. Dem Versuch der Politik, finanzjournalistische Kommunikation zu lenken, lag eine Reihe zeitgenössischer Vorstellungen über das Wesen des Mediums Presse zugrunde. Da war zum Beispiel die Annahme, dass sich das Anlegerverhalten durch Presseinhalte in der 147 Die Vorgänge mitsamt ihrer Protagonisten und deren Beweggründe sind quellennah aufgearbeitet, vgl. etwa Müller-Link, 319–353.

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gewünschten Weise steuern ließe; was auf dem Feld der »politischen Meinung« möglich schien, so dachte die Entscheidungselite des Reiches, das musste auch auf dem Feld der »ökonomischen Meinung« möglich sein. Daneben begegnet aber auch die Vorstellung, wonach Medien bzw. Journalisten sich ohne Weiteres einspannen ließen und sie die Direktiven der obersten Staatsmänner gehorsam in Artikel gossen, ohne einem anderen Gesetz als dem regierungspolitischer Notwendigkeit unterworfen zu sein. Wir werden im Folgenden sehen, dass diese Annahmen nur schwierig mit der historischen Wirklichkeit in Einklang zu bringen sind. Der »Pressekrieg« Bismarcks soll daher nicht aus Sicht der politischen Führung betrachtet werden, die sich nicht selten und vorbei an der Realität als virtuoser Manipulator der Presse verstand, als vielmehr aus Sicht der Medienvertreter. Fragen nach den Handlungsspielräumen finanzieller Berichterstattung, nach den Motiven der beteiligten journalistischen Akteure, nach dem verlegerischen Kalkül und der partiellen Eigenlogik des Mediengeschäfts sollen im Mittelpunkt stehen. Aufgrund einer mit Blick auf die Quellenlage ungewöhnlich guten Überlieferungssituation steht die Kölnische Zeitung exemplarisch im Zentrum der Analyse. Finanzinteressen und Hohe Politik »Das Folgende ist Staatsgeheimnis, von dem zunächst absolut nichts in die Öffentlichkeit dringen darf.« Mit diesen verschwörerischen Worten leitete Franz Fischer am 21. Mai 1886 seinen Brief an Josef Neven DuMont ein und konnte sich damit der Aufmerksamkeit des Verlegersohnes gewiss sein. Was der BerlinKorrespondent der Kölnischen Zeitung erfahren haben wollte, war tatsächlich brisant und würde das europäische Mächtesystem vor eine tiefgreifende Veränderung stellen. »Fürst B[ismarck] traut den Russen nicht mehr und scheint augenblicklich alles aufzubieten, um Klarheit zu gewinnen, was der Zar eigentlich will«.148 Tatsächlich hatte sich das Verhältnis des Reichskanzlers zu seinem russischen Bündnispartner in den rückliegenden Monaten deutlich abgekühlt, und so schien es manchem Eingeweihten nur noch eine Frage der Zeit, bis das geheime Neutralitätsabkommen, der »Dreikaiserbund«, den Deutschland im Juni 1881 mit Österreich-Ungarn und Russland geschlossen hatte, auseinanderbrechen würde.149 Die bulgarische Krise von 1885/86 hatte die unüberbrückbaren Differenzen zwischen der Doppelmonarchie und dem Zarenreich enthüllt und dieses zugleich gegen Berlin aufgebracht, von dem man auf dem Balkan vergeblich absolute Unterstützung verlangte hatte.150 Schließlich sahen sich aber auch die Handelsbeziehungen zwischen dem Reich und Russland auf eine zunehmend härtere Probe gestellt. Auf die protektionistische Wende Bismarcks (1879), welche die russische Getreideausfuhr nach Deutschland erschwerte, antwortete das Zarenreich seinerseits – nicht zuletzt unter dem Druck 148 Fischer an Josef Neven DuMont, 21.5.1886, RSD, FK, Bl. 191. 149 Gall, Bismarck [2008], S. 731. 150 Canis, S. 21 f..

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heimischer pressure groups – mit Zöllen auf deutsche Industriewaren, die man zuletzt im Juli 1885 noch einmal um zwanzig Prozent angehoben hatte, was wiederum die deutsche Exportindustrie erzürnte.151 Während diese kommerziellen Entwicklungen  – als eine Folge innenpolitischen Drucks einzelner Interessegruppen  – beide Länder mehr und mehr entzweiten, festigten sich dagegen die Bindungen des Zarenreichs mit dem deutschen Kapitalmarkt. Russland hatte sich in den 1880er Jahren zu einem begehrten Anlageobjekt für deutsche Investoren entwickelt. Die auch dort verspätet einsetzende Industrialisierung, vor allem der Ausbau des Eisenbahnnetzes, lockten ausländisches Kapital ins Land; das Zarenreich galt unter Anlegern als profitträchtiger Wachstumsmarkt. Auf seine Anleihen gewährte es mit fünf bis sechs Prozent einen verhältnismäßig hohen Zins, konnte sich jedoch durch seine umfangreichen Anstrengungen, seine Staatsschulden zu konsolidieren, das Vertrauen der deutschen Anleger erwerben. Namhafte Bankinstitute wie Mendelsohn und die Berliner Handelsgesellschaft, wenig später dann auch S. Bleichröder, organisierten den Zustrom russischer Papiere nach Deutschland und verdienten dabei selbst in großem Stil mit. Zur Mitte der 1880er Jahre lagen 20 bis 25 Prozent der deutschen Auslandsinvestitionen in Russland, eine Schätzung vom Januar 1887 bezifferte den Wert russischer Papiere in deutscher Hand auf zwei Milliarden Mark.152 Bismarck hatte, solange er Petersburg einigermaßen für berechenbar hielt und seine »auf den Status quo zielende außenpolitische Defensivstrategie«153 als sicher betrachtete, dem deutschen Kapitalexport nach Russland durchaus wohlwollend gegenüber gestanden, ja, darin sogar ein Instrument erblickt, das Zarenreich in eine finanzielle Abhängigkeit von Deutschland zu manövrieren.154 An einer 300-Millionen-Anleihe von 1884 war daher nicht nur Bleichröder beteiligt, sondern überdies auch die Preußische Staatsbank und die Seehandlung, die der Sache damit ein »offizielles Imprimatur« gaben.155 Doch war Bismarcks anfangs prorussischer Kurs zu keiner Zeit unumstritten. In der Berliner Politik formierten sich schon früh Gruppierungen, die Bismarcks außenpolitische Anlehnung an Russland mitsamt ihren Begleiterscheinungen auf dem Gebiet des Kapitalexports ablehnend, ja, feindselig gegenüberstanden und diese insgeheim zu durchkreuzen suchten. In der militärischen Führungsriege um Generalstabschef von Moltke und dessen Stellvertreter, Alfred von Waldersee, etwa fürchtete man, Russland rüste mit deutschem Kapital gegen das Reich, und befürwortete daher eher heute als morgen einen 151 Müller-Link, S. 283 ff.; Deininger, S. 84–88. – Beide Autoren interpretieren die außenpoli­ tischen Spannungen als Folgen sozialkonservativer Gefechte großagrarischer Interessegruppen im Innern und neigen damit einem Primat der Innenpolitik gegenüber der Außenpolitik zu. Ausgewogener dagegen urteilt Rose. 152 Vgl. Stern, S. 609 f. 153 So Canis, S. 19. 154 Stern, S. 382. 155 Ebd., S. 482.

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»Präventivkrieg gegen den russischen Alp«.156 Doch auch an den Schalthebeln der politischen Macht, im Auswärtigen Amt, saßen mit den Unterstaatssekretären Berchem und Holstein, der »grauen Eminenz« der Wilhelmstraße, Quertreiber der Bismarckschen Russlandpolitik.157 Nachdem das Tableau politischer Akteure skizziert ist, können wir uns nun der Rolle der Kölnischen Zeitung und ihres Berlin-Korrespondenten, Franz Fischer, zuwenden. Franz Fischer: Redakteur und Russlandgegner Fischer ging in jenen Jahren ein und aus im Auswärtigen Amt. Er verkehrte in vertrauter Weise mit den Spitzendiplomaten der Behörde und war folglich auch kein Unbekannter in den Kreisen der antirussischen Frondeure. Für einen Pressevertreter genoss er ungewöhnlich hohes Ansehen. »Ein netter Mensch und geschickter Redakteur«, so lautete das Urteil, das Kuno von Rantzau, Legationsrat im Auswärtigen Amt, 1886 über Fischer abgab; Eulenburg charakterisierte ihn in einem Brief an Wilhelm II. als »klug und anständig«, und für Bismarck war er schlicht ein »sicherer Mann«.158 Vor allem aber war auch Holstein ihm äußerst wohlgesinnt. Er zählte zu Fischers »hochmögenden« Freunden, beide sahen sich fast täglich.159 Nicht nur ihn, auch den Kanzlersohn und Außenamtsstaatssekretär Herbert von Bismarck, Pressereferent Lindau und den Chef der Reichskanzlei, Rottenburg, lud Fischer häufiger zum Essen ein.160 Schließlich war es auch Holstein, der Fischer in die Führungszirkel des Militärs einführte. Gegenüber Waldersee empfahl er den Journalisten nachdrücklich, da er »im Ausland sehr gute Beziehungen hätte«. Fischer besuchte Waldersee danach mehrmals jährlich und erzählte ihm »mancherlei Interessantes, namentlich aus Rußland.«161 Der gute Ruf des Korrespondenten kam nicht von ungefähr. Er hatte ihn sich durch zahlreiche journalistische Freundschaftsdienste der Wilhelmstraße gegenüber erworben und war im Gegenzug mit exklusiven Informationen gespeist worden, die der Kölnischen Zeitung, das wusste man in Köln sehr wohl zu schätzen, Prestige und Leser einbrachten. Allerdings kollidierte Fischers Haltung in politischen Fragen, zumal hinsichtlich Russlands, oftmals mit denen der Kölner Redaktion. Nicht zuletzt fürchtete man dort, dass Fischer sich allzu häufig zum Sprachrohr einflussreicher Kreise im Außenamt machen ließ, deren Stimmen dann unbemerkt in seine Korrespondenzen einsickerten. 156 Schmidt, Bismarck, S. 220 f. 157 Holstein war seit den frühen 1880er Jahren zu einer zunehmend kritischeren Beurteilung von Bismarcks Außenpolitik gelangt, die er mit der Zeit sogar als gefährlich für Deutschland einstufte, vgl. Fensk, S. 129–132; Rich, S. 175–182, 204–211.SchSch 158 Rantzau an Herbert Bismarck, 18.9.1886, in: Bußmann, S.  375; Eulenburg an Wilhelm II., 20.10.1889, in: Röhl, Korrespondenz, Bd.  1, S.  361; Rantzau an Herbert Bismarck, 30.10.1886, in: Bußmann, S. 385. 159 Vgl. Weinhold, S.  195; Potschka, S.  153; vgl. auch Rich, Holstein, Bd.  1, S.  113 und 265 (»Holstein’s close friend«). 160 Hink, S. 21 und 177 (Fn. 90). 161 Waldersee, Bd. 2, S. 192.

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Man wolle sicherstellen, betonte August Schmits, der Chefredakteur des Blattes, immer wieder gegenüber Fischer, dass man »vom Auswärtigen Amt nicht zur eigentlichen Russenhatz gebraucht« werde.162 Diese Befürchtungen hatten zweifelsohne ihre Berechtigung. Denn tatsächlich schien Fischer sich, kaum dass er 1884 als Korrespondent nach Berlin übergesiedelt war, mit den Gruppierungen um Holstein gemein gemacht zu haben. Ein entsprechend antirussischer Tenor, in dem sich wachsendes Misstrauen gegenüber der Politik des Zaren mit Abscheu gegen die immer energischer gegen Deutschland agitierenden nationalistischen und panslawistischen Kräfte mischte, war in seinen Korrespondenzen unüberhörbar. In Köln stieß dies nicht immer auf Beifall. Im März 1886 wies die Redaktion einen Artikel Fischers zurück, den man »bei dem besten Willen nicht abdrucken« könne, wie Josef Neven DuMont schrieb, der sich seit einigen Jahren im väterlichen Verlag betätigte und dort Fischers erste Ansprechperson war. Fischer werde sich »hoffentlich an der Zurückweisung nicht stoßen, da wir in der letzten Zeit eine Reihe von, sagen wir ehrlich ›Hetzartikeln‹ aufgenommen haben, die uns wahrscheinlich schaden, sicher aber nicht nützen werden.« Die Redaktion befand sich in einer durchaus misslichen Lage, wie der Brief weiter enthüllte. Denn einerseits wollte man Fischers Informationsgeber im Auswärtigen Amt nicht verärgern; man wusste, dass »dort manchmal auf Kleinigkeiten Werth gelegt wird«. Andererseits spielten auch geschäftliche Überlegungen eine Rolle dabei, was man druckte und was nicht. Man müsse, so Neven DuMont, zu einem gewissen Grade auch auf das Urteil der Leser Rücksicht nehmen.163 Subtiler als die politische konnte dagegen die Finanzberichterstattung des Blattes dazu benutzt werden, Russland zu schaden, etwa indem man sich, mit vordergründig ökonomischen Argumenten, gegen den Kauf russischer Anleihen aussprach. Die Beziehungen zwischen Russland und dem deutschen Geldmarkt waren seit 1886 erneut virulent geworden. Das Zarenreich schickte sich an, zahlreiche seiner früheren Anleihen zu konvertieren, d. h. deren Verzinsung herabzusetzen. Für all jene, die, wie Fischer, konsterniert mit hatten ansehen müssen, wie russische Werte »im Übermaß vom deutschen kleinen Manne aufgekauft worden« waren, bot sich nun die Gelegenheit, diese »nach und nach wieder ins Ausland« zurück zu treiben.164 Anfang 1886 ersuchte Fischer die Kölner Redaktion, gegen die Konvertierung einer russischen Anleihe Front zu machen – mit Erfolg. »Die Warnung gegen die Unterstützung der ›Umwandlung‹ […] ist hier veröffentlich worden, nachdem Papa und Dr. Schmits Kenntnis davon hatten«, konnte der Verlegersohn Josef Neven DuMont nach Berlin melden.165 Wenig später, im Mai 1886, wollte Fischer die Kölner Redaktion für eine »streng geheime, amtliche Bitte« gewinnen, mit der Misstrauen gegen Russland 162 Schmits an Fischer, 10.2.1887, RDS, FK, Bl. 427. 163 Josef Neven DuMont an Fischer, 24.3.1886, RDS, FK, Bl. 163. 164 Fischer an Josef Neven DuMont, 24.11.1886, RDS, FK, Bl. 343. 165 Josef Neven DuMont an Fischer, 5.3.1886, RDS, FK, Bl. 144.

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in den deutschen Geldmarkt hineingetragen werden sollte. Hintergrund bildeten antideutsche Tiraden, die in den zurückliegenden Monaten verstärkt in Teilen der russischen Presse zu vernehmen gewesen waren; vor allem der publizistische Führer der Panslawisten und Chefredakteur der Moskauer Zeitung, Katkow, dem man Einfluss auf den Zaren und dessen Umgebung nachsagte, brachte sich prominent in Stellung, indem er Russlands Freiheit von deutscher Beschränkung auf dem Balkan forderte.166 Fischer riet der Redaktion, sie möge sich von ihrem Petersburger Korrespondenten künftig alle »ausfallende[n] Hetzartikel gegen Deutschland« kommen lassen, vor allem jene, die in großen, einflussreichen Zeitungen erscheinen, um diese in nächster Zeit täglich mit Quellenangabe zu veröffentlichen. Das deutsche Publikum solle auf diese Weise »etwas klarer in die russischen Verhältnisse [sehen], die zumal von der hiesigen Presse künstlich verdunkelt« würden.167 Es ist nicht zweifelsfrei zu klären, ob es sich bei dieser »amtlichen Bitte« um eine Direktive Bismarcks handelte, denn tatsächlich echauffierte sich der Fürst in jenen Monaten immer wieder über die Zügellosigkeit der russischen Presse und glaubte, dieses Treiben vollziehe sich mit stillschweigender Tolerierung durch den Zaren.168 Wahrscheinlich aber bedurfte es einer solchen Weisung von oben nicht einmal, denn jene Kreise um Holstein ebenso wie Fischer hatte nur auf eine derartige Gelegenheit gewartet, wie sie ihnen nun durch die russische Presse bereitet wurde, um Argwohn gegen das Zarenreich auch unter deutschen Anlegern zu schüren. Auch in den kommenden Monaten suchte Fischer, die Kölnische Zeitung auf Konfrontationskurs gegen die russischen Werte zu bringen. Er tat dies auch immer wieder mit Verweis auf ein bevorstehendes Zerwürfnis in den deutschrussischen Beziehungen; so sollte der Dringlichkeit einer redaktionellen Warnung an die deutschen Anleger Nachdruck verliehen werden. Im November 1886 wähnte Fischer, dass »ein Bruch des deutsch-russischen Bündnisses entweder in der Luft liegt oder schon tatsächlich vollzogen ist.«169 Tatsächlich zeigte sich Zar Alexander III. im Herbst 1886 äußerst verstimmt über die Haltung Berlins in den Balkanangelegenheiten, ja, man rechnete in Petersburg sogar schon mit einem Krieg gegen Österreich.170 Doch hielt es Bismarck nach wie vor geboten, an dem »Dreikaiserbündnis weiter [zu] spinnen so lange ein Faden daran ist!«171 Fischer seinerseits riet Neven DuMont nach wie vor unbeirrt: »Aber ich meine, es wäre eine schöne Aufgabe, wenn wir recht häufig unsere vorsichtigeren Leser darauf aufmerksam machten, dass der reichlichere Zins166 Vgl. Stern, Gold, S. 608, 614 ff.. 167 Fischer an Josef Neven DuMont, 21.5.1886, RDS, FK, Bl. 191. 168 Er hing der Meinung an, die Sprache der russischen Presse müsste »in der öffentlichen Meinung Deutschlands nicht nur, sondern ganz Europas den Eindruck hervorrufen, als ob wir nicht, wie wir glauben, in einem freundschaftlichen, sondern in einem feindlichen Verhältnis zu Rußland ständen.« Aufz. Rottenburg, 22.7.1886, GPEK, Bd. 6, S. 92. 169 Fischer an Josef Neven DuMont, 24.11.1886, RDS, FK, Bl. 341. 170 Aufz. Herbert von Bismarck, 22.11.1886, GPEK, Bd. 5, S. 75 ff. 171 Schweinitz an Bismarck [Randnotiz: Bismarck], 17.12.1886, GPEK, Bd. 5, S. 94.

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ertrag [der russischen Werte] doch auch das Gegenstück einer recht großen Unsicherheit des Capitals besitze.« Die Gerüchte eines bevorstehenden russischösterreichischen Waffengangs kamen Fischer dabei gelegen. Man solle auf die Gefahr eines »großen Krieges für die russischen Finanzen« hinweisen – dabei aber tunlichst eine Panik an der Börsen vermeiden – und noch eine »geschickte kleine Nutzanwendung« für die Anleger hinzufügen. Diese lieferte Fischer im Entwurf gleich mit: »[D]as deutsche Capital hat sicherlich in den gegenwärtigen unruhigen Zeiten keinen Anlass, der russischen Regierung angeblich zu neuen Eisenbahnbauten Geld vorzuschießen, das sehr leicht für panslawistische Wühler einen willkommenen Anlass bieten könnte, das Land in einen verhängnisvollen Krieg hineinzutreiben.«172 Mitte Dezember 1886 suchte Fischer sich in die Haltung der Handelsredaktion einzumischen, die damals unter der Leitung von Paul Steller stand. Es würde »höchst nützlich sein«, schrieb Fischer an Neven DuMont, wenn Steller mit Blick auf die russischen Werte »an die alte Lehre erinnern wollte, dass das kleine Publikum, das auf den Eingang von Zinsen angewiesen ist, unter allen Umständen gut tut, in erster Linie die Sicherheit der Papiere und erst in zweiter die Höhe des Zinsertrages ins Auge zu fassen.« Fischer riet, in diesem Zusammenhang auf die preußischen Wert- und Pfandbriefe zu verweisen, die zwar mit 3,5-Prozent eine geringeren Verzinsung boten, sich jedoch unter sicherheitsliebenden deutschen Anlegern großer Beliebtheit erfreuten. Eine entsprechende Notiz würde einen »sehr wertvollen Wink« darstellen, um »die russischen Wert auch weiter langsam abzustoßen und ins Ausland zurückzutreiben und vor neuem Eindringen hierher zu hüten.«173 Zwar teilte die Kölner Redaktion durchaus Fischers Einschätzung, »Deutschland vor der Überflutung mit russischen Papieren schützen« zu müssen, doch ging man in den dabei obwaltenden Motiven weit auseinander. Kritik an russischen Wertpapieren sollte nicht wie bei Fischer aus politischem Kalkül erfolgen, sondern mit Blick auf das Anlegerinteresse; zur »eigentlichen Russenhatz« wollte man vom Auswärtigen Amt keinesfalls missbraucht werden.174 Chefredakteur August Schmits lehnte es daher Anfang Februar 1887 ab, einen harschen Artikel Fischers über den kurze Zeit vorher zum russischen Finanzminister ernannten Wyschnegradski zu veröffentlichen. In dem Entwurf hatte Fischer eine 172 Fischer an Josef Neven DuMont, 24.11.1886, RDS, FK, Bl. 341. 173 Fischer an Josef Neven DuMont, 16.12.1886, RDS, FK, Bl. 363. 174 August Schmits an Fischer, 10.2.1887, RDS, FK, Bl. 427. – Zu gut waren Schmits noch die Lehren aus dem März 1885 vor Augen. Damals war es wegen der Begrenzung Afghanistans zu heftigen Spannungen zwischen den Kabinetten in London und Petersburg gekommen. Schmits erinnerte Fischer nun daran: »Während der afghanischen Wirren stachelte das Ausw. Amt uns an, mit allem Nachdruck vor russischen Werten zu warnen und dies noch gerade 24 Stunden vor dem Eintritt eines gänzlichen Umschwungs. Hätten wir den Wunsch damals befolgt, so hätten wir uns blamiert und vielleicht viele unsrer Leser zum überstürzten Verkauf von Russen bewogen, und zweimal 24 Stunden später waren Russen um 7 bis 9 Proz. höher hinaufgeschnellt, und wir hätten die bittersten Vorwürfe und vielleicht die schlimmsten Verdächtigungen hören müssen.« (Ebd., Bl. 428)

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Verschärfung des deutsch-russischen Handelsantagonismus prognostiziert, von Plänen des neuen Ministers gesprochen, ein Tabakmonopol einzuführen und die Zölle auf Eisen weiter zu erhöhen. Schmits stieß sich vor allem an der Form der Auslassungen, die eine Gerüchtebildung nur begünstigen konnten. »Sie verschleierten in jenem Artikel Ihre Gedanken dadurch, dass Sie mehr andeuteten oder prophezeiten als bestimmt aussprachen, so dass man nicht klar wird, inwiefern man mit Tatsachen oder Vermutungen zu rechnen hat.«175 Schmits fürchtete offensichtlich die Auswirkungen solcher Äußerungen auf die Finanzund Handelswelt: Äußerungen, die, einmal missverstanden, Schaden stiften und dem Ruf des Blattes schaden konnten. Bereits einige Tage zuvor hatte der Chefredakteur seiner Sorge über die häufig in der Presse zu lesende Wendung Ausdruck verliehen, die Börse habe »flau auf den Art[ikel] der K. Z.« reagiert. Mit Kurseinbrüchen, vor allem mit jenen, die auf unbegründete Mitteilungen zurückzuführen waren, wollte die Zeitung keinesfalls in Verbindung gebracht werden.176 Fischer seinerseits fühlte sich durch die Zurückweisung seines Artikels brüskiert. Er habe bisher immer geglaubt, enge Fühlung mit der Redaktion zu haben und beurteilen zu können, woran diese Anstoß nehme und woran nicht. »[I]ch sehe leider – und das bekümmert mich außerordentlich – dass diese Fühlung mir immer mehr verloren geht.«177 Tatsächlich schienen sich die Zeitung und ihr Korrespondent in der russischen Angelegenheit immer weiter voneinander zu entfernen  – und daran hatte Fischer entscheidenden Anteil. Denn seine Parteinahme für das Auswärtige Amt bzw. für jene antirussischen Kreise um Holstein musste bei der Kölner Redaktion über kurz oder lang nicht nur Anstoß erregen; sie musste auch zu der Wahrnehmung führen, dass jegliche Kritik an den russischen Finanzen und Anleihen, die Fischer vorgeblich zum Schutz deutscher Kleinanleger äußerte, bloß dazu diente, den Sonderinteressen einzelner politischer Gruppen zum Durchbruch zu verhelfen. Für ein Blatt wie die Kölnische Zeitung, unter deren Lesern sich auch viele Industrielle, Kaufleute und Privatiers befanden, konnte sich dies schnell als ein Spiel mit dem Feuer erweisen. Deutlich wurde Fischers Haltung, Finanz- und Anlagefragen ausschließlich unter dem Blickwinkel ihrer Nützlichkeit für die Große Politik zu betrachten, auch im Falle der serbischen Anleihen. Trotz der desolaten Zustände, in denen die serbischen Finanzen sich in den späten 1880er Jahren befanden – 1895 sollte es schließlich zu einem partiellen Staatsbankrott kommen –,178 sah Fischer hierin wiederum keinen Anlass, zum Verkauf serbischer Anleihen aufzurufen. Er appellierte dagegen an die Kölner Redaktion, ihm »etwaige Ihnen zugehende ungünstige Berichte« über die serbischen Finanzen dringend »zur

175 August Schmits an Fischer, 10.2.1887, RDS, FK, Bl. 427. 176 Hierauf nahm Fischer in seinem Brief an Schmits vom 9.2.1887 Bezug, RDS, FK, Bl. 423. 177 Ebd., Bl. 421. 178 Vgl. Mitchener u. Weidenmier, S. 21.

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Begutachtung vor Abdruck zugehen zu lassen.«179 Gleich aus mehreren Gründen wollte Fischer nichts Unvorteilhaftes über Serbien veröffentlicht wissen. Als Satrap Österreichs war das Königreich erstens ein Bollwerk gegen alle panslawistischen Bestrebungen Russlands auf dem Balkan; allein deshalb lohnte es sich schon, alles publizistisch Notwendige zu tun, um das Land finanziell am Leben zu erhalten. Zweitens aber bot sich auch die Gelegenheit, den Erbfeind aus dem Westen, Frankreich, das wirtschaftlich in Serbien engagiert war, zurückzudrängen, denn die Frage der serbischen Finanzen berühre auch »wichtige Fragen für unsere deutsche Industrie«, wie Fischer unterstrich. Es gebe allen Grund, »die bis jetzt mit großem Erfolg begonnenen Bemühungen des Auswärtigen Amtes und der deutschen Kaufleute nicht zu durchkreuzen.«180 Die Redaktion scheint Fischers Wunsch nicht konsequent entsprochen zu haben. Denn schon im Mai 1887 beklagte er, dass das Blatt einen »schlimmen Aufsatz« über die serbischen Finanzen veröffentlicht habe, durch den ganz unnötig die deutschen Besitzer serbischer Papiere geängstigt und die Fortschritte der deutschen Industrie in Serbien gehemmt würden.181 Doch zwischen dem Kölner Blatt und seinem Korrespondenten war keine Einigkeit zu erzielen. Ende Juni desselben Jahres sah sich Neven DuMont genötigt, Fischer in die Schranken zu weisen. In der Redaktion versuche man Fischers Wünschen zu entsprechen, wo dies möglich sei. »Ich weiß«, gab Neven DuMont die Haltung des Chefredakteurs wieder, »dass er oft einzelnes [zum Druck] gegeben hat, was ihm unsympathisch war, nur deshalb, weil Sie es eingesandt.« Doch könne und wolle man Fischers »Serben-Protection« und »Russenhetze« nicht mitmachen. »Wir sind und bleiben doch eine Zeitung und keine Diplomaten, wenn sich auch diese beiden Wege häufig kreuzen. Der Diplomatie kommt alles auf den Erfolg an, während wir doch unsern Lesern in etwa auch mit Gründen dienen müssen. Wenn man aber die wahren Gründe seines Vorgehens nicht sagen kann und darf, so reitet man sich häufig selbst in die Tinte.«182 Mit seinem Verweis auf die Leser der Zeitung, die zu einem Teil auch Anleger waren, hatte Neven DuMont jene ideelle Mission benannt, die dem »Zeitungsmachen« in der Vorstellungswelt der Zeitgenossen auch anhaftete: die Auf­k lärung des Rezipienten. Sie mussten zwangsläufig auf der Strecke bleiben, wenn eine Zeitung sich bereit erklärte, der Diplomatie auf ihren verschlungenen Pfaden zu folgen und ihr unberechenbares Handeln publizistisch zu flankieren. Fixpunkt des Pressegeschäfts blieb für den Verleger des ausgehenden 19.  Jahrhunderts das Leserpublikum, selbst dann noch, wenn man das Zeitungsmachen, weniger idealistisch, lediglich als Geschäft betrachten wollte: Denn wer das Interesse des Lesers vernachlässigte, konnte ihn schnell auch als Käufer verlieren, zumal dann, wenn dieser Leser zugleich ein Anleger war, denn 179 Fischer an Josef Neven DuMont, 3.11.1886, RDS, FK, Bl. 327. 180 Ebd. 181 Fischer an Josef Neven DuMont, 12.5.1887, RDS, FK, Bl. 516. 182 Josef Neven DuMont an Fischer, 24.6.1887, RDS, FK, Bl. 570 f.

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»die Leute, die am Geldbeutel geschädigt werden«, das wusste Neven DuMont nur zu gut, »sind die Unversöhnlichsten«.183 Die »amtliche Pressekampagne« Die punktuellen Warnungen vor russischen Anleihen, die verstreuten Notizen über eine russische Finanzkalamität, die immer wieder gezeichnete Bedrohung durch den russischen Panslawismus und die mit ihr zusammenhängende Gefahr eines Krieges  – all diese in Teilen der deutschen Presse unverbunden nebeneinander stehenden Einzelerscheinungen sollten sich im Nachhinein nur als Vorgeplänkel erweisen einer im Sommer 1887 von amtlicher Seite eröffneten und massiv geführten »Pressekampagne« gegen russische Wertpapiere.184 In ihr fand die »Verquickung von politischer und finanzieller Stimmungsmache«, wie die Frankfurter Zeitung später einmal bemerkte,185 ihren zeitweiligen Höhepunkt, und als ihr Urheber trat nun schließlich auch Bismarck selbst als Akteur auf das finanzjournalistische Feld, um seine außenpolitischen Schachzüge zu flankieren. Der Reichskanzler war, wie bereits angedeutet, schon seit dem Vorjahr zunehmend misstrauischer gegenüber dem Zarenreich eingestimmt gewesen.186 Doch hatte er bisher vor einer konzertierten publizistischen Aktion zurückgeschreckt, da er eine in Aussicht stehende vertragliche Übereinkunft mit dem Zarenreich nicht gefährden wollte. Als diese am 18. Juni 1887 mit der Unterzeichnung des geheimen Rückversicherungsvertrags Wirklichkeit gewor­den war, sah Bismarck die Gelegenheit gekommen, den Vertragspartner mittels eines »Pressefeldzugs« in finanzielle Bedrängnis zu manövrieren. Russland sollte sich seiner finanziellen Abhängigkeit vom deutschen Kapitalmarkt schmerzhaft bewusst werden.187 So widersprüchlich dieses Vorgehen auf den ersten Blick erscheinen mag, so sehr fügte es sich doch in die großen Linien der Russlandpolitik des Reichskanzlers. Bismarck, so hat Fritz Stern diese Wechselhaftigkeit einmal pointiert 183 Neven DuMont an Fischer, 20.11.1889 (RDS, FK, Bl. 1382 f.). – Bereits im Herbst 1886 hatte die Zeitung an Lesern verloren, was man auch im Auswärtigen Amt registrierte. Herbert von Bismarck berichtete am 30.9.1886 an Rantzau über ein Gespräch mit Fischer: »Die K. Z. stelle sich ja gerne zur Verfügung und hätte alles genommen, was wir verlangt hätten, sie würde deshalb aber auch bei diesem Quartalwechsel beträchtlich an Abonnenten verlieren.« Und am 2. Oktober 1889: »Ihre Haltung während der letzten 4 Wochen habe ihr schon viele Abonnenten gekostet: man schwärze sie überall als ›offiziös‹ an, und wie der dumme Deutsche einmal sei, nähme das immer gegen ein Blatt ein.« (Bußmann, S. 382 f.) 184 Vgl. Fn. 156. 185 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 535. 186 So hatte Bismarck z. B. im August 1886 eine Schering-Bestellung in seinem Misstrauen bestärkt, vgl. Stern, S. 537. – Im Juni 1887 war der Reichskanzler deutlich gegen Russland eingestellt, vgl. Dok. 1088 und Dok. 1214 in: GPEK, Bd. 6, 1922. 187 Die Pressekampagne schien dabei keinesfalls zwangsläufig, sondern auch ein Produkt von Bismarcks Unzufriedenheit mit dem Vertragsabschluss und seinem anhaltenden Misstrauen, ja, ängstlichen Unsicherheit, dem Zaren und seiner Politik gegenüber, die er mit dieser Maßnahme zu strafen gedachte.

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beschrieben, »beruhigte und bedrängte, hofierte und verschreckte Russland, um es bei der Stange zu halten.«188 Dass Russland sich unter dieser Bedrängnis von Deutschland abwenden und anderswo sein Heil suchen würde, wie es dies dann tatsächlich bei Frankreich tat, daran mochte der Reichskanzler nicht geglaubt haben. Die im Sommer 1887 von Bismarck inszenierte Pressekampagne durfte vor allem nicht als das erscheinen, was sie in Wirklichkeit war: als politisch motivierte Aktion der Reichsleitung.189 Nicht nur wollte man das amtliche Russland nicht gegen Berlin verstimmen. Auch wusste man, dass deutsche Anleger sonst nur schwer davon zu überzeugen gewesen wären, ihre russischen Papiere abzustoßen. Im »Kampf gegen die russischen Werte«, darauf bestand Bismarck, sollte »nicht die allgemeine politische Frage, sondern nur die wirtschaftliche Seite« berührt werden, die »allein den gewünschten Erfolg  – den Verkauf seitens der kleinen Capitalisten  – erzielen kann.«190 Die Kampagne musste als sachlich begründete Kritik erscheinen, unterfüttert mit ökonomisch nachvollziehbaren Argumenten und geäußert von Medien des finanzjournalistischen Feldes selbst, die den Sachverhalt mit der erforderlichen Expertise zu beurteilen in der Lage zu sein schienen. Penibel suchte Bismarck daher, seine Urheberschaft zu verschleiern und jeden Anschein einer offiziösen Provenienz der lancierten Artikel zu vermeiden. Sein »Leiborgan«, die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, war ausdrücklich von jeder Beteiligung an der Kampagne ausgenommen, Bismarck wollte in ihr absolut »nichts über die Sache bringen.«191 Die Kölnische Zeitung war dazu auserkoren, den Startschuss zur Kampagne zu geben und Fischer angewiesen, einen entsprechenden Artikel zu entwerfen. Die Kernaussage sollte lauten: das Privateigentum von Ausländern sei in Russland nicht mehr sicher.192 Die Vorlage zu dieser Behauptung hatte das Zarenregime dabei selbst einige Monate zuvor geliefert. Am 14. März 1887 hatte die russische Regierung einen Ukas erlassen, der es Ausländern fortan erschwerte, Grundbesitz in den westlichen Provinzen Polens zu erwerben oder zu erben; sie hatte mit dieser Maßnahme vor allem die preußischen Großgrundbesitzer empfindlich getroffen. Nachdem Bismarck den Ukas mehrere Monate, wohlweislich während der Verhandlungen zum Rückversicherungsvertrag, nicht pressepolitisch gegen Russland verwertet hatte, sollte er nun »zugunsten Deutschlands ausgenutzt werden«.193 Der Erlass, so formulierte Fischer in seinem Artikel, der am 29. Juni 1887 in der Kölnischen Zeitung erschien, »veranlaßt uns in logischer Folge aber dazu, auch die Anlage deutschen Geldes in russischen Papieren in diesem Lichte zu betrachten, um unseren Landsleuten die naheliegende Erwägung zu emp188 Stern, S. 608. 189 Siehe hierzu Hink, S. 112–119. – Über den amtlichen Charakter der Kampagne und ihren politischen Hintergrund unterrichtete Herbert von Bismarck den deutschen Botschafter in St. Petersburg, Schweinitz, am 14. Juli 1887 (vgl. ebd. S. 116). 190 Fischer an Vogel, 26. Juli 1887, RDS, FK, Bl. 606 [Hvh. i. O.]. 191 Zit. n. Hink, S. 113. 192 Ebd. 193 Fischer an Josef Neven DuMont, 25.6.1887, RDS, FK, Bl. 572.

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fehlen, daß die Besitzer russischer Geldwerte gelegentlich durch ähnliche Eingriffe betroffen und dadurch zu plötzlichem Verlust geführt werden.« Denn ebenso wie der ausländische Grundbesitz in Russland »ohne Entschädigung zur Confiscation« gelange, so könnten demnächst auch »die Besitzer russischer Wertpapiere enteignet werden«.194 Doch so bereitwillig, wie in der Forschungsliteratur zuweilen suggeriert wird, hatte sich die Kölnische Zeitung dem Pressepolitiker Bismarck nicht zur Verfügung gestellt, damit dieser Außenpolitik betreibe. Es habe einen langen Kampf gekostet, bemerkte Graf Berchem gegenüber Bismarck Mitte Juli 1887, die Kölnische Zeitung zu dieser Kampagne zu überreden, der Eröffnungsartikel sei erst nach »beruhigenden Zusicherungen« aufgenommen worden, »dass regierungsseitig nichts unternommen werde, was die Auslassungen zum Börsenartikel abstempeln würde.«195 Einige Tage vor dem Beginn der Pressekampagne legte Fischer der Redaktion seinen Artikelentwurf vor und suchte dabei auch die Motive Bismarcks für »ein weiteres neues Eingehen in dieser Richtung«, der Russenangelegenheit, zu erläutern; der Begriff einer größeren Kampagne, an der auch andere Zeitungen beteiligt sein würden, fiel in diesem Zusammenhang nicht. Erneut verwies Fischer auf das »Überschwemmen mit russ. Papieren in kleinem deutschen Besitz«, das »gefährlich und bedenklich für Deutschland« sei. Komme es zu einer politischen Verstimmung zwischen Russland und dem Reich, dann müsse es auch »zu einem großen Krach für die deutschen Besitzer russischer Werte kommen, der natürlich am härtesten den kleinen und mittleren Besitzer treffen muss.« Dem könne aber vorgebeugt werden – was »doch wohl auch nur sympathisch für die Redaktion« sein müsse –, »wenn immer und immer wieder auf die Gefahr dieses Besitzes hingewiesen wird«.196 Die Kölnische Zeitung hatte sich die Entscheidung zum Abdruck des Artikels nicht leicht gemacht. Obwohl der Artikel im Ton recht moderat blieb, schien sich die Zeitung doch nicht ganz hinter ihn stellen zu wollen. Seine Veröffentlichung geriet daher mehr zu einem Balanceakt, einerseits dem Auswärtigen Amt entgegen zu kommen und andererseits nicht zu großes Aufsehen damit zu erregen und den Eindruck einer Indienstnahme durch die Hohe Politik oder zu Spekulationsmanövern der Hochfinanz aufkommen zu lassen. Fischer hatte den Wunsch geäußert, den Artikel mit einer Überschrift zu versehen, um ihn so beachtenswerter zu machen, und ihn als Leitartikel zu geben, »vielleicht auch an der Spitze des Handelsteils«, wobei dies »freilich die wenigst[!] erwünschte Form« sei.197 Auch hierzu zeigte sich die Redaktion nur bedingt bereit. Zwar erhielt der Artikel den neutralen Titel »Russische Geldwirtschaft«, seine Plat194 Kölnische Zeitung, 29.7.1887. 195 Berchem an Bismarck, 18.7.1887, zit. n. Hink, S.  115.  – »Börsenartikel« meint hier, Börsenkreise als Urheber des Artikels zu unterstellen, was dem Image der Kölnischen Zeitung ebenso sehr geschadet haben würde wie die Behauptung, ihre Artikel seien vom Auswärtigen Amt inspiriert. 196 Fischer an Josef Neven DuMont, 25.6.1887, RDS, FK, Bl. 572. 197 Ebd., Bl. 573.

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zierung im hinteren Teil  des Blattes wirkte dagegen nicht sonderlich auffallend. Schließlich musste die Redaktion aber auch die Resonanz des Artikels in der deutschen Presse überraschen, die ihn, teils planmäßig wie im Falle offiziöser Blätter, aufgriff und ihm dadurch eine größere Verbreitung zu Teil werden ließ. »Es wäre uns lieber, wir hätten die Sache nicht angefangen«, äußerte Neven DuMont zwei Wochen nach Beginn der Kampagne. »Alle solche Manöver mögen hohe politische Zwecke verfolgen, uns schaden sie jedesmal, da sie auf ihren Ursprung zu durchsichtig, auf ihren Zweck zu undurchsichtig sind.«198 Die regierungsfreundliche freikonservative Post hatte den Artikel der Kölnischen­ Zeitung, so wie von Bismarck angeordnet, am 1.  Juli aufgegriffen und seinen Inhalt affirmativ kommentiert.199 Ihr folgten in den kommenden Tagen in gleichem Tenor die Kreuzzeitung, der Hamburgische Correspondent sowie die Berliner Politische Nachrichten, die am 8. Juli mit dem Ruf schlossen: »Deutsche Kapitalisten, hütet Euch vor russischen Werthanlagen.«200 Über die N ­ euesten Mittheilungen, deren offiziöser Charakter damals noch nicht hinreichend bekannt war, suchte Bismarck zugleich die Bewohner der Provinzen zu erreichen, wo er einen nicht unbeträchtlichen Teil  der »kleinen Kapitalisten« vermutete und wo es für ihn weitaus einfacher war als im großstädtischen Raum, die mediale Deutungshoheit zu erlangen.201 »[I]n einem Lande«, hieß es in der Korrespondenz bedrohlich, »wo der Grundbesitz aufgehört hat, ein sicherer zu sein, ist auch das Eigenthum an Mobiliarbesitz Gefahren ausgesetzt.«202 Das Trommelfeuer der Presse hielt den gesamten Juli unvermindert an. Der »Kampf wurde von unserer Seite jetzt planmäßig geführt, während die Leser dessen eigentliche Bedeutung zunächst nicht voll verstanden«, frohlockte Ludwig Raschdau, der Leiter der handelspolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt.203 In der Wilhelmstraße war ein ganzer Stab von Mitarbeitern mit der Kampagne betraut. Neben Raschdau betätigte sich noch Reichskanzleichef Rottenburg, der persönliche Vertraute Bismarcks, an der Aktion, Rudolf Lindau vermittelte die Pressedirektiven an die Journalisten, und Graf Berchem überwachte den »publizistischen Erfolg«.204 »Eine Menge Reptilien eben am Troge, Dr. Fischer, Köln[ische], Dr. Fuchs, ein anderer, dem Lindau diktirt«, notierte Emil Pindter, der Chefredakteur der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, am 25. Juli 1887 nach einem Besuch im Auswärtigen Amt und schlussfolgerte: »Also große 198 Josef Neven DuMont an Fischer, 12.7.1887, RDS, FK, Bl. 596. 199 Die Post, Nr.  176, 1.7.1887.  – Um den Eindruck einer planmäßigen Kampagne zu verwischen, bemerkte das Blatt: »Es wäre unmöglich, die Wichtigkeit der Ausführungen des großen rheinischen Blattes [der Kölnischen Zeitung] zu verkennen, … wir würden es für ein Unrecht halten, unseren Leserkreis auf diese Wichtigkeit nicht aufmerksam zu machen.« 200 Zit. n. Hink, S. 114. 201 Siehe hierzu Kap. III.1.2. 202 Neueste Mittheilungen, Nr. 70, 12.7.1887. – Ähnlich auch am 26. Juli 1887 (Nr. 74). 203 Raschdau, S. 18. 204 Hink, S. 118 f.

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Activität … Russenhetze geht weiter.«205 Obwohl selbst Zeitungen, die nicht Bestandteil der Pressekampagne waren, so auch liberale wie das Berliner Tageblatt, in den Chor der Wertpapiergegner einstimmten, meldeten sich andererseits auch Blätter zu Wort, denen der Zusammenhang zwischen dem Ukas der russischen Regierung und der Warnung vor russischen Wertpapieren allzu konstruiert erschien.206 Es sei eine »seltsame Logik«, stellte der Berliner Börsen-Courier fest, »wenn man verlangen will, daß der deutsche Capitalist, auf ein gutes und Zins tragendes Papier verzichten soll, weil der Herausgeber dieses Papiers, in diesem Fall der russische Staat, sich gegen deutsche Unterthanen in Russland übel benimmt.«207 Das Blatt, das kaum einen Tag verstreichen ließ, ohne sich vehement gegen die Wertpapierattacken zu Wort zu melden, vermutete hinter der Kampagne »sehr einflussreiche Personen«, die sich durch den Ukas der Zarenregierung »in ihrem materiellen Interessen schwer bedroht fühlen«.208 Die Warnrufe vor russischen Wertpapieren verfolgten daher auch keinen Selbstzweck, sondern seien »private Kundgebungen« jener Großgrundbesitzer, die auf den russischen Staat Druck ausüben wollten. Auch wenn der Börsen-Courier richtig in seiner Einschätzung lag, wonach die Warnungen bloßes Mittel zum Zweck darstellten, so irrte er doch in der Annahme, sie könnten keinesfalls offiziösen Ursprungs seien. Hierbei verwies das Blatt auf den Umstand, dass die Königliche Seehandlung 1884, als »die russische Freundschaft für uns thurmhoch« stand, selbst zur Verbreitung einer russischen Anleihe beigetragen habe, die nun auf einmal eine Gefahr für das deutsche Kapital in sich schließen solle.209 Ähnlich karikierte auch das sozialdemokratische Satireblatt Der wahre Jacob den durch den ErbrechtUkas plötzlich eingetretenen Wandel in der Beurteilung der Güte der russischen 1884-Anleihe (s. Abb. 8) Angesichts des publizistischen Aufwandes der Kampagne (sowie ihrer Kollateralschäden im deutsch-russischen Verhältnis) nahmen sich die erzielten Ergebnisse mehr als dürftig aus. Zwar war es im Juli 1887 zu größeren Verkäufen russischer Papiere gekommen, so dass der Kurs russischer Papiere an der Berliner Börse kurzzeitig um vier bis fünf Prozent nachgab. Nach Stützungs­käufen durch Berliner Bankiers, vor allem Bleichröder, erholte sich der Kurs jedoch 205 Zit. n. ebd., S. 114. 206 Die Frankfurter Zeitung, Nr.  182, 1.7.1887, etwa wollte der Annahme nicht folgen, wonach der Ukas die russischen Wertpapiere in irgendeiner Weise beeinträchtigen könne, da durch ihn »eine Verschlechterung der russischen Finanzlage keinesfalls herbeigeführt worden« sei, und warnte: »So nothwendig bei Beurtheilung finanzieller Fragen der Hinblick auf die politische Lage meist auch ist, so unrichtig [muss] doch unter allen Umständen sein, jede Phase der namentlich in der letzten Zeit bei uns häufig wechselnden politischen Tagesströmungen zum Ausgangspunkt neuer Anschauungen über finanzielle Gegenstände zu machen.« 207 Berliner Börsen-Courier, Nr. 325, 1.7.1887, S. 2. 208 Berliner Börsen-Courier, Nr. 332, 5.7.1887, S. 1. 209 Berliner Börsen-Courier, Nr. 342, 10.7.1887, S. 1.

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Abb. 8: »Erbfreundliches« – »Der wahre Jacob«, Nr. 44, Sept. 1887, karikierte die Wandelbarkeit in der Bewertung der russischen Anleihen durch die offiziöse Presse Deutschlands.

schnell wieder.210 Davon, dass die Kampagne »auf das beste« wirke und Bleichröder »die Hose mit Grundeis« gehe, wie Fischer schadenfroh feststellte, konnte keine Rede sein.211 Und auch Sankt Petersburg zeigte sich, wie zu erwarten war, äußerst verstimmt. Bismarck bestritt zwar jegliche Beteiligung an der Kampagne – die Kölnische Zeitung sei ein unabhängiges Blatt, auf das die Regierung keinerlei Einfluss habe –, doch schenkte man ihm dort keinen Glauben.212 Dem Ziel, die russischen Finanzen zu schädigen, war Bismarck auch Monate nach Beginn der Zeitungspolemik keinen Schritt näher gerückt. Für Reichsbankpräsident Dechend waren die dürftigen Resultate der Kampagne, wie er dem Auswärtigen Amt mitteilte, vor allem darauf zurückzuführen, dass Russland trotz 210 Müller-Link, S. 324 f. – Vgl. auch den Bericht der Frankfurter Zeitung, Nr. 193, 12.7.1887, S. 3. 211 Fischer an Neven DuMont, 21.7.1887, RDS, FK, Bl. 605. 212 Vgl. Hink, S. 115 f. – Gegenüber Fischer berichtete Bismarck über eine Unterredung mit dem russischen Botschafter: »Die Russen hätten sich aufs bitterste über die Angriffe gegen die russischen Werte bei ihm [Bismarck] beklagt. Er habe ihnen geradezu geantwortet: er wisse nicht, was sie wollten; er könne doch unmöglich amtlich die russischen Papiere dem deutschen Publicum als gut anpreisen, schon aus dem einfachen Grund nicht, weil er viele derselben für recht schlecht halte […].« Fischer an Vogel, 9.9.1887, RDS, FK, Bl. 612.

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aller Gerüchte über seine kritische Finanzlage bisher zuverlässig seinen Zahlungsverpflichtungen nachgekommen war. So wie bisher gegen die russischen Papiere vorzugehen, sei daher wenig sinnvoll. Dieser Ansicht wollten sich die Herren in der Wilhelmstraße partout nicht anschließen, hätte dies doch auch bedeutet, die Wirkungslosigkeit der Aktion einzugestehen. In einem Brief an Herbert von Bismarck bat Rottenberg Anfang Oktober daher ausdrücklich, die Kampagne weiterzuführen.213 Auf die Kölnische Zeitung wirkte sich ihre Beteiligung an der Zeitungspolemik, je länger diese andauerte desto ungünstiger aus, und es bestätigten sich die Befürchtungen, die Josef Neven DuMont im Juni 1887 geäußert hatte. Im Verlag zürnte man Fischer. »[T]rotz unserer Abmahnungen sind die Kurse in die Höhe gegangen«, schrieb man ihm von dort am 13. September 1887, »viele Privatleute, die auf unsere ersten Artikel hin verkauft haben, machen uns jetzt Vorwürfe, kurz und gut, wir wollen mit den ›Russen‹ nichts mehr zu tun haben.«214 In den folgenden Monaten flaute die Pressekampagne ein wenig ab. Nun wies Bismarck allerdings Reichsbank und Seehandlung an, keine Lombarddarlehen mehr auf russische Wertpapiere zu gewähren. Dieser »ökonomische Strangulierungsversuch«215 des Zarenreichs erwies sich als weitaus gefährlicher für die russischen Finanzen als alle Presseagitation in den Monaten davor.216 Im Frühjahr 1888 stand die russische Finanzverwaltung kurz vor dem Bankrott; nur die gute Ernte des Jahres 1887 und erfolgversprechende Aussichten für die kommende, vermochten das Blatt im letzten Moment zu wenden.217 Im April 1888 strengte Bismarck daher erneut eine Intensivierung der Pressepolemik an, für die auch Fischer gegenüber der Redaktion warb: Man müsse den »Krieg gegen die russ. Finanzen mit Macht fortsetzen«, gab er Bismarcks Worte wieder, »sonst hätten wir einen Krieg mit Bajonetten zu führen.«218 Doch nur wenige Wochen später sah man die Pressekampagne im Auswärtigen Amt als gescheitert an. Russland hatte sich, was Bismarck wohl so nicht erwartet hatte, finanziell an Frankreich angenähert und war in Anleiheverhandlungen mit dem Haus Rothschild eingetreten. Bismarck, ganz Taktiker und Machtpolitiker, änderte nun auf einmal seine Haltung zu den russischen Werten, deren Bekämpfung ihm immer nur als Mittel zum Zweck gedient hatte. Im Oktober 1888 erklärte er sich gegenüber Bleichröder damit einverstanden, dass deutsche Banken bei der russischen Anleihen über Paris behilflich seien, es war ihm erwünscht, »wenn deutscherseits Rußland Gefälligkeiten erwiesen« würden.219 Fischer, nicht zuletzt aber auch den Kreisen um Holstein,220 für die die seit dem Sommer 1887 obwaltende 213 Müller-Link, S. 327 f.; Hink, S. 118. 214 Vogel an Fischer, 13.9.1887, RDS, FK, Bl. 662. 215 Schmidt, Bismarck, S. 225. 216 Gall, Bismarck, S. 735 f. 217 Müller-Link, S. 330–333. 218 Fischer an Neven DuMont, 20.4.1888 und 30.4.1888, RDS, FK, Bl. 941 und Bl. 948. 219 Müller-Link, S. 334; Stern, S. 617; Kumpf-Korfes, S. 165; Deininger, S. 185–191. 220 Rich, S. 215 f.

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Tonart gegenüber Russland genau die erwünschte gewesen war, musste diese nunmehr konziliantere Gangart des Reichskanzlers zutiefst widerstreben. So war es für Fischer denn auch undenkbar, dass man sich zu der geplanten neuen Anleihe neutral verhielt. Sie »zu bekämpfen und zu verhindern, ist aber geradezu eine patriotische Pflicht«, appellierte Fischer an Neven DuMont.221 Doch wollte sich dieser nun endgültig aus jeglicher Polemik gegen russische Wertpapiere heraushalten. »Wir haben mit unsrer nutzlosen Bekämpfung der rus­sischen Werte so böse Erfahrungen gemacht, dass wir die Sache nicht wiederholen wollen«, entschied Neven DuMont. Leitend war auch diesmal der Gedanke, dass man ein Urteil über Finanzfragen nicht nach politischen Erfordernissen, die doch so häufig wechselten, fällen konnte, ohne dass dabei am Ende die Anleger das Nachsehen hatten. »Wir haben die Russen bekämpft, eine Reihe Leute haben verkauft. Darauf sind die Russen erst recht gestiegen.«222 Ebenso würde es diesmal wieder gehen. Dabei störte Neven DuMont vor allem die Unberechenbarkeit des Reichskanzlers. »Der Fürst Bismarck hat gegen die Russen gearbeitet; plötzlich kommt eine andre Sachlage, man schweigt sich in Berlin aus, wir haben weiter kein Material und die Russen gehen rapid in die Höhe. Alle die Leute, die verkauft hatten, kaufen zu höheren Preisen wieder und schimpfen auf die Kölnische, die ihnen das Geld aus der Tasche gestohlen hat.«223 Zwischen der Redaktion und Fischer, der sich »aufs schlimmste im Stich gelassen« fühlte, waren damit die Fronten in Fragen der Finanzberichterstattung über Russland auf absehbare Zeit verhärtet. Ihre zeitweilige Allianz mit Bismarck endete für die Kölnische Zeitung ebenso wie für ihre Leser in einem Debakel. Doch auch die Reichsleitung hatte einsehen müssen, dass eine Beeinflussung finanzieller Kommunikation in ihrem Sinne nur bedingt möglich war und selbst dann nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte. Nicht nur die Funktionslogik der Medien sperrte sich gegen eine allzu simple Vereinnahmung durch die Politik, sondern ebenso auch die Geschäftslogik des Zeitungsnehmens, das über die Interessen des Leser- und Käuferpublikums nicht einfach hinweg sehen konnte. 2.2 Die Verschiebung nationaler Zuständigkeit: Griechenlands Staatsbankrott von 1893 und die Eigendynamik der Presse Im Fall Griechenlands manifestierte sich eine weitere Dimension der Politisierung des Finanzjournalismus im ausgehenden 19. Jahrhundert. Das Beispiel des griechischen Staatsbankrotts zeigt, wie Medien ihrerseits dazu beitragen konnten, privatwirtschaftliche Vorgänge zu politisieren und sie so auf die Agenda politischen Handelns zu setzen.

221 Fischer an Josef Neven DuMont, 10.11.1888, RDS, FK, Bl. 1066. 222 Josef Neven DuMont an Fischer, 11.11.1888, RDS, FK, Bl. 1070. 223 Josef Neven DuMont an Fischer, 12.11.1888, RDS, FK, Bl. 1071.

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Deutsches Kapital in »Hellas« Der griechische Staatsbankrott vom Dezember 1893 setzte in der deutschen Öffentlichkeit eine beispiellose Erregung frei. Jahrelang hatten deutsche Anleger ihre Ersparnisse in Erwartung sicherer Zinseinkünfte in Griechenland investiert; das war eine Fehlentscheidung, wie sich Ende 1893 plötzlich herausstellen sollte. Die Geschichte des deutschen Kapitalexports nach Griechenland ist die Geschichte großer Irrtümer, fataler Fehleinschätzungen und eines verklärten Griechenlandbildes. »Es ist ja richtig, daß auch Griechenland eine ganz erhebliche Schuldenlast trägt, […] aber die Zustände sind geordnet und gefestigt und überall tritt ernstes Streben zu Tage.« Alles in allem sei die Lage des Landes »unzweifelhaft eine erfreuliche und ganz danach angethan, Gewähr für eine gesunde Weiterentwicklung zu bieten.«224 So lautete etwa die verheißungsvolle Aussicht der Gartenlaube, rund vier Jahre vor dem griechischen Staatsbankrott geäußert und von Millionen Deutschen rezipiert.225 Die Prognose erschien nicht zufällig im Oktober 1889. Sie bildete die wohlkalkulierte mediale Begleitung eines deutsch-griechischen Großereignisses, das zur selben Zeit die Aufmerksamkeit vieler Zeitgenossen auf sich lenkte: die Vermählung der deutschen Prinzessin Sophie von Preußen, einer Schwester Kaiser Wilhelms II., mit dem griechischen Kronprinzen Konstantin. Vor allem Anleger aus dem kleinbürgerlichen Milieu dürften ihre Ersparnisse Ende der 1880er Jahre dem griechischen Staat infolge dieses von Medien in besonders hellen Farben gezeichneten und mit einer royalen Hochzeit ausstaffierten Bildes geliehen haben.226 Schließlich erkannten auch Bankiers die besonderen Gewinnchancen, die sich aus dieser progriechischen Stimmung im Vorfeld der Vermählung ergaben. Die Nationalbank für Deutschland warf im Januar 1889 eine Tranche der griechischen 4-prozentigen Monopol-Anleihe von 1887  – bis dahin nur an den Börsen Westeuropas gehandelt – auf den deutschen Markt. Nur wenige Monate später gelangten griechische Konsols, ohne jegliche Garantien gesichert, durch

224 Perikles v. Melingo: Athen und das neue Griechenland, in: Gartenlaube, Jg. 37, 1889, S. 716. 225 Bernd Sösemann hat darauf hingewiesen, dass sich die publizistische Wirkung der »Gartenlaube« nicht allein an ihrer Auflagenzahl von mehreren hunderttausend Exemplaren festmachen lässt. Die »reale Rezeptionsmacht« erweise sich erst, wenn man die Auslage des Blattes in Konditoreien, Restaurants, Cafés und Klubs mit bedenke. Die Anzahl der Leser dürfte so bei rund 5 Millionen gelegen haben, vgl. Sösemann, Presse, S. 84. 226 Hierauf deuten zahlreiche Eingaben hin, die das Auswärtige Amt nach dem Staatsbankrott 1893 erreichten. Vgl. z. B. Eingabe an Caprivi, 28.10.1893, PA/AA, R 7365, Bl. 45, und Eingabe vom 12.12.1893, PA/AA, R 7365, Bl. 100 f. Die »Vereinigung der Inhaber griechischer Wertpapiere« argumentierte, »dass ein großer Teil des deutschen Publikums zu dem griechischen Staate und seinen Finanzen Vertrauen fasste, weil man die Vermählung als ein Zeichen geordneter Finanzverhältnisse betrachtete.« Zirkular, 25.10.1893, PA/AA, R 7365, Bl. 96. – Das Auswärtige Amt bestritt indes, dass Behauptungen, wonach »ein Bürger seine Tochter oder Schwester unter Berücksichtigung der finanziellen Lage des zu wählenden Gatten verheiratet, auf Fälle vorliegender Art zutreffen.« Protokoll, 11.11.1893 (ebd.). Weitere Eingaben von Privatpersonen in PA/AA, R 7364.

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das Bankhaus S. Bleichröder in den deutschen Handel.227 Wenn ein Unbefangener die Prospekte der Anleihen las, bemerkte ein Reichstagsabgeordneter später einmal über diese Hochstimmung, »so glaubte er, es sei eine reine Goldgrube in Griechenland zu finden, und nachher sind die Gläubiger eigentlich in eine Art Löwengrube hineingefallen«.228 Diese Konstellation beim deutschen Kapitalexport nach Griechenland verdeutlicht einmal mehr die Bandbreite an Faktoren, die Investitionsentscheidungen leiten konnten. Die Wirkkraft finanzjournalistischer Inhalte darf daher nicht überschätzt werden. Als ausschlaggebend für eine Entscheidung erwiesen sich bisweilen außerhalb des finanziellen Diskurses liegende, eher »weiche Themen«. Sie erlaubten auf den ersten Blick keinerlei Rückschlüsse auf Aspekte, die bei der Kapitalanlage in Staatsanleihen gewöhnlich zu beachten waren – so etwa die Zahlungsmoral, Haushaltsbilanz oder die dargebotenen Sicherheiten des Schuldnerstaates. Dennoch beruhte auch die Strahlkraft eines Themas wie das der royalen Hochzeit auf dessen medialer Reproduktion und Inszenierung.229 In den Handelsspalten der Tageszeitungen begegneten zu dieser Zeit gleichwohl vereinzelte Warnungen an Kleinanleger, über den höheren Zinssatz sogenannter »exotischer Werte« nicht das höhere Risiko, das damit eingegangen werde, zu vergessen. So riet etwa der Berlin-Korrespondent der Kölnischen Zeitung, Franz Fischer, im Sommer 1887 seiner Redaktion, die neu aufgelegte 3,5-prozentige Reichsanleihe nicht deshalb zu bekämpfen, weil ihr Zinsfuß zu niedrig sei. Denn so würden die Leute nur veranlasst, höherverzinsliche, aber schlechtere Werte zu kaufen.230 Ein Blick in die griechische Finanzgeschichte hätte Anleger in jedem Fall zur größten Vorsicht mahnen müssen.231 Bereits wenige Jahre nach Erringung der Unabhängigkeit hatte Griechenland die Bedienung zweier Anleihen, die es 1824 und 1825 in London aufgenommen hatte, ausgesetzt. 1843 stellte das Land seinen Schuldendienst völlig ein. Die griechische Zahlungsmoral war dermaßen schlecht, der Kredit des Landes so desolat, dass es auf Jahrzehnte hinaus vom europäischen Kapitalmarkt ausgeschlossen blieb. Erst 1879 wagte sich Griechenland wieder aus der Deckung. Unter Ministerpräsident Charilaos Trikoupis (1832–1896), einem weltläufigen Politiker, begann das Land allmählich wieder 227 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 544. – Näheres zu den einzelnen Anleihen und den daran beteiligten Banken liefert Schaefer, S. 320–328. 228 Otto Schmidt, Reichstagsrede, 16.3.1895, in: Stenographische Berichte, Bd.  139, 1895, S. 1543. 229 Per se irrational handelten Anleger allerdings nicht, wenn sie ihre Ersparnisse nach Griechenland exportierten. Sie folgten damit lediglich dem Lockruf einer, im Vergleich zu heimischen Anleihen, höheren Verzinsung, die der südosteuropäische Staat seinen Gläubigern gewährte. Griechenland war dabei nur eines von vielen kapitalsuchenden Ländern, das sich seit den 1880er Jahren an die internationalen Finanzmärkte wandte und in deutschen Sparern bereitwillige Investoren fand  – Italien und Österreich-Ungarn, um nur einige zu nennen, waren andere. Vgl. die Übersicht in Daudin u. a., S. 10 und 12.  230 Fischer an Neven DuMont, 4.6.1887, RSD, FK, Bl. 545. 231 Folgender Absatz basiert primär auf Psalidopoulos u. Schönhärl.

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international an Ansehen zu gewinnen. So gelang zwischen 1879 und 1893 die Platzierung von sieben Anleihen mit einem Nominalbetrag von 730 Millionen Francs, aufgenommen vor allem durch den britischen, französischen und deutschen Markt.232 Seit 1892 jedoch deutete in der Wahrnehmung von Spitzendiplomaten und Regierungsbeamten Vieles darauf hin, dass Griechenland in naher Zukunft seinen Schuldendienst würde einschränken oder ganz aussetzen müssen. Ob der griechische Staat noch kreditwürdig war, ob es ihm gelingen würde, eine weitere Anleihe zu platzieren und damit den Staatsbankrott abzuwenden, war jedoch keine Frage, über die in diplomatischen Zirkeln entschieden wurde, sondern über die auch die »ökonomische Meinung« der Gläubigerstaaten richtete. Staatskredit und Öffentlichkeit Seit der Französischen Revolution – dem Zeitalter, in dem die moderne Staatsschuld entstand233 –, schrieb der Gießener Jurist Johann Heinrich Bender 1830, »ist nicht mehr derjenige Staat der mächtigere, welcher die meisten Unterthanen, das größte Gebiet, oder die stärkste Heeresmacht hat, sondern derjenige, welcher den meisten Kredit besitzt, der also seine Anlehn[!] am Leichtesten und Wohlfeilsten machen kann; alle Politik fußt seitdem auf diesem Vertrauen. Dasselbe hängt aber ab von dem Benehmen einer Regierung nach Innen und Aussen, von ihrem Haushalt und von der Art, wie sie diesen zu verwalten pflegt, namentlich ob sie dessen Grundsätze öffentlich darlege, alle Bedingungen eines Anlehns treu und gewissenhaft erfülle, alle Anlehn gehörig sicher stelle, für einen tüchtigen Tilgungsstock sorge, dessen Verwaltung ganz selbst verständlich mache, jeden Eingriff für fremdartige Zwecke vermeide, nirgends einen Schleier des Geheimnisses überdecke, überhaupt den Kredit nicht als die Kunst, Schulden zu machen, betrachte, sondern ihn überall auf das Vertrauen zu ihrer Kraft und ihrem guten Willen stütze, von der Überzeugung ausgehend, daß sich Kredit niemals erzwingen lasse.«234

Der Staatskredit, so lautete die sich im 19.  Jahrhundert allmählich verfestigende Vorstellung, bildete keine lediglich materielle Ressource, sondern zugleich auch eine immaterielle. Er war abhängig von der Transparenz, Publizität und Glaubwürdigkeit gouvernementalen Schuldenmachens. Zum einen begriffen ihn Zeitgenossen als das »Vermögen, aus welchem die übernommenen Verbindlichkeiten zu bestreiten sind«, zum anderen, wie der lateinische Wortursprung schon andeutet, als das »öffentliche Vertrauen« zur Regierung.235 Die Generierung, Entziehung oder Zerstörung dieses Vertrauens vollzog sich dabei zu einem guten Teil  in einer diskursiven Öffentlichkeit. Diese konnte im 232 Näheres zu den einzelnen Anleihen und den beteiligten Banken liefert Schaefer, S. 320–328; Psalidopoulos u. Schönhärl, S. 155. 233 Vgl. Kap. I. 1.  234 Bender, S. 19 f. (Hvh. i. O.). 235 Kleinschrod, 87 f.

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Falle von Staaten wie Griechenland, die Kapital aus dem Ausland importierten, schnell Ländergrenzen überschreiten und sich damit in nationalen Kommunikationsräumen anderer Staaten konstituieren. In der öffentlichen, »ökonomischen Meinung« bildete sich – so dachten Zeitgenossen – das öffentliche Vertrauen ab, das Staaten genossen, »kein Gesetz in der Welt aber kann diese öffentliche Meinung auf die Dauer beherrschen, keins auf die Dauer sie dem entziehen, der durch sein stets gleiches rechtschaffenes Benehmen in Geschäften sie verdient, keins auf der andern Seite dem Kredit geben, der ihn nicht verdient oder sich ihn verscherzt hat!«.236 Welche Konsequenzen zeitigte dieser Bedeutungszuwach der Öffentlichkeit für die griechische Praxis des Schuldenmachens zum Ausgang des 19. Jahrhunderts? Der griechische Staat hatte seinen Kredit nicht nur gegenüber der eigenen nationalen Öffentlichkeit zu verteidigen, sondern auch gegenüber den nationalen Öffentlichkeiten der Gläubigerstaaten. Medien  – und hierbei in erster Linie die Akteure des finanzjournalistischen Feldes – schufen diese Öffentlichkeit maßgeblich und prägten diese gleichsam durch ihre redaktionellen Inhalte. Die kommunikative Vernetzung Europas begünstigte es, dass sich Zeitungen und Nachrichtenagenturen zu Scharnieren entwickelten, die nationale Öffentlichkeiten miteinander verknüpften. Die Frankfurter Zeitung unterhielt bereits seit den 1870er Jahren einen eigenen, journalistischen Korrespondenten in Athen, ebenso die Vossische Zeitung, und auch für die Kölnische Zeitung ist Ähnliches anzunehmen. Andere Blätter bezogen ihre Informationen über Griechenland durch das WTB, das seine Meldungen wiederum, gemäß dem Kartellvertrag mit der französischen und englischen Nachrichtenagentur, von Havas und Reuters erhielt, die über eigene Korrespondenten in Athen verfügten.237 Medienvertreter erstatteten ihren nationalen Öffentlichkeiten fortlaufend Bericht über die wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung in Griechenland, was schließlich auch Auswirkung auf den griechischen Kredit im Ausland haben musste. Trikoupis hatte sich auf diese Gemengelage, in denen Journalisten zu politischen Akteuren sui generis avanciert waren, einzustellen. In seinen Reden vor der griechischen Kammer wandte er sich daher nicht lediglich an die versammelte parlamentarische – oder mittelbar nationale – Öffentlichkeit, sondern ebenso an die Öffentlichkeiten des Auslandes. Anlässlich einer Haushaltsdebatte 1886 appellierte er, das zu notierende Budget müsse den griechischen Staatsgläubigern beweisen, dass man »ehrlich bestrebt« sei, seine Schulden zu bezahlen, und »dass die beunruhigenden Gerüchte, welche in den Zeitungen des Auslandes über die Finanzlage Griechenlands und die Unabwendbarkeit des Staatsbankrottes umliefen«, unbegründet seien. Nicht wenig überrascht stellte der deutsche Gesandte in Athen fest, dass Trikoupis »offenbar besonderen Werth« darauf lege, »die ausländischen Kapitalisten« davon zu überzeugen, einen aus-

236 Bender, S. 537. 237 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 294.

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geglichenen Haushalt vorlegen zu können.238 Die kurzzeitige Stabilisierung des griechischen Kredits in den Jahren 1888/89 war nur ein flüchtiges Intermezzo. Zu einem Gutteil erwies sie sich als das Produkt einer enthusiastischen Griechenlandbegeisterung im Kontext der oben geschilderten royalen Vermählung. Nach 1890/91 schlug das Pendel mit der gleichen Heftigkeit in die Gegenrichtung, als sich abzeichnete, dass alle Sanierungsanstrengungen zum Scheitern verurteilt waren.239 Noch 1890 war es der griechischen Regierung gelungen, eine 5-prozentige Anleihe zu platzieren, deren erste Serie im Juni durch die Nationalbank für Deutschland zu einem ungewöhnlich hohen Kurs (94,5 %) zur Ausgabe gelangte. Ihren Erfolg verdankte die Anleihe, deren Einnahmen laut Emissionsprospekt dem Bau der Piräus-Larissa-Eisenbahnstrecke dienen sollten, zum einen ihrer hohen Verzinsung und zum anderen den zahlreichen hypothekarischen Sicherheiten, welche die griechische Regierung den Investoren gewährte. Anfang 1891 jedoch enthüllte eine Athener Zeitung, der Messager d’Athènes, dass von den aufgenommenen 90 Mio. Francs erst zwei Mio. tatsächlich zum Bau der Eisenbahn verwandt worden waren. Der Deutsche Ökonomist, der den Artikel übernahm, mutmaßte, es stehe mit den »Finanzen dieses classischen Landes […] wiederum herzlich schlecht«, und wandte sich in scharfen Worte gegen die Nationalbank für Deutschland, die soeben die zweite Tranche der Anleihe ausgegeben hatte: »Wenn in einem finanziell wohlsituirten Staat eine für einen speciellen Zweck bestimmte Anleihe vorübergehend zu anderen Zwecken benutzt wird, so ist das ungefährlich«, doch sei das in Griechenland anders. Wenn »dort der Staatscredit versagt, was doch sehr wohl geschehen kann, so kommt die Eisenbahn, welche der Anleihe als Pfand verschrieben ist, einfach nicht zu Stande!«.240 Vier Monate später nannte der Ökonomist die Zweckentfremdung der Anleihe bereits einen »Treubruch«. Erstaunlich sei nur, »dass unser Publikum mit dem Verkauf seiner griechischen Papiere wieder so lange wartet, bis schwere Verluste darauf liegen werden«, setzt das Blatt unmissverständlich hinzu.241 Und zum Jahresende verschärfte es seine Warnung noch um ein Weiteres: Die griechischen Staatspapiere gehörten »zweifellos zu den unsichersten Anlagewerthen, welche der Courszettel aufzuweisen hat.«242 Indessen sah selbst die griechische Regierung ein, dass ein Totschweigen der schwierigen Situation nicht länger zweckdienlich war und räumte im Februar 1891 zumindest eine kritische Finanzlage ein.243 Drastischer hatte es der deutsche Gesandte in Athen zwei Wochen zuvor formuliert: »[D]ie Kassen sind leer; 238 Rede vom 8.11.1886, zit. n. Deutsche Gesandtschaft Athen an AA, 12.11.1886, PA/AA, R 7361, Bl. 192. 239 Levandis, S. 75. – Erschwerend hinzu kam der Abschwung in der Weltwirtschaft, der seit 1891 einsetzte und Frankreich zu einer Verminderung seiner Importe griechischer Waren nötigte, s. Petersson, S. 36. 240 Der Deutsche Ökonomist, Nr. 425, 7.2.1891, S. 64. 241 Ebd., Nr. 443, 13.6.1891, S. 338. 242 Ebd., Nr. 466, 21.11.1891, S. 579. 243 Vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 624.

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der Kredit der Regierung im Ausland beinahe auf Null gesunken.«244 Über die Ursachen dafür gingen die Meinungen auseinander. In einem Zirkular, das sie ihren Gesandtschaften in den jeweiligen Ländern zukommen ließ und in dem sie kommunikationspolitische Instruktionen gab, verbreitete die griechische Regierung ihre eigene Version über die Hintergründe der misslichen Finanzlage. Sie liege nicht in der griechischen Finanzwirtschaft selbst begründet, sondern zeige sich als eine »unnatürliche«, und die Regierung habe sich überzeugen müssen, »dass dieselbe auf Personen zurückzuführen ist, welche bei dieser finanziellen Anomalie ihre Rechnung finden.«245 Diese Deutung der Krise als das Ergebnis einer Konspiration von Spekulanten dürfte kaum zur Hebung des Staatskredits beigetragen haben. Gleichwohl bemühte man auch künftig häufig den Begriff der »Anomalie«. Im Juni 1892 versicherte Trikoupis, Griechenland werde seinen Verpflichtungen gerecht werden und müsse sich » des Vertrauens Europas würdig zeigen und seinen Kredit daselbst in weitem Umfang wiederherstellen«, nicht nur seinen materiellen Kredit müsse es bewahren, sondern auch sein »moralisches Ansehen«.246 Die Börsen reagierten auf die Rede mit einem Kurssturz, über den Trikoupis sich »peinlich beeindruckt« zeigte.247 Doch auch im November 1892 noch leugnete Trikoupis hartnäckig, dass eine finanzielle Krise in Griechenland überhaupt existiere. Internationale Investoren und Bankhäuser dachten hier anders. Der Versuch, eine neue internationale Anleihe zustande zu bringen, scheiterte nach kurzer Zeit. Reichskanzler Caprivi mokierte sich in Berlin über die griechischen Illusionen: »Wer wird auch noch so dumm sein, an das heruntergekommene Land Geld zu borgen.«248 Im Glauben an die Unvermeidbarkeit eines Staatsbankrotts sah man in Berlin folglich auch keinen Grund, den Griechen bei der Platzierung der Anleihe behilflich zu sein, ja, man hielt es sogar für angeraten, wie das Reichsschatzamt gegenüber dem Auswärtigen Amt darlegte, »dem Eindringen der geplanten griechischen Anleihe nach Deutschland entgegenzuwirken und insbesondere das deutsche Publikum vor der Beteiligung an derselben in geeigneter Weise zu warnen.«249 Bald schon begannen die europäischen Anleger die Auswirkungen der Finanzkalamität zu spüren. Anfang Juni dekretierte der griechische König, dass die nächstfälligen Coupons nicht mehr in Gold ausgezahlt werden sollten, sondern mittels einer »Fundierungsanleihe«, die Griechenland im letzten Moment und unter unvorteilhaften Konditionen mit dem Londoner Bankhaus Hambro & Co ausgehandelt hatte.250 Unter den Anlegern herrschte Entsetzen. »Es war seit Jahren 244 Deutsche Gesandtschaft Athen an AA, 29.1.1892, PA/AA, R 7362. 245 Zirkular, 18.2.1892; »Die finanzielle Lage Griechenlands«, Allgemeine Reichs-Correspondenz, 23.2.1892, PA/AA R 7364, Bl. 157. 246 Rede vom 7.7.1892, zit. n. Deutsche Gesandtschaft Athen an AA, 8.7.1892, PA/AA, R 7362, Bl. 151. 247 Deutsche Gesandtschaft Athen an AA, 22.7.1892, PA/AA, R 7362. 248 Deutsche Gesandtschaft Athen an AA (Randnotiz), 14.3.1893, PA/AA, R 7363. 249 Reichsschatzamt an AA, 25.4.1893, PA/AA, R 7363, Bl. 143. 250 Lulos, S. 69; Levandis, S. 77 f.

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durchaus verständlich und ist an dieser Stelle auch bis zum Überdruss vorausgesagt worden«, kommentierte der Deutsche Ökonomist entrüstet, »dass Griechenland mit seiner arbeitsscheuen, verlotterten Bevölkerung von nur wenig mehr als 2 Millionen Köpfen unter keinen Umständen fähig sei, die kolossalen Schulden […] dauernd regelmäßig zu verzinsen.«251 Die aggressiven Auslassungen dieses Blattes bildeten nur einen Vorgeschmack dessen, was von deutscher Seite an publizistischer Empörung in der kommenden Zeit über Griechenland hereinbrechen sollte. Und sie ließen ihrerseits in Griechenland den Eindruck aufkommen, dass an den Kreditschwierigkeiten des Landes nicht etwa die Finanzlage ursächlich sei, sondern das durch ausländische Journalisten herbei geschriebene schlechte Image Griechenlands. So echauffierte sich die Kairoi, eine der größten Zeitungen Athens, über deutsche Blätter, die »jederzeit aus böswilliger Absicht die unerhörtesten Beleidigungen« gegen das Land druckten. Wenig später sprach das Blatt gar von eine »systematischen und scheußlichen Krieg« der deutschen Presse gegen Griechenland. Deutsche Korrespondenten in Athen ersännen Lügen und Verleumdungen gegen das griechische Volk.252 »Pressure groups«, Pressefuror und die Intervention der Reichsleitung Am 10. Dezember 1893 verkündete der griechische Ministerpräsident in denkbarer Kürze die Zahlungsunfähigkeit seines Landes. »Leider sind wir bankrott«, soll Trikoupis sich gegenüber dem Parlament und der europäischen Öffentlichkeit geoffenbart haben.253 Mit der Bankrotterklärung verbunden war die Ankündigung, Zinszahlungen künftig nur noch mit einem Abschlag von siebzig Prozent auf den Nominalbetrag zu leisten. Spätestens jetzt wurde allen deutschen Gläubigern bewusst, dass ein Großteil ihrer Anlagen auf dem Spiel stand. Schon nach den empfindlichen Maßnahmen infolge des Juni-Dekrets hatten sich einige von ihnen zu organisieren begonnen. Am 28.  September 1893 rief man die Freie Vereinigung der Inhaber griechischer Wertpapiere ins Leben. Ein fester Ausschuss, bestehend aus 13 Mitgliedern, sollte fortan öffentlich Protest gegen die Maßnahmen der griechischen Regierung artikulieren, Kritik an der »Untätigkeit der beteiligten Emissionsbanken« zum Ausdruck bringen sowie rechtliche Schritte gegen Griechenland einleiten bis hin zur Einsetzung einer »internationalen Finanzkommission«.254 Um diesen ambitiösen Zielen näher zu rücken, war es zunächst nötig, sich durch »öffentliche Agitation« bekannt zu machen. Dies bedeutete nicht nur, durch Protestveranstaltungen den öffentlichen Raum symbolisch zu besetzen, sondern auch und vor allem, sich in den Spalten der Tagespresse Gehör zu verschaffen.255 Von Beginn an bezog die Freie 251 Deutscher Ökonomist, 17.6.1893. 252 Kairoi, 10./22.1.1894 und 31.1./12.2.1894, zit. n. einer Übersetzung des Deutschen Gesandten an Caprivi, 3.3.1894, PA/AA, R 7369. 253 Zit. n. Psalidopoulos u. Schönhärl, S. 149. 254 Siehe die Broschüre der Freien Vereinigung in: PA/AA, R 7369, Bl. 9–19. 255 Die ersten Versammlungen hätten dem Ziel der »öffentlichen Agitation« gedient, s. Freien Vereinigung, S. 3.

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Vereinigung daher die Presse in ihr Kalkül mit ein und sandte eifrig Zirkulare an Zeitungsredaktionen, um diese über ihre Tätigkeit aufzuklären. »Wir hoffen, dass die bedeutendste Großmacht der Welt, ›die Presse‹, uns im Kampfe um das Recht und gegen die uns durch die griechische Regierung zugefügte Vergewaltigung Beistand leisten wird«.256 An Reichskanzler Caprivi schrieb man, wohl nicht ohne beabsichtigte Übertreibung: Um »Hunderte von Millionen« sei das Nationalvermögen geschädigt worden. »Ohnmächtig steht das deutsche Kapital diesen Verhältnissen gegenüber.« Von der Regierung forderte die Vereinigung, auf die Einsetzung einer Finanzkommission hinzuwirken, deren Aufgabe es sei, »die griechischen Finanzen derartig zu ordnen und zu überwachen, dass die Gläubiger Griechenlands sicher und dauernd befriedigt werden.«257 Zahlreiche Tageszeitungen berichteten über die Eingabe neutral bis zustimmend und machten diese damit zugleich publik. Die Kreuzzeitung zitierte ausführliche Passagen. Allein die Norddeutsche Allgemeine Zeitung erklärte versöhnlich im Ton und doch entschieden: »So sehr auch die deutsche Reichsregierung die mißliche Lage der Inhaber griechischer Wertpapiere würdigt, so kann sie doch einen Schritt, wie den beantragten, gegenüber einem souveränen Staate wie Griechenland nicht für angezeigt halten.«258 Tatsächlich hatte die Reichsleitung gute Gründe, Zurückhaltung in dieser Angelegenheit zu üben. In einem Beitrag für die Zeitschrift Die Nation hatte der liberale Politiker Ludwig Bamberger unter dem Titel »Papiere und Kanonen« zwei Jahre zuvor auf die unabsehbaren Folgen aufmerksam gemacht, falls eine Regierung »ihre Diplomatie mobil macht«, um Forderungen von Privatgläubigern gegenüber fremden Staaten durchzusetzen. Denn im Fall der Rechtsverweigerung, so schlussfolgerte Bamberger, müsste sie dann auch entschlossen sein, ihre Armee mobil zu machen. »Daher ist die Frage so zu stellen, ob eines Landes Interesse oder Ehre verlange, daß für Privatforderungen seiner Angehörigen an eine fremde Regierung äußersten Falls ein Krieg zu führen sei.«259 Im Herbst 1893 gab die Reichsleitung hierauf noch ein entschiedenes Nein zur Antwort, wie die Vertreter der Freien Vereinigung bald schon bei einer Unterredung im Auswärtigen Amt, zu der sie am 11. November geladen worden waren, erfahren sollten. »Die deutsche Regierung«, erklärte Kiderlen-Wächter, »habe für die Sünden einzelner Bankhäuser weder moralisch noch juristisch einzutreten, da sie die Situation nicht geschaffen habe.« Überdies sei es bedenklich, einem souveränen Staat eine Finanzkommission zu oktroyieren. Auch schüfe man so für »neue ungünstige Anleihen Präzedenzfälle […], die immer und immer wieder ein Eingreifen des Auswärtigen Amtes erfordern würden.«260 Dies war eine berechtigte Sorge. 256 Zirkular, 25.10.1893, PA/AA, R 7365, Bl. 96. 257 Eingabe vom 18.10.1893, abgedruckt in: Zirkular, 25.10.1893, PA/AA, R 7365, Bl. 96 f. 258 Berliner Börsen-Zeitung, 26.10.1893; Kreuzzeitung, 26.10.1893; Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 16.11.1893. 259 Die Nation, Nr. 52, 17.9.1892, S. 761–765. 260 Gesprächsprotokoll, 11.11.1893, PA/AA, R 7365.

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Denn auf diese Weise mussten Anleger zum Kauf riskanter Anleihen geradezu verleitet werden, da sie im schlimmsten Fall immer auf ein diplomatisches Einschreiten der Regierung vertrauen konnten.261 Im Auswärtigen Amt war man dagegen von einer solidarischen Hilfestellung weit entfernt. »Politisch ist die Sache für uns absolut gleichgültig; Griechenland ist für uns tratee qu’il y a de plus quantité négligeable.«262 Zudem war die genaue Höhe der auf dem Spiel stehenden Summe nicht zu ermitteln, da Angaben über die noch in deutschen Händen befindlichen Wertpapiere Griechenlands fehlten.263 Während die Reichsleitung in der kommenden Zeit eher gemäßigten Schätzungen zugeneigt haben dürfte – nicht zuletzt, um die fehlende politische Relevanz der Angelegenheit einmal mehr zu betonen –, dürften jene Summen »gewaltig übertrieben« worden sein, wie die Frankfurter Zeitung später feststellte,264 welche die kapitalistischen Interessenvertreter in ihren Zirkularen verbreiteten und die durch die Presse, durch ihnen wohlgesinnte Journalisten oder durch unkritische Übernahmen ihren Weg in den öffentlichen Diskurs fanden. Als der deutschkonservative Reichsbote am Anfang 1894 noch vage von »Millionen geraubten Kapitals« sprach, hatte die Freie Vereinigung schon längst eine Schädigung des Nationalvermögens »um Hunderte von Millionen« postuliert.265 Das Schutzcomité von Besitzern griechischer Staatspapiere, im Januar 1894 unter Führung der Nationalbank für Deutschland und Mitwirkung der Freien Vereinigung ins Leben gerufen, schätzte wiederum die »von uns vertretene Summe […] zur Zeit auf 30 Millionen Mark«. Doch wusste sein Präsident, Wachler, bereits zu diesem Zeitpunkt, dass je höher diese Summe sei, »desto sicherer ist der Erfolg.«266 Im August 1894 veranschlagte Wachler den Verlust deutschen Kapitals gegenüber dem Auswärtigen Amt bereits auf 130 Mio. Mark.267 Ein internes Promemoria für Reichskanzler Caprivi sprach etwa zur selben Zeit von Wertpapieren in Höhe von ca. 200 Mio. Mark, die sich noch in deutschem Besitz befänden, vermied es jedoch, Verluste zu beziffern.268 In einer an alle Reichstagsabgeordneten versandten Denkschrift vom Dezember 1895, behauptete das Schutz261 In der Terminologie der Wirtschaftswissenschaft »moral hazard« genannt, vgl. Petersson, S. 39. 262 Notiz, Kiderlen-Wächter, 10.4.1893, PA/AA, R 7363, Bl. 187 f. 263 Bereits im Februar 1893 hatte das Auswärtige Amt versucht, sich hierüber Klarheit zu verschaffen und das Reichsschatzamt um Auskunft ersucht. Von dort konnte man nur mitteilen, dass von den in Deutschland eingeführten griechischen Anleihen im Gesamtvolumen von rund 484 Mio. Mark lediglich 5,8 Mio. beim Kontor der Reichshauptbank für Wertpapiere deponiert seien. Aufgrund der hohen Aufbewahrungsgebühr der Reichsbank dürfe man daraus aber nicht den Schluss ziehen, fügte die Behörde hinzu, dass sich nur ein »verhältnismäßig geringer Betrag« in Deutschland befinde. Vgl. AA an Reichsschatzamt, 16.2.1893; Reichsbank an Reichsschatzamt, 27.2.1893, PA/AA, R 7363, Bl. 106 ff. 264 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 628. 265 Reichsbote, 9.1.1894. 266 Deutsches Schutzcomité von Besitzern griechischer Staatspapiere, PA/AA, R 7369, Bl. 6. 267 Wachler an AA, 4.8.1894, PA/AA, R 7373, Bl. 63. 268 Promemoria, Mumm an Caprivi, 29.7.1894, PA/AA, R 7372.

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comité nunmehr, dass 280 Mio. Mark deutschen Kapitals in Griechenland lägen und suggerierte damit freilich, dass diese Summe in Gänze gefährdet wäre.269 Mochte das Auswärtige Amt anfangs noch allen Grund gehabt haben, die Schädigung deutscher Sparer als private Angelegenheit zu betrachten, so änderte sich dies nach der Bankrotterklärung des griechischen Staates und seiner Reduzierung der Zinszahlungen an die ausländischen Gläubiger um siebzig Prozent Mitte Dezember 1893. Nicht so sehr das scheinbar objektive Argument der Zahl, das sich in den immer höher veranschlagten Verlustbezifferungen manifestierte, musste zu einer Neubewertung der Lage führen. Denn nach wie vor neigte man der Ansicht zu, dass Anleger für das von ihnen eingegangene höhere Risiko auch die Konsequenzen zu tragen hätten. Als viel wichtiger in diesem Zusammenhang dürfte sich die medial in Szene gesetzte öffentliche Reaktion auf den griechischen Staatsbankrott erwiesen haben. Angesichts des nun einsetzenden Pressefurors konnte die Reichsleitung nicht länger untätig bleiben, ohne das eigene Gesicht zu verlieren.270 Man solle das »Attentat gegen das ausländische Capital« in Griechenland schnell rückgängig machen, forderte etwa der Berliner Börsen-Courier, da es die Mächte im Notfall auch an »ernsteren Recriminationen« nicht fehlen lassen würden.271 Dies war freilich nicht mehr als eine Drohkulisse, da die Reichsleitung zu diesem Zeitpunkt keineswegs mehr als eine diplomatische Protestnote in Erwägung zog. Der Reichsbote spann mögliche Maßnahmen bereits zwei Tage später weiter, indem er feststellte, auf Länder wie Griechenland könnten nur Tatsachen Eindruck machen, keine mündlichen Vorstellungen von Diplomaten: »Wegnahme ihrer Flotte, Beschlagnahme ihrer Besitzungen, Inseln, Kolonien, Blockierung ihrer Häfen.«272 Die Frankfurter Zeitung forderte den Ausschluss sämtlicher griechischer Anleihen vom deutschen Börsenhandel.273 Dass sich viele der meinungsführenden Organe der deutschen Presse mit den deutschen Wertpapierbesitzern solidarisierten, hatte gleich mehrere, kommerzielle wie individuelle Gründe. Es war schlichtweg verkaufsfördernd, bei einem derart populären und gemeinschaftsstiftenden Thema für das Heer der Anleger das Wort zu ergreifen. Auch waren manche Journalisten bzw. deren Umfeld persönlich vom Staatsbankrott betroffen.274 Von größerer Bedeutung allerdings scheinen redaktionspolitische Gründe. Das rigorose Vorgehen der griechischen 269 Schutzcomité an alle Reichstagsabgeordneten, »Denkschrift zum Etat des Auswärtigen Amtes und zum Börsenreformgesetz« [Dez. 1895], BA-L, R 3118/1885. 270 Vgl. etwa die Kritik an der Reichsleitung durch den Reichsboten, 17.11.1893. 271 Berliner Börsen-Courier, 18.12.1893. 272 Der Reichsbote, 20.12.1893. 273 Frankfurter Zeitung, 18.12.1893, paraphrasiert nach Levandis, S. 79. 274 Eingabe vom 17.9.1893, PA/AA, R 7365, sowie Eingabe vom 17.1.1894, PA/AA, R 7368, Bl. 122. – Vgl. auch die Eingabe des deutschen Paris-Korrespondenten (u. a. für die Germania und Kölnische Volkszeitung), Julius Lang, in dessen Besitz sich nach eigener Auskunft griechische Anleihen v. 1881 und 1885 befanden und der die Einsetzung einer internationalen Finanzkommission forderte, 15.5.1894, PA/AA, R 7370.

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Regierung musste vor allem liberale Zeitungen auf die Barrikaden treiben. Für sie markierte nicht der Staatsbankrott an sich das eigentliche Problem, sondern die Weigerung, die den Anlegern im Falle einer Zahlungsunfähigkeit garantierten Pfänder zu überlassen, ein »offener Rechtsbruch«, wie die Frankfurter Zeitung kritisierte, gar ein »betrügerischer Bankrott«, wie die Vossische Zeitung urteilte.275 In den Augen der Frankfurter Zeitung würden mit diesem Bankrott all jene »soliden Sparer« für ihre Vorsicht bestraft, die – auf die Sicherheit ihrer Investition bedacht – gerade Anleihen mit besonderen Garantien vorgezogen hatten. Sollte Griechenland ungestraft davonkommen, würde in Zukunft auch jeder andere Staat, der seine Anleihen mit Spezialgarantien versehe, auf Misstrauen stoßen. »Den Besitzern griechischer Fonds bleibt daher zunächst nichts übrig als zusammenzutreten, um mit vereinter Kraft alle gangbaren Wege für die Wahrung ihrer Interessen zu versuchen.«276 Andere Zeitungen, zumeist konservative, im kleinbürgerlichen Milieu beheimatete, solidarisierten sich mit den deutschen Wertpapierbesitzern getreu ihrer ideologischen Überhöhung des Mittelstands, dessen Existenz sie nun ernsthaft bedroht sahen. Die Verluste am Nationalvermögen seien »zu riesengroß«, konstatierte die Volkszeitung, als dass diese Einbuße abermals »mit einem fruchtlosen Wehgeschrei« abgetan werden könne. »Denn gerade der Mittelstand der kleinen Kapitalisten wird wieder am härtesten von dieser betrügerischen Misswirtschaft ausländischer Schuldner betroffen.«277 In den leitenden politischen Kreisen habe man, schrieb der Reichsbote, keine Vorstellung darüber, wie »tief die bekannten skandalösen Vorgänge [in Portugal und Griechenland] in die wirtschaftlichen und Familienverhältnisse unseres Mittelstandes« einschnitten: »Sehr wohl könnte auf diese kleinen frechen Raubstaaten ein Druck ausgeübt werden! Sie haben ja Kolonien! […] Wenn in Afrika einige deutsche Soldaten behelligt werden, dann ist gleich die Ehre des ganzen Deutschen Reichs in ihnen angetastet. […] Da muß ein Schiff kommen, die Hütten der paar Schwarzen zu bombardieren. Leider steht hier mehr auf dem Spiele, wo es sich um Millionen geraubten deutschen Kapitals, um den Zusammenbruch zahlloser Existenzen handelt.«278

Die mediale Virulenz, die der griechische Staatsbankrott entfaltete, muss schließlich auch unter wahrnehmungspsychologischen und medienlogischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Vorangegangene Staatsbankrotte, an denen die 1880er und frühen 1890er Jahre nicht arm waren, hatten einerseits den Nachrichtenwert derartiger Ereignisse sukzessive gesteigert, und andererseits Perzeptionsschemata bei Journalisten (und in der breiten Bevölkerung) etabliert, die im griechischen Fall nicht nur rasch reaktiviert werden konnten, son-

275 Vossische Zeitung, 15.12.1893. 276 Frankfurter Zeitung, Nr. 351, 19.12.1893, S 3, und Nr. 359, 28.12.1893, S. 2. 277 Volkszeitung, 19.12.1893. 278 Der Reichsbote, 9.1.1894.

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dern auch eine Eskalation begünstigten, die von der sich verdichtenden Gewissheit ihren Ausgang nahm, alle Welt habe es auf das Kapital des deutschen Sparers abgesehen.279 Erst mit Blick auf die zurückliegenden Staatsbankrotte Argentiniens (1891) und Portugals (1892), die parallel laufenden Finanzkrisen Italiens, Serbiens, Spaniens und Brasiliens, konnte der Berliner Börsen-Courier zur allgemeinen Feststellung gelangen, wonach der Staatsbankrott die »moderne Art [ist], die Völker auszurauben.«280 Griechenland schien unter diesen Umständen nur das letzte Glied einer Kette staatlicher Bankrotterklärungen. Der Hannoversche Courier glaubte hiervon ein Gesetz ableiten zu können, das geographische Lage und Ausfallrisiko in Korrelation zueinander setzte: »Die Südrichtung scheint danach neuestens immer gefährlicher für die Anlage des nordischen Capitals […].«281 Ein energisches Vorgehen gegen Griechenland forderte die Vossische Zeitung nicht lediglich aufgrund der spezifischen Umstände des griechischen Falles, sondern in Antizipation künftig drohender Staatsbankrotte. »Von Schonung darf keine Rede sein, da das böse Beispiel leicht die guten Sitten einiger anderer Klein- und Mittelstaaten in schwierigen Zahlungsverhältnissen verderben kann.«282 Die auf den ersten Blick unverhältnismäßig harsche Reaktion der Medien, so lässt sich an dieser Stelle festhalten, kann daher nicht allein mit den Spezifika des griechischen Falles erklärt werden, sondern muss in den Kontext eines breiteren zeitgenössischen Diskurses über »moderne Staatsbankrotte«283 eingebettet werden. Nach dem griechischen Staatsbankrott und der Weigerung, den Gläubigern verpfändete Einnahmen zufließen zu lassen, sah sich die Reichsleitung nun doch dazu genötigt, diplomatische Schritte einzuleiten, wenngleich man sich von jenen bellizistischen Szenarien, die in Teilen der Presse entwickelt wurden, meilenweit entfernt befand. Das in den Medien Sagbare wurde noch lange nicht zum staatlich Machbaren. »Es ist wohl zweifellos«, notierte ein hochrangiger Beamter im Auswärtigen Amt, »daß das Verhalten der Griechischen Regierung einem Rechtsbruch gleichkommt.« Athen hätte zumindest, wenn es nach einem ehrlichen Ausgleich trachtete, die Pfandobjekte gesondert deponieren und für die Gläubiger der bevorzugten Anleihen reservieren müssen. An dieser Forderung werde man in Zukunft gegenüber der griechischen Regierung festzuhalten haben.284 Damit war aber auch klargestellt, dass es nicht darum gehen konnte, sich als Interessenvertreter der Gläubiger insgesamt zu gerieren – einen 279 Vgl. auch die Überlegungen bei Geppert, Pressekriege, S.  122 f. Der Psychologe Daniel­ Kahneman, S.  179, spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »Verfügbarkeits­ kaskade«. 280 Berliner Börsen-Courier, 16.12.1893. 281 Hannoverscher Courier, Nr. 18584, 28.11.1893. 282 Vossische Zeitung, 15.12.1893. 283 So der Titel eines von Paul Dehn in der Gegenwart, Nr. 42, 19.10.1895, S. 241 f., publizierten Aufsatzes. Zum zeitgenössischen Diskurs über Staatsbankrotte vgl. Petersson, S. 9–24. 284 Aufz. von Mühlberg, 20.12.1893, PA/AA, R 7366. (Hvh. i. O.)

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Eindruck, den man ohnehin tunlichst zu vermeiden suchte. Die ersten diplomatischen Schritte fielen daher vorsichtig aus, und man war bemüht, sie in enger Abstimmung mit London und Paris zu tun, um sich nicht zu isolieren. Nach der Überbringung einer Protestnote suchte man bereits Anfang Januar 1894, wenngleich vergeblich, England zu einer gemeinsamen Abberufung ihrer Gesandten in Athen zu bewegen.285 Derweil sollten das Deutsche Schutzcomité von Besitzern griechischer Staatspapiere Kontakt zu seinen englischen und französischen Pendants aufnehmen, um gemeinsamen Druck auf Athen auszuüben.286 Von den sich hinter den Kulissen abspielenden diplomatischen Aktionen wollte man dagegen so wenig wie möglich an die Öffentlichkeit dringen lassen.287 Am 3. Februar 1894 trafen sich die Delegierten der drei Länder in Paris und berieten über eine gemeinsame Verhandlungsstrategie. Im Ergebnis richtete man ein Schreiben nach Athen, in dem die griechische Regierung aufgefordert wurde, die versprochenen Pfänder zur Bedienung der Anleihen freizugeben, andernfalls würde das Vertrauen auch in alle künftigen, durch Garantien gesicherten Anleihen zerstört sein.288 Trikoupis zeigte sich schließlich verhandlungsbereit und lud die Vertreter der Wertpapierbesitzer im Juni 1894 zu Gesprächen nach Athen ein. Damit hatte auch das Deutsche Schutzcomité den Forderungen der Reichsleitung Genüge getan, welche die ganze Angelegenheit möglichst ohne eine weit ausgreifende diplomatische Intervention oder gar Eskalation erledigt wissen wollte. Doch gerade hierauf hatte es das Schutzcomité angelegt. Es war sich sicher, dass sich der Druck auf die Reichsleitung, nicht zuletzt der medial artikulierte, nach einem Scheitern der Verhandlungen derart erhöhen würde, dass ein politisches Eingreifen unvermeidlich schiene und so vielleicht doch das Projekt einer internationalen Finanzkontrolle verwirklicht werden könnte. So wies das Schutzcomité seinen Delegierten in Athen, Max Staevi, Ende Juli 1894, als die Verhandlungen ins Stocken gerieten, an, den »Standpunkt unbedingt fest[zu]halten und bei Ablehnung ab[zu]reisen«, denn falls die Verhandlungen scheiterten, so die Prophezeiung, »wird sich Deutschland keinesfalls kräftigen Maßregeln entziehen.«289 Am 26.  Juli 1894 scheiterten die offiziellen Verhandlungen, da sich die griechische Regierung weigerte, ein an sie gerichtetes Ultimatum zu akzeptieren. Das Schutzcomité hatte Staevi für 285 Notiz, Kiderlen-Wächter über eine Unterredung mit dem franz. Botschafter, 18.12.1893, PA/AA, R 7366; Erlass nach London, 6.1.1894, PA/AA, R 7368. Levandis, S. 79–81. 286 Vgl. Petersson, S. 40 f. 287 In der deutschen Öffentlichkeit schien man über die Absichten der Reichsleitung noch längere Zeit im Unklaren gewesen zu sein. Während einer Reichstagssitzung am 16. Februar 1894 suchte der Zentrumspolitiker Otto Schmidt in Erfahrung zu bringen, »ob seitens der diplomatischen Vertreter Deutschlands in Athen bei der griechischen Regierung Schritte zu Gunsten der deutschen Gläubiger geschehen sind, oder ob solche Schritte in Aussicht genommen sind«. Caprivi antwortete, was »große Heiterkeit« zur Folge hatte, mit einem schlichten wie unbefriedigenden »Ja«. Stenographische Berichte, S. 1282. 288 Levandis, Foreign Debt, S. 81. 289 Telegramm, Schutzcomité an Staevi, 25.7.1894, 19:30 Uhr, PA/AA, R 7372.

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einen solchen Fall aufgetragen, »keine Privatbemühungen« zu unternehmen, »sondern ehestens abzureisen.«290 Dies tat der deutsche Delegierte auch am selben Tag, nicht ohne jedoch zuvor mit den Vertretern Englands und Frankreichs sowie Trikoupis eine für die Öffentlichkeit bestimmte Version verabredet zu haben, wonach die Abreise lediglich aus dem Grund erfolge, den Komitees in der Heimat mündlich Bericht zu erstatten. Man wollte damit, wie Staevi nach Deutschland telegrafierte, der »eventuelle[n] Wiederaufnahme der Verhandlungen Tür und Tor offen […] halten.«291 Eben hiervon aber wollte das deutsche Schutzcomité nichts wissen. »Wir verweigern unsere Zustimmung zu [dieser] Version«, kabelte man Staevi verärgert, da sie »nur der diplomatischen Intervention schaden könnte!«. Um die öffentliche Empörung in Deutschland weiter anzuheizen und die Politik unter Zugzwang zu setzen, wandte sich das Komitee sogleich an die deutsche Presse, um ihr den wahren Grund der Abreise zu enthüllen, nämlich dass Trikoupis die Annahme des Ultimatums schlichtweg verweigert habe.292 Das Medienecho dürfte dem Schutzkomitee Befriedigung verschafft haben. Unter der Überschrift »Griechenlands betrügerischer Bankrott« sah die Vossische Zeitung nun den Moment gekommen, in dem ein Exempel statuiert werden müsse, »dass die Deutschen […] nicht dazu da sind, um ihre Ersparnisse betrogen zu werden.« Die deutsche Regierung solle den Griechen zeigen, »Deutschland lasse nicht mit sich spaßen«: »Jeder, auch der schärfsten Maßregel gegen Griechenland stimmen wir zu. Hier darf es keine halben Maßregeln, keinen Kompromiss geben. Wird diesmal nicht Ernst gezeigt, folgt Serbien, das sich bisher noch sehr anständig verhielt, vielleicht dem griechischen Beispiele und wer weiß, welche anderen exotischen Staaten noch.«293

Das Berliner Tageblatt sah nun »alle Augen auf eine diplomatische Aktion der Regierungen gerichtet« und erwartete von diesen dezidierte Maßnahmen. Die betreffenden Regierungen könnten sich ihrer Verantwortung nicht entziehen, »ganz energisch gegen ein derartiges von oben heraborganisiertes Räuberwesen einzuschreiten. Es handelt sich ja nicht darum, von einem bankerotten Staatswesen Geld herauszupressen, wo keins ist, sondern es handelt sich darum, dass ein Staat für sich zum Schaden seiner Gläubiger durch schamlosen Rechtsbruch sich Vorteile zu verschaffen sucht und auch das nicht leisten will, wozu er verpflichtet und im Stande ist.«294 Der Hamburgische Correspondent vermutete gar, das Schutzkomitee habe seine Delegierten deshalb zurückgerufen, weil es sich der Unterstützung der deutschen Reichsregierung sicher glaubte. Es erscheine nicht unwahrscheinlich, dass es dabei »in Fühlung mit dem Auswärtigen Amt« gewesen sei, ebenso wie kein Zweifel daran bestehe, »dass an allen maßgeben290 Telegramm, Schutzcomité an Staevi, 25.7.1894, 0 Uhr, PA/AA, R 7372. 291 Telegramm, Staevi an Schutzcomité, 26.7.1894, PA/AA, R 7373. 292 Telegramm, Schutzcomité an Staevi, 27.7.1894, PA/AA, R 7373. 293 Vossische Zeitung, Nr. 27.7.1894 (Abendausgabe). 294 Berliner Tageblatt, 24.7.1894.

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den Stellen das größte Wohlwollen für die deutschen Inhaber griechischer Staatspapiere herrscht.«295 Diese Auslassungen waren eine grobe Übertreibung. Die Reichsleitung war zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs zu weitergehenden Maßnahmen gegen Griechenland bereit. Den Ambitionen des Gläubigerschutzverbandes musste das von der Presse gezeichnete Bild einer wohlwollend gesinnten Reichsleitung zugutekommen, da so der Druck auf die politische Führung verstärkte wurde, nun Taten folgen zu lassen. Im Auswärtige Amt war man über diesen öffentlich entstandenen Eindruck wenig erfreut und vermutete, das Schutzkomitee habe hier nachgeholfen, in dem es den Pressevertretern übermäßigen Rückhalt bei der Reichsleitung suggeriert habe.296 Intern schienen sich die Gewichte nun allerdings zugunsten einer Intervention zu verschieben, auch wenn man noch nicht darüber im Klaren war, wie diese konkret aussehen sollte. Bereits am 28. Juli 1894, also kurz nach dem Scheitern der Verhandlungen, hatte Caprivi ein Promemoria zum Thema »Griechenland und seine Gläubiger« angefordert und telegrafisch an der deutschen Botschaft in London anfragen lassen, ob England sich an möglichen Maßnahmen gegen Griechenland beteiligen würde.297 In dem Promemoria, das am darauffolgenden Tag auf dem Schreibtisch Caprivis landete, skizzierte Mumm auch mögliche Maßnahmen, die man dem »flagranten Rechtsbruch« Griechenlands folgen lassen könnte. Diese waren auch so zu wählen, betonte der Verfasser, dass sie sich »zur Beruhigung der deutschen öffentlichen Meinung, welche entschiedenes Vorgehen gegen Griechenland fordert«, als nützlich erweisen konnten. Als zweckdienlich in dieser Hinsicht führte Mumm dabei nicht nur die »Abberufung unseres Gesandten in Athen« an; als weitergehende Maßregeln wurde bereits ein Wirtschaftskrieg gegen das südosteuropäische Land als Option ins Spiel gebracht. Dieses sollte zum einen in der »Nichtigkeitserklärung unseres Handelsvertrags mit Griechenland« bestehen, zum anderen aber auch in einer Seeblockade, »welche […] wohl das relativ sicherste Mittel zur Erzwingung unserer Ansprüche wäre«, zu der man sich jedoch, so fügte Mumm hinzu, ohne Mitwirkung Frankreichs und Englands nur schwer entschließen werde.298 Die in der Presse über mehrere Monate und in sich stets verschärfender Form artikulierten Sanktionsszenarien hielten nun allmählich Einzug in die Vorstellungswelt politischer Entscheidungsträger. Auch wenn man sich von einer Kanonenbootpolitik, wie sie deutschkonservative Organe forderten, regierungspraktisch weit entfernt befand, so hatte sich doch im Jahr 1894 gezeigt, wie sich das journalistisch Sagbare immer mehr zum politisch Machbaren entwickelte. Im Zeitalter wirtschaftlicher und finanzieller Globalisierung wurden Medien und Journalisten damit zu Triebkräften dessen, was Sebastian Conrad die

295 Hamburgischer Correspondent, 26.7.1894. 296 Aufz. von Mumm, 31.7.1894, PA/AA, R 7372. 297 Erlass, 28.7.1894, PA/AA, R 7371; Erlass nach London, 29.7.1894, PA/AA, R 7372. 298 Promemoria, v. Mumm an Caprivi, 29.7.1894, PA/AA, R 7372.

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»räumliche Verschiebung nationaler Zuständigkeit«299 genannt hat. Die Reichsleitung hatte nun auch außerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs dafür zu sorgen, dass deutschen Staatsangehörigen und Sparern kein Unrecht geschah. Dass der letzte Schritt hin zum politisch Wirklichen nicht gegangen wurde, lag lediglich an der Haltung Englands und Frankreichs, die zum Äußersten, zu einem Handelskrieg, nicht bereit waren. Wirkungsvoller Druck auf Trikoupis war so nicht auszuüben, und die Abberufung des Gesandten in Athen kam über ihre symbolische Wirkung nicht hinaus. Das Kalkül der Gläubigerverbände, aber auch jenes journalistischer Wortführer, ging damit – vorerst – nicht auf.300 Gleichwohl zeigt das Beispiel Griechenlands, wie Medien zum Ausgang des 19. Jahrhunderts außenpolitische Handlungsoptionen und Wahrnehmungszusammenhänge entscheidend mitprägten. Sie wurden damit auch auf finanziellem Gebiet zu – wie Dominik Geppert für das politische Feld herausgearbeitet hat  – »aktive[n] Mitgestalter[n] von Wahrnehmungsmustern, Deutungsangeboten und Sinnstiftungsweisen.«301 Der drohende Verlust privaten Sparkapitals durch die Bankrotterklärung Griechenlands entwickelte sich durch seine mediale Kommentierung und Eskalierung im Spannungsfeld von deutscher Öffentlichkeit, Politik und Interessengruppen schrittweise zu einer Angelegenheit nationalen Interesses, der man schließlich nur noch mit einer diplomatischen Intervention und einem Handelskrieg gegen Griechenland begegnen zu können glaubte. 2.3 Bündnispolitik auf Anlegerkosten? Medien und politisches Kalkül in der italienischen Finanzkrise, 1889–1894 Die Politisierung des Finanzjournalismus dokumentiert sich nicht nur, wie das russische Beispiel gezeigt hat, in staatlich gelenkten Versuchen, ihn zur Verfolgung außenpolitischer Zwecke indienstzunehmen oder, umgekehrt, in den Rückwirkungen seiner Inhalte auf das außenpolitische Handeln von Staaten wie im Fall des griechischen Staatsbankrotts. Im Folgenden wird eine weitere 299 Conrad, Globalisierung, S. 327. Ganz in diesem Sinne begreift Conrad die internationalen Finanzkommissionen, wie sie neben Griechenland auch über das Osmanische Reich und Ägypten verhängt wurden, als »Ausdruck der veränderten Reichweite (bzw. Porosität) des Nationalstaates im Zeichen des informellen Finanzkapitalismus« (S.  328). Vgl. auch Mommsen, Finanzimperialismus. 300 1897 hatte sich die außenpolitische Konstellation deutlich zuungunsten Athens gewandelt. Nach einem verlorenen Krieg gegen das Osmanische Reich musste Griechenland auf der sich daran anschließenden internationalen Friedenskonferenz alle Bedingungen akzeptieren. Das Deutsche Reich nutzte diese missliche Lage nun im Alleingang und bestärkt durch das, was sie als »öffentliche Meinung« wahrnahm, um eine internationale Finanzkontrolle durchzusetzen. Die Zinszahlungen an die deutschen Gläubiger wurden wieder aufgenommen. Vgl. Petersson, S. 46–50. 301 Geppert, Pressekriege, S. 434 f.

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Erscheinungsform seiner Politisierung begegnen: Finanzjournalistische Kommunikation wurde auch insofern politisch, als sie staatliche Interessen durchkreuzen konnte und politische Akteure ihrerseits dazu herausforderte, ihr Handeln an medialen Erfordernissen auszurichten. Hilferuf aus Rom Im Sommer 1889 spielten sich an der Börse von Paris, einem der größten und bedeutendsten Kapitalmärkte Europas, ungewöhnliche Vorgänge ab. Binnen weniger Wochen fiel der Kurs der italienischen Rentenpapiere von 96 auf 90 Prozent. Die Botschaft, die von diesem Rückgang ausging und die auch an den anderen Börsenplätzen des Kontinents Aufsehen erregen musste, war nicht zu überhören: Der französische Markt verlor allmählich das Vertrauen in den italienischen Staatskredit, italienische Papiere schienen zunehmend unsichere Anlageobjekte zu sein.302 In Rom erregten die Pariser Vorgänge helle Aufregung, umso mehr, weil man sie vom ökonomischen Standpunkt aus gesehen als völlig unbegründet betrachtete. Francesco Crispi (1819–1901), der Italien seit Juli 1887 mit harter Hand regierte, sah hinter dem Kursverfall die französische Regierung am Werk, die – weil zu einer direkten Konfrontation nicht in der Lage – in einem »guerre sourde«, wie er sich ausdrückte, gegen Italien vorgehen wollte.303 Der italienische Premier hatte gute Gründe für seinen Verdacht. Die Beziehungen zwischen Italien und Frankreich hatten sich seit der Machtübernahme des Bismarck-Bewunderers Crispi und seiner außenpolitischen Anlehnung an das Deutsche Reich zusehends verschlechtert. 1887 verlängerte Italien, ganz zum Missfallen des Quai d’Orsay, den Dreibundvertrag mit Deutschland und Österreich-Ungarn; zudem hatte es schon seit Längerem ein Auge auf Nordafrika geworfen, eine Domäne Frankreichs. Aus seinem einst wichtigsten Handelspartner erwuchs Italien spätestens zu diesem Zeitpunkt ein erbitterter Rivale; ein Zollkrieg zwischen den beiden Ländern brach nun offen aus.304 Auch wenn die Vorgänge im fernen Paris sich nicht unmittelbar auf Italien ausgewirkt hatten, ja, deren Leidtragende in erster Linie die französischen Besitzer der italienischen Rentenpapiere waren, so glaubte Crispi doch, diesen nicht tatenlos zusehen zu können, musste sich die moralische Wirkung, die von dem Kursverfall ausging, auf Dauer doch als verhängnisvoll für Italien erweisen.­ Crispi entschied sich für einen Gegenschlag über Bande. Am 28. Juli 1889 wurde der italienische Botschafter in Berlin, Graf de Launay, im Auswärtigen Amt vorstellig und bat Bismarck im Namen Crispis um Hilfe. Der Fürst möge wohlgesinnte Bankiers dazu veranlassen, an der Pariser Börse Stützungskäufe zu

302 Vgl. Berliner Börsen-Courier, 24.7.1889. 303 Stern, S. 599. 304 Vgl. Hertner, Bankensektor, S. 4; Afflerbach, Dreibund, inbes. S. 229–362; Canis, S. 71–91; Adorni, Italia, S. 269–282. Zur Person Crispis vgl. Duggan.

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tätigen und so den Kurs der italienischen Rente zu heben.305 Bismarck willigte ein, ja, ihm mochte der Hilferuf aus Rom nicht einmal ungelegen gekommen sein. Denn der Freundschaftsdienst auf finanziellem Gebiet, den die deutsche haute finance zu leisten bereit war, würde die italienische Öffentlichkeit, so die Hoffnung des Reichskanzlers, von den guten Absichten des deutschen Bundesgenossen überzeugen und den Kritikern der Triple-Allianz, derer es in Italien nicht wenige gab, den Wind aus den Segeln nehmen.306 Und so nahm schließlich eine Politik ihren Anfang, die nicht davor zurückschreckte, Privatanleger in außenpolitische Ränkespiele einzuspannen. Dass dieses Vorgehen nicht ungefährlich war, wusste man im Auswärtigen Amt. Bereits im Oktober 1888 hatte ein hochrangiger Beamter Bismarck gewarnt, im Gegensatz zum bürgerlichen Leben sei im Leben der Völker der Gläubiger abhängig vom Schuldner. »Dass sich solche finanzielle Gemeinschaften im politisch richtigen Augenblicke später nicht lösen lassen, das haben wir im deutsch-russischen Verkehr erfahren.«307 Darüber hinaus bildete Italien vom Gesichtspunkt der ökonomischen Profitabilität alles andere als die beste Wahl bei der Kapitalanlage. Seine Handelsbilanz bewegte sich in den 1880er Jahren stets im negativen dreistelligen Lira-Bereich, die Staatsschuld schnellte im selben Zeitraum auf über 9,9 Milliarden Lira empor, und der Haushalt war chronisch defizitär.308 Im Kalkül der Reichsleitung fielen diese Zahlen allerdings nicht ins Gewicht, ging es doch darum, den Staatskredit eines Bundesgenossen durch frisches deutsches Kapital zu erhalten und ihn damit an das Militärbündnis zu binden. Der Presse sollte, ginge es nach Bismarck und seinen Nachfolgern, bei dieser finanziellen Verbrüderung beider Staaten eine entscheidende Rolle zukommen. Sie schien das Instrument zu sein, dessen man sich nur geschickt zu bedienen brauchte, um die gewünschten Effekte und Verhaltensweisen unter den Anlegern zu erzielen  – eine Fehleinschätzung, wie wir im Folgenden sehen werden. Berliner Pressemanöver Bismarck versprach Crispi, umgehend eine Pressekampagne zu initiieren, die den deutschen Markt für die italienische Rente animieren sollte. Falls dies nicht ausreiche, um den Kurs zu heben, würde man noch vertraulich Hilfe durch Berliner Bankiers anfordern.309 Im Auswärtigen Amt machte man sich umgehend an die Arbeit. Gegenüber Bismarck regte Unterstaatssekretär Graf Berchem noch am selben Tag an, »die italienische Finanzlage […] in regierungsfreundlichen Blättern, wie die ›Post‹ und die ›Politischen Nachrichten‹, vielleicht auch in der Nord. Allg. Zeitung in einem für Italien günstigen Sinne« zu besprechen. 305 »S’employer pour faire ârreter une baisse qui exerce une influence morale en Italie, et dont personne ne sait se rendre compte.« Promemoria Launay an AA, PA/AA, R 7857. 306 Vgl. Erlass nach Rom, 3.3.1888, PA/AA, R 7857. 307 Promemoria, Gillet, 27.10.1888, PA/AA, R 7857. 308 Croce, S. 180. 309 So berichtete Launay an Crispi, 2.8.1889, in Prichard-Agnetti, S. 211 f.

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Der Fürst war einverstanden.310 Den Startschuss zur publizistischen Gegenoffensive hatte bereits am 24.  Juli, also noch vor dem Hilferuf aus Rom, der Berliner Börsen-Courier gegeben. Das nicht gerade regierungsfreundliche, allerdings der Hochfinanz nahestehende Blatt George Davidsohns, war vermutlich von Bleichröder entsprechend instruiert worden. Der Artikel vermochte keine »sachlichen Gründe« für den Rückgang der italienischen Rente festzustellen. Gerade in den letzten Monaten aber seien »sichtliche Zeichen einer wieder eintretenden Besserung der italienischen Finanzlage bemerkbar gewesen.« Man müsse daher eher der Version Glauben schenken, wonach sich in Paris eine­ »Clique rühriger Spekulanten« gebildet habe, die einen Ansturm gegen »dieses solide Staatspapier« in Szene setzten.311 Das Blatt bekräftige in den kommenden Wochen und Monaten immer wieder diese Position. Die Hoffnung scheine gerechtfertigt, dass die Entwertung der italienischen Rente alsbald an ihr Ende gelangen werde, hieß es etwa am 10.  September 1889. Und weiter: »Ein politisch wie wirtschaftlich aufstrebendes Land wie Italien wird in sich selbst die Hilfsmittel finden, seinen Staatscredit aufrecht zu erhalten, der durch die neuer­ lichen Rückgänge seiner Renten einen empfindlichen Stoss erlitten hat.«312 Rund eine Woche später riet der Börsen-Courier dazu, »die niedrigen Course, welche die Verhältnisse der Pariser Börse herbeigeführt haben, zu Anlagen in italienischer Rente zu benutzen.«313 Bismarck war über die hier abgegebene Empfehlung derart zufrieden, dass er einen Ausschnitt des Artikels umgehend an den Quirinal senden ließ, um so zu unterstreichen, wie ernst es den Deutschen bei der Hilfe ihres Bundesgenossen war; und Crispi dankte es ihm postwendend.314 Wenn man, wie der Berliner Börsen-Courier, aber auch andere Zeitungen, davon ausging, dass der Kursrückgang der italienischen Werte in Paris nicht Ausdruck einer abnehmenden finanziellen Stabilität Italiens, sondern lediglich ein politisches Manöver war, so mochte es für deutsche Anleger tatsächlich gewinnversprechend gewesen sein, die zu einem günstigen Kurs aus Frankreich abgestoßenen Wertpapiere aufzukaufen. Die ökonomische Wirklichkeit in Italien gab allerdings wenig Anlass zu dieser Sichtweise. Zu der seit dem Herbst 1887 herrschenden Bau- und Immobilienkrise, die bereits zahlreiche Banken in Mitleidenschaft gezogen hatte, gesellte sich seit August 1889 eine handfeste Börsenkrise, nachdem sich der Hauptaktionär und Vizepräsident der Banco di Sconto überraschend das Leben genommen hatte.315 Deutsche Anleger ließen sich trotz wohlmeinender Artikel nicht in dem Maße zum Kauf italienischer Papiere ani310 Promemoria, Berchem an Bismarck, 28.7.1889, PA/AA, R 7858. 311 Berliner Börsen-Courier, 24.7.1889. 312 Berliner Börsen-Courier, 10.9.1889. 313 Berliner Börsen-Courier, 19.9.1889. 314 Deutsche Botschaft Rom an AA, 11.10.1889, PA/AA, R 7859. 315 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S.  628; Hertner, Finanzkrisen, S.  301 f.; Grunwald, S. 128 f. – Der Historiker Gino Luzzatto bezeichnet die Periode zwischen 1889 und 1894 als »gli anni piú neri dell’economia del nuovo regno«, zit. n. Toniolo, Storia, S. 139.

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mieren, wie vonseiten der deutschen Politik ursprünglich erhofft. »Wie die Dinge liegen«, schrieb der Paris-Korrespondent des Berliner Börsen-Courier Anfang September 1889, müsse Deutschland, »viel größere Kaufordres nach hier senden als dies bisher der Fall gewesen ist.«316 Zur selben Zeit sank der Kurs italienischer Anleihen auch an der Berliner Börse auf 92,80 Prozent.317 Die von Bismarck initiierte Pressekampagne zeitigte nicht den gewünschten Erfolg. Im Auswärtigen Amt hatte man die Medienwirkung ebenso überschätzt wie die Manipulierbarkeit der Medienvertreter. Von einer Konsonanz der Pressestimmen war man weit entfernt. Und selbst ein Organ wie die K ­ ölnische Zeitung, die in ihrem politischen Teil  häufig die Interessen der deutschen Außenpolitik unterstützt hatte, ließ sich nicht leicht auf Linie bringen. »Das Auswärtige Amt beschwert sich über unsere Haltung zur italienischen Anleihe«, unterrichtete der Berlin-Korrespondent Fischer den Verleger Neven­ DuMont am 19. November 1889. Die neue Anleihe war wesentlich auf Bestreben der Wilhelmstraße mit deutschen Bankiers ausgehandelt worden. »Und nun kommt die Kölnische Zeitung«, setzte Fischer verärgert hinzu, »und erklärt diese Anleihe ›nicht als erste Sicherheit‹ und beeilt sich, einen schlechten Erfolg der Zeichnung auf diese Anleihe festzustellen!« Eine Bekämpfung oder eine ungünstige Beurteilung der Anleihe habe gar keinen Zweck, »ganz abgesehen davon, dass doch schwerlich ein Urteil abgegeben werden kann, ob diese Anleihe ersten oder zweiten Ranges ist.«318 Für Fischer, der ohnehin darauf bedacht war, nicht in Misskredit bei seinem wichtigsten Informanten, dem Außenamt, zu fallen, hatte der Handelsteil gegenüber den Erfordernissen der politischen Berichterstattung zurückzustehen. Die Aufgabe der Finanzberichterstattung bestand für ihn im Zweifelsfall darin, die Politik der Reichsleitung zu flankieren, so wie er es bereits im russischen Fall bekräftigt hatte. Dies sah Neven DuMont anders, der als Zeitungsmacher eben auch die Interessen seiner Leser im Blick behalten musste. Er konterte, dass die gescholtene Berichterstattung über die neue italienische Anleihe ja bereits unter Berücksichtigung ihrer politischen Implikationen erfolgt sei. Fielen diese politischen Gründe weg, so müsste man den italienischen Papieren »ganz anders zu Leibe gehen«, denn »die Geldlage Italiens ist nichts weniger als befriedigend und die großen Zusammenbrüche folgen sich immer häufiger.« Auch Fischers Instrumentalisierung der Handelsredaktion zu politischen Zwecken wies Neven DuMont zurück. »Im Handelsteil müssen wir eher zu pessimistisch als zu optimistisch sein. Denn die Leute, die am Geld­beutel geschädigt werden, sind die Unversöhnlichsten.« Die Italiener könne man mit gutem Gewissen nicht loben, und man würde durch die 316 Berliner Börsen-Courier, 12.9.1889. 317 Rottenburg an Bismarck, 10.9.1889, PA/AA, R 7858. 318 Fischer an Neven DuMont, 19.11.1889, RDS, FK, Bl. 1381. – Was Mommsen, Public Opinion, S. 388, mit Blick auf das Verhältnis zwischen »Kölnischer Zeitung« und Regierung für die unmittelbare Zeit vor 1914 unterstreicht, lässt sich somit ohne Weiteres bereits Ende der 1880er Jahre beobachten.

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Tatsachen dabei erst recht Lügen gestraft. »Wir sind eben eine Zeitung und nicht das Auswärtige Amt.«319 In den kommenden Wochen geriet Fischer in dieser Angelegenheit immer wieder mit der Handelsredaktion und ihrem Leiter, Paul Steller, aneinander.320 Steller, der seine journalistische Laufbahn Anfang der 1870er Jahre bei der Frankfurter Zeitung begonnen hatte und später durch ein mehrbändiges Handbuch für Capitalisten (1881, 1887) hervorgetreten war, ließ sich nur ungern in sein Ressort hineinreden.321 Schließlich aber musste er einlenken, als Neven DuMont sich nun doch auf die Seite Fischers stellte. Was den Verleger zu diesem Positionswechsel veranlasst hat, lässt sich im Einzelnen nicht mehr rekonstruieren. Der Vorgang zeigt jedoch, dass er bereit war, seine Zeitung im Zweifelsfall eher in den Dienst der politischen Interessen des Reiches denn der ökonomischen Interessen der Anleger zu stellen. Am 16. Dezember 1889 konnte Neven DuMont die beruhigende Erklärung an Fischer abgeben, dass die italienischen Werte »nicht mehr angegriffen« würden. »Überhaupt ist für die Zukunft gesorgt, dass Herr Steller nicht mehr zu sehr ›Theorie‹ treibt und deshalb trotz der besten Absichten Schaden stiftet.«322 Es ist aufgrund der Quellenlage äußerst schwierig, im Zusammenhang mit der Finanzberichterstattung über Italien einen Einblick in die redaktionsinternen Diskussionen, Entscheidungen und Abläufe zu gewinnen. Doch lässt sich das Spektrum an Handlungsoptionen bei der Berichterstattung über die Finanzangelegenheiten auswärtiger Staaten gut an ähnlich gelagerten Fällen ablesen. Die Berliner Börsen-Zeitung öffnete die Spalten ihres redaktionellen Teiles, zumindest noch zu Lebzeiten ihres Gründers und Chefredakteurs Killisch von Horn, durchaus bereitwillig für werbewirksame Artikel über die italienische Finanzlage. Im August 1882 war die Deutsche Bank, offensichtlich im Auftrag der italienischen Banca Nazionale, mit der Frage an Killisch von Horn herangetreten, ob seine Zeitung bereit sei, eine Artikelserie zum Thema »Italienische Finanzen« zu bringen. Der Besitzer des Blattes willigte ein.323 Am 15. August 319 Neven DuMont an Fischer, 20.11.1889, RDS, FK, Bl. 1382 f. 320 Am 21.11.1889 beschwerte sich Fischer bei Neven DuMont erneut: »Über die Geldlage Italiens urteilen Sie m. E. viel zu pessimistisch, indes wer darin Recht hat, das kann erst die Zukunft lehren. Die Hauptsache ist nur, dass wir auch bei dieser Frage die Voraussetzungen unserer auswärtigen Politik nicht durchkreuzen.« RSD, FK, Bl.  1385 f. Und am 14.12.1889 appellierte Fischer aufs Neue, »jede Polemik gegen die italienischen Finanzen« zu unterlassen. »Der politische Gesichtspunkt ist dafür doch so durchschlagend, dass die Bitte keiner großen Begründung bedarf. Solange Crispi am Ruder ist, ist ja das Bündnis unbedingt gesichert; aber die Franzosen setzen den Hebel, das Bündnis unvolkstümlich zu machen, am richtigen Fleck an, indem sie den italienischen Finanzen und Kursen gehörig zu schaden suchen.« RDS, FK, Bl. 1406. 321 Vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 382. – Steller gehörte von 1884 bis 1898 der Handelsredaktion der »Kölnischen Zeitung« an und wechselte danach in die Wirtschaft als Geschäftsführer des Vereins der Industriellen, vgl. Requate, Journalismus, S.  185.  – Schmalenbach, S. 368, erinnerte sich an ihn als »sachkundig und verlässlich«. 322 Neven DuMont an Fischer, 16.12.1889, RSD, FK, Bl. 1410. 323 Killisch von Horn an Deutsche Bank, 15.8.1882, HADB, S 2783.

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1882 kündigte die Börsen-Zeitung das Erscheinen der Artikel an, die »uns von einer Seite zugegangen sind, welche eine vollständige Sachkenntnis in der besagten Materie unbedingt zugesprochen werden darf.«324 Dass es sich hierbei nicht um einen unparteiischen Verfasser handelte, verschwieg das Blatt. Die Banca Nazionale, eine Einrichtung privaten Rechts, allerdings unter ministerieller Aufsicht stehend, hatte die Artikel selbst auf Französisch ausarbeiten lassen und sodann nach Deutschland geschickt, wo sie übersetzt wurden.325 »Es gereicht mir zum besonderen Vergnügen, wenn ich Ihnen damit gefällig sein kann«, wandte sich Killisch von Horn an den Mittelsmann der Deutschen Bank unter Beifügung eines Abdrucks des ersten Teils der Serie, nur um dann seinerseits um eine Gefälligkeit zu bitten. »[W]ährend ich so gern den redactionellen Teil meiner Zeitung für die Würdigung finanzieller italienischer Verhältnisse zur Verfügung stelle«, sei es sein Wunsch, »auch den Inseratentheil meiner Zeitung für diejenigen Publikationen benutzt zu sehen, welche sich auf die in Rede stehenden Angelegenheiten beziehen.«326 Der Tenor der Finanzberichterstattung über auswärtige Staaten hing bei der Berliner Börsen-Zeitung somit auch davon ab, ob dadurch ein ökonomischer Vorteil für das Zeitungsunternehmen durch Zuweisung von Inseraten zu erzielen war. Dagegen gerierte die Frank­furter Zeitung sich gegenüber der Hochfinanz unabhängiger. An ihrem Umgang mit einem ähnlichen Fall lässt sich exemplarisch ein anderer redaktioneller Standpunkt in der Berichterstattungspraxis über die Finanzen fremder Staaten und die Güte ihrer Emissionen aufzeigen. Im März 1888 traf in der Handelsredaktion des Frankfurter Blattes ein Schreiben des Bankhauses S. Bleichröder ein. Das Bankhaus beabsichtigte, zum ersten Mal auf dem deutschen Markt überhaupt, eine mit sechs Prozent besonders gut verzinste Anleihe des mexikanischen Staates zu emittieren. In diesem Zusammenhang ersuchte es die Frankfurter Zeitung um eine Besprechung der Finanzen Mexikos und übersandte dem Blatt zugleich von der mexikanischen Regierung publizierte Materialien, die dem Redakteur als Beurteilungsgrundlage dienen sollten. Der Leiter des Handelsteils, Ludwig Cohnstaedt, wies das Gesuch zurück. »Noch weniger als sonst« genügten in diesem Fall, wie er das Bankhaus wissen ließ, lediglich offizielle Mitteilungen des mexikanischen Staates. »[D]a wir – ganz besonders bei dem erstmaligen Herantreten eines Schuldners solcher Qualität an den deutschen Markt  – uns nicht auf Wiedergabe der Daten des Prospektes oder eines ad usum delphini [geschönten] ausgearbeiteten Exzerptes aus anderen Quellen beschränken, sondern ein eigenes Urtheil auf Grund der Quellen selbst bilden müßen, so bedaure ich, daß wir für eine so nahegerückte und so schwer zu beurtheilende Emission nicht jetzt schon ausreichendes Material zum Studium besitzen.«327 324 Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 378, 15.8.1882. 325 Die in französischer Sprache verfassten Manuskripte finden sich in: HADB, S 2783. 326 Killisch von Horn an Deutsche Bank, 15.8.1882, HADB, S 2783. 327 Cohnstaedt an S. Bleichröder, 19.3.1888, BP, Box XXIII.

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Freilich trat im Fall Mexikos nicht jene außenpolitische Komponente hinzu, wie sie für Italien charakteristisch war. Dennoch lässt sich an beiden Fällen ablesen, wie breit gestreut das Spektrum redaktioneller Handlungsspielräume in der Finanzberichterstattung bereits in den 1880er Jahren in der Praxis war. Die kritische Quellenarbeit, die bei der Berliner Börsen-Zeitung vernachlässigt und bei der Kölnischen Zeitung zuweilen hinter den politischen Erfordernissen zurückstehen musste, bildete bei der Frankfurter Zeitung mitunter einen bedeutsamen Bestandteil im redaktionellen Produktionsprozess. Auslandskorrespondenten und nationale Kommunikationskontrolle Es war ein Irrglaube der politischen Entscheidungselite gewesen, anzunehmen, den deutschen Markt durch eine Pressekampagne in ausreichendem Maße zum Kauf italienischer Wertpapiere animieren zu können. Zwar konnte deren Kurs durch Stützungskäufe vonseiten deutscher Bankiers stabilisiert werden; an der in Italien aber offen ausgebrochenen Finanz- und Bankenkrise konnte dies freilich nichts ändern. Nur wenige Anleger mochten daher auch Crispi in seiner Lagebeurteilung gefolgt sein, die der Ministerpräsident im Oktober 1889 in ­Palermo abgegeben hatte und welche die Neuesten Mittheilungen ostentativ abdruckten, wonach »die wirthschaftliche Lage bereits an[fange] sich zu bessern.«328 Hinzu kam, dass die desolaten Zustände in Italien trotz mancher schönfärberischer Meldungen in regierungsnahen Organen auch der deutschen Öffentlichkeit nicht verborgen blieben. Wichtige Akteure in diesem Zusammenhang bildeten Auslandskorrespondenten.329 Sie berichteten für ihre nationalen Öffentlichkeiten direkt aus Italien, vorbei an den italienischen Behörden oder den großen Nachrichtenagenturen. Der deutsche Moritz Grunwald etwa schrieb seit Oktober 1888 aus Rom für die Frankfurter Zeitung und scheute sich dabei nicht, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Neben ihm verfügte das Blatt noch eigens über einen »Finanz-Korrespondenten«.330 Doch auch andere große europäische Blätter wie die britische Times oder der französische Figaro waren in der italienischen Hauptstadt mit eigenen Korrespondenten vertreten. Für die italienische Regierung musste sich diese Präsenz ausländischer Berichterstatter in Rom, deren Korrespondenzen in die Heimat kaum zu kontrollieren waren, über kurz oder lang zu einem Problem entwickeln, standen deren Mitteilungen doch zuweilen in schroffem Gegensatz zu der von offizieller Seite verbreiteten Version über die italienischen Wirtschafts- und Finanzverhältnisse. Crispi suchte diesem Kontrollverlust durch einen rigiden Schritt Herr zu wer328 Neueste Mittheilungen, Nr. 81, 15.10.1889, S. 3. 329 Die Akteursgruppe der Auslandskorrespondenten hat erst in jüngster Vergangenheit das Interesse der historischen Forschung auf sich gezogen, vgl. das Themenheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 62, 2014, Heft 5, unter dem Titel »Auslandskorrespondenten: Journalismus und Politik 1900–1970« und darin die einleitenden Überlegungen von Domeier u. Happel. Zur Rolle nicht-staatlicher Akteure in Außenbeziehungen von Staaten vgl. die theoretischen und forschungspraktischen Ausführungen von Von Thießen u. Windler. 330 Vgl. Geschichte er Frankfurter Zeitung, S. 377 f., S. 474.

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den. Im April 1890 veranlasste er die sofortige Ausweisung dreier ausländischer Korrespondenten: des Figaro-Berichterstatters, Chenard, des Havas-Agenten, Lavalette, und schließlich auch des Korrespondenten der Frankfurter Zeitung, Grunwald. Rechtliche Grundlage der Maßnahme bildeten die Artikel 113 und 293 des italienischen Codice Penale, welche die Verbreitung falscher Nachrichten, die dazu angetan waren, die internationalen Beziehungen Italiens sowie dessen öffentlichen Kredit zu schädigen, unter Strafe stellten.331 In einer Stellungnahme sprach Crispi von einer »seit zwei Jahren gegen den öffentlichen Kredit Italiens organisierte[n] Conspiration«; in der ganzen Welt habe man »das Börsenspiel zum Nachteil Italiens« betrieben. Die Ausweisung der Korrespondenten stelle daher einen »Akt der Verteidigung gegen einen sinnlosen Krieg gegen die Italienische Rente [dar], welcher nicht länger zu gestatten war.«332 Doch wenn Crispi tatsächlich geglaubt hatte, damit dem italienischen Kredit im Ausland aufhelfen zu können, wurde er schon bald eines Besseren belehrt. Die oppositionelle Presse in Italien hatten nur Hohn und Spott für den Ministerpräsidenten übrig.333 Und das Echo in der deutschen Presse war ähnlich verheerend. »Es muss ein schlechtes Licht auf die Kreditverhältnisse eines Landes werfen«, urteilte die Freisinnige Zeitung, »wenn die Regierung es für angemessen hält, der Kritik dieser Verhältnisse durch die Ausweisung der Korrespondenten entgegenzutreten.« Nichts sei geeigneter, »das Misstrauen der Finanzkreise mehr zu steigern, als ein so rigoroses Vorgehen«. Die Frankfurter Zeitung fragte: »Glaubt Herr Crispi, er werde seinen eigenen moralischen Kredit und den finanziellen Kredit des von ihm regierten Landes aufbessern, wenn er die kritischen Berichterstatter mundtodt macht […]?«.Wäre er ein echter Staatsmann, so müsste er längst wissen, »daß jede Staatsverwaltung um so besser ist, je weniger sie die Kritik zu fürchten hat und je mehr sie aus den Prüfungen dieser Kritik rein und stolz hervorzugehen hoffen darf.«334 Ein weiteres – für Crispi ebenso wie für die Ambitionen der deutschen Reichsleitung unvorteilhaftes – Resultat der Ausweisung bestand darin, dass diese die liberal gesinnten Journalisten Italiens und Deutschlands nur noch enger aneinander schweißte, da man den Akt als Angriff auf die Freiheit der Presse wertete, gegen den man sich solidarisch zur Wehr setzen müsse. Bereits am 11. April 1893 veröffentlichte der »Römische Journalistenverband« eine Erklärung, in der er sich demonstrativ hinter Grunwald stellte. Journalisten, die in persönlichem Kontakt mit Grunwald gestanden hatten, priesen ihn als unbeugsamen Geist. Er sei wiederholt im Auftrage Crispis aufgefordert worden, seine kritische Haltung zu ändern, habe jedoch jeden Versuch der Beeinflussung zurückgewiesen.335 331 Frankfurter Zeitung, Nr.  101, 11.4.1890, S.1, sowie Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 475, S. 629 f. 332 Deutsche Botschaft Rom an AA, 26.5.1890, PA/AA, R 7729. 333 Vgl. etwa Tribuna, 12.4.1890, zit. n. Frankfurter Zeitung, Nr. 102, 12.4.1890 (Abendblatt). 334 Freisinnige Zeitung, 12.4.1890; Frankfurter Zeitung, Nr. 103, 13.4.1890 (1. Morgenblatt). 335 Vgl. Frankfurter Zeitung, Nr.  103, 13.4.1890 (Morgenausgabe), S.  1; Prichard-Agnetti, S.181.

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Es ist bemerkenswert, welches schlechte Gespür Crispi im Umgang mit den Vertretern der Presse bewies, und zugleich ein Beweis für deren notorische Unterschätzung. Seine harsche Maßregel musste sich in Zeiten einer immer selbstbewusster auftretenden Presse und verstärkt transnational verlaufender Nachrichtenströme, die kaum mehr zu kontrollieren waren, als völlig wirkungslos erweisen. Zudem bestand das Besondere der italienischen Situation ja gerade darin, dass über den italienischen Kredit die nationalen Öffentlichkeiten des Auslandes richteten, auf die Crispis Maßnahme der Informationskontrolle keinen Einfluss haben konnte, da ihre Reichweite sich auf das nationale Territorium beschränkte. Auf die Herausforderung der Globalisierung antwortete der 71-jährige Regierungschef mit einem Mittel längst vergangener Zeiten, das die Vossische Zeitung zu Recht als »Waffe aus der Rüstkammer Metternichs« bezeichnete.336 Crispi, auch hier ganz Bismarcks Bruder im Geiste, hielt äußerst wenig auf die »modernen« Vertreter der Presse.337 »[F]ür viele Journalisten [ist] der Journalismus nicht eine Mission, sondern nur ein Handwerk«, soll er, der er selbst in jungen Jahren Journalist gewesen war, 1888 geäußert haben.338 »He had an invincible antipathy to newspaper correspondents«, erinnerte sich der Times-Korrespondent in Rom, William Stillman, später. »I found his manner intolerable, as, no doubt, other journalists did, and, as the relations of the journalists to the man in office are in Italy generally corrupt, Crispi’s aversion to them and their ways accounted easily for the very general and violent hostility between him and the press.«339 In der Ausweisung der Korrespondenten hatte Crispi seine abschätzige Haltung, die er gegen eigene Journalisten hegte, konsequent auf die Vertreter der ausländischen Presse übertragen. Dass diese freilich eine andere Behandlung gewohnt waren, man ihnen zuweilen weitaus mehr Respekt entgegenbrachte, als es in Italien für gewöhnlich geschah, mag auch das Ausmaß an Empörung im Ausland erklären, die der Maßregel unmittelbar gefolgt war.340 Crispis kommunikationspolitischer Kurs dürfte dem öffentlichen Kredit Italiens somit mehr geschadet denn genützt haben.341 Dies hatte wohl auch An336 Vossische Zeitung, Nr. 168, 11.4.1890 (Abendausgabe), S. 1. 337 Für Bismarck, der wenige Wochen zuvor seine Demission eingereicht hatte, waren Crispis Methoden nichts Unbekanntes. Im Dezember 1888 hatte er den Italiener Paronelli, der für den linksliberalen Il Diritto schrieb, aus Deutschland ausweisen lassen, s. hierzu Die Nation, Jg. 6, 1889, S. 161, 240. 338 Zit. n. Dresler, S. 128. 339 Stillman, S. 676 f. 340 Freilich waren die Zustände auch in Deutschland noch lange nicht so weit gediegen wie beispielsweise in Großbritannien, wo die Beziehungen zwischen Regierung und Presse von gegenseitigem Respekt gekennzeichnet waren. Dennoch ist seit 1890, seit dem Ausscheiden Bismarcks und dem Amtsantritt Caprivis, auch für Deutschland nicht mehr zu übersehen, dass die Presse sich sukzessive von staatlicher Einflussnahme emanzipierte, ihr Selbstbewusstsein wuchs und ihr immer mehr das Selbstverständnis anzuhaften begann, ein Faktor der Politik zu sein, vgl. Kohlrausch, Politik, S. 310. 341 Im Januar 1891 verzeichneten die italienischen Rentenpapiere weitere Kurseinbrüche, s. Italienische Botschaft an AA, 16.1.1891, PA/AA, R 7860.

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tonio Marchese di Rudiní einsehen müssen, der nach dem Sturz Crispis im Februar 1891 in das Amt des Ministerpräsidenten aufrückte. Er hob die Ausweisungsregeln wieder auf, so dass Grunwald am 1. Juni 1891 wieder nach Rom zurückkehren konnte.342 Kritischen Korrespondenten suchte man nun, nicht zuletzt von deutscher Seite dazu ermuntert, mit anderen, weniger kontroversen Methoden beizukommen. Der deutsche Botschafter am Quirinal, Eberhard Graf zu Solms-Sonnenwalde, brachte Rudiní in diese Richtung, als er den Premier während einer Unterredung Anfang April 1891 fragte, »ob es nicht Mittel gebe, die Correspondenten englischer Blätter zu einer weniger ungünstigen Ansicht über italienische Finanzen zu bringen«.343 Dem Grafen war dabei in erster Linie das Beispiel des Times-Korrespondenten Stillman vor Augen gestanden. Dieser hatte wenige Tage zuvor einen für Italien niederschmetternden Artikel verfasst, der in den europäischen Hauptstädten für großes Aufsehen sorgte.344 Stillman, der für sein »excitable temperament« bekannt war,345 hatte darin die Vergeblichkeit aller italienischen Sparpolitik behauptet und implizit einen Austritt aus dem Dreibund nahegelegt.346 Di Rudiní folgte der Anregung Solms. Bereits wenige Tage später konnte er den Botschafter darüber informieren, dass Stillman nun nach einem Gespräch mit ihm, Rudiní, »einen anderen Ton« in seinen Korrespondenzen nach London anschlagen werde.347 Über die Einzelheiten der Unterredung ist nichts Genaues bekannt, doch notierte Stillman in seinen Erinnerungen leicht ausweichend, die Redaktion habe nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten wollen und ihn daher angewiesen, einen moderateren Ton einzuschlagen.348 Die Ausweisungen vom April 1890 hatten ihre abschreckende Wirkung offensichtlich nicht verfehlt. Während es damit für kritische Korrespondentenberichte immer schwieriger wurde, die Grenzen Italiens zu passieren und die Öffentlichkeiten des europäischen Auslands zu informieren, tat die deutsche Reichsleitung im Gegenzug alles dafür, dass propagandistisch wirkungsvolle Auslassungen von italienischer Seite ihren Weg in die deutschen Medien fanden. So war das Auswärtige Amt im August 1891 tatkräftig darum bemüht, einem in Rom verfassten Aufsatz ein Forum zu verschaffen. In diesem wurde di Rudiní als der Mann inszeniert, der 342 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 475. 343 Solms an AA, 12.4.1891, PA/AA, R 7860. 344 Stillman, S. 706. 345 Times, S. 251. – Stillman schien seinem Gastland gegenüber alles in allem sehr wohlgesinnt gewesen zu sein. In seiner Autobiografie findet sich die Bemerkung: »I finally conquered his [Crispis] respect by showing him that I was the sincere friend of Italy, and our relations became confidential as far as his very rigoros sense of his official limitations permitted, but not a line beyond« Stillman, S. 678. 346 Times, 31.3.1891, S. 10. 347 Solms an AA, 12.4.1891, PA/AA, R 7860. 348 Stillman, S. 707. Laut Stillman habe ihm der Direktor der Banca Romana mit rechtlichen Konsequenzen gedroht und ihm zugleich persönliche »commercial facilitations« in Aussicht gestellt, falls er das Thema fallen lasse (S. 706).

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Italiens Finanzprobleme würde lösen können. Durch die Umbildung des Kabinetts, hieß es darin, könnten nun »energisch wirkende Mittel« gegen die Krise zur Anwendung kommen. »Heute, wo die finanzielle Politik in neue Bahnen geleitet und das Gleichgewicht des Budgets gesichert worden [sei]«, versicherte der Aufsatz, »würde das normale Erträgnis der Steuer genügen, damit im Zeitraum von zwei Jahren den gegenwärtigen Übeln abgeholfen werde und sich wieder jener wirtschaftliche Aufschwung zeige, welcher den Verhältnissen eines jungen, fruchtbaren und über zahlreiche natürliche Mittel verfügenden Landes, wie Italien, entsprechen würde.«349 Der Aufsatz war wohlweislich ohne den Namen seines Verfassers, Augusto Graf Fantoni, abgedruckt worden. Fantoni war Finanzagent und Vertreter der Banca Generale in Rom; zugleich war er Herausgeber des in französischer Sprache erscheinenden Bulletin Financier International.350 Sein Ansprechpartner im Auswärtigen Amt war Rudolf Lindau, Legationsrat und Leiter des Pressedezernats im Reichskanzleramt. Fantoni war über dessen unbürokratische Hilfe bei der Publikation des Artikels hocherfreut, von dem, so schrieb er nach Berlin, »die exzellenten Beziehungen unser beider Länder nur profitieren könnten«, vor allem dann, wenn auch die politischen Tageszeitungen die in dem Aufsatz kundgetane Wahrheit endlich aussprechen würden (»attachent le grelot«).351 Der Artikel erschien schließlich, mit deutlicher Verzögerung, in der November-Ausgabe von Nord und Süd, einer literarischen Zeitschrift mit internationalem Themenspektrum.352 Bei der Wahl des Mediums hatten praktische Gründe den Ausschlag gegeben. »Ich habe diese Zeitschrift der ›Deutschen Rundschau‹ gegenüber bevorzugt«, schrieb Lindau an Fantoni, weil sie »von meinem Bruder, Dr. Paul Lindau, herausgegeben wird und ich seine Diskretion garantieren kann«.353 Die Versicherung Lindaus zeigt, wie wichtig es war, die Öffentlichkeit über das Zustandekommen des Artikels und seine Hintermänner im Unklaren zu lassen; Verwandtschaftsverhältnisse stifteten dabei das nötige Vertrauen. Obwohl die Auflage der Zeitschrift mit Blick auf ihr Genre relativ hoch war,354 bestand doch die Gefahr, dass man die eigentlichen Adressaten der Kampagne, die Privatinvestoren, über das gewählte Medium nicht erreichte. Lindau hatte daher zusätzliche Maßnahmen ergriffen, »um die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Artikel zu lenken«; offensichtlich sollten ihn Tageszeitungen auszugsweise bringen und im gewünschten Sinne kommentieren.355 Ob diese punktuelle Maßnahme wirklich ihr Ziel erreichte und dazu beitrug, das öffentliche Vertrauen in Rudiní und seine Finanzpolitik wiederherzustellen, ist mehr als fraglich. Zudem war personelle Kontinuität 349 [Anonymus], Rudini, S. 181. 350 Vgl. Garruccio, S. 184. 351 Fantoni an Lindau, 21.8.1891 (PA/AA, R 7861), Übersetzung aus dem Französischen. 352 Vgl. Stöber, Pressegeschichte, S. 282 f. 353 Lindau an Fantoni, 29.8.1891, PA/AA, R 7861 (Übersetzung aus dem Französischen). 354 Sie lag 1877 bei 15 000, 1912 schon bei 100 000 Exemplaren, vgl. Stöber, Pressegeschichte, S. 281. 355 Lindau an Fantoni, 29.8.1891, PA/AA, R 7861, (Übersetzung aus dem Französischen).

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kein Merkmal italienischer Innenpolitik, und schon im Mai des darauffolgenden Jahres musste Rudiní abtreten und Giovanni Giolitti, einst Finanzminister unter Crispi, Platz machen. Die Unbeherrschbarkeit der Medien Je weniger es der Reichsleitung gelang, deutsche Sparer durch ökonomische Argumente zur Kapitalanlage in Italien zu bewegen, desto mehr versteifte man sich auf ein politisches Argumentationsmuster, in dessen Mittelpunkt nun nicht mehr das materielle Gewinnversprechen stand. Vielmehr wollte man nun die ernsten Konsequenzen in das Gedächtnis der Leser rufen für den Fall, dass Deutschland den Italienern seine finanzielle Hilfe verweigerte. Dann nämlich würde, wie es in einem wahrscheinlich inspirierten Artikel der Kölnischen­ Zeitung im Juni 1891 hieß, »für Frankreich die Versuchung nahe liegen, weiter zu drücken, um vielleicht doch die Neutralität, mit anderen Worten den Abfall vom Dreibunde, zu erzwingen.« Der deutsche Geldmarkt könne, ebenso wie bisher der französische, den Italienern Kapital leihen und dabei gewinnen. »Aber er muß nicht bloß seinen unmittelbaren Vorteil im Auge behalten«, führte der Artikel weiter aus, »sondern sich klar machen, daß er auf die Dauer am besten fährt, wenn er Italien financiell stützt« und dadurch »zur inneren Beruhigung und Festigung Italiens, zur Stärkung des Dreibundes und zur Sicherung des europäischen Friedens« beiträgt.356 Bei der Kapitalanlage in Italien ging es somit nicht mehr nur darum, so suchte die Reichsleitung zu suggerieren, Kapital gewinnbringend anzulegen, auf dem Spiel stand die militärische Sicherheit des Reiches und der Frieden in Europa. Wer Italien finanziell unterstützte, so lautete die Botschaft implizit, der half, den Frieden zu bewahren. Der Appell der Kölnischen Zeitung (bzw. des Auswärtigen Amtes) richtete sich nicht lediglich an die Vielzahl der Kleinanleger, sondern ebenso dezidiert an die kapitalstarke haute finance, die in derartigen Gefälligkeiten bereits geübt war.357 Dabei übersahen zeitgenössische Kommentatoren keineswegs die Risiken, die mit einer Einbindung der Hochfinanz in außenpolitische Manöver verbunden waren. Zwar habe auch das Kapital »seine auswärtige Politik«, schrieb der Deutsche Ökonomist, doch sei deren oberster Grundsatz, »möglichst gewinnbringende Geschäfte zu machen.« Davon werde sich die Hochfinanz nicht abbringen lassen.358 Tatsächlich dürfte die deutsche Hochfinanz ihre Unterstützung für Italien in der kommenden Zeit eher zögerlich und gewiss nicht ohne Hoffnung auf einen späteren Gewinn fortgesetzt haben. Über dem politischen Nutzen einer Transaktion wurde ihre ökonomische Profitabilität niemals 356 Kölnische Zeitung, Nr. 525, 26.6.1891 (Erste Morgenausgabe), S. 1. 357 Vgl. Hertner, Kapital, S. 4 f.; Stern, S. 600 ff. 358 Ebd., Nr. 450, 1.8.1891, S. 415. – Bismarck, der womöglich ein besseres Gespür im Umgang mit der Hochfinanz besessen haben mochte, hatte bereits bei der Stützungsaktion vom Sommer 1889 seine Zweifel, ob die Bankiers »der Politik Concessionen machen ohne finanzielle Gegenleistung«. Randnotiz, Promemoria Berchem, 28.7.1889, PA/AA, R 7858.

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vergessen.359 Allerdings blieb auch unter Giolitti, der auf Entspannung mit Frankreich setzte, eine Verbesserung der Finanzlage des Landes aus und damit zugleich ein Anreiz für Investitionen des Auslandes360, ohne dass dies ein Umdenken in der Wilhelmstraße bewirkt hätte.361 Die italienischen Medien ihrerseits enttäuschten die Hoffnung der politischen Führung in Deutschland vollständig: Die Finanzhilfen der Deutschen vermochten nicht, die erhofften Sympathien für das Bündnis mit dem Reich zu wecken, ja, vor allem jene Kreise, die eine erneute Annäherung an Frankreich favorisierten, beäugten das Engagement der deutschen haute finance in Italien misstrauisch. Gerüchte über Baissiers in Deutschland, die angeblich gegen den italienischen Kredit wetteten, versetzten den Quirinal immer wieder in Aufregung und mussten von deutscher Seite ausgeräumt werden.362 In dieser Gemengelage aus Gerüchten, Halbwahrheiten und zunehmender Verbitterung über das Ausbleiben einer wirtschaftlichen Besserung brach sich im Oktober 1893 in der italienischen Presse offene Ablehnung gegen Deutschland Bahn. Die parteiunabhängige Fanfulla schrieb, die deutsche Hochfinanz beabsichtige, »Italien unter eine förmliche finanzielle Kontrolle zu stellen«. Ein anderes Blatt wandte sich gegen die Frankfurter Zeitung und klagte diese der »leichtsinnigen Beschimpfung« an. »Italien verdiene nicht, unter Vormundschaft gestellt zu werden wie ein bankrotter Staat, am wenigstens habe ein Land, welches für den Dreibund niemals finanzielle Opfer scheute, solche Sprache gerade seitens Deutschland erwartet.«363 Im Auswärtigen Amt reagierte man auf diese Auslassungen alarmiert und ratlos zugleich. »Hier ist absolut kein Artikel eines deutschen Blattes bekannt, worin ein solcher Gedanke zum Ausdruck gekommen wäre«, telegrafierte man eilig dem deutschen Geschäftsträger in Rom und bat um Aufklärung der Angelegen359 Es wäre ebenso falsch, die Hochfinanz auf die Rolle eines schlichten Befehlsempfängers der Politik zu reduzieren, wie die Vorstellung, dass diese auf politische Nützlichkeitserwägungen, die nicht unmittelbar Profit versprachen, keine Rücksicht zu nehmen gebraucht hätte. Vgl. Ferguson, Aufstieg, S. 85; Cassis, S. 140 ff.; Barth, S. 13, spricht von einer »relativen Autonomie« der Hochfinanz gegenüber der Politik vor 1900. 360 Afflerbach, Dreibund, S. 301 ff. 361 Im Gegenteil: Stolz meldete das deutsche Konsulat in Neapel zum Ende des Jahres 1892 nach Berlin, Deutschland könne nun mit Recht Anspruch darauf erheben, »als Haupt­ faktor der italienischen Finanzpolitik angesehen […] zu werden.« Eine Bekanntgabe dieser Tatsache durch Vermittlung der italienischen Presse würde »politisch von guter Wirkung sein«. Deutsches Konsulat, Neapel, an AA, 7.12.1892, PA/AA, R 7864. 362 Im November 1891 sorgte ein gewisser Henri Faveur aus Hamburg für Unruhe in den Behördenstuben. Die italienische Botschaft wollte erfahren haben, wie sie der Wilhelmstraße meldete, dass dieser mit Baisse-Operationen gegen die italienische Rente gedroht habe. Das Außenamt wandte sich wiederum an die Preußische Gesandtschaft in Hamburg, damit diese der Sache auf den Grund gehe. Dort konnte man in Erfahrung bringen, dass besagter Faveur sich als Steinkohlehändler betätigte und bereits durch »deutschen Interessen zuwiderlaufende Tätigkeiten«, wie es vage hieß, aufgefallen war. Nach mehreren zeitraubenden Schriftwechseln verlief die Sache schließlich im Sande, PA/AA, R 7862. 363 Auszüge aus der italienischen Presse brachte das Berliner Tageblatt, Nr. 505, 4.10.1893.

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heit.364 Auch die Redaktion der Frankfurter Zeitung war auf Schadensbegrenzung bedacht. Sie beauftragte Grunwald, einen Brief an die führenden italienischen Tageszeitungen zu verfassen, in dem klar gestellt wurde, dass sich das Blatt niemals in diese Richtung geäußert habe.365 Dass eine irreführende Meldung den Großteil der italienischen Presse gegen Deutschland hatte aufbringen können, macht die Angespanntheit der Lage und das Maß an Argwohn deutlich, mit dem Italien das Wirken deutscher Bankinstitute verfolgte. Mochte auch niemals ein in jene Richtung gehender Vorschlag gemacht worden sein, so war das Schreckensszenario einer Finanzkontrolle doch medial präsent und jederzeit abrufbar, wie der Fall Griechenland gezeigt hat, der zur selben Zeit die öffentliche Debatte über den Umgang mit überschuldeten Staaten bestimmte. Erschwerend hinzu kam im italienischen Fall, dass sich die finanzielle Situation, trotz demonstrativen Engagements durch die haute finance, nicht zu bessern begann. Unter den Ministern im Kabinett Giolitti machte sich »ernste Besorgnis« breit.366 Eine Mischung aus Verzweiflung und versteckter Drohung kam in dieser Situation in einem Leitartikel des linksliberalen Popolo Romano Anfang November 1893 zum Ausdruck. Das Blatt richtete an Deutschland und Österreich-Ungarn die Frage, ob beide Länder Italien aus seiner finanziellen Verlegenheit heraushelfen oder zulassen wollen, dass es sein Heil bei Frankreich suche.367 War der Artikel für sich genommen schon eine Provokation, musste der Umstand, dass der Heraus­geber des Popolo Romano, Constanzo Chauvet, der journalistische Vertraute des amtierenden Ministerpräsidenten Giolitti war, überdies dazu führen, ihn als halbamtliche Äußerung zu verstehen.368 Die Reaktion der deutschen Medien folgte prompt. Für die Vossische Zeitung zeugte der Artikel von »plump-täppische[m] Wesen und Taktlosigkeit«. Dass solche Äußerungen möglich waren, sei auf das Verhalten jener deutschen Kapitalistenkreise zurückzuführen, »die mit verschränkten Armen dem französischen Verheerungskriege gegen den italienischen Kredit zugesehen haben.« Der Artikel gipfelte in der Behauptung, dass dem »Italiener-Konsortiums« gar nicht an der Stabilisierung Italien gelegen sei. »Die Berliner Börse […] wetteifere im Gegenteil mit der Pariser in der Herabdrückung des italienischen Kredits.«369 Im Auswärtigen Amt war man über diese »höchst einfältige Antwort« in hohem Maße verärgert; sie gebe den italienischen Angriffen nur Nahrung, notierte Caprivi an den Rand des Zeitungsausschnitts. Tatsächlich konnte die Tendenz, die in der »veröffentlichen Meinung« in Italien zutage trat, für die Ambitionen der Reichsleitung ungünstiger nicht

364 Telegramm, AA, an deutsche Botschaft (Rom) 4.10.1893, PA/AA, R 7864. 365 Deutsche Botschaft (Rom) an AA, 5.10.1893, PA/AA, R 7864. 366 Deutsche Botschaft (Rom) an AA, 14.9.1893, PA/AA, R 7864. 367 Vgl. Vossische Zeitung, 10.11.1893. 368 Dresler, S. 128 f. 369 Vossische Zeitung, 10.11.1893.

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sein. Neuerdings ergingen sich italienische Zeitungen in Klagen und Angriffen, weil der deutsche Geldmarkt Italien in seiner gegenwärtigen Krise nicht nur nicht helfe, sondern angeblich auch die Baisse seiner Staatspapiere fördere, resümierte das Außenamt die unerfreuliche Lage. Eine kräftige Erholung aus der Krise könne nur eintreten, wenn über den Ernst der italienischen Regierung, durch nachhaltige Reformen einzugreifen, kein Zweifel bestehe. Solms in Rom wies man ihn an, bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheiten in diesem Sinne »freundlich-sachlich, aber nachdrücklich« sich aussprechen.370 Während die Reichsleitung sich betont konziliant gegenüber Rom gab, lieferten sich die Zeitungen beider Länder ihrerseits erbitterte Wortgefechte. Als »schroff, ja geradezu feindselig« bezeichnete der deutsche Konsul in Neapel die Haltung mit der selbst seriöse und mit Sachkenntnis geleitete italienische Blätter die »dankenswerte Hilfsbereitschaft unserer Finanzwelt« quittierten.371 Die Fähigkeit, auf mediale Inhalte spürbaren Einfluss zu nehmen, war sowohl der italienischen als auch der deutschen Regierung spätestens zum Jahresende 1893 vollends abhanden gekommen. »Was wollen denn diese Deutschen von uns?«, fragte das volkswirtschaftliche Blatt La Rassegna herausfordernd, welches das deutsche Konsulat in Neapel dem Auswärtigen Amt in Übersetzung vorlegte. »Waffen und Bewaffnete, die uns verbluten machen, ihnen aber Elsaß-Lothringen sichern helfen! […] Jetzt nun, da sie in unserem Interesse eine kleine Unbequemlichkeit tragen sollen, verleumden sie uns feiger Weise.«372 Staatliche Stellen nahmen solche Äußerungen ernst und maßen ihnen eine nicht unerhebliche Mitschuld an der Eskalation der Finanzlage und der Verschlechterung der Beziehungen beider Staaten bei. Die italienische Presse lasse »keine Regierung zu Atem und ruhiger Arbeit kommen« und stelle »die wirtschaftliche Gesamtlage des Landes womöglich schlechter dar […], als sie ihn Wahrheit sein mag.«373 Dass es jedoch kaum möglich war, die Lage Italiens schlechter zu schildern, als sie tatsächlich war, bewiesen die Ereignisse vom 30. November 1893, wenige Wochen später. An diesem Tag fallierte der Credito Mobiliare, die größte Geschäftsband des Landes, und schloss für immer seine Schalter – der Höhepunkt in einer Serie von italienischen Bankhäusern, die seit 1892, infolge von Missmanagement und Korruption, in Konkurs gegangen waren.374 Bereits im Dezember 1893 musste der amtierende Premier Giolitti seine Demission einreichen, nachdem seine Verstrickungen in den Skandal um die wenige Monate zuvor liquidierte Banca Romana ruchbar geworden waren. Ein letztes Mal sollte Crispi an die Schalthebel der Macht zurückkehren. Gemeinsam mit seinem Finanzminister Sidney C. Sonnino verordnete Crispi seinem Land ein rigides

370 AA an Deutsche Botschaft (Rom), 12.11.1893, PA/AA, R 7865. 371 Deutsches Konsulat (Neapel) an AA, 19.11.1893, PA/AA, R 7865. 372 Ebd. 373 Ebd.. 374 Vgl. Hertner, Finanzkrisen, S. 302 f.

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Sparprogramm, das auch eine Herabsetzung des Zinses auf laufende Anleihen mit sich brachte und so zugleich deutsche Gläubiger traf.375 Die Reichsleitung zeigte sich bestürzt, hatte sie sich doch »seit Jahren […] bemüht gezeigt, den deutschen Geldmarkt für das alliierte Italien zu interessieren«, wie das Außenamt konsterniert notierte. Die Kapitalanlage in italienischen Werten musste sich im Rückblick für viele Deutsche als große Fehlinvestition erweisen, so dass man in der Wilhelmstraße bereits fürchtete, die Reputation der politischen Führung könne Schaden nehmen. »Die Kaiserliche Regierung gerät damit in eine schwierige Lage gegenüber der öffentlichen Meinung, welche bisher von der Überzeugung ausging, das Italien aus eigenen Mitteln seine Finanzen ordnen muss.«376 Caprivi suchte daher auch energisch, Rom von diesem Kurs abzubringen, er glaubte, »ein Wort mitzureden [zu dürfen], nachdem wir die deutschen Kapitalisten zu italienischen Anleihen animiert haben.«377 Doch hier irrte Caprivi. Crispi blieb beharrlich. Die Belastung auch der deutschen Gläubiger sah er als eine »dura necessitas«, eine harte Notwendigkeit. Italien befinde sich in einer Lage, »wo es nicht wählerisch sein könne.«378 Durch diese Maßregeln, schrieb der Deutsche Ökonomist stellvertretend für viele andere Zeitungen, »beweist die Regierung, dass das Italien von heute den Credit des Auslandes nicht mehr verdient«. Und sein Ratschlag an die Anleger besiegelte das Ende des gouvernemental gehegten Wunsches einer Finanzgemeinschaft: »Wer sein Vermögen lieb hat, verkauft seine italienische Rente noch jetzt.«379 Die Reichsleitung war in ihrem Bestreben, eine Finanzgemeinschaft zwischen Italien und Deutschland zu etablieren und damit den Dreibund zu festigen, gescheitert. Sie hatte geglaubt, ihr Ziel mithilfe der Medien verwirklichen zu können, doch folgte die Presse einem anderen Gebot als jenem der vermeintlichen Staatsraison. Neben der medialen Eigendynamik von »Pressekriegen«, wie sie Dominik Geppert am Beispiel Großbritanniens und Deutschlands aufgezeigt hat und wie sie auch in dem hier behandelten Fall begegneten, gaben vor allem geschäftliche Überlegungen den Ausschlag dafür, dass sich viele Zeitungen im Zweifel für das Anlegerwohl (bzw. das Wohl ihrer Abonnenten) und damit gegen die Ambitionen der Reichleitung entschieden.380 Finanzjournalistische Kommunikation erwies sich damit zu Beginn der 1890er Jahre für politische Entscheidungsträger in und außerhalb Deutschlands als zunehmend unberechen- und unbeherrschbar. * 375 Toniolo, S. 154 f. 376 Telegramm, AA an Deutsche Botschaft (Rom), 23.2.1894, PA/AA, R 7866. 377 Bericht aus Rom an AA [Randnotiz: Caprivi], 2.3.1894, PA/AA, R 7866. 378 Ebd. 379 Der Deutsche Ökonomist, Nr. 585, 3.3.1894, S. 107. 380 Geppert.

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Die Politisierung finanzjournalistischer Kommunikation im ausgehenden 19. Jahrhundert ist eine Folge der politischen Implikationen des deutschen Kapitalexports, den die Presse in ihren Spalten ausführlich begleitete, in Zahlen und Statistiken abbildete und in Kommentaren auf seine Solidität hin bewertete. »Politisierung« bedeutete mit Blick auf die hier untersuchten Fallbeispiele zweierlei: zum einen, dass finanzjournalistische Kommunikation unter den Einfluss der Politik geriet und staatliche Akteure sie, gemäß zeitgenössischer Wirkungsunterstellungen, als ein Instrument zur Verfolgung außenpolitischer Ziele zu nutzen suchten. Zum anderen bedeutete »Politisierung«, dass der Finanzjournalismus selbst auf die Politik zurückwirkte, da er von dieser niemals gänzlich vereinnahmt werden konnte. Er bewahrte sich seine mediale Eigengesetzlichkeit und blieb aufgrund seiner privatwirtschaftlichen Organisationsform zu einem gewissen Grade Marktlogiken unterworfen, die denen der Politik mithin diametral entgegengesetzt waren. Trotz dieser in den Jahren vor 1900 immer deutlicher vor Augen tretenden Eigenlogik der Presse wäre es irreführend, Medien und Politik als monolithische Blöcke zu betrachten, die einander gegenüberstanden. Vielmehr blieben Zeitungen, wie alle drei Fallbeispiele gezeigt haben, durch ihre programmatische Ausrichtung und die politische Einstellung ihres Redaktionspersonals eng mit dem System der Politik, seiner Parteien und politischen Strömungen verbunden.

3. Journalistiches Fehlverhalten im Fokus von Staat und Öffentlichkeit »Diese Korruption, diese Verderbniß, meine Herren, ist aber ein immanenter, integrierender Bestandtheil der ganzen kapitalistischen Wirthschaft, es ist das Prinzip der Welt der Nachfrage und des Angebots, des Tausch- und Schachergeschäfts. Die öffentliche Meinung wird gehandelt, so wie Weizen, wie Petroleum und wie alte Lumpen gehandelt werden!« SPD-Abgeordneter Bruno Schönlank im Reichstag (1896)

Im Folgenden werden wir unseren Blick auf eine dritte Erscheinungsform der Politisierung des Finanzjournalismus richten. Standen bisher finanzjournalistische Inhalte als Promotoren der Politisierung im Mittelpunkt, so gilt dies seit den frühen 1890er Jahren in gleicher Weise für die finanzjournalistische Praxis, also für die Bedingungen unter denen jene Inhalte hervorgebracht wurden. Politisch wurde der Finanzjournalismus auch insofern, als nun die »Spielregeln« seines Feldes in den Fokus von Staat und Öffentlichkeit rückten, gemäß 237

den Lehren der »Gründerjahre«, wonach ethisches Fehlverhalten im Journalismus auch für das Gemeinwesen schädliche Folgen nach sich ziehen konnte. 3.1 »Zeitungsbankiers« und »Trinkgelder-Unwesen«: Skandale im Nahbereich von Journalismus und Hochfinanz Mit der Besserung der konjunkturellen Lage und einer steigenden Investitionsbereitschaft im Lauf der 1880er Jahre kam auch in das Segment der Finanzpresse neue Bewegung. Nachdem sich das Medienangebot im unmittelbaren Nachfeld des Börsenkrachs von 1873 nicht erweitert hatte, durch Einstellung einzelner Finanzzeitungen sogar geschrumpft war, erleichterte nun ein gewachsenes Anzeigenaufkommen aus Industrie und Handel Verlegern die Finanzierung ihrer Blätter ebenso wie eine erneut lebhafte Investitionsbereitschaft in der breiten Bevölkerung die Gründung einer Börsenzeitung als lukrativ erscheinen ließ. Presseangebote, die über Möglichkeiten der Kapitalanlage Auskunft gaben und dem »kleinen Kapitalisten« mit Ratschlägen zur Seite standen, waren wieder gefragt. Die zahlreichen »exotischen Staaten«, die mit höherer Verzinsung die Gunst des deutschen Anlegers zu gewinnen suchten, vergrößerten die Unübersichtlichkeit auf dem Kapitalmarkt und seinen Anlageofferten und steigerten so noch einmal das Bedürfnis nach Unterrichtung und Investitionshinweisen. Pluralisierung des Presseangebots Bis 1890 betraten mindestens neun, dem Börsen- und Finanzsegment zuzu­ rechnende Zeitungen den Pressemarkt (s. Tab. 3), während viele der etablierten Zeitungen auf diesem Gebiet weiter fortbestanden und die politischen Tageszeitungen ihre Handelsteile weiter ausbauten.381 Die meisten jener Neugründungen, für die sich bald schon der Begriff der »kleinen Finanzpresse« einbürgerte, suchten ihre Leserschaft in einem investitionsbereiten, ja mitunter auch spekulationsfreudigen Laienpublikum, das sich gerne für vermeintliche »Insidertipps« erwärmte. Diese Ausrichtung kam häufig schon im Titel zum Ausdruck. So gab sich die 1886 gegründete Berliner Börse einen volkstümlichen Anstrich, wenn sie im Untertitel die Bezeichnung »Finanzielles Wochenblatt für Jedermann« führte.382 Mit ähnlich suggestiven Mitteln arbeitete auch die eher dubiose Berliner Finanz- und Handelszeitung (1890), indem sie sich, Expertise reklamierend und sich zugleich anbiedernd, als »Fachschrift für Bankund Börsenwesen zur Wahrung der Interessen deutscher Kapitalisten« in Szene setzte.383 381 Vgl. etwa die Frankfurter Zeitung, deren Umfang an Börsen- und Handelstelegrammen 1890 dreimal so viel wie 1873 betragen hatte, s. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 555. 382 Die Jahrgänge 1892 und 1893 sind in der Staatsbibliothek Berlin einsehbar. 383 Die Jahrgänge 1891 bis 1905 haben sich in der Staatsbibliothek Berlin erhalten. – Zu den dubiosen Geschäftspraktiken des Blattes siehe weiter unten.

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Tab. 3: Neugründungen im Segment der Finanzpresse seit 1879 (Auswahl) Titel

Preis/ Quartal

Erschienen

Periodizität

Auflage

Berliner Finanz- und Handelsblatt

10 M (1902)

1879/80–1921

wöchentlich

1300 (1888), 300 (1898)

Berliner Börsenhalle



1879–1921

wöchentlich

3750 (1879), 1000 (1898)

Börsen-Wochenblatt

3,75 M. (1884)

1879–1889

wöchentlich

550 (1887)

Berliner Börsen-­ Telegraph384



1881–1884

täglich

900 (1881)

Der Deutsche ­ Ökonomist

18 M (1902)

1883–1935

wöchentlich

2500 (1890), 3500 (1898)

Berliner Börse



1886 – ?

wöchentlich

10 000 (1888), 5000 (1898)

Berliner Börsen-­ Circular, ab 1890: Berliner Börsen-Journal

2,50 M (1891) 12 M (1902)

1888–?

wöchentlich zwei Mal pro Woche

30 000 (1889)385

Finanzherold

6 M (1902)

1888–1922

1–2 Mal pro Woche



Börsen-Post

4 M (1902)

1888–1934

wöchentlich

800 (1889), 300 (1898)

Berliner Finanz- und Handelszeitung

20 M (1902)

1890–1905

drei Mal pro Woche

1200 (1890), 5000 (1902)386

Finanzielle Rundschau

18 M (1902)

1896–1925



500 (1898)

Der Bankier für Alle

12 M (1902)

1898–1917

wöchentlich



Plutus

4, 50 (1911)

1904–1925

wöchentlich

ca. 4000 (1906)387

Buchwald’s Börsen-­ Berichte

45 M (1905)

1905–1928

täglich



Ratgeber auf dem Kapital­markt

1 M (1906)

1903–1920

Ab 1.9.1903 zwei Mal pro Woche

4000–7000 (1903)388

Zusammengestellt nach: GStA PK, I. HA, Rep. 77, tit. 54a, Nr. 19, Bd. 2–4; Preise nach Kürschner und Sperling. 384 385 386 387 388 384 Bei dieser Zeitung handelt es sich um den frühen Versuch von Jacob Wiener (1855–1916), des späteren leitenden Handelsredakteurs des Berliner Tageblatts, sich verlegerisch und journalistisch selbständig zu machen. 385 Die Angabe, zu Werbezwecken vermutlich viel zu hoch veranschlagt, findet sich in einem Inserat des Blattes in der Post, Nr. 270, 1.10.1889. 386 Selbstauskunft des Verlags nach Kürschner, daher vorsichtig zu behandeln. 387 Angabe nach Schmalenbach, S. 280 f. 388 Hierbei handelt es sich um eine Selbstauskunft: Das Blatt warb im Kopf mit dem Hinweis »garantierte Auflage«.

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Das Erscheinen dieser Presseprodukte auf dem Medienmarkt erregte bald schon das Misstrauen der agrarischen und konservativen Publizistik. Für die Feinde der Börse, einer Einrichtung, die ohnehin in der zurückliegenden Zeit durch Unregelmäßigkeiten und betrügerische Gründungen aufgefallen war,389 bestand das Grundübel der sprießenden kleinen Finanzzeitungen darin, dass sie eine verwerfliche Tätigkeit, das »Börsenspiel«, propagierten und die Spekulationslust dadurch in die breite Masse der Bevölkerung hineinzutragen schienen. Der »Weizen der verdächtigen Berater und Vermittler«, so bemerkte die konservative Deutsche Tageszeitung, blühe in »spielwütigen Zeitläuften«, wo Leute »mit glücklicher Hand im Handumdrehen Millionengewinne einheimsen und unzählige neidische Blicke« auf sich zögen. Dabei war es genau das, was Organe des rechten wie des linken Extrems als ihre Pflicht erachteten: das Publikum vom »Börsenspiel« abzuhalten.390 »Lasse dich warnen deutscher Mittelstand. Bleib fern von dem Giftbaum der Börse. Die Börse mästet sich vom Blute und Schweiße der Dummen, die nicht alle werden. Hinter solchen lockenden Anpreisungen stecken für den, der darauf reinfällt, nur Verluste«, warnte etwa die antisemitische Magdeburger Reform, nur ein Beispiel unter vielen.391 Der Kampf gegen die »kleine Finanzpresse« war in den Lagern der Extreme nur eine logische Folge der generellen Ablehnung der Börse als Einrichtung der Wirtschaft. Man musste sich allerdings nicht in einer Fundamentalopposition zur Burgstraße befinden, um Kritik an vielen jener neuen Blätter zu üben, die sich auf den Zeitungsmarkt drängten. Zu fragwürdig schienen die Motive ihrer Herausgeber, die bisweilen zugleich kleine Bankkommissionsgeschäfte betrieben, zu offensichtlich die »Verquickung von Publizität und Bankgeschäft«, auf die die Frankfurter Zeitung ihre Leser ein ums andere Mal warnend hinwies, als dass man ihnen eine unparteiische Aufklärung des Publikums zutrauen durfte.392 »Mischlingsmenschen«: der Zeitungsbankier als Skandalfigur »Die Geschichte einer verkommenden Gesellschaft pflegt sich in Skandalen abzuspielen; ihre Archive sind die gerichtlichen Akten von Skandalprozessen.«393 Mit diesen Worten leitete die Die neue Zeit, die wichtigste sozialdemokratische Theoriezeitschrift ihrer Epoche, ihre Betrachtungen zum »Prozeß Polke« ein, der wenige Tage zuvor zu Ende gegangen war. Das ungewöhnlich lange Strafverfahren gegen den Berliner Bankier Paul Polke (es umfasste 36 Verhandlungstage) hatte die deutsche Öffentlichkeit über Monate beschäftigt und die öffentliche Aufmerksamkeit dabei in einem Maße wie seit dem »Gründerkrach« nicht mehr auf die undurchsichtigen Grauzonen zwischen Journalismus und Börse, zwischen Pressetätigkeit und Bankgeschäft gelenkt. Denn Polke war nicht 389 Schulz, Börsengesetz, S. 67 f. 390 Deutsche Tageszeitung, Nr. 277, 16.6.1899, S. 1. 391 Magdeburger Reform, 6.11.1894. 392 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 501 f. 393 Die neue Zeit, Jg. 10, 1891/92, S. 353.

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nur Teilhaber des Bankhauses Bär, Polke und Co. und seit 1888 dessen Alleininhaber, sondern zugleich auch Herausgeber einer auf das »große, der Börsen fernstehende Publikum« zielenden Finanzzeitung, die ihren Lesern eine »anerkannt sachliche und zugleich zutreffende Beurtheilung der verschiedenen Börsenpapiere« zu liefern versprach. »Unser Programm lautet: genaueste, aus den besten Quellen geschöpfte Information über alle an der Börse gehandelten Werthe.«394 Polke baute sein 1888 unter dem Titel Berliner Börsen-Circular gegründetes Blatt mit den Jahren weiter aus, benannte es in Börsen-Journal um, was zugleich weitaus räsonierender klang, senkte den Abonnementpreis, erhöhte die Periodizität auf ein zwei Mal wöchentliches Erscheinen und suchte weitere Leser durch Gratisdienstleitungen wie z. B. durch die Rubrik des »Briefkasten« zu gewinnen, in der er Antworten auf Leserbriefe druckte, die ihn um Rat in Anlagefragen ersuchten.395 Als seit Oktober 1890, entgegen den Prophezeiungen des Börsen-Journals, die Kurse einiger dort empfohlener Papiere beträchtlich sanken (vor allem die der »Faconschmiede«, deren Aufsichtsratsvorsitzender Polke zugleich war), organisierte sich eine Schar »geprellter« Leser und initiierte eine Anklage gegen Polke, die auf Betrug lautete. Ihm wurde zur Last gelegt, die Leser seines Börsen-Journals durch Vorspiegelung falscher Tatsachen über einzelne Unternehmen getäuscht zu haben, um dadurch einen Vorteil für die Operationen seines Bankhauses zu erlangen; die materielle Schädigung der Abonnenten, für die zu wirken sein Börsen-Journal angekündigt hatte, habe er dabei billigend in Kauf genommen.396 Die Justizbehörden reagierten ungewöhnlich rigoros, wohl nicht zuletzt weil die Kläger Polke in ihrer Strafanzeige als besonders skrupellosen Börsenhasardeur schilderten, was in Zeiten börsenfeindlicher Tendenzen in Gesellschaft und Politik doppelt schwer wiegen musste. Unter der Behauptung eines Fluchtverdachts wurde Polke Anfang April 1891 verhaftet.397 Eine lange Untersuchungshaft setzte ein, die das öffentliche Interesse an dem Fall nur noch steigerte. Als es Anfang 1892 schließlich zum Prozess gegen Polke kam, war dem Verfahren eine mediale Aufmerksamkeit sicher. In dem Strafverfahren gegen den Berliner Bankier und Zeitungsherausgeber verdichteten sich gleich mehrere Zeit- und Streitfragen der wilhelminischen Gesellschaft: erstens die Frage nach der Wohlanständigkeit der Börse und der dort abgewickelten Geschäfte sowie der Notwendigkeit, diese einer staatlichen Gesetzgebung zu unterwerfen, zweitens war dies die Frage nach dem Personenkreis, dem es gestattet sein sollte, sich am Börsenhandel zu beteiligen, und drittens und mit den beiden zuvor genannten Punkten zusammenhängend die Frage nach der moralischen Bewertung und Legalität jener »Verquickung des 394 Inserat in der Post, Nr. 270, 1.10.1889 (Hvh. i. O.). 395 Vgl. zu Polke die Skizze in Borchardt, S. 1025, und zum Börsen-Journal die Angaben: Deutscher Ökonomist, Nr. 486, 9.4.1892. 396 Gerichtszeitung, Nr. 65, 4.6.1892, S. 1.; vgl. auch Scholten, S. 101. 397 Die Nation, Nr. 37, 11.6.1892, S. 556.

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Bankgeschäfts mit dem Journalismus, dem Zeitungsvertrieb«, wie der Deutsche Ökonomist kommentierte,398 schienen daraus doch Gefahren für das Leser- und Anlegerpublikum zu resultieren. Mit dem Prozess Polke rückte eine lange unbeachtet gebliebene, nun als problematisch empfundene Figur in das öffentliche Bewusstsein: der Zeitungsbankier, jener »Mischlingsmensch«, wie Salomon von Halle ihn in der Zukunft genannt hat,399 der sich auf dem journalistischen wie dem finanziellen Feld gleichermaßen bewegte und betätigte, der Herausgeber und Leiter einer Finanzzeitung war und zugleich ein Bankgeschäft betrieb, der mit ratsuchenden Abonnenten ebenso verkehrte wie mit Geschäftskunden.400 Akteure, die in der Welt des Geldes und in der Welt der Druckerpresse zu Hause waren, stellten um 1890 kein neuartiges Phänomen dar; sie sind uns im Verlauf dieser Untersuchung bereits häufiger begegnet, sei es als Makler, die in der Frühphase finanzieller Berichterstattung den Börsendienst für Zeitungen besorgten, sei es als spekulierende Journalisten oder in Verlage und Zeitungen investierende Spekulanten, Industrielle oder Bankiers. Neu am Typus des Zeitungsbankiers, wie ihn Zeitgenossen paradigmatisch in Paul Polke erblickten, war dagegen die Offenheit, mit der er sich zur Verschränkung beider Interessensphären bekannte. Er trat dezidiert als Bankier auf, der sich aus höheren Motiven journalistisch betätigte, um das unerfahrene Publikum Anteil an seiner Sachkenntnis und seinem »Insider-Wissen« haben zu lassen. Damit einher ging eine enge personelle und institutionelle Kongruenz beider Bereiche: Es gab keine unternehmerische oder juristische Trennung zwischen Bankhaus und Zeitung, ja, das Bankhaus firmierte jedermann ersichtlich als Herausgeber des fraglichen Presseprodukts.401 Beweggrund eines solchen Doppelunternehmens war daher wohl zu keinem Zeitpunkt ein journalistisches Geltungsbedürfnis oder eine Passion des verantwortlich zeichnenden Bankiers, als vielmehr die sich daraus eröffnenden Möglichkeiten in Sachen Kundenakquise und Pflege der Kundenbeziehung: Aus dem Abonnenten der Zeitung sollte nach Möglichkeit ein Geschäftskunde der Bank werden.402 Die Tätigkeit des Zeitungsbankiers lässt sich daher 398 Der Deutsche Ökonomist, Nr. 486, 9.4.1892. 399 Die Zukunft, Bd. 1, 1892, S. 428. 400 Bernhard widmete dieser Figur in seinem Werk »Berliner Banken«, S. 53–56, ein eigenes Kapitel. 401 Vgl. die ganzseitigen Anzeigen von Polke etwa in der Post, Nr. 270, 1.10.1889. – Auch ein in München gegründetes Finanzblatt trat ganz offen unter der Bezeichnung »Süddeutsches Bank- und Handelsblatt von Friedrich Graf & Co, Bank-Abtheilung« auf, vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 503. 402 Es wäre daher allzu simplifizierend, wollte man Bankier-Journalisten pauschal eine betrügerische Absicht unterstellen. Wie jeder andere Bankier mussten auch sie ein Interesse an dauerhaften Geschäftsbeziehungen haben, die durch plumpe Desinformation durchkreuzt worden wären. Dass Bankiers ihre Kundschaft allerdings stets nach bestem Wissen und Gewissen beraten haben, wie Borchardt, S. 37, behauptet, scheint dagegen mehr als fraglich. Eine zeitgenössische Schrift charakterisiert den Konflikt des Bankiers so, dass einer-

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eher mit dem modernen Begriff der Public Relation erfassen, ein vom Journalismus abzugrenzender Kommunikationsmodus, der sich häufig auch der Form und des Layouts von Zeitungen bediente und damit bewusst an Eigenschaften von Unabhängigkeit und Objektivität anzuknüpfen suchte, die man Zeitungen gewöhnlich zuschrieb.403 Diese Mimikry erkannten Zeitgenossen zu ihrem eigenen Schaden nicht immer. Doch nicht nur Unwissenheit aufseiten des Publikums dürfte erklären, warum Presseprodukte wie Polkes Börsen-Journal vertrauensselige Abnehmer fanden. Georg Bernhard hat den Erfolg jener Zeitungsbankiers darauf zurückgeführt, dass sie das fortwirkende Bedürfnis jener »guten alten Zeit« bedienten, in der der Bankier seiner Kundschaft »nicht bloß Vermittler beim An- und Verkauf von Wertpapieren [war], sondern auch Berater in allen finanziellen Angelegenheiten«. Ein großer Teil des kapitalanlegenden Publikums vermisse bei den großen Bankinstituten, bei deren Kundenschar es mehr oder weniger zur Nummer geworden sei, persönliche Beratung und individuellen Ratschlag.404 Ein solches »Gespräch« zwischen Bankier und Anleger simulierte die Rubrik »Briefkasten«, die seriöse Zeitungen dezidiert ablehnten.405 Es lassen sich über die historischen Rezipienten dieser Medien keine sicheren Aussagen treffen. Einen allenfalls vorsichtigen Einblick in die Denk- und Vorstellungsweisen eines Anlegers und Finanzzeitungslesers liefert das Schreiben eines Privatmanns, mit dem sich dieser im Juni 1892 an die Börsen-EnqueteKommission des Reichstags wandte. »Der Prozeß gegen Polke belehrt mich, daß ein Banquier nicht gegen die Wahrheit ein Actien-Unternehmen günstig schildern darf, wodurch Unkundige ihr ganzes Vermögen verlieren können.« Der Absender war einst selbst, wie er darlegte, auf den Tipp eines anderen volkstümlichen Finanzblattes, der Allgemeinen Börsen-Zeitung406 hereingefallen und hatte die Aktien eines Unternehmens gekauft, das wenig später kaum noch etwas wert gewesen war. »Ich hoffte auf Besserung, da ich nicht glauben mochte, daß der genannte Artikel wider besseres Wissen geschrieben sei. Heute kann ich seits »seine Klientel sich vertrauensvoll Rat in Kapitalsanlagen[!]« von ihm erwarte und er andererseits »seinen Tresor von bestimmten, schwer verkäuflichen Effekten zu entlasten strebt«, Jaroslaw, S. 63. 403 Die noch lange nach 1900 stets wiederholten Warnungen in Presse und Publizistik deuten darauf hin, dass die Zahl derer, die in der Verquickung von Journalismus und Bankgeschäft keinen Interessenkonflikt erblickten, nicht gering gewesen sein dürfte. Scholten, S. 100, spricht noch 1910 davon, dass »das Publikum immer noch eine gewissen Vorliebe für die von einigen Bankgeschäften herausgegebenen ›Finanzblätter‹« sich bewahrt habe. 404 Bernhard, Banken,, S. 53. 405 Vgl. Scholten, S. 100. 406 Das Blatt war aus der Umwandlung des Börsenwächters hervorgegangen und nach der Flucht Christian Hollanders in den 1880er Jahren in den Besitz von Paul Ellerholz und Franz Merten übergegangen. Nach seiner Verurteilung wegen Erpressung setzte sich auch Merten 1891 ins Ausland ab, GStA PK, I. HA Rep. 77 tit 54a, Nr. 27 und Berliner GerichtsZeitung, 22.9.1891, S. 3.

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das Papier nicht mehr los werden.«407 Der Brief ist ein beredtes Dokument dafür, wie persistent unter deutschen Kleinanlegern der Glaube an die stets hehren Absichten des ehrbaren Bankiers und die Wahrhaftigkeit des gedruckten Wortes gewesen sind.408 Hatte für manchen Beobachter bereits der Verdacht Empörung hervorgerufen, Polke habe das Publikum in seinem Börsen-Journal vorsätzlich falsch unterrichtet, so musste der Ausgang des Prozesses als nicht weniger denn skandalös empfunden werden. Nach 36 Verhandlungstagen sprach das Gericht den Angeklagten frei. Es neigte zwar der Ansicht zu, dass Polke, »um sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, durch Vorspiegelung falscher Thatsachen einen Irrtum erregt« habe, konnte allerdings nicht feststellen, dass zwischen »diesen Vorspiegelungen und der Vermögensschädigung ein unmittelbarer Zusammenhang« bestehe, ebenso wenig dass Polke bewusst darauf ausgegangen sei, die Leser zu schädigen.409 Das Urteil war Wasser auf die Mühlen all jener, die seit Längerem nach einer strengen Regelung des Verhältnisses von Presse und Finanzsektor durch den Gesetzgeber gerufen hatten, und ebenso konnte die öffentliche Resonanz auf den Richterspruch nicht spurlos an den politischen Entscheidungsträgern, den Parlamentariern und den Mitgliedern der Börsen-Enquete-Kommission, die sich wenige Wochen zuvor konstituiert hatte, vorüber gehen.410 Für die konservative ebenso wie für die linke Publizistik war der Prozess Polke nicht nur ein augenfälliger Beweis für die Liederlichkeit der Börse; sie ging weiter und schloss daran sogleich eine Diagnose der wilhelminischen Gesellschaft an. Die Vorgänge bestätigten die traurige Wahrheit, klagte die Kreuzzeitung, dass »wir uns in einer Zeit des sittlichen Niedergangs befinden«. Die maßlose Zunahme der Erwerbs- und Genusssucht nötige, »die heutigen sittlichen Zustände mit denjenigen der römischen Kaiserzeit zu vergleichen.«411 In dieses Horn blies auch der antisemitische Schriftsteller Rudolf Plack-Podgorski. Für ihn war der Prozess Polke, wie er in einem langatmigen Pamphlet und einer hinterher geschobenen Broschüre darzulegen suchte, ein unheilvolles »Rechtsbild aus der Zeit Wilhelms II.« und zugleich ein »Mahnwort an den Mittelstand des deutschen Volkes und Aufruf zum Kampf gegen

407 Achim Schulz (Privatier) an Börsen-Enquete-Kommission, 8.6.1892, BA-L, R 1501, Nr. 105505/d, Bl. 73. 408 Schnell war man mit Vorurteilen gegen das leichtgläubige Anlegerpublikum zur Hand: »Die Verquickung von Bankgeschäft und Presstätigkeit« habe stets fragwürdige Ziele, die sich oft der äußeren Wahrnehmung entzögen. Wo sie aber so offen hervorträten wie im Falle Polkes, »da sollte doch jeder denkende Mensch, auch wenn er nicht im Besitz von klassischer Bildung, Titeln und Würden ist, sich sagen, dass da nicht der Ort für ein so weitgehendes Vertrauen ist, wie es die Vermögensverwaltung verdient.« Deutscher Ökonomist, Nr. 486, 9.4.1892. 409 Gerichts-Zeitung, Nr. 65, 4.6.1892, S. 1. 410 Zur Relevanz des Polke-Prozesses in den Verhandlungen der BEK s. Kap. III. 3.2. 411 Kreuzzeitung, 27.4.1892.

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die hohe Finanz und den Börsenschwindel der Welt.«412 Und die Neue Zeit sah in dem Prozessausgang einen neuerlichen Beweis dafür, dass »der ›moderne Rechtsstaat‹ den Auswüchsen des Kapitalismus weder gesetzlich noch strafrechtlich beikommen kann.«413 Der Prozess gegen Polke hatte den misstrauischen Blick der Öffentlichkeit auf die »kleine Finanzpresse« gelenkt und Forderungen in Richtung der Politik laut werden lassen, man möge durch gesetzliche Maßnahmen Abhilfe schaffen. Dieser Ruf wäre vielleicht ungehört geblieben, wenn nicht im gleichen Zeitraum eine viel weitergreifende Debatte um eine Korruption bei den größeren und angesehenen Zeitungen aufgekommen wäre. Sie sorgte im Zusammenspiel mit dem Prozess Polke für den Eindruck, dass der deutsche Finanzjournalismus generell defekt war und um des Schutzes deutscher Kleinanleger willen ein staatlicher Eingriff in die Spielregeln des finanzjournalistischen Feldes dringend geboten schien. Korruption, Bestechlichkeit, Erpressung »Unsere Handelsredakteure« lautete der Titel eines Aufsatzes, mit dem die Zukunft im November 1892 die Geschichte des Wirtschaftsjournalismus erzählte, die im Gewandt einer Verfallsgeschichte daherkam. Ihr Verfasser, Salomon von Halle (1848–1918), bewegte sich selbst schon seit Jahrzehnten in diesem Metier, war also Teil jener Berufsgruppe, die er nun unter dem Schutz des Pseudonyms »Pluto« ungeniert kritisierte.414 Einst, in den 1860er und frühen 1870er Jahren, hieß es darin, da studierten die betreffenden Redakteure ihren Gegenstand gründlich und schrieben sodann mutig dafür oder dagegen. »Mit einem bloßen Kritisieren war damals nichts gethan, es mußten Meinungen gemacht werden, ein Etwas, zu dem die Publizistenfurcht von heute ganz unfähig« sei. In jenen Zeiten hätten »Verständniß, Scharfsinn, Öffentlichkeit und allerdings – Interesse« einzelne Handelsteile groß gemacht. Den charakterfesten und meinungsstarken Finanzjournalisten der Anfangsjahre stellt von Halle sodann den »Typus der modernen Handelsredakteure« gegenüber. Dieser hätte sich erst zur Mitte der 1870er Jahre in den trostlosen Zeiten nach dem Börsenkrach herausgebildet und stehe »im Ganzen tief unter [seinen] Vorgängern«. Für von Halle zeichne sich der »moderne Handelsredakteur« nicht durch Lust an der Kritik und Freude zur Meinung aus, sondern vielmehr durch Gewinnsucht, die durch freigebige Bankiers zur Genüge bedient werde. Von seinem Fach müsse er nur 412 Vgl. Plack-Podgorski, Polke; ders., Mahnwort. 413 Die neue Zeit, Jg. 10, 1891/92, S. 356. 414 Von Halle war von 1873 bis 1877 Handelsredakteur bei der Frankfurter Zeitung gewesen und seit den 1880er Jahren Leiter des Handelsteils des Finanzherold, von 1892 bis 1899 schrieb er als »Pluto« in der Zukunft, vgl. DBA, Teil 2, Fiche 1118, S. 276. – Stöber, Pressegeschichte, S. 197, geht irrtümlich davon aus, dass es sich hierbei um Georg Bernhard handelt. Dieser publizierte jedoch erst Jahre später in der Zukunft unter dem Pseudonym­ »Plutus«.

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ganz wenig verstehen, »aber gegenüber den Waschzetteln den Kadavergehorsam« bezeugen: »Die sachliche Unkenntniß ist so groß, daß, wenn man z. B. an der Berliner Börse einigen Handels-Redakteuren den patentesten Unsinn erzählen würde, – vielleicht ist dies auch schon oft geschehen, – man alles dieses des Abends mit Buchstabentreue in den betreffenden Blättern findet. Sehen wir doch nur, mit welcher aufrichtigen Andacht die Herren Journalisten Mund und Ohren aufsperren, wenn ihnen Herr Direktor Fürstenberg an manchem Mittag seine gewiß bemerkenswerthen Gedanken zum Besten giebt; diese geistige Unselbständigkeit, dieses naive Anwundern einer fühl­ baren Geldmacht!«415

Es ist fraglich, ob es um Moral und Kompetenz der finanzjournalistischen Akteure zu Beginn der 1890er Jahre tatsächlich so schlecht bestellt war, wie von Halle seinen Zeitgenossen Glauben machen wollte. Diese Diagnose scheint vielmehr darauf zurückzuführen zu sein, dass Fälle ethischer Grenzüberschreitungen im Journalismus eine immer stärkere mediale Aufmerksamkeit erfahren haben, ihre öffentliche Wahrnehmung somit erhöht und ihre Virulenz durch Formen medialer Skandalisierung gesteigert, vielleicht übersteigert worden war. Der sogenannte »Panama-Skandal«, der 1892 Frankreich erschütterte, schnell aber auch von deutschen Medien aufgegriffen wurde, zeigt dies deutlich.416 Er war ein Medienskandal in der doppelten Bedeutung des Wortes, nämlich als ein in Medien reproduzierter und durch sie verstärkter Skandal ebenso wie einer, in den Medien bzw. deren Vertreter – dies ist in unserem Zusammenhang von Bedeutung – selbst als Protagonisten involviert waren. Denn französische Wirtschaftsjournalisten hatten über Jahre hinweg maßgeblich dazu beigetragen, die desaströse Finanzlage der Compagnie de Panama zu verschleiern, jener Aktiengesellschaft, die mit dem Kapital Millionen französischer Kleinanleger den Bau des Panama-Kanals finanzieren sollte. Die Pressevertreter hatten dafür horrende Bestechungssummen erhalten und dabei den millionenfachen Ruin von Anlegern, der mit dem Konkurs des Unternehmens 1888 besiegelt war, billigend in Kauf genommen.417 Der Panama-Skandal erregte auch in der deutschen Öffentlichkeit großes Aufsehen und gab Anlass, sich näher mit dem Verhältnis von Wirtschaft und Journalismus in Deutschland zu beschäftigen. Zwar gab es dabei Stimmen, die die Unterschiede in den Pressesystemen beider Länder betonten und daraus voreilig schlussfolgerten, dass eine Korruption dieses Ausmaßes in Deutschland undenkbar sei.418 Gleichwohl hatten sozialkonservative Kulturpessimisten vor dem Hintergrund der französischen Vorfälle leichtes 415 Die Zukunft, Bd. 1, 1892, S. 429 f. 416 Bösch, Grenzen, S. 140 f. 417 Requate, Journalismus, S. 104. 418 Die französische Presse wurde von deutschen Beobachtern generell als korrupter wahrgenommen; die Ursachen sah man darin, dass ihr eine solide finanzielle Basis fehle. Hier wurde der Vorwurf jener Kritik am Anzeigenwesen in sein Gegenteil verkehrt: Die Kom-

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Spiel, einen Niedergang der deutschen Presse durch eine um sich greifende Korruption auch in Deutschland zu insinuieren, zumal es bei derlei Anschuldigungen immer schwer fiel, den Gegenbeweis zu erbringen. »Man wende nicht ein, daß diese finanzielle Korruption nur in Frankreich vorhanden, daß Deutschland frei davon geblieben sei«, kommentierte die Kreuzzeitung, um danach kategorisch festzustellen: An dem Bestehen einer mehr oder minder weitgehenden finanziellen Korruption, dieser »geheime[n] und gefährliche[n] Macht«, sei auch in Deutschland nicht zu zweifeln.419 Der sogenannte »Panamismus« wurde bald schon zum geflügelten Wort, mit dem man die Verfilzung zwischen Politik, Wirtschaft und Journalismus in den »modernen Kulturstaaten« geißelte. Man solle einmal untersuchen, forderte 1896 der SPD-Reichstagsabgeordnete Bruno Schönlank, »welchen Einfluß die Börse auf die Presse hat, und da, meine Herren, stellt es sich heraus, daß der Panamismus durchaus keine französische Einrichtung ist, sondern daß es überall einen Panamismus giebt, wo es den Kapitalismus giebt.«420 Es bedurfte allerdings nicht erst eines Blickes nach Frankreich, um die Sorge zu wecken, dass auch in Deutschland die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Presse, zwischen Bankvertretern und Journalisten, höchst bedenklicher Art sein konnten. Bereits im Sommer 1892, noch ehe der französische PanamaSkandal sich in vollem Umfang entfaltet hatte, deutete dies eine Meldung der Kreuzzeitung an. Darin berichtete das Blatt von »üblichen Gratifikationen an die Handelsredakteure der Berliner Zeitungen«, die diesen von, Adolf von Hansemann, dem Direktor der Disconto-Gesellschaft, zugegangen seien. »Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir diese Vorausbezahlung in Verbindung bringen mit den Vorbereitungen zur Emission der neuen rumänischen Anleihe, deren Vorzüge zu schildern und deren Nachteile zu verschweigen, sich die Herren Handelsredakteure mit 300 bis 1500 Mark je nach Größe ihrer Zeitung bezahlen lassen.«421 Die Mitteilung war, so beiläufig eingestreut sie auch schien, ein wohlkalkulierter Affront gegen die Hauptstadtpresse,422 die nun ihrerseits von dem konservativen Blatt forderte, es solle die Namen der vermeintlich bestochenen Handelsredakteure nennen.423 Die Kreuzzeitung konterte, ihr lägen »persönliche Verdächtigungen« absolut fern, und daher werde sie auch keine Namen nennen. Vielmehr habe sie beabsichtigt, »einen tatsächlich seit vielen Jahren bemerzialisierung der deutschen Presse, die ihr eine materielle Basis erst verschafft hatte, schütze sie gerade vor Korruption durch versteckte Finanzierung, s. Requate, Journalismus, S. 98–105. 419 Kreuzzeitung, Nr. 289, 24.6.1892. 420 Schönlank, Reichstagsrede v. 10.1.1896, in: Verhandlungen des Reichstags, Bd. 143, 1895/97, S. 235. 421 Kreuzzeitung, Nr. 268, 11.6.1892. 422 Der Verfasser der Meldung war der Handelsredakteur der Kreuzzeitung, Theodor Müller-Fürer, der nur eine Woche später als Sachverständiger vor der BEK aussagen sollte, s. Kap. III. 3.2. 423 Vgl. etwa die National-Zeitung, 13.6.1892.

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stehenden Übelstand endlich öffentlich aufzudecken«.424 Dass das Blatt dies ausgerechnet im Juni 1892 tat, dürfte dagegen nicht nur mit der Anpreisung neuer »gefährlicher auswärtiger Anleihen« zusammengehangen haben, die man zu durchkreuzen suchte, indem man auf die Befangenheiten jener Journalisten aufmerksam machte, die die Anleihen zu bewerten hatten. Die Veröffentlichung des Artikels koinzidierte überdies mit den Beratungen der Börsen-EnqueteKommission, auf deren Agenda man dadurch, so bleibt zu vermuten, Einfluss nehmen wollte. Diese hatte für die zweite Junihälfte ausgewählte Akteure des finanzjournalistischen Feldes als Sachverständige geladen, darunter auch den Verfasser eben jenes Artikels der Kreuzzeitung, Theodor Müller-Fürer. Dass das konservative Organ keine Belege und keine Namen für seine Behauptung vorbringen wollte oder konnte, schmälerte seine Glaubwürdigkeit nicht. Die Disconto-Gesellschaft ließ keine juristischen Schritte gegen die Kreuzzeitung folgen. Alles das konnte als Bestätigung ihrer Behauptung aufgefasst werden.425 Überdies spielte der Zeitgeist, weitgehend ablehnend eingestellt gegenüber der Finanzwelt, misstrauisch gegenüber den Börsen- und Finanzjournalisten, der Kreuzzeitung in die Hände. Allenthalben schien sich das Bild einer durch und durch korrupten Finanzpresse, die mit der Börse gemeinsame Sache machte, zu bestätigen. Jüngst erst war der Prozess Polke zu Ende gegangen, und wer danach noch immer nicht überzeugt war, dass sich Finanzsektor und Presse zu nahe standen, der konnte in unzähligen Broschüren, Pamphleten bis hin zu umfangreichen pseudowissenschaftlichen Elaboraten Gewissheit darin erlangen.426 Bis hinauf an die Spitze der politischen Entscheidungselite reichten die Wellen, die mit dem Artikel der Kreuzzeitung geschlagen worden waren. Durch sein Geheimes Civil-Kabinett ließ Wilhelm II. den Berliner Polizei-Präsidenten, Bernhard von Richthofen, auf die Angelegenheit aufmerksam machen und wünschte Näheres darüber zu erfahren.427 Ein paar Monate später hielt ein interner Bericht fest: Die »Gewährung von Gratifikationen« seitens der Großbanken – genannt wurden u. a. die Disconto-Gesellschaft, die Deutsche Bank sowie die Berliner Handels-Gesellschaft – seien »in der Tat üblich«. Redakteure reichten zu diesem Zweck ihre Visitenkarten beim Sekretär des Bankdirektors ein. »[D]iese Vorsicht von Seiten derselben«, fügte der zuständige Polizeibeamte hinzu, sei in den meisten Fällen gar nicht nötig, »da bei diesen Bankinstituten die Börsen­ redakteure der in Betracht kommenden Zeitungen schon vorher notiert und in 424 Kreuzzeitung, Nr. 272, Nr. 14.6.1892. 425 Vgl. Vorwärts, Nr. 136, 14.6.1892 und Nr. 138, 16.6.1892. 426 Unter dem Titel »Aus der Mischpoke« veröffentlichte der deutschnationale Publizist Erwin Heinrich Bauer (1857–1901) 1892 fingierte Briefe eines jüdischen Berliner Journalisten an einen Bankier aus Posen, in denen dieser die Hauptstadtpresse als gänzlich unter dem Einfluss der haute finance stehend darstellte, Bauer, insb. S. 22–24, 50 f.; vgl. auch Solano, S. 36 f. 427 Geheimes Zivil-Kabinett an Polizei-Präsident Richthofen, 21.6.1892, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 12129, Bl. 95; Interner Bericht des Berliner Polizei-Präsidenten, 6.7.1892, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 12129, Bl. 96.

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einer Liste verzeichnet sind.« Ein Sondieren, ob der betreffende Redakteur zugänglich ist, sei meistens überflüssig, denn sie nähmen fast alle und machten »aus diesem Abkommen auch gar kein Geheimnis«.428 Die beunruhigende Diagnose, die Salomon von Halle in der Zukunft über den Berufsstand der Handelsjournalisten geliefert hatte, die über sozialistische und agrarkonservative Medien ebenso aber auch in andere Teilöffentlichkeiten eingesickert war, schien für Zeitgenossen durch die Wirklichkeit somit zur Genüge bestätigt zu werden. Dass seit 1890 wieder häufiger öffentlich von Korruption im finanziellen Journalismus gesprochen wurde, darf allerdings nicht zu der voreiligen Schlussfolgerung führen, man habe es in dieser Zeit mit einem tatsächlichen Anstieg korrupter Beziehungen zu tun – etwas, das für den Historiker zu messen ohnehin schwerlich möglich ist.429 Denn begreift man »Korruption« nicht als einen objektiv zu bestimmenden Tatbestand, sondern, wie dies neuere kulturhistorische Arbeiten tun, als eine Form der Bewertung, in der auch immer das – wandelbare – Normengefüge einer Gesellschaft zum Ausdruck kommt,430 so ist für die 1890er Jahre vielmehr zu konstatieren, dass die normative Ordnung des finanzjournalistischen Feldes im Wandel begriffen war: Normen begannen sich auszudifferenzieren und zu verfeinern, und erst dadurch war es möglich, Praktiken zu problematisieren, die vormals noch irrelevant oder als legitim gegolten hatten. Die einsetzende Korruptionsdebatte ist daher auch die Kehrseite eines Verberuflichungsprozesses, in dessen Verlauf die Spielregeln und damit auch Grenzen des finanzjournalistischen Feldes enger abgesteckt wurden, etwa indem man versuchte, Zeitungsbankiers aus dem Feld zu verdrängen. Zugleich aber wachten Journalisten viel strenger als früher über andere Akteure ihres Feldes, um Normverstöße zu ahnden. Man begann sich nicht mehr nur über die Zugehörigkeit zu einer Zeitung und damit häufig auch zu einer politischen Richtung, sondern über die Zugehörigkeit zu einem Berufsstand zu definieren, dessen Reputation durch ethisches Fehlverhalten von Kollegen gleich welcher politischer Couleur gefährdet werden konnte. Und noch ein Weiteres zeigte die Korruptionsdebatte der frühen 1890er Jahre: Wenn es sich beim Vorwurf der Korruption um eine kritische Bewertung von Handlungen oder Praktiken handelt, »die im Konflikt zwischen öffentlichuniversalen und privat-individualistischen Normen entstehen«,431 dann deutet vieles darauf hin, dass der Finanzjournalismus in eben jenen Jahren in den Rang eines öffentlichen Gutes aufgestiegen war, ja, dass ihm nun eine öffentliche Funktion zugeschrieben wurde, da journalistische Korruption sich sonst schwerlich im politischen Kommunikationsraum des Kaiserreichs als Thema durchzusetzen vermocht hätte. »Der Redakteur, der seinen Beruf nicht als einen 428 Bericht an Polizei-Präsident, 20.11.1892, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 12129, Bl. 97 f. (Hvh. i. O.) 429 Vgl. zur Korruptionsdebatte im Journalismus Requate, Journalismus, S. 98 f. 430 Vgl. Asch u. a., S. 19–21. 431 Ebd., S. 20.

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Staatsdienst auffaßt und sich im Punkt der Ehre mit den Staatsbeamten auf eine gleiche Stufe stellte«, verglich die Kreuzzeitung den Journalistenberuf mit einem öffentlichen Amt, »der wird immer bestechlich sein und auch immer jemand finden, der ihn besticht«.432 Was dieses Anerkennen einer der Öffentlichkeit und dem Gemeinwesen dienenden Aufgabe in der Konsequenz bedeutete, werden wir im Folgenden sehen. Denn unter dieser Prämisse mussten die Spielregeln des finanzjournalistischen Feldes, sobald sie als regelungsbedürftig empfunden wurden, auch die Politik auf den Plan rufen. Diese begann denn auch bald schon in das finanzjournalistische Feld einzugreifen. 3.2 »Der bewußten Irreleitung des Publikums […] entgegentreten«: Das Börsengesetz von 1896 als Rechtsordnung finanzieller Kommunikation »[E]s liegt außerhalb der Macht einer jeden Gesetzgebung, Leute, die nun einmal ihr Geld los sein wollen, daran zu hindern.«433 Die Welt des Jahres 1873, in die Rudolph von Delbrück, der Chef der Reichskanzlei, diesen Satz vom Rednerpult des Reichstags aus sprach, hatte mit der Welt zu Beginn der 1890er Jahre nur noch wenig gemeinsam. Nicht so sehr die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche, die sich in den zwei dazwischen liegenden Dekaden mit unvorstellbarer Rasanz vollzogen hatten, sollen an dieser Stelle in den Vordergrund rücken.434 Der in unserem Zusammenhang bedeutendere Wandel spielte sich auf Ebene der Ideen und Mentalitäten, ja, in den politischen Ordnungsvorstellungen ab, und kam in der allgemeinen Ansicht zum Ausdruck, dass der Staat in immer mehr Bereiche des Lebens seiner Bürger ordnend und regelnd eingreifen müsse – der »moderne Interventionsstaat« nahm Gestalt an.435 Nach den Erfahrungen des Börsenkrachs von 1873 und seiner Vermögensvernichtung, nach erneuter sprunghafter Zunahme der Investitionen in fragwürdige Aktiengesellschaften und fremde, nicht immer mittelfristig solvente Staaten seit den 1880er Jahren – unter den fünfzig Millionen Einwohnern in Deutschland befanden sich rund eineinhalb bis zwei Millionen Wertpapierbesitzer, schätzte damals der Nationalökonom Gustav Schmoller –,436 aber auch nach den zahlreichen Staatsbankrotten zu Beginn der 1890er Jahre, die nicht zuletzt eine Lücke im internationalen Recht offenbarten,437 neigten nicht mehr viele der Ansicht zu, der Staat solle sich gegenüber den privaten Investitionsentscheidungen 432 Kreuzzeitung, 24.5.1892. 433 Delbrück, Rede v. 4.4.1873, in: Stenographische Berichte, 1.  Leg., 4.  Session 1873, Bd.  1, 1873, S. 224. 434 Auch der Prozess der »Fundamentalpolitisierung« und die Entstehung eines »politischen Massenmarktes« sind in diesem Zusammenhang zu nennen, vgl. etwa Ullmann, Politik, S. 25 ff. 435 Siehe hierzu Reinhard, Staatsgewalt, S.458–466. 436 Vgl. Borchardt, Einleitung, S. 45. 437 Vgl. Petersson.

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seiner Bürger indifferent verhalten, auch wenn diese unter den Bedingungen mangelhafter oder falscher Informationen getroffen worden waren und schlicht diejenigen, »die nun einmal ihr Geld los sein wollen«, nicht daran hindern. Die Worte Delbrücks mussten wie das Echo einer fernen Zeit klingen. Nun galt das Gegenteil: Der Schutz von Anlegern durch den Gesetzgeber vor den Gefahren der Übervorteilung und des Betrugs, die nach allgemein verbreiteter Ansicht allenthalben auf den Finanzmärkten lauerten. »Es ging vor allem nicht ferner an«, fasste der Handelsredakteur Georg Bernhard diese verbreitete Ansicht später einmal zusammen, »daß eine Institution wie die Börse, die tief in das Volksleben eingriff und schon lange über eine Privatgemeinschaft hinaus zu einer öffentlichen Machtveranstaltung hinausgewachsen war, auf mangelnder gesetzlicher Grundlage stand.«438 Entscheidend war, dass auch Regierungsvertreter und Parlamentarier diese Ansicht teilten. So wurde zu Beginn der 1890er Jahre der Weg für ein Börsengesetz bereitet, das weit mehr war als eine Fixierung von Handelsusancen. Angesichts mehrerer Gerichtsprozesse wie jenem gegen Polke und einer intensiv geführten Debatte um Korruption im Journalismus sollte das Gesetz die durch die Presse organisierte Kommunikation zwischen Finanzsektor und Öffentlichkeit strafrechtlich regeln, um so Falschinformation und Bestechung vorzubeugen. Börsen-Enquete-Kommission I: Die Hochfinanz über die Presse Seit Ende 1891 wurde von verschiedenen Regierungsstellen der Ruf nach einem Börsengesetz laut. Im Dezember unterrichtete Innenstaatssekretär von Boetticher die Landesregierungen in einem Rundschreiben über die Abhaltung einer Börsen-Enquete-Kommission (BEK), ein bis dahin in Deutschland noch wenig erprobtes Untersuchungsinstrument.439 Am 6.  April 1892 fand in Berlin die konstituierende Sitzung statt. Der Expertenkommission gehörten im Lauf ihrer einjährigen Tätigkeit 31 Mitglieder an, darunter Reichstagsabgeordnete (vornehm­lich des konservativen Spektrums), Bankdirektoren, Handelskammersekretäre und -syndizi, Kommerzien- und Regierungsräte, Ritterguts- und Fabrikbesitzer. Den Vorsitz führte der Präsident der Reichsbank, Koch, der die Aufgabe der Kommission darin sah, »über Mißstände, die sich im Börsenwesen herausgestellt haben, zu verhandeln, zu untersuchen, wo diese Mißstände sich zeigen und wie ihnen abgeholfen werden kann.«440 Zu diesem Zweck wurden 438 Bernhard, Banken, S. 40 f. 439 So brachten konservative und nationalliberale Abgeordnete unabhängig voneinander Anträge in den Reichstag ein, in denen sie ein Gesetz forderten, das den Missbrauch des Zeitgeschäfts an der Börse unter Strafe stellte. Etwa zur gleichen Zeit übermittelte Wilhelm II. über sein Geheimes Zivil-Kabinett den Wunsch, das preußische Staatsministerium möge sich mit dem Bank- und Börsenwesen befassen. Wenig später meinte schließlich auch das Reichsamt des Innern, eine umfassende Klärung der Börsenverhältnisse müsse her, vgl. Schulz, Börsengesetz, S. 70–74; Borchardt, Einleitung, S. 178. – Als Vorbild diente u. a. die 1877 vom englischen Parlament einberufene »London Stock Exchange Commission«. 440 Reichsbankpräsident Koch, Rede v. 9.5.1892, in: BEK/St, S. 1.

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zwischen Mai 1892 und Mai 1893 115 Sachverständige gehört, in der Mehrheit professionals des Finanzsektors, die entlang eines ihnen vorher zugestellten Fragebogens ihre Einschätzungen gegenüber der Kommission darlegen sollten. Der Fragebogen wurde in der Presse zugänglich gemacht, die Anhörungen fanden allerdings, was Beobachter kritisierten, unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Presse musste sich darauf beschränken, die von der Kommission zusammengestellten Fragen zu kommentieren und zu kritisieren, was sie denn auch rege tat.441 Vor allem Punkt Nummer drei und 18 des Fragebogens verdienen hier besondere Aufmerksamkeit. Darin wollte die Kommission von den Sachverständigen erstens wissen, »welche Erwerbsgruppen oder welche anderen Klassen der Bevölkerung« sich vorzugsweise beim Terminhandel beteiligten, ob dieser für sie ein »wirthschaftliches Bedürfniß« erfülle und welche Vorteile er ihnen eventuell gewähre, sowie zweitens, welche Maßregeln sich empfählen, »um dem schädlichen Reklamewesen, der bewussten Irreleitung des Publikums durch die Presse und der Verbreitung falscher Gerüchte entgegenzutreten.«442 Die Kommission suchte sich mit diesen Fragen Klarheit in zweierlei Richtung zu verschaffen. Zum einen sollte damit einer der häufig öffentlich erhobenen Anklagen gegen die Fondsbörse auf den Grund gegangen werden, nämlich der, dass durch sie weite Kreise der Bevölkerung in das Börsengeschäft hineingezogen würden, die dazu weder ihrer sozialen und beruflichen Stellung nach noch hinsichtlich ihrer Sachkenntnis geeignet seien. Das Börsengeschäft war eine derart komplexe Angelegenheit, dass man Laien, so lautete der Subtext, um ihres eigenen Schutzes willen davon fernhalten sollte. »[D]as deutsche Volk soll arbeiten und nicht spekulieren«, auf diese knappe Formel brachte es die Hamburgische Börsenhalle.443 Auch die Vossische Zeitung erkannte ein »Grundübel« der deutschen Börsen darin, dass der Zutritt jedem, der »eine leichte Formalität« erfüllt, freistehe und so »vielen bedenklichen Existenzen das Börsenthor ge­öffnet [werde], denen die eigenthümliche Technik des Börsengeschäfts, diese Mischung von Ernst und Spiel, die allergefährlichsten Werkzeuge liefert.«444 Das andere, in Frage 18 formulierte Erkenntnisinteresse war hiermit eng verknüpft. Es ging darin um die Informationsvermittlung zwischen Börse und Publikum, deren Weg in erster Linie über die Öffentlichkeit führte und als deren Leit­medium die Presse fungierte. Die BEK suggerierte bereits durch ihre Formulierung der Frage  – »schädliches Reklamewesen«, »bewusste Irreleitung«, »falsche Gerüchte« –, dass sie zumindest einen Teil der öffentlichen Medien als mitschuldig an den Missständen im Börsenwesen betrachtete. 441 Schulz, Börsengesetz, S. 85, 89. – Die stenografischen Protokolle der Anhörungen wurden erst nach Abhaltung der BEK Ende 1893 veröffentlicht. 442 Der Fragebogen ist abgedruckt in Borchardt, Einleitung, S. 931–934 443 Hamburgische Börsenhalle, Nr. 174, 12.4.1892. 444 Vossische Zeitung, 12.4.1892. Als Gegenstück hierzu sind zeitgenössisch oft die New Yorker und Londoner Börse genannt worden, in denen Mitgliedschaften stark begrenzt waren und erworben werden mussten.

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Nachdem man sich in den ersten Verhandlungswochen mit anderen Punkten des Fragebogens beschäftigt hatte, rückte am neunten Verhandlungstag die Presse als Diskussionsgegenstand in den Mittelpunkt. Die Kommission nutzte die Anwesenheit zweier Größen der Finanzwelt – geladen waren Emil Russell, der Geschäftsinhaber der Disconto-Gesellschaft, sowie Max Winterfeldt, der Geschäftsinhaber der Berliner Handelsgesellschaft  –, um sich »über das Verhältniß der Presse zu den Bankinstituten« unterrichten zu lassen.445 Der stellvertretende Vorsitzende der BEK, der vortragende Rat im Handelsministerium und Freikonservative Karl von Gamp, machte gleich zu Beginn der Anhörung deutlich, worauf man mit dieser Einladung hinaus wollte, als er sagte, es sei im Prozess gegen den Besitzer der Allgemeinen Börsen-Zeitung, Franz Merten, zur Sprache gekommen, »daß bei Emissionen von Anleihen den Inhabern von Börsenblättern sehr häufig Schlußscheine zugestellt werden durch welche ihnen gewissen Vortheile zugebilligt werden […].«446 Als prominenter Vertreter der Finanzwelt musste Russell sich nach dieser Auslassung zumindest indirekt in die Nähe unlauterer Praktiken im Umgang mit Journalisten gerückt sehen, ja, das Wort Korruption stand, obwohl nicht explizit ausgesprochen, doch für alle hörbar im Raum. Russell gab keine eindeutige Antwort. Aus eigener Kenntnis habe er darüber nichts mitzuteilen. Es sei ihm nicht bekannt, dass derartige Geschäfte regelmäßig oder auch in vereinzelten Fällen bestimmt stattgefunden hätten. Zudem, gab Russell zu bedenken, sei es schwer zu sagen, »wie weit im einzelnen Fall derartige Zuwendungen an die Presse als eine vollständig erlaubte und unbedenkliche Vergütung zu betrachten sind, und in welchen Fällen eine gänzlich unzulässige Beeinflussung der Presse in betrügerischer Absicht stattfindet.« Er finde nichts Bedenkliches daran, wenn ein Zeitungsredakteur für »ehrenhafte und anständige« Artikel oder Arbeiten, die er im Auftrag von Bankhäusern und auf Grundlage von statistischem oder finanzpolitischem­ Material verfasste, ein Honorar erhalte. Russell bezog sich damit auf einen bis in die 1850er Jahre zurückreichenden Usus: Aufgrund ihres Fachwissens, aber auch ihrer schriftstellerischen Fähigkeiten, griffen Banken gerne auf Handelsoder Börsenredakteure zurück, um sich bei der Abfassung von Broschüren und der Ausarbeitung von Prospekten unter die Arme greifen zu lassen.447 Mit dem Hinweis auf derartige Kooperationen zwischen Journalismus und Finanzsektor hatte Russell vor Augen geführt, wie schwierig es sich im konkreten Fall gestaltete, Zahlungen der einen Seite an die andere hinsichtlich ihrer Moralität eindeutig zu bestimmen. Wann sich etwas noch »in den Grenzen einer ehrlichen und ordentlichen Leistung und Gegenleistung« bewegte und in welchen Fällen diese Grenzen bereits überschritten waren, war so einfach nicht zu sagen.448 Von Gamp wurde nun deutlicher: Ob es richtig sei, dass es Zeitungen gebe, die »un445 BEK/St, S. 577. 446 Ebd., 577 f. 447 Vgl. die Erinnerungen von Ernst Busch in ZV, Nr. 24, 13.6.1913, Sp. 475. 448 BEK/St, S. 578.

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ter dem Einfluss ganz bestimmter Banken« stünden. Auch hierauf konnte Russell nur zu Protokoll geben, dass ihm nichts Derartiges bekannt sei. Aus den Reihen der Kommissionmitglieder ertönte daraufhin der Hinweis auf das Börsenjournal des Bankiers Polke. Russell seinerseits zog einen scharfen Trennstrich zwischen solchen Blättern, die »ihre Signatur an der Stirne« tragen, und den »größeren Tagesblättern«. Es sei etwas ganz anderes, wenn eine Zeitung zu dem einen oder anderen Bankinstitut Beziehungen solcher Art unterhalte, dass »dieselben ihre Zeitungsredakteure oder Reporter zu dem Bankier schicken, um sich Mittheilungen machen zu lassen.«449 Die Kommission hatte etwas über die Missstände im Interaktionsfeld von Journalismus und Hochfinanz, deren Ursachen und mögliche Abhilfen erfahren wollen, doch keiner der Geladenen hatte eingestanden, dass ernstzunehmende Missstände überhaut existierten. Polke und Merten schienen als grelle Einzelfälle, als Vertreter der »kleinen Finanzpresse«, die in Moral, Ehre und Anstand weit unter den größeren Tageszeitungen, ihren Handelsredakteuren und Börsenreportern rangierten. Damit deckte sich nur, was Max Winterfeldt, der Gesellschafter der Berliner Handelsgesellschaft, am gleichen Verhandlungstag zu Protokoll gab. Es liege in der Natur der Sache, dass ein großes Emissionshaus, »welches hinsichtlich der Öffentlichkeit auch ein großes Interesse hat«, auch zu einzelnen anständigen und angesehenen Blättern »in einer gewissen Beziehung« stehe. Von Bezahlungen und Beteiligungen sei ihm dagegen nicht ein einziger Fall bekannt; derartiges sei wohl »in einer früheren Zeit, in den siebziger Jahren« vorgekommen, aber nicht jetzt.450 Börsen-Enquete-Kommission II: Die Presse über die Hochfinanz Dem Untersuchungsausschuss musste es nach diesen Ausführungen äußerst schwer gefallen sein, sich ein getreues Bild der Beziehungen zwischen Presse und Finanzsektor zu machen, ja, den stellvertretenden Kommissionsvorsitzenden Gamp dürften die Äußerungen Russells und Winterfeldts eher misstrauisch gestimmt haben, statt ihn zu beruhigen. Dies könnte erklären, warum er wenige Tage später auf einer Sitzung der Kommission den Antrag einbrachte, die Liste der anzuhörenden Sachverständigen um »einige besonders befähigte Vertreter der Presse« zu erweitern.451 Es ist bezeichnend, dass man einen solchen Gedanken nicht schon vorher verfolgt hatte. Man hatte über die Presse und ihre Beziehungen zur Finanzwelt gesprochen, statt mit ihr zu sprechen, ja, Reporter sogar von den Anhörungen ausgeschlossen. Vielleicht zeigten sich in dieser Haltung noch Vorbehalte angesichts eines vergleichsweise geringen Sozialprestiges jener Berufsgruppe oder Zweifel an ihrer persönlichen Integrität. Möglich ist aber auch, dass einzelne Kommissionsmitglieder die Enthüllung von Details befürchteten, die auf die Praktiken an der Börse und in den Bank449 Ebd., S. 579. 450 BEK/St, S. 582. 451 14. Sitzung vom 24. Mai 1893, in: BEK/Spr, S. 48

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instituten ein schlechtes Licht geworfen hätten. Widerstand gegen den Antrag Gamps kam in erster Linie von den Vertretern der Finanzwirtschaft, die keinen Grund darin sahen, Journalisten anzuhören. Doch der Antrag erhielt die nötige Mehrheit.452 Schon Anfang Juni 1892 wurden Einladungen an fünf ausgewählte Pressevertreter versandt, die allesamt auf dem finanzjournalistischen Feld tätig waren.453 Die Empfänger hießen Ludwig Cohnstaedt, der leitende Handelsredakteur der Frankfurter Zeitung, Julius Basch, Handelsredakteur der National-Zeitung, Theodor Müller-Fürer, der für die Kreuzzeitung den Börsendienst besorgte, Wilhelm Christians, der Herausgeber des Deutschen Ökonomisten, sowie Jacob Wiener, der den Handelsteil des Berliner Tageblatts leitete. Die Einladung dieser fünf bedeutete zweifelsohne eine Aufwertung des journalistischen Berufstandes, dessen Grenzen sich allmählich schärften. Sie war zugleich ein Signal, dass man über eine Reform der Börsenverhältnisse in Deutschland keine Empfehlungen abgeben wollte, ohne zuvor nicht auch jene Akteure gehört zu haben, die einen wichtigen Teilbereich finanzieller Kommunikation organisierten und an der Schnittstelle zwischen Finanzsektor und Öffentlichkeit arbeiteten – ein Indiz dafür, dass Politiker und Staatswissenschaftlicher die Bedeutung der Medien in der Finanzwirtschaft allmählich anzuerkennen begannen. Warum die Wahl auf jene fünf Journalisten gefallen war und welche Gesichtspunkte dabei eine Rolle gespielt hatten, lässt sich aufgrund fehlender Quellen nicht sagen. Mit ihnen waren namhafte Vertreter ihres Faches eingeladen, die in der Mehrheit bereits durch Publikationen als Kenner der Materie hervorgetreten waren und über eine lange Berufserfahrung verfügten. Der älteste unter ihnen, Basch, schrieb seit 1872 für die National-Zeitung den täglichen Börsenbericht. Bekanntheit dürfte er vor allem durch seine ausführlichen Wochenberichte erlangt haben, in denen er Rück- und Ausblicke auf die Lage von Börse und Geldmarkt gab (auch jährlich in Buchform zusammengefasst unter dem Titel »Wirthschaftliche Weltlage«). Daneben veröffentlichte Basch, ein studierter Jurist, handelsrechtliche Abhandlungen und Kommentare. Seine Hauptwirkstätte blieb allerdings der Journalismus, seit 1877 war Basch Mitglied im Verein Berliner Presse.454 Auch Cohnstaedt konnte zum Zeitpunkt seiner Bestellung zum Sachverständigen auf knapp zwanzig Jahre journalistischer Praxiserfahrung zurückblicken. 1873 war er in die Handelsredaktion der Frankfurter Zeitung eingetreten, 1877 übernahm er ihre Leitung. Er publizierte immer wieder finanzwirtschaftliche Abhandlungen, so 1876 »Zur Silberfrage«.455 Ähnliches gilt für Christians, Jahrgang 1842, der als einziger Repräsentant eines 452 Ebd. und Schulz, Börsengesetz, S. 85. 453 Vgl. die Korrespondenz in: BA/L, R 1501, Nr. 105505/c, Bl. 150 ff. 454 Vgl. den Nachruf in Litterarische Praxis, Nr. 1, 30.1.1902, S. 6, und die Angaben in Schlenther. – Unter den Publikationen Baschs ist sein Kommentar »Allgemeines deutschen Handelsgesetz und allgemeine deutsche Wechselordnung« zu nennen, der seit 1879 in immer wieder ergänzter Auflage erschien (zuletzt zehnte Aufl. 1931). 455 Vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 344 f.

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Fachjournals anwesend war, und Jacob Wiener, der sich seit spätestens Anfang der 1880er Jahre auf dem finanzjournalistischen Feld betätigte.456 Alle vier verband, dass sie für Zeitungen arbeiteten, die tendenziell liberalem, ja auch demokratischem Gedankengut anhingen oder doch zumindest nahestanden; Cohn­ staedt selbst war Mitglied im Verein zur Förderung der Handelsfreiheit.457 Es ist daher zumindest bemerkenswert, dass auf den Antrag eines Freikonserva­ tiven, nämlich Gamp, eine Gruppe von Pressevertretern die Bühne der Expertenkommission betrat, die selber oder deren Arbeitgeber mehrheitlich im liberalen Spektrum zu verorten waren. Einzige Ausnahme bildete Müller-­Fürer. Der Historiker war 1885, nachdem er sechs Jahre an einem Gymnasium in Güters­loh unterrichtet hatte, in den Journalismus gewechselt. Zunächst betätigte er sich für die Allgemeine konservative Monatsschrift, seit 1889 arbeitete er dann für den deutschkonservativen Reichsboten und wurde schließlich 1891 volkswirtschaftlicher Redakteur der Kreuzzeitung und deren Börsenreporter.458 Müller-Fürer war derjenige unter den geladenen Pressevertretern, der, wie zu sehen sein wird, die Zustände in der Hauptstadt am schärfsten geißelte und die Beziehungen zwischen den einzelnen Zeitungen bzw. ihren Reportern und der Börse in den dunkelsten Farben zeichnete. Seine Anklage hatte er gut vorbereitet. Denn wenige Tage vor dem angesetzten Anhörungstermin war ebenjene Korruptionsdebatte durch die Kreuzzeitung ins Rollen gebracht worden, von der oben bereits die Rede war. Müller-Fürer war nicht zufällig der Verfasser dieser Artikel: sie sollten das richtige Klima schaffen, in dem der Journalist seine Kritik an der hauptstädtischen Presse vor der Kommission darlegen wollte. Welchen Eindruck von der Alltagspraxis und ihren Defekten im Interaktions­ feld von Journalismus und Börse musste die BEK nach der Anhörung der fünf Redakteure gewinnen? Zunächst einmal stellte niemand der Sachverständigen in Abrede, dass es solche Missstände überhaupt gab. Doch bereits in der Beurteilung ihrer Virulenz und möglicher gesetzlicher Mittel zu ihrer Behebung gingen die Meinungen auseinander. So konstatierte Cohnstaedt zwar, dass es immer noch jene Art von Presse gebe, »die verquickt ist mit den Bankgeschäften«; eine Vermischung zweier Bereiche, die abzulehnen sei.459 Dem pflichteten später auch Christians und Wiener bei.460 Von einer bewussten Irreleitung des Publikums im großen Stil wollte Cohnstaedt jedoch nicht sprechen. Polke und Hollander waren für ihn »extreme Ausnahmefälle«.461 Ihm sei kein einziges Organ in Berlin und Norddeutschland bekannt, gab auch Wiener zu Protokoll, wo eine derartige Verbindung noch bestehe. »Ich glaube, allein Polke ist so 456 Siehe Kap. III.1.1. 457 Vgl. zum Verein Cioli, S. 166 f. 458 Vgl. DBA, Teil 1, Fiche 874, S. 33. 459 BEK/St, S. 1852. 460 Ebd., S. 1858, 1868. 461 Ebd., S. 1852.

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dreist, dieses Geschäft heute noch auf der alten Basis fortzusetzen«.462 Auch das Problem der Korruption schätzte Cohnstaedt weit weniger virulent ein, als man es in Anbetracht der öffentlichen Debatte hätte erwarten können, ja er hielt die Artikel Müller-Fürers für übertrieben. Persönliche Bestechungsversuche wollten ihm allenfalls zu Beginn seiner Journalistenlaufbahn untergekommen sein. Nachdem er jedoch signalisiert hatte, er sei dafür nicht empfänglich, sei man nie wieder auf ihn zugekommen. Cohnstaedt traute auch den Mitarbeitern anderer geachteter Zeitungen eine derart unerschütterliche Moral zu wie sich selbst im Angesicht pekuniärer Verlockungen. Niemand würde sich erfrechen, den Redakteuren angesehener Blätter »Trinkgelder« anzubieten. Für den Redakteur der Frankfurter Zeitung war das Problem der Korruption lediglich in den niederen Sphären des Finanzjournalismus anzutreffen; die geltenden gesetzlichen Bestimmungen des Presserechts (§ 20)463 und des Handelsrechts (§ 249 d)464 reichten daher auch aus, erklärte er. Eine Verschärfung behindere die Presse nur bei ihrer Arbeit, da sie dann, um nicht belangt zu werden, eine Information im Zweifelsfall erst gar nicht publiziere, was schließlich dem Leserpublikum zum Nachteil gereichen könnte.465 In diesem Punkt widersprach Wiener. Er glaubte nicht, dass Korruption »kraft der Moral« unterbunden werden könne; es fänden sich bei jeder Zeitung schwache Menschen. Ihm seien schon häufiger »Anerbietungen« untergekommen, so etwa vonseiten des Bankhauses S.  Bleichröder, die er nicht nur abgelehnt, sondern die er in seinem Blatt auch publik gemacht habe. Danach habe er nie wieder etwas von diesen Herren gehört.466 Cohnstaedt und Wiener – praxiserprobt und sich selbst auch als moralisch gefestigt ansehend  – zeigten der Kommission genau, wie man in ihrem Metier mit Anbiederungsversuchen umgehe; gesetzliche Bestimmungen schienen darüber hinaus nicht nötig. Zuviel Einmischung des Staates, so lautete der Subtext, war ihnen suspekt. Die vorhandenen, eher kleineren Missstände ließen sich durch moralische Strenge und Kontrolle der Berufsangehörigen untereinander be­ heben. Müller-Fürer dagegen gelangte zu einer in vielen Punkten abweichenden Einschätzung. Sie ist hier besonders hervorzuheben, da er an sie die weitestreichenden Forderungen knüpfte. Für den deutschkonservativen Redakteur stand 462 Ebd., S. 1868. 463 Dieser lautete: »Die Verantwortlichkeit für Handlungen, deren Strafbarkeit durch den Inhalt einer Druckschrift begründet wird, bestimmt sich nach den bestehenden allgemeinen Gesetzen. Ist die Druckschrift eine periodische, so ist der verantwortliche Redakteur als Thäter zu bestrafen, wenn nicht durch besondere Umstände die Annahme seiner Thäterschaft ausgeschlossen wird.« Deutsches Reichsgesetzblatt 1874, Nr. 16, S. 65 ff. 464 Dieser lautete: »Mit Gefängnis bis zu einem Jahre und zugleich mit Geldstrafe bis zu zehntausend Mark wird bestraft: 1. Wer in öffentlichen Bekanntmachungen wissentlich falsche Thatsachen vorspiegelt oder wahre Thatsachen entstellt, um zur Betheiligung an einem Aktienunternehmen zu bestimmen; 2. wer in betrügerischer Absicht auf Täuschung berechnete Mittel anwendet, um auf den Kurs von Aktien einzuwirken.« 465 BEK/St, S. 1853, 1867. 466 BEK/St, S. 1867.

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fest: »Hinter den Zeitungsnachrichten steckt fast immer der Emittent oder ein anderer Spekulant, der die Unverantwortlichkeit der Presse sich zu Nutze macht […].«467 Das Bedenkliche der Verbindung zwischen Presse und Börse lag für ihn »gerade bei den großen Blättern«.468 Er plädierte daher dafür, die Verantwortlichkeit bei Ankündigungen über Emissionen von den Bankhäusern auch auf die Verleger auszudehnen, die diese publizierten. Diese »außerordentlich einschneidende Maßregel«, wie der Vorsitzende des Ältestenkollegiums der Berliner Kaufmannschaft, Adolf Frentzel, sich ausdrückte, provozierte Kritik. Frentzel argumentierte, dass Verleger ihre Redakteure angesichts des Risikos beim Abdruck derartiger Meldungen anweisen würden, generell Meinungsäußerungen zu Wertpapieren zu vermeiden und dadurch »der Vortheil, den die Öffentlichkeit der Presse dem Publikum gegenüber hat, leidet, ja sogar völlig vernichtet würde«. Für Müller-Fürer wog dieses Argument nicht schwer: Was ihm bisher in der Presse »an selbständigen Urtheilen über den Werth wichtiger Papiere vor Augen« gekommen sei, habe sich ohnehin meist als »recht werthlos« erwiesen.469 Müller-Fürer ging daraufhin auf seine persönlichen Erfahrungen – Grundlage seiner harschen Urteile – ein, nachdem er von der BEK nachdrücklich dazu aufgefordert worden war. Er sprach von einem »System der Bestechungen«, »ein wirksames Mittel der Großfinanz, ihre einzelnen Operationen mit Erfolg durchzuführen und sich im allgemeinen ein glänzendes Renommee zu verschaffen«, von einer »allgemeinen Depravirung der Presse«, davon dass die Kritik aller großen Finanzoperationen unterdrückt werde.470 Kaum dass er als Reporter des Reichsboten an die Berliner Börse gekommen war, habe er bereits ein »eingeschriebenes Kuvert« erhalten »mit einigen Hundert Mark und der Visitenkarte eines Bankiers«. Er gab das Geld zurück und erkundigte sich, was es damit auf sich habe. Das Bankhaus, versicherte in dem Glauben, Müller-­ Fürer wünsche lediglich eine diskretere Form der Bestechung, man werde ihm ein Konto eröffnen und ihm darauf »so und so viel Aktien zuteilen«. Dies sei kein Einzelfall gewesen, gab der Journalist der Kommission zu verstehen: »Später kam aber kaum eine größere Emission vor, ohne daß nicht der eine oder der andere von meinen Kollegen zu mir gekommen wäre und mir gesagt hätte: ›Haben Sie schon die Betheiligung an der und der Emission? – In diesen Tagen giebt die und die Bank ihre Halbjahresgratifikationen an die Presse aus, – Sie stehen doch auf der Liste?‹ – ›Nein, ich vermeide es sogar so viel wie möglich, den Herren bekannt zu werden.‹ – ›Es ist doch gar nichts dabei, es thun es ja fast alle, und es handelt sich jährlich um viele tausende von Mark; kommen Sie her, ich stelle Sie vor.‹«471

467 Ebd., S. 1024 f. 468 Ebd., S. 1863. 469 Ebd., S. 1024. 470 Ebd., S. 1864 f. 471 Ebd.

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Dies seien »leidliche Zustände«, resümierte Müller-Fürer. Ein Redakteur, der regelmäßig Geld von jeder großen Bank beziehe, könne doch »von diesen Instituten und Firmen immer nur mit der Devotion eines Angestellten schreiben«, und da die Mehrzahl der Zeitungen unter diesem Banne stehe, so seien die Banken, welche das Börsengeschäft beherrschten, jeder wirksamen Kritik entzogen. Er wolle dabei nicht »den armen Leuten, die das Geld angenommen haben«, einen persönlichen Vorwurf machen; wer, wie so mancher seiner Kollegen, mit 75 Mark monatlich angestellt sei und dafür den ganzen Tag arbeite und keinen Nebenverdienst habe, der könne der Versuchung nicht widerstehen.472 MüllerFürers Einschätzungen aus dem Interaktionsfeld von Journalismus und Hochfinanz standen damit denen der anderen geladenen Berufskollegen diametral entgegen. Gesetzliche Bestimmungen oder »Selbstentwicklung der Presse« Nach Anhörung der Pressevertreter im Frühjahr und Sommer 1892 sollte noch über ein Jahr vergehen, bis der Abschlussbericht der Börsen-Enquete-Kommission Ende 1893 dem Reichstag und der Öffentlichkeit übergeben wurde. Unter der Überschrift »Börsendisziplin« formulierte die Kommission darin auch einen Ehrenkodex der an der Börse vertretenen Journalisten. Zunächst stellte der Bericht klar, dass »ein Vertreter der Presse, der an der Börse gewerbsmäßig Handelsgeschäfte betreibe«, seine »Eigenschaft als objektiver und lediglich die Interessen der Gesamtheit wahrnehmender Berichterstatter« einbüßen müsse. Diese Feststellung ist in gleich zweifacher Hinsicht bedeutsam. Erstens erkannte die Kommission im gewerbsmäßigen An- oder Verkauf von Wertpapieren bei gleichzeitiger Ausübung einer journalistischen Tätigkeit einen Interessenkonflikt. Dieser konnte mit Blick auf die »Interessen der Gesamtheit« nicht toleriert werden, was – dies die zweite Besonderheit – bedeutete, dass den Pressevertretern an der Börse erstmals von einem amtlich eingesetzten Organ eine öffentliche, d. h. dem Gemeinwesen dienende Funktion zuerkannt wurde.473 In dem Abschnitt des Berichts, in dem man auf die als wahrscheinlich erachteten »mehr oder minder regelmäßigen Zuwendungen von größeren Bankhäusern« an eine Reihe von Blättern einging, wurde die Kommission, was jene öffentliche Funktionszuschreibung anging, noch deutlicher. Es bedürfe keines weiteren Beweises, »daß die Presse, welche die Aufgabe hat, die Interessen des großen Publikums auch auf diesem Gebiete zu vertreten«, durch diese Abhängigkeit vielfach verhindert werde, »diesen ihren Pflichten in völlig unparteiischer und sachgemäßer Weise genügen zu können.« Es müsste klar und unzweifelhaft zum Ausdruck gebracht werden, dass durch derartige Geldzuwendungen an die Presse »die öffentlichen Interessen in erheblicher Weise verletzt« würden. Dieser Appell richtete sich nicht lediglich an die Börsenvertreter, sondern schloss zugleich auch die Zeitungsmacher und das Führungspersonal ein, die 472 Ebd., S. 1865. 473 BEK/Bericht, S. 15.

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Verleger und Chefredakteure, die man mit in die Verantwortung zu nehmen suchte. Denn das Publikum habe ein Recht darauf zu verlangen, dass »die leitenden Persönlichkeiten einer Zeitung ihre an die Börse entsendeten Berichterstatter in Bezug auf ihre Integrität dauernd kontrollieren und sie auch finanziell so stellen, daß sie Versuchungen zu widerstehen vermögen.«474 Waren diese Anweisungen an die Zeitungsmacher – selbst hinsichtlich Gehaltsfragen – nicht schon ungewöhnlich genug, so wurde die Kommission im Verlauf des Berichts noch konkreter, was die dem Journalistenberuf zugrunde zu legenden Normen anbelangte. Die Presse möge sich, mehr als es bisher der Fall gewesen sei, »die Aufklärung des Publikums und die Wahrung seiner Interessen zur Aufgabe« machen. Sie würde sich ein großes Verdienst erwerben, wenn es durch diese Aufklärung gelänge, »die kleinen Kapitalisten von den sie mit großen Verlusten bedrohenden unsicheren Anlagen fern zu halten und sie den sicheren einheimischen Werten geneigter zu machen«. Sie verletze »in gröblichster Weise ihre Pflicht gegen die Allgemeinheit, wenn sie ihre Äußerungen zu Gunsten oder zum Nachteil gewisser Unternehmungen, sowie ihr Schweigen über gewisse Unternehmungen sich bezahlen lässt«. Ihr »Beruf und ihre Aufgabe« sei es, auswärtige Anleihen sowohl wie gewerbliche Unternehmungen sachgemäß und unparteiisch zu besprechen.475 Der Expertenbericht über die Börsenverhältnisse in Deutschland geriet so auch zu einem Manual finanzjournalistischer Praxis, ja, las sich passagenweise gar wie eine Berufsethik der Finanzpresse. Dass diese ethischen Grundsätze von einer staatlich eingesetzten Expertenkommission formuliert und ihre Durchsetzung durch staatliches Recht garantiert werden sollten, war nicht nur ungewöhnlich, sondern musste von umso »fragwürdigerem Werthe« sein, wie das Berliner Tageblatt spitzzüngig und zutreffend bemerkte, »als der Staat selber kein Bedenken trägt, Zeitungen dadurch für sich zu gewinnen, daß er ihnen ideelle und selbst materielle Vortheile zuweist«.476 Nicht alle Zeitungen erblickten in dieser dem finanzjournalistischen Feld von staatlicher Seite anempfohlenen normativen Ordnung einen Segen. Der Intervention durch den staatlichen Gesetzgeber stand die Ansicht gegenüber, dass eine »Besserung allmählich aus der Selbstentwicklung der Presse kommen muss, und aus den Anforderungen, welche das Publikum an sie stellt«, wie Ludwig Cohnstaedt in einer Artikelserie Anfang 1894 formulierte.477 Die liberale Wochenschrift Die Nation argumentierte ähnlich: Die Presse müsse sich gegen die »unlauteren Beeinflussungen der Börsenleute« zur Wehr setzen; damit handele sie nicht nur ehrenhaft, sondern auch geschäftlich klug. »Von der wachsenden Einsicht der Presse, 474 Ebd., S. 23 f. (Hvh. d. V.) 475 Ebd. 476 Berliner Tageblatt, Nr. 21., 12.1.1894 (Beiblatt). Vgl. ähnlich auch National-Zeitung, Nr. 18, 11.1.1894. 477 Die Artikel erschienen zwischen dem 10.1.1894 und dem 23.2.1894, und wurden anschließend als Separatdruck herausgegeben, s. Cohnstaedt, S. 15.

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daß sie ein vitales eigenes Interesse verletzt, wenn sie sich zu unlauteren Börsenmanipulationen mißbrauchen läßt, versprechen wir uns deshalb noch immer mehr als von irgend welchen Disziplinarvorschriften und ehrengerichtlichen Prozeduren.«478 Im Sommer 1894 begann man im Reichsamt des Innern mit der Ausarbeitung eines Börsengesetzentwurfes, den die Reichsleitung unter Kanzler Hohenlohe-Schillingsfürst schließlich im Dezember 1895 in den Reichstag einbrachte. Finanzielle Kommunikation, insofern sie sich über öffentliche Medien vollzog, wurde darin gewissen Normativbestimmungen unterworfen: Es war der Versuch, die Beziehungen zwischen Finanzmarkt und Öffentlichkeit sowie die Informationsflüsse, die beide Sphären miteinander verbanden, neu zu justieren, oder, in der Sprache der modernen Wirtschaftswissenschaft, die für das Anlegerpublikum bestehenden Nachteile struktureller Informationsasymmetrie in den Griff zu bekommen. Der Gesetzentwurf bestimmte u. a., dass vor Zulassung eines Wertpapiers zum Börsenhandel ein Prospekt zu veröffentlichen war, »welcher die für die Beurtheilung des Werthes der einzuführenden Papiere wesentlichen Angaben enthält« (§ 38); im Kurszettel war nur der Preis derjenigen Werte zu notieren, die zum offiziellen Handel zugelassen worden waren (§ 40); die Verleitung anderer zu Börsenspekulationsgeschäften »in gewinnsüchtiger Absicht [und] unter Ausbeutung ihrer Unerfahrenheit oder ihres Leichtsinns« war unter Strafe gestellt (§ 78). Der Presse speziell galt § 76: »Wer für Mittheilungen in der Presse, durch welche auf den Börsenpreis eingewirkt werden soll, Vortheile gewährt oder verspricht oder sich gewähren oder versprechen läßt, welche in auffälligem Mißverhältnis zu der Leistung stehen, wird mit Gefängniß bis zu einem Jahre und zugleich mit Geld strafe bis zu fünftausend Mark bestraft. Die gleiche Strafe trifft denjenigen, der sich für die Unterlassung von Mittheilungen der bezeichneten Art Vortheile gewähren oder versprechen läßt […].«479

In ihrer Begründung des Entwurfs erkannte die Regierung zwar die Börse als einen »unentbehrlichen Faktor« im modernen Wirtschaftsleben an, betonte jedoch, dass es zu Auswüchsen gekommen sei, die angesichts der dadurch »berührten Interessen der Allgemeinheit« ein gouvernementales Einschreiten notwendig machten.480 Damit waren nicht mehr nur jene Betrugsvorfälle an der Berliner Börse gemeint, die am Anfang der Initiative zum Börsengesetz 1891 gestanden hatten. Als der Reichstag im Januar 1896 zur ersten Lesung des Gesetzentwurfes zusammenkam, hatten viel weiterreichende Ereignisse die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Finanzmarktgeschehen gelenkt: Staatsbankrotte, partielle wie vollständige, diesseits wie jenseits des Atlantiks, Bankinsolvenzen und Börsenzusammenbrüche, wie etwa jene in den USA im Mai 1893; sie alle hatten

478 Die Nation, Nr. 14, 6.1.1894. 479 Börsengesetz vom 22. Juni 1896, abgedruckt in: Pohl, Börsengeschichte, S. 377–398. 480 Vgl. Schulz, Börsengesetz, S. 135, 152.

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auch deutsche Anleger verunsichert, getroffen, zuweilen ruiniert.481 Einer gewissen Aufmerksamkeit, zumal einer medialen, konnten sich die Reichstagsdebatten zum Börsengesetz (9.1.–11.1.1896, 28.4.1896 und 5./6.6.1896) sicher sein. Friedrich Lange etwa, der antisemitische Chefredakteur der Deutschen Zeitung, des führenden Blattes der extremen Rechten, erinnerte, während der Reichstag debattierte, mit scharfen Worten an Polke und Löwy, die »größten Börsenschwindler«, und forderte das Parlament mit dem Worten Wilhelms II. auf, »wirksame Auskehr [zu] halten!«.482 Die Lesungen des Gesetzes im Reichstags gerieten schließlich auch zu einer Debatte über das Verhältnis von Börse und Presse, über die Unabhängigkeit des Journalismus von der Finanzwelt  – ein Problemkomplex, der niemals zuvor in der deutschen Parlamentsgeschichte in einer solchen Ausführlichkeit zum Gegenstand einer Reichstagsdebatte gemacht worden war. Ausgiebig lies der Abgeordnete Max Liebermann von Sonnenberg, Gallionsfigur der antisemitischen Deutschsozialen Reformpartei, aus den stenografischen Protokollen der BEK vor und berief dabei vor allem M ­ üller-Fürer zum Kronzeugen in seiner Anklage gegen eine vermeintlich durch und durch korrumpierte Börsen- und Finanzpresse. Die Vorkommnisse, welche die geladenen Pressevertreter einst vor dem Untersuchungsausschuss preisgaben, müssten, forderte Liebermann, »den weitesten Kreisen« bekannt gemacht werden, »damit in unserem Volke in künftigen Fällen ein gründliches Mißtrauen gegen die Lobhymnen erzeugt werde«, die man in der Presse anlässlich von Emissionen singe.483 In ungewohnter Eintracht mit der extremen Rechten zeigte sich in der Bewertung dieser Sache auch die Sozialdemokratie. Bruno Schönlank, für den die Börse ein »böser Ort« war, »der böseste neben den Rennplätzen«, sah in den Aussagen der Sachverständigen einen urkundlichen Beweis für die »Korruption« und »Verderbniß« des Pressegewerbes. »Meine Herren, so steht es um die Beziehungen von Kapitalismus und Presse, und nun ergiebt sich von selbst, daß hier eine viel schärfere Formulierung der Bestimmungen über die Beziehungen der Presse zu den Börsianern und umgekehrt nöthig ist.«484 Diese beiden Positionen aus dem äußersten rechten und linken Lager mochten manchem zugleich die Gefahr vor Augen geführt haben, die sich für die Freiheit der Presse ergab, sobald man finanzjournalistische Kommunikation in das Korsett staatlicher Vorschriften zu zwängen suchte, bei deren Rigorosität sich dann börsenkritische Parteien gegenseitig überboten. Für die Akteure des finanzjournalistischen Feldes erschien es somit noch dringender, eine »Selbstentwicklung der Presse«, wie Cohnstaedt formuliert hatte, voranzutreiben. Das Börsengesetz von 1896 kann in dieser Hinsicht auch als Anstoß zu einer finanzjournalistischen Professionalisierung gewertet werden, sei es, indem es das Problembewusstsein der Akteure mit Blick auf das Interaktionsfeld von Journalismus 481 Borchardt, Einleitung, S. 177; Schulz, Börsengesetz, S. 67 f. 482 Deutsche Tageszeitung, 28.4.1896, zit. n. Leinemann, S. 67. 483 Rede v. 10. Januar 1896, in: Verhandlungen des Reichstags, Bd. 143, 1895/97, S. 250. 484 Rede v. 10. Januar 1896, in: ebd., S. 232, 236.

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und Hochfinanz schärfte, sei es, indem es als staatlicher Regelungsversuch schlicht abschreckend wirkte. Das Börsengesetz markiert in der Presse- und Rechtsgeschichte des Kaiserreichs einen einmaligen Vorgang. Denn während deutsche Gerichte seit den 1880er Jahren vermehrt dazu übergingen, der Presse jegliches Recht auf Vertretung öffentlicher Interessen abzusprechen, postulierte der Gesetzgeber mit dem Börsengesetz zum ersten und einzigen Mal eine öffentliche Verantwortung der Presse – zumindest für den Teilbereich der Wirtschaft und im Kontext privater Kapitalanlage.485 »Einer objektiven Handelsberichterstattung den Weg zu bahnen«,486 wie ein Zeitgenosse die Absicht des Börsengesetzes beschrieb, dürfte dem Gesetzgeber indessen nicht gelungen sein, nicht zuletzt waren hierfür seine Bestimmungen  – insbesondere § 76  – juristisch zu »bedenklich«487 und in der Praxis kaum anwendbar. Zur Sicherung einer objektiven Berichterstattung über Börse und Finanzmärkte bedurfte es vielmehr jener Initiativen, die von den Akteuren des finanzjournalistischen Feldes selbst ausgingen. * Befördert durch aufsehenerregende Justizfälle und medial in Szene gesetzte Korruptionsskandale, avancierten die »Spielregeln« des finanzjournalistischen Feldes zu Beginn der 1890er Jahre zu einem öffentlichen Diskussionsgegenstand und zu einem Thema gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Im Unterschied zu den 1870er Jahren erkannten politische Entscheidungsträger nun für diesen Bereich eine Handlungsnotwendigkeit des Gesetzgebers. Sie schufen mit der Börsen-Enquete-Kommission eine Institution, in der die Beziehungen zwischen Presse und Finanzsektor erstmals verfahrenstechnisch legitimiert, umfassend und durch Anhörung verschiedener Gesellschafts-, Berufs- und Interessengruppierungen erörtert und als regelungsbedürftig aufgefasst wurden. Im Ergebnis wurde finanzjournalistischer Kommunikation eine gesellschaftliche und öffentliche Funktion zugesprochen und ihr Schutz durch Rechtsnormen empfohlen. Das wenige Jahre später verabschiedete Börsengesetz war jedoch nur bedingt dazu geeignet. Seine Bedeutung liegt vielmehr darin, dass von ihm der Anstoß an die Presse ausging, ihre »Selbstentwicklung« proaktiv zu verfolgen, um einer weiteren Intervention des Gesetzgebers zuvorzukommen. 485 Vgl. Stöber, Nation, S. 180 f. 486 Scholten, S. 129. 487 So der Jurist Arthur Nußbaum in seinem zeitgenössischen Kommentar zum Börsengesetz, vgl. Nußbaum, S. 349. Vor allem stieß man sich an der Formulierung »in auffälligem Mißverhältnis« (§ 76): »Was nicht üblich ist, ist darum noch keineswegs auffällig, sondern kann in den besonderen Umständen des Falles – z. B. das besonders hohe Schriftstellerhonorar in der besonders sachkundigen Abfassung des Artikels – seine Erklärung finden. Die Subventionierung oder sonstige dauernde Unterstützung eines Preßunternehmens durch eine Bank u. dgl. ist weder an sich strafbar noch wird es in solchen Fällen möglich sein, ein ›Mißverhältnis‹ zwischen Vorteilen und Leistung überhaupt je festzustellen.« Ebd., S. 349 f.

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IV. Vom »Kuli der Börse« zum Anwalt der Öffentlichkeit? Die Professionalisierung des Finanzjournalismus (1897–1914) 1. Beschleunigung und Internationalisierung »Die ganze Arbeit des Redakteurs ist auf den Tag eingestellt. Aus den Geschehnissen und Bedürfnissen des Tages schöpft er für seine Arbeit. Nichts soll und darf ihm entgehen. Der Konkurrenzkampf ist erbittert, nur nicht hinter einer anderen Zeitung ›nachklappen‹, möglichst viel ›zuerst wissen‹. Ein Schnelligkeitswettkampf sondergleichen.« Wie entsteht eine Zeitung? (1922)

Im folgenden Kapitel steht die Professionalisierung des Finanzjournalismus in Deutschland im Mittelpunkt. Sie erscheint als ein dominanter Prozess in den Jahren vor 1914 und kann mit gutem Grund als ein eigener Entwicklungsabschnitt in der Geschichte des Finanzjournalismus charakterisiert werden, der die Politisierungsphase zwar nicht beendete, mitunter aber in ihrer Intensität schwächte. Unter Rückgriff auf die berufssoziologische Forschung1 lassen sich verschiedene Tendenzen einer Professionalisierung des Finanzjournalismus aufzeigen, wenngleich jener Verberuflichungsprozess genau genommen – und dies gilt für den Journalismus in Deutschland generell – vor 1914 nie über eine »informelle« Professionalisierung hinausgekommen ist.2 Die Herausbildung berufsständischer Normen im Journalismus, eines sogenannten code of ethics, dem besonders finanzjournalistische Akteure unterworfen waren, ist hierbei wohl am augenfälligsten. Daneben ist eine wachsende Selbstkontrolle durch Berufsverbände zu beobachten ebenso wie Bestrebungen, finanzjournalistischen Akteuren eine spezifische Ausbildung zuteil werden zu lassen. Schließlich können aber auch andere, oftmals weniger offensichtliche Indizien einer Professionalisierung beobachtet werden, wie die Steigerung der Effizienz und Verbesserung der Qualität finanzjournalistischer Abläufe bzw. Inhalte. Sie begegnet uns mit Blick auf den Finanzjournalismus einerseits in der Mobilität seines 1 Vgl. einführend Demszky u. Voß und Kurtz, Berufssoziologie. 2 Requate, Journalismus, S. 18. – »Informell« meint hierbei eine Professionalisierung jenseits staatlicher oder berufsständischer Steuerungsmechanismen, wie sie etwa auf den Beruf des Arztes oder Anwalts zutreffen.

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Personals und im Ausbau von Korrespondentennetzen: Der Aktionsradius der finanzjournalistischen Akteure, der geografische, aber auch mentale Raum, in denen sich diese bewegten, hatte sich bis zur Jahrhundertwende beträchtlich erweitert; der deutsche Finanzjournalismus kann spätestens zu diesem Zeitpunkt als kontinental, wenn nicht gar transatlantisch bezeichnet werden. Andererseits lässt sich Professionalisierung auch, wie wir sehen werden, an den neuen Zeitstrukturen ablesen, die Einzug in die finanzjournalistische Praxis hielten und die Nachrichtenübermittlung, -redaktion und -auslieferung an den Endverbraucher von Grund auf veränderten. Sie waren nicht nur Ausdruck einer technischen Beschleunigung, die das Wilhelminische Kaiserreich erfasste, sondern auch Signum einer Beschleunigung des Lebenstempos mit all ihren Verheißungen und Schattenseiten.3 1.1 Mobilität und Korrespondentennetze Nachdem Berlin in den 1880er und 1890er Jahren zum unangefochtenen Finanzzentrum Deutschlands aufgestiegen war und damit die Vorgänge an der Berliner Börse und im Berliner Bankendistrikt maßgeblich geworden waren für alle anderen Börsen im Reich, ja, für das Finanzmarktgeschehen in Deutschland überhaupt, konnte kaum noch eine Zeitung, die etwas auf ihren Handelsteil hielt, ohne eigene Korrespondenten am Berliner Finanzplatz auskommen. »Was in dem beschränkten Raum des Börsengebäudes geschieht«, erklärte ein Zeitungsverleger 1903, »ist für das ganze Land von Wichtigkeit und kann diesem einzig und allein auf dem Wege der Verbreitung durch Zeitungen zugänglich gemacht werden.«4 Berlin als Fluchtpunkt Immer mehr Blätter deutscher Groß- und mittelgroßer Städte entsandten, mit dieser Entwicklung Schritt haltend und so lange es ihre finanzielle Lage gestattete, eigene Finanz- und Handelsberichterstatter in die Reichshauptstadt oder suchten diese unter den dort bereits ansässigen Journalisten zu gewinnen.5 Manche Zeitungen erwarben bei der »Kaiserlichen Telegraphen-Verwaltung« Spezialleitungen, die es ihnen erlaubten, Börsenkurse direkt aus Berlin in das jeweilige Redaktionsbüro zu kabeln. Den Anfang machte 1874 die Kölnische Zeitung, um 1900 besaßen bereits alle größeren Provinzzeitungen (Magde­burg, Breslau, Hamburg, Frankfurt, Leipzig etc.) derartige Leitungen.6 Darüber hinaus bot ein eigener Korrespondent den Vorteil, sich dem individu3 Zum Beschleunigungsbegriff, der hier zugrunde liegt, siehe Rosa, S. 124 ff. 4 Verein dt. Zeitungsverleger an Handelsminister, 18.3.1903, GStA PK, I. HA, Rep.120, C XI 1, Nr. 2 H, Bd. 1. 5 Vgl. die Hinweise bei Radius, S. 155. 6 Scholten, S. 59.

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ellen Schwerpunkt der jeweiligen Redaktion anpassen und auf deren Sonderwünsche gezielt reagieren zu können.7 Längst nicht mehr reichte es aus, zum Füllen der Handelspalten lediglich auf Nachrichtenstoff zurückzugreifen, den das WTB oder andere kleinere Agenturen – nicht immer objektiv, häufig »unzulänglich und unzuverlässig« – verbreiteten.8 Ebenso wenig genügte ein bloßer Abdruck der festgestellten Kurse. Der Leser sei vielmehr auf den Börsenbericht, der diese näher erklärte und auf Besonderheiten im Tagesgeschehen aufmerksam machte, angewiesen, er könne sie gar nicht entbehren, urteilte ein Beobachter 1911, denn die »nackten Kursmeldungen sind für die meisten Leser unverständlich.«9 Zeitungen suchten sich diesem Bedürfnis anzupassen. Die Kölnische Volkszeitung kündigte im November 1886 eine »umfassende Neugestaltung« ihres Handelsteils an. Gemäß den Wünschen eines großen Teiles der Leser würden die Kurszettel der Kölner und Berliner Börse eine wesentliche Ausdehnung erhalten. Zudem entsende man einen »Spezial-Korrespondenten« in die Reichshauptstadt.10 Das Blatt hatte nur versucht nachzuholen, was seine Konkurrentin auf dem Kölner Pressemarkt, die Kölnische Zeitung, bereits zwei Jahre zuvor vollzogen hatte. 1884 war der noch junge Paul Steller an die Spitze der Handelsredaktion getreten, seit 1885 unterhielt das Blatt mit August Bohl zudem einen neuen Handels- und Börsenberichterstatter in Berlin.11 Steller sollte, wie Neven DuMont hoffte, den Handelsteil »auf die Beine […] bringen«.12 Dazu gehörten u. a. die Vermehrung von Handelsnachrichten im Blatt sowie die Steigerung ihrer Aktualität. So mahnte Neven DuMont, Fischer, der Hauptstadtkorrespondent des Blattes, solle des Abends keine Meldungen über den Draht schicken, die er nicht ebenso brieflich mitteilen könne, denn man erwarte »jetzt abends größere Handelsdepeschen«.13 Auch Jahre später wies man Fischer noch darauf hin, die Bezeichnung »Mit Vorrang« bei seinen Telegrammen möglichst selten und niemals zwischen 14.30 und 15.30 Uhr zu benutzen, da der Draht während dieser Stunde für die Kurse freigehalten werden müsse.14 Börsen- und Handelsnachrichten wurde damit gegenüber anderen Nachrichten gezielt Vorrang auf dem privaten Kabel des Kölner Blattes aus der Hauptstadt eingeräumt. Die Anstrengungen, welche die beiden erwähnten Kölner Zeitungen unternahmen, um an aktuelle Börsen- und Handelsinformationen aus der Reichshauptstadt zu gelangen, stellten keine Besonderheit unter den Zeitungen deut7 Vogel, S. 25. 8 Scholten, S. 58. 9 ZV, Nr. 5, 3.2.1911, Sp. 91 f. – Georg Schweitzer bemerkte dagegen noch 1930, dass die Handelsredaktionen »auch heute noch fast allgemein abhängig von dem Material [sind], das ihnen durch Korrespondenzbüros zugeleitet« werde, Schweitzer, Börse, S. 93. 10 Kölnische Volkszeitung, Nr. 231, 20.11.1886. 11 Neven DuMont an Fischer, 7.7.1885, RDS, FK, Bl. 106. 12 Neven DuMont an Fischer, 13.10.1884, RDS, FK, Bl. 29. 13 Neven DuMont an Fischer, 17.10.1884, RDS, FK, Bl. 31. 14 Vogel an Fischer, 8.2.1889, RDS, FK, Bl. 1172.

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scher Großstädte dar. Die Börse hatte sich in den zurückliegenden Jahrzehnten in jedem Zeitungsunternehmen eine »so ungewöhnliche Stellung« verschafft, dass »deren Nichtbeachtung oder journalistische Beschneidung in geschäftlicher Hinsicht die schwersten Nachteile im Gefolge haben würden.«15 Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Leser interessierte sich offenbar für Nachrichten aus dem Handels- und Börsensegment, und die Presse suchte dieses Bedürfnis folgerichtig zu befriedigen. Mit durchschnittlich 32,7 Prozent stellten Handel und Börse 1909 den mit Abstand größten Anteil am Inhalt von Zeitungen.16 Eine schlechte Börsenberichterstattung schmälerte dagegen Gewinn und Prestige eines Presseunternehmens. Allenthalten waren Tageszeitungen daher immer energischer um Exklusivmaterial vom Berliner Finanzplatz bemüht. Schon 1875 nahm die Frankfurter Zeitung den Berliner Handelsjournalisten Georg Schweitzer (1850–1940) unter Vertrag, Sohn des bereits erwähnten Julius Schweitzer von der National-Zeitung, damit dieser sie laufend mit Nachrichten von der Berliner Börse und aus der Berliner Bankenwelt versorge.17 Mit der Zeit stellte Schweitzer sich auch für andere Zeitungen in den Korrespondentendienst, so für den Hannoverschen Courier und die Breslauer Morgenzeitung. Diese Tätigkeit übte er parallel zu seiner Anstellung als Handelsredakteur aus, die Schweitzer zunächst bei der Vossischen Zeitung, der Post und dann der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung innehatte.18 Dieses mehrfache »Dienstverhältnis« dürfte in jener Zeit für Korrespondenten eher die Regel denn die Ausnahme gewesen sein. Um ein entsprechendes Auskommen zu haben, war der Dienst für ein einziges Blatt nicht ausreichend. Ernst Busch (1859–1917), seit 1881 beim Berliner Actionair angestellt, versorgte seit 1890 die Schlesische Zeitung, seit 1895 den Hannoverschen Courier und seit 1899 die Königs­berger Allgemeine Zeitung mit Börsen- und Handelsnachrichten aus Berlin.19 Das Neuartige an dieser Korrespondententätigkeit war, dass ihre Träger ihr nicht lediglich im Nebenberuf nachgingen  – neben einer Haupttätigkeit etwa als Kaufmann, Kommerzienrat oder Bankmitarbeiter, wie dies in früheren Zeiten häufig der Fall gewesen war –, sondern als Vollzeitjournalisten. Dies zog nach sich, dass Korrespondenten sich der Berufsgruppe der Journalisten bei der Ausübung ihres Dienstes auch immer stärker zugehörig und dass sie sich dabei – dies von besonderer Bedeutung – den geschriebenen und ungeschriebenen ethischen Gesetzen dieser Gruppe eher verpflichtet fühlten. Bis zur Jahrhundertwende waren die meisten mittleren und größeren deutschen Zeitungen mit wirtschaftlichen Berichterstattern in Berlin vertreten: so die Münchner Neusten Nachrichten (Erich Caspers), Breslauer Zeitung (Eugen 15 ZV, Nr. 5, 3.2.1911, Sp. 92. 16 Politik (Inland/Ausland): 26,2 Prozent; Feuilleton: 21,6 Prozent, vgl. Birkner, S. 340. 17 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 558 f. 18 Personen-Auskunft des Berliner Polizeipräsidiums, 6.7.1900, LAB, A Pr. Br., Rep. 030, Nr. 13457, Bl. 2 f.. 19 Vgl. Bericht, Literarisches Büro an Handelsministerium, 2.8.1906, GStA PK, I. HA, Rep. 120, CB, Nr. 320.

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Cohnfeld), das Leipziger Tageblatt (Georg Tischert), die Kölnische Zeitung (Fritz Fuchs), Magdeburgische Zeitung (Franz Händler), Weser-Zeitung (Alfred E. Schütz), Leipziger Neueste Nachrichten und Dresdner Nachrichten (beide Fritz Wallerstein) sowie die Kölnische Volkszeitung (Theodor Müller-Fürer).20 Neben ihnen besuchten auch Vertreter Wiener, ungarischer, englischer, französischer und russischer Zeitungen die Berliner Börse.21 Das, was in der Reichshauptstadt tagtäglich geschah – die Vorgänge an der Berliner Börse oder auf den Generalversammlungen börsennotierter Unternehmen, offizielle Äußerungen von Bankdirektoren bis hin zu kolportierten Gerüchten, die sich unter den Hauptstadtjournalisten verbreiteten  – ergoss sich somit in den vielen Telegrammen und brieflichen Berichten, die Berlin zu jeder Tages- und Nachtzeit in alle Himmelsrichtungen verließen, tausendfach in die Städte des Reiches und war, meist noch am Tage ihres Bekanntwerdens, in den Zeitungen Frankfurts oder Kölns, Hamburgs, Leipzigs, Breslaus oder Königsbergs zu lesen. Dem Anleger, Kaufmann oder Bankier war das finanzielle Berlin, gleich wo er sich selber befand, geistig zumeist näher und zugänglicher als die Vorgänge in der nächstgelegenen Kreisstadt. Diese Fixierung des Finanzjournalismus auf Berlin, so sehr auch berechtigt vom Gesichtspunkt finanzieller Potenz und internationaler Relevanz, forderte ebenso zur Kritik heraus. Denn sollten die zahlreichen, in ihren Kapazitäten doch stark begrenzten Regional- und Lokalzeitungen sich auf das Unterfangen einlassen, ihren Lesern im Handelsteil ein genauso aktuelles und akkurates Bild des Berliner Finanzmarktgeschehens liefern zu wollen wie die großen Hauptstadtzeitungen? Der Verfasser eines 1906 in den Volkswirtschaftlichen Blättern erschienen Aufsatzes wandte ein, dass sich ohnehin jeder Privatanleger oder beruflich mit der Börse in Verbindung stehende Mensch der Provinz eine der großstädtischen Zeitungen mit ihrer umfassenden Handelsberichterstattung halte. Ein Lokalblatt solle daher »gar nicht erst den Versuch […] machen, mit der großen Handelszeitung zu konkurrieren.«22 Es solle vielmehr seine Stärke nutzen, riet der Verfasser, und diese liege im Lokalen. Der Zeitungsmann habe die Aufgabe, an seiner eigenen Region die Beziehungen zwischen »Weltmarkt« und der Wirtschaft eines »engabgegrenzten Landesteils« aufzuzeigen: »Er suche seine Leser bei ihrer Arbeit auf. Er vertiefe sich in die mannigfachen Bedürfnisse seiner Mitbürger und suche zu ergründen, wo ihre Branche mit dem Weltmarkte zusammenhängt. […] Dann aber gehe er auch den Dingen am Orte selbst nach. Es mag manchmal schwer sein, überall dort Eingang zu finden, wo es erwünscht erscheint […]. Aber die Arbeit lohnt sich, indem ein Blatt, das quasi aus dem Volke heraus geschrieben wird, auch fest im Volke wurzelt.«23

20 Ebd. 21 Radius, S. 155. 22 Volkswirtschaftliche Blätter, Nr. 18, 20.9.1906, S. 352. 23 Ebd., S. 353.

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Die Lokal- und Kreiszeitungen, die Zeitungen kleiner oder mittelgroßer Städte sollten einen Kontrapunkt setzen zur ausufernden Berichterstattung der Großstadtpresse. Menschen statt Zahlen, lautete dabei die Maxime, die Redaktionsstube verlassen und Kontakt zum »Volk« suchen die Aufforderung. Die investigative Wirtschaftsreportage, wie sie erst kommende Jahrzehnte vervoll­ kommnen sollten, nahm hier bereits Kontur an.24 Fraglich an diesem Programm blieb freilich, ob Lokalredaktionen über die notwendigen personellen und materiellen Ressourcen verfügten, um dieses Ansinnen in die Tat umzusetzen. Dass schließlich nicht zuletzt die Rechtsprechung einem investigativen Journalismus mehr hinderlich denn förderlich war, werden wir an anderer Stelle noch sehen.25 Journalisten auf Reisen Der Reisejournalismus hatte nicht erst zum Ende des 19. Jahrhunderts, sondern schon lange davor, Hoch- und Glanzphasen erlebt, und immer wieder waren dabei auch bevorzugt die wirtschaftlichen Verhältnisse der bereisten Länder in den Mittelpunkt gerückt (man denke etwa an Heines und Fontanes Reportagen zur Industrialisierung in England in den 1820er bzw. 1850er Jahren).26 Wenn Finanzjournalisten sich um 1900 auf Reisen begaben, dann zog es sie in einen Teil der Welt, der ein halbes Jahrhundert zuvor wohl noch nicht die Aufmerksamkeit eines Bank- und Börsenschriftstellers auf sich gezogen hätte, nämlich nach Amerika, genauer: an die Ostküste der USA. Neue, monströse Schiffe erleichterten das Reisen über den Atlantik und Reedereien wie HAPAG in Hamburg und der Norddeutsche Lloyd in Bremen machten es seit den 1890er Jahren auch für den Durchschnittsbürger erschwinglich.27 Besonders New York, das binnen weniger Jahrzehnte in die Riege der international tonangebenden Finanz­zentren aufgerückt war,28 weckte dabei die Neugier von Journalisten. Einmal Einblicke in das Getriebe des Manhattaner Finanzdistrikts gewonnen, vielleicht sogar Kontakte geknüpft zu haben, konnte sich nach einer Rückkehr in die deutsche Heimat selbst als nützlich für das eigene Fortkommen auf dem finanzjournalistischen Feld erweisen.29 Georg Schweitzer, der spätestens in den 1890er Jahren zu einem der prominentesten Handelsredakteure der Hauptstadt aufgestiegen war, führten ausgedehnte Reisen, neben China, wo er die deutschsprachige Handelszeitung Ostasiatischer Lloyd mitbegründen half, den Orient, Russland und Japan – in Yokohama initiierte er die Deutsche Japan24 Zu der sich um 1900 allmählich entwickelnden Darstellungsform der Reportage s. Birkner, S. 345–348. 25 Vgl. IV. 2.1. 26 Radu, London, S. 87–110. 27 Vgl. Schmidt, Reisen, inbs. S. 68 ff. 28 Siehe hierzu Cassis, S. 114–124. 29 So lebte Ernst Busch einige Zeit in New York, bevor er sich 1878 als Journalist in Berlin nieder­ließ und Redakteur beim Berliner Actionair wurde, vgl. Personenauskunft des Polizeipräsidiums, 3.11.1905, LAB, A. Pr. Br. Rep. 030, Nr. 9245, Bl. 3.

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post – auch nach Nordamerika, über das er 1894 seine Reisebeschreibungen veröffentlichte.30 Walter Mancke, der Herausgeber und Chefredakteur der Berliner Bank- und Handelszeitung, bereiste die USA anlässlich der Weltausstellung in Chicago 1893. Seine Eindrücke verarbeitete er in einer längeren Artikelserie für sein Blatt.31 Nicht immer überwog dabei Bewunderung. Die New York Produce Exchange war ihm »ein ungeheures, würde- und formloses Chaos«. Die »gewiss nicht sympathischen Personen« der Berliner Produktenbörse verhielten sich gegenüber ihren New Yorker Kollegen wie »vornehme kühle Aristokraten« zu den »Maulhelden sozialdemokratischer Arbeiterversammlungen«. Für die New York Stock Exchange in der Wallstreet hatte Mancke, noch ganz betäubt und abgestumpft vom Lärm des vorangegangenen Besuchs, nur eine lapidare Bemerkung übrig, sie »imponirte mir wenig«. Seinen konservativen Lesern werden diese Zeilen Manckes aus dem Moloch Manhattans Genugtuung bereitet haben; neben ihm schien die Berliner Börse eine »reine Idylle«.32 Überhöhung der Börsenzustände daheim und Stärkung der Heimatverbundenheit – auch darin mündeten Journalistenreisen zuweilen. Dass europäische Pressevertreter, indem sie Nordamerika bereisten und über seine wirtschaftliche Entwicklung aus eigener Anschauung – in Form von auf Industrie und Finanzwirtschaft fokussierter Reisereportagen – berichteten, auch den Blick investitionsbereiter Anleger der »alten Welt« auf das ferne Land lenkten oder, je nach Tenor, auch von diesem weglenkten, entging den dortigen Financiers und Industriemagnaten nicht. Wie einst Staatsmänner Journalisten des Auslands einluden, um sie den wirtschaftlichen Aufschwung in ihrem Land bestaunen zu lassen und so sein Image aufzupolieren,33 so baten nun auch Wirtschaftsführer Journalisten an die Baustellen ihrer Schienenprojekte, damit diese Kunde von der Industriosität und Prosperität Amerikas gäben. Edward D. Adams, ein amerikanischer Unternehmer, der zugleich als enger Vertrauensmann der Deutschen Bank in Amerika fungierte,34 riet der Berliner Zentrale der Bank zur Durchführung einer derartigen Journalistenreise. Angesichts der Einstellung der Frankfurter Zeitung zu den amerikanischen Angelegenheiten und des beträchtlichen Einflusses (»extensive influence«), den diese ausübe, könne es gleich in mehrerlei Hinsicht von Vorteil sein, wenn man zwei Redakteure des Blattes, nämlich Cohnstaedt und Heinrich Schüler, zu einem Besuch in die USA einlade.35 Adams war offensichtlich über die in der zurückliegenden Zeit nicht sonderlich positive Berichterstattung der Frankfurter Zeitung über die amerikanischen Wirtschaftsverhältnisse beunruhigt. Obwohl sich das Land seit der Jahrhundertwende in einem steilen wirtschaftlichen Aufschwung 30 Schweitzer, Urlaub. 31 Auch als Buch erschienen unter dem Titel »Im Fluge durch Nordamerika«, Berlin 1893. 32 Mancke, Fluge, S. 114 f. 33 Siehe z. B. Kap. III.1.2. 34 Vgl. Kobrak, S. 32 f. 35 Adams an Gwinner (Deutsche Bank), 17.10.1902 (HADB, A 45).

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befand, geißelte das Frankfurter Blatt doch immer wieder die »spekulativen und finanziellen Ausschreitungen«, die sich im Gefolge des Aufschwungs bemerkbar gemacht hätten. Eine Ära des »Fusionierens, Kombinierens, Kontrollierens und Emittierens« in immer größeren Dimensionen, war, dem Blatt zufolge, in den USA angebrochen; riesige Trusts waren entstanden, von denen jeder für sich schon »aus der Verschmelzung von Gesellschaften« hervorgegangen war, marktbeherrschend und mit dem erklärten Ziel, ihren Financiers immer höhere Gewinne zu bescheren.36 Diesem Image wollte Adams entgegenwirken. Gegebenenfalls könne man die Herren an einer der »official railroad examinations« teilhaben lassen. Wichtig sei eine Berichterstattung »based upon accurate and late information, with the least amount of prejudice«, erklärte der Kontaktmann der Deutschen Bank.37 Arthur Gwinner, Vorstandsmitglied der Bank, war für den Vorschlag eingenommen. Er habe Cohnstaedt darüber unterrichtet, teilte er wenige Woche später mit, und dieser werde bei Gelegenheit auf das Angebot zurückkommen.38 Journalistisches Reisen, so zeigt dieses Beispiel, wurde somit auch von wirtschaftlichen Akteuren stimuliert, die durch Techniken eines kalkulierten Vor-Augen-Führens zugleich eine Form der »sanften Vereinnahmung« der Journalisten im Sinne ihrer Interessen erwirken wollten. Am Puls der Weltbörsen: Auslandskorrespondenten Zum Ausgang des 19. Jahrhunderts reisten nicht nur Journalisten über Seen und Weltmeere, auch Handelsnachrichten und Börsenkurse zirkulierten  – in immer größerer Zahl und zunehmender Geschwindigkeit – zwischen den großen Finanzmetropolen der Erde und gelangten von dort schließlich in die Spalten der Tagespresse der industriellen Welt. Während dieser Länder und Kontinente übergreifende Informationsfluss in früherer Zeit noch primär von den großen Nachrichtenagenturen organisiert, ja, durch sie monopolisiert war, bemühten immer mehr Zeitungen sich – solche, die es sich leisten konnten und deren Leser es erwarteten –, bis zum Jahrhundertende auch sogenannte »Privat-« oder »Spezial-Korrespondenten« an den wichtigsten Finanzplätzen Europas zu platzieren.39 Für ein Zeitungsorgan bedeutete dieser Dienst, der naturgemäß mit Mehrkosten verbunden war, eine Profilierung auf dem Pressemarkt und eine Distinktion in der sonst recht uniformen, da vom Nachrichtenstoff der großen Agenturen dominierten Börsenberichterstattung. Freilich stellten Auslands­ korrespondenten im späten 19. Jahrhundert keine Besonderheit mehr dar, jede größere Zeitung unterhielt in der Regel eigene Berichterstatter in allen bedeutenden europäischen Hauptstädten. Neu dagegen war, dass jene nun entsandten oder unter Vertrag genommenen Korrespondenten nicht wie ihre »klassischen« 36 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 888. 37 Adams an Gwinner (Deutsche Bank), 17.10.1902, HADB, A 45. 38 Gwinner an Adams, 9.12.1902, HADB, A 45. – Es ist unklar, ob es später tatsächlich zu einer Reise der beiden Redakteure in die USA gekommen ist. 39 Vogel, S. 25.

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Kollegen primär politische Themen abdeckten und finanzwirtschaftliche Fragen eher nebenbei und ohne größere Fachkenntnis erledigten. Vielmehr waren sie dazu auserkoren, sich gänzlich den kommerziellen und finanziellen Vorgängen in ihrem Gastland zu widmen und darüber ihrer Heimatzeitung Bericht zu erstatten. Wir haben es hier mit einer fachlichen Spezialisierung der Auslandskorrespondenten zu tun, die bereits in zeitgenössischen Begriffsbildungen wie »Finanz-» oder »Handels-Korrespondent« zum Ausdruck kommt. Sie war dem Umstand geschuldet, dass wichtige Felder wie jene von Börse und Finanzmarkt zumindest in den großen Tages- und Handelszeitungen nicht mehr einfach nur nachranging und von minder Qualifizierten bearbeitet werden konnten. Die Frankfurter Zeitung schien auch auf diesem Feld Vorreiterin gewesen zu sein. Seit Beginn der 1880er Jahre hatte sie die Mitwirkung von Korrespondenten am Handelsteil »kräftig vermehrt, die Maschen des Netzes verengert, das Funktionieren verbessert«, wie es in einer Jubiläumsschrift rückblickend heißt.40 Nach Paris schickte sie als Handelskorrespondenten Charles Scherer, einen Sohn des Aktionär-Gründers Hermann Scherer; aus Wien erhielt das Blatt Börsen- und Handelsdepeschen durch Max Dengler; in London wurde Hermann J. Wallraf mit der gleichen Tätigkeit betraut, nach dessen Ausscheiden übernahm Leopold Joseph diesen Posten, der zugleich Leiter des Departments für Finanz- und Handelsnachrichten bei Reuters war und somit an bester Quelle saß.41 Viele der Auslandskorrespondenten, die die Frankfurter Zeitung in den Jahren um 1900 unterhielt, hatten einst als Volontäre und Mitarbeiter in der Redaktion angefangen und waren, wie z. B. Dengler, erst zu einem späteren Zeitpunkt auf einen Posten im Ausland gerückt. Auch in diesem Verfahren, das sich von dem früherer Zeiten unterscheidet, lassen sich Zeichen einer allmählichen Professionalisierung des Auslandskorrespondenten erkennen. Denn die persönliche Bindung zur Redaktion, der der Auslandstätigkeit vorgelagerte Gang durch die »Schule der Redaktion«, sicherte die Loyalität und schuf Vertrauen in die moralische Integrität und fachliche Kenntnis des in die Ferne entsandten Mitarbeiters. Seine übermittelten Nachrichten waren daher von ganz anderem Wert für die Redaktion als etwa jene anonymen Bulletins der großen Agenturen.42 Im Gegensatz zu den europäischen Finanzzentren waren die US-amerikanischen Börsenplätze, allen voran New York, vor 1914 noch vergleichsweise wenig durch Korrespondenten aus Deutschland erschlossen. Doch auch hier zeichnete sich allmählich ein Wandel ab. Konnte sich die Frankfurter Zeitung zu Beginn der 1870er Jahre noch damit rühmen, als einzige Zeitung des Kontinents einen eigenen Korrespondenten in New York zu unterhalten – Heinrich S­ chüler, ein Schwager Sonnemanns, hatte sich dort 1870 mit seiner Familie nieder-

40 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 555. 41 Ebd., S. 559, 576, 914 f. 42 Vogel, S. 25.

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gelassen und versorgte die Handelsredaktion seitdem laufend mit Material43 –, so stieg bis zur Jahrhundertwende auch bei anderen Zeitungen, wie etwa dem Berliner Börsen-Courier, die Bereitschaft, in einen Ausbau ihres transatlantischen Handels- und Börsennachrichtendienstes zu investieren.44 Nicht selten dürfte dabei die Sorge ausschlaggebend gewesen sein, in diesem Segment durch andere Konkurrenten auf dem Pressemarkt abgehängt zu werden. Wir können dies an dem zufällig in den Akten erhaltenen Bespiel der Vossischen Zeitung sehen. Das traditionsreiche Berliner Blatt hatte 1898 unter Alfred Hirschberg eine grundlegende Neugestaltung seines Handelsteils vorgenommen, der fortan unter dem Titel »Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung« erschien.45 In diesem Zusammenhang sollte auch der Börsendienst aus New York ausgebaut werden. Da das Blatt  – wohlmöglich mangels eigener Kontakte in die USA – keinen geeigneten und vertrauenswürdigen Korrespondenten hierfür hatte finden können, wandte Hirschberg sich an die Deutsche Bank, um deren solide Beziehungen in die USA man allgemein wusste. Nun kam erneut der New Yorker Vertrauensmann des Bankinstituts, Adams, zum Einsatz. Telegrafisch wurde angefragt, ob er einen passenden Kandidaten empfehlen könne, der dem Berliner Blatt die »daily principal Wall Street news« kabele, ähnlich, so vergaß man nicht hinzuzufügen, dem täglichen Kabeldienst der Frankfurter Zeitung.46 Adams vermittelte daraufhin den Kontakt zum Laffan Bureau of Telegraphic News, einer 1897 eigens von der weitverbreiteten und einflussreichen Sun als Konkurrentin zur Associated Press ins Leben gerufenen Nachrichtenagentur.47 Schnell war eine Übereinkunft erzielt. So sollten die beiden Finanzredakteure der Sun, Collin Armstrong – »a man of mature years and long experience in Wall Street affairs« – und Newton Sharp – »a younger man of high character and brilliant attainments«, wie Adams vielversprechend schrieb – täglich eine Zusammenfassung von Wall-Street-Nachrichten an das Laffan Bureau übergeben, das sodann eine deutsche Fassung anfertigte und nach Berlin telegrafierte. Die Vossische Zeitung wollte sich diesen Dienst monatlich 50 Dollar kosten lassen, zudem erklärte sie sich im Gegenzug bereit, der Sun alle relevanten Nachrichten vom Berliner Finanzplatz zukommen zu lassen.48 Doch kaum war diese Kooperation angelaufen, machte sich schon Unmut aufseiten der Vossischen Zeitung breit. Die Kabelberichte entsprächen nicht den Erwartungen, teilte man Adams aus Berlin mit, sie seien »really inferior to the excellent quality of the cable despatches to the Frankfurter Zeitung«.49 Erneut hielt die Frankfurter Konkurrentin als Vergleichsmaßstab her, und umso ärger43 Scholten, S. 46; Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 179. 44 Das Blatt richtete einen telegrafischen Dienst zur Londoner und New Yorker Börse ein, vgl. Birkner, S. 290. 45 Vogel, S. 185. 46 Deutsche Bank an Adams (Telegramm), 5.12.1900, HADB, A 30, Bl. 16. 47 Diverse Telegramme, HADB, A 30, Bl. 17–20. 48 Adams an Deutsche Bank, HADB, A 30, Bl. 22–24. – Vgl. auch Wunderlich, S. 75 f. 49 Deutsche Bank an Adams, 10.1.1901, HADB, A 30, ad 28. 

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licher musste es erscheinen, dass es nicht gelungen war, zu der Qualität ihrer Berichte aufzuschließen. Die Zusammenarbeit mit dem Laffan Bureau wurde daraufhin aufgekündigt, und Adams beeilte sich, Ersatz zu finden. Nun sollte der Finanzredakteur der New York Evening Post, Alexander D. Noyes (1862–1945), für zwanzig Dollar pro Woche Telegramme liefern.50 Doch auch diese Übereinkunft endete, kaum dass sie besiegelt worden war, in einem Ärgernis für die Vossische Zeitung. Adams solle umgehend, telegrafierte man eilig nach New York, alle Kabelmitteilungen stoppen, sie seien wortgenau dieselben, die das WTB verbreite und die von einem Duzend deutscher Zeitungen gebracht würden, einschließlich der Vossischen Zeitung selbst.51 In New York war man ratlos. Noyes, der sich ob dieses peinlichen Vorfalls in seiner Berufsehre gekränkt fühlte, mutmaßte, dass »the man to whom I gave my translation work has been playing me false in the matter.« Er werde der Sache unverzüglich nachgehen, denn er lege einen zu hohen Wert auf seine Reputation, als dass er eine derartige Anschuldigung auch nur einen Moment länger als nötig stehen lassen könne.52 Da Nachfragen bei dem Übersetzer, einem Redakteur des deutschsprachigen New Yorker Staatsanzeigers, keinen Aufschluss brachten, wusste Adams keine andere Erklärung anzugeben, als dass es sich um eine Nachlässigkeit oder ein Missverständnis der Angestellten bei der Vossischen Zeitung gehandelt haben könnte, die für die nachts eingehenden Telegramme zuständig seien. Die WTBVersion musste dabei irrtümlich Noyes als Urheber zugeordnet worden sein. Die dem Brief beiliegende Gegenüberstellung der in den vergangenen Tagen von Noyes angefertigten Berichte und der Meldungen des WTB zeigte tatsächlich, wie grund­verschieden beide waren.53 Der Vorfall ist gleich in zweifacher Hinsicht aufschlussreich für den transatlantischen Nachrichtenverkehr um 1900. Zum einen zeigt er, wie brüchig die Vertrauensbeziehungen zwischen den beteiligten Akteuren waren – die Vossische Zeitung verdächtigte Noyes, dieser wiederum seinen Übersetzer. Zum anderen aber auch mit welcher Energie und welchem Ressourceneinsatz größere Zeitungen danach strebten, ihren Nachrichtendienst zu verbessern – Konkurrenz belebte hier das Geschäft: Immer wieder war es die Frankfurter Zeitung, an der man sich maß, an die heranzureichen man sich anstrengte. Personelle wie technische Unzulänglichkeiten setzten der angestrebten Professionalisierung jedoch häufig enge Grenzen.

50 Adams an Deutsche Bank, 19.1.1901, HADB, A 30, ad 31. – Vgl. zu Noyes’ Arbeit für die­ Evening Post und zu seiner Tätigkeit an der Wall Street seine Memoiren, Noyes, insb. S. 47 ff. und 142 ff. 51 Deutsche Bank an Adams (Telegramm), 22.1.1901, HADB, A 30, ad 28.  52 Noyes an Adams (Abschrift), 22.1.1901, HADB, A 30, ad 31.  53 Adams an Deutsche Bank, 25.1.1901, HADB, A 30, ad 31. 

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1.2 Journalistische Zeitstrukturen und die »moderne Nervosität« »Die ganze Arbeit des Redakteurs ist auf den Tag eingestellt. Aus den Geschehnissen und Bedürfnissen des Tages schöpft er für seine Arbeit. Nichts soll und darf ihm entgehen. Der Konkurrenzkampf ist erbittert, nur nicht hinter einer anderen Zeitung ›nachklappen‹, möglichst viel ›zuerst wissen‹. Ein Schnelligkeitswettkampf sondergleichen.«54 Diese 1922 von einem Redakteur gelieferte Passage aus dem journalistischen Arbeitsalltag  – so parataktisch angeordnet, dass der Leser die Hast ihres Verfassers gleichsam zu spüren vermeint – kann mit gutem Recht auch zur Charakterisierung der Zeit vor 1914 herangezogen werden. Damals gelangte die Geschwindigkeit, mit der die immer erbitterter konkurrierenden Großstadtzeitungen Nachrichten an den Mann (und an die Frau) zu bringen suchten, an einen Punkt, der auch später kaum mehr zu übertreffen war. Dieser Wettkampf um Schnelligkeit tobte insbesondere im finanziellen Segment, da gerade dort der Wert einer Nachricht zumeist ausschließlich an ihrer Aktualität (und damit ihrer spekulativen Verwertbarkeit an der Börse) gemessen wurde.55 »Die schnellste Zeitung der Welt« Es war vor allem die populäre Massenpresse, wie sie zum Ausgang des 19. Jahrhunderts entstand, die dieses race for news aufnahm und es weiter beschleunigte.56 In einem großen Werbeplakat rühmte sich 1913 die B. Z. am Mittag, das 1904 von Ullstein ins Leben gerufene, stilprägende Boulevardblatt, die »schnellste Zeitung der Welt« zu sein (siehe Abb. 9). Sie demonstrierte dies am Beispiel ihrer Börsenberichterstattung. Eine Folge von sechs kleinen Bildern illustrierte die einzelnen Arbeitsschritte von der Kursnotierung im Börsensaal bis zur Auslieferung des fertigen Zeitungsprodukts, und ein kurzer Textblock kommentierte sie für jeden Leser verständlich. Um 12.10 Uhr würden die Anfangskurse an der Berliner Börse notiert und um 12.12 Uhr dann der Redaktion der B. Z. telefonisch durchgegeben, um 12.14 Uhr gingen diese dann in die Setzerei, 12.15 Uhr: Redaktionsschluss, 12.16 Uhr: Guss der Platten, 12.17 Uhr: Druck, 12.18 Uhr: Übergabe an die Zeitungsausträger. »Vom Empfang der letzten Meldung bis zur Verbreitung der ersten Exemplare in Berlin vergehen nur 8 Minuten. Wenige Stunden später ist die ›B. Z. am Mittag‹ in den meisten großen Städten Deutschlands. Die ›B. Z. am Mittag‹ ist für das reisende Publikum, die Handels- und Finanzwelt, die Sportwelt und für jeden gebildeten Großstädter ein Bedürfnis des Tages geworden.«57 Diese Verheißung der Geschwindig­ 54 Simon, S. 63. – Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert war für den Schriftsteller Heinrich Bulthaupt Journalismus gleichbedeutend mit dem »Zwang einer bestimmten Schnellarbeit«, vgl. Birkner, S. 250. 55 Runkel, S. 10 f. 56 Birkner, S. 272, 337 f. 57 Das Plakat findet sich abgedruckt in Osborn, S. 353. (Hvh. i. O.)

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keit war freilich nichts Neues. Seit den Anfängen finanzieller Berichterstattung warben Zeitungen – wir sahen es bereits – mit der Aktualität ihrer Inhalte. Neu an diesem »Schnelligkeitswettkampf« war etwas Anderes: Nun stand nicht mehr die Geschwindigkeit der Informationsakquise im Mittelpunkt, die Zeit, die Informationen brauchten, um in der Redaktion einzutreffen, sondern vor allem und damit zusammenhängend, die Geschwindigkeit ihrer Publikation und Auslieferung an den Endverbraucher. Die »Schnelligkeit der Fertigstellung« war für einen Beobachter das Hauptcharakteristikum der »modernen Zeitungsverhältnisse« gegenüber denen früherer Zeiten.58 Nun konkurrierten Zeitungen nicht mehr um Tage oder Stunden, sondern, wie das Beispiel der B. Z. zeigt, um Minuten. Auf Leser wirkte all dies, jenseits seines praktischen Nutzens, faszinierend; Anleger, darauf konditioniert, dass die neueste, auch immer die beste Information sei, fühlten sich dabei sicherer in Anlageentscheidungen. Geschwindigkeit wurde so zum Qualitätsmerkmal und Gütesiegel einer großstädtischen Zeitung. Sie war das erstrebenswerte Ziel einer Gesellschaft der Rekorde, des Höher, Schneller, Weiter, eines Zeitalters, das vom »Tempo-Virus« (Peter ­Borscheid) befallen war und einem »Kult um Spannung, Rekord und Geschwindigkeit« (Wolfgang Kaschuba) huldigte.59 Wenn es Anspruch der großen Tagespresse war, ihre Leser so schnell wie möglich über alles das zu informieren, was sich auf der Welt zutrug, und dabei insbesondere auf eine größtmögliche Aktualität des Handelsteils geachtet wurde, dann hatten dabei Erscheinungszeitpunkt und Erscheinungshäufigkeit genau bedacht zu werden. Wann und wie oft musste ein Blatt erscheinen, um den Bedürfnissen seiner Leser gerecht zu werden? In dieser Frage waren die Redaktionen nicht selbstbestimmt. Vielmehr gaben die Handelszeiten der Weltbörsen den Takt vor, nach dem größere Tageszeitungen ihr Erscheinen ausrichteten. Die Zeitstrukturen der Börse verschränkten sich gleichsam mit denen des Pressebetriebes. Der Redaktionsschluss für die Abendausgaben war bei den meisten Hauptstadtzeitungen so terminiert, dass das Blatt sofort nach Börsenschluss und Feststellung der offiziellen Kurse kurz nach 14 Uhr gesetzt, sodann gedruckt und am frühen Nachmittag expediert werden konnte.60 Einzelne Zeitungen riefen sogar eine Mittagsausgabe ins Leben oder beschränkten sich, wie die B. Z., lediglich auf diese Erscheinungsweise, um die Anfangskurse der Berliner Börse unverzüglich dem Endverbraucher mitteilen zu können.61 Die sogenannte »Zweite Morgenausgabe«, wie sie größere Tageszeitungen, etwa 58 Cohn, S. 117. 59 Kaschuba, S. 173; Borscheid, S. 115–342. 60 Z. B. Berliner Börsen-Courier: 14.15 Uhr; Berliner Lokal-Anzeiger: 14 Uhr; Berliner Neuste Nachrichten: 14.30 Uhr; Berliner Tageblatt: 15 Uhr. Angaben nach Selbstauskünften der Redaktion in: Volkswirtschaftliche Blätter, Nr.  9/12 (Sonderheft: Presse und Volkswirte), Mai/Juni 1914, S. 250. 61 Mit der B. Z. wollte der Ullstein-Verlag jedoch auch seine Druckmaschinen zwischen den Morgen- und den Abendblättern besser auslasten, s. Stöber, Pressegeschichte, S. 260.

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die Frankfurter Zeitung, produzierten, verdankte ihr Entstehen ebenfalls dem Takt der Börse – in diesem Fall dem der New York Stock Exchange. Aufgrund der Zeitverschiebung trafen die Börsentelegramme von dort erst in den frühen Morgenstunden in Deutschland ein, zu einem Zeitpunkt, da sich die reguläre Morgenausgabe, die erste, bereits im Druck bzw. in der Auslieferung befand. »Eine Aufschiebung der Veröffentlichung dieser Telegramme bis zur ›Mittags-‹ oder ›Abend‹-Ausgabe würde«, hieß es in einer zeitgenössischen Schrift, »mit Rücksicht auf die inzwischen abgehaltenen inländischen Börsenversammlungen die amerikanischen Meldungen fast wertlos machen.«62 In diesem Schnelligkeitswettbewerb waren Zeitungen großer Verlagshäuser klar im Vorteil. Die Zusammenführung der vor- und nachgelagerten Produktionsschritte in einem Unternehmen, zumeist in einem einzigen Gebäude, ihre großvolumigen Investitionen in immer neuere, bessere, vor allem schnellere Druckverfahren und Setzmaschinen – die Linotype, wie sie seit der Jahrhundertwende in Berlin zum Einsatz kam und gegenüber älteren Maschinen das Vierfache an Buchstaben in der Stunde zu setzen ermöglichte – bot Häusern wie Ullstein, Mosse oder Scherl in Sachen Aktualität und Effizienz einen unschätzbaren Vorsprung.63 Doch nicht nur die Produktions- und Distributionsgeschwindigkeit, mit der diese Großverlage Zeitungen an den Mann und an die Frau brachten, erklärt ihren Erfolg. Ebenso trug dazu der durch sie begründete Typus der modernen Zeitung, die sogenannte »Generalanzeiger«-, »Boulevard-« oder »Massenpresse« bei. Denn das übersichtlichere Layout dieser Blätter, die Rubrizierung und leserfreundliche Anordnung des Stoffes, ihre kürzere, knappere Präsentation der Meldungen kam den Bedürfnissen jener Leser entgegen, die sich schnell informieren wollten, die wenig Zeit hatten, um das Tagesgeschehen zu erfassen.64 Die dem Handelsteil der großen Tageszeitungen in vielerlei Hinsicht unterlegene Bank- und Handelszeitung des Walter Mancke, die es lediglich auf zwei Ausgaben in der Woche brachte, versuchte ihrerseits den Aktualitätsbedürfnissen ihres Publikums durch einen besonderen Nachrichtendienst entgegenzukommen. Auf mehrfaches Verlangen, kündigte das Blatt im März 1903 an, sei man bereit, »unseren Lesern vor der Börse telegraphisch mitzuteilen, wenn in Nordamerika größere Preisschwankungen eingetreten sind oder wenn der Frühmarkt erkennen läßt, dass an der Berliner Mittagsbörse größere Schwankungen wahrscheinlich werden.« Hierdurch gelangten »unsere Leser in der denkbarsten Kürze in den Besitz der betreffenden Nachrichten«.65 Es fällt angesichts dieser Beispiele nicht schwer zu erkennen, auf welches Fernziel die Finanzberichterstattung zusteuerte, nämlich die ununterbrochene Nachrichtenproduktion und Nachrichtenbereitstellung, aktuelle Nachrichten zu jeder Tages- und Nachtzeit. Der Printjournalismus war hierfür, nicht zuletzt 62 Runkel, S. 11. 63 Vgl. Bösch, Mediengeschichte, S. 109–114. 64 Vgl. Birkner, S. 255–260. 65 Bank- und Handelszeitung, Nr. 23, S. 21.3.1903.

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Abb. 9: Werbeplakat der »B. Z. am Mittag« aus dem Jahr 1913 (Quelle: Osborn [1927], S. 353).

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wegen seines vergleichsweise aufwendigen Vermittlungsmodus durch das Medium der gedruckten Zeitung, ungeeignet, und es war daher nur eine Frage der Zeit, bis die Presse sich in ihrem Aktualitäts- und Schnelligkeitswettstreit effektiveren Verbreitungsmedien geschlagen geben musste. Noch allerdings war die Zeit der elektronischen Massenmedien – des Radios und Fernsehens – nicht angebrochen und die der digitalen in weiter Ferne. Dennoch, vereinzelt kündigte sich bereits eine Welt finanzieller Kommunikation jenseits gedruckter Zeitungen an. So hatten z. B. Siemens & Halske 1874 in Berlin einen »Börsendrucker« entwickelt, der es erlaubte, Kurstelegramme »von einem Punkte aus gleichzeitig nach vielen anderen Orten zu befördern, ohne dass an diesen ein empfangender Beamter zugegen sein muss.«66 Die massenhafte Berichterstattung über Börsenkurse wurde so erstmals vom Medium der Zeitung entkoppelt. Eine ernsthafte Konkurrenz erwuchs der Presse aus dem Börsenticker allerdings nicht. Zu aufwendig und teuer war sein Betrieb, zu begrenzt sein Aktionsradius, als dass er für den Durchschnittsanleger attraktiv gewesen wäre; allenfalls in Bankhäusern und bei wohlhabenden Privatiers fand er Aufnahme.67 Aber auch eine kuriose Erfindung wie die in den 1890er Jahren erstmals in Budapest erprobte »Telephon-Zeitung« stieß bereits in die Richtung einer künftigen elektronischen Finanzberichterstattung vor. Sie vermittelte telefonisch täglich von 9.30 Uhr bis Mitternacht die nicht mehr in die gedruckten Zeitungen aufgenommenen Nachrichten über Börse, Politik und andere Bereiche. Abonnenten  – es sollen mehrere Tausend gewesen sein – hörten dabei über einen Telefonhörer die Nachrichten mit, die ein zentraler Sprecher verlas.68 Das hier gezeichnete Bild eines sich stetig beschleunigenden Finanzjournalismus wäre einseitig, wenn nicht zumindest auf vereinzelte gegenläufige Tendenzen hingewiesen würde. Gerade Fachzeitungen, kleinere Finanzblätter, Wochenschriften und dergleichen konnten in diesem Wettbewerb um Schnelligkeit nicht mit den großen Tageszeitungen konkurrieren, was allein schon an ihrer Erscheinungsweise lag. Nun suchten sie gerade daraus eine Tugend zu machen, indem sie, wie etwa der Deutsche Ökonomist, die Vorzüge der »Entschleunigung« betonten. »In dem schnellen Tempo des heutigen Geschäftslebens« fänden nur wenige Geschäftsleute die Muße, um das Wesentliche vom Nebensächlichen, das Wahre vom Falschen zu sondern; die Tagespresse könnte eine eingehende, kritische Verarbeitung des herandrängenden Materials nicht leisten. In diese Lücke wollte der Deutsche Ökonomist stoßen: »Wir setzen inmitten des geschäftlichen Treibens einen Ruhepunkt fest und unterziehen die Begebenheiten der Woche je nach ihrer Bedeutsamkeit einer Untersuchung.«69 Eine ähnliche Werbestrategie verfolgte auch das Börsen-Wochenblatt, das sich dem Publikum als Ergänzung zur »Masse an täglich erscheinenden, durch ihre Fülle 66 Zetzsche, S. 724. 67 Zum Börsenticker und seiner kulturellen Bedeutung s. ausführlich Stäheli, S. 305–361. 68 Heinke, S. 610 f. 69 Deutscher Ökonomist, Nr. 1, 30.12.1882, S. 1.

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fast verwirrenden Börsenzeitungen« empfiehl: »Am Sonntage aber verstatten Sie dem Börsen-Wochenblatte das Wort, das wenig zu sagen hat, dies Wenige aber gut sagt, und Vieles zu berichten weiß, was in keinem Tageblatte steht.«70 Ob derartige Verkaufsstrategien von Erfolg gekrönt waren, muss fraglich bleiben. Finanzzeitungen jenseits einer täglichen Erscheinungsweise mochten allenfalls ergänzend zur Tagespresse rezipiert worden sein. Solche Zeitschriften, heißt es in einem literarischen Handbuch 1895, fänden dort besonders Anhang, »wo es sich um Belehrung handelt und der Leser sich nicht an die mit rasender Eile dahinjagenden Börsenbegebenheiten zu binden braucht.«71 Für die Alltagspraxis des Bankiers und Börsenhandels, gar für Spekulationszwecke, waren sie, für sich alleine genommen, untauglich. Der Deutsche Ökonomist dürfte sein langes Bestehen (bis 1935) weniger seinem ursprünglichen Ansinnen verdankt haben, »Ruhepunkt« im Geschäftsalltag zu sein, als vielmehr seiner mit Sachverstand verfassten, ausführlichen Hintergrundartikel, seiner soliden statistischen Arbeiten sowie nicht zuletzt seiner guten Beziehungen in die Führungsetage der Deutschen Bank.72 Das Börsen-Wochenblatt, das über eine Auflage von 450 (1879/80) bis 550 (1887/88) Exemplaren niemals hinausgekommen war, war dagegen 1890 schon Geschichte.73 Eine berechtigte Frage hatten jene Blätter, die sich mit ihrer betonten Langsamkeit gegen den Trend der Schnelligkeit stemmten, aufgeworfen. Wo blieb beim Wettrennen im Sammeln, Drucken und Ausliefern noch Zeit für eine kritische Bewertung des Nachrichtenstoffs und eine Kommentierung des Geschehens? Ein Handelsredakteur umriss die Erwartungen und Anforderungen an den Börsenjournalismus folgendermaßen: »Dieselben Leute, die vormittags Zeugen gewisser Spekulationsmanöver an der Börse waren, müssen abends schon in der führenden Handelspresse lesen können, wie diese Vorgänge von unabhängigen und weitschauenden Kritikern beurteilt werden und welche Bedeutung für die künftige Gestaltung der Marktverhältnisse ihnen zukommt. Diejenige Nummer der Handelszeitung, die in ihrem Kurszettel die Kunde lebhafter Kursveränderungen in die Welt hinausträgt, muß den Interessenten schon den Kommentar zu diesen auffälligen Bewegungen liefern, wenn sie vor übereilten Schritten und vor Schaden bewahrt bleiben sollen.«74

70 Prospekt, März 1884, GStA PK, I. HA, Rep. 77 tit 54a, Nr. 27, Bl. 87 f. 71 Radius, S. 154. 72 Vgl. Schmalenbach, S.  279 f., der jedoch auch festhält: »Obwohl der Versuch, der Finanzwelt in diesen statistischen Arbeiten einen Dienst zu erweisen, Anerkennung verdient, kann doch nicht verschwiegen werden, daß der redaktionelle Wert des deutschen Ökonomisten weit hinter demjenigen seiner ausländischen Namensvettern [The Economist; Der Österreichische Ökonomist] zurücksteht« (S. 280). – Von den Kontakten Christians, des Herausgebers des Deutschen Ökonomisten, zum Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Georg von Siemens, berichtet Helfferich, S. 191. 73 Vgl. hierzu die Akten des Berliner Polizeipräsidiums: GStA PK, I. HA, Rep. 77, tit. 54a, Nr. 19. 74 Vogel, S. 176.

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Dort, wo angesichts mehrerer Zeitungsausgaben pro Tag, minutengenauer Bemessung der einzelnen Arbeitsschritte, ununterbrochen in Betrieb gehaltener Druckmaschinen die kritische Einordnung der Nachrichten dem Leser selbst übertragen wurde, da drohte das Urteil von Finanzmarktakteuren »nur zu leicht« durch »Tagesereignisse und ein[en] beschränkte[n] Blick […] in einseitiger und schädlicher Weise« beeinflusst zu werden, wie der Herausgeber einer wirtschaftsstatistischen Monatsschrift fürchtete.75 Die Vereinbarung von einer größtmöglichen Aktualität der bereitgestellten Nachrichten und ihrer angemessenen kritischen Beleuchtung durch den zuständigen Redakteur geriet so in der Praxis zu einer nur schwer umsetzbaren Forderung, wenn sie nicht ganz unmöglich war. Beides schien einander geradezu auszuschließen. Der Verfasser einer Dissertation über den »Handelsteil in der Tagespresse« – er war selber Handelsredakteur und damit praxiserprobt – unterstrich, volkwirtschaftliche Kritik könne »in unserer nervös hastenden Zeit« korrigierend und wegweisend nur noch »in sehr begrenztem Maße in Büchern, wissenschaftlichen Monatsschriften und dergleichen« ausgeübt werden. »Wenn sie wirksam und von praktischem Wert sein soll, muß die Kritik auf schnellstem Wege zur Kenntnis eines möglichst großen Interessentenkreises gebracht werden.«76 Während der Verfasser damit, zumindest in der Theorie, die Bedeutung der Tagespresse als wirtschaftliche Kritikerin hervorhob, gab er an anderer Stelle seiner Untersuchung ihre Grenzen in der Praxis unumwunden zu. Die journalistische Arbeit sei so belastend, die täglich zu bewältigende Materialflut dermaßen enorm, dass der Redakteur »sich vielfach darauf beschränken muß, das Material so aufzunehmen, wie es ihm von den Berichterstattern, Mitarbeitern oder Interessenten geboten« werde. »Es ist gewöhnlich eine physische Unmöglichkeit, alles durchzuarbeiten und auf seine absolute Richtigkeit zu prüfen.«77 Solange an der Zeitungsproduktion noch der Faktor Mensch beteiligt war, musste die Steigerungsfähigkeit der Geschwindigkeit zwangsläufig dort an ihre Grenzen stoßen, wo die körperlichen und geistigen Kapazitäten des Journalisten erreicht waren. Wir werden dies im Folgenden sehen. Arbeitsalltag und Arbeitsüberlastung Im März 1880 musste Killisch von Horn – vielbeschäftigter Verleger, Zeitungsbesitzer und Chefredakteur  – seine Teilnahme an einem Diner Bleichröders absagen. Er reise »heute Abend noch« nach Italien ab, teilte er dem Bankier mit, denn er sei »in der That so überarbeitet«, dass er »für kurze Zeit ausspannen muß, um wieder neue, frische, geistige Kräfte zu schöpfen.«78 Im Pressegewerbe tätig zu sein, sei es als Verleger, sei es als Journalist, erforderte wohl zu jeder Zeit 75 Zirkular der Wirtschaftsstatistischen Monatsberichte [Januar 1908], überliefert in: GStA PK, I. HA, A I 2, Nr. 7, Bd. 5, Bl. 257 f. 76 Vogel, S. 175 f. 77 Ebd., S. 10. 78 Killisch an Bleichröder, 2.3.1880, BP, Box XXIII.

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eine gewisse körperliche, mehr aber noch geistige Anstrengung, vollzog sich das Tagwerk doch meist unter höchstem Zeitdruck. Wenn Killisch von Horn daher über eine erhöhte Arbeitsbelastung klagte, über eine physische wie psychische Erschöpfung – ausdrücklich verweist er auf seine »geistigen Kräfte«, die er in Italien zurück zu erlangen gedachte –, so mag man darin nur eine Äußerung sehen, wie sie wohl zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte der Presse begegnen könnte, ja, vielleicht eine Form der Selbstinszenierung als arbeitsamer, rastlos schaffender Zeitungsmacher. Andererseits aber unterschieden sich die Bedingungen, unter denen finanzjournalistisches Arbeiten und Produzieren stattfand, die körperlichen und geistigen Belastungen, die dabei auftraten, schon zu Beginn der 1880er Jahre immer deutlicher von denen vorangegangener Jahrzehnte.79 Dazu hatte nicht zuletzt eine generelle Beschleunigung des Lebenstempos beigetragen. Stress- und Erschöpfungserfahrungen breiteten sich aus, deren sichtbarstes Zeichen die seit den 1880er Jahre grassierende »Nervositätsepidemie« war. Das Zeitalter vor 1914 war eines der Nervosität, zumindest hielt es sich dafür. »Hasten« und »Jagen«, »rastlos« und »unentwegt« wurden zu Modewörtern, mit denen die wilhelminische Gesellschaft sich selbst beschrieb. Diese Hektik der Zeit war keine Einbildung empfindsamer Literaten, sondern eine reale Erfahrung und soziale Tatsache.80 Am Ende des 19.  Jahrhundert verschwand, wie Gerhard A. Ritter und Klaus Tenfelde einmal formuliert haben, »ein Teil der Behäbigkeit der alten Welt«.81 In diesem Kontext gewinnt die Klage des Besitzers der Börsen-Zeitung eben doch etwas Zeittypisches, das den Finanzjournalismus in den Dekaden vor 1914 besser zu verstehen hilft. Denn jener Wandel des Lebenstempos blieb auch für ihn nicht ohne Folgen. Die Beschleunigung seiner Arbeitsabläufe und Produktionsprozesse, wie sie im vorherigen Abschnitt aufgezeigt wurde, veränderte auch die Art und Weise, wie finanzjournalistische Akteure ihre eigene Tätigkeit wahrnehmen. Die Arbeitsbelastung und Arbeitsüberlastung wurden zum festen Bestandteil des Selbstbildes und der Selbstwahrnehmung von Journalisten, insbesondere in der Finanzberichterstattung. »Der Wettlauf mit der Zeit, das Rennen um aktuellste Nachrichten, bestimmten den neuen journalistischen Stil. Die Bürostunden wichen der gleitenden Arbeitszeit« und Zeitungen wie der Berliner Börsen-Courier führten bald schon die Nachtredaktion ein.82 Die tägliche Redaktionsarbeit  – das Sichten und Ordnen des Materials, abzuhaltende Konferenzen, das Abfassen der Artikel –, der tägliche Börsenbesuch zur Mittagsstunde, den der zuständige Redakteur noch lange Zeit persönlich tat, ebenso der Korrespondentendienst für auswärtige Zeitungen, bürdeten den Akteuren des finanzjournalistischen Feldes ein enormes Tagespensum auf. Georg Bernhard beispielsweise trat 1903 als Berliner Börsen-Korrespondent in den 79 Zum Arbeitsalltag in der »modernen Redaktion« um 1900 vgl. auch Birkner, S. 287 f. 80 Vgl. Radkau, S. 190 ff. 81 Zit. n. ebd., S. 190. 82 Lerg-Kill, S. 290.

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Dienst der Wiener Tageszeitung Die Zeit. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er bereits als leitender Handelsredakteur der Berliner Morgenpost sowie der Berliner Zeitung, und schrieb daneben noch regelmäßig Wirtschaftsessays für Hardens Zukunft. Von dem Herausgeber der Zeit, Heinrich Kanner (1864–1930) musste sich Bernhard, kaum dass er seinen Dienst aufgenommen hatte, vorwerfen lassen, er liefere nicht genug. Die »laufenden Börsenrichte«, so Kanner an Bernhard, seien ja nicht eine Arbeit, die seine Kapazität vollständig erschöpfe. »Wir haben von Anfang darauf gerechnet, dass Sie nebst dieser von jedem Reporter zu leistenden Arbeit uns auch fleissig Artikel schreiben, durch die Sie den österreichischen Leser über die wirtschaftlichen Vorgänge, Einrichtungen, Gepflogenheiten, Denkungsweisen und Arbeitsmethoden im Deutschen Reich unterrichten würden.«83 Wer im Handelsjournalismus bestehen wollte, so suggerierten Schriften nach 1900, der musste vor allem eines sein: belastbar. »Tag und Nacht, Sommer und Winter, unaufhörlich ohne Pause, ohne Unterbrechung ist der Redaktionsbetrieb unserer modernen Zeitungen«, erklärte der Generalbevollmächtige der Firma Mosse, eines der größten deutschen Verlagshäuser seiner Zeit. Es könne daher ohne Übertreibung gesagt werden, »daß es wohl keinen schwereren, aufreibenderen Beruf gibt, keinen, der mehr schnelle Entschlußkraft, schnelles Handeln und die Fähigkeit, sich von Stunde zu Stunde neuen Situationen anzupassen, gibt, als den Redaktionsbetrieb unserer Großstadtblätter«.84 Für Albert Haas (1873–1935), Handelsjournalist und seit 1910 Chefredakteur des Berliner Börsen-Couriers, handelte es beim Journalistenberuf um eine physisch erschöpfende Tätigkeit, die gleichermaßen hohe geistige Anforderungen stelle: »Ein Journalist, der Tüchtiges leisten will, muss eigentlich ununterbrochen mit voller Anspannung seiner Nerven und aller seiner Geisteskräfte arbeiten.«85 Wenn Haas »Journalist« sagte, meinte er damit wohl weniger den Feuilletonschreiber oder Sportberichterstatter, sondern eher den politischen Journalisten, gewiss aber den Vertreter jener Sparte, der er selber entstammte. Konkreter wurde Wilhelm Vogel, der Redakteur der wirtschaftlichen Wochenschrift Die Konjunktur, in seiner Studie über den »Handelsteil der Tagespresse«. Den menschlichen Anforderungen im Handelsressort maß Vogel »in unserer nervös hastenden Zeit«86 eine so hohe Bedeutung bei, dass er einen Abschnitt eigens mit »Physische Abhängigkeit des Handelsredakteurs« betitelte. »Wenn wir beim Frühstück den Handelsteil lesen und alles Wissenswerte fein säuberlich geordnet vorfinden, […] so denken wir nicht darüber nach, daß alles das innerhalb weniger Nachtstunden redigiert, gesetzt, korrigiert, gedruckt und expediert wurde«. Tagtäglich habe der Handelsredakteur eine Unmenge an Material zu sichten, eine »wahre Hochflut« ergieße sich überdies in den ersten Monaten des 83 Kanner an Bernhard, 9.12.1903, BA/L, N 2020, 90 Be 9–24–65. 84 Cohn, S. 127. 85 Haas, Zeitungswesen, S. 27 f. 86 Vogel, S. 175.

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Jahres über ihn, wenn die Kammern, Aktiengesellschaften und Verbände ihre Jahresberichte veröffentlichten.87 Was die finanzjournalistische Arbeitspraxis so kräftezehrend machte, das war nicht nur die Flut an zu sichtendem Material, eine starke mentale Beanspruchung und ein Zwang zu geistiger Produktivität unter höchstem Zeitdruck, wie sie ähnlich auch in anderen Ressorts begegneten, sondern vor allem auch die enge Verknüpfung dieser Tätigkeiten mit der Telegrafie und ihre Einbettung in den Kontext der Börse. Denn für Zeitgenossen war erstere das Medium und letztere der Ort der Nervosität überhaupt. Seit seiner Erfindung liefen über den elektrischen Draht, wie wir an anderer Stelle bereits gesehen haben, vor allem Handels- und Börsennachrichten. Der Handelsteil einer Zeitung lebte von der Telegrafie als Nachrichtenlieferantin, und in der verkabelten Welt der Jahrhundertwende, in der irgendwo auf dem Erdkreis fast immer gerade ein Finanzplatz erwachte, der Börsenhandel einsetzte oder sich Vorfälle ereigneten, die für den deutschen Leser und Anleger von Bedeutung hätten sein können, ergossen sich telegrafische Nachrichten rund um die Uhr in die Redaktion. So wertvoll der Telegraf daher gerade für den Finanzjournalismus war, so sehr zog er aber auch »unliebsame Begleiterscheinungen« nach sich, die ein Beobachter 1911 in dem »Nervöse[n], Unruhige[n], Hastige[n] unseres Zeitalters« erkannt haben wollte, in einer »gewisse[n] Oberflächlichkeit und dünkelhafte[n] Halbbildung«.88 Die durch telegrafische Nachrichten bewirkte Schnelligkeit der Berichterstattung, urteilte der Verfasser einer Geschichte des Handelsteils, erhöhe zudem die Zahl der unrichtigen Nachrichten. Nun kämen aber im Handelsteil besonders viele telegrafische Meldungen zum Abdruck, dies lasse »die Größe der Gefahr« erkennen, die der Handelsberichterstattung »durch falsche Nachrichten, wie sie gerade durch Einführung des Telegraphen gefördert werden, droht«.89 Bereits Anfang der 1880er Jahre hatte der US-amerikanische Neurologe George M. Beard die Nervosität, die er vor allem unter Geschäftsleuten als weit verbreitet ansah, mit dem Telegrafen in Verbindung gebracht.90 Unter diesem Gesichtspunkt mussten sich die Akteure des finanzjournalistischen Feldes gleich einer zweifachen Belastung ausgesetzt sehen. Denn nicht nur in den Redaktionsstuben diktierte der fortwährend tickende Telegraf den Arbeitsrhythmus, auch an dem zweiten zentralen Ort finanzjournalistischer Praxis, der Börse, stand man ganz im Bann dieses Mediums. Seit je hatten Hektik und Lärm auf dem Börsenparkett ihren angestammten Platz. Schon 1869 nannte ein Besucher der Berliner Börse als besondere Charakteristik die »sichtliche Unruhe« der Anwesenden, die gesamte Börsenversammlung befinde sich in einer »schwankend zitternden Bewegung«, in einer »nervösen Aufregung, die mitunter einen höchst bedenklichen Grad erreicht und sich bis zu krampfhaften 87 Ebd., S. 9 f. 88 Roscher, S. 166. 89 Scholten, S. 91–93. 90 Radkau, S. 174.

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Zuckungen steigert.«91 Die elektrische Telegrafie, so schien es den Zeitgenossen, verstärkte diese noch um ein Weiteres. »Besonders machen sich die elektrischen Strömungen des Telegraphen geltend« während des Börsenhandels, war unserem Beobachter schon 1869 aufgefallen. »Schnell und zuweilen vernichtend wie der Blitz zuckt es von einem Ende der Welt zum anderen; eine Depesche aus Wien oder Paris reicht hin, um Freude oder Schmerz, Jubel oder Bestürzung zu verbreiten, ein Augenblick genügt, um Hunderttausende zu gewinnen oder zu verlieren.«92 Zur Jahrhundertwende galt die Börse als ein nervöser Ort par excellence und die börsenjournalistische Praxis als eine »äusserst angreifende Thätigkeit«93. Für Georg Bernhard, der die Burgstraße zu diesem Zeitpunkt als Handelsredakteur der Berliner Morgenpost besuchte, war die Nervosität der Börsenleute das »hervorstechendste Merkmal«, er nannte sie ihre »Berufskrankheit«. Und auch in dieser Beschreibung gingen Ort und Medium eine pathologische Symbiose ein. »Wie der Journalist, so erfährt auch der Börsenmann durch die Telegraphenbureaus und durch die telegrafischen Korrespondenzen seiner Geschäftsfreunde im In- und Ausland alle Ereignisse aus erster Quelle.« In den Börsenstunden liefen auf diese Weise Unmengen an Informationen zusammen, die sofort »im Hirn der Börsianer« verarbeitet werden müssten.94 Für Bernhard ergab sich hieraus ein ganz eigenes Krankheitsbild: die »Börsenneurasthenie«.95 * Die wachsende Mobilität des journalistischen Personals und der Aufbau von Korrespondentennetzen, deren Knotenpunkte die international führenden Finanzzentren bildeten, erscheinen vor 1914 als wichtige Bestandteile finanzjournalistischer Professionalisierung. Sie trugen zur Steigerung der Effizienz und Verbesserung der Qualität finanzjournalistischer Abläufe bzw. Inhalte bei. Im deutschen Raum entwickelte sich Berlin zum Fluchtpunkt einer finanzjournalistischen Berichterstattung. International waren es neben den klassischen Metropolen wie London, Paris und Wien vor allem die USA, und dort insbesondere New York, auf das sich das Hauptaugenmerk deutscher Journalisten richtete. Die auf dem deutschen Pressemarkt herrschende Konkurrenz spornte größere Zeitung zur Steigerung journalistischer Eigenleistungen an und förderte Investitionen in den transatlantischen Korrespondentendienst. Doch auch die fortwährenden Versuche, Prozesse der Akquise, Produktion und Distribution journalistischer Angebote zu beschleunigen, sind ohne jenen Wettbewerb unter den großen Zeitungsunternehmen, vor allem in der Reichshauptstadt, so nicht 91 Die Gartenlaube, 1869, H.1, S. 11. 92 Ebd. 93 ZV, Nr. 29, 17.7.1902, Sp. 703. 94 Bernhard, Börse, S. 57 f. 95 Ebd., S. 62.

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vorstellbar. Die Aktualität der Medieninhalte wurde zum Qualitätsmaßstab einer auf Rekorddenken konditionierten Gesellschaft. Ihre Kehrseite begegnet dagegen in der Arbeitsbe- und Arbeitsüberlastung, welche die finanzjournalistische Alltagspraxis bestimmte und die die Selbstwahrnehmung der Akteure prägte. So erscheint die Imagination berufsspezifischer Krankheiten cum grano salis bereits als ein Zeichen von Professionalisierung.

2. Emanzipationsversuche und informelle Professionalisierung »Die Finanzpresse ist eine Macht. Gewiß. Aber leider ist diese Macht zu teilen in eine schädliche und eine nützliche. Sie wird erst dann eine wirklich nützliche Macht sein, wenn sie die faulen Elemente aus ihrem Bereich ausschaltet. Sie muß sich eine allgemeine, für jeden ihrer Vertreter geltende hohe Ehre bilden. Dann wird sie ein nicht zu erschütterndes Ansehen gewinnen.« Alfons Goldschmidt (1908)

Die Forschung ist sich weitestgehend darin einig, dass das Jahrzehnt vor und nach 1900 in Ungefähr jenen Zeitabschnitt markiert, in dem die journalistische Professionalisierung in Deutschland auf ihrem vorläufigen Höhepunkt angelangt und der Durchbruch zum »modernen Journalismus« erreicht war – »modern« in dem Sinne, dass uns sein Erscheinungsbild auch heute noch vertraut ist.96 Redaktionen hatten bis zu diesem Zeitpunkt »zahlreiche Charakteristika ausgebildet, die trotz aller technischen Innovationen bis heute ihre materielle Struktur, ihre soziale Praxis und ihre Repräsentation prägen«.97 Hierzu zählen etwa: die »Entstehung einer Berufsrolle, Einbeziehung großer Teile der Bevölkerung als Publikum, Entwicklung spezifischer journalistischer Kommunikationsformen, Bildung journalistischer Organisationen.«98 Was für den Journalismus generell gilt, das muss mutatis mutandis auch für den Finanzjournalismus als einen seiner Teilbereiche gelten. Dies bedeutet allerdings nicht, dass zwischen diesen Teilbereichen keine Unterschiede in der Professionalisierung bestanden hätten. Ein Handelsredakteur brachte, so formulierte es Otto Jöhlinger, ein »Spezialwissen« und eine »allgemeine Kenntnis« mit, die dem politischen Redakteur fehlten.99 Abgesehen vom Fall kleinerer Redaktionen konnten Journalisten in der Regel nicht einfach zwischen einzelnen journalistischen Segmenten hin und her wechseln. Jeder Bereich hatte für sich einen 96 Vgl. Birkner, S. 369–376. 97 Bösch, Zeitungsredaktion, S. 76. 98 Haas, Journalismus, S. 61. 99 Jöhlinger, S. 144.

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eigenen Journalistentypus hervorgebracht, den Grundsätzliches mit seinen Kollegen verband, der in seinen Verästelungen jedoch auch deutliche Unterschiede aufwies. Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, welche Berufsmerkmale und Abgrenzungserfahrungen den Börsen- und Handelsjournalisten um 1900 von anderen Journalisten trennten. Gab es eine spezifisch finanzjournalistische Professionalisierung mit einem eigenen Ethos, besonderen Handlungsnormen und Ausbildungsverfahren? 2.1 »Geschlossene Gesellschaft« oder »offener Markt«? Der Kampf der Presse um die Börse Seit den 1880er Jahren – wir sahen dies bereits100 – gingen deutsche Börsen, allen voran die Berliner, dazu über, die Besuchergruppe der Journalisten gesonderten, in der Börsen-Ordnung des jeweiligen Platzes fixierten Bestimmungen zu unterwerfen und sie so von den anderen Besuchern, den Bankiers, Prokuristen, Maklern und Kaufleuten, statuarisch zu trennen. Disziplinierung, Kontrolle und nötigenfalls Entfernung der Journalisten von der Börse waren dabei die leitenden Motive gewesen. Geduldete Besucher: Die Rechtsstellung des Journalisten an der Börse Als die deutschen Börsen seit dem Herbst 1896 damit begannen, ihre Börsenordnungen, so wie es das Börsengesetz verlangte, zu überarbeiten, setzte man diese vergleichsweise restriktive, mehr auf Duldung, denn auf Anerkennung basierende Behandlung fort. Der Gesetzgeber hatte den Börsenbetreibern freie Hand dabei gelassen, ob und unter welchen Bedingungen Pressevertreter zum Besuch der Börse zugelassen oder von diesem wieder ausschlossen sein sollten.101 Auch nach 1896 hatten Journalisten damit keinen gesetzlichen Anspruch auf eine Zulassung zur Börse. Es mag daher auf den ersten Blick als ein großes Entgegenkommen an die Pressezunft erscheinen, wenn alle deutschen Börsen in ihren überarbeiteten Statuten prinzipiell eine Anwesenheit von Pressevertretern vorsahen.102 Tatsächlich ist darin aber, wie wir später noch sehen werden, weniger ein Akt der Wertschätzung finanzjournalistischer Arbeit durch die Börsenbetreiber zu erblicken als vielmehr ein Mangel an praktikablen Alternativen. Ein kategorischer Ausschluss der Presse, zumal in einer Zeit, da sich das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit auf immer mehr politische und gesellschaftliche Bereiche zu richten begann, hätte dem Finanzsektor generell und der Börse speziell einen verheerenden Imageschaden zugefügt, hätte massiven Widerstand durch Medienakteure zur Folge gehabt und auch Privatanleger, die auf eine Börsenberichterstattung angewiesen waren, zutiefst verunsichert. 100 Siehe Kap. II. 2.3. 101 Vgl. die §§ 5 und 7 des Börsengesetzes, abgedruckt in Pohl, Börsengeschichte. 102 Nußbaum, S. 42.

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Zudem muss fraglich bleiben, ob Bankiers einen generellen Ausschluss überhaupt favorisiert hätten: Beide Gruppen wussten von den gegenseitigen Vorteilen, die sie voneinander hatten – dies hatten nicht zuletzt die Anhörungen der Börsen-Enquete-Kommission gezeigt.103 War an einer prinzipiellen Zulassung der Presse somit kaum noch zu rütteln, so bestand doch Spielraum in der konkreten Ausgestaltung der Zulassungsvoraussetzungen und Ausschlussmöglichkeiten. Das Diktum, das der Bankier Alfred Metzler einst als Sachverständiger vor der Börsen-Kommission kundgetan hatte, wonach an der Börse die Presse »möglichst im Zaum« gehalten werden solle, schien auch nach 1896 bei den meisten Börsenbetreibern nach wie vor auf ungeteilte Zustimmung zu stoßen.104 Denn mit steigender Zahl von Pressevertretern an der Börse – einer fremden Berufsgruppe, mitunter zweifelhaften Rufes  – musste auch das Unbehagen der professionals im gleichen Maße wachsen und ebenso das Verlangen, jene soweit möglich zu kontrollieren.105 Die Mehrheit der Börsen behielt daher die Regelung bei, wonach Pressevertreter halbjährlich eine Einlasskarte zu lösen hatten, an welche die Entrichtung einer bestimmten Gebühr geknüpft war. Bei der Erteilung dieser Karte waren Journalisten jedoch dem Wohlwollen der Börsenbetreiber ausgeliefert. So statuierte etwa die Berliner Börsen-Ordnung, an der sich die meisten anderen Plätze orientierten: Die Einlasskarte dürfe Pressevertretern »nach dem Ermessen des Börsen-Vorstandes erteilt und wieder entzogen« werden (§ 15). Welche Gesichtspunkte hierbei leitendend sein sollten, wurde nicht näher ausgeführt. Die Frankfurter (§ 4 Ziff. 2) und die Münchener Börsen-Ordnung (§ 12 Ziff. 7) verlangten einen Ausschluss ausschließlich dann, wenn der Pressevertreter an der Börse gewerbsmäßig Geschäfte betreibe. Die Berliner Börsen-Ordnung dagegen wollte sich nicht allein auf diesen Tatbestand für einen Börsenausschluss festlegen.106 Zwar konnten Journalisten gegen Beschlüsse des Börsenvorstands Beschwerde beim Ehrengericht der Börse, einer berufsständischen Einrichtung, einlegen. Doch bestand dieses wiederum primär aus Mitgliedern des Börsenträgers, im Falle Berlins: der Kaufmannskorporation, und konnte in einem Verfahren gegen Pressevertreter somit nicht als gänzlich unbefangene Instanz angesehen werden.107 Wer es schließlich auf eine langwierige Auseinandersetzung 103 Vgl. II. 2.3 und III. 3.2. 104 BEK/St, S. 1294. 105 So waren an Pressevertretern zugelassen 1902 (1.Hj./2.Hj.): 101/101; 1903: 103/106, 1904: 109/114, 1905: 111/117; 1906: 117/119; 1907: 117/115; 1908: 118/115; 1909: 115/112; 1910: 115/121; 1911: 122/122; 1912: 130/135; 1913: 129/133, vgl. Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie, Bd. 1, 1904, S. 683, Bd. 1, 1907, S. 713, Bd. 1, 1912, S. 556, und Bd. 1, 1913, S. 547. 106 Nußbaum, S. 42. – Die Berliner Börsenordnung v. 23.12.1896 ist abgedruckt in Wermuth, S. 172–202. 107 Als Vorsitzender fungierte Jacob Riesser, der Vizepräsident der Berliner Handelskammer, ihm zur Seite standen der Generalkonsul Paul von Schwabach, der Bankier Alfred Loewenberg, der Direktor der Disconto-Gesellschaft Adolph Salomonsohn sowie der Bankier Siegfried Sobernheim, vgl. Mitteilungen der Handelskammer zu Berlin, Jg. 1, 1903, Nr. 2, S. 23.

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ankommen lassen wollte, konnte gegen eine Entscheidung des Ehrengerichts schließlich auch eine Berufungskammer anrufen, die, so bestimmte es das Börsengesetz, periodisch zu bilden war und deren Vorsitzender vom Bundesrat bestimmt wurde (§§ 9–17). Ein Journalist konnte seinen Beruf in diesem Zeitraum, der sich schnell über Monate hinziehen konnte, mitunter nur eingeschränkt, wenn überhaupt, ausüben. Bei Pressevertretern, insbesondere bei jenen, die politisch rechts standen, stießen diese teils unpräzisen, teils allzu dehnbaren Bestimmungen, kaum dass sie öffentlich bekannt geworden waren, auf entschiedene Ablehnung. Besonders in der Reichshauptstadt, wo die meisten Börsenjournalisten tätig waren, sah man sich in eine »unwürdige, abhängige Stellung« gedrängt, »völlig dem Gutdünken und der Willkür des Börsenvorstandes ausgesetzt«.108 Anstoß erregte zudem ein von den Ältesten der Kaufmannschaft ursprünglich in ihrem Entwurf für eine neue Berliner Börsen-Ordnung vorgesehener Passus, wonach gegen Beschlüsse des Börsenvorstands nicht einmal die Beschwerde beim Ehrengericht zulässig sein sollte. Journalisten fühlten sich so »rechtlos und beschwerdelos«.109 Die Börsenbetreiber würden es dann in der Hand haben, so fürchtete die Deutsche Tageszeitung, jeden Vertreter der Presse, »der es sich herausnimmt, vorhandene Missstände im Börsenverkehr aufzudecken und zu beleuchten«, von der Börse entfernen zu lassen.110 Insbesondere agrarische und konservative Blätter sahen sich in der Freiheit ihrer Berichterstattung eingeschränkt, da sie wähnten, jeder gegen die Börse gerichtete Artikel könnte einen Ausschluss nach sich ziehen. Walter Mancke, der Besitzer des Bank- und Handelszeitung, initiierte eine gegen die Berliner Börsen-Ordnung gerichtete Petition beim preußischen Handelsminister, die er in seinem Blatt ausführlich thematisierte.111 Ob auf Manckes Beschwerde zurückzuführen, wie dieser behauptete, oder nicht: Tatsächlich strich der Handelsminister den umstrittenen Passus aus dem Entwurf zur Berliner Börsen-Ordnung, was der Stellung der Presse an der Börse zugutekam.112 Die Ermessensregelung bei der Vergabe der Eintrittskarten blieb gleichwohl bestehen. Professionals der Börse und Journalisten waren damit, was ihre Zugangsmöglichkeiten anbelangte, noch weit davon entfernt, gleichberechtigt behandelt zu werden. Reporter größerer, etablierter Zeitungen, mochten sich noch eher mit dieser Regelung arrangieren. Sie hatten als Vertreter angesehener Organe kaum zu fürchten, willkürlich ausgeschlossen zu werden, ja, einige unter ihnen mochten die weitgreifenden Befugnisse des Börsenvorstands sogar begrüßt haben, da mit ihnen die Hoffnung verbunden war, den »unsauberen Elementen, die bei allgemeiner Öffentlichkeit der Börse unter dem Deckmantel der Journa­listik […] 108 Bank- und Handelszeitung, 29.9.1896; Scholten, S. 131. 109 Bank- und Handelszeitung, Nr. 346, 17.12.1896. 110 Deutsche Tageszeitung, 30.9.1896. 111 Die Petition ist abgedruckt in: Bank- und Handelszeitung, Nr. 296, 26.10.1896. 112 Vgl. Bank- und Handelszeitung, Nr. 346, 17.12.1896.

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Abb. 10: Inszenierung als objektive Kritiker – Reporter an der Berliner Börse um 1895 (Quelle: Dahms [1895], S. 152)

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Zutritt zur Börse zu erlangen suchen würden, […] schon im Interesse des Ansehens der Journalistik das Eindringen in die Börse völlig unmöglich zu machen.«113 Naturgemäß entrüsteter zeigten sich jene Pressevertreter, die sich an der Börse in gewisser Weise als Minderheit begriffen gegenüber einer vermeintlich börsenhörigen und korrumpierten Pressemehrheit; hierunter waren zuvörderst Agrarisch-Konservative zu fassen, wie jener Petent Mancke. »Jeden Journalisten, der sich aus irgend einem Grunde, sagen wir z. B., weil er eine hervorragende Börsenfirma systematisch einer scharfen Kritik unterzieht, weil er vielleicht für die ›antibörsliche‹ ›Deutsche Tageszeitung‹ arbeitet, oder weil er eine politische Zeitung wie die ›Kreuz-Zeitung‹ vertritt«, könne, so kritisierte dieser, die Berichterstattung über die Börse unmöglich gemacht werden.114 Dieses Szenario musste gerade angesichts des Auftrags, den die Börsen-EnqueteKommission der Presse ausdrücklich erteilt hatte, nämlich Missstände aufzudecken und das breite Anlegerpublikum zu schützen, unzufrieden stimmen. Dies galt nicht nur für die selbsterklärten Börsengegner unter den Pressevertretern, sondern für alle Akteure des finanzjournalistischen Feldes. Immer weniger waren diese bereit, sich an der Börse lediglich nur dulden zu lassen. Sie nahmen sich in der Burgstraße als unabhängige Berufsgruppe und objektive Kritiker wahr  – ein Anspruch, der auch in zeitgenössischen Illustrationen zum Ausdruck kommt (vgl. Abb. 10) – und pochten dementsprechend – Ausdruck eines neuen, stolzeren Selbstbildes – auf eine rechtliche Besserstellung und Anerkennung ihrer der Öffentlichkeit dienenden Funktion. Dies wird auch an einem anderen Streitfall zwischen Pressevertretern und den Börsenbetreibern deutlich. Gegen Gebühren! Der Zugang zum Börsenraum Schon seit Längerem hatten Zeitungen bemängelt, dass ebenso wie gewerbsmäßige Börsenbesucher auch Journalisten halbjährlich eine Einlassgebühr (in ihrem Fall in Höhe von 18 M.) zu zahlen hatten, obwohl ihr Besuch keineswegs geschäftlichen Zwecken diente, ja, ihnen dies unter Strafe verboten war.115 Als sich das Ältesten-Kollegium der Berliner Kaufmannschaft 1902 an eine Revision der Berliner Börsengebühren-Ordnung machte, dabei aber die anfallende Gebühr für Pressevertreter unverändert beibehielt, liefen Journalisten und Zeitungsverleger Sturm. Diesen ging es nicht lediglich, nicht einmal primär, um die pekuniäre Einsparung, die aus einer Abschaffung der Gebühr resultiert hätte. Die Akteure des finanzjournalistischen Feldes spürten vielmehr eine ideelle Schädigung und Ehrverletzung, die mit der Entrichtung der Gebühr verbunden schien, sprach aus ihr doch »eine prinzipielle Verkennung der Aufgaben und der journalistischen Bedeutung des Börsenredakteurs.«116 Das Aufbegehren

113 Scholten, S. 131. 114 Bank- und Handelszeitung, 29.9.1896. 115 Vgl. § 7 der Berliner Börsengebühren-Ordnung, abgedruckt in: Passow, S. 90. 116 ZV, Nr. 29, 17.7.1902, Sp. 703.

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gegen die »unsinnige Börsengebühr«117 war Ausdruck eines Bemühens um Anerkennung der Leistung, die Journalisten durch ihre Finanzberichterstattung erbrachten, bedeutete einen ersten Schritt in die Richtung, »dass auch an der Börse die Bedeutung der Presse endlich mehr gewürdigt und letztere etwas weniger achtlos behandelt wird.«118 Die Presse würde »ganz gut ohne Börsenberichte leben können, aber von einem Teile der Leser werden solche verlangt, und eben diese Leser bilden in ihrer Gesamtheit wieder die Börse selbst«, behauptete etwa Alfons Goldschmidt, der spätere leitende Handelsredakteur im Pressekonzern Ullstein und langjähriger Mitarbeiter der Weltbühne. Die Existenz der Börse würde »schwer geschädigt, ja ernstlich bedroht werden, wenn nicht die Presse in ihrem Kurszettel, Handelsteil und resümierenden Berichten die Vorgänge an der Börse der Öffentlichkeit zugänglich machte.« Die Börse habe somit ein »unverkennbares Interesse daran, die Presse zu sich heranzuziehen, sie müsste ihr Erscheinen und ihre Thätigkeit sogar honorieren, wenn dadurch nicht wiederum das Odium der Beeinflussung oder Bestechung« entstehe. Keinesfalls aber dürfe sie, schloss Goldschmidt, »noch eine Bezahlung dafür verlangen, dass der Handelsredakteur ihre Interessen nach besten Kräften wahrnimmt.«119 Ende 1902 schaltete sich auch der Verein deutscher Zeitungsverleger (VdZV) in die Angelegenheit ein.120 In einer Eingabe an den preußischen Handelsminister Theodor von Möller bezeichnete die verlegerische Interessenvereinigung die Gebühr als »ungerechtfertigt, weil die Angestellten der Zeitungen nicht um Geschäfte zu machen, sondern lediglich zum Zwecke der Berichterstattung die Börse besuchen«, und forderte »namens eines großen Teils unserer Mit­glieder«, die an der Berichterstattung von der Berliner Börse ein erhebliches Interesse hätten, die Aufhebung der Gebühr.121 Die Ältesten der Berliner Kaufmannschaft dagegen wiesen die Forderung der Zeitungsverleger als »nicht stichhaltig« zurück, da »sie von der falschen Voraussetzung« ausgehe, wonach »die Berichterstatter der Zeitungen behufs Wahrnehmung der Interessen der am Börsenverkehr unmittelbar beteiligten Handeltreibenden die Börse besuchen, während in Wirklichkeit die Presse ihren eigenen Aufgaben und Interessen dient, wenn sie zum Zwecke sachkundiger und schneller Berichterstattung über die Vorgänge an der Börse ihre Vertreter zu den Börsenversammlungen entsendet.« Sei es ohnehin angemessen, von jedem Besucher eine Eintrittsgebühr zu verlangen, so rechtfertige diese sich mit Blick auf die Zeitungsberichterstatter noch besonders dadurch, dass »lediglich für ihre Zwecke zwei  – mit der

117 So titelte Die Post, 2.12.1902. 118 ZV, Nr. 16, 16.4.1903, Sp. 373. 119 ZV, Nr. 29, 17.7.1902, Sp. 703. 120 Zu seiner Geschichte vgl. die Jubiläumsschrift Walter, Zeitung. 121 Verein deutscher Zeitungsverleger an Handelsminister, 10.12.1902, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2H, Bd. 1.

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erforderlichen Mobiliareinrichtung versehene  – Säle des Börsengebäudes zur ausschließlichen Benutzung überlassen sind.«122 Das Handelsministerium schloss sich der Argumentation der Kaufmannskorporation an und betrachtete die Angelegenheit damit als beendet. Hierbei hatte die Behörde allerdings die Unnachgiebigkeit des VdZV unterschätzt, der in der Sache weiter insistierte. Längst spitze sich die Gebührenfrage zu einem generellen Kräftemessen zwischen Pressegewerbe und Börse zu. Unbegreiflich schien es dem Verein, wie sich eine kaufmännische Korporation derart auf formelle Vorschriften berufen könne, ohne »die praktischen Anforderungen des Verkehrs« zu bedenken. »Ganz unerfindlich« sei die Behauptung von den möblierten Sälen: »Die Redaktionsvertreter sind vielmehr ohne Berücksichtigung ihrer Anzahl auf zwei geräumige, aber leere Zimmer (nicht Säle) verwiesen, und haben sich ihr Mobiliar selbst zu halten. Für die Instandhaltung und Reinigung dieses Mobiliars sorgt ein alter Garderobier, der hierfür von den Pressvertretern durch Trinkgelder entlohnt wird. Die beiden Presszimmer, die weiter nichts als Rouleaux und Beleuchtungsanlage, welche letztere füglich Mittags[!] kaum gebraucht wird, enthalten, werden überdies in ausgiebiger Weise auch von anderen Börsenbesuchern, namentlich von kleinen Maklern benutzt, die von den der Presse gehörigen Pulten ungehindert, den weitgehendsten Gebrauch machen.«123

Viel schlimmer war für den VdZV allerdings »die totale Verkennung der Aufgabe des Handelsredakteurs« an der Börse, die in der Position der Börsenbetreiber zum Ausdruck komme. Bei der gewaltigen Bedeutung der Börse für den gesamten Handel sowie für die Kapitalanlage sei eine fachkundige Berichterstattung über das Börsengeschäft, die sich »nur durch persönliche Anwesenheit des Redakteurs bei den Börsenversammlungen« ermöglichen lasse, für die allerweitesten Kreise von großer Bedeutung. »Was in dem beschränkten Raume des Börsengebäudes geschieht, ist für das ganze Land von Wichtigkeit und kann diesem einzig und allein auf dem Wege der Verbreitung durch Zeitungen zugänglich gemacht werden.« Würden sich beispielsweise, schloss der VdZV – und dies kam einer Drohung gleich – »sämtliche Berliner Blätter dahin einigen, jegliche Börsenberichterstattung solidarisch einzustellen, so wären der Börse ihre unabweislichsten Lebensbedingungen entzogen, ja sie wäre in ihrer Existenz vollends unmöglich gemacht.«124 Die Ältesten der Kaufmannschaft ließen sich auch hierdurch nicht von ihrer Haltung abbringen. Im Gegenteil: Sie wiesen die Ausführungen als »starke Übertreibung« zurück, das Fortbestehen der Börse – so lautete die Botschaft  – hänge gewiss nicht von der Berichterstattung der 122 Älteste der Kaufmannschaft an Handelsminister, 30.1.1903, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2H, Bd. 1. 123 Verein deutscher Zeitungsverleger an Handelsminister, 18.3.1903, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2 H, Bd. 1. 124 Ebd.

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Presse ab. Schließlich – und hier nahm die Auseinandersetzung kuriose Züge an – lieferten die Börsenbetreiber noch die exakten Maße der zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten (59,80 m² und 57,20 m²), die damit »zutreffend als Säle bezeichnet werden können«, und präzisierten die von ihnen gestellte Mobiliareinrichtung (sie bestehe aus »einem langen Tisch, einer Anzahl Stühle, einem Garderobenständer, einem Schirmständer, Gummiläufer, Wanduhr, Gardinen und Beleuchtungsanlage«).125 Das Handelsministerium begann nun erneut, sich mit der Angelegenheit zu befassen und bat schließlich die Berliner Handelskammer um eine Stellungnahme.126 Das Organ war 1902 ins Leben gerufen worden und – in eine Konkurrenzstellung zur Berliner Kaufmannschaft getreten – von Handelsminister Möller mit der Börsenaufsicht betraut, die damit zugleich den Ältesten entzogen worden war.127 Die Handelskammer nutzte die Gelegenheit, sich gegen die Korporation zu positionieren. Man könne nicht verhehlen, dass »vom Zweckmäßigkeitsgesichtspunkt aus uns die gebührenfreie Zulassung der Handelsredakteure und Zeitungsboten empfehlenswert erscheinen würde.« Denn nicht nur im Interesse der von ihnen vertretenen Organe besuchten die Pressevertreter die Börse, sondern »diese selbst hat ein weitgehendes Interesse daran, während der Börsenzeit im unmittelbaren Verkehr mit den Organen der Presse zu stehen, um auf diese Weise schnell und zutreffend über die für das Börsengeschäft wesentlichen öffentlichen Ereignisse unterrichtet zu werden und ihrerseits dem großen Publikum die Möglichkeit der ständigen Kontrolle der Öffentlichkeit darzubieten.« Diese Worte mussten aus dem Mund der Handelskammervertreter ungewöhnlich anmuten, scheute das Organ doch selbst, wie wir noch sehen werden, in seinen Sitzungen konsequent die Öffentlichkeit. Schien ihr eine Abschaffung der Gebühr – zumindest in der Theorie – auch gerechtfertigt, so führte sie mit Blick auf eine praktische Umsetzung sogleich Hindernisse ins Feld. Hierfür sei eine Änderung der Börsenordnung notwendig, wozu man derzeit nicht raten könne, da die gültige noch verhältnismäßig jung sei.128 Nach dieser Stellungnahme konnten die Zeitungsverleger nicht mehr auf ein Entgegenkommen des Handelsministers zählen, und tatsächlich ließ eine endgültige ablehnende Antwort nicht lange auf sich warten.129 Der Vorstoß der Presseakteure, vorteilhaftere Zugangsvoraussetzungen zum Börsenraum zu erwirken, war damit gescheitert. Die Fronten schienen zwar verhärtet, jedoch nicht in dem Maße, wie es die verbalen Attacken und Drohungen, die aus dem 125 Älteste der Kaufmannschaft an Handelsminister, 26.5.1903, GStA PK, I. HA, Rep. 210, C XI 1, Nr. 2 H, Bd. 1. 126 Handelsminister an Handelskammer, 26.6.1903, GStA PK, I. HA, Rep. 210, C XI 1, Nr. 2 H, Bd. 1. 127 Vgl. Biggeleben, S. 333 ff.; Hertz, S. 1–23. 128 Berliner Handelskammer an Handelsminister, 11.7.1903, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2 H, Bd. 1. – Die Handelskammer informierte hierüber auch in ihrem Jahresbericht, Jg. 2, 1903, S. 5 f. 129 Handelsminister an VdZV, 23.7.1903, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2 H, Bd. 1.

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Schriftwechsel sprachen, vermuten ließen. Ein Boykott wurde allem Anschein nach zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erwogen – und auch die Gegenseite hätte es wohl nicht so weit kommen lassen. Sowohl die Pressevertreter als auch die Börsenbetreiber hatten ein fundamentales Interesse daran, mit der jeweils anderen Seite auszukommen, sie waren längst und allen Beteuerungen zum Trotz voneinander abhängig. Selbst wenn dies im Streit um die Börsengebühren keine Partei offen zugeben wollte, schienen doch alle beteiligten Akteure allmählich zu jener Einsicht zu gelangen, die wenige Jahre später Georg Bernhard ausformulierte: Die Presse müsse davon ausgehen und darauf bestehen, »dass sie und die Finanzwelt vollkommen gleichwertige Faktoren sind; die Finanzwelt hat […] die Presse mindestens so notwendig, wie andererseits die Presse ein Interesse daran hat, von der Finanzwelt nicht einseitig schlecht oder gar nicht informiert zu werden.«130 Expansion der Öffentlichkeit Die notwendige Anwesenheit von Journalisten an der Börse wurde von Medien­ akteuren auch mit einem anderen Argument begründet. Die Börse sei ein »öffentlicher Markt […] und keine Privatveranstaltung, und sämtliche anderen öffentlichen Institutionen, wie die Justiz und die Parlamente«, erkannten volle Pressefreiheit an und ließen jeden Vertreter der Presse zu ihren öffentlichen Verhandlungen zu.131 Medienöffentlichkeit war spätestens jetzt zu einer Zeitforderung geworden. An der Öffnung von Institutionen hin zur Presse, an der selbstverordneten Transparenz, maß sich in den Augen vieler Zeitgenossen zugleich ihre Fortschrittlichkeit. Hatte diese Forderung mit Blick auf Einrichtungen der Politik, Verwaltung und Rechtsprechung schon eine lange Tradition, die in Deutschland bis in das frühe 19. Jahrhundert reicht,132 so präsentiert sich ihre Ausdehnung auf Institutionen der Wirtschaft als ein verhältnismäßig neues Phänomen, das um 1900 Relevanz entfaltete. Die Forderung nach Zulassung von Pressevertretern machte auf dem Finanzsektor nicht lediglich Halt bei der Börse, sondern erstreckte sich auch auf Aktiengesellschaften und Handelskammern. Immer wieder waren diese mit dem Vorwurf einer mangelhaften Informationspolitik konfrontiert. Viel zu selten, kritisierten etwa die ­Leipziger Neueste Nachrichten, ließen Aktienunternehmen der Presse Berichte und Material zukommen. Und dies obwohl vier bis fünf Milliarden Mark Aktienwerte in den Händen des großen Publikums lägen, »das keine Ahnung von dem inneren Werte seines Besitzes hat […]«. Es gehe nicht an, dass Aktionäre auf eine Nachricht über ihr Vermögen ein ganzes Jahr und manchmal noch länger warteten. Dabei handele es nicht um ein persönliches, sondern um ein eminent volkswirtschaftliches Interesse, dem entgegenzukommen die Aktienunternehmen sich verpflichtet fühlen müssten, »ehe die Klinke der Gesetzgebung die Türen 130 Plutus, Nr. 34, 26.8.1911, S. 617 131 Scholten, S. 130 f. 132 Vgl. Cancik sowie Wegener, S. 197–295.

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zu den Geheimnissen der Gesellschaften öffnet.«133 Ähnlich mahnte die Kölnische Volkszeitung, der gedruckte Geschäftsbericht des Vorstands gehöre ebenso so schnell, wie er den Mitgliedern des Aufsichtsrats zugehe, in die Redaktionen der Handelszeitungen. Während es »einsichtige Verwaltungen« gebe, die eigens zur redaktionellen Nutzung hergestellte Manuskripte vorab an die Presse verteilten, seien auch solche anzutreffen, die »durch Mißachtung der Presse, oder durch einseitige Bevorzugung einzelner Handelszeitungen die von ihnen geleiteten Gesellschaften sogar schädigen.«134 Nun hatten gesetzlich verankerte Publizitätsbestimmungen freilich eine längere Tradition und reichten bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts zurück.135 Neu allerdings war jetzt, dass Journalisten weit mehr Informationen und Material verlangten, als Unternehmen zu geben gesetzlich verpflichtet waren. Pressevertreter begannen nun proaktiv in die Räume wirtschaftlicher Institutionen vorzurücken bzw. dahingehende Forderungen aufzustellen. »Publizität« bedeutete nicht mehr nur Bereitstellung erforderlicher Informationen aus dem Innenleben von Unternehmen und Wirtschaftsinstitutionen, sondern auch dass sich dieses Innenleben und seine Verfahren so weit möglich vor den Augen der Öffentlichkeit bzw. deren Repräsentanten vollziehen sollte. So bemängelte etwa die Kölnische Volkszeitung die Haltung mancher Aktiengesellschaft hinsichtlich der Öffentlichkeit ihrer Hauptversammlungen. Zuweilen verweigere man der Presse die Teilnahme, womit das Unternehmen von vornherein sein »Geschäftsgebaren in ein ungünstiges Licht« stelle.136 Journalisten sahen ihre Teilnahme an solchen Versammlungen als ihr gutes Recht an; wer es ihnen verweigerte, machte sich verdächtig. »[F]ort mit der unnützen Geheimniskrämerei, als welche sich der Ausschluss der Presse präsentiert«, deklamierte ähnlich auch das Berliner Tageblatt. »Übergroße Ängstlichkeit schadet nur und erweckt bei den Außenstehenden Mißtrauen.«137 Aus Sicht mancher Aktiengesellschaften war jene Distanz zur großen Schaar an Personen, die sich »Pressevertreter« nannte, nur zu verständlich. Der Hanno­ versche Courier berichtete im Oktober 1905 von Vertretern kleinerer Börsenund Handelszeitungen »zweifelhaftester Provenienz«, die sich auf Generalversammlungen tummelten, nur um an Insertionsaufträge zu gelangen, mit deren Ertrag sie die nächste Nummer druckten. Zum Ende der Versammlung bestürmten diese sogenannten »Preßvertreter«, die lediglich »Inseratenakquisiteure« seien, dann den Vorstand, und forderten das nächste Bilanzinserat für 133 Leipziger Neuesten Nachrichten, zit. n. ZV, Nr. 25, 23.6.1904, Sp. 602. 134 Kölnische Volkszeitung, zit. n. ZV, Nr.  2, 14.1.1904, Sp.  36 (Hvh. i. O.).  – Mit der Entdeckung der Öffentlichkeit durch Unternehmen und der damit einhergehenden Einsicht in die Notwendigkeit von Pressearbeit gaben Verwaltungen immer häufiger auch selbstständig Berichte und Mitteilungen an die Presse, ohne dass man diese dazu hätte auffordern müssen, wie etwa Kocka, Unternehmensverwaltung, S. 444, am Beispiel von Siemens nachzeichnet. 135 Siehe Kap. II. 3.1. 136 Ebd. 137 Berliner Tageblatt, zit. n. ZV, Nr. 43, 26.10.1905, Sp. 1048.

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ihr Blatt. »Ist es da ein Wunder, wenn die Börsenpresse und schließlich die Presse überhaupt nach diesen ›Vertretern‹ beurteilt wird, wenn Gesellschaftsleiter sich die Ansicht aneignen, daß die Presse lediglich Insertionsorgan sei und von den Gesellschaften abhängig, da sie ja von ihren Aufträgen lebe?«. Jene Zeitungen schadeten der »Gesamtheit der Presse«, resümierte das Blatt, da sie ihr die Möglichkeit nähmen, ihre Leser über Generalversammlungen zu unterrichten, von denen anständige Zeitungen aufgrund jenes Vorurteils ausgeschlossen würden.138 Die Fremdwahrnehmung des Finanzjournalismus stand zuweilen in schroffem Gegensatz zum stolzen Bild, das sich manche Journalisten von ihrer Tätigkeiten machten. Solange sich an den Rändern des finanzjournalistischen Feldes Personen bewegten, die aus Sicht der etablierten Akteure dort nicht hingehörten, solange war die Reputation der Presse insgesamt bedroht. Als Konsequenz schien eine strengere Kontrolle des Feldes angeraten, und tatsächlich bestimmten derartige Vorstellungen, wie wir noch sehen werden,139 die internen Diskussionen des journalistischen Berufsstandes nach 1900. Während die Zugänglichkeit der Generalversammlungen für Pressevertreter mit dem Verweis auf das berechtigte Interesse des Anlegers begründet wurde, berührte die Öffentlichkeit der zahlreichen über das Reichsgebiet verstreuten Handelskammern in einem viel allgemeineren Sinne liberale Wertvorstellungen, wie das Beispiel der Berliner Handelskammer zeigt. Im September 1902 sprach sich das Organ gegen eine generelle Öffentlichkeit seiner Sitzungen aus. Je nach Erfordernis sollte die Öffentlichkeit für alle oder einzelne Tagesordnungs­punkte zugelassen werden.140 Dieser Beschluss entfachte, kaum dass er gefasst worden war, einen Sturm der Entrüstung. Schon am folgenden Tag starrten auflagenstarke Zeitungen nur so vor Schmähungen gegen das Berliner Handelsorgan: »Flucht vor der Öffentlichkeit«, ein Beschluss der »keinen modernen Geist« atme, »Die reaktionäre Berliner Handelskammer«, lauteten nur einige der Überschriften.141 Die Öffentlichkeit der Verhandlungen bedeute, kommentierte etwa das Kleine Journal, »eine moderne Errungenschaft von so durchschlagender Kraft, daß gegenwärtig die Berliner Handelskammer mit diesem Beschluß sogar Verhandlungen der Synoden aller Art und der Landwirtschaftskammern gegenüber rückständig ist.«142 Das Berliner Tageblatt wollte erfahren haben, dass der Beschluss auf die in der Handelskammer auch vertretenden Mitglieder des Ältestenkollegiums zurückzuführen war, auf sie falle »die volle Verantwortung für das bedauerliche Ergebnis«. Man habe die Kor­ 138 Hannoverscher Courier, zit. n. ZV, Nr. 43, 26.10.1905, Sp. 1048. 139 Siehe Kap. IV. 2.2. 140 Vgl. Jahresberichte der Handelskammer zu Berlin, Jg. 6, 1908, S.  280.  – Die Mitglieder wurden überdies angewiesen, ohne Einwilligung der Handelskammer keine Mitteilungen über Sitzungsinterna gegenüber der Presse zu machen (ebd.). 141 Vgl. etwa Das Kleine Journal, Nr. 267, 27.9.1902; Welt am Montag, 29.8.1902.; ZV, Nr. 41, 9.10.1902. 142 Das Kleine Journal, Nr. 267, 27.9.1902.

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poration zu Unrecht als das freiheitliche Gebilde gepriesen, stellte das Blatt fest, um sogleich rhetorisch zu fragen: »Denn können Leute, die in solcher Weise gegen eine grundlegende liberale Forderung, wie es die Öffentlichkeit ist, verstoßen, noch als wahrhaft liberal angesehen werden?«.143 Die Ältesten der Kaufmannschaft bestätigten noch am selben Tage in einer Presserklärung, aus der eine völlige Verkennung der in der Publizitätsfrage liegenden Brisanz sprach, elf von dreizehn Mitgliedern hätten gegen die Öffentlichkeit gestimmt, man habe sich damit schlicht einen Raum zu ungestörter Diskussion jenseits der Öffentlichkeit bewahren wollen.144 Auch an der Börse stand das Hausrecht, das mit der Zeit immer mehr zu einem Gewohnheitsrecht geworden war, in einem Spannungsverhältnis zum Interesse der Presse (und der Öffentlichkeit), den Geschäftsgang an der Börse zu verfolgen. Aus journalistischer Sicht stellte die Börse einen öffentlichen Markt dar; die uneingeschränkte Anwesenheit der Presse war daher nur eine logische Konsequenz. Dass diese Auffassung mit jener der Börsenbetreiber kollidierte, zeigt der Fall des Börsenjournalisten Bruno Buchwald. Buchwald besuchte die Berliner Börse als leitender Handelsredakteur der Berliner Morgenpost. Daneben war er jedoch auch Herausgeber der Fachzeitung Buchwald’s Börsen-Berichte. Sie sollte sich bald schon zum Streitpunkt zwischen dem Redakteur und den Börsenbetreibern entwickeln. Buchwald verstand seine täglich nach Börsenschluss erscheinenden Berichte als »vertrauliche Mitteilungen für Banken und Bankiers«, wie es im Untertitel hieß. Der verheißungsvolle Name mochte mehr mit Blick auf eine Absetzbarkeit des Produktes gewählt worden sein, war es doch zweifelhaft, wie exklusiv Inhalte sein konnten, die offen und von jedermann auf dem Pressemarkt erworben werden konnten. Den Zweck seines Blattes umriss Buchwald in einer Werbebroschüre vom September 1906: Es wolle Fachleute, die selbst nicht in der Lage waren, die Börse zu besuchen, fortlaufend informieren und ihnen so ermöglichen, »die Börsenvorgänge richtig zu beurteilen und darnach[!] ihre geschäftlichen Transaktionen einzurichten.«145 Buchwald ging es um größtmögliche Transparenz der an der Börse abgewickelten Geschäfte, was man zugleich als Kampfansage an die Börsenhändler verstehen konnte, die sich, seiner Meinung nach, noch immer als »Geheimbund« fühlten. Es müsse »den Herren […] mit Entschiedenheit klar gemacht werden«, so Buchwald in der Kulturzeitschrift Morgen, dass die Börse »ein öffentlicher Markt« sei. »Gelingt es erst, die Märkte genau zu kontrollieren, so wird einem großen Teil der heute fortgesetzt erfolgenden Kurstreibereien und Fälschungen, denen der Börsenvorstand ruhig zugesehen hat, ein Riegel vorgeschoben […].«146 Buchwalds Berichte unterschieden sich vor allem in zwei Punkten von den sonst üblichen Inhalten von Finanzzeitungen. Zum einen verzeichnete der 143 Berliner Tageblatt, 27.9.1902. 144 Ebd. 145 Broschüre, Sept. 1906, in: GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2 H, Bd. 1. 146 Morgen, Nr. 8, 21.2.1908, S. 247 f.

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Kurszettel neben dem amtlich festgestellten Kurs für den betreffenden Tag (wie dies alle andere Zeitungen auch taten) in zwei weiteren Spalten Schätzungen über die Umsätze in dem betreffenden Papier sowie Angaben darüber, zu welchen Kursen Angebot oder Nachfrage bestanden hatte und wer als Käufer oder Verkäufer hervorgetreten war.147 Zum anderen gab Buchwald unter der Überschrift »spezielle Mitteilungen« ausführliche Darstellungen darüber, »wie es bei der Kursermittlung einzelner Wertpapiere zugegangen ist, häufig unter Benennung der beteiligten Börsenbesucher.«148 Nach nicht allzu langer Zeit geriet Buchwald bereits mit einzelnen Börsenbesuchern aneinander.149 Denn um an das exklusive Material für die Berichte zu gelangen, bedurfte es anderer Methoden der journalistischen Informationsakquise als der sonst üblichen, die auf dem Entgegenkommen der Finanzakteure beruhten. Buchwald war es zuwider, wie er selber schrieb, dass die Handelspresse bei der »Kritik über Börsenvorgänge nur auf das angewiesen sein soll, was ihr freiwillig von den Börsenkaufleuten gesagt wird«, mache man sich doch so zum »Werkzeug dieser Kreise«, die natürlich nur das mitteilten, was ihrem Interesse dienstbar sei.150 Buchwald trat an der Börse als eigenständig recherchierender, vielen widerspenstiger Reporter auf und personifizierte damit den in Deutschland noch vergleichsweise jungen Typus des »investigativen Journalisten«.151 Dieser begegnet im angelsächsischen Raum bereits seit den 1880er Jahren und zeichnet sich durch eine eigenständige, geradezu detektivisch durchgeführte Recherchetätigkeit aus mit dem Zweck, Missstände aufzudecken und so Reformen anzustoßen.152 Getragen war diese Form des Journalismus von der Vorstellung, dass die Presse in erster Linie ihren Lesern zu dienen habe und eine »Vierte Gewalt« im Staat verkörpere.153 Das Wirken Buchwalds kann durchaus vor diesem Hintergrund gesehen werden und erhärtet damit eine Annahme der jüngeren Forschung, die den Abstand zwischen deutschem und angelsächsischem Journalismus für den Beginn des 20. Jahrhunderts geringer einschätzt, als dies ältere Untersuchungen noch getan haben.154 Die eifrigen Recherchen Buchwalds blieben nicht ohne Folgen. Bald schon schaltete sich der Börsenvorstand ein und rief das Ehrengericht der Börse an. Im März 1908 erreichte Buchwald 147 Man kann diese Leistung nur in ihrer vollen Tragweite ermessen, wenn man sich zugleich vergegenwärtigt, dass der Kurszettel, wie ihn Tageszeitungen damals brachten, seit der Jahrhundertwende zunehmend als ungenügend zur Beurteilung der Marktlage empfunden wurde. Vgl. ZV, Nr. 44, 4.11.1910, Sp. 852. 148 Staatskommissar (Berliner Börse) an Handelsminister, 2.3.1908, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2 H, Bd. 1. 149 So mit Paul Böhme, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der »Terraingesellschaft Groß-Lichterfelde«, s. den Bericht Buchwalds in: Morgen, Nr. 8, 21.2.1908, S. 246–248. 150 Morgen, Nr. 18, 1.5.1908, S. 575. 151 Zum Begriff des »investigativen Journalismus« aus medienwissenschaftlicher Perspektive siehe Ludwig. 152 Vgl. zu diesem Typus Bösch, Mediengeschichte, S. 114. 153 Vgl. Schulz, Vierte Gewalt. 154 In diese Richtung argumentiert auch Birkner, S. 372.

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eine Anklageschrift, in der man ihm zur Last legte, »zur Erlangung von Material für die Börsenberichte, Angestellte von Kursmaklern durch Versprechung und Gewährung von Geschenken zu Mitteilungen, deren Preisgabe gegen die Amtspflicht oder das Anstellungsverhältnis verstößt, veranlaßt oder zu veranlassen versucht und derartige Mitteilungen schriftstellerisch verwertet zu haben.«155 Nach zwei Verhandlungstagen sprach das Ehrengericht, dessen Vorsitz der Bankier Paul von Schwabach innehatte, Buchwald schuldig, erkannte dem Journalisten seine Ehre ab und erteilte ihm einen Verweis von der Berliner Börse.156 Der Fall Buchwald sorgte weit über die Kreise der Journalisten hinaus für Aufsehen und entwickelte sich schnell zu einem in breiter Öffentlichkeit diskutierten Politikum. Nicht wenigen Beobachtern drängte sich der Eindruck auf, dass die Börsenvorsteher schlicht und ergreifend einen Journalisten hatten mundtot machen wollen, der sich angeschickt hatte, den Schleier zu lüften, der auf vielen Börsengeschäften zu liegen schien. Im Fall Buchwald spitzte sich die Frage zu, ob und in welchem Maße die Öffentlichkeit ein Recht darauf hatte, über die Vorgänge an der Börse unterrichtet zu werden und welche Methoden bei der Informationsbeschaffung angewandt werden durften. »Entweder die Börse ist eine geschlossene Gesellschaft mit geheimen Geschäftspraktiken«, bemerkte die Kreuzzeitung zum Fall Buchwald, oder sie sei, was wohl keiner bestritten hätte, »ein offener Markt, und dann hat sie keine Geheimnisse zu­ hüten«.157 Für den SPD-Abgeordneten Ludwig Frank war der »bekannte Fall der Berliner Börse« eine Steilvorlage, um in den kurz darauf einsetzenden Beratungen des Reichstags zu einer Börsengesetznovelle mehr Publizität bei den Vorgängen an der Börse zu fordern. Denn die Interessen der Allgemeinheit seien nur dann ausreichend gewährt, erläuterte Frank, wenn »unter allen Umständen an jeder Börse eine unabhängige Presse zugelassen wäre.« Der Fall Buchwald rechtfertige allerdings die Befürchtung, »daß unabhängige Journalisten, wenn sie unangenehm werden, von dem Besuch der Börse ausgeschlossen werden«.158 Wir werden an anderer Stelle noch einmal auf den Fall Buchwald zu sprechen kommen. Bis hierhin genügt es festzuhalten: So sehr die Forderung nach größtmöglicher Öffentlichkeit an der Börse als Signum der Jahre vor 1914 begriffen werden kann, so brüchig und so wenig zielgerichtet erwies sie ihre praktische Umsetzung. Die Anwesenheit von Pressevertretern markierte einen festen Bestandteil, eine qua Gewohnheit etablierte Begleiterscheinung des täglichen Parketthandels an der Börse. Doch mag sie auch eine notwendige Bedingung für die Entfaltung einer kritischen, als zeitgemäß wahrgenommenen Börsen­ berichterstattung gewesen sein, eine hinreichende war sie nicht. Denn, dies hatte der Fall Buchwald gezeigt, ein Raum der Kritik war die Börse ebenso we155 Eine Abschrift der Anklageschrift liegt dem Schreiben bei: Staatskommissar (Berliner Börse) an Handelsminister, 9.4.1908, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2 H, Bd. 1. 156 Vgl. den ausführlichen Prozessbericht in der Deutschen Tageszeitung, 20.5.1908. 157 Kreuzzeitung, Nr. 79, 16.2.1908. 158 Rede vom 7. April 1908 in: Stenographische Berichte, 142. Sitzung, S. 4762.

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nig wie ein Ort eigenständig recherchierender Reporter. Immer noch hing das Maß an Freiheit in der finanzjournalistischen Praxis vom Wohlwollen der Börsenbetreiber ab. Das »berechtigte Interesse« und der Presseausschuss der Börse Die symbolische Besetzung des Raumes durch Journalisten, sei es des Raumes der Börsen, der Handelskammern oder der Generalversammlungen bei Aktienunternehmen (für Presseakteure immer auch Ausdruck eines legitimen Eindringens der Öffentlichkeit in Räume, die sich vormals ihrem Scheinwerferlicht entzogen hatten), bedeutete für Journalisten nur ein erster Schritt in Richtung einer Anerkennung als legitime Vertreter der Öffentlichkeit. Denn mit der formellen Zulassung zu Börsen- oder Generalversammlungen war es nicht getan. Weiter und drängender stellte sich die Frage, ob die gegebenen rechtlichen Rahmenbedingungen ausreichten, um eine freie und unabhängige Finanzberichterstattung innerhalb, aber auch außerhalb der Börse, zu ermöglichen. Denn was nützte es dem Journalisten, formell zur Börse zugelassen zu sein, wenn er, wie Georg Bernhard bemerkte, alles zu vermeiden hatte, »was den Börsenleuten unbequem sein könnte; sonst wird er hinausgeworfen«?159 Immer wieder kritisierten Zeitungen um 1900, dass der Presse »die Rolle eines Warners und Aufdeckers von Missständen«, die ihr von der Börsen-Enquete-Kommission einst ausdrücklich zugewiesen worden war, »durch die engherzige und kurzsichtige Rechtsprechung der deutschen Gerichte erschwert und verleidet« werde.160 Die zeitgenössische Diskussion kreiste dabei vor allem um eine Frage: Inwieweit durften Pressevertreter bei der Ausübung ihrer Tätigkeit ein »berechtigtes Interesse« anführen? An die Beantwortung dieser Frage knüpften sich weitreichende Konsequenzen. Denn sie entschied darüber, ob Journalisten bei der Kritik an Einzelpersonen oder wirtschaftlichen Unternehmen wegen Ehrverletzung oder Kreditgefährdung juristisch belangt werden konnten oder nicht.161 Über die gesamte Zeit des Kaiserreichs rang die Presse mit der Jurisdiktion um eine Anerkennung ihrer Tätigkeit als »Wahrnehmung berechtigter Interessen« (§ 193 StGB), immer wieder beriefen Journalisten sich auf diesen Rechtfertigungsgrund und immer wieder versagten ihnen Gerichte diesen Schutz.162 159 Die Zukunft, Bd. 39, 1902, S. 485. 160 ZV, Nr. 39, 28.9.1901, Sp. 272. 161 So bestimmte § 193 des Strafgesetzbuches (StGB) die Straffreiheit von Beleidigungen, wenn der Täter in der Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt habe. Für die Handelspresse besonders relevant war zugleich § 824 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), der die Schadenersatzansprüche infolge unwahrer, kreditgefährdender Tatsachenbehauptungen regelte. Absatz 2 schränkte diesen Anspruch ein: »Durch eine Mittheilung, deren Unwahrheit dem Mittheilenden unbekannt ist, wird dieser nicht zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er oder der Empfänger der Mittheilung an ihr ein berechtigtes Interesse hat.« (Hvh. d. V.) 162 Vgl. hierzu exemplarisch am Harden-Prozess Domeier, S. 124–140; Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 560.

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Welche praktischen Folgen dies haben konnte, zeigt der Prozess eines Frankfurter Bankiers, Max Ansbacher, gegen den leitenden Handelsredakteur der Frankfurter Zeitung, Hermann Stern. Stern hatte am 9. Mai 1911 eine für die Reputation des Bankiers nicht vorteilhafte Meldung gebracht. Obwohl der Frankfurter Zeitung von zuverlässiger Seite zugegangen, stellte sich die Nachricht im Nachhinein als falsch heraus. Ansbacher klagte wegen übler Nachrede. In einem ersten Verfahren wies die Frankfurter Strafkammer die Klage ab; dem Angeklagten stehe der Schutz des § 193 zur Seite.163 Das Oberlandesgericht hob das Urteil allerdings wieder auf, da der Begriff der Wahrnehmung berechtigter Interessen nicht genau genug präzisiert sei und verwies die Sache zur Entscheidung an die Strafkammer zurück. Nach neuerlicher Beweisaufnahme verurteile das Gericht Stern.164 Die Presse müsse, begründete das Gericht, in allen Fällen, in denen die Eventualität einer Beleidigungsklage in Betracht kommen kann, »bis zur direkten persönlichen Information die betreffende Nachricht zurückhalten, dies auch auf die Gefahr, daß sie dabei ihre journalistischen Pflichten verletzt oder sich von anderen Blättern überholen lassen muß.«165 Für Journalisten und Verleger musste dieses Urteil mehr als unbefriedigend sein. »Es war bisher in der Handelspresse ganz allgemein üblich, Nachrichten dann ohne nähere Prüfung entgegenzunehmen, wenn sie entweder von einem als zuverlässig bewährten Korrespondenten stammten […] oder aber, wenn sie von einem angesehenen Blatte veröffentlicht wurden, an dessen korrekter Berichterstattung ein Zweifel nicht erlaubt schien.« Aus Sicht der Journalisten bedeutete das Urteil eine »außerordentliche Erschwerung der Tätigkeit der Presse«, da eine Verifizierung der Nachricht zumeist nicht möglich war, ohne dass ihre Bekanntgabe eine erhebliche Verzögerung erlitt.166 Während die Handelspresse mit jeder Veröffentlichung einer ehrverletzenden Meldung eine Beleidigungsklage riskierte (und was ehrverletzend war, hing zu einem Gutteil von der richterlichen Auffassung ab), zeigte die deutsche Rechtsprechung mit Blick auf Meldungen, die den wirtschaftlichen Ruf bzw. Kredit von Unternehmen betrafen, eine andere Haltung. In seinem Urteil vom 4.  März 1904 hatte das Reichsgericht der Fachpresse die »Wahrnehmung berechtigter Interessen« zugestanden und sie damit unter den Schutz des § 824 Abs. 2 gestellt.167 Zugleich hatte das Gericht aber auch klargemacht, dass »ein allgemeines Recht der Tagespresse nicht bestehe, vermeintliche Übel163 ZV, Nr. 17, 25.4.1913, Sp. 333 f. 164 Ebd., Nr. 44, 31.10.1913, Sp. 926 f. 165 Plutus, Nr. 44, 1.11.1913, S. 887 f. 166 Ebd., Sp. 945 f. – Noch nach dem Ersten Weltkrieg forderten Journalisten, der Gesetzgeber möge der Presse endlich den Schutz des § 193 zubilligen, damit diese ihrer Pflicht zur Unternehmenskritik nachkommen könne, vgl. Jöhlinger, S. 150. 167 In dem Prozess war es um eine Veröffentlichung der Süddeutschen Tabakzeitung gegangen. Das Gericht erklärte es zum »berechtigten Interesse« der Leser dieses Blattes, über alle Missstände im Bereich des Tabakwesens unterrichtet zu werden, vgl. Neumann-Duesberg, S. 26 f.

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stände und wirtschaftliche Gefahren öffentlich zu erörtern.«168 Doch auch nach diesem Urteilsspruch war die Rechtslage alles andere als klar, denn wo genau die Scheidung zwischen Tages- und Fachpresse anzusetzen war, hatte das Gericht offen gelassen. So gelangte das Berliner Landgericht in einem wenige Jahre später abgehaltenen Prozess zu einem der Presse weit entgegen kommenden Urteil. Anlass war die Klage einer Land- und Industriebauten-Aktiengesellschaft aus Charlottenburg gegen den Scherl-Konzern wegen Kreditschädigung. Der von diesem verlegte Berliner Lokal-Anzeiger hatte in zwei Artikeln (26.1. und 28.1.1912) von starken Differenzen in der Unternehmensspitze berichtet, die sich im Nachhinein als falsch herausstellten. Das Landgericht sprach dem­ Lokal-Anzeiger nun jedoch den Schutz des § 824 BGB zu und wies die Klage ab. Die Unrichtigkeit der Nachricht, so lautete die Begründung, sei dem Blatt nicht bekannt gewesen, die Redaktion des Handelsteils habe aber »ein berechtigtes Interesse daran, auf Vorgänge und Verhältnisse innerhalb einer Charlottenburger Aktiengesellschaft hinzuweisen, falls diese Umstände für die Bewertung der Gesellschaft und ihrer Aktien von Erheblichkeit« seien. Unter Verweis auf das Urteil des Reichsgerichts vom 4. März 1904 erklärte das Landgericht den »Handelsteil einer Zeitung von der Bedeutung des Lokalanzeigers« kurzerhand als zur Fachpresse gehörig und dieser sei »die Befugnis einzuräumen, auf ihrem Gebiet aufklärend und belehrend einzugreifen.«169 Das Reichgericht seinerseits wollte sich dieser Argumentation allerdings nicht anschließen. Es bestehe keine »besondere Beziehung« zwischen Zeitung und Publikum, so wie es die Reichsgerichtsentscheidung von 1904 verlange. »Die politische Tageszeitung wendet sich an das Publikum als solches, nicht an einzelne Fachkreise, sie will dessen Interessen dienen und daher möglichst alle Gebiete berücksichtigen.« In besonderer Weise gelte dies für den Handelsteil, der bei der heutigen Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse »für sehr weite Leserkreise von der erheblichsten Bedeutung ist und nicht bloß die mit Handel und Verkehr beruflich befaßten Personen interessiert.« Dies habe zur Folge, dass »der Handelsteil der Tageszeitungen auch von vielen Personen gelesen wird, denen alle fachlichen Vorkenntnisse fehlen, was bei wirklichen Fachblättern nicht der Fall zu sein pflegt.«170 Das Urteil bedeutete einen herben Rückschlag für die Ambitionen der Handelspresse auf zivil- bzw. strafrechtliche Besserstellung. Ihrer vonseiten der Politik durchaus erwünschten Funktion als Kontrolleurin des Finanzsektors und Aufklärerin des Publikums waren so relativ enge Grenzen gesetzt.171 Auf dem Territorium der Börse gestalteten sich die rechtlichen Rahmen­ bedingungen bei der Ausübung der finanzjournalistischen Tätigkeit ebenso diffizil. Dabei empfanden Journalisten vor allem ihre Unterwerfung unter das Ehrengericht der Börse und somit unter eine berufsständische Juris­diktion 168 Reichsgericht, Entscheidungen, Bd. 83 [1914], S. 364. 169 Ebd., S. 362 f. 170 Entscheidung v. 11.12.1913, in: Ebd., S. 362–366. 171 Vgl. auch die kritische Besprechung des Urteils bei Mitzlack.

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der Bankiers und Kaufleute als problematisch, wenn nicht gar entwürdigend. Die Berliner Morgenpost sah es als »absurd« und »widersinnig« an, »Kaufleute als Richter über journalistische Standesehre zu qualifizieren«, besonders deshalb, »weil die Börsenpresse die Aufgabe der Kritik hat, und der Börsenvorstand der Vertreter der von der Presse Kritisierten ist.«172 Die Befürchtung mancher Journalisten, dass die Ermessensregelung bei der Vergabe oder Entziehung der Einlasskarten auch dazu benutzt werden würde, eine inhaltliche Zensur auszuüben oder eine Selbstzensur der Journalisten zu befördern, dürfte unter diesen Machtverhältnissen nicht abwegig erscheinen. Von einem »ängstlichen Abhängigkeitsverhältnis« der Pressevertreter zu den Börsenbetreibern und einer »Einengung der Berichterstattung«, sprach eine wissenschaftliche Untersuchung aus dem Jahr 1910.173 Tatsächlich machte das Börsenehrengericht die Presseberichterstattung des Öfteren zum Gegenstand seiner Verhandlungen, indem es Journalisten in der Abfassung ihrer Berichte Fahrlässigkeit vorwarf.174 Größeres Aufsehen erregte 1902 ein Prozess gegen den Handelsredakteur der Berliner Morgenpost, Georg Bernhard. Die Börsenvertreter der Dresdner Bank hatten Bernhard bei dem Ehrengericht der Börse beschuldigt, systematisch gehässige oder auf unrichtigen Tatsachen beruhende Artikel gegen das Bankinstitut veröffentlich zu haben.175 Im März 1902 sprach das aus Bankiers zusammengesetzte Ehrengericht der Börse Bernhard einer fahrlässigen Handlungsweise für schuldig und erteilte dem Journalisten einen Verweis; ein zweitinstanzlicher Prozess, den Bernhard anstrengte, bestätigte im Juni 1902 das Urteil der ersten Instanz. In dem Verfahren – dem ersten gegen einen prominenten Journalisten – traten anschaulich die Probleme und Interessenkollisionen zu Tage, die mit der Unterwerfung von Pressevertretern unter die Börsengerichtsbarkeit verknüpft waren. Denn unabhängig davon, wie man das Urteil gegen Bernhard bewertete, musste doch die Unbefangenheit derjenigen, die das Urteil sprachen, mehr als zweifelhaft erscheinen, wenn, wie Bernhard selbst in einem zornigen Aufsatz in der Zukunft schrieb, »Kaufleute über Zeitungsschreiber, die Kritisierten über den Kritiker zu Gericht sitzen.«176 Die Frankfurter Zeitung zog die Zuständigkeit des Ehrengerichts in dem vorliegenden Fall generell in Zweifel. So sehr die Zeitung auch die Auslassungen Bernhards gegen die Dresdner Bank verurteilte, »weil der Inhalt den Tatsachen nicht entsprach«, so konnte sie es nicht gutheißen, wenn das Ehrengericht der Börse »mit der Censur über Auslassungen der Presse« betraut werde. Das Börsengesetz habe die Zuständigkeit des Ehrengerichts auf Börsenbesucher begrenzt, deren Handlungen an der Börse ge172 Berliner Morgenpost, zit. n. ZV, Nr. 29, 21.7.1911, Sp. 646. 173 Scholten, S. 130. 174 Ebd. 175 Bernhard hatte in seinem Artikel in der Berliner Morgenpost, Nr. 304, 29.12.1901, Kapital­ kalamitäten bei der Dresdner Bank behauptet und dies auch nach einem Dementi des Bankinstituts aufrecht erhalten. 176 Die Zukunft, Bd. 39, 1902, S. 485.

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gen die kaufmännische Ehre verstießen. Auf Journalisten könne diese Regelung jedoch schwerlich angewandt werden. Gegen Falschmeldung habe der Benachteiligte die Waffe der Berichtigung177 sowie die Anrufung der Gerichte, strafrechtlich und zivilrechtlich. Werde jedoch gegen Veröffentlichungen der Presse über Bank- und Börsenkreise das Ehrengericht ins Feld geführt, so liege die Besorgnis nahe, dass das Urteil »allzu leicht einseitig ausfallen könne«. Allein diese Besorgnis müsse manches Blatt von jeder Auslassung abschrecken, die den oberen Börsenkreisen irgendwie missliebig sein könnte, ein Verhalten, das den öffentlichen Interessen nicht diene.178 Spätestens nach dem Urteil im bereits erwähnten Buchwald-Prozess dürften auch staatliche Entscheidungsträger die Stellung der Presse an der Börse als verbesserungswürdig angesehen haben. Als es im September 1908 zum Revisionsprozess kam, hob das zuständige Gericht, an dessen Spitze nun kein Bankier stand, sondern der Unterstaatssekretär im Reichsamt des Innern, Adolf Wermuth, das Urteil des Berliner Börsengerichts auf und sprach Buchwald seine Ehre wieder zu. »Bei dem überaus starken Einfluß, welchen das Börsengeschäft auf weite Kreise der Volkswirtschaft täglich ausübt«, begründete das Gericht seine Entscheidung, »ist die Presse ein ganz unentbehrliches Werkzeug zur Verbreitung der Kenntnis von den Vorgängen an der Börse […]«. Zur Ausübung dieser Funktion werde die Presse an der Börse »nicht bloß geduldet, sondern […] als berechtigtes Organ der Öffentlichkeit zugelassen.« Das Hausrecht der Börse stehe in Konkurrenz zum öffentlichen Interesse und dürfe nur dann zum Einsatz kommen, wenn Pressevertreter den Geschäftsgang der Börse störten.179 So sehr diese Formulierung auch der Presse zur Ehre gereichte, sie entsprach nur wenig der Realität des Börsenalltags, wie auch ein juristischer Kommentar zum Börsengesetz unumwunden bemerkte, solange das Ehrengericht in der gewohnten Art und Weise weiterbestand.180 Georg Bernhard hatte nach dem verlorenen Verfahren bemerkt, »ein aus Journalisten zusammengesetztes Ehrengericht hätte mich freigesprochen«.181 Es muss dahingestellt bleiben, ob diese Behauptung zugetroffen haben würde oder nicht, der Fall Buchwald hatte jedoch den staatlichen Börsenaufsehern deutlich gemacht, dass die Position von Journalisten bei ehrengerichtlichen Verfahren gestärkt werden musste, sollte das Berufsgericht nicht zur Farce herabsinken, ja, dass Pressevertreter an der Urteilsfindung selbst mit beteiligt werden mussten. »Der Urteilsspruch«, kommentierte Goldschmidt, »ist von allergrößter Wichtigkeit für den Börsenjournalisten und darüber hinaus für den Handelsjournalisten überhaupt«. Durch 177 § 11 des Reichspressegesetzes (1874) verpflichtete den verantwortlichen Redakteur zur unveränderten Aufnahme einer Berichtigung über Tatsachenmeldungen in der nächst­ erscheinenden Nummer. 178 Frankfurter Zeitung, Nr. 73, 14.3.1902. 179 Eine Abschrift der Urteilsbegründung liegt dem Bericht des Staatskommissars der Berliner Börse an den Handelsminister bei, 22.10.1908, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2 H.  180 Nußbaum, S. 42. 181 Die Zukunft, Bd. 39, 1902, S. 485.

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ihn werde zum ersten Mal anerkannt, dass »die Vorgänge an der Berliner Börse verbreitet werden müssen, und daß eine Interessenwirtschaft zum Schaden weiter Kreise der Volkswirtschaft dort nicht aufkommen darf«. Ob der Kaufmann an der Börse sich dadurch geschädigt fühle oder nicht, sei ganz gleichgültig. »Die ehrliche Börsenpresse arbeitet nicht für den einzelnen, sondern für die Gesamtheit.«182 Ein Erlass des preußischen Handelsministers vom 23. Dezember 1908 setzte den mit dem Revisionsurteil beschrittenen Weg fort. Von der Handelskammer und einzelnen Pressevertretern angeregt, verfügte Clemens von Delbrück, die – zunächst nur provisorische  – Einrichtung einer »Sachverständigen-Kommission für Presse-Angelegenheiten« an der Berliner Börse. Das kurz als »Presse­ ausschuss« titulierte Gremium bestand aus drei Sachverständigen und zwei Stellvertretern, die alljährlich vom Börsenvorstand für die Dauer von zwölf Monaten aus der Zahl der zum Börsenbesuch zugelassenen Journalisten gewählt wurden. Der Presseausschuss sollte vom Börsenvorstand, bevor dieser über Anträge auf Zulassung, Ausschluss oder Einleitung eines ehrengerichtlichen Verfahrens gegen Journalisten entschied, »gutachtlich« gehört werden.183 Nach einer eineinhalbjährigen Probezeit wurde die Einrichtung im Juli 1911 auf Dauer gestellt und in der Berliner Börsen-Ordnung verankert (§ 18a).184 Der Berliner Presseausschuss stellte ein singuläres Phänomen unter den deutschen Börsen dar. Er markierte das vorläufige Ergebnis eines jahrelangen Ringens der Börsenjournalisten um eine rechtliche Besserstellung, generell um eine unabhängigere Stellung an der wirtschaftlich potentesten und journalistisch meist frequentierten Börse in Deutschland. Gleichwohl sahen ihn schon zeitgenössische Beobachter nur als »einen ersten Schritt«, der Presse »eine ihrer Bedeutung und Würde entsprechende Behandlung an der Börse zuteilwerden zu lassen.«185 Andere mochten nicht einmal so weit gehen. Georg Bernhard, der »unbequeme Kritiker«, wie der Vorwärts ihn getauft hatte,186 hatte für den Presseausschuss nur Hohn und Spott übrig: »Fünf Herren […] erhalten ein Ehrenamt (später vielleicht noch ein Abzeichen), dürfen hin und wieder mit dem Börsenvorstand reden, und sonst bleibt alles beim alten.« Unmut erregte dabei vor allem, dass der Börsenvorstand selbst über die Zusammensetzung des 182 Berliner Tageblatt, Nr. 482, 21.9.1908 (Hvh. i. O.). 183 Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie, Bd. 1, 1909, S. 481. 184 Vgl. Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie, Bd. 1, 1911, S. 387. – § 18a lautet: »Der Börsenvorstand wählt alljährlich aus der Zahl der zum Besuch der Börse zugelassenen Berichterstatter einen aus drei Sachverständigen für Presseangelegenheiten und zwei Stellvertretern bestehenden Presse-Ausschuß. Der Presse-Ausschuß ist vor der Entscheidung über Anträge auf Zulassung zum Börsenbesuch als Berichterstatter der Presse, über die Zurücknahme einer solchen Zulassung sowie in einem nach § 18 gegen einen Berichterstatter eingeleiteten Verfahren gutachtlich zu hören.« Zit. n. ZV, Nr. 30, 28.7.1911, Sp. 662. 185 Scholten, S. 132. 186 Vgl. Vorwärts, 13.3.1902.

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Ausschusses bestimmte. Für Bernhard konnte das Gremium daher keinesfalls als Repräsentant der journalistischen Standesehre angesehen werden, zumal »im Pressezimmer an der Burgstraße verschiedenerlei Volk durcheinanderläuft, dessen Händedruck keine Ehrung bedeutet.«187 Ebenso gab die Berliner Morgenpost zu bedenken, dass es dem Börsenvorstand ein Leichtes wäre, »nur solche Herren zu wählen, die mit ihm durch dick und dünn gingen«.188 Es darf freilich nicht verwundern und war vom Gesichtspunkt einer funktionierenden Zusammenarbeit auch nur naheliegend, dass die Wahl der Börsenbetreiber gerade auf jene Journalisten fiel, denen sie Vertrauen entgegen brachten und die nicht durch Agitation gegen die Börse von sich Reden gemacht hatten. Dies bedeutete jedoch nicht, dass deshalb zwangsläufig rückgratlose »Hofberichterstatter« in den Ausschuss gelangten. Unter den Mitgliedern befanden sich Exponenten des finanzjournalistischen Feldes, Vertreter führender, mehrheitlich liberaler Qualitätszeitungen der Reichshauptstadt, die zum Teil selbst in journalistischen Berufsvereinigungen aktiv waren.189 Der Vorstoß des preußischen Handelsministers, 1908 von den Pressevertretern mehrheitlich begrüßt, musste 1911 allerdings, als er schließlich die Weihen der Aufnahme in die Berliner Börsen-Ordnung erhielt, bereits als unbefriedigende Lösung erscheinen. »Es ist bei der Langsamkeit behördlichen Entschließens und der schnellen Entwicklung der beruflichen Lebensformen nicht zu verwundern«, bemerkte die Berliner Morgenpost spitz, »daß diese Genehmigung in einem Zeitpunkt erfolgt, in dem diejenigen, für die sie gilt, die neuen Formen bereits als veraltet ansehen.«190 Der Verein Berliner Presse hatte daher in seiner Sitzung vom 17. Mai 1911 eine Resolution angenommen, die den Vereinsvorstand beauftragte, beim Handelsminister zu erwirken, dass »die journalistische Gutachterkommission an der Börse in Zukunft nicht lediglich auf Vorschlag einer kaufmännischen Korporation, sondern nach Anhörung von journalistischen Berufsvereinen ernannt wird.«191 Der Plutus ging noch weiter. Er forderte, dass der Presse-Ausschuss zumindest aus den Wahlen aller am Börsenbesuch teilnehmenden Journalisten hervorgehen sollte oder, was noch 187 Plutus, Nr. 29, 22.6.1911, S. 536. – Tatsächlich schienen auch bis in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg (und ohne dass der Börsenvorstand hier einschritt) Vertreter dubioser Finanzund Animierblätter im Status des Pressevertreters an der Börse zu verkehren, vgl. Jöhlinger, S. 150 f., der die Ansicht vertrat: »Eine Säuberung des Pressezimmers der Börse würde das Ansehen der Handelspresse ganz erheblich vermehren. Außerdem muss die ganze Stellung der Journalisten an der Börse geändert werden.« (ebd., S. 151). 188 Berliner Morgenpost, zit. n. ZV, Nr. 29, 21.7.1911, Sp. 646. 189 Dem Ausschuss gehörten 1911 folgende Personen an: Georg Schweitzer; Carl Samuel (Berli­ner Börsen-Zeitung); Arthur Norden (Berliner Tageblatt); als Stellvertreter: Ludwig Metzger (Berliner Lokal-Anzeiger) und Georg Münch (Vossische Zeitung). Vgl. Mitteilungen der Handelskammer zu Berlin, Jg. 9, 1911, S. 2. – Schweitzer und Münch waren überdies Mitglieder im »Verein Berliner Presse«. – Diese Zusammensetzung blieb bis zum Beginn der 1920er Jahre weitestgehend unverändert, vgl. Handelskammer, S. 22. 190 Berliner Morgenpost, zit. n. ZV, Nr. 29, 21.7.1911, Sp. 645. 191 Zit. n. Berliner Tageblatt, 18.5.1911.

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begrüßenswerter erscheinen musste, dass der Verein Berliner Presse oder der Reichsverband der Deutschen Presse Vorschläge für die zu wählenden Kandidaten mache.192 Keine dieser Forderungen sollte in die Tat umgesetzt werden. Die rechtliche, aber auch ideelle Stellung des Journalisten an der Börse blieb damit ein Feld fortwährender Reformbemühungen (auch weit über 1914 hinaus). Dass der Presse-Ausschuss schließlich, wie wir im Folgenden sehen werden, kaum dass er sich konstituiert hatte, schon in einen »Korruptionsskandal« verwickelt wurde, bedeutete zudem Wasser auf die Mühlen seiner Kritiker aus den eigenen Reihen der Journalisten. 2.2 »Es gilt jetzt als unehrenhaft, von Banken […] Vergütungen anzunehmen«: Standesbewusstsein, Sozialprestige und Distinktionsbestreben »Jedes Blatt aber muß wissen«, erklärte ein journalistischer Praktiker 1908, »daß an keiner Stelle die Ehre einer Zeitung leichter gefährdet ist, als in ihrem Handelsteil.«193 »Wer hier einmal strauchelt«, warnte ein anderer Zeitgenosse wenig später, »dessen Ehre ist für immer dahin«.194 Das Feld der Handelsund Börsenberichterstattung, so suggerierten diese Zitate, war ein regelrechtes Minenfeld. Stets konnte sich ein Blatt oder ein einzelner Journalist der Gefahr öffentlicher Korruptionsbeschuldigung ausgesetzt sehen, wahrte man die Unabhängigkeit von den Banken und Börsen nicht in dem Maße, wie es nun allgemein verlangt wurde. Nur »Charakterstarke, die ihren Hunger nach Gold bezwingen können«,195 schienen daher geeignet, um auf diesem Feld zu wirken. Die »Ehre der Finanzpresse« und ihre Promotoren Das vielfache öffentliche Sprechen und Räsonieren über eine finanzjournalistische Ehre zur Jahrhundertwende zeigt, dass man allmählich konturierte Vorstellungen über Normen und Verhaltensregeln zu gewinnen begann. Diese hatten sich in den Jahren davor gewandelt, waren schärfer und präziser gefasst worden, und journalistische Akteure drängten nun öffentlichkeitswirksam und nachdrücklich auf deren Einhaltung. Ein Vorfall aus dem Jahr 1911, den viele Journalisten als nicht weniger denn skandalös empfanden, verdeutlicht dies. Anfang Mai hatte sich der »Schriftsteller« Georg Geissel vor der 10. Strafkammer des Landgerichts I, Berlin, zu verantworten. Ihm wurde zur Last gelegt, Johannes Kaempf, den Präsidenten der Ältesten der Kaufmannschaft und liberalen Reichstagsabgeordneten, erpresst zu haben. Geissel war in den Besitz eines Zettels aus dem Jahr 1886 gelangt, der die Handschrift Kaempfs trug. Auf dem Schriftstück hatte Kaempf in seiner damaligen Eigenschaft als Direktor der Ber192 Plutus, Nr. 24, 14.6.1913. 193 Brunhuber, Deutsches Zeitungswesen, S. 105. 194 Stoklossa, S. 275. 195 Scholten, S. 99.

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liner Niederlassung der Darmstädter Bank die Namen mehrerer Börsenredakteure notiert und hinter jedem Namen eine Summe angefügt. Für Geissel schien die Sache klar: Die Zahlen stellten »Gratifikationen« dar, welche die Bank den betreffenden Personen gezahlt hatte, um die Emission einer Anleihe beim Publikum durch günstige Berichte vorzubereiten. Vor Gericht bestätigte Kaempf zwar, dass es sich bei der Notiz um eine Kalkulation im Zusammenhang mit der 1886 emittierten Lissabonner Stadtanleihe handele, doch bezögen sich die Zahlen hinter den Namen auf Honorare, welche sich die entsprechenden Redakteure für »bestimmte literarische Arbeiten […] ganz regulär verdient« hätten. »Vor 25 Jahren lagen die Dinge noch anders wie jetzt; damals wurden für Dienste, welche bei solchen Emissionen von Personen geleistet wurden, Honorare bezahlt«, doch müsse er, so Kaempf, seine Bank entschieden dagegen verwahren, dass sie jemals »unwahre Anpreisungen« in der Öffentlichkeit verbreitet und in diesem Sinne etwa Bestechungsgelder gezahlt habe; mittlerweile verbiete sogar das Börsengesetz, dass solche Leistungen »in einem auffälligen Mißverhältnis zu den gezahlten Honoraren« stehen dürften.196 Der weitere Verlauf des Prozesses – er endete mit einer Verurteilung des Angeklagten zu zwei Jahren Gefängnis – ist hier nicht weiter von Interesse. Von Bedeutung sind die Reaktionen der Presse auf die Aussagen Kaempfs. Denn diese deutete die Äußerungen des Bankdirektors dahingehend, dass »auch heute noch, wenn auch in vorsichtiger Form« Honorare von Finanzinstituten an Journalisten flössen.197 Die Kreuzzeitung glaubte stellvertretend für ihren Berufsstand sprechen zu können, wenn sie sagte, die gesamte Presse erblicke »in solchen Honoraren nichts andres als schimpfliche Bestechung, ganz einerlei, ob der Empfänger für das ›Honorar‹ gewisse ›literarische Arbeiten‹ für die bestechende Bank liefert oder nicht.«198 Die vielleicht unbedachte oder unvorsichtig dahin gesprochene Äußerung Kaempfs beleidigte das Ehrgefühl der Presse­vertreter zutiefst. Die anständige Presse, so die Kreuzzeitung, dürfe sich nicht »vor Gericht als Empfängerin von Bankhonoraren an den Pranger stellen lassen.«199 Es könne aber nach Kaempfs Worten so scheinen, bemerkte auch der Plutus, »als ob die Angehörigen der Presse selbst in den Honoraren, die Handelsredakteure für Arbeiten, die sie an Banken liefern, an und für sich nichts schimpfliches sähen. Gerade das Gegenteil ist aber der Fall. Es gilt in allen anständigen Journalistenkreisen für unanständig und als gegen die Berufsehre verstossend, dass ein Handelsredakteur für eine Bank überhaupt sogenannte schriftliche Arbeiten gegen Bezahlung liefert. Jede Bank hat heutzutage (und anders war das vor 25 Jahren auch kaum) auf jedem Gebiet eine ganze Reihe von Spezialisten unter ihren eigenen Angestellten, sodass von vornherein, wenn nicht irgend ein ganz besonderer Fall vorliegt, jede sogenannte

196 ZV, Nr. 19, 12.5.1911, Sp. 402. 197 Kreuzzeitung, zit. n. ZV, Nr. 19, 12.5.1911, Sp. 402. 198 Ebd. 199 Ebd., Sp. 403.

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›literarische Arbeit‹ eines Handelsredakteurs als eine Kulisse, hinter der Schmiergelder gegeben werden sollten, angesehen werden muss.«200

Ungeachtet ihrer politischen Ausrichtung verwahrten sich Tages- und Finanzzeitungen vehement gegen die Behauptung über etwaige Honorarzahlungen von Banken an Redakteure. Dabei ging es nicht darum, wie etwa in den frühen 1890er Jahren, die moralische Integrität der eigenen Redaktion zu betonen und gleichzeitig die Redakteure politisch anders ausgerichteter Zeitungen herabzusetzen. Aus dem Bewusstsein, Mitglied eines Berufsstandes zu sein, entwickelte sich über politische Lagergrenzen hinweg ein Zusammengehörigkeitsgefühl aller im Finanzsegment tätigen Journalisten, das sie für einen allgemein verbindlichen Ehrenkodex eintreten ließ, das aber auch so weit ging, sich bei gerichtlichen Verfahren einander verbunden zu fühlen. Georg Schweitzer, der als Zeuge im oben bereits erwähnten Prozess gegen Georg Bernhard auftrat, nahm seinen Berufskollegen in Schutz, wenn er versicherte, dass dieser »journalistische Pflichten nicht verletzt« habe sowie »wissentlich gewiss nicht die Unwahrheit gesagt habe und bei seinen Artikeln gegen die Dresdner Bank persönliche Motive sicher ausgeschlossen seien.«201 Wer Teil der »anständigen Presse« sein wollte, die sich über eine Berufsethik und nicht über eine politische Gesinnung definierte, wer als Akteur des finanzjournalistischen Feldes anerkannt werden wollte – dies wurde zur Jahrhundertwende immer deutlicher –, der hatte sich den dort herrschenden, von Vereinen öffentlichkeitswirksam verbreiteten Auffassungen von Anstand und Ehre anzupassen. Bereits am 17. Mai 1911, also wenige Tage nach Bekanntwerden der kontroversen Aussagen Kaempfs, verabschiedete der Verein Berliner Presse einstimmig eine Resolution »betreffend die Berufspflichten der Redakteure gegenüber Finanzinstituten«, in der eine strengere Ethik, als sie durch das Strafrecht vorgegeben war, formulierte wurde. Mit Blick auf die Bestimmungen des Börsengesetztes (§ 76), hieß es darin, wonach »finanzpolitische Arbeiten von Redakteuren für interessierte Banken und Finanzunternehmungen nur strafbar sind, wenn das Honorar in auffälligem Missverhältnis zur Leistung steht, […] erklärt der Verein der Berliner Presse es grundsätzlich für unvereinbar mit den Anstandspflichten eines Redakteurs, dass er eine Tätigkeit dieser Art gegen Entgelt in irgend­welcher Form überhaupt ausübt.«202 Der Resolution schloss sich wenig später der Reichsverband der Deutschen Presse an, die damals größte Journalistenvereinigung auf deutschem Boden.203 Und ähnlich erklärte auch der VdZV auf seiner Hauptversammlung in Berlin: Handelsredakteure verstießen gegen die »Standesehre der 200 Plutus, Nr. 18, 6.5.1911, S. 340. 201 Vorwärts, 13.3.1902. 202 Berliner Tageblatt, 18.5.1911. 203 Vgl. ZV, Nr. 26, 30.6.1911, Sp. 583. – Der Verein war 1910 durch Zusammenschluss aus dem »Verein Deutscher Journalisten- und Schriftstellervereine«, dem »Verein deutscher Redakteure« und dem »Bund deutscher Redakteure« hervorgegangen, vgl. Brückmann, S. 127 ff.

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Presse«, wenn sie sich »unter dem Vorwand eines Honorars von den Banken, deren Emissionen sie zu kritisieren haben, kleine oder große Beiträge bezahlen lassen«.204 Obwohl sich in den zurückliegenden Jahrzehnten, ja, seit dem Gründerkrach, wie wir sahen, bestimmte Vorstellungen dessen herausgebildet hatten, was eine »anständige Presse« sei, überdauerten doch zugleich bis nach 1900 gewisse Praktiken innerhalb einer ethischen Grauzone. Ihnen jedoch entzog der Erpressungsprozess vom Mai 1911 endgültig den Boden. Er veranlasste die Akteure des finanzjournalistischen Feldes – Einzelpersonen und Organisationen gleichermaßen  – zu einer schriftlichen Fixierung unmissverständlicher Normen, die bereits durch die Autorität der sie formulierenden Institutionen – Vereine und Verbände – verbindlicheren Charakter erhielten, als dies zu früheren Zeiten der Fall gewesen war. »Wer als Handels- oder Börsenredakteur über finanzielle Dinge unbefangen urteilen und kritisieren will, hat in erster Linie die Pflicht, sich von jeder eigenen Beteiligung fernzuhalten«, formulierte die­ Kölnische Zeitung eine Handlungsmaxime.205 Auch der Staatskommissar an der Berliner Börse meinte einen Wandel im finanzjournalistischen Ethos beobachten zu können, wenn er in einem Bericht an das Handelsministerium notierte: »In den Kreisen der Börsenjournalisten gilt es jetzt für unehrenhaft, von Banken oder anderen Mitgliedern der Börse irgendwelche Vergütungen, gleichviel in welcher Form und wofür anzunehmen. Auch eine spekulative Beteiligung an Emissionen sowie die Teilnahme am Börsenspiel werden als unzulässig angesehen«.206 Der Erpressungsprozess um einen Zettel aus längst vergangenen Tagen hatte der finanzjournalistischen Professionalisierung damit, quasi als unerwarteter Nebeneffekt, einen weiteren, vor 1914 letzten wichtigen Schub verliehen. Der Weg dorthin war schon seit Längerem vorbereitet worden. Bereits seit der Jahrhundertwende hatten Journalisten in unterschiedlichen Medien und Foren damit begonnen, Grundsätze einer spezifisch finanzjournalistischen Berufsehre auszuformulieren. Als Protagonisten figurierten dabei vor allem Vertreter einer jüngeren, um 1875 geborenen Journalistengeneration. Sie waren, wie etwa Georg Bernhard (*1875) und Alfons Goldschmidt (*1879), Leon Jolles (*1874), Bruno Buchwald (*1877) und Robert Brunhuber (*1878) um die Jahrhundertwende, meist direkt nach Abschluss einer Lehre oder eines Hochschulstudiums, in den Journalismus eingetreten, waren in Berufsverbänden organisiert und engagiert und bekleideten in den darauffolgenden Jahren häufig leitende Redaktionsposten bei größeren Tageszeitungen. Gemeinsam war ihnen das beharrliche, leidenschaftliche Eintreten für einen ethisch streng eingebetteten Finanzjournalismus sowohl um seiner eigenen Professionalisierung als auch um 204 Sitzung vom 20. Juni 1911, vgl. ZV, Nr. 30, 28.7.1911, Sp. 663. 205 Kölnische Zeitung, zit. n. ZV, Nr. 30, 28.7.1911, Sp. 664. 206 Zweiter Staatskommissar an Handelsministerium, 14.9.1911, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 29 adh., Bd. 2.

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seiner öffentlichen Reputation willen. »Die Finanzpresse ist eine Macht«, stellte Goldschmidt 1908 kategorisch fest – und daran schien kein Zweifel. Allerdings, so fügte er einschränkend hinzu, sei diese Macht in eine schädliche und eine nützliche zu teilen. »Sie wird erst dann eine wirklich nützliche Macht sein, wenn sie die faulen Elemente aus ihrem Bereich ausschaltet. Sie muß sich eine allgemeine für jeden ihrer Vertreter geltende hohe Ehre bilden. Dann wird sie ein nicht zu erschütterndes Ansehen gewinnen.«207 Mehr als die Handelsteile der Tagespresse, die dafür eher ungeeignet waren, fungierten kulturpolitische Zeitschriften wie Hardens Zukunft oder der linksliberale März, eine der erfolgreichsten Kulturzeitschriften des späten wilhelminischen Kaiserreichs, ebenso aber auch Verbandszeitschriften wie der ZeitungsVerlag als Diskussionsforen, in denen Fragen einer finanzjournalistischen Berufsehre und vermeintliche Verstöße gegen sie immer wieder zur Sprache gebracht wurden.208 Für die Aushandlung und Durchsetzung berufsethischer Normen  – ein Prozess, der keinesfalls konfliktfrei verlief  – waren derartige Medien von eminenter Bedeutung: Sie ermöglichten ein Räsonieren und Kritisieren innerhalb berufsständischer oder intellektueller Teilöffentlichkeiten, in einem Maße und Umfang, wie dies vor 1900 nicht der Fall gewesen war.209 Eine ganz und gar außergewöhnliche Stellung unter diesen Medien nahm der 1904 von Georg Bernhard gegründete Plutus ein, der sich im Untertitel als »kritische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Finanzwesen« bezeichnete. Er war einerseits eine Fachzeitschrift für Börsen, Banken- und Anlegerkreise, unterzog diese jedoch andererseits einer unausgesetzten, fachlich wie sachlich begründeten Kritik und war ob seiner Schonungslosigkeit und Informiertheit in der Finanzwelt geachtet und gefürchtet zugleich. Ein »eigenartiges Finanzblatt, welches mit viel Pfeffer und Salz« arbeite, schrieb etwa Eugen Schmalenbach. Zu Unrecht, betonte der Kölner Handelsprofessor, werde der Plutus in den »wohlanständigen Finanzkreisen« ungünstig beurteilt. Zweifelsohne sei Bernhard »einer von den Leuten […], die kein größeres Bedürfnis haben als zum Publikum zu sprechen. Diesem Bedürfnis gehen sie nach, müssen sie nachgehen, und es ist 207 Berliner Tageblatt, Nr. 482, 21.9.1908. 208 Vgl. Schmalenbach, S. 280. – Goldschmidt war seit 1900 Mitarbeiter beim Zeitungs-­Verlag und nutzte das Organ, um entsprechende Artikel zu publizieren. Nach seinem Ausscheiden veröffentlichte er im »März«. Bernhard, dessen Talent Harden schon früh erkannte, schrieb von Februar 1901 bis September 1903 unter seinem Pseudonym »Plutus« Artikel für die »Zukunft«, bevor er sich mit der Gründung einer Finanzzeitung eine geeignete Plattform schuf, vgl. Mikuteit. – (Stöber, Pressegeschichte, S. 197, vermutet irrtümlich Bernhard hinter den mit »Pluto« gekennzeichneten Beiträgen in der »Zukunft«, hierbei handelt sich jedoch um Salomon von Halle). Die Rolle des Finanzkritikers der »Zukunft« nahm später Leon Jolles ein, der unter den Pseudonymen »Ladon« und »Dis« veröffentlichte. – Bruno Buchwald setzte sich mit der Rolle der Presse an der Börse immer wieder im »Morgen« auseinander, einer 1907 von Werner Sombart, Richard Strauss und Georg Brandes gegründeten Kulturzeitschrift. 209 Vgl. hierzu die theoretischen Reflexionen zur Herausbildung normativer Ordnungen von Forst u. Günther.

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gut, daß sie es tun.«210 Bernhard, der über beste Kontakte in Finanz- und Industriellenkreise verfügte, zugleich aber auf »Unabhängigkeit von allen Finanzcliquen«211 pochte, gewann schnell einen Stab fähiger, wie er selbst linksliberal oder sozialdemokratisch gesinnter Mitarbeiter, engagierte Goldschmidt als Nebenredakteur, Buchwald 1908 als leitenden Redakteur, auf den 1910 der spätere Wirtschaftsredakteur des Berliner Tageblatts Hermann Zickert (1885–1954) und 1913/14 Hans Goslar folgten, der kurz vor Kriegsende 1945 im KZ BergenBelsen starb.212 Es lohnt sich, an dieser Stelle näher auf Goldschmidt einzugehen. Sein Name ist in den Debatten jener Zeit, die um das journalistische Berufsethos kreisen, omnipräsent. Immer mischte er sich ein, unbequem und hyperkritisch, sobald auch nur irgendwo der leiseste Verdacht unsauberer Praktiken aufkam. Dass es mit den Zuständen im Finanzjournalismus schon im Großen und Ganzen zum Guten stehe, dass die »Maschine, welche das Bindeglied zwischen Börse und Privatpublikum darstellt, im ganzen befriedigend funktioniert«, wie Ernst Busch, der Besitzer des Berliner Actionairs, 1913 im Zeitungs-Verlag optimistisch urteilte, dass die Handelspresse  – »unwiderleglicher Beweis für die Gesundheit ihres Organismus« – zu einer Macht neben den Banken emporgewachsen war, wie Leon Jolles 1911 in der Zukunft feststellen zu können glaubte –213 für all diese Tendenzen sah Goldschmidt keine Anzeichen. Im Gegenteil: Überall witterte er Bestechung, Korruption, den langen Arm der Bankinstitute, der bis in die Verlage und Redaktionsstuben hineinzureichen schien. Goldschmidt eckte bald schon an. Anfang 1911 wurde ihm vom Ullstein-Konzern als Handelsredakteur gekündigt. Er hatte dem Chef der Deutschen Bank in einem Interview eine persönliche Beleidigung zugefügt und sich später hartnäckig geweigert, diese zu widerrufen.214 Doch mit Ullstein schien Goldschmidt zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon gebrochen zu haben, gebe man dort doch dem inserierenden Bankier Vorzug gegenüber der kritischen Stimme des Redakteurs.215 Kaum entlassen veröffentlichte Goldschmidt im März einen Brandartikel, der ob seiner Drastik tiefste Verstimmung unter seinen Berufskollegen hervorrief. Der Kampf tüchtiger, ehrlicher Männer gegen die Korruption in der Handelspresse sei vergebens gewesen, hieß es darin düster. »Das stärkste Purgativ hat nicht gewirkt. Die Schmarotzer haben sich weiter an der öffentlichen Meinung gemästet. Heute ist es schon ein System, wohldurchdacht, aber gerade darum widerwärtiger als je zuvor.« Goldschmidts verbale Attacke richtete sich gegen die führenden Berliner Finanzinstitute. Die Frechheit, mit der 210 Schmalenbach, S. 280 f. 211 Plutus, 8.4.1911. 212 Vgl. Mikuteit, S. 220–252. 213 Die Zukunft, Bd. 75, 1911, S. 260. – Jolles leugnete indessen keineswegs, dass es noch korrupte Praktiken gebe: »[H]onoriert […] wird nach wie vor; nur der Tarif hat sich geändert« (S. 259). 214 ZV, Nr. 23, 9.6.1911, Sp. 486. 215 Vgl. Mikuteit, S. 159.

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einige Großbanken diese Korruption betrieben, sei fast so groß wie die Niedertracht der Verleger, welche sich unter die finanzielle Zuchtrute beugten. »Zeigt der Redakteur Gesinnungsmut, so fliegt er, wird er schwach, so diskreditiert er nicht nur sich, sondern den ganzen Stand. Und Gesinnungsmut zeigen leider nur wenige. Die meisten lassen alles über sich ergehen, kommen an den Börsentisch der Bank gekrochen, lächeln, wenn sie von irgendeinem Prozentjongleur angeschnauzt werden, und versprechen demütig Besserung.«216 Die Besprechung »dieses traurigen Pressekapitels« sei eine ernste und dringende Pflicht, mahnte Goldschmidt. Es sei vielleicht das wichtigste Thema, das selbstbewusste Finanzzeitungen augenblicklich behandeln müssten. »Die deutsche Handelspresse muß allgemein die Tapferkeit haben, frei-kritisch zu werden. Dann möchte ich die Großbank sehen, die es noch wagte, ihren Korrup­ tionskuli zu schicken«.217 Goldschmidt hatte sich mit seinem Generalangriff auf Journalisten und Verleger (von den Banken ganz zu schweigen) sehr weit, vielleicht zu weit vorgewagt, ja, das ganze Pressegewerbe kompromittiert, das seinerseits nicht bereit war, dies stillschweigend hinzunehmen. Für seine Behauptungen sollte Goldschmidt, so forderten seine Berufskollegen, Beweise vorbringen, und so berief der Verein Berliner Presse für den 31. Mai 1911 eine Versammlung ein, auf deren Tagesordnung man die »Integrität der Handelsjournalistik« setzte. Wer nun allerdings eine Klärung der Angelegenheit erwartet hatte, wurde enttäuscht. Die Sitzung geriet zur Farce. Goldschmidt wetterte erneut gegen die Ullstein- und Scherl-Presse, die, weil von den Krediten der Großbanken abhängig, ihre Handelsredakteure anwiese, die Geschäftsvorgänge in den großen Bankinstituten schonend zu behandeln, und ließ sich zudem noch dazu hinreißen, den ebenfalls anwesenden Leon Jolles als einen unfreien Journalisten zu diffamieren. Am Ende der Versammlung war man keinen Schritt weiter und keinen Deut klüger als zuvor, der Vorsitzende vertagte die Angelegenheit »ad calendas graecas«, wie der anwesende Ernst Busch spottete; Goldschmidt hatte mit seinem »gehässige[n] Vorgehen« zumindest auf Verbandsebene nichts erwirkt.218 Der journalistische Berufsstand, dies verdeutlich der Vorfall, war in der Frage nach einer für alle seine Mitglieder gültigen Berufsehre gespaltener, als dies zunächst den Anschein haben mochte. Wo die Grenzen zwischen einem ethischen und einem unethischen Verhalten genau verliefen, war keine Sache, über die objektiv entschieden werden konnte. So gab es auf der einen Seite eher pragmatisch Veranlagte oder, um einen Begriff Max Webers zu gebrauchen, Verantwortungsethiker, denen um eines funktionierenden Finanzjournalismus willen an einem guten Verhältnis zur Verlagsseite, aber auch zur Bankenwelt gelegen war, und auf der anderen Seite jene Gesinnungsethiker wie Goldschmidt 216 März, 14.3.1911, S. 502. 217 Ebd., S. 503. 218 ZV, Nr. 23, 9.6.1911, Sp. 486 f., und ZV, Nr. 16, 19.4.1912, Sp. 337 f.

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oder Bernhard, die ein Maximum an Wertvorstellungen als verbindlich durchzusetzen bestrebt waren.219 Gleichwohl war nicht mehr zu übersehen, dass sich auf dem finanzjournalistischen Feld eine neue normative Ordnung, ein »strenger Sittenkodex« (Ernst Busch),220 herauszubilden begann, deren Grundsätze doch unter den meisten Journalisten konsensfähig waren. Dieser Kodex beruhte auf der Erkenntnis, dass Finanzjournalismus und Finanzökonomie, wenn auch vereint in ihrem Aktionsbereich – der Welt der Finanzen –, zwei grundlegend verschiedene Systeme darstellten. Der Handelsteil der Zeitung sei »kein Organ des Handels«, der immer mit den Kaufleuten »durch dick und dünn« gehe, bemerkte der Handelsredakteur Otto Jöhlinger, indem er mit der grammatischen Doppeldeutigkeit des Begriffs (als genitivus subiectivus und genitivus obiectivus) kokettierte. Für Jöhlinger musste der Handelsteil den Handel vielmehr von einer »höheren Warte aus ansehen und kritisieren«, der Handelsredakteur sich daher nicht als »ein Kuli der Börse oder Angestellter der Kaufleute« betrachten, sondern lediglich eins sein: ein Volkswirt.221 Journalisten, die sich dem Finanzgeschehen widmeten, sollten somit die Rolle eines objektiven Analysten einnehmen, und sie konnten, diesem Auftrag gemäß, nicht die Partikularinteressen der Börse oder einzelner Börsengruppierungen vertreten, sondern hatten sich in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. »Der moderne Handelsjournalist«, erklärte Wilhelm Vogel 1914 – und hier nun taucht das Attribut »modern« positiv besetzt auf im Unterschied zur pejorativen Konnotation, die ihm noch zwanzig Jahre zuvor Salomon von Halle zugewiesen hatte – »betrachtet seinen Beruf als ein ›munus publicum‹«, als ein öffentliches Amt, »das ihn zu strenger Neutralität verpflichtet.«222 Neutralität war jedoch nicht zu verwechseln mit Meinungsund Kritiklosigkeit. Im Gegenteil sei eine kritische Berichterstattung gerade die Hauptaufgabe der Handelspresse, wie der Verfasser einer zeitungswissenschaftlichen Untersuchung 1910 betonte.223 Hinfällig sei die Ansicht, dass »besonders für den Laien eine kritiklose, nur die Nachrichten registrierende Handelszeitung das beste sei, da sie am allerwenigsten seine Meinung und freie Urteilskraft nach irgendwelcher Richtung beeinflusse«. Gerade bei solchen »referierenden Handelszeitungen« bestünde die größte Gefahr darin, dass der Leser durch unverändert abgedrucktes Material, das den Zeitungen überwiegend aus Unternehmerkreisen zuginge, einseitig beeinflusst werde.224 »Die Zeit des gedankenlosen Abdrucks der ›Waschzettel‹ der Banken und Industriegesellschaften ist nun endgültig vorbei«, formulierte es Ernst Busch 1913 entschieden programmatisch.225 219 Vgl. zur Anwendung der beiden Typen auf den Journalismus Kepplinger, S. 177–203. 220 ZV, Nr. 24, 13.6.1913, Sp. 475. 221 Jöhlinger, S. 153. 222 Vogel, Handelsteil, S. 6 f. – Scholten, S. 96, schreibt, stets müsse ihm »das Wohl der Allgemeinheit vor Augen schweben«. 223 Scholten, S. 95. 224 Ebd., S. 94 f. 225 ZV, Nr. 24, 13.6.1913, Sp. 476.

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Hatten sich aus Sicht der journalistischen Akteure die Funktionslogiken und Interessen beider Systeme  – des journalistischen und des wirtschaftlichen  – voneinander entkoppelt, so folgte daraus zwangsläufig, dass ebenso die Normvorstellungen auseinanderdrifteten, dass das, was Akteure des einen Systems als moralisch vertretbar erachteten, weil seiner Logik gehorchend und seinen Interessen dienend, von Akteuren des anderen Systems nicht mehr akzeptiert werden konnte. In seinem Urteilsspruch im Fall Buchwald hatte das Berufungsgericht genau auf diesen Punkt aufmerksam gemacht: Wenn der Vertreter einer Zeitung bestrebt sei, »ohne Anwendung unlauterer Mittel von den preisbildenden Vorgängen an der Börse soviel wie möglich sich zu eigen zu machen und weiterzuverbreiten, so kann man ihm nicht eine Verletzung der Ehre bloß um deswillen zur Last legen, weil er durch seine Handlungsweise mit dem an sich gleichfalls berechtigten Bestreben der Kaufmannschaft, den Entwicklungsgang an der einzelnen Börse solange als möglich für ihren unmittelbaren Geschäftsbetrieb in der Hand zu behalten und zu verwerten, in Konflikt gerät […]«.226 Goldschmidt sprach folglich von den »Ehren« der Berliner Börse,227 benutzte den Begriff also im Plural, um die divergierenden Normvorstellungen beider Gruppen zum Ausdruck zu bringen (»zwei ganz heterogene Dinge«), oder, wie es Otto Jöhlinger, formulierte: »[D]er Ehrenbegriff der Börse [ist] von dem Ehrenbegriff des Journalisten grundverschieden«,228 ein Umstand, den das Ehren­ gericht der Börse mit seiner Allzuständigkeit für Börsenhändler und Journalisten zugleich ignorierte. Bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs hatten sich damit verschiedene Bestandteile einer journalistischen, insbesondere aber finanzjournalistischen Berufsehre herausgebildet: Sie forderte eine vom Verlag und jeglichen Interessengruppen unabhängige Berichterstattung, verpflichtete den Börsen- und Handelsjournalisten zu Neutralität, Objektivität und Kritik im Auftrag der Allgemeinheit und lehnte Interessenverquickungen durch Honorararbeiten für die Bankenwelt, private Beteiligungen am Börsenhandel oder Nebentätigkeiten etwa in der Funktion eines Kommissionärs kategorisch ab.229 Freilich muss unterschieden werden zwischen der Anerkennung und Statuierung einer bestimmten Berufsehre einerseits und ihrer Umsetzung, dem Gelebt-Werden der aus ihr entspringenden Normen in der beruflichen Alltagspraxis andererseits. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass mit den Debatten um eine Berufsehre oder den Resolutionen, die zu ihrer Förderung verabschiedet wurden, eine ethische Absicherung des gesamten finanzjournalistischen Feld bereits verwirklicht worden war. Je größer der Integrations- und Identifikationsgrad des Akteurs 226 Vgl. die Abschrift der Urteilsbegründung als Anhang zum Bericht des Staatskommissars der Berliner Börse an den Handelsminister, 22.10.1908, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 2 H (Hvh. i. O.). 227 Vgl. Berliner Tageblatt, Nr. 482, 21.9.1908. 228 Jöhlinger, S. 151. 229 Vgl. Scholten, S. 104–107.

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mit seinem Berufsstand, der sich in der Mitgliedschaft in einer Berufsvereinigung ebenso dokumentieren konnte wie in der hauptberuflichen Zugehörigkeit zur Handelsredaktion einer Tageszeitung, desto sicherer ist jedoch von einem ethisch reflektierten Berufshandeln auszugehen. Die Vertreter kleinerer Spezialzeitschriften schienen in dieser Hinsicht hinter den Journalisten der Tages­ presse zurückzubleiben (sieht man einmal vom Plutus ab, der ganz auf die Ausnahmeerscheinung Georg Bernhards zugeschnitten war). So konnte Georg Schweitzer noch 1930 feststellen, die Redakteure von Finanzfachzeitschriften ständen »in ihrer Berufsauffassung oft dem allgemeinen Journalismus fern« und bildeten »eine Gruppe für sich«.230 Schließlich aber waren auch die Mittel begrenzt, um das finanzjournalistische Feld von den »faulen Elementen« zu reinigen, wie Goldschmidt sich mit Blick auf jene Akteure ausdrückte, die sich den ethischen Standards verweigerten. Als offener, nicht zugangsbeschränkter Beruf war ein Ausschluss von Personen aus dem Journalismus nicht möglich, und so blieben soziale Kontrolle und sozialer Druck bis hin zur öffentlichen Bloßstellung die einzigen Mittel. Diese schienen auch häufig zur Anwendung gekommen zu sein. »Es findet eine recht schwere gegenseitige Kontrolle statt«, beobachtete der Börsen-Staatskommissar, »und der Journalist, der gegen den sich immer fester einbürgernden Ehrbegriff sich verschließe, hätte zu gewärtigen, bald in anderen Zeitungen deutliche Hinweise auf sein Verhalten zu finden.«231 Wer nicht dazu gehört: Moralische Exklusion Der Prozess um den besagten Zettel aus dem Jahr 1886 sollte noch ein Nachspiel haben, das die zitierte Einschätzung des Börsen-Staatskommissars hinsichtlich der gegenseitigen Kontrolle der journalistischen Akteure eindrücklich bestätigt. Denn auf dem Schriftstück fand sich unter den Namen längst vergessener Redakteure auch jener eine, der aufhorchen ließ. Ein Handelsredakteur, der noch im aktiven Dienst stehe, nun sogar als Chefredakteur, und der dazu noch als Mitglied des Presseausschusses der Börse fungiere, sollte darauf als Empfänger eines Honorars in Höhe von 1000 M. verzeichnet sein. Hinter vorgehaltener Hand tuschelte man bereits über den Mann, doch noch gab keine Zeitung seinen Namen öffentlich preis, noch wartete man ab und blickte gespannt auf den Presseausschuss, ob dieser den ersten Schritt tue und sich von seinem Mitglied trennte. Erst nachdem einige Wochen verstrichen waren, in denen die Sachverständigen-Kommission der Presse keinerlei Reaktion gezeigt hatte, machte der Plutus den Namen am 22. Juli 1911 publik. Es handelte sich um Carl Samuel, der seit den 1870er Jahren verantwortlicher Redakteur des Handelsteils der Berliner Börsen-Zeitung war und seit 1900 deren Chefredakteur. »Die Publikation seiner Jugendsünde« erfolge nicht aus Sensationslust, rechtfertigte die Zeitschrift ihren Schritt. »Wenn auch die Presskommission an der Börse nicht 230 Schweitzer, Presse, S. 99. 231 Zweiter Staatskommissar an Handelsministerium, 14.9.1911, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 29, Bd. 2.

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viel mehr als eine Farce vorstellt, so ist doch strengstens darauf zu halten, dass in ihr nicht Männer die ehrengerichtlichen Funktionen ausüben, die eine solche Vergangenheit haben, mögen sich ihre Ansichten seither noch so gründlich geändert haben.«232 Verlangte die Offenlegung dieser peinlichen Angelegenheit für sich genommen schon, dass der Presse-Ausschuss sich gegenüber seinem Berufs­stand erklärte und Konsequenzen zog, so führte das weitere unglückliche Agieren Samuels endgültig dazu, dass die Affäre sich zu einem regelrechten Eklat ausweitete. Denn dieser gab bereits einen Tag später in der Berliner ­Börsen-Zeitung eine Erklärung ab, in der es nicht nur gänzlich an Einsicht in eigene, einstige Verfehlungen fehlte, sondern die auch erkennen ließ, dass Samuel nach wie vor keinerlei Bedenken dabei hatte, Arbeiten gegen Honorar an Banken zu liefern. Habe eine solche Tätigkeit bereits vor dem Börsen­gesetz »absolut nicht als tadelnswert« gegolten, schrieb Samuel, so könne dies auch heute noch genauso beurteilt werden, »wenn der betreffende Redakteur im Hinblick auf den erstrebten Gewinn nicht bewußt irreführende Darstellungen in seine Zeitung« bringe. Samuels Erklärung gipfelte in dem freimütigen wie provokanten Bekenntnis, dass »ich mich jederzeit für berechtigt halte, bei Emissionen, die ich als aussichtsreich betrachte und als solche dem Publikum empfehle, auch meinerseits mich zu beteiligen und mein Geld zu verlieren, falls die Emission nicht den erwarteten Erfolg hat.«233 Der Chefredakteur der Berliner Börsen-Zeitung sah sich nach diesen Äußerungen dem schärfsten Widerspruch seiner Berufskollegen ausgesetzt. Samuel vertrete Anschauungen, »mit denen er sich wohl ziemlich allein befindet«, suchte ihn etwa der Zeitungs-Verlag zu isolieren.234 Und die Kölnische Zeitung sekundierte, derartige Anschauungen deckten sich mit denen »der unabhängigen Presse und ihren Begriffen von Berufsehre ganz und gar nicht.«235 Ins Kreuzfeuer der Kritik geriet schließlich auch der Presse-Ausschuss als Ganzes. An ihn erging die Frage, wie er sich zur Causa Samuel positioniere. »[V]öllige Klarstellung« in dieser Angelegenheit wurde gefordert. Es wäre ein »unhaltbarer Zustand«, wenn sich die Anschauungen des Ausschusses über die Berufsehre der Journalisten »nicht mit den Grundsätzen deckten, die von der Zeitungsverlegern und der überwiegenden Mehrheit der Journalisten und Redakteure in dieser Frage vertreten werden.«236 Der Presse-Ausschuss konnte nun nicht länger untätig bleiben, wollte er seine Reputation bei den Journalisten der Hauptstadt nicht aufs Spiel setzen. Er bekräftigte, dass es für einen Journalisten nicht mit seiner Ehre vereinbar sei, sich an spekulativen Emissionen, Ultimogeschäften und dergleichen zu beteiligen.237 Der Ausschuss stellte sich damit 232 Plutus, Nr. 29, 22.7.1911, S. 536. 233 Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 337, 23.7.1911. 234 ZV, Nr. 30, 28.7.1911, Sp. 663. 235 Kölnische Zeitung, zit. n. ZV, Nr. 30, 28.7.1911, Sp. 664. 236 ZV, Nr. 30, 28.7.1911, Sp. 664. 237 Vossische Zeitung, Nr. 371, 29.7.1911

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demonstrativ gegen die von Samuel vertretenen Ansichten. Unter diesen Umständen konnte sich der Chefredakteur nicht mehr länger in seinem Amt halten und schied Ende Juli 1911, nur wenige Tage nachdem der Plutus seinen Namen öffentlich gemacht hatte, aus der Sachverständigen-Kommission aus.238 Wenngleich diese, entlang ethischer Grundsatzfragen verlaufende Kontroverse nicht in einem Ausschluss Samuels aus dem finanzjournalistischen Feld mündete, ja, aufgrund fehlender rechtlicher Zugangs- bzw. Ausschlussvoraussetzungen gar nicht münden konnte, so hatte sie doch Einbußen im politischen und symbolischen Kapital, in der Macht und Reputation Samuels, zur Folge. Wir können dieses Bestreben einer Mehrheit der Presse oder ihrer Exponenten, Verstöße gegen berufsständische Normen mit einer moralischen Exklusion durch scharfe öffentliche Kritik zu sanktionieren, auch am Beispiel der sogenannten »kleinen Finanzpresse« beobachten, jener Schar an Börsenzeitungen, die, mithin undurchsichtig in ihren Besitzstrukturen, vornehmlich zu dem Zweck existierten, Stimmung für gewisse Wertpapiere zu machen oder Inserate von Bankhäusern zu erpressen, die »lieber zahle[n], als sich Ärger zu provozieren«.239 Dass das Börsengesetz von 1896 in dieser Hinsicht mitnichten wie ein »Pestizid gegen Ungeziefer« gewirkt hat, wie das Organ der Großagrarier, die Deutsche Tageszeitung, beruhigend feststellen zu können glaubte,240 sollte spätestens seit der Jahrhundertwende offenkundig werden. »Es besteht hierselbst eine größere Anzahl Zeitungsunternehmen«, beobachtete der Berliner Börsen-Staatskommissar im Februar 1899, die mehrfach Organe kleinerer Bankkommissionsgeschäfte seien und »deshalb im allgemeinen Interesse nicht unbedenklich [sind], weil eine falsche Verbindung von journalistischer und Bankierstätigkeit mehr oder weniger auf Anreizung des Publikums zu Börsenspekulation abzielt.«241 Die Vertreter dieser Blätter konnten, sei es als Mitarbeiter der Zeitung selbst, sei es als Prokuristen der dieser angeschlossenen Bankabteilung, unbehelligt die Börse besuchen, solange sie sich keine Verstöße gegen die kaufmännische Ehre zuschulden kommen ließen. Denn die Börsenbehörde, so kritisierte etwa der Plutus, kümmere sich »weder um den Ruf noch um die Qualifikation des betreffenden Schriftstellers und belässt ihn die Börsenkarte bis an sein seliges Ende.«242 Für die professionellen Pressevertreter war dies ein unhaltbarer Zustand, diskreditierte doch diese »Afterpresse«, wie man dras238 Vgl. ebd. 239 ZV, Nr. 23, 4.6.1903, Sp. 539. – Zeitgenössisch sprach man im letzteren Fall von der »Revolverpresse«. Deren Vertreter drohten Banken mit einer für diese unvorteilhaften Presse, so sie keine Inserate zugeteilt bekämen, oder erschienen auf Generalversammlungen von Aktienunternehmen, um deren Direktion so lange zu bearbeiten, bis man ihnen schließlich Bekanntmachungen zuwies. Vgl. zu diesen Praktiken ZV, Nr. 23, 4.6.1903, Sp. 537 ff. 240 Deutsche Tageszeitung, 16.6.1899. 241 Staatskommissar an Handelsministerium, 22.2.1899, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr.  45, Bd.  1.  – Auch Bernhard, Banken, S.  54, bemerkte: »Neuerdings schießen solche Bankierzeitungen wieder üppig ins Kraut.« 242 Plutus, Nr. 2, 14.1.1911, S. 33.

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tisch formulierte, den ganzen Berufsstand, »was in den Börsenkreisen bereits dahin geführt hat, dass manche Vertreter der anständigen Blätter nicht mehr recht ernst genommen, jedenfalls aber mit Vorsicht behandelt werden.«243 Beistand suchte die Presse daher bei staatlichen Behörden und verlegerischen Organisationen. »Der Verein Deutscher Zeitungsverleger würde sich ein Verdienst erwerben, wenn er sich entschließen könnte, diesen journalistischen Sumpf auszuheben, vielleicht ist auch die Polizeibehörde in der Lage, gegen dieses schwindelhafte Treiben vorzugehen.«244 Wie ein solches Einschreiten allerdings in der Praxis aussehen und auf welcher gesetzlichen Grundlage es erfolgen sollte, war unklar. Und so bestand »der wirksamste und einzige Schutz, den die Handelspresse dem Publikum gegen die Winkelbankiers bieten« konnte, darin, dass »sie immer wieder betont, daß jede Verbindung von Bankgeschäft und Journalismus Gefahren in sich birgt«.245 Um seiner Unbefangenheit und Unabhängigkeit willen dürfe ein Finanzschriftsteller nicht »mitten im Geschäft«, sondern müsse er »über den Geschäften« stehen.246 Tageszeitungen ebenso wie seriöse Finanzzeitschriften suchten sich ostentativ von jenem »Proletariat der Börsenpresse«247 abzusetzen, indem sie deren unmoralisches Verhalten herausstrichen und ihnen jegliche journalistische Qualität absprachen. Wie schwierig es sich jedoch konkret gestaltete, unliebsame Akteure aus dem finanzjournalistischen Feld zu verdrängen, zeigt das Beispiel Hugo Löwys. Löwy hatte sich als Bankier in Berlin betätigt, bis er 1893 wegen Depotunterschlagungen und betrügerischen Bankrotts zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde.248 Nach seiner Entlassung kaufte er sich in die 1890 gegründete Berliner Finanz- und Handelszeitung ein – ihr Gründer, Wilhelm Bruer, war bereits verstorben und seine Witwe, in deren Händen Verlag und Zeitung nun lagen, leicht zu gewinnen. Er schloss der Zeitung ein Bankunternehmen mit Sitz in London an, das die Abwicklung von Kaufordres der Leser der Finanz- und Handels­ zeitung übernehmen sollte. Nachdem das Blatt daraufhin in seinen Spalten die Werbetrommel für hochspekulative Wertpapiere, so z. B. für südafrikanische und australische Goldminen oder US-amerikanische Eisenbahnen, zu rühren begann, warnten deutsche Zeitungen eindringlich vor den Empfehlungen des Blattes als einem »Gipfel der Unverschämtheit«.249 Auch den deutschen Behörden lieferte Löwys Treiben Anlass zur Sorge. Der Staatskommissar verwies in einem internen Bericht auf den Einfluss Löwys im Bruer-Verlag, sah jedoch zum Einschreiten »bisher noch keinen ausreichenden Anlass«.250 Allerdings distan243 ZV, Nr. 29, 16.7.1903, Sp. 680 f. 244 ZV, Nr. 18, 5.5.1911, Sp. 372. 245 Die Grenzboten, Jg. 68, 1909, Bd. 2, S. 452 (H. i. O). 246 Kölnische Volkszeitung, 12.2.1908. 247 ZV, Nr. 23, 4.6.1903, Sp. 538 f. 248 Vgl. hierzu DBA, Teil 1, Fiche 446, S. 318. 249 Berliner Actionair, Nr. 2704, 8.4.1899. 250 Staatskommissar an Handelsministerium, 22.2.1899, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 45, Bd. 1.

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zierte sich das preußische Handelsministerium nun demonstrativ vom BruerVerlag. Dessen Geschäftsgebaren erschien Handelsminister Brefeld so bedenklich, dass er der Firma kurzerhand die Veröffentlichung der Jahresberichte des preußischen Regierung- und Gewerbeamtes entzog.251 Die Figur des »berufsmäßigen Gauners«252 und »Gefängnishabitué«253 Hugo Löwy beschäftigte die deutsche Öffentlichkeit auch in der kommenden Zeit und wurde, mehr noch als Paul Polke, zum Sinnbild der schädlichen Verknüpfung von Journalismus und Bankiertätigkeit. 1902 setzte sich Löwy, vermutlich um einer Strafverfolgung durch deutsche Behörden zu entgehen, nach Paris ab, wo er später jedoch festgenommen werden konnte. Doch auch jetzt war er aus dem finanzjournalistischen Feld nicht verschwunden. Gegen Zahlung einer hohen Kaution wurde Löwy von den Pariser Behörden wieder auf freien Fuß gesetzt und floh nach London. Es ist nicht klar, ob er von dort immer noch seinen Einfluss auf die Berliner Finanz- und Handelszeitung geltend machen konnte, doch knüpfte er in der britischen Hauptstadt Kontakt zu Adolf Rosendorff, einem deutschen Emigranten, der mit seiner in London publizierten und nach Deutschland versandten Finanz-Chronik einen Nischenplatz auf dem finanzjournalistischen Feld in Deutschland einnahm, und bald sagte man Löwy, ob begründet oder nicht, eine Einwirkung auf dieses Organ nach. »Hugo Löwy wieder in Tätigkeit« titelte die Staatsbürger Zeitung am 1. Juli 1902 und forderte alle Blätter »unbeschadet des Parteistandpunktes« auf, ihr im Kampf gegen Löwy zur Seite zu stehen. »Wir versichern unsererseits dem Konsortium Bruer-Löwy, daß wir seinen Betrieb sorgfältigst im Auge behalten und nicht eher ruhen werden, als bis auch der Leichtgläubigste erkannt hat, in wessen Beutel sein gutes Geld fließt, wenn er es derartigen Firmen anzuvertrauen die Absicht hat.«254 Dass Löwy trotz seines Aufenthaltsortes außerhalb Deutschland Einfluss auf die deutsche Finanzöffentlichkeit nachgesagt und damit als potentielle Gefahr für deutsche Anleger wahrgenommen wurde, verdeutlicht, dass die Ränder des finanzjournalistischen Feldes ebenso durchlässig waren wie die Grenzen von Staaten: Die letzten zwei Dekaden vor 1914 beschreiben eine Zeit, in der die Finanzberichterstattung in Deutschland durch vielfältige interferierende Stimmen aus dem Ausland begleitet und gestört werden konnte. Vor a­ llem in Frankreich und Österreich-Ungarn waren solche »Störsender« auszumachen: Aus Budapest wurde Der finanzielle Wegweiser in tausenden Exemplaren nach Deutschland versandt. Das Blatt wurde, was so nicht ersichtlich war, von einer kleinen Budapester Bankfirma herausgegeben. Aus Paris gelangten ähnliche 251 Handelsminister an Reichskanzler, 14.3.1899, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 45, Bd. 1. 252 Bernhard, Banken, S. 40. 253 Die Gegenwart, Bd. 61, 1902, S. 129. 254 Die Angaben dieses Absatzes basieren auf Staatsbürger-Zeitung, Nr. 301 (Morgenausgabe), 1.7.1902 und ZV, Nr. 23, 4.6.1903, Sp. 537. – Zur Person Adolf Rosendorffs hatte die Reichskanzlei Informationen eingeholt, BA-L, R 43/1574, Bl. 163 f.

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Schriften wie etwa der Der internationale Kapitalist. Informationsblatt für finanzielle und commercielle Angelegenheiten nach Deutschland. Die Aufmachung derartiger »Fachblätter« war populär gehalten, der Leser hatte sich nicht durch eng bedruckte Bleiwüsten zu quälen. Mit einer gewissen Leichtigkeit geschriebene Rubriken wie zum Bespiel die »Internationalen Börsen-Spazier­gänge« mit Berichten aus London, New York und Berlin sollten die häufig allzu trockene Thematik interessanter gestalten. In der Kopfzeile platzierte Angaben, wonach das Blatt sich bereits im 16., in anderen Fällen sogar 27. Jahrgang befinde, suggerierten Beständigkeit des Unternehmens und ebenso wenig durfte der »Briefkasten« fehlten, in dem – womöglich fingierte – Leser unter Angabe ihrer Titel und Berufsbezeichnungen zu Wort kamen (Apotheker, Ingenieure, Gutsbesitzer, Justizräte, Fabrikbesitzer etc.) und damit den Eindruck erweckten, dass das betreffende Blatt Abnehmer in den besten Kreisen der Gesellschaft fände. Schließlich aber musste auch die großzügige Offerte, das Blatt »ohne jede weitere Verbindlichkeit, drei Monate gratis« beziehen zu können, verlockend gewirkt und dadurch so manchen Sparer in das Garn dieser Unternehmen geführt haben (derartige kostenfreie Abonnements dienten freilich auch dem Zweck, an Adressen von Kapitalanlegern zu gelangen, und schon bald fand der nichts ahnende Leser Werbeprospekte des angeschlossenen Bankhauses in seinem Briefkasten).255 Auch im Fall dieser ausländischen »Animier-Blätter«, die es auf das Geld der deutschen Sparer abgesehen hätten, blieb der deutschen Presse nichts anderes übrig, als entsprechende Hinweise in ihre Spalten aufzunehmen. Die Frankfurter Zeitung ebenso wie der Plutus wiederholten im Frühjahr 1911 beständig Warnungen vor dem Pariser Börsenherold, der, massenhaft in Eilbriefen versandt, »minderwertige Aktien zu hohen Kursen in Deutschland« feilbiete.256 Ein in deutscher Sprache verfasstes Finanzblatt aus Großbritannien mit dem Namen Londoner Börsenhalle trug nach Ansicht des Zeitungs-Verlags die Schuld daran, »daß Millionen deutschen Kapitals in wertlosen und bedeutend entwerteten südafrikanischen Minenaktien verloren sind.«257 In Budapest musste sich, folgte man den Äußerungen des Berliner Tageblatts, ein ganzes Nest solcher Animierblätter befinden.258 Freilich muss dahin gestellt bleiben, wie 255 Einzelne ausgewählte Exemplare haben sich in den Akten des Preußischen Handelsministeriums erhalten, vgl. GStA PK, Rep. 120, C XI 1, Nr. 29 adh., Bd. 3. 256 Plutus, Nr. 17, 29.4.1911, S. 310 und Nr. 20, 20.5.1911, S. 378 f. 257 ZV, Nr. 10, 5.3.1908, Sp. 338. 258 Das Berliner Tageblatt machte in einem Artikel vom 15.2.1908 (Nr. 83) allein auf fünf solcher Budapester Blätter aufmerksam: Finanz-Telegraph, Internationale Kapitals-Revue, Finanzieller Wegweiser, Handels-Rundschau, Börsenwacht. – Der Zentral-Verlag, Nr. 28, 9.7.1903, Sp. 655, warnte vor dem Inhaber eines Budapester Börsenjournals, und die Frankfurter Zeitung, 1.7.1904, machte ihre Leser darauf aufmerksam, dass »die Firma E. Weiß & Sohn in Budapest, gegen deren gefährliches Treiben wir uns schon wiederholt zu wenden hatten, neuerdings durch ihr in Wien erscheinendes Organ ›Die finanzielle Wacht‹ den Kundenfang in Deutschland mit Hochdruck betreibt.«

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berechtigt solche Warnungen im jeweiligen Fall gewesen sein mochten. Denn die reflexhafte Ablehnung dieser für den deutschen Markt produzierten ausländischen Finanzblätter dürfte zu einem nicht geringen Teil auch dem nationalistisch grundierten Ansinnen geschuldet gewesen sein, deutsche Sparguthaben nicht ins Ausland abfließen zu lassen. Sie verband sich zuweilen mit einer patriotischen Rhetorik, die dazu aufrief, sein Geld lieber »im deutschen Vaterlande nutzbringend anzulegen.«259 Soziale Lage und soziales Prestige Die Debatten um eine journalistische Berufsehre waren auch eine Maßnahme zur Aufbesserung des öffentlichen Ansehens des Journalistenberufs, das viele seiner Mitglieder nach wie vor als bedroht betrachteten. Peinlich waren Pressevertreter darauf bedacht, jeden auch nur leisen öffentlichen Zweifel an ihrer Unbestechlichkeit zu zerstreuen; Andeutungen, wie sie Kaempf im Zusammenhang mit dem erwähnten Prozess getätigt hatte, provozierten exaltierte Entrüstungsstürme. Es ist für das vordemoskopische Zeitalter schwer abzuschätzen, welche Meinung sich die Öffentlichkeit tatsächlich von den Repräsentanten des Finanzjournalismus bildete. »Wenn heute die Börsenpresse zeitweilig etwas scheel angesehen ist, ihr sogar von Ministertischen aus Redewendungen gewidmet werden, die nicht gerade aus freundlicher Gesinnung entspringen«, so sei dies allein dem nicht ganz vergessenen Wirken der Presse während der Gründerzeit zuzuschreiben, erklärte etwa ein Handbuch über die Berliner Presse.260 Die Schatten der Vergangenheit reichten offensichtlich noch sehr weit, und Journalisten hatten auch nach 1900 noch mit der Hypothek der »Gründerära« zu kämpfen, was der Ausbildung eines Selbstbewusstseins und Berufsstolzes nicht förderlich sein konnte. Auch bei staatlichen Akteuren, wir sahen dies bereits an anderer Stelle, standen Finanz- und Börsenjournalismus nicht in gutem Ruf: Pauschale Unterstellungen der politischen Unzuverlässigkeit, sprich: »Gesinnungslosigkeit«, Bestechlichkeit und Abhängigkeit von der Bankenwelt waren hier oft gebrauchte Zuschreibungen.261 Gleichwohl waren die öffentlichen Deklamationen und Resolutionen zur Berufsehre nicht ohne Wirkung auf die Fremdwahrnehmung durch staatliche Stellen geblieben. So attestierte der Berliner Börsen-Staatskommissar nach dem Kaempf-Prozess zumindest den Vertretern ernst zu nehmender Zeitungen eine »persönliche Integrität« und versicherte seinem Dienstherren, sie seien für Bestechungen unzugänglich.262 Eine wirkliche Anerkennung des Dienstes von Journalisten für die Allgemeinheit war dieses Lob ex negativo freilich nicht. Noch 1915 meinte Leon Jolles, der unter dem Titel »Im Reich des Geldes« seine bis dahin publizier259 ZV, Nr. 13, 31.3.1904, Sp. 324. 260 Radius, S. 150. 261 Vgl. Kap. III.1.1. 262 Zweiter Staatskommissar an Handelsministerium, 14.9.1911, GStA PK, I. HA, Rep. 120, C XI 1, Nr. 29, Bd. 2.

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ten finanziellen Artikel in Buchform herausgab, nicht auf eine vorangestellte »Rechtfertigung« dieses gewagten Projekts verzichten zu können.263 Denn die Beschäftigung mit Börse, Geld und Bankgeschäften, bemerkte Jolles ironischdistanzierend, »ist die Verneinung alles Edlen«, und so würden auch die Börsen- oder Handelsjournalisten »von den höher gearteten Schreibkünstlern« als »Soldschreiber niedrigsten Grades« abgetan. »Man bestreitet ihnen das Recht, sich Schrift­steller zu nennen; und nur wohlwollende Freunde gewähren ihnen diese Bezeichnung, die aber vorsichtigerweise durch den Zusatz ›Finanz‹ mit einer besonderen Kulturetikette versehen wird.«264 Doch auch hier sind vorschnelle Verallgemeinerungen zu vermeiden. Keineswegs schloss der Beruf des Handels- oder Börsenredakteurs den Erwerb sozialen Prestiges aus. Aus dem finanzjournalistischen Feld stachen immer wieder einzelne Persönlichkeiten hervor, die es zu Würden gebracht hatten, ja, deren Leistungen zu honorieren sich der wilhelminische Staat nicht scheute (solange die zu Ehrenden nicht durch eine abweichende politische Haltung aufgefallen waren). Den Herausgebern des Actionairs, Ernst Busch und Georg Schweitzer – von »königstreuer Gesinnung«, wie der Berliner Polizeipräsident schon Jahre zuvor attestiert hatte –265 wurden 1910 z. B. der Rote Adler-Orden IV. Klasse bzw. der Königliche Kronen-Orden III. Klasse verliehen. Beide vermittelten, hieß es in der Begründung des preußischen Innenministers, »seit langen Jahren den besonders wichtigen Depeschendienst nach Ostasien«, dabei verwandten sie »täglich ein beträchtliches Maß an Zeit und Aufmerksamkeit und bringen auch nicht unerheblich pekuniäre Opfer«.266 Andere wiederum waren gefragte Wirtschaftsexperten. So bestellte die 1908 vom Reichstag eingesetzte BankEnquete-Kommission auch den »unbequemen Kritiker« Georg Bernhard zum Sachverständigen;267 was hier offensichtlich mehr wog, war dessen fachliche Qualifikation. Seine »regierungsfeindliche« Haltung, wie sie ihm vom Berliner Polizeipräsidium noch wenige Jahre zuvor attestiert worden war, schien demgegenüber weniger ins Gewicht zu fallen.268 Das Sozialprestige der Finanzjournalisten war von ihrer sozialen Lage nicht zu trennen, beide Aspekte standen in einem Bedingungsverhältnis zueinander. Für Maximilian Harden war es nur zu verständlich, dass sich Börsenjournalisten zu einem unethischen Verhalten verlocken ließen, so schlecht, wie man sie angeblich bezahlte. Besonders die Börse prädisponiere »fatale Vertraulichkeiten«, brachte sie doch Personenkreise zusammen, die, was ihre soziale Stellung und materielle Potenz anbelangte, gegensätzlicher nicht hätten sein können: Hier der millionenschwere Bankier, dort der Journalist im »schlecht sitzenden 263 Jolles, S. 9–12. 264 Ebd., S. 10 f. 265 Auskunft v. 6.7.1900, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 13457, Bl. 3. 266 Innenminister an Berliner Polizeipräsident, 30.12.1909 (Ebd., Bl. 45). 267 Mikuteit, S. 233 f. 268 Vgl. Polizei-Auskunft, 6.4.1900, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 9161, Bl. 2.

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Rock«, der sich dreimal überlegen müsse, »ob er sich einen Taxameter bis nach Wilmersdorf leisten« dürfe. »Zuerst läßt man sich füttern und tränken, nimmt, nach sprödem Zögern, auch kleine Geschenke an, ganz kleine, zur Konser­ vierung der Freundschaft. […] Warum, zum Henker, soll Unsereins nicht ein anständiges, solides Geschäftchen mitmachen? Als ob das Urtheil nicht trotzdem unabhängig bliebe! Bald danach wispert’s aus allen Winkeln: Der nimmt also auch! Nun ist er versorgt und braucht nicht mal mehr die Hand hinzuhalten.«269 Der Fall des minderbemittelten Finanzjournalisten,270 der, so eine verbreitete Vorstellung, sich kaufen lässt, um über die Runden zu kommen, dürfte allerdings zu dem Zeitpunkt, da die Zukunft ihn in ihren Aufsätzen beschwor, bereits weitgehend der Vergangenheit angehört haben. Wie ihre Kollegen aus anderen journalistischen Segmenten so waren auch Finanzjournalisten zur Jahrhundertwende keine »gescheiterten Existenzen«, als die Bismarck Repräsentanten dieses Berufsstandes einst verspottet hatte,271 sondern sozial in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Bei den meisten Verlagen hatte sich die Einsicht durchgesetzt, dass ein gutes Gehalt die beste Prävention gegen Bestechung sei.272 Eine auskömmliche Entlohnung konnten versierte Handelsredakteure ihrerseits ohne Weiteres fordern, denn qualifiziertes Personal war rar gesät. Ernst Busch klagte 1911, dass es seit längerer Zeit »an einem kräftigen Nachwuchs« fehle, so dass tüchtige Handelsredakteure eine große Seltenheit darstellten.273 Ähnlich urteilte Otto Jöhlinger wenige Jahre später: An Handelsjournalisten bestehe »ein steter Mangel«, die Zahl der wirklich brauchbaren sei »an den Fingern abzuzählen«.274 Dieses Unterangebot trieb die Gehälter qualifizierter Handelsredakteure in eine Höhe, »an die man früher nicht im entferntesten gedacht hat«, einzelne würden gar »fürstlich« bezahlt.275 Es ist schwierig, diese stets im Vagen bleibenden Aussagen von Zeitgenossen durch Zahlenmaterial zu fundieren und zu spezifizieren. Zumindest das Durchschnittsgehalt eines angestellten Redakteurs lag zur Jahrhundertwende zwischen 3000 und 6000 Mark und wich damit nicht sonderlich von dem eines Rechtsanwalts ab; hinzu mochten noch Einnahmen aus anderen Quellen gekommen sein.276 Georg Bernhard, der 1898 bei der Berliner Zeitung anfing, befand sich mit einem Einstiegsgehalt von 300 Mark monatlich somit im Mittelfeld.277 Die Vossische Zeitung zahlte ihrem Handelsredakteur Anfang der 1890er Jahre ein festes Jah269 Die Zukunft, 9.7.1904, S. 51 f. 270 Beispiele für diese Auffassung liefert Birkner, S. 246 f. 271 Vgl. Requate, Journalismua, S. 11. 272 Vgl. Scholten, S. 99, allerdings bemerkte dieser, dass es noch immer vereinzelt Zeitungen gäbe, die ein so geringes Gehalt zahlten, dass ihr Handelsredakteur auf »Börsenspekulation« angewiesen sei (ebd.). 273 ZV, Nr. 5, 3.2.1911, Sp. 90. 274 Jöhlinger, S. 144. 275 ZV, Nr. 24, 13.6.1913, Sp. 475, und ZV, Nr. 5, 3.2.1911, Sp. 90. 276 Vgl. Requate, Journalismus, S. 217 ff.; Birkner, S. 303 ff. 277 Mikuteit, S. 113 f.

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resgehalt von 6480 M.278 Georg Schweitzer dagegen brachte es 1900 – freilich nicht allein als angestellter Redakteur, sondern auch als Zeitungsherausgeber – sogar auf ein Jahreseinkommen in Höhe von rund 19 000 Mark, 1910 sogar auf 25 000 Mark; sein Gesamtvermögen wurde zur Jahrhundertwende auf 320 000 bis 340 000 Mark geschätzt.279 2.3 »Gar viel und gar mannigfaches Handwerkszeug«: Vorbildung, Erfahrung und Begabung als Qualifikationsmerkmale »Der Börsenredakteur muß reiche volkswirtschaftliche Kenntnisse, objektive Urteilsfähigkeit und jenen Grad von Treffsicherheit besitzen, der einem Ereignis sofort ansieht, welchen journalistischen Wert es in sich birgt. Prophetische Gaben verlange man nicht von ihm, und wer sich deren rühmt, der rangiert entweder in jener Kategorie heidnischer Priester, die ihre Weissagungen nach dem eignen Interesse zu stellen wußten, oder er prophezeit nach instinktivem Ermessen; trifft es zu, gut, wenn nicht, steinige man nicht den Propheten.«280 Was ein Finanzjournalist können musste, welchem Anforderungsprofil er zu genügen hatte – diese Frage bildete seit der Jahrhundertwende immer wieder einen Gegenstand berufsinterner Diskussionen. In ihnen wurde das Bild eines Finanzjournalisten entworfen, der sich durch besondere, genuin finanzjournalistische Fähigkeiten und Qualifikationen von seinen Kollegen aus anderen Ressorts unterschied. Darin ist ein weiterer Aspekt finanzjournalistischer Professionalisierung zu sehen. Was muss ein Handels- und Börsenjournalist können? Der Verfasser der eingangs zitierten Skizze, die 1895 im »Handbuch der Presse« erschien, gab eine Sichtweise vor, die bei späteren Autoren immer wieder begegnet: Demnach hatte ein Finanzjournalist sowohl theoretische Kenntnisse als auch eine gute Intuition, gewonnen aus praktischer Erfahrung, vorzuweisen; in ihm hatten Fachwissen und Erfahrungswissen eine fruchtbare Symbiose einzugehen. Auch für die Frankfurter Zeitung standen »Erfahrungen und gründliches Wissen an der Spitze« des erforderlichen Handwerkzeugs. »Bücherweisheit ohne praktische Kenntnisse muss da ebenso zum Fiasko führen wie langjährige Geschäftsroutine ohne theoretische Vertiefung. Ein Handelsredakteur, der niemals einen Wechsel ausgefüllt, nie ein Hauptbuch geführt, nie einen Ballen Baumwolle oder einen Sack Kaffee mit eigenen Augen gesehen, nie eine Börse betreten hat, wird sich ebenso schwer in seine Tätigkeit hineinfinden, wie einer, der

278 ZV, Nr. 28, 14.7.1904, Sp. 675. 279 Vgl. die Auskunft des Berliner Polizeipräsidenten v. 6.7.1900, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 13457, Bl. 2, sowie Auskunft für Innenminister, 7.3.1910 (Ebd., Bl. 58). 280 Radius, S. 152.

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über theoretische Nationalökonomie nicht zum mindesten einige Werke studiert hat. Freilich, die unerschöpfliche Quelle für sein Schaffen muß das praktische Leben sein. Darum ist es für ihn ein Unding, sich gleich einem Einsiedler in seine vier Wände einzuschließen. So mögen wohl die feinsinnigsten Essays entstehen – ein guter Handelsteil wird da nicht lange gedeihen. Ständige Fühlung mit der Geschäftswelt ist unerläßlich.«281

In seinem Beitrag für Richard Wredes »Handbuch der Journalistik« (1902) kam Salomon von Halle zu der Feststellung, dass eine Handelsredaktion eigentlich immer aus zwei unterschiedlichen Typen von Journalisten zusammengesetzt sein müsse: Einem, der Standpunkte und Meinungen vertrete, und einem, »der pedantisch und scharfsinnig wäre und zugleich gut rechnen kann«.282 Für Eugen Schmalenbach war Letzterem eindeutig der Vorrang einzuräumen. »Ein Finanzjournalist soll um Gottes Willen nicht ›genial‹ sein.« Von ihm würden nicht dieselben Qualitäten verlangt, die andere Journalisten auszeichneten; vor allem müsse er »solid und tüchtig« denken können. Für Schmalenbach verkörperte daher Ludwig Cohnstaedt das Ideal eines Finanzjournalisten, »wie er sein soll« – und dies hieß offensichtlich weder kreativ zu sein, wie der Feuilletonjournalist, noch meinungsstark, wie der politische Journalist.283 War dies auch nur das Urteil eines außerhalb des Feldes stehenden Wissenschaftlers, das wohl manche der jüngeren Journalisten wie etwa Bernhard oder Goldschmidt ob seiner Rigidität rundweg abgelehnt hätten, so dürfte Schmalenbach doch andererseits mit seinem Lob der Tugenden Cohnstaedts auf große Zustimmung gestoßen sein. Denn Cohnstaedt stellte zur Jahrhundertwende eine weithin bekannte Koryphäe unter den deutschen Handelsjournalisten dar; seine Arbeitstechniken galten zu diesem Zeitpunkt bereits als legendär. Er habe als erster die Methode angewandt, »die heute allgemein bei der Beurteilung privatwirtschaftlicher Vorgänge« zum Einsatz komme, erkannte die Frankfurter Zeitung in einem Jubiläumsartikel zu dessen siebzigsten Geburtstag stolz: »Er hat grundsätzlich jede ihm zugehende Information, jeden Emissionsprospekt und jeden Abschluß kritisch durchgearbeitet und namentlich alle ziffernmäßigen Angaben stets auf das genaueste analysiert und verglichen. Das geschah aber nicht etwa in rein mechanischer Weise, sondern er ging dabei von der Erkenntnis aus, dass Zahlen allein noch nichts bedeuten, vielmehr hinter ihnen die wirtschaftlichen Vorgänge zu suchen seien.«284

Und auch nach dem Ersten Weltkrieg, da sich Cohnstaedt bereits aus dem aktiven Journalismus zurückgezogen hatte, gedachte man seiner, ohne dabei seine

281 Frankfurter Zeitung, Nr. 227, 18.8.1917 (Abendblatt), S. 3 (Hvh. i. O.). 282 Halle, S. 237. 283 Schmalenbach, S. 366. 284 Frankfurter Zeitung, Nr. 226, 17.8.1917 (1. Morgenblatt), S. 2.

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besondere Arbeitsmethode zu vergessen.285 In gewisser Weise bildete Cohn­ staedt den Gegentypus zur »Hardenschen Schule«, wie Schmalenbach spöttisch bemerkte, jenen Vertretern einer jüngeren Journalistengeneration, wie sie etwa in der Person Georg Bernhard begegnete. Denn während Letzterer sich als Redakteur der Berliner Morgenpost anschickte, den Handelsteil weniger technisch, dafür aber »frischer« und innovativer zu gestalten286  – unter dem ironischen Titel »Blätter und Blüthen vom Giftbaum« schrieb er regelmäßig ein Börsenfeuilleton – war Cohnstaedts Signatur eher die »ernste, unbeirrbare Sachlichkeit«.287 Mit den divergierenden Arbeitsstilen der beiden Journalisten korrespondierten zugleich zwei unterschiedliche Prinzipien des Pressegeschäfts: Auf der einen Seite befand sich das Ullsteinsche Massenblatt, bei dem Bernhard angestellt war, auf der anderen das Frankfurter Traditionsblatt, welches  – in seinen eingesetzten journalistischen Darstellungsformen weitgehend konservativ  – das Interview, »diese Importwarte aus Ländern mit oberflächlicheren Sitten«, noch 1917 als die zweifelhafteste Art disqualifizierte, um Praxisnähe im Handelsjournalismus herzustellen.288 War man sich zwar weitestgehend einig darin, dass der Handelsredakteur Erfahrung in der »kaufmännischen Praxis« besitzen sollte, »ergänzt durch ein eingehendes nationalökonomisches Studium«,289 so bedeutete dies im Umkehrschluss jedoch nicht, dass jeder Kaufmann, Bankier oder Ökonom auch zum Journalisten taugte, dass »ein dem Bankfach wenige Zeit angehörender Kommis, ein dem Ladentisch entflohener Kaufmann […] gleich losleitartikeln« konnte.290 Gerade diese Durchlässigkeit des finanziellen und des journalis­tisches Feldes war ein Kennzeichnen früherer Jahrzehnte gewesen, nun aber suchten Finanzjournalisten eine Schließung ihres Feldes nicht nur mittels Durchsetzung einer für alle seine Mitglieder verbindlichen Berufsehre zu erreichen, sondern auch dadurch, dass sie zugleich auf eine journalisti285 Die Frankfurter Zeitung, Nr. 606, 17.8.1927, schrieb anlässlich seines achtzigsten Geburtstages: »Wir leben heute in einer stark ausgeweiteten, überaus verschlungenen Welt von Wirtschaftspraxis und Wirtschaftswissenschaft, aber die vergleichenden Mittel, mit denen man stofflich und zahlenanalytisch ihnen beizukommen sucht, sind nach Entkleidung von aller Systematik im Grunde noch fast dieselben, die Cohnstaedt bei uns einbürgerte, die er durchdachte, auch zähe durchsetzte für eine dankbare Leserschaft, oft aber auch gegen eine betroffene und darum hartnäckige Gegnerschaft.« – Auf die Frage, wie man auf dem besten Weg eine Kenntnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge erhalte, empfahl Walter Rathenau die jahrelange Lektüre von Zeitungsberichten, Bilanzstudien, Geschäfts- und Marktberichten sowie Börsennotizen, und fügte hinzu: »Diesen Weg hat innerhalb meines Kenntnisgebietes nur ein Mann mit Erfolg beschritten: der frühere Chef der Handelsabteilung der Frankfurter Zeitung: Cohnstedt[!].« Vgl. Brief an Otto Bauernfeind, 11.5.1920, in: Rathenau, S. 238. 286 Mikuteit, S. 153–158. 287 Frankfurter Zeitung, Nr. 226, 17.8.1917 (1. Morgenblatt), S. 2. 288 Frankfurter Zeitung, Nr. 227, 18.8.1917 (Abendblatt), S. 3. 289 Jöhlinger, S. 144. 290 Schulz-Winterfeld, S. 264.

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sche Befähigung immer größeren Wert legten. Die einen, einer mehr traditionellen Sichtweise verhaftet, verstanden hierunter wie etwa der Chefredakteur des Berliner Börsen-Courier Albert Hass, eine »angeborene Begabung« oder einen »Instinkt«;291 andere wiederum eine Qualifikation, die man sich erst anzueignen hatte. An den zweiten Standpunkt knüpfte die zur Jahrhundertwende aufkommende Ausbildungsdebatte an.292 Richard Wrede, der Vorsitzende des Vereins Deutscher Redakteure, bemühte sich um 1900, eine geregelte Journalistenausbildung zu etablieren, nicht ohne dabei auf Kritik vonseiten seiner Berufskollegen zu stoßen.293 In einem Entwurf für einen Vorlesungsplan der »Journalistenhochschule zu Berlin« sah Wrede im ersten Semester der Ausbildung auch Vorlesungen in theoretischer und praktischer Nationalökonomie sowie Finanzwissenschaft vor.294 Da die Journalistenhochschule allerdings keine ressortspezifische Ausbildung anstrebte, sondern durch ein breites Spektrum theoretischer und allgemeinbildungsbezogener Veranstaltungen auf den Journalistenberuf generell vorzubereiten suchte, dürfte das dort vermittelte ökonomische Wissen für einen angehenden Handelsredakteur keineswegs ausgereicht haben.295 Eine andere Einrichtung kam den fachlichen Anforderungen, welche die finanzjournalistische Praxis stellte, eher entgegen: Die Berliner Handelshochschule.296 1906 von der Berliner Kaufmannschaft zur akademischen Ausbildung, aber auch gesellschaftlichen Aufwertung des deutschen Kaufmannsstandes begründet, fanden in ihr Lehrprogramm nach kurzer Zeit bereits Veranstaltungen Aufnahme, die den Handelsjournalismus zum Gegenstand hatten. Wenngleich dabei wohl primär der Zweck verfolgt werden sollte, angehende Kaufleute auf den Umgang mit der Presse vorzubereiten – ein deutliches Zeichen dafür, dass Fragen der PR auch in der Handelspraxis ein immer höherer Stellenwert eingeräumt wurde  –, entwickelten sich die Veranstaltungen bald schon zu einer wichtigen Einrichtung praktischer und theoretischer Wissensvermittlung für all jene, die dem Handels- und Finanzjournalismus zustrebten. Nicht unwesentlich dürfte dazu der Umstand beigetragen haben, dass als Dozenten dieser Seminare angesehene, der Praxis verhaftete Handelsjournalisten fungierten. So hielt seit dem Wintersemester 1908/09 fast durchgängig bis zum Sommersemester 1914 der leitende Handelsredakteur des Berliner Tageblatts Arthur Norden Vorlesungen unter dem Titel »Handelsjournalistik: Aufgaben, Grundlagen und Inhalt der Handelspresse« ab.297 Es war das erste Mal überhaupt, dass an einer 291 Haas, Zeitungswesen, S. 28 f. 292 Birkner, S. 310 f. 293 Vgl. Brückmann, S. 100–120. 294 Wrede, Vorbildung, S. 17. 295 Vgl. etwa auch die zeitgenössische Einschätzung bei Schulz-Winterfeld, S. 264. 296 Siehe hierzu Biggeleben, S. 287–293. 297 Vorlesungsverzeichnis WS 1909/10, in: GStA PK, I. HA, Rep. 120, E XIII, Nr. 95, Bl. 28. – Norden hatte sich mit der Handelsberichterstattung bereits in seiner 1910 vorgelegten Dissertation beschäftigt, s. Norden.

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deutschen Hochschule über dieses Thema regulär doziert wurde.298 Zwar haben sich keine Vorlesungsmitschriften erhalten, doch lassen sich an den Programmankündigungen inhaltliche Schwerpunkte erkennen. Im Wintersemester 1908/09 sollten die Hörer unter anderem in der »Kunst der Schriftstellerei und des Redigierens« unterwiesen werden. Dabei standen folgende Gegenstände aus der journalistischen Praxis auf dem Lehrplan: »Bearbeitung von Telegrammen; Erstattung von Referaten über Börsen, Generalversammlungen usw.; Berichte kaufmännischer Korporationen; Marktberichte der Kaufleute; Jahresberichte der Aktiengesellschaften«. Darüber hinaus suchte Norden gesondert auf die Bereiche »Kritik, Ethik, Polemik« einzugehen.299 Im Wintersemester 1909/10 traten weitere Inhalte, die sich mit der normativen Ordnung des finanzjournalistischen Feldes beschäftigen, hinzu  – so etwa der »Nutzen einer objektiven, die Gefahren einer tendenziösen Berichterstattung und Kritik« sowie »Unlautere Manipulationen«, wie es im Vorlesungsverzeichnis hieß. Auch wollte Norden auf die Beziehungen zwischen »Kaufmannschaft und Presse« sowie »Presse und Börse« eingehen.300 Spezialisierung und Theoretisierung Der Handelsredakteur vorangegangener Jahrzehnte war im Prinzip ein Börsenredakteur gewesen, da die Börse im Zentrum seiner Arbeit und Alltagspraxis gestanden hatte, und so hatte auch der zeitgenössische Sprachgebrauch niemals präzise zwischen beiden Bezeichnungen unterschieden. Zur Jahrhundertwende begann sich dies durch die Auffächerung der Handelsberichterstattung in einzelne Schwerpunkte, die von jeweils spezialisierten Redakteuren bearbeitet wurden, zu ändern.301 Nicht mehr für jeden Handelsjournalisten war die Börse das Zentralgestirn seiner Arbeit. »Ziemlich allgemein zeigt sich heute bei den großen Handelszeitungen die Tendenz, bei der Berichterstattung den Warenmärkten und der gewerblichen Konjunktur mehr Interesse zu widmen und mit der noch vielfach üblichen einseitigen Berücksichtigung alles dessen, was direkt oder indirekt für die Börsenspekulation von Bedeutung sein könnte, zu brechen.«302 Salomon von Halle forderte seine Berufskollegen 1902 auf, sich eingehender mit der Industrie zu beschäftigen, die Zeiten, in denen der Handelsteil nichts anderes als ein Börsen- und Bankenteil war, sah er dem Ende zugehen.303

298 ZV, Nr. 6, 6.2.1908, Sp. 186. 299 Vorlesungsverzeichnis WS 1908/09, in: GStA PK, I. HA, Rep. 120, E XIII, Nr. 94, Bl. 378. 300 Vorlesungsverzeichnis WS 1909/10, in: Ebd., Nr. 95, Bl. 28. – Auf Norden folgte im WS 1914/15 Albert Haas als Dozent, der zuvor noch der Ansicht gewesen war, dass alle Versuche, Journalisten an besonderen Unterrichtsanstalten vor- und auszubilden, »resultatlos verlaufen« seien. Vgl. Haas, Zeitungswesen, S. 28 f. und GStA PK, I. HA, Rep. 120, E XIII, Nr. 96, Bl. 304. 301 Scholten, S. 63. 302 Vogel, S. 183. 303 Halle, S. 224, 237.

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Und Otto Jöhlinger mahnte wenige Jahre später, den Handelsjournalismus nicht auf den Börsenjournalismus zu reduzieren.304 Eine deutliche Erweiterung der redaktionellen Kapazitäten, wie sie für die Presse in jener Zeit allgemein kennzeichnend war,305 spiegelte sich im Besonderen auch in den Handelsredaktionen der größeren Zeitungen wider. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gehörten der Handelsredaktion des Berliner Tageblatts schon sechs Redakteure an, die jeweils die Rubriken »Montanindustrie«, »Industriefragen, Syndikate, Kartelle«, »Warenmarkt«, »Kolonien« und »Bankwesen« bearbeiteten. Ebenfalls sechs Handelsredakteure unterhielt der Berliner Börsen-Courier, von denen sich einer schwerpunktmäßig dem »Kuxenmarkt« widmete und ein anderer für die Beilage »Kolonial-Courier« zuständig war. Die gleiche Zahl an redaktionellen Mitarbeitern wies auch die  Handelsredaktion der Frankfurter Zeitung auf.306 Der »Handelsredakteur« wurde so zum übergeordneten Begriff verschiedener journalistischer Tätigkeitsbereiche, die sich weder dem Handel allein, noch ausschließlich der Börse verpflichtet fühlten, sondern die alle Bereiche des modernen Wirtschaftslebens abzudecken suchten. Erst im Angesicht dieser Vielfalt an Spezialgebieten erschien die Bezeichnung »Handelsredakteur« als nicht mehr adäquat. Man begann erst jetzt, um 1900, jenen journalistischen Akteur, der die Bühne der Geschichte bereits in den 1850er Jahren betreten und der sich seitdem den Kapitalmärkten, Wertpapieren, Banken und Aktiengesellschaften gewidmet hatte, auch begrifflich präziser zu fassen und bezeichnete ihn nunmehr als »Finanzjournalisten«.307 Ebenso wich die pars-pro-toto-Bezeichnung des »Handelsredakteurs« bzw. des »Handelsteils« seit den 1920er Jahren mehr und mehr der ganzheitlichen Bezeichnung »Wirtschaftsredakteur« bzw. »Wirtschaftsteil«, in der sich alle wirtschaftlichen Spezialgebiete, die der Journalismus des 20. Jahrhunderts bearbeiten sollte, wiederfanden.308

304 Jöhlinger, S. 147. 305 Birkner, S. 291 f. 306 Vgl. Vogel, S. 184, 191 f. 307 Vgl. etwa Schmalenbach, der in seinem Aufsatz zur Finanzpresse konsequent nur noch von Finanzjournalisten spricht. 308 So verwendet Georg Böse in seiner 1931 erschienenen Untersuchung zum Verhältnis von Wirtschaft und Presse nur noch die Begriffe des Wirtschaftsjournalisten, -redakteurs und -reporters, vgl. Böse, S. 43. – Bezeichnenderweise nennt sich der 1921 erstmals aufgelegte Ratgeber »Wie liest man den Handelsteil einer Tageszeitung?« in einer späteren Auflage (1936) »Wie liest man den Wirtschaftsteil einer Tageszeitung?«.  – Im »Dritten Reich« wurde dieser Begriffswandel, der einer generellen thematischen Diversifizierung des Handelsteils geschuldet war, ideologisch überhöht und als »arischem Denken und Empfinden« einzig würdig betrachtet: »Bereits das Wort ›Handelsteil‹ ist der Ausdruck jüdisch-liberalistischen Denkens und Empfindens. Das Handeln, das Spekulieren, kurz das Händle­ rische schlechthin ist nach deutschem Fühlen das Nebensächlichste, aber nicht das Ausschlaggebende an der Wirtschaft. Der Arier schafft, arbeitet, erzeugt; daher sagen wir ›Wirtschaftsteil‹. Der Jude bzw. Liberalist spricht vom ›Handelsteil‹, weil ihm eben das

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Die Professionalisierung des Finanzjournalismus zeigt sich nicht nur in seiner voranschreitenden Differenzierung im Hinblick auf andere Felder des Wirtschaftsjournalismus und einer begrifflichen Präzisierung. Wir können diese auch an der einsetzenden Reflexion darüber erkennen, wie Inhalte präsentiert werden müssten, damit sie der Leser versteht, welchen Qualitätsmaßstäben die Aufmachung eines Handelsteils gehorchen musste, damit das Auge des Betrachters sich schnell orientieren, sich darin zurecht finden konnte, schließlich aber auch an der Tatsache, dass der Finanzjournalist seiner Arbeit nunmehr im Wissen um die wirtschaftlichen Konsequenzen nachzugehen begann, die negativen wie positiven, die aus seinen Einschätzungen und Prognosen resultieren konnten. Der Finanzjournalismus wurde reflexiv, indem er seine Inhalte und Darstellungsformen kritisch hinterfragte. Allmählich wichen die »Bleiwüsten«, Relikte vergangener Zeiten, da es so viel auf einer Seite unterzubringen galt als nur möglich, einem leserfreundlicheren Layout.309 Die Unzulänglichkeit einer Handelsredaktion konnte sich fortan auch daran zeigen, wie sie ihre Inhalte präsentierte. »Dann sind die Kurskolumnen planlos abgedruckt, die Waschzettel prangen in ungetrübter Urteilslosigkeit und nichtssagende Details figurieren als Füllstoff.«310 Doch auch dort, wo ein »tüchtiger Redakteur am Werke« war, schien der Handelsteil manchen als reformbedürftig: Er liefere zu viele Zahlen, lautete die Kritik, sei »ein Buch mit sieben Siegeln« und wirke abschreckend auf Leute, die ihm von Berufswegen fernstehen.311 Nicht allein die Zahlenflut war das Problem. Andere wiederum störten sich an den »kaufmännischen Fachausdrücken«, dem »Geschäfts- und Börsenjargon«, und forderten eine »volkstümliche, gemeinverständliche Sprache auch im Handelsteil.«312 Diese prononcierte Leserfreundlichkeit, die den Finanzjournalismus gerade auch für ein nicht-fachmännisches Publikum interessant machen sollte, dürfte gerade von der Massenpresse verfolgt worden sein, suchte sie ihr Publikum doch jenseits politischer oder intellektueller Schranken. Man konnte diesem offensiven Zugehen auf den »Durchschnittsbürger« allerdings auch eine ideelle Seite abgewinnen: »Ungemein wertvoll«, bemerkte Schmalenbach, sei »eine gründliche finanztechnische Erziehung eines Volkes«,313 und hierzu leistete nicht zuletzt der Finanzjournalismus in seiner populären Spielart auch einen Beitrag. Diese »Entdeckung des Lesers« schlug sich zugleich in einer kritischen Reflexion der eigenen Berichterstattung und der eigenen Darstellungsformen nieder. Sahen Redaktionen es in früheren Zeiten als ihre vornehme Pflicht an, alles das dem Leser bzw. Anleger zur Kenntnis zu bringen, was sich für ihn als Handeln als die wichtigste Funktion des Wirtschaftens erscheint. Die Entwicklung muß also vom Handelsteil zum Wirtschaftsteil führen, und aus dem Handelsredakteur muß ein Wirtschaftsredakteur werden.« Barth, Geist, S. 5. 309 Birkner, S. 253 f. 310 Volkswirtschaftliche Blätter, Nr. 18, 20.9.1906, S. 352 f. 311 Ebd. 312 Vogel, S. 12. 313 Schmalenbach, S. 278.

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bedeutsam erweisen konnte, manchmal auch begleitet von einer Empfehlung oder Warnung, so begegneten seit der Jahrhundertwende vermehrt Reflexionen auf einer Metaebene, die um die Frage kreisten, was finanzjournalistische Meldungen und Meinungen bewirken konnten und wie die Form, in der man sie präsentierte, gleichsam auf die Rezeption der Inhalte zurückwirkte. »[D]aß manche Börsen-Panik, mancher Run auf Banken und Sparkassen unterblieben wäre, wenn die vielen Munkeleien, ›zarten‹ Andeutungen und schwarzen Prophezeiungen nicht durch die Tagespresse gegangen wären«,314 war dabei gewiss keine Einzelmeinung. Es ging dabei nicht lediglich um Gerüchte und willentliche Falschmeldungen, deren schädliche Auswirkungen freilich bereits in früheren Zeiten diskutiert worden waren, sondern um Deutungen und Prognosen, die nach bestem Wissen und Gewissen vonseiten der Journalisten abgegeben wurden. »Die Frage, inwiefern die Presse überhaupt dadurch Unheil anstiftet, dass sie in niedergehenden Zeiten den Pessimismus noch verschärft, ist von äusserster[!] Wichtigkeit.«315 Die Frankfurter Zeitung sah es als völlig legitim an, dass der »gründliche Kritiker« gerade dann, »wenn sich plötzlich ernste Mängel offenbaren, wenn etwa bei Aktienunternehmungen schwere Verluste zu Tage treten, wenn Staatsfinanzen notleitend werden, wenn die Konjunktur nach abwärts geht, […] mit besonderer Deutlichkeit alle schwachen Punkte« erkennt und hervorhebt. Allerdings, so fragte das Blatt zugleich und machte dadurch die paradoxe Lage des Redakteurs deutlich, »sollte er […] nicht gerade in diesem Zeitpunkt allgemeiner Entmutigung, wo alle nur nach dem Grundsatz ›Rette sich, wer kann‹ verfahren, wo jeder verkaufen will und entmutigt feiert, wo aber niemand kaufen und wagen will, wo, namentlich die Kleinen und Unerfahrenen um jeden Preis verängstigt ihre Werte losschlagen – nicht auf beruhigende Momente hinweisen?«. Das Blatt gab an seine Redakteure daher die Maxime aus: »Bremsen beim Aufstieg, beruhigen beim Niedergang!«.316 Finanzjournalisten hatten – diese Erkenntnis begann sich um 1900 allmählich zu verfestigen – stets auch wirtschaftspsychologisch vorzugehen: Sie hatten die potentiellen Reaktionen ihrer Leser auf die dargebotenen Inhalte zu antizipieren und mit Blick auf die Wirtschaft als Ganze in ihre Arbeitspraxis mit einzukalkulieren.317 314 Schulz-Winterfeld, S. 267. 315 Halle, S. 231 f. 316 Frankfurter Zeitung, Nr. 227, 18.8.1917 (Abendblatt), S. 3 317 Die Institutionen und Interessenvertretungen der Wirtschaft hielten ihrerseits Journalisten dazu an, Nachrichten stets eingedenk ihrer potentiellen Auswirkungen auf die Ökonomie des Landes zu veröffentlichen. Die Handelskammer Elbing richtete mit Blick auf »aufgebauschte Balkannachrichten« im November 1912 eine Eingabe an den Deutschen Handelstag, in der sie auf Schäden durch »beunruhigende Zeitungsnachrichten über Kriegsgefahr« aufmerksam machte. Handelsredakteure wie politische Redakteure hätten »die Pflicht, sich mit der Volkswirtschaft zu beschäftigten; sie dürfen vor allem nicht geringschätzig auf die Wertpapierbörsen herabschauen, sondern müssen in diesem Fall darauf bedacht sein, sich über die voraussichtliche Wirkung alarmierender Meldungen zu unterrichten.« Vgl. ZV, Nr. 8, 21.2.1913, Sp. 165 f. (H. d. V.)

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Auf die als unzulänglich wahrgenommenen Kurszettel ist bereits im Zusammenhang mit dem Fall Buchwald verwiesen waren. Doch schließlich handelte es sich hierbei um einen Missstand, den zu beheben nicht der Presse, sondern der Finanzwelt oblag. Anders dagegen verhielt es sich mit einer anderen, neben dem Kurszettel ältesten und genuin finanzjournalistischen Darstellungsform: dem Börsenbericht. Die Berichte über den Verkehr an der Börse glaubte kaum eine Zeitung entbehren zu können. Man ging von einem überaus starken Interesse an jenen Berichten im Publikum aus: »Jeder Leser, der Effekten besitzt oder Interesse an ihnen hat, wird nie versäumen, aus dem Börsenbericht seiner Zeitung Informationen über die Preistendenz zu schöpfen.«318 Der Verfasser eines im Zeitungs-Verlag publizierten und damit an seine journalistischen Berufskollegen adressierten Artikels suchte nun jedoch auf die in Journalistenkreisen »noch viel zu sehr unterschätzt[en]« Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, »über den Verkehr an einem einzelnen Börsentage ein getreues Spiegelbild zu geben.« Selbst der eifrigste Berichterstatter sei nicht in der Lage, die Strömungen eines Handelstages zu übersehen. Dies führe dazu, dass die täglichen Börsenberichte selbst der größten Zeitungen sich oft in ganz wichtigen Punkten widersprächen. Der Verfasser verglich die Börsenberichte der führenden Tageszeitungen, deren Reporter an ein und demselben Tag mal von einer »lustlosen Haltung«, mal von einer »relativ gut zu bezeichnen[den]« Gesamtstimmung gesprochen hatten. Diese Berichte, reine »Stimmungsbilder«, könnten sich auf den Leser und Anleger, so warnte der Verfasser, nachteilig auswirken, da sie ein verzerrtes Bild des Börsentages lieferten.319 Ein anderer Journalist sekundierte wenige Wochen später: »In ihrer jetzigen Form sind die Berichte fast ausnahmslos unklar und irreführend, deshalb: Weg mit ihnen!«320 Ernst Busch dagegen, um einen weiteren Diskutanten ins Spiel zu bringen, wollte so weit nicht gehen. Für den Herausgeber des Actionairs besaßen die Börsenberichte trotz mancher Mängel ihre Daseinsberechtigung. Das Problem lag nicht in der unüberwindbaren Subjektivität, die all diesen Berichten anhaftete, sondern vielmehr in dem Typus der sich dem großen Publikum anbiedernden Massenpresse, in deren Geist die Berichte verfasst würden. Busch zufolge waren »Sensationslust«, gewisse »journalistische Kunstgriffe«, die »jenseits des großen Teiches seit langem üblich« seien, auch in Teile des deutschen Finanzjournalismus eingedrungen und hatten eine, wie er pejorativ bemerkte, »hypermoderne Art des Börsenresümees« hervorgebracht. Denn nun leisteten sich 318 ZV, Nr. 44, 4.11.1910, Sp. 850. 319 ZV, Nr. 44, 4.11.1910, Sp. 851. – Auf diskutierte Alternativen zum »subjektiven Stimmungsbild«, wie sie durch statistische und dadurch vermeintlich objektivere Verfahren erzielt werden sollten, kann hier nicht näher eingegangen werden. Unschwer zu erkennen, beginnt hier bereits die Idee eines Börsenindex Gestalt anzunehmen, wie ihn die beiden Finanzjournalisten des »Wall Street Journal« Charles Dow und Edward Jones (Dow-Jones) 1896 in New York eingeführt hatten, vgl. hierzu Parsons, S. 40. 320 ZV, Nr. 47, 25.11.1910, Sp. 920.

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»einige Berliner Zeitungen das Spezialvergnügen, auch an völlig geschäftsstillen Tagen den Börsenbericht mit durchschossener Schrift einzuleiten, während andre  – in unschönem Wettbewerb  – der Sensationsmache insofern verfallen, als sie das angeblich Wesentliche des Geschäftsverlaufs noch gesperrt hervorheben, und zwar augenscheinlich lediglich zu dem Zweck, um die erschlafften Nerven ihrer Leser aufzupeitschen, als gelte es einen erbitterten Kampf auf dem Effektenmarkt zu führen, als sei Gefahr im Verzuge und alles verloren, wen man den Alarmrufen nicht Gehör schenkte.«321

Im Börsenjournalismus spiegelte sich damit, folgt man der kulturpessimistischen Lesart Buschs, nur die generelle »Boulevardisierung« und »Amerikanisierung« des deutschen Journalismus. Was die einen als Leserfreundlichkeit und Innovation im Layout auffassten, ja, was sich, so könnte man modern formulieren, nur folgerichtig an den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie orientierte, das war für die anderen schlicht und ergreifend ein Symptom kulturellen Verfalls.322 * Die zwei Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges sind von Versuchen der finanzjournalistischen Akteure gekennzeichnet, sich einerseits von den angestammten Akteuren des Finanzsektors zu emanzipieren und andererseits ihr Feld durch Zugangsschranken nach außen hin abzuschirmen. Beide in der Praxis häufig eng miteinander verknüpfte Prozesse können als Ausdruck eines Professionalisierungsbestrebens aufgefasst werden, dem allerdings durch die historischen Zeitumstände – z. B. die Rechtsprechungspraxis der Gerichte – und die Besonderheit des Journalistenberufs als einer nicht zertifizierten, jedermann offenstehenden Tätigkeit häufig enge Grenzen gesetzt waren. Die Emanzipation beförderte und stärkte die Ausbildung einer eigenen Berufsrolle, einer »finanzjournalistischen Identität«, e