Aufklärung, Band 12/2: Christian Wolff – seine Schule und seine Gegner
 9783787334810, 9783787341924

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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Günter Birtsch, Karl Eibl, Norbert Hinske unter Mitwirkung von Klaus Gerteis und Rudolf Vierhaus sowie Carsten Zelle

Jahrgang 12, Heft 2, 1997

Thema: Christian Wolff seine Schule und seine Gegner

Herausgegeben von Hans-Martin Gerlach

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M B U RG

Unverändertes eBook der 1. Aufl. von 2001. ISBN 978-3-7873-1455-3·  ISBN eBook 978-3-7873-3481-0  ·  ISSN 0178-7128

© Felix Meiner Verlag 2001. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber­ rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.  www.meiner.de/aufklaerung

INHALT

Einleitung. Von Hans-Manin Gerlach..... . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abhandlungen Hans-Manin Gerlach: Eklektizismus oder Fundamentalphilosophie? Die alternativen Wege von Christian Thomasius und Christian Wolff im philosophischen Denken der deutschen Frühaufklärung an der Universität Halle . . . . Boguslav Pai: Christian Wolffs Ontologie. Ihre Voraussetzungen und Hauptdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Döring: Der Wolflianismus in Leipzig. Anhänger und Gegner . . . . . . . . . . Günter Mühlpfordt: Christian Wolffs Lehre im östlichen Europa . . . . . . • • . . . . .

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Kurzbiographie James Jakob Fehr: Franz Alben Schultz (1692-1763).......................

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Berichte Melanie Wald: Urbanität als Aufklärung- Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts. Kulturhistorisches Kolloquium vom 22. bis 25. September 1999 in Halberstadt....................... ... . Susanna Lule: Metastasio im Deutschland der Aufklärung. Symposion vom 13. bis 16. Oktober 1999 in Potsdam ...... „ .... „................. Michael North: Kunstsammeln und bürgerlicher Geschmack im 18. Jahrhundert. Tagung vom 17. bis 18. November 2000 in Potsdam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Siebers: Das Fremde im eigenen Land. Reiseerfahrungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Wissenschaftliches Kolloquium vom 23. bis 24. September 1999 in Eutin........ . .............. .. .. ... . . Rezensionen über Arbeiten von Gottfried Hornig (Arno Schilson), Wolfgang Albrecht (Wilhelm Haefs), Anne Conrad /Arno Henig I Franklin Kopitzsch (Hg.) (Susanne Greilich), Wi lhelm Haefs (Winfried Müller), Ulrike Wecke! u.a. (Hg.) (Ulrike Landfester), Holger Finze-Michaelsen (Hg.) (Konrad Feilchenfeldt), Michael Oberhausen/ Riccardo Pozzo (Günter Mühlpfordt), Ursula Pia Jauch (Konrad Feilchenfeld), Ralph-Reiner Wuthcnow (Ernst Stöckmann) . . . . .

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Autldlrung ISSN 0178-7128,Jahrgang 12, Heft 2. 1997. ISBN 3-7873-1455·5. lnterdisziplinlrc Halbjahresschrift zur Erfonchung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. In Verbindung mit der Oc\ltschen Gesellschaft fllr die Erfonchung des 18. JahrhundertS herausgegeben von Günter Birtsch. Karl Eibl und Norbert Hinske. - Redaktion: Dr. Marianne Willems, Ludwig·Maximilians·UniversiUlt MOn· chcn. lnstitul für deutsehe Philologie, Schellingstraßc 3, 80799 MO.neben, E-mail: au!lc:[email protected] C Felix Meiner Verlag Gmbh, Hamburg 200 1. Printed in Germany. - Gedruckt mit Untcr>tOtzung der Deutschen For· schungsgemeinschaft. - Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beitrtge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwcttung außcrtialb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und s1rafbar. Das gih insbesondere fbr Verviclflll1igungcn, Übcrsetiungcn, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

EINLEITUNG

HANS-MARTIN GERLACH

Christian Wolff - seine Schule und seine Gegner

Ich weiß, daß meine Philosophie nicht mehr die Philosophie der Zeiten ist. Die Meinige hat noch allzusehr den Geruch jener Schule, in welcher ich mich gebildet habe und die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts vielleicht allzu eigenmächtig herrschen wollte. Despotismus von jeder Art reizt zur Widersetzlichkeit. Das Ansehen dieser Schule ist seitdem gar sehr gesunken und hat das Ansehen der spekulativen Philosophie überhaupt mit in seinen Verfall gezogen. Die besten Köpfe Deutschlands sprechen seit kurzem von aller Spekulation mit schnöder Wegwerfung. Man dringet durchgehends auf Tatsachen, hält sich bloß an Evidenz der Sinne, sammelt Beobachtungen, häufet Erfahrungen und Versuche, vielleicht mit allzugroßer Vernachlässigung der allgemeinen Grundsätze.!

Dies bemerkt 1783 der 'deutsche Sokrates' (wie er gelegentlich voller Hochachtung genannt wurde) - Moses Mendelssohn - im Vorbericht zu den Morgenstunden, jenen 17 Vorlesungen, die er zwischen 1783 und 1784 des Morgens in der Frühe zwischen fünf und neun Uhr seinem ältesten Sohn Joseph, dem nachmaligen Chef des Bankhauses Mendelssohn, seinem Schwiegersohn Simon Veit und dem Sohn eines Freundes gehalten hat. Und Moses Mendelssohn schildert damit in nur wenigen Sätzen das Typische im deutschen Geistesleben in der Epoche der Autklärung zwischen deren Beginn und ihrem Ende in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts mit jener einschneidenden Zäsur, die in der Jahrhundertmitte liegt. Während die entscheidenden Dezennien der ersten Hälfte desselben vornehmlich, ja man könnte eventuell sagen fast ausschließlich, von der geistigen und kulturellen Omnipotenz der Wolffschen Philosophie umfangen waren, der sich auch Moses Mendelssohn nicht entziehen konnte und auch gar nicht entziehen wollte, so mußte er diesem 'Despotismus' doch nach der Jahrhundertmitte 'Unzeitgemäßheit' bescheinigen, und er tat es damit auch selbstkritisch im Hinblick auf seine eigene Philosophie. Aber mit dem Verfall der Schule verfiel noch etwas, und das mußte sowohl Moses Mendelssohn als einem der bedeutenden Häupter der deutschen populäMoses Mendelssohn, Morgensrunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, in: ders„ Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd. 312, Sruttgart-Bad Cannstatt l972ff., 4. 1

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ren Aufklärungsphilosophie als auch dem 'Fürsten der deutschen Aufklärung' Christian Wolff, wie er gelegentlich bezeichnet wurde, als ein Vergreifen an der philosophischen Substanz erschienen - nämlich der spekulative Geist, dem die Wolffnachfolgenden Aufklärer abhold waren, die sich dabei besonders hervorhoben durch eben jene „Vernachlässigung der allgemeinen Grundsätze" des Denkens. Mendelssohn sieht dafür andere, zeitgemäßere Haltungen auf den Plan treten, nämlich jene, die alles 'betasten' und 'begucken' müssen, um es für wirklich zu halten, also die 'Materialisten' einerseits und andererseits die Schwarmgeister, die nun vornehmlich umtriebig sind in den Regionen, die 'nicht unter die Sinne fallen'. Und er hofft darauf - freilich mit einem doch eher skeptischen Unterton-, daß das Geschäft, sich gegen diese Flut zur Wehr zu setzen, einem stärkeren Geist als dem eigenen vorbehalten bleiben möge. Er setzt auf den „Tiefsinn eines Kants, der hoffentlich mit demselben Geist wieder aufbauen wird, mit dem er niedergerissen hat"2• Moses Mendelssohn hingegen begnügt sich ,,mit der eingeschränkten Absicht, meinen Freunden und Nachkommen Rechenschaft zu hinterlassen, von dem, was ich in der Sache für wahr gehalten habe."1 Und in diesem 'Für-wahr-halten' in der Sache nimmt bei dem 'Unzeitgemäßen' Mendelssohn der offenbar noch 'unzeitgemäßere' Wolff eine ganz gewichtige Stellung ein. Der so ernannte 'Hoffnungsträger' Kant bedient sich denn auch tatsächlich dessen, was für Mendelssohn wehmütig schon nicht mehr als 'die Philosophie der Zeiten' galt - freilich wohl nicht ganz dem Geschmacke Moses Mendelssohns entsprechend. Für Kant wird Wolff - wie unlängst Jan Rachold in seiner Arbeit über Die aufklärerische Vernunft festhielt im Hinblick auf zwei •1on ihm entwickelte Prinzipien interessant. Diese sind erstens „der rationalistische apriorische Einstieg" und zweitens „der Systemgedanke''4. Es verwundert uns deshalb auch nicht, daß Kant trotz aller 'Metaphysikzertrümmerung' und allem Vorgehen gegen den überwuchernden Dogmatismus einer sich auf Wolff berufenden deutschen 'Schulmetaphysik' den berechtigten Anspruch der „strengen Methode des berühmten Wolff, des größten unter allen dogmatischen Philosophen"s genauso wenig in seinem eigenen Bemühen um eine künftige Metaphysik außer acht lassen wollte und konnte, wie eben auch die Tatsache, daß man dabei „systematisch zu verfahren''6 habe. Den dritten, Ebd., 5. Ebd. • Jan Rachold, Die aufkli!rc.rische Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistischmetaphysischer und politisch-sozialer Deutung. Eine Studie zur Philosophie der deutschen Aufklärung (Wolff, Abbt, Feder, Meineis, Weishaupt), Frankfurt am Main u.a. 1999, 67. s Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 3, Darmstadt 1983, 36. 6 Ebd., Bd. 4, 712. 2

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den 'kritischen' Weg über die beiden anderen hinaus, also die Wege jener 'Sensual'- und 'Intellektualphilosophen' wird Kant schließlich konsequent zu Ende gehen. Wenngleich er selber vornehmlich auf David Hume verweist, der ihm seinen „dogmatischen Schlummer"7 unterbrach, so war es offenbar aber nicht nur dieser, der ihn auf den Weg brachte. Vergessen seien nämlich auch diejenigen unter den deutschen aufklärerischen Denkern nicht, die - teilweise wieder an Christian Thomasius' eklektisches Philosophieren anknüpfend oder eine Verbindung zum Pietismus suchend - den Wolffschen strengen Rationalismus und Determinismus bekämpften und - auf sensualistisch-empiristischen Positionen stehend - es auch 'verhinderten', daß der Verstand in einer 'stupiden Ruhe' sein Recht 'verjähren' ließ, wie Kant gleichfalls bemerkte. Es handelte sich hier insbesondere um die 'Anti-Wolffianer' von Profession, die insbesondere an der Leipziger Universität eine gewichtige Heimstatt hatten und von denen wohl Ch. A. Crusius am nachhaltigsten auf Immanuel Kant theoretisch einwirkte - auch und gerade im Hinblick auf jenes schon erwähnte Erwachen aus dem 'dogmatischen Schlummer'. Kants kritisch-transzendentaler 'Generalangriff' auf die 'Festung' der alten Metaphysik war schließlich von solch gewaltiger Kraft, daß nur noch Ruinen von dem einstmals so stolzen Bau übrig blieben. Bemerkenswerterweise erwuchsen in der Folgezeit jedoch immer größere und gewaltigere Bauwerke einer neuen Metaphysik. Deren 'Baumeister' hießen Fichte, Schelling und Hegel. Und alle blickten sie mit einer wachsenden Herablassung auf denjenigen, der vor dem Einbruch des kritischen Transzendentalismus in das Feld der alten Metaphysik in Deutschland deren genialster strategischer Kopf war, eben Christian Wolff. Wenn Hegel ihm auch noch (und er folgt hierbei Kant auf dem Fuß) große Verdienste um die philosophische Sprache und so „um die Verstandesbildung Deutschlands" bescheinigen mochte, so sah er ihn doch zugleich im innigsten Verhältnis stehend „mit der Dürre und inneren Gehaltlosigkeit, in welche die Philosophie versank", vor allem durch seine Abteilung derselben in „ihre ilirmlichen Disciplinen", die er „in verständigen Bestimmungen mit pedantischer Anwendung der geometrischen Methode ausspann [ ... ] " 8 . Was er ihm jedoch grundsätzlich zum Vorwurf macht, das ist der Mangel am „spekulativem Geist". ,,Alles Spekulative ist entfernt. "9 Und gerade in diesem Mangel und nach Abschütteln „ihrer steifen Form" trete der noch verbliebene Inhalt der Wolffschen Metaphysik in die „spätere Popularphilosophie" ein, die dem „gewöhnlichen Bewußtseyn zu 7 Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 5, Darmstadt 1983, 118. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen Ober die Geschichte der Philosophie, Bd. 3, in: ders., Sämtliche Werke (Glocknersche Jubiläumsausgabe), Bd. 19, Stuttgart 1928, 477. ' Ebd., 481.

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Munde" rede und es „als den letzten Maaßstab" 10 anlege. Der Schuldspruch gegen Wolff, die Wolff-Schule, aber auch gegen die Anti-Wolffianer, die teilweise unterschiedslos in jenes Konglomerat „Popularphilosophie" mit allen negativen Konnotationen eingeordnet werden, ist damit ausgesprochen. Heinrich Heine hat in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland mit seiner bissigen Ironie dem Hegelschen Verdikt dann noch eine ideologisch-weltanschauliche Spitze hinzugefügt, wenn er - gleich den philosophischen Vorgängern in der Wolff-Kritik - diesem zwar auch im positiven Sinne bescheinigt, daß er die deutsche Sprache in die Philosophie einführte, daß aber schon sein Systematisieren nur „eitler Schein" gewesen sei und sein „Popularisieren der Leibnizschen Ideen" dazu beigetragen hätte, daß „das Wichtigste der Leibnizschen Philosophie" - seine Monadenlehre - „diesem Scheine geopfert" worden wäre. 11 Es hätte „eines Riesen" bedurft, so Heine, um die kolossalen Ideen-Quadern und -Säulen des Gottfried Wilhelm Leibniz zu einem schönen Tempel der Weisheit zu fügen. „Christian Wolff jedoch war von sehr untersetzter Statur und konnte nur einen Teil solcher Baumaterialien bemeistern, und er verarbeitete sie zu einer kümmerlichen Stiftshütte des Deismus." 12 Allerdings war in Heines Augen diese „Stiftshütte" leider sehr folgenreich in ihrem Fächer- und Schubkastendenken und ihrer ungeheuren Etikettierungswut. Sie schuf in Heines Augen großes Unheil mit ihrer „Verwässerung", und die „Spuren dieser Sintflut" wären zu seinen Zeiten noch recht bemerkbar, da man „hie und da, auf unseren höchsten Musensitzen [ ... J noch alte Fossilien aus der Wolffschen Schule"13 finden würde. Der Schuldspruch gegen Wolff und dessen Denken schien ein endgültiger zu sein. An Wolff, dessen Schule und dessen deutsche Gegner wollte sich niemand mehr mit Gewinn erinnern. Das 19. Jahrhundert gedachte seiner sehr, sehr wenig, und auch im 20. war die Beschäftigung mit Wolff bis weit in die Jahrhundertmitte hinein eher von Randständigkeit. Erst das zunehmende und nach und nach schnell wachsende Interesse an der Aufklärung als typischer Geisteshaltung einer historischen Epoche in Europa ließ auch Christian Wolffs Philosophieren und das seiner Schüler und Gegner erneut und nunmehr in einem neuen, anderen Lichte erscheinen. Wenngleich im Mühen um ein gewisses Maß an vorurteilslosem philosophiegeschichtlichen Erfassen des Wolffschen Denkens, was zunächst einer verbesserten philologisch-editorischen Basisarbeit bedurfte, die zweifelsohne mit dem Namen des französischen Philosophen Jean Ecole verbunden ist, auch in den AuseinanderEbd. Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: ders., Sämt· liehe Schriften, Bd. 3, München 1997, 574. 12 Ebd. ll Ebd., 575. 10

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setzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine Einheitlichkeit der Positionen unter den Aufklärungsforschern zu erwarten war, wie es Norbert Hinske schon 1979 im Hinblick auf den Stand der Erforschung der Stellung Wolffs in der deutschen Aufklärung darlegte, 14 so war doch zumindest sehr deutlich geworden, daß „die Frage nach 'Wolffs Stellung in der deutschen Aufklärung' [ „.] kein Detailproblem" mehr sein konnte. ,,Sie ist bis zu einem gewissen Grade die Frage nach der deutschen Aufklärung überhaupt."1S Und dies wird um so verständlicher, wenn wir Wolff aus dem engeren Betrachtungsfeld des Philosophen heraus und in einen weiteren Rahmen gesellschaftlicher Breitenwirkung hinein nehmen. Erst dann wird uns deutlich, warum Wolff und der Wolffianismus und - ihm korrespondierend - die antiwolffianischen Denkrichtungen von jener Tragweite zu werden vermochten, die das Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl mehrerer Generationen geistiger Eliten des 18. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen Ländern Europas bis weit über dessen Kontinentalgrenzen hinaus reichend, wesentlich bestimmt haben. Der 300. Geburtstag Christian Wolffs hat in Ost und West möglicherweise auch einiges beigetragen. 16 Das vorliegende Heft der Halbjahresschrift Aufklärung hat es sich nun vornehmlich zur Aufgabe gestellt, die Rolle Wolffs und seines Denkens sowie seiner Schüler und Gegner vom Standpunkt einer die engen philosophischen Theorienfelder und lokalen bzw. territorialen Grenzen überschreitenden Betrachtungsweise aus zu untersuchen. Dabei stehen Kontroversen im Licht des Interesses, die sich schon an jenem universitären Ursprungsort frühaufklärerischen Denkens - also in Halle - genauso abzuzeichnen begannen wie das Pround Kontra-Wolff etwa im benachbarten sächsischen Leipzig. Und neben Überlegungen zu Voraussetzungen und Hauptdimensionen der Wolffschen Ontologie mit besonderer Berücksichtigung Leibnizschen Denkens wird schließlich der Wirkungskreis in wesentlichen Positionen ausgeschritten, den Wolffs Denken vornehmlich in Mittel-, Ost- und Südosteuropa im 18. Jahrhun-

" Vgl. Norbert Hinske, Wolffs Stellung in der deutschen Autklärung, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 4), Hamburg 1 1986 (IJ 983), 306-319. IS Ebd„ 310. 16 Vgl. die Publikationen, die als Ergebnisse von Tagungen in Wolfenbilttel und Halle a. d. Saale vorliegen. Das Material von Wolfenbilttel wurde in den Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 4, von Werner Schneiders unter dem Titel Christian Wo/ff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, Hamburg 1 1986 ( 11983), herausgegeben, das der Hallescben Tagung erschien im Verlag der Universität Halle, in der Reihe: Beiträge zur Universitätsgeschichte unter dem Titel Christian Wo/ff als Philosoph der Aujkltinmg in Deutschland. Hallesches Wo/ff-Kolloquium 1979 anläßlich der 300. Wiederkehr seines Geburtstages (Hg.: H.-M. Gerlach, G Schenk, B. Tbaler), Halle a. d. Saale 1980.

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dert gewonnen hatte. Und auch diesbezüglich gilt: „An Woltf führt kein Weg vorbei." 17 Bei den Herausgebern der Halbjahresschrift Aufklärung, insbesondere bei Norbert Hinske, möchte ich mich für das Vertrauen bedanken, welches sie mir entgegenbrachten, als an mich die Bitte herangetragen wurde, den WoltfSchwerpunkt dieses Bandes zu konzipieren und gemeinsam mit Aufklärungsforschern aus den neuen Bundesländern und Polen, bei denen ich mich gleichfalls herzlich für ihre engagierte Mitarbeit bedanken möchte, zu realisieren. So ist zwanzig Jahre nach den getrennt durchgeführten Woltf-Tagungen anläßlich des 300. Geburtstages des deutschen Aufklärungsdenkers von Weltrang, die in ihrem Getrenntsein der deutschen und der globalen politischen Teilung geschuldet waren, doch noch etwas zustande gekommen, was hoffentlich den alle engen territorialen und politisch-ideologischen Grenzen überschreitenden Geist Wolffschen Philosophierens zu präsentieren in der Lage ist. Mein Dank gilt gleichfalls den Herren Andreas Hütig und Guido Brümmer von der Universität Mainz, die bei der redaktionellen Arbeit an diesem Teil des Bandes engagiert mitgewirkt haben.

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Norbert Hinske, Wolffs Stellung in der deutschen Aufklärung (wie Anm. 14), 316.

ABHANDLUNGEN

HANS-MARTIN ÜERLACH

Eklektizismus oder Fundamentalphilosophie? Die alternativen Wege von Christian Thomasius und Christian Wolff im philosophischen Denken der deutschen Frühaufklärung an der Universität Halle·

/. Das 18. Jahrhundert - „geistesgeschichtlich merkwürdig interessant und doppeldeutig" In seinem Glasperlenspiel läßt Hennann Hesse den Pater Jakobus, dem - wie Hesse bemerkt - wohl „bedeutendsten Geschichtsschreiber des Benediktinerordens"1 in einer Diskussion mit Magister Ludi Josef Knecht sich zum Jahrhundert der Aufklärung und der Streitbarkeit der verschiedenen Parteiungen in ihm, hier sind es vornehmlich die religiösen, äußern. Es hätte eine Zeit in seinem Leben gegeben, in welcher „die verschiedenen Versöhnungsversuche zwischen den feindlichen christlichen Bekenntnissen und Kirchen" zu seinen „bevorzugten Studienobjekten" gehörten, „namentlich die der Epoche um 1700, wo wir Leute wie den Philosophen und Mathematiker Leibniz und dann den wunderlichen Grafen Zinzendorf um die Wiedervereinigung der verfeindeten Brüder bemüht finden [...]. Überhaupt" - so fügt Pater Jakobus nachdenklich hinzu - „ist das achtzehnte Jahrhundert, so schnellfertig und dilettantisch sein Geist oft erscheinen mag, geistesgeschichtlich merkwürdig interessant und doppeldeutig [ ... ]"2. Was immer Pater Jakobus hier im Einzelnen unter „doppeldeutig" verstanden haben mag, daß es „merkwürdig interessant" war, dem wird wohl jeder zustimmen, der sich mit jenem Jahrhundert geistig auseinandersetzt, egal von welcher theorie- oder kunst- und literaturgeschichtlichen Ebene er auch ausgehen mag. Wir wollen uns hier nun vornehmlich dem philosophischen Felde zuwenden, auf welchem 'feindliche Brüder' mehr oder weniger offen bzw. verdeckt mit' In memoriam Jörg Salaquarda. 1 Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel, Berlin 1961, 161. l Ebd., 165.

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Hans-Manin Gerlach

einander stritten, ohne aus dem unmittelbaren Zeitgeist heraus verstehen zu können, daß sie 'Brüder im Geiste' waren, denn erst am Ende dieser Bewegung, die wir heute als vielfältig strukturiertes aufklärerisches Denken und Handeln in Europa begreifen, wurde in Deutschland 1783 jene Grundsatzdebatte in der Berlinischen Monatsschrift - dem Publikationsorgan der 'Mittwochsgesellschaft' - zum Thema „Was ist Aufklärung?" oder „Was heißt aufklären?" geführt3, die es jenem Zeitgeist (und natürlich auch uns heute) ermöglicht, Identität und Differenz, Gemeinsinn und 'Eigensinn', Parteiungskampf, Streit und Einheit genauer fixieren zu können, ohne über dem Gemeinsamen der aufklärerischen Denkbewegung das Differente, den Unterschied zu vergessen. Allerdings soll diese Aufklärungsdiskussion in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts nun nicht so verstanden werden, daß sie letztgültiger Schiedsrichter zwischen den Parteiungen in der damals schon cirka 100 Jahre betriebenen aufklärerischen Bewegung in Deutschland sein könnte, dafür waren die Differenzen in jener Auseinandersetzung dann doch - wenn auch auf andere Art - ebenso groß wie die zu Beginn des 'Zeitalters der Kritik' (Kant). Was erreicht wurde, waren die unterschiedlichen Versuche einer Selbstdefinition von 'Aufklärung' und damit die Sensibilisierung des intellektuellen Zeitgeistes für eine kritisch-konstruktive Betrachtung und Bewertung dessen, was dieses Jahrhundert für das Werden der Mündigkeit der Menschen erbracht hatte. Und da stehen dann schon Fragen im Raum, die intensiv zu diskutieren es sich auch heute noch lohnt, nämlich Fragen nach dem Verhältnis von 'Fremdbildung' und/oder 'Selbstbildung', nach 'Menschenaufklärung' und/oder 'Bürgeraufklärung', nach Bildung, Kultur und 'Politur', nach öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft, nach Vorurteilskritik, die - ins Extrem ausufernd - immer nur Raum für neue Vorurteile schuf, kurz: es sind die Fragen nach der Größe und den Grenzen aufklärerischen Denkens und Handelns einst und heute. Und einer dieser Streitpunkte auf dem Feld früh- oder dann auch 'hoch' -aufklärerischen philosophischen Denkens war der, welchen wir mit dieser Thematik anzudeuten versuchen. Eklektik und/oder ' Fundamentalphilosophie' werden in ihrer Gegensätzlichkeit - die an einem Orte 'blühte', der auch wissenschaftsorganisatorisch (Gründung der 'Aufklärungsuniversität' Halle 1694) ein idealer Nährboden für einen neuen Zeitgeist wurde - hier stark typisiert. Eine historisch detailgetreue Analyse, die natürlich dann auch die einzelnen Wenden und Kehren eines Ch. Thomasius z.B. im Hinblick auf seinen 'Eklektik-Standpunkt' beinhalten müßte, ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt. Wir verweisen in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Forschungsarbeiten von Mi1 Vgl. Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. In Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgew., eingel. und mit Anm. versehen von Norbert Hinske, Darmstadt '1973 (41990).

Eklektizismus oder Fundamentalphilosophie?

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chael Albrecht. 4 Mit der hier vorgenommenen Ausdifferenzierung sollen lediglich einige Grundzüge alternativer Wege im philosophischen Denken der frühen deutschen Aufklärung angedeutet werden, die trotz ihrer Verschiedenartigkeit eben nur unterschiedliche Wege jener „großen Programmideen der deutschen, ja zum Teil sogar der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts" sind, wie Norbert Hinske schon 1986 in seinen Geleitworten für die Halbjahresschrift Aufklärung bemerkt, die er unter das Thema „Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit - drei verschiedene Formulierungen einer und derselben Programmidee" stellt.s Auch die von uns artikulierte Alternative firmiert letztendlich in ihren substantiellen Elementen in der programmatischen, die ganze Aufklärung durchdringenden Idee „eines freien eigenständigen Denkens, das sich aus der Bindung an eine einzelne Autorität, egal ob Schule, Sekte oder Partei, gelöst hat und aus eigener Einsicht nach Erkenntnis sucht. Und in dem vom Konfessionsstreit zerrissenen Deutschland hatte dieses Programm wohl noch eine zusätzliche Brisanz".6 Es ist nun bemerkenswert, daß dieser konfliktreiche Prozeß - inklusive der oben erwähnten 'zusätzlichen Brisanz' - am Beginn dieses aufklärerischen Zeitalters gerade an der soeben neugegründeten Aufklärungsuniversität zu Halle auf eine besondere Art seinen theoretischen Austrag und seine Zuspitzung erlebte, denn neben der konzeptionellen Gegnerschaft zwischen dem Eklektiker Thomasius und dem 'Fundamentalphilosophen' - oder vielleicht besser 'Systemiker' - Wolff trat die unterschiedlich gelagerte und ausgetragene Auseinandersetzung des Haltesehen Pietismus bei seinen beiden Hauptrepräsentanten August Hermann Francke und Joachim Lange hervor. Offenbar scheint die Auseinandersetzung mit letzteren für unser hier in Rede stehendes Problem nur von sekundärer Art zu sein. Wir wollen jedoch (zumindest in einigen Ansätzen) zu zeigen versuchen, daß dies nicht der Fall ist, sondern daß sich hinter dieser äußerlichen Auseinandersetzung, die teilweise ein 'Musterbeispiel' an menschlichem Verrat und universitärem wissenschafts- und kulturpolitischem Intrigantentum war, doch im Inneren auch ein Gutteil jener 'einheitlichen Programmidee' verbarg, wenngleich dies sich einzugestehen die Kombattanten im wilden Haß ihres doch wohl vordergründigen ideologisch • Vgl. Michael Albrecht, Thomasius - kein Eklektiker?, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Thomasius 1655-1728 (Studien zum achtzehnten Jahrhunden, 11), Hamburg 1989; Michael Albrecht, Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart-Bad-Cannstatt 1994. 5 Norben Hinske, Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit - drei verschiedene Formulierungen einer und derselben Programmidee, in: ders„ Eklektik, Selbstdenken, MOndigkeit (Aufklärung III), Hamburg 1986, 7. 6 Ebd., 5.

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Hans-Manin Gcrlach

verkrampften Meinungsstreites damals offenbar objektiv und subjektiv außerstande waren. Das Bemerkenswerte - und das ist offenbar der Kern jener von Pater Jakobus im Glasperlenspiel konstatierten merkwilrdig interessanten 'Doppeldeutigkeit' dieses 18. Jahrhunderts - besteht nun darin, daß die Universität zu Halle nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Kontroversen und teilweisen Feindseligkeiten - zumindest in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem der idealen Standorte dieser typischen Positionen aufklärerischen Denkens mit eminent großer Ausstrahlungskraft auf das Geistes- und Kulturleben in deutschen Landen und weit darüber hinaus wurde. Das scheint wohl gerade deshalb so zu sein, weil wirklich kritisch-aufklärerisches Denken notwendigerweise den Streit der Positionen braucht, wenngleich es auch ein Gebot der damals so häufig beschworenen Klugheit ist, daß ein solcher Streit tunlichst nicht in 'Vernichtungskriegen' enden sollte, wie es dann in Halle leider doch in gewissem Maß der Fall war.

II. Christian Thomasius ' Eklektik - synkretistische 'Geistlosigkeit ' oder weltoffene 'Klugheit'? Wenden wir uns zunächst kurz dem Weg jener 'Halleschen' Eklektik zu, an dessen Beginn jener Christian Thomasius stand, der schon mit seinem ' umstürzlerischen' Tun an der damals stock.konservativen Leipziger Universität auffiel, indem er mit jahrhundert-alten Üblichkeiten, nämlich am 'Schwarzen Brett' der Universität die Vorlesungen in Lateinisch anzukündigen, aufzuräumen begann und am 24. Oktober 1687 die seinige in deutscher Sprache ankündigte. Dieser 'kulturrevolutionäre' Schritt und manche weiteren inhaltlichen und 'förmlichen' Querelen führten schließlich auch noch dazu, daß Thomasius neben den für gelehrte Kreise einst von Leibniz gegründeten Acta eruditorum nun ab 1688 auch dem aufklärerischen Zeitgeist den Weg zum gebildeten Laienpublikum mit der Gründung eines 'Gegenunternehmens' bahnte, indem er sein Literaturmagazin mit dem wahrhaft barocken Titel: Freymüthige, lustige

und Ernsthaffte, jedoch Vernunft- und Gesetzmäßige Gedanken. Oder MonatsGespräche über allerhand, fornehmlich aber Neue Bücher durch alle zwölf Monate des J688. und 1689. Jahres, durchgefohrt von Christian Thomasius herausgab. Damit sollte im echt aufklärerischen Sinne die kulturelle Barriere zwischen jener in akademisch-theoretischer Abgeschlossenheit lebenden Gelehrtenkaste und einem breiten bildungsinteressierten, allem Neuen gegenüber recht aufgeschlossenen Laienpublikum, welches sich besonders im sehr selbstbewußten Leipziger Finanz- und Handelsbürgertum (aber auch darüber hinaus) manifestierte, niedergerissen werden. All dies und sein bewußt provokantes

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Setzen auf die damalige, vornehmlich natürlich von Frankreich inspirierte Modeme (bis hin zu seiner modischen französischen Kleidung, die der strengen akademischen Kleiderordnung absolut zuwider war) brachte es schließlich zum offenen Bruch zwischen Thomasius und den Professorenkollegen innerhalb der Alma mater lipsiensis. Er verließ fluchtartig seine Wirkungsstätte, begab sich zunächst an den ihm wohlgesinnten Hof in Berlin und ging dann im 'allerhöchsten' Auftrag an die Hallesche Ritterakademie, an welcher er einige Jahre lehrte, um hernach mit anderen Gelehrten - so u.a. auch mit seinem Freund und Kollegen aus Leipziger Tagen, A. H. Francke - mit der königlichen Ordre betraut zu werden, die Gründungsdokumente der Halleschen Universität auszuarbeiten, die 1694 die theoretische, rechtliche und politische Basis der ersten deutschen Universitätsgründung im Geiste der Frilhaufklärung werden sollten. Dies wird hier vor allem deshalb erwähnt, weil sich darin schon in Thomasius' wissenschafts- und kulturpolitischer Haltung etwas ausdrückte, was auch bei allem Wandel in seinem philosophischen Konzept durchaus eine theoretische Entsprechung fand. Und das war u.E. eben jene schon erwähnte Eklektik, die in späteren Zeiten zum Eklektizismus mutierte und damit vornehmlich eine pejorative Konnotation erhielt, die der 'Meisterdenker' der philosophischen Klassik, nämlich Wilhelm Friedrich Georg Hegel, wohl auf geradezu paradigmatische Weise zum Ausdruck brachte, indem der diesbezüglich bemerkte, daß ein eklektisches Vorgehen „etwas sehr Schlechtes" in dem Sinne sei, „daß ohne Konsequenz aus dieser Philosophie dieses, aus einer anderen etwas anderes aufgenommen wird, - wie wenn ein Kleid aus Stücken von verschiedenen Farben, Stoffen zusammengeflickt wäre" und deshalb ,,Eklektizismus nichts gibt als ein oberflächliches Aggregat". 7 Für ihn taugen Philosophen, die in diesem Geiste denken und in der Welt handeln, - nichts. Dies aber ·sah Christian Thomasius nun ganz anders. Er versteht unter der Denkart der Eklektik - zumindest in seiner fiilhen Phase - nicht jenen synkretistischen Mischmasch, den erstmals philosophiegeschichtlich wohl Diogenes Laertius in seinem Werk Leben und Meinungen berühmter Philosophen konstatierte, als er davon sprach, daß sich „erst vor kurzem noch eine eklektische Sekte" auftat „unter Führung des Potamon von Alexandria, der sich aus den Lehren aller Sekten auswählte, was ihm gefiel"8, also nach subjektivem Geschmack und Gefallen. Thomasius versucht sich gerade antisynkretistisch, eben merklich eklektisch in dem Sinne zu verstehen, wie ihn Epikur als 'wahren Eklektiker' definierte, der nicht schlechthin Eigenes mit unpassend-fremdem Gut nach Belieben vermenge, sondern in sein System nur das einfüge, was zu diesem als System auch pas1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ilber die Geschichte der Philosophie, Bd. 3, in: ders„ Samtliche Werke (Glocknersche Jubiläumsausgabe), Bd. 19, Stuttgart 1928, 32. 1 Diogenes Laenius, Leben und Meinungen ber11hmter Philosophen, Hamburg 1998, 12.

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send ist. Sowohl in seinem philosophischen Erstlingswerk lntroductio ad philosophiam aulicam aus dem Jahre 1688 (in Leipzig als Privatdruck herausgegeben) als auch in der deutschen Fassung mit dem Titel Einleitung zur Hof Philosophie, oder kurtzer Entwurf! und die ersten Linien der Klugheit zu Bedenken und vernünftig zu schließen ( 1712) ging es Thomasius zunächst darum, den Standort der Philosophie historisch zu bestimmen, und zwar in all ihren 'Secten', wobei 'Secte' für ihn nicht den Bedeutungssinn trägt, den man im landläufigen Sinne diesem sprachlichen Ausdruck heute beimißt. Eine 'Secte' gilt Thomasius als eine philosophische Richtung, deren Repräsentanten, die „Sectirer", „an eines gewissen Lehrers seinen besonderen Lehr-Sätzen gebunden bleiben und dieselben aus einem mehr als weiblichen Affect und blindem Zuplatzen defendiren'"l. Nach dem Verfolg der Entwicklung dieser „Secten", mit welchem uns Thomasius im einleitenden Kapitel der Philosophia aulica einen knappen, aber historisch weitreichenden Abriß der Geschichte der Philosophie seit der 'Sündfluth' gibt, reichend von den 'Sethianern' (den Kindern Gottes) und den 'Cainitern' (den Nachkommen Kains) über die „heydnische" Philosophie, die er hinwiederum in die 'barbarische' (asiatische, afrikanische sowie europäische) und die griechisch-römische teilt, vergleicht er diese lange Entwicklungslinie philosophischen Denkens mit der „Eclectischen Philosophie", mit welcher er sich ausdrücklich eng verbunden fühlt. Im § 90 des 1. Kapitels der Einleitung zur Hof Philosophie bemerkt Thomasius zu dieser 'philosophischen Secte': Ich nenne aber eine Eclectische Philosophie eine solche, welche da erfordert, daß man von dem Munde eines eintzigen Philosophi allein nicht dependiren, oder denen Worten eines eintzigen Lehr-Meisters sich mit einem Eyde verpflichten soll, sondern aus dem Munde und Schriften allerley Lehrer, alles und jedes was wahr und gut ist, in die Schatz-Kammer seines Verstandes samrnlen müsse, und nicht so wohl auf die Autorität des Lehrers Reflexion mache, sondern ob dieser und jener Lehr-Punct wohl gegründet sey, selbst untersuche, auch von dem Seinigen etwas hinzuthue, und also vielmehr mit seinen eigenen Augen als mit andern sehe. Derowegen dann ein großer Unterschied zwischen den Philosophis Eclecticis ist und unter den Autodidacticis, Quodlibristen und Zusammenschmierern.10

Das Wesen eines Eklektikers ist es also überhaupt nicht, nur etwas nach Geschmack 'zusammenzuschmieren', sondern es besteht darin, daß solche 'WeltWeisen' das „allerbeste, was ihnen von ihren Lehrmeistern vorgesaget worden, und das außerlesenste von allen Sectirischen Lehren behalten, das übrige aber nach Anleitung ihres eigenen Verstandes"11 von ihnen selbst hinzugetan wurde. 9

Christian Thomasius, Einleitung zur Hof-Philosophie, Leipzig und Berlin 1712 (Fotomechan. Nachdruck, Hildesheim 1994). Kap. 1, § 89, 49f. 10 Ebd„ Kap. 1, § 90, 50. " Ebd., Kap. 1, § 36, 21.

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Für Thomasius ist es also wichtig, nicht nur zu sammeln, sondern auch nach dem eigenen Verstand etwas zu den gewonnenen Erkenntnissen hinzuzufügen. Das macht den 'rechten Eclecticus' aus, der seinerseits nicht seine vorgebrachten Lehrsätze wiederum seinen Schülern als 'unanzweifelbar' weitergeben darf. Thomasius erkennt also durchaus die Gefahr, die besteht, wenn das 'eclectische' Denken seinerseits zur 'Eclectischen Secte' wird; freilich nicht ohne später selbst dieser Eitelkeit zu verfallen. „Ein solcher grosser Unterschied ist es, ein rechter Eclecticus zu seyn, und eine Eclectische Secte zu bekennen." 12 'Sectirisches' Philosophieren ist für ihn gar nicht notwendig, und dem 'gemeinen Wesen', also der menschlichen Gemeinschaft, erwachse daraus auch kein Nutzen, im Gegenteil, die „sectirische Philosophie" habe immer auch Anlaß ,,zu großen Unruhen in der Kirchen und gemeinem Wesen an die Hand gegeben,''13 was man von der „eclectischen" nicht behaupten könne, da sie bei der Vielfalt der Wahrheitsfindung nützlich und „nicht partheyisch, sondern mit gleicher Liebe allen zugetha!1 ist." 14 Sie überläßt es allen, frei ihren Meinungen nachzugehen. Sie will weder neue Sekten und deren Dogmen autoritär einführen noch hat sie die Absicht, das Alte 'aus der Republik' zu schaffen. Die Kette solcher eklektischen Denker reicht besonders in der Philosophie der Neuzeit für Thomasius von Bacon bis zu seinem eigenen Lehrer Sturm. Letzterer nahm mit seiner Dissertations-Sammlung, die er 1686 und 1698 in zwei Bänden unter dem Titel Philosophia eclectica in Altdorf herausgab, besonders intensiv auf Thomasius' philosophischen Werdegang Einfluß. Christian Thomasius verweist aber auch besonders darauf, daß „heutigen Tages die meisten gelehrten Gesellschaften, welche in Teutschland, Italien, Franckreich, Engelland und Dännemarck auffgerichtet sind worden, sich zu dieser Philosophie bekennen."1s Namentlich bezieht er sich auf die königlich französische Akademie und die königlich englische Sozietät der Wissenschaften. Bei dieser Sicht auf die Positionen der 'Sectirer' und 'Eclectici' ist schließlich für Thomasius die Zuordnung derselben zu Bildungs- und Forschungseinrichtungen der Zeit, d.h. zu den bildungs- und wissenschaftspolitisch relevanten Größen, ziemlich eindeutig, nämlich derart, „daß heutigen Tages die Sectirische Philosophie auf den Schulen am meisten geachtet wird. Die Eclectische Philosophie aber ist bey Ebd., Kap. 1, $. 92, S1. Es sei in diesem Zusammenhang nochmals verwiesen auf den Aufsatz von M. Albrecht, Thomasius - kein Eklektiker? (wie Anm. 4), in welchem er auch auf das Problematische der Thomasiusschen Eklcktik-Auffassung aufinerksam macht, der einer „bis heute reichenden Verschiebung des Begriffs Eklektik den Boden" (S. 89) bereitete. Gleichzeitig hebt er ab auf die Wandlungen in Thomasius' Einstellung zur Eklektik, die in unserem Zusammenhang aber keine Berücksichtigung finden können. 12

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Elxl.

Ebd. " Ebd.• Kap. 1, § 93, 52. 14

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den Höfen in grösserem Ansehen." 16 Während vornehmlich die Universitäten noch getreu dem aristotelischen Dogma folgen und sich so sektirerisch begrenzen, sind die wissenschaftlichen Gesellschaften, die wesentlich das Produkt eines neuen Zeitgeistes sind und sich politisch eng mit aufgeklärt-absolutistischen Herrscherpersönlichkeiten verbunden fühlen, dem weltoffeneren 'eklektischen Philosophieren' zugeneigt. Dies konstatiert auch Thomasius, wenngleich seine eigenen Vorstellungen über wissenschaftliche Forschung, insbesondere die die Natur betreffen, eher aus 'vonnodernen' Zeiten stammen und nicht mit den Wissenschaftsstandards und -paradigmen eines Galilei etwa übereinstimmen dürften. Eklektik verband sich für ihn aber zunächst immer mit dem Gedanken eines methodisch orientierten Vorgehens in der Forschung. An der Spitze steht dabei zunächst eine 'Aufräumarbeit' in den 'alten Traditionen'. Die vorhandenen Vorurteile müssen einer prinzipiellen Kritik unterzogen werden, was zugleich den Vorteil besitzt, daß man mehreren Meinungen offen gegenüberzustehen hat und nicht sklavisch nur einer einzigen verpflichtet ist. Jede Verpflichtung, nur einem ' Sectenoberhaupt' anzugehören, wird abgelehnt. Es sind mehrere Meister zu befragen und erst dann ist eine Auswahl zu treffen. Ähnlich wie Francis Bacon in seinem Neuen Organon, so sucht auch Christian Thomasius eine möglichst große Breite und Vielfalt für einen offenen Vergleich, welcher auch hier offenbar Francis Bacon in dessen Kritik der Idole weitestgehend recht nahestehend - durch 'Vorurteilskritik' zielstrebig helfen soll, die 'wahren Erkenntnisse' von den vorhandenen Vorurteilen zu scheiden. Erreicht wird dadurch - so meint Thomasius - , daß man weder ein 'Sectirer' noch ein 'Syncretiste' wird, sondern Philosoph bleibt, weil man ein ' Eclecticus' ist. In den Cautelae Jurisprudentiae bemerkt er dazu, daß ein 'Weißheit-Liebender' kein 'Sectirer' ist, sondern ein 'Eclecticus', der aus allen philosophischen Sekten die Wahrheit herausliest, dabei ihre Fehler bemerkt und alle jene Lehren dann als Erkenntniskriterium am 'Probierstein' der 'gesunden Vernunft' prüft.17 Auf diese Art werden wir mit vielen Wahrheiten (und Meinungen) bekannt, die wir sonst nicht kennengelernt hätten. Er ist der festen Überzeugung, daß es allemal gut ist, auf diese Weise wandelbar und veränderlich zu sein und aus 'allerley Theilen zusammengeflickt', weil dies den entscheidenden Vorteil hat, daß Dynamik im Wahrheitsfindungsprozeß akzeptiert werden muß, weil eben alles wandelbar ist und man nie nur einem Vorbilde starr verhaftet bleibt.

Kap. 1, § 96, 53. Vgl. Christian Thomasius, Cautclae circa praccognita Jurisprudentiae, Halle im Magdeburgischen 1710, 91 (Übers.: Christian Thomasius, HöchstnOthige Cautelen [ ... ), Halle im Magdeburgischen 1729, 135). 16 Ebd., 17

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Für Thomasius ist also derjenige ein produktiver und zugleich auch ein freier Denker, der der philosophischen Eklektik zugehört, weil gerade er nicht sklavisch nur einem Sektenoberhaupt verbunden ist, viele Meinungen achtet und frei aus ihnen das auswählt, was der inneren Logik seines Denkens adäquat ist. Und er lehnt den Ruf nach einer einzigen Philosophie ab zugunsten einer „so wandelbahren, veränderlichen, und aus allerley Theilen zusammen geflickten, welche alle Tage anders wird, und nimmer bey dem einen bleibet." Eine solche 'eintzige Philosophie' verdiene es nicht, den Namen einer 'wahren Philosophie' zu tragen. „Solcher Gestalt ist auch ein Pallas!, welcher von mancherley Künstlern ist ausgezieret worden, besser als ein schlechtes Hüttlein, wenngleich dasselbe nur von eintzigen Bauren aufgebauet ist worden." 18 Was also wahr und gut ist, das solle man in die 'Schatzkammern seines Verstandes' einsammeln. Kriterium dafür aber, was wahr und gut ist, kann deshalb nicht das absolute Festhalten an einem fremden theoretischen Standpunkt sein, sondern es heißt: Selbstüberprüfung am Probierstein der eigenen gesunden Vernunft. Die daraus hervorgegangenen Erkenntnisse solle man seinem Wissensschatz ohne Voreingenommenheit beifügen. Mit eigenen Augen muß man sehen und mit dem eigenen Verstand denken, nicht aber mit fremden Autoritäten - man darf auf keinen Fall 'denken lassen', wie Kant es später festhielt. Gerade letzteres ist für Thomasius aber die Crux aller 'Sectirerischen Philosophie', da die Anhänger derselben dem 'Haupt der Secte' allzugroßes Lob spenden, welches dann verhindert, daß man sich von den alten Regeln schnell und konsequent zu trennen vermag, um zu neuen Ufern aufzubrechen. 'Sectirerische Philosophie' ist so wesentlich allen Neuerungen abhold. Deshalb müssen alle wirklich großen Denker der philosophischen Vergangenheit - von Pythagoras über Platon bis zu Bacon und Descartes, aber eben auch jene schon erwähnten großen gelehrten Gesellschaften in Europa - für Thomasius in ihrem Wesenskern eigentlich 'eklektisch' gewesen sein. Nur die Faulen und Ungeschickten werden sich nie zu Eklektikern entfalten, da sie sich immer nur einer 'eselhaften' Arbeit von Sektierern verpflichtet fühlen. Das positive Auswahlverfahren, welches also der vorausgehenden Vorurteilskritik auf dem Fuß folgen muß, soll dann die Menschen befähigen, sich anzustrengen, um sich zwischen alternativen Denkwegen zu entscheiden und nicht etwa 'partheyisch' dem einen oder den anderen nachzufolgen. Es gilt vielmehr, den 'goldenen Mittelweg' zu finden. Also keine einfache Auswahl zwischen einem 'guten' und einem 'schlechten' Weg, wie es uns gewöhnlich solche Alternativvorstellungen suggerieren möchten, sondern das Auffinden eines dritten mittleren Weges, der gegen schlechte, weil irreführende Alternativen, steht. „Nicht Heracles in bivio, sondern Thomasius in trivio" bemerkt Werner Schneiders sehr 1•

Christian Thomasius, Einleitung zur Hof-Philosophie (wie Anm. 9). Kap. 1, § 98, 54f.

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treffend in seinem Buch Hoffnung auf

Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland mit Bezug auf jenes Vorsatzbild, welches der lntroductio ad philosophiam aulicam beigefügt ist und eigentlich in anschaulicher Form den wahren Sinn dieser selbstbewußten Entscheidung der Wahl für den richtigen Mittelweg zu erfassen sucht. 19 Auf jenem Bild sehen wir im Vordergrund zwei Personen, die eine dritte - der modischen Kleidung nach zu urteilen offenbar Thomasius selbst - zu beeinflussen suchen, ganz bestimmte Wege, die vom Standort der Personen aus in drei verschiedene Richtungen zu bestimmten Endzielen führen, zu beschreiten. Der eine Weg (rechts) geht zu einer Personengruppe, die uns eine Ansammlung alter Gelehrter in ihrer akademischen Tracht zeigt, und sie sind um ein 'altes Weib' geschart, das offenbar die in die Jahre gekommene Metaphysik des Aristoteles darstellen soll. Dies ist der Weg der aristotelisch-peripatetischen Schulphilosophie, der natürlich für Thomasius ein abzulehnender ist. Genauso problematisch ist aber auch der linke Weg, der uns zu einem Spiegelbild führt, welches bemerkenswerterweise hier nur der seitenverkehrte 'Abklatsch' einer Menschengruppe ist, die am Ende des mittleren Weges steht. Im Zentrum dieser Gruppe befindet sich ein schönes 'junges Weib', eine junge Königin mit Zepter und Krone, die auf ihrem Throne sitzt und die umgeben ist von einem nach damaliger Kavaliersart gekleideten Hofstaat junger Männer. Es ist offenbar die 'Königin Weisheit' mit all ihren Dienern und Helfern. Diesen mittleren Weg muß man, so man erfolgreich in seiner Philosophie sein will, gehen, denn auch der angezeigte linke Weg führt uns eben nur zu geistigen 'Trugbildern' von der Wirklichkeit und nicht zur echten Realität empirisch vernehmbarer Dinge und vernehmbarer Dinge und Prozesse selbst. Dieser linke Weg - also letztlich auch ein Irrweg - ist wohl der des Rationalismus eines Rene Descartes, dem Thoma" Werner Schneiders, Hoffnung auf Vcmunn. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Ham-

burg 1990, 55.

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sius gleichfalls eher skeptisch gegenüber steht. Der wahre Weg der Erkenntnis ist nun jener 'mittlere Weg', der Thomasius' eklektische Philosophie auszeichnet. Dieser Weg aber ist der „des Selbstdenkens, der direkt zur Wahrheit führt"20. Und der Eklektiker Thomasius wird mehr und mehr ein selbstbewußter Eigendenker, der sich gegen jenen überzogenen ' modernistischen' Intellektualismus genauso wehrt wie gegen alte, überholte, dogmatische Schulphilosophie, und der nur eines im Auge hatte - Praxis - , was schon in jenem merkwürdigen philosophischen Titel 'Hofphilosophie' ausgedrückt werden sollte, die nicht etwa als eine Philosophie zur Beratung oder gar nur zur Erbauung von Herrscherhäusern begriffen werden wollte, sondern die sich als eine praktische und theoretische Anleitung für junge Menschen verstand, die sich bei Beachtung des vorgetragenen Inhalts und seiner Methodik im öffentlichen Leben (modern gesagt) 'karrieregerecht', also erfolgreich verhalten können. Die praktische Philosophie ist es dabei vornehmlich, der Thomasius' allergrößtes Interesse gilt, und diese reicht bei ihm fächerübergreifend von der Anthropologie über die Psychologie bis hin zur Moral, zum Recht und zur Politik. Freilich ist sie so nicht unbedingt vergleichbar mit der Praxis einer damals modernen experimentierenden Wissenschaft. Ohne eine entsprechende Affektenlehre, die Thomasius in seiner Psychologie entwickelte, wie er in seiner Anthropologie die Willenslehre zum Gegenstand seiner theoretischen Analysen und Konstruktionen machte, wäre er wohl nicht zu dem geworden, als was er ehrfurchtsvoll vielen seiner Zeitgenossen galt - der ' deutsche Sokrates', der sich im Kampf gegen Aberglauben und Hexenwahn als mutiger Vorkämpfer der frühen deutschen Aufklärung erwies. Ernst Bloch bezeichnete ihn deshalb auch als 'aufrechten bürgerlichen Mann ohne Furcht und leidlich ohne Tadel', der prinzipiell systemkritisch war (wie einst eben auch Sokrates), dem aber (wie jenem antiken 'Vorbild' auch, dem der Systematiker in der Person Platons folgte) nunmehr am gleichen Aufklärungsort sein 'Gegenwurr erwuchs nämlich der 'Systemiker' und Repräsentant einer 'Philosophia systematica' Christian Wolff, den die einen als ' Fürsten der deutschen Aufklärung' feierten und dem die anderen nicht einmal das Prädikat 'Aufklärer' einräumen wollten, weil er alles andere als dieses sei, da er nämlich in Wahrheit der letzte Repräsentant scholastischer Schulphilosophie protestantischer Provenienz in Deutschland gewesen wäre. Auf all diese Anwürfe wird hier nicht näher eingegangen werden können; vielmehr wollen wir versuchen, den tatsächlichen Differenzpunkt zu Thomasius zu zeigen, um jedoch über allen Differenzen auch das Identische in den Blick zu bringen, nämlich doch auch einen jener Wege philosophischer Aufklärung beschritten zu haben, die schließlich in einen drit-

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Ebd.

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ten mündet, nämlich den der Kantischen kritischen Philosophie, die abzuhandeln wir hier jedoch nicht mehr vorhaben.

III. Christian Woljfs Fundamentalphilosophie - pedantischer Dogmatismus oder aufgeklärtes Systemdenken? Steht am Beginn der deutschen philosophischen Aufklärung mit der Person Christian Thomasius' und seiner Lehre die Eklektik oder der Eklektizismus, so steht also am Ende derselben mit dem Kantschen Transzendentalismus der Kritizismus, der zugleich den Weg in einen neuen Abschnitt des philosophischen Denkens in Deutschland weist. Was aber liegt dazwischen? Dazwischen finden wir viele geistige Richtungen, Strömungen und Bewegungen, die das kulturelle Leben in Deutschland und darüber hinaus bestimmt haben, reichend etwa vom Psychologismus Tetens' über die Popularphilosophie Garves und anderer bis hin zu Lessings 'Freimäurer'-Gesprächen und seiner Erziehung des Menschengeschlechts. Wesentlich aber steht im Zentrum des philosophischen Denkens eben jener Christian Wolff mit seiner - wie wir meinen - ' Fundamentalphilosophie'. Was ist darunter zu verstehen? Greift man heute auf einen solchen Begriff zurück, so ist er sofort in die Nähe eines politisch-ideologisch aufgeladenen 'Fundamentalismus' gerückt, der wesentlich eine negative inhaltliche Bestimmung transportiert und dessen praktisches Realisationsfeld häufig gekennzeichnet ist durch physische und psychische Totalnegation anderer Positionen. Dies alles soll und muß hier ausgeschlossen bleiben. Wir wollen uns auf den philosophischen Raum begrenzen und da taucht eigentlich nur im 20. Jahrhundert, dann aber äußerst vehement und auch wirkmächtig für das ganze Jahrhundert jener Begriff einer 'Fundamentalontologie' auf, den Martin Heidegger für sein Denken, wie er es in Sein und Zeit entwickelt hat, in Anspruch nahm. Für ihn bleiben alle Ontologien blind und eine Verkehrung ihrer ureigensten Absichten, „wenn sie nicht zuvor den Sinn von Sein zureichend geklärt und diese Klärung als ihre Fundamentalaufgabe begriffen" haben 21 • Für ihn, den alle bisherigen Antworten auf diese „Sinnfrage" nicht zu befriedigen vermochten, muß die zu schaffende „Fundamentalontologie, aus der alle anderen erst entspringen können, in der existentialen Analytik des Daseins gesucht werden"22 • Die Seinsfrage kann nur von hier aus sinnvoll in Angriff genommen werden. Für Christian Wolff wäre dies sicherlich eine unverständliche Position,die er von lnhalt und Methode im höchsten Maß inakzeptabel gefunden hätte. Eher wäre er - zumindest vom Äußeren her gesehen - wohl jener Inten11

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Martin Heidegger. Sein und Zeit, Tübingen 1979 ('1927), 11. Ebd.• 13.

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tion gefolgt, die der Philosoph und Königsberger Kant-Nachfolger Wilhelm Traugott Krug 1803 äußerte, als er wohl erstmals den Begriff 'Fundamentalphilosophie' prägte, die er allerdings vornehmlich als eine 'urwissenschaftliche Grundlehre' verstand, die im Sinne einer „Methoden- und Prinzipienlehre" jeglicher philosophischen Disziplin vorausgeschickt werden sollte. Krug schreibt dazu: Die Fundamentalphilosophie als erster Teil der Philosophie ist die Wissenschaft von den Möglichkeiten der Philosophie selbst. Sie untersucht daher die Prinzipien der philosophischen Erkenntnis Oberhaupt und stellt diejenigen Grundsätze auf, welche für alle übrigen philosophischen Wissenschaften gültig und von welchen diese abhängig sind [ ... )Sie ist folglich auch das Organon für alle übrigen Teile der Philosophie23.

Für Krug, einen Popularisator des Kantschen Denkens, ist „Fundamentalphilosophie" eine Art erkenntnistheoretisch-methodologische Grundlehre über die Möglichkeit der Philosophie oder eine Propädeutik. Ist dies nun auch für Wolffs philosophisches Bemühen zutreffend? Ganz sicher nicht, denn bei Krug handelt es sich um eine erkenntnistheoretisch ausgelegte, transzendental bestimmte philosophische Ur- oder Vorwissenschaft, die es sich zur Aufgabe stellt zu klären, wie Philosophie als theoretische Disziplin überhaupt möglich ist. Bei Wolff geht es um weit mehr. Er will - gerade jenseits eines jeglichen Eklektizismus, den sein Kollege Thomasius im halleschen Hause der eigenen Alma mater zur Doktrin erhoben hatte, aber auch jenseits allen Skeptizismus' ä la Montaigne oder Bayle - zu den 'festen Gründen' des philosophischen Denkens zurück, weil ihm klar war, daß man zu einer echten Form des Selbstdenkens und des Sich-Selbstbestimmens niemals kommen kann, wenn die Fundamente des philosophischen Denkens lediglich nur im klugen Auswahlverfahren eines gebildeten Kopfes aus der Masse angebotener Denkprodukte vieler oder allein im skeptischen Zweifel bestehen sollen. Wolff will eine Philosophie begründen, die mit allen Zweifeln und Ungewißheiten letztendlich grundsätzlich fertig zu werden gedenkt. „Sie ist die endgültige Philosophie"24 , wie Werner Schneiders deshalb zu Wolffs Philosophiebegriff bemerkt. Und das kann sie nur werden, wenn sie von allen Meinungen, Gelehrsamkeiten und sonstigen Absichten (wie Glücksstreben etc.) absieht und sich nur bemüht, eines zu sein: Scientia - Wissenschaft. Ihr geht es um die Wahrheit als solche, die aus absolut evidenten Prinzipien demonstriert: „habiturn conclu-

21 Wilhelm Traugott Krug, Fundamental-Philosophie oder urwissenschaftliche Grundlehre, ZOllichan '1819 ( 11803), 299f. 2• Werner Schneiders, Deus est philosophus absolutissimus. Über Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 4), Hamburg '1986 ( 11983), 12.

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siones ex firmis principiis demonstrandi"25 • Diese Philosophie, die auf solche Weise vorgeht, ist eine Universalwissenschaft, alle anderen sind nur deren Entfaltungen - auch die exakten Naturwissenschaften -, von denen Wolff eigentlich erst das Erkenntnisideal, welches er hier als 'Professor Matheseos und der Naturlehre' vertritt, entlehnt hat. Aber er kehrt die Sache um, denn wahre Wissenschaft beginnt mit der Cognitio philosophica, die allem anderen Wissen erst die gründenden Fundamente legt; und zwar sowohl den exakten Naturwissenschaften, die aber eigentlich legitimer Teil dieser fundamentalen, universalen philosophischen Wissenschaft sind, als auch den anderen Teilen des Wissensgebäudes, also der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin. Was in der Wissenschaftshierarchie der Universitäten bislang das 'Unten' der niederen Fakultät im Verhältnis zu den 'oberen Fakultäten' war und mit gewisser herablassender Distanz von den Oberen betrachtet wurde, entwickelte sich in seinem neuen Selbstbewußtsein plötzlich zum wahren Fundament, auf welchem die Oberen erst sicher ruhen können. Um mit Hegel zu sprechen, der 'Knecht' hatte sich als der eigentliche 'Herr' des Wissens und des Seins erwiesen. Vor Kants Streit der Fakultäten hatte Wolffs Denken hier Positionen entwickelt, die dem philosophischen Emanzipationsprozeß als solchem neue Wege öffueten. Das war aber in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur möglich, indem Wolff einen gewaltigen Spagat wagte, nämlich das exakte mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen der Zeit mit dem Prinzipienwissen der klassischen Metaphysik zu einem Dritten zu vereinen. Was bei Descartes noch im Dualismus zwischen dem Metaphysiker Descartes und dem Physiker Descartes verblieb und sich bei Leibniz in einer pluralen Vielfalt einzelwissenschaftlicher und metaphysischer Erkenntnisse und Prinzipien darbot, wurde vom strengen Systematiker Wolff zur universalen Einheit seines fundamentalphilosophischen Systems zusammengebracht, welches keinen Bereich des Seins und des Denkens aus seiner logisch folgerichtigen Ableitung entließ. Die Ableitung aber erfolgt aus Gründen, und Philosophie ist Erkenntnis aus Gründen. Erkenntnis des Grundes aber ist Ursachenerkenntnis und diese hinwiederum ist Möglichkeitserkenntnis. Philosophie - zumal Fundamentalphilosophie - geht also nicht auf Wirklichkeitserkenntnis, sondern primär auf die der Möglichkeit aus. Im „Vorbericht" zu seinen Vernünftigen Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes (Deutsche Logik) aus dem Jahre 1712 schreibt Wolff in Paragraph 1: „Die Welt-Weißheit ist eine Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind". Und in Paragraph 3 fügt er sogleich hinzu: „Möglich nenne ich alles, was seyn kann, es mag entweder wirklich da seyn

2s Christian Wolff, Philosophia practica univcrsalis, melhodo malhematica conscripta 1703, in: Mclctcmata mathcmatico-philosophica, Halle 1755, Sec. II.§ 1.

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oder nicht"26. Diesen Möglichkeitsbegriff vertieft er in der 'Deutschen Metaphysik' noch, wenn er dort schreibt: „[ ... ] möglich sey, was nichts Widersprechendes in sich enthält"27. Dies ist dann der absolut zureichende Grund, „daraus man sehen kann, warum es vielmehr ist, als nicht ist". Und sogleich setzt er in Paragraph 5 und 6 fort: „Demgemäß muß ein Weltweiser nicht nur wissen, daß etwas möglich ist, sondern auch warum" und „dadurch unterscheidet sich die gemeine Erkenntnis von der des Weltweisen"28. Der riesige Bau der Wolffschen Metaphysik, der ihn vielleicht zum größten Systematiker der europäischen Philosophie der Aufklärungszeiten werden ließ, beruht letztlich auf zwei unumstößlichen Sätzen: dem der inneren Widerspruchsfreiheit und dem des zureichenden Grundes. Diese beiden Sätze sind es, um die sich das ganze System des Denkens dreht. Freilich ist dies allein noch nicht der hinreichende Grund, dem Wolffschen Denken das Attribut 'fundamental' zuzusprechen, denn keine der vorhergehenden oder nachfolgenden metaphysischen Philosophien war anders orientiert als die Wolffsche; von Platon bis zu Descartes und Spinoza oder Leibniz sucht alle Metaphysik nach Entitäten, Prinzipien, die unumstößliche Letztgültigkeiten für sich in Anspruch nehmen konnten; die 'Ideen' im Gegensatz zu ihren Erscheinungen sind bzw. die Inhalte und Nonnen einer von allen Tatsachen abgeschiedenen, höheren eigentlichen Wirklichkeitsklasse repräsentieren. Descartes 'Cogito' ist in dieser formalen Hinsicht der spinozistischen Substanz vergleichbar. Und Wolffs 'Metaphysica generalis', der die 'Metaphysica specialis' nachgeordnet ist, macht hier durchaus keine Ausnahme. Ihr metaphysisches 'fundamentales' Ansinnen besteht aber nun vielmehr gerade darin, mit zwingender logischer Ableitbarkeit aus diesen beiden ersten Grundsätzen der 'ersten Philosophie' alle anderen Bereiche des Seins und des Denkens in einer Lückenlosigkeit und zwingenden Folgerichtigkeit zu erfassen, die keine unzureichend erfaßten realen und idealen Räume überhaupt nur als Möglichkeit zuläßt. Es gab wohl bis zu Wolff keine philosophische Weitsicht, die tatsächlich von einer derartigen systemgebundenen Abgeschlossenheit und Hennetik, aber auch einer folgerichtigen Gründlichkeit wie die seine ist. Freilich gibt es bei ihm dann doch zwei Bereiche, die er selbst unberücksichtigt läßt, weil sich dort offenbar diese beiden letztgültigen Prinzipien nicht mit der gleichen Zwingkraft durchsetzen lassen wie in allen anderen Bereichen, - und das ist erstens die von Menschen gemachte Welt der Geschichte und zweitens die Welt des schönen Scheins - die der Ästhetik. Spätere Denker haben allerdings bekanntlich nachgeholt, was 26

Christian Wolff, Vemilnftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und lh·

rcm richtigen Gebrauche in Erkäntniß der Wahrheit, Halle 8J736 ('1712), Vorbericht§ 1 und§ 3, 1. 27

Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen [... ), Halle 1720, § 12, 6. 28 Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von den Kräften (wie Anm. 26), §§ 4, 5, 6.

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Wolff hier nicht tun wollte oder tun konnte (z.B. Baumgarten mit seiner Asthetik im Geiste Wolffs). Werden nun aber in einem solchen allumfassenden System, welches die Tendenz zur Erstanung in sich trägt, die erwähnten beiden Grundprinzipien erschüttert - zumindest in ihrem dogmatischen Ausschließlichkeitsanspruch -, dann allerdings kommt dies dem Schwanken und schließlich dem Einsturz eines Gebäudes gleich, dem seine Fundamente weggesprengt werden. Von mehreren Seiten erfolgte schließlich - teilweise noch zu Lebzeiten Wolffs, teils nach dessem Tod - der Generalangriff auf seine 'Fundamentallehre'. Die Anti-Wolffianer zu seinen Lebzeiten an der nahen Leipziger Universität - Andreas Rüdiger, Adolf Friedrich Hoffmann und vor allem Christian August Crusius (der gewichtigen Einfluß später auf Kant haben sollte) waren es, die dem Wolffschen Dogmatismus des Systemdenkens kritisch gegenüberstanden und dabei bewußt in ihrem Skeptizismus auch wieder auf Thomasianische eklektische Positionen zurückgriffen, wie wir im Beitrag von Detlef Döring in diesem Band sehen können. Und die Wolff-Gegner im eigenen Haus, insbesondere der streitbare und kluge Pietist Joachim Lange, der in seinen natürlich vornehmlich aus religiösen Intentionen geführten Auseinandersetzungen auch grundlegende philosophische lmplikate hatte, klagten gegen den absoluten Universalismus und Fundamentalismus des Satzes vom Grund, weil dieser aus dem 'Nexus rerum' ein 'Fatum physico-mechanicum' erwachsen ließe. Und schließlich ist es den pietistischen Gegnern des Wolffschen Philosophierens unerträglich, daß das Leib-Seele-Verhältnis nur wie das Zusammenwirken zweier 'Automaten' begriffen wird und Gott lediglich als 'Großer Werkmeister' äußerer Garant dieser wohlfunktionierenden Maschine sein solle. Als solcher 'Automat' verliere der Mensch alle Freiheit der Entscheidung und damit auch die Möglichkeit, seinerseits für Norm und Ordnung im Gemeinwesen verantwortlich sein zu können. Langes Konsequenzen, die er daraus ableitet, lauten: „Das Wolffianische System bebet in seiner Applikation alle Moralität und Religion auf[ ... ], weil es alle Freiheit aufhebet", und damit führe es „in seiner eigentlichen Applikation zum praktischen und theoretischen At-mus"29 • Der Spinozismus-Vorwurf war sowieso schon ausgesprochen, was ja damals katastrophale Folgen haben konnte und wohl auch hatte, denn dies und manch anderes - die unredliche 'Consequentienmacherey', wie Wolff immer behauptete - führte dann zu jenem „schwehren Krieg zwischen Herrn Wolfen und seinen Gegnern [ ... ),welcher fast ganz Europa aufmerksam gemacht [ ... ]",wie Jakob Brucker seinerzeit treffend bemerkte, - und der eben dann zur Vertrei29 Joachim Lange, Bescheidene und ausführliche Entdeckung der falschen und schädlichen Philosophie in dem Wolffianischen Systemate Melaphysico von Gott, der Welt, und den Menschen ... Die Zweyte Section: Von dem Menschen nach Seel und Leib, Halle 1724, Num. 9, § 943, 148.

Eklektizismus oder Fundamentalphilosophie?

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bung Wolffs aus Halle nach Marburg auf allerhöchsten königlichen Befehl aus Berlin führte, den erst der Sohn Friedrich Wilhelm I. - Friedrich n. - aufueben sollte, der Wolff nach 17 Jahren 'Exil' im Jahre 1740 wieder nach Halle zurückholte. Die eigentliche Bresche ins metaphysische System des Wolffschen philosophischen Universalismus und Fundamentalismus aber legte Immanuel Kant, der ihn zuvor für den „Größten unter allen dogmatischen Philosophen" hielt, der für ihn ,,zuerst das Beispiel gab, wie durch gesetzmäßige Feststellung der Prinzipien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei", und der auf diese Weise „der Urheber des bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland wurde", wie Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft so schön bemerkte, der jedoch einen Mangel hatte - und der war entscheidend für seinen, Wolffs 'Untergang' - : ihm war es nämlich nicht „beigefallen", wie Kant bemerkte, „durch Kritik des Organs [„ .) der reinen Vernunft selbst, sich das Feld vorher zu bereiten: ein Mangel, der nicht sowohl ihm, als vielmehr der dogmatischen Denkart seines Zeitalters beizumessen ist ( ... ]"30• Das Fundament - so schien es - war wohl eher auf Sand gebaut und Kants kritischer Transzendentalismus in der 'kopernikanischen Wende' eröffnete der philosophischen Aufklärung nunmehr eine neue Perspektive, die in eine kritische selbstbewußte Mündigkeit des Bürgers führte, deren Geist - so hoffen wir es jedenfalls mit Kant - in Deutschland und darüber hinaus bis heute und über den Tag hinaus nicht erlöschen möge. Neben dem 'kritischen' Kant sind uns aber auch dabei die beiden 'Alternativen', der 'eklektische' Thomasius und der 'fundamentale' Wolff, aus der Geschichte heraus möglicherweise gleichfalls philosophische Bundesgenossen in Gegenwart und in aller Zukunft. Das 18. Jahrhundert gilt allgemein als das des universellen Herrschaftsanspruchs aufklärerischer Vernunft. Auf die zwingende Kraft der Ratio setzend, begibt sich die gebildete Menschheit in eine prinzipielle Auseinandersetzung mit allen knechtenden Vorurteilen, Dogmen und Unwägbarkeiten der sie umgebenden Lebenswelt. Trotz vieler Gemeinsamkeiten in der aufklärerischen Denkbewegung im nationalen wie im transnationalen Rahmen zeigen sich aber auch in dieser gesamteuropäischen Kultur- und Bildungsentwicklung bemerkenswerte Differenzen. Am Beispiel der deutschen Frühaufklärung und zweier ihrer bedeutendsten Köpfe - Christian Thomasius und Christian Woljf - wird zu zeigen versucht, wie an einem gemeinsamen Ort (der gerade 1694 im Geiste der Aufklärung gegründeten halleschen Universität) recht unterschiedliche, offenbar sogar gegensätzliche methodische und lO Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders„ Werke in zehn Bänden, Bd. 3, Dannstadt 1983, 36f.

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Hans-Manin Gcrlach

inhaltliche Wege des Denkens eingeschlagen wurden. Der Aufsatz setzt sich einerseits mit dem von Thomasius entfalteten Typus der philosophischen Eklektik und andererseits mit dem von Wolf! begründeten Typus eines fundamentalphilosophischen Systemdenkens auseinander und versucht, den Bezug zur gesellschaftlichen Praxis ansatzweise herzustellen. Beide Typen geistiger Haltung aufklärerischen Denkens haben nachdrücklich ihre Spuren im Geistesleben des 18. Jahrhunderts in Deutschland hinterlassen, im positiven wie im negativen Sinne. Die Überwindung des 'Typendualismus· war aber erst einem weiteren Denker am Ende der aufkläre· rischen Bewegung vorbehalten, der mit seinem kritischen Transzende111alismus den e111scheidenden Schrill über Thomasius' Eklektizismus und Wolffs Dogmatismus hinaus rar - Immanuel Kant. The eigrhree111h cenrury is generally regarded as rhe age in which enlighrened reason claims universal validity. Relying on the compelling force of rhe ratio. newly enlighrened humaniry engages in a principled srruggle with all enslaving preconceptions, dogmas and rhe imponderabi/ities of rhe social environmenr. Yer in spire of numerous common features in rhe new movemenrs of Enlighrenment rhoughr borh at the national and international level, significant differences of opinion revea/ rhemse/ves in rhe cultural and educationa/ landscape of Europe. The article allempts to illusrrate these differences using the example of the early German En· lightenmenr and rwo of ils mosr prominent thinkers. Christian Thomasius and Christian Wo/ff. Their merhods and teachings show how at one common locarion, ar the newly established University of Halle, rhe new age of Enlightenment could bring forth dissimilar, indeed opposite ways of thinking. The article discusses rhe contrasts between Thomcsius' philosophical eclecricism and Wo/ff's systemaric efforts roward a fundamental grounding ofphilosophy, and makes an efforr roward localizing these rypes of rhinking in their social context. Borh approaches to en· lightened thinking lefi behind strong traces in the intellectua/ life of eigthteenth cenrury Germany. Bur overcoming the bifurcation was lefi to another thinker ar rhe end of the Enlighrenmenr movement, whose critica/ transcendenralism made a deci· sive advance over Thomasius ' eclecticism and Wolff's dogmatism, namely Im· manuel Kant. Univ.-Prof. Dr. Hans-Manin Gerlach, JohaMes Gutenberg-Universität Mainz, Philosophisches Seminar, Jakob-Welder-Weg 18 (Philosophicum), D-55099 Mainz

BOGUSLAW PAZ

Christian Wolffs Ontologie. Ihre Voraussetzungen und Hauptdimensionen (mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz)

/. Einfiihrung

Roman Ingarden hat im zweiten Band seines opus vitae, im Streit um die Existenz der Welt, festgestellt, daß Christian Wolffs Philosophia prima sive onrologia eine systematische Darstellung und Zusammenfassung des Problems der Form individueller Gegenstände sei. Die Ergebnisse der Wolffschen Ontologie lassen sich nach Ingarden im System der Kantschen Kategorienlehre ohne weiteres aufspüren; zudem hat „diese Ontologie in logischen Untersuchungen Hegels lebhaftes Echo gefunden" 1• Wolffs Ontologie, bemerkt Ingarden, ist ein Beispiel einer formalen Ontologie im Sinne der modernen eidetischen Phänomenologie bzw. phänomenologischen Ontologie. Ich möchte Wolffs Werk noch in ein anderes Licht stellen; nämlich sein intellektuelles Unternehmen als bedeutendes Glied in der Kette der Bewußtseinsphilosophie, deren Geschichte bis in die Epoche von Platin und Augustinus zurückreicht, darstellen. Um dies zu erreichen, werde ich die rudimentär epistemologischen Voraussetzungen und die Vielheit der erkenntnistheoretischen Dimensionen seiner Ontologie zum Vorschein bringen und ihren Zusammenhang mit der Leibnizschen Epistemologie darstellen.

' Zit. nach der polnischen Ausgabe: Roman lngarden, Sp6r o istnienie §wiata [Der Streit um die Existenz der Welt], Bd. 2: Ontologia formalna. Cz~sc pierwsza: istota i forma [formale Ontologie. Erster Teil: Wesen und Form], Warszawa 1987, § 34, 6f.

Aufl