Aufklärung als Weltprojekt: Zu ihrer Phänomenologie, Geschichte und Geographie 9783631660959

Der Autor verwendet «Aufklärung» statt als Epochenbegriff des 18. Jahrhunderts als menschlichen Subjektwerdungsprozess,

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Aufklärung als Weltprojekt: Zu ihrer Phänomenologie, Geschichte und Geographie
 9783631660959

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Inhaltsverzeichnis
Erster Teil: Zur Geschichte und Phänomenologie der Aufklärung
Zweiter Teil: Aufklärung als globale räumliche Erstreckung
Dritter Teil: Der Erde- und Weltbegriff der Aufklärung
Vierter Teil: Menschheit und Menschenrechte
Fünfter Teil: Mythos und Aufklärung im 20. Jahrhundert
Schlussbemerkung
Bibliographie

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Hans-Otto Dill

Aufklärung als Weltprojekt Der Autor verwendet „Aufklärung“ statt als Epochenbegriff des 18. Jahrhunderts als menschlichen Subjektwerdungsprozess, nicht als Philosophie, sondern als praktisch-lebensweltliche Bewegung mit den Zielen Herrschaft der Vernunft, Toleranz, Rationalität, Gleichheit, Freiheit und Bürgerrechte. Er beschreibt Aufklärung nicht nur als Zeitverlauf, sondern als räumliche Erstreckung über West- und Mitteleuropa hinaus auf Balkan, Apennin und Pyrenäen sowie auf Nord- und Südamerika, also auf die okzidentalen bzw. semiokzidentalen Teile der Erdkugel. Aufklärung wird so zum globalisierenden Weltphänomen, dem Dill die Begriffe „Menschheit“

und „Menschenrechte“ zuordnet, womit aus nationalen bzw. historischen oder lokalen Identitäten eine universale, gesamtmenschheitliche Identität erwächst. Der Autor Hans-Otto Dill ist Romanist und Professor für lateinamerikanische Literatur (Humboldt-Universität Berlin, Göttingen, Hamburg, Sao Paulo). Der Autor hat zahlreiche Bücher über lateinamerikanische Literatur sowie über Alexander von Humboldt geschrieben und ist Herausgeber von Sammelbänden zu Victor Klemperer, Rousseau und Fichte.

Aufklärung als Weltprojekt

Hans-Otto Dill

Hans-Otto Dill

Aufklärung als Weltprojekt Zu ihrer Phänomenologie, Geschichte und Geographie

ISBN 978-3-631-66095-9

266095_Dill_gr_A5HCk PLE edition new.indd 1

22.07.15 KW 30 10:54

Hans-Otto Dill

Aufklärung als Weltprojekt Der Autor verwendet „Aufklärung“ statt als Epochenbegriff des 18. Jahrhunderts als menschlichen Subjektwerdungsprozess, nicht als Philosophie, sondern als praktisch-lebensweltliche Bewegung mit den Zielen Herrschaft der Vernunft, Toleranz, Rationalität, Gleichheit, Freiheit und Bürgerrechte. Er beschreibt Aufklärung nicht nur als Zeitverlauf, sondern als räumliche Erstreckung über West- und Mitteleuropa hinaus auf Balkan, Apennin und Pyrenäen sowie auf Nord- und Südamerika, also auf die okzidentalen bzw. semiokzidentalen Teile der Erdkugel. Aufklärung wird so zum globalisierenden Weltphänomen, dem Dill die Begriffe „Menschheit“

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und „Menschenrechte“ zuordnet, womit aus nationalen bzw. historischen oder lokalen Identitäten eine universale, gesamtmenschheitliche Identität erwächst. Der Autor Hans-Otto Dill ist Romanist und Professor für lateinamerikanische Literatur (Humboldt-Universität Berlin, Göttingen, Hamburg, Sao Paulo). Der Autor hat zahlreiche Bücher über lateinamerikanische Literatur sowie über Alexander von Humboldt geschrieben und ist Herausgeber von Sammelbänden zu Victor Klemperer, Rousseau und Fichte.

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Aufklärung als Weltprojekt Zu ihrer Phänomenologie, Geschichte und Geographie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-631-66095-9 (Print) E-ISBN 978-3-653-05506-1 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-05506-1 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2015 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Zur Geschichte und Phänomenologie der Aufklärung ���������������������� 7 Zweiter Teil Aufklärung als globale räumliche Erstreckung ���������������������������������  101 Dritter Teil Der Erde- und Weltbegriff der Aufklärung �����������������������������������������  217 Vierter Teil Menschheit und Menschenrechte ������������������������������������������������������������  227 Fünfter Teil Mythos und Aufklärung im 20. Jahrhundert �������������������������������������  239 Schlussbemerkung ������������������������������������������������������������������������������������������  303 Bibliographie ����������������������������������������������������������������������������������������������������  305

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Erster Teil Zur Geschichte und Phänomenologie der Aufklärung Toleranzbewegung und Aufklärung Die Aufklärung war eine geistige Bewegung, die sich im 18.  Jahrhundert in Frankreich weitgehend außerhalb der offiziellen akademischen, staatlichen und kirchlichen Institutionen entwickelte. Sie bestand ohne jede feste Organisationsstruktur aus Privatleuten, meist sogar Privatgelehrten, die sich des seit der Renaissance stark anwachsenden Widerspruchs zwischen den politischen und ökonomischen Strukturen der hochentwickelten spätfeudalen Gesellschaft und dem herrschenden obsoleten, halbmittelalterlichen Denken bewusst geworden waren und sich entschlossen hatten, dieses durch ein neues, zeitgemäßes zu ersetzen, das sie selber erarbeitet hatten und in Wort und Schrift vertraten und verbreiteten. Sie waren dabei, die folgenreichste geistige Umwälzung der damals bekannten Welt zu vollbringen. An ihrem Beginn aber war die Aufklärung weder eine neue Gesellschaftstheorie noch eine politische Heilslehre, wie man aus dieser widersprüchlichen Konstellation zwischen avancierter Gesellschaft und zurückgebliebenem Denken schließen könnte, auch war ihr erstes Anliegen keineswegs wie man aus heutiger Perspektive und dem Wissen um die spätere Fortuna dieser Bewegung annehmen könnte, die Entlarvung von Ignoranz und Aberglauben und die Verbreitung von Rationalismus, Vernunft und Wissenschaft; sondern sie war in ihrem ersten Ursprung etwas ganz Anderes, nämlich eine praktisch-pragmatische Bewegung zur Schaffung des Friedens oder doch Waffenstillstands zwischen den beiden sich sowohl geistig, in gelehrten Abhandlungen, als auch physisch, militärisch und juristisch auf dem Schlachtfeld und vor Gericht bekämpfenden Hauptkonfessionen Frankreichs, dem Katholizismus und dem Calvinismus. In dieser Konfliktsituation, die das Land zu zerreißen drohte, nahm sie den Kampf für ein relativ bescheidenes aber für die Bewohner des Landes hochwichtiges Ziel auf, für die Toleranz, genauer, gegen Intoleranz, und damit für den Frieden. Das Negat Intoleranz ging historisch dem positiven Begriff „Toleranz“ voraus. Erst im Ergebnis der unermüdlichen Kampagnen der Aufklärer wurde die – immer wieder einmal zurückgenommene – gegenseitige Anerkennung von Katholiken wie Protestanten als Kombattanten wie als Christenmenschen, und damit die wechselseitige „Toleranz“ von den Aufklärern durchgesetzt. 7

Toleranz vs. Intoleranz war im Ursprung ein innerchristlicher religiös-konfessioneller Dissenz zwischen katholischer Orthodoxie und protestantischer Heterodoxie. Letztere war theologischer Ausdruck des Reformwillens großer Teile der christlichen Gläubigen gegenüber der Immobilität die kirchliche Oligarchie, die sich den nach der Renaissance vor sich gehenden gesellschaftlichen, kulturellen und geistigen Veränderungen widersetzte. Die Kommandozentrale der Toleranzgegner war die römische Kurie, die in Westeuropa gegenüber den protestantischen Rebellen eine kompromisslos harte Politik verfolgte, die zu den genannten juristischen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen beiden Parteiungen führte. Die Folge war im günstigsten Fall Mundtotmachung oder Vertreibung der Toleranzanhänger ins Exil, das ihnen die protestantisch regierten Länder gewährten, im schlimmsten die Entfesselung von Kriegen, Annektion von Gebieten mitsamt ihren Bewohnern und ihre Verbrennung lebendigen Leibes wegen Häresie auf den Scheiterhaufen der geistigen Polizei der Orthodoxie, der Inquisition. Es ging also nicht nur wie Friedrich II. an d’Alembert schrieb darum, „ein paar Glaubensartikel fallen zu lassen“, sondern um politische Macht und Politik und um ideologische Alleinherrschaft, weil die Konfessionen wie überhaupt die Religionen und Kirche mehr als bloße transzendente Glaubenssache waren, nämlich sich als oberste politische, ideologische, juristische und moralische In­ stanzen und somit als letzte Erben eines urtümlichen Synkretismus von religiöser und weltlicher Macht ansahen. „Toleranz“ als geistig-politische Bewegung entstand nicht zufällig, war keineswegs ein spontanes intellektuelles Phänomen, sondern war von den Exilierten in protestantischem Ambiente regelrecht als eine politisch-religiöse Strategie konzeptionell „erarbeitet“ worden. Die Idee der „Toleranz“ wurde in Ruhe, fern von den Auseinandersetzungen, in den Niederlanden unter den dorthin exilierten Protestanten und im Schutz der Könige aus dem reformierten Haus Oranien entwickelt. Die seehandeltreibenden und handwerklich und gewerblich sehr entwickelten Niederlande demonstrierten den dortigen Exulanten höchst anschaulich, dass sich protestantischer Reformismus und wirtschaftliche sowie künstlerische und überhaupt geistige Blüte, ob im Handel und Gewerbe oder in der flämischen Malerei oder der Grotiusschen Rechtsschule, sehr gut miteinander vertrugen, dass sogar eine Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Phänomenen bestand. Die Niederlande waren nicht nur die Hauptstütze des Protestantismus, sondern auch der Toleranz und boten vielen religiös Verfolgten Unterschlupf.

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Exilgewährung muss als Maßstab und höchste Form aktiver Toleranz gewertet werden. Das Holland der Oranier war der Fluchtort für Verfolgte aller Couleur. Unter ihnen befand sich auch der rationalistische jüdisch-portugiesische Philosoph und Linsenschleifer Baruch (E)spinoza (1632–77), der mit seiner Ethik- und Natur-Philosophie das europäische Denken aus der mittelalterlichen Scholastik führte. Er war Sohn von Israeliten, die aus Portugal wie auch aus Spanien von den „katholischen Königen“ vertrieben worden waren. Er wurde sogar wegen seiner Lehre aus dem scheinbar so toleranten Amsterdam nach Den Haag verbannt. Holland gewährte später, im aufklärerischen 18, Jahrhundert, auch dem großen französischen Aufklärer La Mettrie Exil. Doch derjenige Exulant in den Niederlanden, der die Toleranzidee, also die wechselseitige Duldung von Protestanten und Katholiken als erster systematisch ausarbeitete, war der französische Theologe, Philosoph und Universitätsgelehrte Pierre Bayle (1647–1706). Dieser verlegte den Fokus vom „Protestantismus“ weg hin zur „Toleranz“ spätestens mit dem Erscheinen seines dictionnaire philosophique, das den Terminus „Toleranz“ in die Diskussion der Gelehrten einbrachte. Die Toleranzbewegung wurde zum Auslöser für die Aufklärung als praktischer und dann auch theoretischer Philosophie, aber noch nicht als Kampf gegen Mythen, Fiktionen, Vorurteile und Wunderglauben, der erst später eröffnet wurde; sondern sie war eine religionspolitische Kampagne zur Durchsetzung der Toleranz zwischen den Konfessionen und Religionen. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Toleranzidee und dem Entstehen des Protestantismus bzw. Calvinismus. – „Hugenotte“ ist weiter nichts als die volkstümliche französische Verballhornung des schwyzerdeutschen Ausdrucks Eidgenosse und wurde bald auf die Bewohner der Schweizerischen Eidgenossenschaft bzw. der Republik Genf, der Wirkungsstätte Calvins, und endlich auf alle Calvinisten ausgedehnt. In der Großregion Genf hatten sich bereits zuvor die Waldenser und Albigenser ausgebreitet – Vorläufer antiorthodoxer Sekten, die von den Behörden vertrieben worden waren. Auch der Schweizer Urcalvinismus war wie alle Protestantismen nicht allein ein religiös-konfessionelles Phänomen, sondern tangierte politische und ökonomische Interessen. Seine Entstehung hing ursächlich mit dem Unabhängigkeitsstreben der Schwyzer von dem autoritär-zentralistischen Papsttum und der Habsburgermonarchie zusammen, ein Streben, das sich mit den politischen und wirtschaftlichen Interessen der frühkapitalistischen, eine protestantische Arbeitsethik vertretenden Hugenotten eng verband.

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Wenn Max Weber von „protestantischer“, nicht von evangelischer Wirtschafts­ ethik sprach, meinte er das franco-helvetische Europa, entwickelte er seine These vom Wirtschaftsethos des Protestantismus als Arbeitsethos aus dem Studium des Genfer Calvinismus, aus dem auch die für die Aufklärung grundlegende Staatsauffassung des „Sozialvertrags“ von Jean-Jacques Rousseau stammte, der sich gern „citoyen de Génève“ nannte. Wenn man wie nachzulesen Webers zentrale These von der protestantischen Wirtschaftsethik mit dem Hinweis zu widerlegen versuchte, dass es statt des Protestantismus vielmehr die seinerzeitige fortgerückte Wirtschaftsentwicklung der Niederlande selber war, die aus sich heraus eine entsprechende Arbeitsideologie ohne religiös-konfessionelle Verbrämung generiert habe, so wird vergessen, dass eben diese zu den urprotestantischen Regionen Europas gehörten, sich dort Protestantismus und Wirtschaft kompatibel nebeneinander entwickelten, bis sie sich mit der Aufklärung in zwei voneinander verschiedene Sphären spalteten. Auch das allerchristlich-katholische Frankreich hatte bereits in voraufklärerischer Zeit mit Michel de Montaigne, Jean Bodin und François Rabelais, diesen Vorläufern bzw. Zeitgenossen von René Descartes, des Begründers des Rationalismus, eine protestantische Mentalität erworben, die auch bei bekennenden Katholiken durchschlug. Mentalitätsmässig ist Frankreich eher protestantisch, wenngleich der Konfession nach überwiegend katholisch. In gewisser Weise setzt der Protestantismus das Werk des französischen Kirchenmannes Bernard de Clairvaux und des von ihm gegründeten Mönchsordens der Zisterzienser fort, die im Unterschied zu den wirtschaftlich unproduktiven, rein konsumptiven Bettelorden, den Franziskanern, Dominikanern und Karmelitern – die als Mendikanten eine Umverteilung des Reichtums von oben nach unten betrieben – höchst aktive Kolonisatoren in den zuvor Subsistenzproduktion und Tauschhandel betreibenden ostdeutschen Gebieten waren und diese auf agrikole und handwerkliche Produktivität und, vor allem, auf Arbeitsamkeit orientierten. Ihr von Bernard de Clairvaux geprägtes Motto ora et labora, bete und arbeite, das diese Einheit von Religion und Wirtschaft proklamiert, würde auch auf die Calvinisten passen und hat deren Denken sicher mit beeinflusst. Aber auch ein politischer Paradigmenwandel vollzog sich, war sogar das hauptsächliche Motiv der Reformation, wenn man sich die wesentlichen Aktivitäten Calvins im durch ihn reformierten Genf vor Augen führt, die politischstaatsrechtlicher und nicht nur religiös-theologischer Natur waren. Man darf sich auch keine Illusionen bezüglich der Toleranz der Reformierten gegenüber Andersgläubigen machen. Calvin persönlich ordnete die öffentliche Verbrennung des ihm missliebigen Miguel de Serveto, genannt Michel Servet an, spanischer 10

Mediziner, Jurist und Philosoph, der den Kleinen Blutkreislauf wiederentdeckt hatte. Servet war vor der in seinem Heimatland besonders intransigenten Inquisition zunächst 1530 nach Frankreich geflüchtet und später, nach der Revokation des Toleranzedikts von Nantes, in Genf asyliert. Als Theologe dekonstruierte er wie später Friedrich II. das christliche Fundamentaldogma der Trinität, der Einheit von Gottvater, Sohn und „Heiliger Geist“, in seinem Werk Christianismi Restitutio (1553), womit er Calvins auf der Trinität beruhende Institutio christi­ anismi in Frage stellte. Der Flammentod Servets zeigt, dass Reformierte untereinander ebenfalls sehr intolerant sein konnten, sie oft gar keine Toleranz, sondern die geistliche (und politische und wirtschaftliche) Macht wollten. Toleranz war also nicht schlechthin mit Protestantismus identisch. Überhaupt war der nordisch-sittenstrenge Protestantismus in mancher Hinsicht dogmatischer und intoleranter als der zumal nach dem Trientiner Konzil barocke, sinnenfreudige, liberale und kunstfreundliche Katholizismus, wogegen die Protestanten durch den Bildersturm nicht nur wertvolle Kunstwerke zerstörten, sondern auch geistig, „seelisch“ die Menschen entsinnlichten und in ihrer Persönlichkeit arg verstümmelten. Wenn also von Toleranz und im weiteren von „Aufklärung“ im Zusammenhang mit Protestantismus die Rede ist, so ist keineswegs Identität beider Begriffe gemeint, sondern das Auftreten des Phänomens „Toleranz“ im zeitlichen und kausalen Zusammenhang mit dem Aufkommen des Protestantismus und mit der aus der religiösen Rivalität beider christlicher Konfessionen im Kampf um die Seelen erwachsenden Intoleranz besonders des Katholizismus gegenüber dem Protestantismus aller Couleur. Sozusagen offizielles Organ der Intoleranz war die Inquisition, ursprünglich geschaffen zum Kampf gegen das Judentum, sodann gegen den Islam und schließlich gegen den Protestantismus. Zur Intoleranz der Salzburger Erzbischöfe gehörte trotz ihres „aufgeklärten“ Monarchismus die Vertreibung der Lutheraner, der „Salzburger Exulanten“, 1731, denen König Friedrich Wilhelm I. politisches Asyl und Ansiedlung in Ostpreußen gestattete. Die Toleranz wurde zu einer politischen Bewegung als lebensweltlicher Reaktion auf das Schisma und den Kampf der beiden Konfessionen sowie zur Vorstufe einer sich später als Aufklärung gerierenden rationalistischen Philosophie. Ohne Toleranz keine Aufklärung, aber auch keine Toleranz ohne Schisma. Unvermeidlich war, jedenfalls in früheren, nur über wenig Kommunikationsmittel verfügenden Zeiten, das direkte, räumliche, physische und konfliktive Aufeinandertreffen ihrer Repräsentanten. War dies auf friedliche Weise nicht möglich, was selten der Fall war, fand entweder ihre räumlich staatliche Sepa11

rierung entsprechend der Bekenntnisse  – wie im Westfälischen Frieden nach dem Prinzip cuius regio eius religio – oder die Verfolgung und Vertreibung des schwächeren, dissidentischen Kontrahenten – wie in Spanien, Portugal, Frankreich und Italien statt. Die Aufklärung verlangte und erreichte Religionsfreiheit und religiöse Toleranz. Das beste Beispiel bot Friedrich II., der in Preußen für Juden wie Mohammedaner Tempel erbauen ließ, und in dessen Land „jedermann nach seiner Fassung selig werden konnte“, eine aufklärerische laissez-faire-Politik, die man nicht einer deutschen antifriderizianischen Tradition folgend geringschätzen sollte. Intoleranz bedeutete nicht nur Religionszwang, Entzug der religiösen Freiheit, sondern war unter Umständen eine Frage von Leben und Tod, denkt man an die über 10 000 protestantischen Opfer der Pariser Bartholomäusnacht, Männer, Frauen und Kinder, die der von den katholisch-orthodoxen Machthabern gedungene bzw. aufgehetzte rechtgläubige Pöbel niedermetzelte. Voltaire und Friedrich  II. gründeten eine Kooperationsgemeinschaft zur Rettung von von der Inquisition Verfolgten, die bis zum Tode Voltaires andauerte und nicht, wie manche Historiker glauben machen wollen, mit der spektakulären Abreise Voltaires aus Potsdam abbrach. So wird der – falsche – Eindruck erweckt, dass der gute, fortschrittliche Voltaire für immer mit dem bösen Preußen Friedrich Schluss gemacht hätte. Auch Verschweigen ist Geschichtsfälschung. Voltaires lebenslange Freundschaft mit Friedrich II. beruhte auf seinem festen Glauben an die Durchsetzung der Weltvernunft durch aufgeklärte Monarchen wie Friedrich einer war – ein roi éclairé – worin ihm Diderot kaum und Rousseau überhaupt nicht folgte. Bezeichnend ist, dass viele historiographische Hauptwerke Voltaires aufgeklärten Monarchen gewidmet sind: 1727 die Histoire de Charles XII, roi de Suède, 1732 Le siècle de Louis XIV, Histoire de la Russie sous Pierre le Grand (1759–63). Engler stellt fest: „Er gehörte im 18. Jahrhundert zu großen Gruppe von bürgerlichen Schriftstellern, die hofften, im Einvernehmen mit der Krone und dem Hof die Ziele der Aufklärung zu erreichen, da der sogenannte Dritte Stand sie gegen die institutionalisierte Unvernunft nicht stützte.“ (Engler 951) Dazu gehörte auch die finanzielle, soziale und auch persönliche Sicherheit, die die Freundschaft der Souveräne für die Aufklärer mit sich brachte. Diderot, der Friedrich wegen des Siebenjährigen Krieges, hauptsächlich aber wegen dessen Freundschaft mit Voltaire hasste, verehrte über alle Maßen die Selbstherrscherin Katharina die Große, obwohl sie ihren Mann aus Machtgründen umbrachte, die Ukraine mit Gewalt russifizierte, den Pugatschow-Aufstand grausam unterdrückte und die Krim eroberte, ihm aber für eine große Geldsumme, die seinen 12

Unterhalt sicherte, seine Bibliothek abkaufte. – auch solche strategischen Kalküle gehörten zur lebensweltlichen Praxis der Aufklärer. Alle staatsrechtlichen, also über den normalen humanitären Rahmen hinausgehenden Überlegungen und Projekte der Aufklärer aber wurden selbst von den aufgeklärtesten Monarchen bekämpft oder doch ignoriert, so wie es Friedrichs verdeckte Polemik gegen Rousseaus Begriff der Volkssouveränität bezeugt. Der Widerspruch zwischen Aufklärung und aufgeklärtem Absolutismus musste immer stärker aufbrechen, je mehr sich die alternative Französische Revolution näherte.

Religion und Recht In den Kontext der Beziehungen zwischen Religion und Aufklärung und in den Dunstkreis der Intoleranz gehört auch das Rechtswesen, weil religiöse Dissidenz, Atheismus und Blasphemie in voraufgeklärten Zeiten justiziabel waren, letztere beide Delikte sogar mit dem Tode geahndet werden konnten, zumal die Justiz der Kontrolle durch den Klerus unterstand. Die enge Beziehung zwischen Kirche und Recht war eine historische Tradition, insofern einstmals die kanonischen Rechtsklauseln an die Stelle der römischen Pandekten rückten, diese also auch formaljuristisch ersetzten, Kirchenrecht so rechtens Straf- und Zivilrecht wurde. Durch diese Verquickung von Religion und Rechtswesen waren an sich private, persönliche Neigungen und Affairen wie Ehebruch, Sodomie, Homosexualität und Inzest nach kanonischem Recht „Sünden“, strafbare Delikte, und die Ehe unauflöslich „bis dass der Tod euch scheidet“. Die Verfolgung von nicht der Kirche genehmen Autoren und Schriften durch Zensur und Indizierung war Ausdruck kanonischen Rechtsdenkens. In Italien war sogar bis in die zweite Hälfte des 20.  Jahrhunderts nur die kirchlich geschlossene Ehe rechtsgültig und Ehescheidung nur „auf italienisch“, also durch juristische Tricks oder Tötung des Partners möglich. Beim Prozess gegen Jeanne d’Arc in Rouen war der Klerus federführend, der sie als Hexe zum Feuertod verurteilen und hinrichten ließ, um sie post mortem heilig sprechen zu lassen. Man denke auch an den Fall des wegen einer Lappalie, der angeblichen Beleidigung einer Heiligenstatue auf dem Montmartre in Paris, hingerichteten Chevalier de la Barre. Ein krasser Fall kirchlich-religiöser Prozessführung und exemplarisch für den rechtspolitischen Kampf der Aufklärung war der des Tuchhändlers Jean Calas, der 1762 in Toulouse zum Tode durch Rädern verurteilt und hingerichtet wurde. Calas wurde dazu verdammt, weil er angeblich seinen Sohn am Übertritt vom Katholizismus zum Protestantismus durch dessen unbewiesene Tötung gehindert haben soll. Die Exekution fand 13

statt trotz der Intervention Voltaires, der zusammen mit Friedrich II. an der Rettung einer Reihe anderer religiös Verfolgter beteiligt war, denen er zum meist gut dotierten Exil in Preußen verhalf. Voltaire agierte streng genommen nicht gegen ein Fehlurteil, was hier völlig irrelevant war, auch nicht aus etwaigen humanen Gründen gegen die Grausamkeit der Exekution, sondern dagegen, dass ein interkonfessioneller Glaubenswechsel, ein individueller Gewissensvorgang, der nur kirchenrechtlich ahnbar war, als Auslösung eines unbewiesenen Tötungsverbrechens strafrechtlich behandelt wurde, dass ein rein lebensweltliches Phänomen überhaupt justiziabel war und obendrein mit der Höchststrafe belegt wurde. Die Aufklärer opponierten gegen die Gültigkeit kanonischen Rechts auch im zivilrechtlichen Bereich durch Rekurs auf das römische wie auch das Naturrecht. Damit gingen sie über ihr ursprüngliches Handlungsmotiv, die Toleranz, und ihren traditionellen Kampf gegen Aberglauben und Vorurteil weit hinaus und stritten für ein modernes Rechtswesen, für die Trennung von Staat und Kirche und dementsprechend als rechtliche Konsequenz für die Trennung von kanonischem und Zivil- und Strafrecht. Nimmt man die von Montesquieu und Rousseau in Der Geist der Gesetze bzw. in Der Gesellschaftsvertrag ausgearbeiteten staatspolitischen Projekte und Verfassungsentwürfe hinzu, so ergibt sich, dass die französische Hoch-Aufklärung die theoretischen Grundlagen moderner Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit legte, während die Französische und nordamerikanische Revolution die praktischen – strukturellen und institutionellen Konsequenzen – aus der Aufklärung zogen: gemeint sind hier immer die Jahre 1789 bis 1792, nicht der Jakobinerterror, auf den manche Politologen diese Revolution unzulässig reduzieren. Rousseau erklärt ähnlich wie Friedrich II. die Entstehung des Staates aus einem Pakt zwischen dem Fürsten und dem Volk, aus „le pacte fondamental de tout gouvernement, le vrai contrat (!!) entre le peuple et les chefs qu’il se choisit“ (2me. discours): das war kein Zwangsverzicht der Einzelnen auf ihre Individualrechte, wie oft behauptet wird, die diese doch historisch noch gar nicht gehabt hatten. Der diesbezügliche Begriff volonté générale „rührt von der Verbreitung dieses Terminus her, den auch Montesquieu, Holbach und Diderot gebrauchten; er bedeutete nach 1789 verallgemeinert u. a. Wille der Nation, Wille der Mehrheit (...)“, womit Winfried Engler (319) darauf verweist, dass die antirousseauanischen Gallionsfiguren der Aufklärung und nicht Rosseau diesen Begriff einführten, womit er zu Recht die kurzschlüssigen angelsächsischen Behauptungen von Rousseaus intellektueller Miturheberschaft an Faschismus und Diktatur entschieden in Abrede stellt: 14

Rousseau täuscht sich auch, wenn er die Exekutive zum bloßen Ausführungsorgan ohne politische Eigeninitiative degradieren will. Die Schrift ist nur verständlich, wenn sie als Denkanstoß, nicht als Staatsmodell genommen wird, dann bleibt dem Autor auch der Vorwurf des Totalitarismus und der Vorbereitung faschistischer Diktaturen, den vor allem die angelsächsische Kritik erheben wird, erspart. Der Entwurf wäre allenfalls im Stadtstaat, kaum im Flächenstaat realisierbar (in der Schweiz bzw. der Republik Genf, HOD). Sein Einfluss auf die Revolution von 1789 war weit geringer, als allgemein angenommen wird. Das Werk stand vor allem in den Bibliotheken des Adels und Großbürgertums.

Man muss bei allen staatstheoretischen Äußerungen und Entwürfen Rousseaus seine Herkunft aus der bis heute mit vielen basisdemokratischen Elementen, zum Beispiel mit der traditionellen Kombination von Direktwahl und Repräsentativdemokratie ausgestatteten kleinstaatlichen Schweiz berücksichtigen, insonderheit der Republik Genf, deren Bürger er war. Was zu Montesquieus und Rousseaus Zeiten das gültige gallikanische Staatsrecht und überhaupt das Recht des ancien régime war, systematisierte der in Literaturgeschichten vor allem als Verfasser berühmter oraisons funèbres (Leichenreden) bekannte Jacques-Bénigne Bossuet (1627–1704), Frühgegenaufklärer, berühmter Kanzelredner und Dauphin-Erzieher sowie pädagogisierender Popularisator des absolutistischen Regimes. Für letzteres verfasste er eine vom Standpunkt der christlichen Heilsgeschichte geschriebene Weltgeschichte von der Erschaffung der Welt von Adam bis zum Reich Karls d. Gr., den Discours sur l’histoire universelle (1681), der laut Engler (137) „zum negativen Modell für die Geschichtsschreibung der Aufklärer wurde, namentlich Voltaires (Essai sur les moeurs)“. In seiner Politique tirée des propres paroles de l’Ecriture Sainte (Dem Wortlaut der heiligen Schrift selber entnommene Politik) lieferte Bossuet eine theoretische Begründung des Absolutismus und dessen Gottesgnadentums und schrieb eine gegen den Protestantismus gerichtete Histoire des variations des églises protestantes (1688, Geschichte der Varianten der protestantischen Kirchen). Zuvor hatte er 1685, und das ist wohl sein schlimmster Coup gegen die Aufklärung, die Aufhebung des Toleranz-Edikts von Nantes betrieben, dieser Garantie der Religionsfreiheit und damit doch einer Art Freiheit, indem er sich für den Entzug der bürgerlichen und religiösen Rechte der Hugenotten einsetzte. Es fällt auf, wie sehr manche Historiker den Fakt der Trennung von Kirche und Staat als zivilisatorische Errungenschaft der Aufklärung unterschätzen; dabei fing damit der Gedanke der Freiheit an, der über den liberté-Begriff der Encyclopédie und dem Menschenrechtsbegriff der Revolutionen in den nordamerikanischen Kolonien und in Frankreich zum heutigen Menschenrechtsbegriff führt, der immer Religionsfreiheit einschließt. 15

Voltaires Darstellungen der „Religionskriege“ Nicht nur das Recht, sondern auch das Kriegführen war unter der von den Aufklärern bekämpften obwaltenden Oberherrschaft der Kirche über die staatlichen und kommunalen Instanzen eine die Religion essentiell tangierende Frage. Kriege und Religion, genauer: Religionskriege prägten in der voraufklärerischen Vorvergangenheit in der Sicht Voltaires, des einzigen Historikers in der Ency­ clopédie-Equipe, über lange Zeiträume die Sitten und das Denken, les moeurs et l’esprit, der Völker, wobei er die Nationen Westeuropas im Auge hatte. Er schrieb in seinem Essai sur les moeurs et l’esprit des nations (162 f.) ausdrücklich: Die religiösen Streitigkeiten, die die Geister in Deutschland, im Norden, in Frankreich und in England bewegten, haben die Fortschritte der Vernunft verzögert statt sie zu beschleunigen; Blinde, die sich mit Wut bekämpften, konnten nicht den Weg zur Wahrheit finden (...). Die Schönen Künste erblühten weiter nur in Italien, weil die Ansteckung mit Streitsucht nicht bis in dieses Land drang. Und so geschah es, dass während man sich in Deutschland, Frankreich, England die Hälse durchschnitt für Sachen, die man überhaupt nicht verstand, Italien die Künste besser denn je pflegte. (Les disputes de religion qui agitèrent les esprits en Allemagne, dans le Nord, en France et en Angleterre, retardèrent les progrès de la raison au lieu de les hâter; des aveugles, qui combattaient avec fureur, ne pouvaient trouver le chemin de la vérité: (...) les beaux-arts continuèrent à fleurir en Italie, parce que la contagion des controverses ne pénétra guère dans ce pays; et il arriva que lorsqu’on s’égorgait en Allemagne, en France, en Angleterre, pour des choses qu’on n’entendait point, l’Italie (...) cultiva les arts plus que jamais).

Dem Krieg der Christenheit gegen moslemische Ungläubige hatte Voltaire in seinem im Jahre 1744 vollendeten obengenannten Essay dem zweiten von insgesamt drei Kapiteln gewidmet, das sich zu einer extra Studie verselbständigte und die aktive Rolle des Christentums in der Geschichte der Kriege unverhältnismäßig stark betont gegenüber vielen anderen Themen und Epochen. Die christlichen Kreuzzüge gegen die Mohammedaner waren die wohl dramatischste und wahnsinnigste Entartung religiös camouflierter Kriegstreiberei in der Menschheitsgeschichte, die in der direkt von den Päpsten sowie den christlichen Monarchen Europas angestifteten größten militärischen Unternehmung der europäischen Ritterschaft, der Befreiung des Heiligen Grabes Christi von der Herrschaft der Muslims, die Palästina okkupiert hatten, kulminierte. Voltaire beschrieb diesen Waffengang im Anschluss an seine Darstellung der blutigen und grausamen religionskriegsähnlichen Vernichtungsfeldzüge des Frankenkönigs und römischen Kaisers Karls des Großen im Namen des Christentums gegen die sächsischen und slawischen Heiden Mitteleuropas, wobei bereits im ersten mehr theoretischen Kapitel über „Méthode et civilisation“ ein zentraler Abschnitt den bezeichnenden Titel trägt: De la religion et de la super­ 16

stition aux XIII et XIV siècles, „Von der Religion und vom Aberglauben im XIII. und XIV. Jahrhundert“, was die von Voltaire gemutmaßte Verwandtschaft, fast schon Identität und sogar Komplicenschaft von Religion und Aberglauben – ein Hauptthema des radikalen Flügels der Aufklärung – mitbehandelt. Die Histoire des Croisades zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass Voltaire sie fern jeder bis dahin üblichen Apologie aus einer wissenschaftlichen, objektiven und kritischen Perspektive betrachten wollte. Dabei stellte er erstmals eine Reihe von Momenten selektiv in den Mittelpunkt, die der vorherigen hagiographischen Überlieferung widersprachen bzw. diese tendenziös und polemisch widerlegten, ja sogar in ihr Gegenteil verkehrten. Im Unterschied zu dieser kommen bei ihm menschlich, kulturell und vor allem in Bezug auf Toleranz die Anhänger des Islam weit besser weg als die bis in den Tod rechthaberischen Christen. Er betont, dass nach der Einnahme von Jerusalem durch die Mohammedaner der muslimische Kalif ehrfürchtig und in Büßerkleidung in diese Stadt eingezogen war: für Voltaire fast ein Vorbild und Plaidoyer für interreligiöse Toleranz. In seinem Text heisst es: „Lorsque Omar, l’un des premiers successeurs de Mahomet (...) – comme Jérusalem est une ville sainte pour les mohamétans – (...) entra chargé d’une haire et d’un sac de pénitence (...) enrichit Jérusalem d’une magnifique mosquée“. (ibd., 168 f.) (Als Omar, einer der ersten Nachfolger von Mohammed, in diese für Mohammedaner Heilige Stadt, angetan mit einem härenen Kleid und einer Büßertunika einzog, bereicherte er Jerusalem mit einer herrlichen Moschee). Diesem sowohl bescheidenen wie großzügigen Verhalten der (lt. der He­ rausgeberin Jacqueline Marchand im Vorwort) mit Toleranz gleichzusetzenden Mäßigung des muslimischen Feldherrn entsprach auch die Milde der die Stadt verwaltenden ebenfalls muslimischen Türken  – die Mischbevölkerung Jerusalems, einer damals wie heute multikulturellen Stadt, ernährte sich Voltaire zufolge von den christlichen wie den muslimischen Pilgern ohne Benachteiligung einer der Religionsgruppen: „die einen besuchten die Moschee, die anderen den Ort, an dem angeblich Jesus begraben wurde“. Diesen Einzug des muslimischen Oberkommandierenden in die Heilige Stadt inszenierte Voltaire nicht ohne hintergründigen Bezug auf den Einzug des friedfertigen Jesus aus Nazareth in Jerusalem. Dem stellt er sodann in schroffem Optikwechsel das wilde Eintreffen der allerchristlichen Kreuzfahrer gegenüber. Die ideologisch wegen der Unterdrückung der Christen durch die Mohammedaner fanatisierten römisch-katholischen Pilger und Kleriker beschlossen die Belagerung und Einnahme von Jerusalem, „und alles was nicht christlich war“ 17

wurde laut Voltaire bei ihrem Einmarsch in diese Stadt massakriert, ganze in Katakomben geflüchtete muslimische Familien wurden, wie er zu berichten weiß, aufgrund der Denunziation durch einheimische Christen umgebracht. Nach dieser „boucherie en gros“, diesem großen Schlachtfest begaben sich ihm zufolge die bluttriefenden Kreuzfahrer zu dem „angeblichen Grab von Jesus Christus, wo sie vor Rührung in Tränen ausbrachen“. (ibd., 178) Man merkt der Schilderung natürlich die Tendenz Voltaires an, die einseitig negative Darstellung der Muslims durch die christlichen Chronisten im Interesse der aufklärerischen Toleranzidee durch eine wohl ebenso einseitige Gegendarstellung zu konterkarieren. Voltaires Denunziation sowohl der christlichen Justiz im Lande als auch der Kreuzzüge und seine holzschnittartige Gegenüberstellung der marodierenden mörderischen Kreuzritter und der Zurückhaltung übenden islamischen Besetzer dieser Heiligen Stadt unter Kalif Omar assoziiert des deutschen Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing nahezu gleiche Kritik an der eifernden Intoleranz des christlicher Patriarchen von Jerusalem und seinen Respekt für die aufgeklärte, tolerante Haltung des muslimisch-sarazenischen Sultans dieser Stadt mit Namen Saladin in seinem Schauspiel Nathan der Weise, das Voltaire nicht gekannt haben konnte. Von der literarischen Kritik auch und vor allem von der marxistischen und der DDR-Literaturwissenschaft wird auf die von Nathan dem Sultan erzählte Ringparabel und ihren Symbolgehalt abgehoben, der die Gleichwertigkeit der drei tangierten monotheistischen Religionen Christentum, Islam und Judaismus proklamiert, eine Weisheit, die sozusagen den Sinngehalt des Stückes resümiert. Franz Mehring sieht sogar eine Hauptaussage in der simplen Feststellung, dass Religion Privatsache sei. Demgegenüber wird von dieser Kritik die eigentlich konfliktauslösende mörderische Intoleranz des christlichen Patriarchen meist wegeskamotiert, als nur dramatisch-literarischer Trick bagatellisiert, so dass die Ungeheuerlichkeit dieses Verhaltens in solcher Interpretation fast verschwindet gegenüber dem Hohelied der Toleranz. Aber Lessing verwendet viel dramatischen Text auf die Darstellung dieser unmenschlichen Intoleranz des Christen, insofern er den Patriarchen dem Juden Nathan die Todsünde vorwerfen lässt, seine christliche Ziehtochter Recha im jüdischen Unglauben erzogen und sie so dem rechten Christenglauben entfremdet zu haben, weshalb er Nathan dem Scheiterhaufen überantworten will. Als ein Tempelherr ihn darauf hinweist, dieser Nathan habe Leben und Glück eben dieser Christin durch sein Tun gerettet, erfolgt, und zwar in dreimaliger, hochbedeutsamer Wiederholung, die stereotype Antwort des christlichen Würdenträgers: „Tut nichts, der Jude wird verbrannt.“ 18

Diese Denunziation religiöser Intoleranz ist ebenso gewichtig wie das in der Ringparabel gesungene Loblied der Gleichwertigkeit der Konfessionen. Erst durch diese Perspektivberichtigung gerät die ähnliche Konstellation des Falles Calas, in den sich Voltaire vergeblich rettend eingemischt hatte, in den Blick des Zuschauers oder Lesers: Der protestantische Tuchhändler Calas war bekanntlich zum Tode durch das Rad verurteilt und exekutiert worden wegen eines ähnlichen „Delikts“, da er angeblich seinen Sohn umgebracht habe, weil dieser zum rechtgläubigen Katholizismus übertreten wollte. Nathan wird in Lessings dramatischer Fiktion vom Patriarchen in leichter Modifikation der Konstellation desselben Delikts wie Calas angeklagt  – ein Parallelismus, der dem unkundigen Zuschauer natürlich entgeht – und wäre der selben mörderischen Gerichtspraxis wie jener unterworfen worden, wäre da nicht der tolerante muslimische Herrscher gewesen, der dies verhinderte. Voltaire, der als erster Historiker der Aufklärung auf Objektivität und Wissenschaftlichkeit gegen die damals üblichen phantastischen und mythischen Überlieferungen sah, schrieb seine Erzählung der friedlichen Einnahme Jerusalems durch die Mohammedaner nach dem Augenzeugenbericht des ihm unparteiisch scheinenden byzantinischen Chronisten Nitas Coniates. In seiner Darstellung der Grausamkeiten der Conquista Südamerikas, die trotz vordergründiger nackter Besitzgier der spanischen Eindringlinge explizit auch den Charakter eines Religionskrieges gegen die indianischen Heiden hatte, stützte sich der Bordelaiser Philosoph Michel de Montaigne in seinen kolonialkritischen Essays Über die Kutschen und Über die Kannibalen auf einen unverdächtigen Zeitzeugen, den nachmaligen Bischof von Chiapas Bartolomé de las Casas, und zwar auf dessen Brevisima relación de la destrucción de las Indias, in der deutschen Übersetzung von Hans-Magnus Enzensberger Kurzgefasster Be­ richt über die Verwüstung der westindischen Länder. Im Mittelpunkt von Voltaires auf Bartolomé de las Casas Augenzeugenbericht gestützten, der Conquista Amerikas gewidmeten letzten großen Teils seines Essays über die Sitten der Europäer steht seine Kritik an der Brutalität, Unmenschlichkeit und Heimtücke der Conquistadoren gegenüber den Eingeborenen und den aus Afrika importierten Sklaven (wobei er die massive französische Beteiligung am Sklavenhandel nur sachlich-unpolemisch registriert), so wenn er schreibt, dass man den Sklaven, wenn man sie auf der Flucht ertappte, zur Strafe ein Bein abhackte (diese Passage wird auch in Französische Aufklärung, jedoch ohne jeden weiteren Kommentar reproduziert und vor allem ohne das höchst aktuelle Ende dieses Voltaire-Kommentars zu zitieren, das da lautet: „Und nach alledem wagen wir es, von Menschenrechten zu sprechen“. Voltaire bringt damit 19

ironisch erstmals anhand ihrer Verletzung durch die europäischen Christen das später so erfolgreich von den Nordamerikanern und Franzosen in Umlauf gebrachte, zum Verfassungsgrundsatz erhobene Schlagwort „Menschenrechte“ ins Spiel. (ibd., 282) Ich halte diese Erwähnung der Menschenrechte durch Voltaire avant la lettre, einige Jahrzehnte vor ihrer staats- und verfassungsrechtlichen Kodifizierung in den USA 1786 und in Frankreich 1791, für höchst bedeutsam, enthüllt sie doch den Kampf gegen die Verletzung dieser damals nur angedachten, quasi nur impliziten, nur oral vorhandenen Gewohnheitsrechte als das Hauptanliegen der Aufklärung, das alle ihre Detailforderungen zusammenfasst. Denn die sogenannten Erklärungen der Menschenrechte sind mehr noch als die der Bürgerrechte ausschließliches Ergebnis der Aufklärung qua praktisch-politischer Bewegung und weniger der Aufklärung als Philosophie. Selbstverständlich geht Voltaire auch auf die verhängnisvolle Rolle indianischen magischen bzw. abergläubischen, aus der animistischen Stammesreligion dieser Uramerikaner stammenden Denkens ein, das wie er schreibt die weißen Eindringlinge als wiedergekehrte Götter identifizierte, ein auch von Raynal und Diderot registrierter Irr- und Wunderglaube, der den Spaniern die Conquista wesentlich erleichterte. Aber in der Hauptsache gilt seine Kritik der inhumanen und ungerechten Behandlung von Indios und Schwarzen durch die europäischen Invasoren. Auch stellt er auf naturrechtlicher Grundlage schon früh die Rechtsgrundlagen und das moralische Recht der Eroberung Amerikas in Frage, so in seinem ersten großen Drama Alzire (1736) über die Konflikte zwischen Conquistadoren und indigenen Herrschern, dem man Friedrichs  II. Opernlibretto für seinen Hofkomponisten Heinrich Graun mit der gleichen Tendenz, „Montezuma“, an die Seite stellen müsste. Voltaires Stück aus der peruanischen Conquistazeit brachte wie Friedrichs II. Libretto die Konfrontation zwischen den Indios und den spanischen Eroberern auf die Bühne, eine Darstellung „foncièrement favorable aux peuples conquis et sévère pour les conquérants“, die also zutiefst günstig für die eroberten Völker und streng für die Eroberer ausfiel, wie Jacqueline Marchand in ihrer Einleitung zur bezeichnenderweise äußerst seltenen separaten Neuherausgabe von Voltaires Geschichtsessay schreibt (Voltaire 1962., 231). Voltaires Kritik richtete sich jedoch nicht – und das ist charakteristisch für die französische Aufklärung – auf den Kolonialismus als Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis, das er als solches gar nicht wahrnimmt, was auch an seinen Quellen gelegen haben mag. Er spricht allerdings im Zusammenhang mit der Aneignung der indigenen Ländereien durch die Kolonen von „unserem Men­ 20

schen- oder Räuberrecht“ (Hervorh. HOD), womit er verhohlen zu verstehen gibt, dass europäischer Kolonialbesitz unrechtes Gut ist, das eigentlich den Ureinwohnern gehört, ohne dass er jedoch auf die auf diesen Landraub folgende Kolonialwirtschaft eingeht. Er setzt lediglich ironisch die als Menschenrecht bezeichnete kolonialistisch-okzidentale Willkür mit dem Gewohnheitsrecht von Banditen gleich. Ihn interessiert mehr die Kolonisierung als die Kolonie. Er geht auch bei Behandlung der Conquista kaum den politischen und wirtschaftlichen Motiven der Eroberer nach, die erst im 19. Jahrhundert manifest wurden. Voltaire hält also die sozusagen staatlich-institutionelle Besetzung außereuropäischer Territorien durch die Westeuropäer trotz seiner Abscheu gegen Eroberer und deren unmenschliche Taten und, vor allem, trotz der damit etablierten Unfreiheit und Ungleichheit solche wie für deren Einwohner als letztlich nicht illegitim. So bedauert er, was in den meisten Darstellungen meist schamhaft verschwiegen wird, sogar die mangelnden Anstrengungen Frankreichs zum Erwerb von Kolonien angesichts der reichen Besitzungen Englands in Nordamerika, dessen Regime der Gewissensfreiheit und Toleranz in den Kolonien er indes lobt. Er wünscht sich lediglich einen humanen Kolonialismus. Dass es ihm um die Abschaffung der inhumanen Behandlung der Indigenen und Schwarzen und nicht um die Beseitigung ihres inferioren Status als Kolonisierte in ihrem eigenen Land bzw. als Sklaven ging, zeigt seine abschließende befriedigte und im übrigen ungerechtfertigt optimistische Einschätzung: „Die wiederholten Klagen von Las Casas waren nicht vergebens. Die aus Europa angewiesenen Gesetze haben das Schicksal der Amerikaner ein wenig gemildert: sie sind heute Untertanen und keine Sklaven mehr.“ (ibd., 267)

Die Begründung der Toleranzidee durch Bayle Sowohl die juristische Verfolgung von Andersgläubigen durch die herrschende Religion bzw. Konfession als auch die Entfesselung von Kriegen aus religiösen Gründen führten bei den von diesen Betroffenen zur Idee der Toleranz, d. h. zum Ausschluss von gerichtlicher Verfolgung wegen des Delikts religiöser Dissidenz. König Henri IV hatte am 13.  April 1598 das genannte Toleranz-Edikt in Nantes erlassen, um die gerade erst erreichte Staatseinheit des Landes zu sichern, die durch die Kriege zwischen den protestantischen Hugenotten und den Katholiken zerrüttet und bedroht war. Henri Quatre war Fürst der Toleranz infolge seiner besonderen Sensibilität, da er als Hugenotte, um König zu werden, zum Katholizismus übertrat, weshalb er seinen berühmten Ausspruch Paris vaut bien 21

une messe, Paris ist eine Messe wert, tat: nur die katholische, nicht die protestantische Liturgie zelebriert bekanntlich die Messe im Gottesdienst. Durch seinen Glaubenswechsel zum Katholizismus hatte er den 24. August 1572 überlebt, den Tag des Heiligen Bartholomäus, als wie schon erwähnt 10 000 Protestanten wegen ihres Glaubens abgeschlachtet wurden. Aber ein bedingungsloser Verfechter der Toleranz war König Heinrich auch nicht gerade, der übrigens später, 1610, einem katholischen Attentäter zum Opfer fiel. Sein Toleranzedikt war eher ein Intoleranzrelikt zur Unterdrückung der Hugenotten: es erklärte den Katholizismus zur französischen Staatsreligion und verbot unter Strafe jeden hugenottischen Proselytismus, d. h. die missionarische Verbreitung des Protestantismus, und sicherte den Hugenotten eine nur innere, geradezu katakombische, keine äußere Gewissensfreiheit zu, die sich nie öffentlich manifestieren durfte außer an 100 places de sureté, so La Rochelle, ähnlich den Indianerreservationen in den USA, wo sie nach ihrer Façon leben und selig werden durften, eine prekäre Sicherheit, die nun durch Ludwig XIV., den Sonnenkönig, aufgehoben wurde, als er das Edikt von Nantes am 19. Oktober 1685 im Interesse seines absolutistischen Regimes widerrief, was zum massiven Exodus der Hugenotten nach Holland und Deutschland führte. Deshalb erließ der Große Kurfürst postwendend, am 8. November desselbigen Jahres, das Edikt von Potsdam, das weniger der Festigung des Protestantismus als vielmehr der Ausnutzung der arbeitsbetonten Fähigkeiten der Hugenotten aus Frankreich – die Hugenotten waren wie gesagt Anhänger einer die Arbeit und die individuelle Bewährung in der Arbeit favorisierenden Konfession – diente, sehr zum Nutzen des wirtschaftlichen Aufbaus im immer noch unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges dahinsiechenden Brandenburg. Pierre Bayle, der Begründer des Toleranzdiskurses, war im Gegensatz zu den beiden eleganten, begüterten, geistreichen, spöttischen späteren Gallionsfiguren der europäischen Toleranz. Voltaire und König Friedrich von Preußen, ein grobschlächtiger, polternder Plebejer mit schlechten Manieren und fast manischem Hang zu Gerechtigkeit, Märtyrertum und Opferbereitschaft, mit unausrottbarem Kämpfertum und kompromisslosem Einsatz für seine Ideen. Seine Réflexions sur la tolérance des livres hérétiques – Betrachtungen über das Tolerieren der heretischen Bücher (1685) – untersuchen die religiösen bzw. konfessionellen Differenzen zwischen Katholiken und Protestanten, führen schon im Buchtitel den diesbezüglichen Terminus „Toleranz“ erstmals in die philosophisch-politische Begrifflichkeit ein und sind die theoretische Rechtfertigung des von Henri IV beinahe ein Jahrhundert zuvor, am 13. April 1598 erlassenen, oben bereits erwähnten Edikts von Nantes, des sogenannten Toleranzedikts. Dieses stellte sei22

nerzeit die auf Drängen der katholischen Liga, des Vatikans und des spanischen Königs von Heinrich III. einst widerrufenen Freiheitsgarantien für die heterodoxen Hugenotten wieder her und beendete so die langen Religionskriege, was auf den kausalen Zusammenhang von Krieg und Intoleranz und von Frieden und Toleranz verweist. Doch vor allem ist Bayles im holländischen Exil publizierte Schrift eine Reaktion auf das im gleichen Jahr 1685 erlassene und zuvor bereits in der Luft schwebende „Revokationsedikt“ von Fontainebleau, mit dem der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. wie schon erwähnt im Interesse des keine Abweichler duldenden Absolutismus das Toleranzedikt von 1598 und damit die Toleranz als Regierungsmaxime, als Anerkennung der legalen Koexistenz zweier Konfessionen in Frankreich, widerrief. Der 1647 geborene Bayle ist als der Haupttheoretiker der Toleranz und nicht der Aufklärung schlechthin anzusehen, was sich auch aus seiner bewegten Biographie erklärt. Er wechselte mehrere Male die Konfessionen, war aus Gewissensgründen vom Protestantismus zum Katholizismus und zurück übergetreten, schwankte zwischen Rationalismus und religiösem Glauben, wurde abwechselnd von beiden Konfessionen wegen seiner un- und antiorthodoxen Bücher und der von ihm edierten philosophisch-theologischen Zeitschrift verfolgt. Als er Toleranz auch gegenüber Atheisten zuließ, wurde er als Philosophielehrer amtsenthoben und ins Exil vertrieben, zunächst nach Genf, sodann ins holländische Rotterdam, wo er als réfugié starb. Seine Biographie macht den Zusammenhang zwischen Exil bzw. Vertreibung und Verbannung als Exekution von Gewalt durch die Herrschenden zwecks Mundtotmachung jedweder Kritik deutlich und demonstriert durch diese Art Unterdrückung von Meinungsfreiheit, dass letztere stets die der Andersdenkenden ist. Jacques Vier (1965, 85) bezeichnet ihn als einen unentschiedenen Christen, der am Ende für den Atheismus plädierte, einen leidenschaftlichen Theologen, der ein Wörterbuch zu einer umfänglichen Sammlung von Thesen machte, einen Wandertheologen, der zum Sämann von Häresien wurde und den man für universitätsunwürdig erklärte, (...) einen Pierre Bayle, in dem alle Gegensätze aufeinanderschlagen. (chrétien indécis qui finit par plaider pour l’athéisme, théologien passionné qui fait d’un dictionnaire un vaste recueil de thèses, professeur nomade devenu semeur d’hérésies et frappé d’indignité universitaire, (...) tous les contrastes se battent en Pierre Bayle).

Seine Biographie zeigt, dass er von der Intoleranz nicht ungeschoren blieb. Er war ziemlich gut bestallter Professor an der Akademie in Sédan, als er sich 1669, im Alter von 22 Jahren, zum Katholizismus bekehrte. Um ein Jahr danach, nach vielen Gewissensqualen, zum Protestantismus zu rekonvertieren. Mein verehr23

ter akademischer Lehrer Victor Klemperer, selber, aufgrund seiner Verfolgung durch die Nationalsozialisten, ein überzeugter Gegner jedweder Intoleranz, schrieb in seiner Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert in einem sehr schönen und passenden Gleichnis, Bayle habe gewissenhaft die beiden verschiedenen Konfessionen überprüft wie ein einsamer Schachspieler, der die Partien der weißen sowohl wie der schwarzen Figuren durchspielt. Bayle beendete die Partie remis, weil er an allen Religionen sowohl Bedenkenswertes als auch Bedenkliches fand. Durch seinen mehrfachen Frontenwechsel führte er die gegenseitige Intoleranz ad absurdum. Die französischen Katholiken nahmen ihm diesen Rückfall in die Heterodoxie schwer übel, verfolgten und diskriminierten ihn und trieben ihn ins Exil, wie schon erwähnt ins protestantische Rotterdam in den Niederlanden. Als überzeugter Anhänger von Descartes, als Verstandesmensch erklärte er, man dürfe keine einzelne Aussage der (Heiligen) Schriften ungeprüft akzeptieren, und gründete die Zeitschrift Nouvelles de la République des Lettres. Diese Nachrichten aus der Republik der Wissenschaften waren eine permanente subversive Predigt gegen die offiziellen Diskurse sowohl der katholischen wie der protestantischen Orthodoxien. Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit den existenz- und lebensbedrohenden theologischen Streitigkeiten beharrte er auf absoluter Gewissens- und Glaubensfreiheit und formulierte wohl als erster das Recht des modernen Individuums auf Anderssein im Denken und im Glauben, verwies die Religion ins Private, die also weder Kriegsgrund noch Rechtsnorm sein konnte. Er unterschied daher als erster streng zwischen Glauben und Wissen und bereitete damit auch die Aufklärung im weiten Sinn, nicht nur die Toleranzbewegung vor. Er stellte die logischen Irrtümer und Unwahrscheinlichkeiten der Bibel heraus, um dagegen zu opponieren, dass man diese Schrift weiterhin als Geschichtsbuch lese, warnte vor der gefährlichen Identifizierung von Wissenschaft und Religion, doch stellte er beide Bereiche nicht gegenüber, sondern siedelte sie auf verschiedenen Ebenen an, Religion auf der lebensweltlichen und Wissenschaft auf der philosophischen Ebene: wer wirklich glaube, bedürfe keines Beweises, wer aber rational nach wissenschaftlichen Beweise suche, finde diese nicht in der Religion. Wer seiner Sache wirklich sicher sei, müsse auch Gegenmeinungen aushalten. Sollte meine eigene Position schwach sein, kann ich doch die gegnerische Position nicht im Brustton der Überzeugung ablehnen. Das war sozusagen seine Schachpartie gegen sich selbst. Er forderte wie Habermas sagen würde gewaltfreien Dialog, verlegte damit erstmals das Problem der Toleranz von der „Duldung“ durch die herrschende Meinung auf die Ebene 24

gleichberechtigter Diskussion auf Augenhöhe. Bayles Haltung erinnert sehr an Rosa Luxemburgs antidogmatischen Ausspruch, Freiheit sei immer die Freiheit des Andersdenkenden. Und daran, dass Andersdenken unter Hitler wie Stalin sogar noch lebensgefährlicher sein konnte als einst im Westeuropa des 18. Jahrhunderts. Er legte seine Ansichten in zwei verschiedenen Gestalten vor, in der Form des von Montaigne begründeten französischen Essays und in einem neuartigen literarischen Genre, das ebenfalls Fortune machen würde, in einem alphabetischen Lexikon, dem Dictionnaire historique et critique, einem Vorläufer von Voltaires Dictionär und vor allem der Enzyklopädie, dem Zentralorgan der Aufklärung. Sein Einfluss auf die Aufklärung und speziell auf die weitere Entwicklung der Theorie und Praxis der Toleranzidee lässt sich darin zusammenfassen, dass er mit seinem strengen Wissenschaftsbegriff, den er auch auf die Theologie anwendete, eine endgültige auch terminologische Trennung von Religion und Wissenschaft und damit von Glauben und Wissen herstellte und im weiteren Verlauf und als Konsequenz daraus die bis dahin unter der integralen Klammer der Religion erzeugte heterogene „Vermischung von Lebenspraxis, Weltsicht und Glaubenshaltung“ (Engler, ibd., 101) in ihre Bestandteile auflöste. Das Neue war ferner, dass er die Toleranz auf die jeweiligen Parteiungen ausdehnte, sie auch gegenüber internen Dissidenten postulierte. Die protestantischen Theologen aus seiner eigenen Klientel begannen ihn deshalb rüde zu attackieren, auch weil er die Toleranz auf ein kreuzgefährliches Terrain ausdehnte, den Atheismus, und rein theoretisch die Möglichkeit der Duldung einer atheistischen Obrigkeit durch Christen erwog. Da ging er entschieden zu weit und verlor seine Professur im doch so liberalen Rotterdam. Auch der schon genannte Exulant LaMettrie musste sich wegen gedruckter Bekundung desselben Delikts in seinen Büchern Der Mensch als Maschine und Der Mensch als Pflanze ein neues Exilland suchen, das er nur im Preußen Friedrichs II. fand. (Er steht im Zentrum des berühmten Menzelschen Gemäldes Die Tafelrunde von Sans-souci). Bayle griff in seinem Toleranzessay nicht in ein damals häufiges Gelehrtengezänk über kontroverse akademische Themen ein, sondern in einen hochbrisanten politischen Kontext, bei dem es um Kopf und Kragen ging, um Rädern, Ersäufen, Verbrennen von Menschen lebendigen Leibes. Er setzte für die weitere Entwicklung der Toleranzidee und -politik durch Voltaire und Friedrich  II. den Ausgangspunkt. Sein Werk wurde von keinem geringeren Editor als von König Friedrich II. von Preußen in gekürzter zweibändiger popularer Fassung neu herausgegeben.

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Voltaire – Nachfolger Bayles in der Kampagne für Toleranz Voltaire schrieb in bewusster Nachahmung und Symmetrie zu den beiden Hauptwerken Bayles ebenfalls zum gleichen Thema „Toleranz“ sowohl einen Essay als auch ein Wörterbuch: den Dictionnaire philosophique portatif (1764, entworfen 1752), den er zum Dictionnaire philosophique mit dem hübschen Untertitel ou la raison par alphabet (oder die Vernunft per Alphabet, 1770) erweiterte und bereits im Titel Traité sur la tolérance auf das Thema „Toleranz“ verwies. Er erfuhr trotz hoher Ehrungen durch den König und die Akademie von Frankreich als Dichter und Dramatiker Intoleranz und Verfolgung am eigenen Leib, wurde zweimal in die 1789 geschleifte Bastille, das Staatsgefängnis, eingesperrt, und selbst dem Toten, dem anerkannt größten Schriftsteller seiner Zeit, verweigerte die Kirche Toleranz, indem sie ihm, dem Deisten, ein christliches also ehrliches Begräbnis auf dem Friedhof versagte, als er während eines Besuches in Paris, wo er von der Kulturwelt wie vom einfachen Volk gefeiert wurde, verstarb. Im holländischen Exil war er auf Bayles Werk und Wirken gestoßen, dessen Lektüre ihn auf das Problem der religiösen Intoleranz aufmerksam machte. Während sich jedoch Bayle im wesentlichen auf den religiösen, ja eigentlich auf den theologischen Kontext, die Querelen zwischen beiden christlichen Konfessionen beschränkt hatte, sah er aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen mit dem absolutistischen Regime, u. a. der Zensur, Intoleranz wohl als erster Denker als ein politisches und nicht nur theologisches und juristisches Problem, als staatliche Unterdrückung oppositioneller Meinung und jeder Kritik am Zustand des Gemeinwesens, und attackierte die Einheit von Thron und Altar in Gestalt der katholischen Staatskirche. Er beschrieb daher im weiteren, über Bayle hinausgehend, die Religionskriege nicht nur als tragischen Ausdruck konfessioneller Differenzen, sondern kritisch als Folge politischer bzw. dynastischer Interessen, er sah, in einem Wort, den Absolutismus als politische Institution schuldhaft in die religiösen Gewaltauseinandersetzungen involviert. Diese politische Seite vermisste er wohl bei Bayle, womit sein abflauendes Interesse für diesen Denker zusammenhing, während Friedrich II. als regierender Souverän an der Ausdehnung der Aufklärung auf die Kritik am Absolutismus, also an der antimonarchistischen Politisierung der Bewegung, nicht interessiert war und daher bei Bayles Religionskritik stehen blieb. Noch in zweiter Hinsicht ist Voltaires Rolle für reine Geschichtsdarstellungen wie die Histoire de Charles Douze (der Geschichte des schwedischen Königs Karl  XII.), oder die Histoire de la Russie sous Pierre le Grand (die Geschichte Rußlands unter Peter dem Großen) wichtig: er verschaffte ihr eine neue Dimen26

sion, als er der Geschichte der religiösen Intoleranz in ihrer Verquickung mit staatlich-militärischer Gewaltanwendung gegen andere Völker, besonders von Seiten der entstehenden europäischen Großmächte, in Gestalt religiöser oder religiös verbrämter Kriege gegen Andersgläubige, nachging. Er wurde damit zum ersten Geschichtsschreiber der Aufklärung, im Unterschied zu den offiziellen historiographes du roi, diesen Apologeten feudal-absolutistischer Macht – ein Amt, das er übrigens ehrenhalber innehatte, ein Ausweis seiner Volabilität, das ihn auch bedenkenlos den demokratiefeindlichen Absolutismus akzeptieren ließ, wenn dieser Gedanken- und Religionsfreiheit sicherte. Er sah die Geschichte als eine letztlich den Fortschritt bedeutende Entwicklung der Zivilisation und Inthronisation der Vernunft gegen widerstreitende gestrige Kräfte der Unvernunft an, die weniger von den Klassen und vorzüglich den Volksmassen als vielmehr von klugen Herrschern wie Peter dem Großen oder Friedrich dem Großen gestaltet würde. Er führte erstmals in die französische Literatur in seinem großen epischen Gedicht La Henriade den Stoff der Religionszwistigkeiten zwischen Protestanten und Katholiken ein und feierte darin König Heinrich IV. als Urheber des Religionsfriedensedikts von Nantes und damit als königlichen Vorläufer der Toleranz. In seinem Traité de la Tolérance (1765) behandelt er u. a. die grausame Verfolgung der Apostaten in Frankreich und ihren Schutz im Deutschland der Reformation im 16. Jahrhundert und schreibt eine Kurzgeschichte der religiösen Toleranz beginnend im Griechenland und Rom der Antike und später in Polen, Russland, Japan und China, er erwähnt auch die von Lutheranern und Calvinisten ausgeübte Intoleranz gegen Andersgläubige, hackte also nicht nur auf den Katholiken herum, und meinte unter Hinweis auf den Dreißigjährigen Krieg als Religionskrieg: „Deutschland wäre ein von den Gebeinen der Katholiken, Evangelischen, Reformierten und Wiedertäufern bedecktes Land, von denen sich die einen wie anderen gegenseitig umbrächten, wenn nicht der Westfälische Friede Gewissensfreiheit erbracht hätte.“ (110) Er fragt, ob die Toleranz Natur- oder Menschenrecht sei, und warnt, was ich für einen sehr zur Nachdenklichkeit stimmenden Gedanken halte, vor einer hetzerischen Erinnerungskultur, die zu Rache und Selbstjustiz auffordert, die alten Hass wieder auffrische, statt zur Versöhnung beizutragen. Er versammelt in diesem Plaidoyer für die Toleranz, das er mit einem Fürbitte-Gebet an Gott beendet, eine große Menge an Material zum Thema. Doch den langen ersten Hauptteil dieses Traktats nimmt die bereits weiter oben erwähnte Affaire Calas ein. Man hat den Eindruck, diese Schrift sei eigens wegen dieser geschrieben worden. Voltaire erfuhr von der dubiosen Art des Pro27

zessführung und dem verhetzten Umfeld und setzte alle Hebel in Bewegung, um Calas, dieses Opfer von Intoleranz, Vorurteil und religiösem Fanatismus, zu retten, indem er viele Briefe an Bekannte, an Minister, an Militärs, an Richter und Staatsanwälte schrieb und bis zum König ging, ohne ihn doch retten zu können. Er erreichte post mortem die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Rehabilitierung von Calas, was für die Hinterbliebenen von allergrößter Wichtigkeit war. Eigentlich wurde Voltaire, der sich anfangs ziemlich lässig über den Fall geäußert hatte, erst im Laufe dieses Geschehens zu einem erklärten Gegner exterminatorischen Fanatismus’, der sich wirklich praktisch, durch die Tat, zum Handeln und Eingreifen genötigt sah, was ihm den Ehrennamen l’homme à Ca­ las eintrug. Er sah die sich häufenden Justizmorde und Pogrome gegen Ketzer nicht als Einzelfälle, doch auch jeder einzelne Fall war es ihm wert, sich durch Interventionen und Kampagnen für die Betroffenen einzusetzen. Vergleicht man Voltaire mit Bayle, so zeichnet er sich diesem gegenüber durch nicht nur theoretischen, sondern auch politischen, aktiven, praktischen und nicht nur durch einen allgemeinen, sondern auf konkrete Opfer bezogenen Kampf gegen Intoleranz aus. Er, Voltaire, hat am reinsten und klarsten das für die Aufklärung typische lebenspraktische, politische Engagement bei Hintanstellung theoretisch-philosophischen Kampfes verwirklicht, wobei nicht vergessen sei, dass er gleichsam im Hauptberuf Schriftsteller war, dass auch seine Dramen, seine contes, seine Romane und Erzählungen vom Geist der Toleranz und vom Kampf gegen Intoleranz beseelt waren. Bayle hingegen war ein Frühaufklärer, der zu einer Zeit lebte und wirkte – vor allem in der Régence zwischen Louis XIV. und Louis XV. – da diese bürgerlichemanzipatorische Bewegung sich vorsichtig auf theoretisches Gebiet begrenzt vorantastete und aus isoliert voneinander schreibenden Individuen bestand. Hauptwaffe und Zentralorgan sowie Hauptagglutinationsinstrument der Aufklärer war keine politische Partei oder Organisation und auch keine Zeitung oder Zeitschrift, sondern ein Wörterbuch, ein dictionnaire, ein Lexikon, die En­ cyclopédie raisonnée des arts et des métiers. Dieses vielbändige Kollektivwerk erinnert sofort an die philosophischen dictionnaires von Bayle und von Voltaire, die nicht nur inhaltlich, sondern auch formal, als Buchgenre, als Lexika, seine Vorläufer waren. Alle drei Wörterbücher hatten als verbindende Gemeinsamkeit den gleichen, enzyklopädischen Stil, auch das System der vielen Verweisungen auf je andere Einträge mit ideologisch meist unverdächtigen Stichworten. Die Aufklärungsbewegung mit als wichtigstem Teil die praktisch-politische Toleranzbewegung gilt als die geistige, moralische und vor allem ideologische Vorbereitung der Französischen Revolution von 1789, der Errichtung der bür28

gerlich-freiheitlichen, republikanischen Ordnung in Frankreich, die nicht mit dem Terrorregime Robespierres wie häufig geschehen verwechselt werden darf. Aber auch die Aufklärung darf nicht auf die ideologische Vorbereitung dieser Revolution beschränkt werden, sie ist der Prolog der Moderne.

Friedrich II. und die Toleranz In der Toleranzbewegung, nicht nur in der Aufklärung allgemein, die auch das von ihm vertretene absolutistische System bedrohte, hatte Friedrich  II. König von Preußen, vielleicht malgré lui ebenfalls seinen Part gespielt. In einem Brief an seinen langjährigen Freund d’Alembert, ehemals Chefredakteur der obengenannten französischen Enzyklopädie und danach secrétaire perpetuel der Académie Française, konstatiert Friedrich den Zusammenhang zwischen Reformation, also dem Entstehen des Protestantismus, und dem damit erfolgten Aufbrechen von Intoleranz und Gewalt von Seiten des katholischen Klerus, der sein Monopol des allein selig machenden Glaubens von diesem Konkurrenten bedroht sah: „Die Reformation bewirkte (auch hier der Zusammenhang zwischen Intoleranz und Kampf gegen Dissidenz, HOD), wie Sie wissen, einen großen Umsturz, wie viel Blut und Gemetzel aber, wie viel Krieg und Verwüstungen allein weil man sich unterfing, ein paar Glaubensartikel fallen zu lassen“ und fuhr nach diesem bewussten Herunterspielen des Anlasses fort: „Gewiss wäre es schön, könnte man den einzigartigen Anblick eines von Irrtum und Voreingenommenheit (also Vorurteil, HOD), von Aberglauben und Fanatismus freien Volkes genießen.“ Damit erinnert er an die die Toleranz tangierenden Hauptinhalte der Aufklärung. Weiter schrieb er in diesem Zusammenhang: Ich erachte es für gut und besonders förderlich, die Menschen aufzuklären. Den Fanatismus bekämpfen heißt, das grausamste und blutrünstigste Ungeheuer entwaffnen. (...) Die Philosophie (d. h. die „philosophes“ genannten Aufklärer; HOD) hat sich in diesem Jahrhundert mit Macht und Mut kundgetan, welche Fortschritte hat sie erreicht? Die Jesuiten sind vertrieben worden, werden Sie antworten. Da gebe ich ihnen recht, aber ich werde Ihnen; wenn Sie es wollen, beweisen, daß die Eitelkeit, geheime Racheakte, Kabalen und am Ende der Eigennutz alles bewirkt haben. Ferner halte ich Ihnen entgegen den Justizmord an Calas, die Verfolgung von Servet, den grausamen Vorfall in Abbeville (...) die Hexen, die man öffentlich in Rom verbrennt (Friedrich II., 311).

Wie man sieht, hat Friedrich die Affäre Calas genau verfolgt, auch die Fälle Servetos in Genf und den von ihm genannten grausamen Vorfall in Abbeville, der kleinen Stadt an der Somme, die alle dem Fall Calas glichen, Justizmorde ohne 29

Beweise aufgrund religiösen Fanatismus’ bzw. Vorurteils der Richter und Staatsanwälte. Er fühlte sich involviert und war involviert. Friedrich II. ist nach Bayle und Voltaire der Dritte im Bunde derjenigen Figuren, die in Bezug auf die Toleranzidee und -praxis im Europa des 18. Jahrhunderts eine Hauptrolle spielten, es war vielleicht seine positivste Rolle von den vielen seines Lebens. Von ihm ist meistens der seine Toleranz mit sprichworthafter Prägnanz als Regierungsprinzip charakterisierende Ausspruch volkstümlich geworden, dass in seinem Lande jeder nach seiner Façon selig werden könne, also wenigstens nach seinem physischen Tod im Paradies jeder selbstbestimmt sein könne, was zu Lebzeiten unter seiner absolutistischen Herrschaft nicht immer so leicht war. Der König ließ jedenfalls im protestantischen Potsdam im Geiste der religiösen Toleranz für alle Religionen, die Katholiken, auch die russisch-orthodoxen, und auch für die Juden und Muselmanen Gotteshäuser errichten. Im Allgemeinen wird der bestimmende Einfluss Voltaires auf Friedrich angeführt, an dessen als Antimachiavell bekannter staatspolitischer Abhandlung über moderne Regierungsprinzipien er gewissermaßen als Coautor, wenn nicht sogar als der Hauptverfasser mitbeteiligt war. Mit Voltaire führte Friedrich als Kronprinz einen langen Briefwechsel und anschließend viele Gespräche, als dieser als Kammerherr und Beinahe-Exulant drei Jahre in Berlin und Potsdam wohnte, wenngleich dies bei aller Geistesfreundschaft wohl auch in der Ruhmessucht Friedrichs, den größten Schriftsteller Europas als Freund und Gast in Preußen zu beherbergen, seine letzte Ursache hatte. Die Idee der Toleranz vereinte sie oder führte sie wieder zusammen auch nach dem spektakulären Zerwürfnis zwischen beiden, das zur überstürzten Abreise Voltaires aus Berlin oder sollte man sagen zu seinem Herauswurf aus Preußen führte, wonach sie sich wieder bis zum Tode Voltaires vertrugen und verständigten und als praktische Vertreter der Toleranz kooperierten. Neuere Forschungen ergaben, dass Friedrich großen, aktiven Anteil an der Verinnerlichung der Toleranzidee durch Voltaire hatte, der sich auch im Fall Calas anfänglich nicht als deren engagierter Advokat auswies, sich aber unter Friedrichs Einfluss in Bezug auf Bekämpfung jedweder Intoleranz radikalisierte. Hatte Voltaire den Kronprinzen Friedrich mit der Toleranzidee an Hand des Essays und des Dictionnaire philosophique et historique Bayles infiziert, so gab es später auch einen gegenteiligen Einfluss, als Friedrich Voltaire sozusagen bei der Stange hielt, bei der Begeisterung für Bayle blieb, als dieser jenem gegenüber wegen dessen libertinerhaften Laxheit und angeblichen Atheismus’ auf Distanz ging. Ich glaube, dass die um ein gerechtes Friedrich-Bild verdiente ostdeutsche 30

Historikerin Ingrid Mittenzwei diesen Punkt in ihrem Vorwort zu ihrer Ausgabe der Schriften und Briefe Friedrichs II. nicht richtig erfasst hat, nicht sah, dass Voltaire zwar Kirchengegner, aber Deist, gottgläubig und daher in Dissenz zu Friedrich und auch zu Bayle stand, was zwei nicht notwendig gleiche Dinge sind. Voltaire vermerkte Bayles Toleranz auch gegenüber dem Atheismus mit Zurückhaltung, sogar mit Unwillen. Friedrich dagegen identifizierte sich als atheistischer Gegner der „Klerisei“, vor allem der Jesuiten, der er wohl in Wirklichkeit war, mit umso größerer Sympathie mit Bayle, den er wie gesagt neu edierte und damit dessen Denken wieder ins Bewusstsein der intellektuellen Öffentlichkeit rief, und dies auch in gewissem Grad auf Voltaire zu übertragen vermochte. Der Engländer H. T. Mason, der die Beziehungen zwischen beiden im Rahmen seiner Darstellung des Verhältnisses von Voltaire zu Bayle in seinem Buch Pierre Bayle and Voltaire gewissermaßen nebenbei untersuchte, stellt eine Radikalisierung Voltaires in Sachen Toleranz im Zusammenhang mit seinem Besuch in Berlin fest, nicht etwa wegen der politischen Zustände in dieser Welthauptstadt des Absolutismus und Militarismus, sondern wegen des direkten Einflusses von Friedrich II. und von La Mettrie, also den Tafelrunden in Sans-souci, auf ihn: „Voltaire’s arrival in Berlin brought him into close contact with people more radical than he, such als La Mettrie und Frederick himself.“ (16) Mason schließt u. a. aus den Erinnerungen von Côme Alexandre Collini an Berlin in dessen 1807 erschienenen Buch Mon séjour auprès de Voltaire (32), dass aus Friedrichs „petits dîners philosophiques“, also den Tafelrunden von Sans-souci, die Idee zu Voltaires subversivem Dictionnaire portatif nach Bayles Modell geboren worden sei. Friedrich besaß als Prinz in seiner Bibliothek, die von seinem Vater Friedrich Wilhelm I. nach seinem Fluchtversuch vernichtet worden war, u. a. eine Ausgabe von Bayles dictionnaire philosophique von 1730. 1776 sei Voltaire schon wenig begeistert von Bayle gewesen „at a time when Frederick is still full of enthusastic encomions for the Rotterdam thinker“ (24). In seiner Bibliothek in Ferney besaß Voltaire nur die von Friedrich II. und dem Marquis d’Argens in zwei Bänden in Berlin herausgegebenen Extraits du diction­ naire historique et critique. Der Alte Fritz war also auch als Bearbeiter und Editor von Bayles Werken tätig gewesen, immerhin eine für einen regierenden König seltene Aktivität. Der genannte englische Toleranzforscher hat im damaligen Leningrad die Bibliothek Voltaires in Ferney, die die Russische Akademie aus dem Nachlass gekauft hatte, genauestens durchforscht und fand dort die beiden Bände der von Friedrich edierten Bayle-Ausgabe. Hauptquelle für Voltaire war also statt der Originalausgaben Bayles Friedrichs Anthologie, in der Mason eine große Zahl 31

von Handzetteln Voltaires zu bestimmten Stichworten fand, die er mit BayleZitaten in Voltaires Werken – so im Traité de la Tolérance – korrelieren konnte. Dieser kannte also den Rotterdamer vorwiegend aus der Auswahl des Königs von Preußen, dem innerchristliche Dispute eigentlich gleichgültig waren, und der in Sachen Religion weit radikaler war als der gottgläubige Voltaire. Wie eng die Verbindung Friedrichs zur französischen Aufklärung war, zeigt auch seine Berufung seines ständigen Briefpartners und ersten Chefredakteurs der Enclopédie, d’Alembert, zum Präsidenten der von Leibniz gegründeten Berliner Akademie der Wissenschaften, die dieser zwar ausschlug, jedoch als Gutachter bei der Berufung neuer Akademiemitglieder gehört wurde. Dieser regte auch das Preisausschreiben der Berliner Akademie zum Thema Ist es nützlich, das Volk zu täuschen an. Ganz weg von der französischen Aufklärung war Friedrich II. also nicht, obwohl er als absolutistischer Monarch nie über seinen Schatten sprang. Letzteres zeigt seine wenn auch berechtigte Replik zu Holbachs Essay über die Vorurteile, die Republiken hätten genau so viel Vergehen gegen die Menschenrechte verübt wie die Könige. In vielen Fällen von Verfolgung arbeiteten Voltaire und Friedrich wie gesagt auch nach ihrem Zerwürfnis eng zusammen, und Friedrich verschaffte den Opfern der Intoleranz, die sich mit Hilfe von Voltaire retten konnten, Anstellung in Preußen, so dem zum Tode verurteilten Gefährten des wegen eines religiösen Bagatellvergehens geköpften Chevalier de la Barre, dem jungen d’Étallonde de Morival, dem Friedrich auf Bitten Voltaires eine Stelle im Pionierkorps verschaffte. Voltaire schrieb diesbezüglich aus Ferney am 31. August 1775, also ein Vierteljahrhundert nach seiner Flucht aus Berlin und dem angeblichen endgültigen Bruch an Friedrich: Sire, ich lege Ihnen heute zu Îhren Füßen als Ihren künftigen braven und klugen Offizier Herrn d’Etalonde de Morival, dessen Schicksal Sie mir seit 18 Monaten anvertraut haben. Ich versichere Ihnen, dass man an ihm in Potsdam keine der Eitelkeiten unserer angeblichen französischen Marquis finden wird. Sein Verhalten und sein ständiger Fleiß beim Studium der Taktik und des Pionierwesens, die Umsicht in seinen Vorkehrungen und seinen Worten, sind starke Gegenbeweise gegen die ebenso abscheuliche wie absurde Tollheit des Urteilsspruchs von drei Richtern, die ihn vor zehn Jahren zusammen mit dem Chevalier de la Barre zu einer Strafe verurteilten, die sich nicht die Busiris auszudenken gewagt hätten. Nach den Busiris von Abbeville findet er in Ihnen einen Solon. Europa weiß, dass der Held von Preußen auch sein Gesetzgeber ist, und als solcher haben Sie die den Henkern durch den Fanatismus ausgelieferte Tugend beschützt. Es bleibt zu hoffen, dass man in Frankreich niemals wieder diese schrecklichen Greuel erleben wird, die bis jetzt einen so seltsamen wie häufigen Gegensatz zur Leichtigkeit unseres Gemüts gebildet haben.

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Man wird jetzt zu sagen aufhören: das fröhlichste Volk der Welt (also das französische), HOD) ist auch das barbarischste.

An diese schmeichlerische hommage Voltaires an den preußischen König im Zusammenhang mit praktischer Toleranz möchte ich gleichsam als ihr Gegenstück die ebenfalls leicht ironische, leicht übertreibende Hommage Friedrichs II. an Bayle und an Voltaire, seine beiden geistigen Ziehväter, vorführen, die er in seinem Brief an d’Alembert vom 22. Juni 1780 anlässlich des Todes Voltaires zum Ausdruck brachte: Was Voltaire anbetrifft, garantiere ich Ihnen, dass er nicht mehr im Fegefeuer ist. Der Haß der Theologen wird es nicht verhindern können, dass er in den Champs Elisées, den Elysäischen Feldern (das Elysium als Paradies der Griechen und nicht die Pariser Prachtstraße ist hier gemeint, HOD) spazieren gehen wird in der Gesellschaft von Sokrates, Homer, Vergil und Lukrez. Auf der einen Seite auf die Schulter von Bayle gestützt, auf der anderen auf die von Montaigne (dem berühmten humanistischen RenaissanceEssayisten, Bürgermeister von Bordeaux und Vorläufer der Toleranzbewegung, HOD), und seinen Blick in die Ferne geheftet wird er die Päpste, die Kardinäle, die Spürhunde, die Fanatiker sehen, wie sie im Tartarus die Qualen der Ixion, Tantalus, Prometheus und aller berühmten Verbrecher des Altertums erleiden.

Dieser späte Briefwechsel zeigt ihre großartige Wiederversöhnung nach einer zeitweiligen Entfremdung. Aber unabhängig von dieser Versöhnung wäre natürlich, und insofern haben die Historiker, die von einem definiten Bruch zwischen beiden sprechen, Recht, das Bündnis zwischen den aufklärerischen Intellektuellen und dem Monarchen mit der weiteren politischen Radikalisierung der Aufklärung über die bloße Toleranz hinaus in Richtung Demokratisierung unweigerlich zerbrochen, wie dies die Kontroverse zwischen Dumarsais/Holbach und Friedrich II. zeigt.

Zwischen Ideologie und Politik: Die Kontroverse Friedrich II. vs. Dumarsais/Holbach Zu einer die weitere Strategie der praktischen Aufklärungsbewegung markierenden Kontroverse kam es zwischen Holbach und dem preußischen König Friedrich II., als Holbach 1769 unter dem umständlichen Titel Essay über die Vorurteile oder Vom Einfluss der Meinungen auf das Glück der Menschen, ein Werk, das auch die Verteidigung der Philosophie (d. h. der Aufklärung, HOD) enthält (Essai sur les préjugés ou de l’influence des opinions sur le bonheur des hommes, ouvrage contenant l’apologie de la philosophie) veröffentlichte. Er gab dies Werk als seine Überarbeitung eines Entwurfs des bereits länger verstorbenen Frühaufklärers und Grammatikers Du Marsais aus, (dem die Encyclopédie übrigens eine hom33

mage als Frontispiz des Bandes „G“ widmete), worauf Friedrich II. postwendend von London aus mit einer am 2.  April 1770 abgefassten übereilten Rezension kritisch und polemisch reagierte, weil er sich von dieser Schrift persönlich und als regierender Fürst getroffen fühlte. Dabei spielt weder bei Holbach noch bei Friedrich die eigentlich titelgebende Frage der „Vorurteile“ eine große Rolle. Viel wichtiger war ihnen der staatspolitische Hintergrund. Holbach hatte mit ungeschickter Rhetorik, weitschweifig und mit vielen ermüdenden Wiederholungen, in unerträglicher Redundanz in seinem grobschlächtigen deutschen Französisch eine Reihe von Grundthemen der Aufklärung in plumper Manier vorgetragen. Dabei hatte er jedoch virulente Zeitproblemen in starker Zuspitzung und Konzentration erstmals zur Sprache gebracht, die in dieser Schärfe und Radikalität bis dato von keinem anderen Aufklärer gewagt worden waren, auf welche Friedrich in einer eleganten, feinziselierten, doch in ebenfalls ziemlich eintönigem Vokabular geschriebenen Rezension antwortete. Auf diese delikaten Probleme ging Friedrich jedoch erst ein, nachdem er diejenigen Punkte aus Holbachs Streitschrift zusammenfasste, in denen er mit dem Baron konform ging, und die gewissermaßen die Grundpositionen der Aufklärungsbewegung markierten. Dabei gerieten natürlicherweise die staatsrechtlichen Probleme in beider kritisches Visier, ausgehend von der Definition ihrer Pflichten und Rechten, wie sie bereits der florentinische Renaissance-Staatstheoretiker und Historiker Niccolò Machiavelli in Il principe (1513) beschrieben hatte. Gegen dieses Werk hatte Friedrich II. noch als Thronfolger scharf und ironisch in seinem Antimachiavell (1739–40) unter weitgehender Federführung von Voltaire im Namen des aufgeklärten Absolutismus polemisiert. Friedrich protestierte in seinem Antiholbach in Wahrheit gegen eine Radikalisierung der Aufklärung, gegen ihren Übergang vom Moralischen zum Politischen, eine neue Tendenz, die sich ihm in dem Traktat von Du Marsais und Holbach offenbarte, die er nicht mitmachen wollte und konnte, weil damit das von ihm selber vertretene institutionelle System der absoluten, auf Adelsherrschaft gegründeten „aufgeklärten“ Monarchie in Frage gestellt wurde. Friedrich ignorierte zwar bewusst, erkannte aber sehr genau, dass Holbach den europäischen Absolutismus als Herrschaftssystem und nicht nur den französischen meinte, wenn er dessen politische Systemkritik absichtlich missverstehend auf Frankreich reduzierte. Dabei hatte Holbach sich auf Frankreich nur deshalb bezogen, weil er dieses Land am besten kannte. Die von ihm beobachtete dortige Kumulierung von Missständen – laut Friedrich Holbachs „Hauptanklagepunkte“ – war ein unübersehbarer Hinweis auf die Gesamtkrise, in der 34

sich dieses Land befand, weshalb es nicht zu verwundern ist, das hier und nicht woanders die Revolution von 1789 stattfand: Alexander von Humboldt als versierter Kameralist und Ökonom sah die französische Revolution als Folge der Finanzkrise um mehrere Monate voraus. Das spricht gegen die allgemein verbreitete These, dass allein der fortschrittliche Charakter der französischen Gesellschafts- und Kulturentwicklung diese Revolution ausgelöst habe. Was den Zorn des preußischen Königs auslösen musste und die letztendliche Unvereinbarkeit von Aufklärung und royalistisch-feudalaristokratischem Staatsregiment an den Tag brachte, waren vor allem drei Elemente im Dumarsais/Holbachschen Diskurs: 1. die politischen Attacken gegen die Willkür der regierenden Fürsten, zu denen Friedrich ja selber gehörte, 2. die Denunziation der Ernennung von Beamten nur aufgrund ihres Standes trotz ihrer fachlichen Unfähigkeit, und 3. die Verdammung der von den Fürsten geführten Kriege. Dazu gehörten auch solche verallgemeinernden Behauptungen Holbachs wie „Die Regierung, die überall mit dem Aberglauben in schändlichem Bund steht, unterstützt mit aller Gewalt dessen unheilvolle Pläne“ (ibd., 16) oder „Die Führer des Volkes betrachten hartnäckig Unwissenheit und Verdummung des Volkes als nützlich, Vernunft, Wissenschaft und Wahrheit als die größten Feinde der Ruhe der Nationen und der Macht der Herrscher“ (ibd., 17), Behauptungen, die auf den rationalistischen Friedrich gewiss nicht zutrafen. Von den Fürsten, also auch implizit von Friedrich II. sprach Dumarsais/Holbach als von „geborenen Feinden ihrer Untertanen“. (ibd., 47) Holbachs Kritik der Religion wird zur Kritik an den regierenden absolutistischen Fürsten, Friedrich  II. eingeschlossen: „Der Wahnsinn der schlechten Könige verursacht den Wahnsinn, die Laster und das Unglück der Völker; vom Thron kommen alle Torheiten der Nationen. Diese Quelle also gilt es zum Versiegen zu bringen“, was auf einen möglichen totalen Regimewechsel durch eine antimonarchistische Revolution hindeutet. (ibd., 61) Als Konterposition gegenüber dem roi éclairé vertrat Holbach den citoyen éclairé, dieses ideale Menschenbild der Aufklärung, also das absolute Gegenteil des „Untertanen“, wenn er die gängige absolutistische Praxis scharf angreift, die da besage, „das Volk dürfe sich niemals über die Staatsführung Kenntnisse verschaffen“, und behaupte, die Untertanen hätten nicht „das Recht, sich in Dinge einzumischen, welche sie am meisten betreffen.“ (ibd., 52) Den „aufgeklärten Bürger“ meinte schon Montesquieu, als er im Geist der Gesetze schrieb, gute Staatsbürger seien für den Rechtsstaat unabdingbar. Deshalb schrieb Dumarsais/Holbach: 35

(...) aber die Nationen können nicht tugendhaft sein, wenn sie nicht gebildet sind. Unwissende und mit Vorurteilen behaftete Völker, die unter dem Joch der Meinung zittern (...), stellen nur Haufen von leichtgläubigen und beschränkten Sklaven dar, die nicht in die Zukunft schauen (...). Wenn das die Untertanen sind, über die der Despotismus gebieten will, so will eine vernünftigere Regierung andere Untertanen. Sie will Bürger, deren Interessen mit denen des Staates übereinstimmen. Bürger, die sich um das Wohl des Staates sorgen. (...)“ (ibd., 241)

Dies ist sein Bekenntnis zum gebildeten und wissenden Bürger, zum citoyen éclairé, von dem er – und nicht vom roi éclairé, dem aufgeklärten Herrscher – die Errichtung des Reiches der Vernunft erhofft. Ein Kernsatz der Holbachschen Schrift lautet: Welche Vorstellungen sollen sich die Völker auch über die Gerechtigkeit, Mäßigung und Menschlichkeit machen, (...) wenn sie sehen, daß ihre Herrscher (sic, HOD) alle Vorteile der Gesellschaft Menschen zukommen lassen, die nur den Zufall der vornehmen Herkunft auf ihrer Seite haben, wenn diese Herrscher nur unbrauchbare Bürger mit Titeln, Ehren, Wohlwollen und Belohungen überhäufen, ihnen Vorrechte einräumen und nur Schmeichler, Heuchler, Männer ohne Fähigkeit und Tugend in Glanz leben lassen; wenn diese Herrscher einigen Bürgern gestatten zu plündern, ungestraft alle anderen zu schikanieren und sich auf deren Kosten zu mästen. Wenn diese Übergriffe nicht bestraft und mit Schande bedeckt, sondern im Gegenteil sogar noch ermutigt, beschützt und heftig ersehnt werden, wenn sie durch Gesetze den Raub, die Gewalt und die unmenschlichen Erpressungen gutheißen? (...) Wie soll man Redlichkeit, Aufrichtigkeit, Treue und Glauben (...) in Ländern finden können, in denen die Regierenden ständig Furcht und Misstrauen empfinden gegenüber den Untertanen, mit deren Aufbegehren sie jeden Augenblick rechnen müssen. (ibd., 99)

Der letzte Satz lässt erkennen, dass Holbach eine Revolution im krisengeschüttelten Frankreich kommen sah, sie ersehnte oder befürchtete, die er aber nicht mehr erlebte, um wenige Tage verfehlte. Seine Invektive gegen die regierenden Herrschaften Europas ist in der Tat starker Tobak: gegenüber dem ziselierten höfischen Französisch des preußischen Königs mit seiner französischen Kultur vermeint man in Holbachs grober Diktion den polternden Teutonen herauszuhören. Man ist deshalb leicht geneigt, in diesem Text Holbachs und Dumarsais’ vordergründig nur die grob polemische Note und die unmittelbar moralische, ja moralisierende Anklage gegen das ungerechte, korrupte System der Besetzung lukrativer Staatsposten durch unfähige Beamten und des Ämterkaufs zu sehen. Vielleicht artikulierten sie auch nur den Brotneid benachteiligter Menschen bürgerlicher Herkunft, die nicht die ersehnte Chance bekamen, sich in ihren Fähigkeiten entsprechenden Regierungs- und Verwaltungsämtern zu bewähren – insoweit vertrat der Baron die Interessen des gehobenen Dritten Standes. 36

Doch Holbach drückt eigentlich und vor allem den rationalistischen, das heißt aufklärerischen  – und nicht einen nur moralischen und rechtlichen  – Standpunkt der notwendigen optimalen Korrespondenz zwischen Fähigkeiten und Tätigkeiten der Individuen aus, die bei einer Vergabe von Ämtern nach dem wie Holbach schreibt bloßen „Zufall ihrer vornehmen Geburt“, d. h. kraft ihres feudalen Adelsprädikats und -privilegs, obwohl sie Männer „ohne Fähigkeit und Tugend“ sind, einträgliche Posten ergattern, während befähigte Bürgersöhne ihre administrativen, organisatorischen und ökonomischen Fähigkeiten nicht in Anwendung bringen können. Dieser Rationalismus der Korrespondenz zwischen Fähigkeiten und Tätigkeiten der Menschen ist gewissermaßen die kulturtheoretische Grundlage der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und überhaupt der bürgerlichen Gesellschaft, die die Ämterpatronage ablehnt, auch wenn sie sie praktiziert. Die Inkongruenz zwischen Befähigung und Amt der Regierenden erschien dem Aufklärer Holbach als unvernünftig, als unrational. Dass die Frage von Eignung und Qualifikation auch die Fürsten selber betraf, die selber ohne jede Rücksicht auf ihr Können und auf ihre Eignung von Geburt her de jure ihr Amt und ihre Stellung als Regierende ausübten und über Macht, Reichtum und Besitz verfügten nur dank ihrer angeborenen Stellung in der Gesellschaft, das wusste natürlich der stets illusionslose Friedrich, der nie an (s)ein Gottesgnadentum glaubte, sehr genau. Er formulierte als Gegenposition einst im Antimachiavell sein frühaufklärerisches, rein funktionales Konzept vom Fürsten als ersten Dieners des Staates, wobei seine Staatsverehrung unter Umständen dem französischen Cornelialismus geschuldet ist, der sich einst mustergültig in richelieuschem Geist in Corneilles Drama Le Cid ausgedrückt hatte. Holbach rechnete in diesem späten Werk mit den politischen und sozialen Missständen im damaligen Frankreich ab, sah praktisch an ihren Ursachen deren fast einen Monat nach seinem Tode eintreffende Folge, die Revolution vom 14. Juli 1789, voraus. Friedrich muss sich der mangelnden Rationalität seiner eigenen Position bewusst gewesen sein, wenn er die von Holbach angegriffene Erblichkeit von Ämtern damit verteidigt, dass der Nutzen des Staates erfordere, „dass der Fürst sich für bedeutende, der Regierung (aber nicht dem Volk! HOD) erwiesene Dienste erkenntlich zeigt, und wenn seine Belohnungen sich bis auf die Nachkommen derer, welche sich um das Vaterland verdient machten, erstrecken, so ist das die größte Ermutigung für Fähigkeit und Tugend.“ Also die mangelnden Fähigkeiten werden Friedrichs Argumentation zufolge durch die Tätigkeiten erst im Nachhinein erzeugt, aber schon vorher voraussehend belohnt! 37

Zur Verteidigung des adligen Geburtsprivilegs, dieses wie er immerhin konzediert „Vorurteils, wenn man es so nennen will“, fällt ihm kein besseres Argument ein als folgende wahrhaft gegenaufklärerische Behauptung: „Der Geburt nicht das zu geben, was ihr zusteht, ist nicht das Ergebnis einer philosophischen Freiheit, sondern einer bürgerlichen und lächerlichen Eitelkeit.“ (Friedrich  II. 1987, 270) Religiöser Kult, unsinnige Geschichten, wunderliche Gebräuche, lächerliche Feste, Irrtum, (Priester)Betrug, Unwissenheit, Aberglaube, Vorurteil, Wunderglauben, Spekulation, Fanatismus  – Friedrich zählt nahezu alle Hauptthemen und Hauptschlagwörter der Aufklärung, alle „Vermeintlichkeiten“, das heißt alle für wahr gehaltenen Mythen auf, denen er Begriffe des aufklärerischen Rationalismus und Empirismus wie Erfahrungstatsachen, Erfahrungswahrheiten, Kritik und Vernunft entgegensetzt. Friedrichs abschließende kulturtheoretische Ausführungen über mangelnde Bildung und mangelnde freie Zeit der (einfachen) Menschen zum Lesen der aufklärerischen Schriften über die Mythologien erklären die Ohnmacht der Vernunft, das heißt die Schwierigkeiten der Aufklärer, sich über die schmale Communität der Elite hinaus durchzusetzen, auch infolge der klarsichtig von ihm erkannten kulturellen wie gesellschaftlichen Bedingungen. Er leugnet nicht den von Dumarsais/Holbach behaupteten negativen bzw. paralysierenden Einfluss von Mythos und Spekulation auf das Denken und Verhalten der Menschen, insistiert aber auf kulturtheoretisch hohem Niveau und streng wissenschaftlich auf den realen, diesen negativen Einfluss begünstigenden Lebensumständen des einfachen Volkes, dessen niedriges Bildungs- und Wissensniveau, Umstände, die von Holbach wie von der gesamten übrigen Aufklärung wenig berücksichtigt, meist sogar übersehen wurden. Es musste erst ein König kommen, um die Aufklärer auf die geistigen Nöte, auf die Bildungarmut des arbeitenden Menschen aufmerksam zu machen. Aus dieser fremdbestimmten, nämlich durch die Verhältnisse bestimmten „Unmündigkeit“, Unwissenheit und Nichtverfügungsgewalt über seine Lebens­ welt resultiert laut Friedrich die „Versunkenheit des Volkes“ in magische, jenseitige, statt in irdische Vorstellungswelten. Erst daraus entsprängen die Kinder der Unwissenheit, das geistige Drillingsgespann „Vorurteíl“, „Aberglaube“ und „Wunderglauben“, diese Lieblingsschimpfwörter der Aufklärer. Ihnen entstamme auch der jedem Vernunftdenken spottende „Fanatismus“  – ein weiterer Lieblingstopos der Aufklärung – als einer auf verinnerlichten „Vorurteilen“ beruhenden geistigen Prädisposition. Den Fanatismus schreibt er lediglich der Unwissenheit, dem religiösem Fundamentalismus und dem Mangel an Ratio38

nalismus sowie dem Überschuss an „Empfindung“ zu. – Der Fanatismus habe zu den Massakern der Franken Karls des Großen unter den Sachsen und Slawen geführt. Resümiert man Friedrichs Collage der Hauptschlagwörter der Aufklärung anhand seiner referierenden Lektüre des Dumarsais/Holbach-Essays, so erweist sich in ihnen seine diesseitige, antimythologische und wunderskeptische Weltsicht. Nach alledem scheint die Aufklärung nichts weiter als eine Kampagne zur Bekämpfung falscher, chimärischer, eingebildeter, transzendentaler Sichten der Welt, der Gesellschaft und der Natur, der von Horkheiner/Adorno sogenannten Mythen bzw. der Holbachschen Vorurteile zu sein, die jedoch nicht nur in den Schriften und Medien, sondern auch in den Köpfen, im Denken, Fühlen und letztlich auch Handeln der zeitgenössischen Leser, dieser abergläubischen, wundergläubigen, fanatischen und intoleranten Wesen, nisten. Doch neben dieser Wiederholung von Gemeinplätzen der erstarrten aufklärerischen Rhetorik gegen die tradierten religiösen und quasireligiösen Mythen qua „Vorurteile“ boten Dumarsais/Holbach thematisch Neues, das Friedrich mit sicherem Gespür als solches erkannte und als Holbachs „Hauptanklagepunkte“ zusammenfasste: Der Verfasser beklagt sich, dass die ersten Adelshäuser Frankreichs im alleinigen Besitz der höchsten Würden seien, dass man nicht das Verdienst auszeichne, dass man die Geistlichkeit mit Ehren bedenke und die Philosophen verachte, dass der Ehrgeiz des Herrschers unablässig neue vernichtende Kriege entfache, dass allein käufliche Henker – elegantes Wort, mit dem er die Krieger bedenkt – Belohnungen und Auszeichnungen empfangen, dass die Justizämter käuflich, die Gesetze schlecht, die Steuern übermäßig hoch, die Schikanen unerträglich und die Erziehung der Herrscher ebenso unklug wie tadelswert sei. (ibd., 269)

Diese von Friedrich in ihren Hauptpunkten resümierte Darstellung Holbachs signalisiert eine Wende im Denken der Aufklärer, eine Radikalisierung ihrer Standpunkte und ihre Zuwendung zu herangereiften politischen Problemen. Die Enzyklopädisten widmeten sich im Laufe des sukzessiven Erscheinens der einzelnen Bände ihres Wörterbuchunternehmens unter dem Druck der wirklichen, krisenhaften politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Frankreich immer mehr der Politik bzw. dem Absolutismus als einer die Lebenswelt der Franzosen entscheidend bestimmenden Instanz. Damit leisteten sie sukzessive Verzicht auf ihre obsessive Vorstellung des alleinigen Beherrschtseins der Menschheit von religiösen Mythologien, von Aberglauben, Vorurteilen und abstrakt-jenseitigen Einbildungen. Holbachs Essay spiegelte also gewissermaßen eine geistig-politische Entwicklung auf die französische Revolution von 1789 zu, auf die Beseitigung des feu39

dalabsolutistischen Systems und der Monarchie hin, was Friedrich klar erkannte und als in dieses System integrierter regierender Fürst natürlich ablehnte. Friedrich scherte wie alle aufgeklärten Monarchen aus der Aufklärungsbewegung aus, als diese die Frage nach der „Vernünftigkeit“ erblicher Dynastien stellte. Statt religiöser berief sich die Aufklärung nun auf politische und soziale Instanzen, statt auf kanonisches Recht auf die naturrechtlichen Vorstellungen der Briten Hobbes und Locke, des Niederländers Grotius und der Deutschen Pufendorf, Althus und Wolf, statt Glaubensartikel wurden nunmehr Regierungssysteme verdammt, ein neuer Gesellschaftsvertrag zwischen Regierenden und Regierten und die Gewaltenteilung zwischen diesen angefordert, die herrschenden Mächte und Personen mit ihren „unvernünftigen“ Maßnahmen, Anordnungen und Rechtsvorschriften an den Pranger gestellt. Die Thematik der Kriege, die Holbach wohl erstmals als ein politisches Problem und nicht nur wie in Philosophie, Historiographie und Dichtung meist üblich als Ausdruck von Habsucht ansah, spielt eine große Rolle, wovon sich der viele Kriege führende Friedrich persönlich getroffen fühlen musste. Holbach fragt – und erwähnt dabei als wohl erster Aufklärer die ökonomischen Zielstellungen, Resultate und Zwecksetzungen der Kriege und der Individuen: Woher kommen diese Blutvergießen, diese ständigen Kriege, diese eines vernunftbegabten Wesens unwürdigen Scheußlichkeiten, durch die unser Erdball fortwährend besudelt wird? An den so empörenden Wirren sind die falschen Vorstellungen schuld, die Herrscher und ganze Völker sich vom Ruhme machten. Die Fürsten reiben sich bei ihrer Sucht nach Macht auf; sie werden arm in dem Gedanken, ihren Reichtum zu vergrößern; sie opfern Millionen Menschen, um sich stark zu machen,. (...) Welches sind die Ursachen dieser Armut, dieser rohen und fruchtlosen Feldzüge, dieser in Hunger und Elend verkommenden Bewohner, dieser Entvölkerung, dieser Seuchen? Es sind der Ehrgeiz, die Gleichgültigkeit, die Habsucht der Führer, die so töricht sind, dass sie an der Spitze eines an den Bettelstab gebrachten und durch vielfache Ungerechtigkeiten entmutigten Volkes reich, mächtig und geachtet sein wollen. Welches ist die Ursache dieser hemmungslosen Leidenschaften, die zur Folge haben, dass so viele Herrscher nur auf die Mittel bedacht zu sein scheinen, ihre Untertanen von Tag zu Tag unglücklicher zu machen?. Es ist ihre Unkenntnis der Kunst zu regieren (...) Es ist die Schmeichelei derer, die sie umgeben und die aus der Ausplünderung ihrer Mitbürger Nutzen ziehen. (...) Welche Ursache ist so mächtig, dass sie gezwungen werden, sich ausplündern, unterdrücken und zum Tode führen zu lassen? An diesem Wunder ist der Aberglaube schuld; in den Augen der Völker macht er die schlimmsten Fürsten zu Gottheiten, die alle ihre Leidenschaften ungestraft befriedigen und willkürlich über das Schicksal des Menschengeschlechts verfügen dürfen. (ibd., 26 f.)

Hier greift Holbach zum gemeinplätzlichen passe-partout „Aberglauben“ samt „Unwissenheit“ und „Unkenntnis der Regierungskunst“ aus dem Reservoir, fast 40

könnte man sagen aus der Motten- bzw. Trickkiste gängiger, eigentlich schon obsoleter Aufklärungsklischees, aber er geht doch weit über die traditionelle Aufklärungsrhetorik hinaus, als er die Fürsten, auch die aufgeklärten, nunmehr als Agenten des Aberglaubens anprangert und ihre Motivationen für diese ihre Rolle als Kriegs- und nicht als Friedensfürsten bereits sehr diesseitig in Habsucht, Ruhmsucht und Machtgelüsten erkennt, was der halbe Weg nicht nur zur Entlarvung, sondern zur Beseitigung der mythologisierenden, magisch die Fürsten umgebenden Aura und insofern eine Ausweitung der Aufklärung auf das Gebiet der Staatspolitik ist. In Zusammenhang mit dieser Debatte sind jedenfalls zwei wichtige Schlussfolgerungen zu ziehen: zum einen, dass die Aufklärung sich in Frankreich von einer mehr oder weniger rein theoretisch-philosophischen zu einer politischen und die Lebenswelt tangierenden Bewegung umwandelte. Zum zweiten ist anzumerken, dass hier Dumarsais/Holbach und Friedrich II. einen bedeutsamen Wandel signalisierten: die Annahme der Herrschaft von imaginären, suprahumanen, überirdischen, chimärischen „Mythen“ wurde abgelöst durch das Wissen von der Macht genuin diesseitiger, von Menschen gemachter neuer, nämlich politischer, die Fürstenherrschaft stabilisierender Mythen. Holbach drückte seine Ahnung dieses neuen Typs von Mythologisierung aus, als er von der Tendenz der Menschen zur Vergottung sprach: der Aberglaube mache die schlimmsten Fürsten in den Augen der Völker zu Gottheiten (ibd., 27). Er konnte allerdings noch nicht voraussehen, dass dies zur Vergötzung lebender Menschen wie Filmstars, Sportler oder Politiker und sogar von toten Dingen wie Automobilen führen würde, wie dies 250 Jahre später Roland Barthes und Umberto Eco, seine modernen aufklärerischen Nachfahren, vordemonstrieren. Der Mythenglaube verschwand also nicht durch die Aufklärung, sondern wurde profaniert und von der göttlichen auf die menschliche Ebene transferiert. Aber auch Friedrichs Skeptizismus ist in den vergangenen zweihundertundfünfzig Jahren mit ihren schlimmen von Menschen produzierten Kata­strophen – darunter zwei von Europa ausgehende Weltkriege – nicht widerlegt worden. Man könnte sich fragen, ob nicht unbeschadet mancher unsympathischer Züge des sogenannten Alten Fritz und bei aller Anerkennung der wohlgemeinten Utopien des braven Holbach die Stellungnahme von Friedrich II. wenn nicht die bessere und richtigere, so doch die realistischere war. Über diese machtpolitischen Kernfragen droht die Gefahr, dass der eigentliche, titelgebende Anlass für Holbachs Essay, die Macht des Vorurteils, unversehens in den Hintergrund rückt. Der preußische König hat mit besonderer Prägnanz Wunderglauben, Aberglauben, Unwissenheit, Religion und Irrtum in 41

einen ewigen, unauflöslichen Kausalzusammenhang gebracht und in seiner Rezension ein glänzendes Résumé der Aufklärung unter besonderer Betonung der Rolle der Vorurteile gezogen. Die Erfahrung lehre, so schreibt er, wie der Mensch sich zu allen Zeiten in der dauernden Knechtschaft des Irrtums befand, wie der religiöse Kult der Völker auf unsinnigen Geschichten, wunderlichen Gebräuchen, lächerlichen Festen und abergläubischen Vorstellungen, an die der Bestand des Reiches geknüpft wurde, beruhte, und ich sehe, wie von einem Ende der Welt zum andern Vorurteile regieren. Die Vorurteile sind die Vernunft des Volkes, und das Volk hat eine unwiderstehliche Neigung für das Wunderbare. Dazu kommt, dass der größte Teil des Menschengeschlechts, da er nur von täglicher Arbeit leben kann, in unüberwindlicher Unwissenheit dahinvegetiert, er hat keine Zeit zu denken und Betrachtungen anzustellen. Da sein Geist an vernünftige Überlegungen nicht gewöhnt und sein Urteil (svermögen, HOD) nicht ausgebildet ist, vermag er es nicht, nach den Regeln einer gesunden Kritik die Dinge zu prüfen, über die er sich Klarheit verschaffen will (...)

Weiter heißt es, wenn man zu einem x-beliebigen Menschen von der Existenz einer unsichtbar gegenwärtigen Gottheit spreche, so bemächtige sich seines Geistes ein „ansteckender Aberglaube, (...) bis dieser Mensch fanatisch wird.“ Da er mehr empfindsam als vernünftig sei, „beruhen die meisten menschlichen Meinungen auf Vorurteilen, Irrtümern und Betrügereien.“ (ibd.) Spekulative Wahrheiten und Erfahrungstatsachen, so Friedrich, dürfe man aber nicht miteinander verwechseln. Bei Meinungen und Aberglauben handele es sich um spekulative Wahrheiten, wogegen doch eigentlich die erfahrungsbeglaubigten Tatsachenwahrheiten das öffentliche Leben beeinflussen sollten. (Alle Zitate in: Friedrich II. von Preußen 1985, 261 ff.) Dieser kurze, auf die Hauptaussagen zurechtgestutzte Text des Königs in Preußen ist eine geniale friderizianische Kollage sämtlicher Stich- und Schlagworte des Rationalismus und Empirismus, treffender als manch umständlicher Essay der Granden der Aufklärung von Voltaire bis Rousseau. Zentrale Bedeutung hat der für die Aufklärung typische dichotomische Schluss, die kategorische, vom König vollzogene scharfe Trennung von „Spekulation“ und „Empirie“, von Rationalismus und Metaphysik, von Religion und Wissenschaft, von Aberglauben und Wissen, von aufklärerischer Gedankenklarheit und nebulöser Gefühlsballung, also von Urteil und Vorurteil. An diesem Punkt angekommen erhebt sich die Frage, was „Toleranz“ mit dem eigentlichen bzw. späteren Anliegen der Aufklärung zu tun hat, nämlich mit der „Aufklärung“ über Mythologisierungen, über selbstkonstruierte „Meinungen“, chimärische Ansichten, Phantasiegebilde, abergläubische Vorstellungen, mit Glauben an überirdische Wunder, mit magischen Praktiken, die allesamt als Er42

zeuger falschen Bewusstseins und Ursachen gefährlicher individueller wie gesellschaftlicher Fehlhandlungen „entlarvt“ werden. Betrachtet man den Ursprung der Toleranzidee in den beiden Hauptschriften von Bayle, seinem Dictionnaire und seinen Réflexions sur la tolérance des livres hérétiques, so erscheint merkwürdigerweise wie bereits erwähnt und der normalen abendländischen Kausalitäts-Logik scheinbar widersprechend, die Intoleranz, das Negat der Toleranz, vor letzterer, vor der Toleranz, also vor der positiven Setzung. Die eigentlich zeitlich-kausale und logische Folgeerscheinung, die Intoleranz, dagegen taucht als das primäre, ursächliche Moment, das allen herrschenden Verhältnissen a priori innezuwohnen scheint, auf. Doch präexistierten in Europa zwei Varianten, zwei Modellfälle von Toleranz und Intoleranz zwischen Vertretern unterschiedlicher Religionen, Sprachen und Kulturen, sogar noch vor den nur interkonfessionellen Differenzen zwischen Protestanten und Katholiken.

Muslimisch-andalusische Toleranz Die erste war die muslimisch-andalusische Variante der religiösen Toleranz, die aber wegen des prinzipiellen, nicht nur religiösen, sondern auch kulturellen Gegensatzes Christentum-Heidentum und vieler Vorurteile der ersteren gegen die letzteren nicht recht zum Zuge kommen konnte. Sie dämmerte bereits vor dem abendländischen innerchristlichen Schisma zwischen Katholiken und Protestanten auf, nämlich zwischen den sich zu drei verschiedenen Religionen bekennenden Juden, Christen und Muslims. Es waren Fälle von gezwungenem Zusammenleben, die nicht selten im Gefolge der bisherigen Geschichte als der Geschichte von Eroberungen, Annexionen, Vertreibungen und Migrationen auftauchten, die als Angehörige der drei monotheistischen Weltreligionen auf demselben Raum, auf der Pyrenäenhalbinsel, am Bosporus oder sonstwo in der Mittelmeerregion – meist als Herrscher und Beherrschte – zusammen zu leben gezwungen waren. So spielt Lessings Toleranzdrama Nathan der Weise im Orient zwischen dort lebenden Juden, Christen und Muslimen. Der muslimische Hintergrund der Toleranz war nicht nur eine Metapher, sondern basierte auf einer realhistorischen Tatsache – dem historisch verbürgten Sonderfall von längerfristiger zwischenreligiöser gegenseitiger Duldung zwischen Christen, Muslims und Juden  – fast gleichzeitig mit den mörderischen Kreuzzügen – im von den Muslimen besetzten Andalusien des 12. Jahrhunderts sowie auf dem Balkan und auf Kreta. Marie und Heinrich Simon schreiben in ihrer Geschichte der jüdischen Philosophie (1984, 190) unter Betonung der dortigen islamischen „Vorurteilsfreiheit“: 43

Im islamischen Spanien herrschten Interkulturalität und vorurteilsfreier Dialog. Die Gren­zen zwi­schen Juden, Christen und Muslims verschwammen. Man sprang zwischen Arabisch, He­brä­isch und Latein hin und her. Muslime vermittelten dem rückständigen christlichen Europa via jüdische Philosophen antik-heidnische Kultur, bereiteten die Wende zur Renais­sance vor und beeinflußten Spinoza, Leibniz, Lessing, Mendelssohn.

Die Fälle toleranter Politik und toleranter Kohabitation waren selten, gab es damals eben nur im mohammedanisch beherrschten, von Christen und Juden bewohnten Spanien und anderen, politisch minder bedeutenden Regionen: Die Simons schreiben weiter (1984, 97): Das 12. Jahrhundert (...) gehört zu einer Epoche, die gern als eine goldene Zeit der jüdischen Geschichte bezeichnet wird; viele berühmte jüdische Persönlichkeiten lebten damals in Spanien und können als Beispiel für die fruchtbare Symbiose zwischen Islam und Judentum genannt werden.

Direktes Resultat dieses synergetischen Zusammenwirkens von Moslems, Christen und Juden war die damalige wirtschaftliche und kulturelle Hochblüte der Pyrenäenhalbinsel. Die Rettung der altgriechischen Manuskripte und damit des Ursprungs der abendländischen Kultur vor der Zerstörung durch christliche Fanatiker war das Werk der islamisch-muslimischen Übersetzerschule der Araber in Toledo. Der große spanische Historiker Américo Castro (1948, 202) schreibt deshalb: „Die spanische Toleranz war islamisch, nicht christlich“, und der Brite Will Kymlicka (1995, 82), ebenfalls Historiker, meint: „Der Islam hat eine lange Tradition des Tolerierens anderer monotheistischer Religionen, so dass Christen und Juden in Frieden beten konnten“ („Islam has a long tradition of tolerating other monotheistic religions so that christans and jews can worship in peace“). Das beweist, dass religiöse Intoleranz nicht wie heute oft von Unwissenden oder Übelmeinenden angenommen dem Islam sozusagen immanent sei. Diese Annahme entspringt vielmehr einem Vorurteil, also einem von der Aufklärung als Quelle von Intoleranz und Gewalttätigkeit erkannten und bekämpften, auf falschem oder falsch verallgemeinertem Wissen oder sogar gezielter Verleumdung beruhendem Fehl-Urteil. Mit mehr Recht könnte man dies den Christen anlasten, die das Zeitalter der Toleranz in Andalusien mit der gewaltsamen Vertreibung der Juden und Moslems aus Spanien beendeten, um anschließend ein grausames Massaker, einen vollständigen Ethnozid unter der indigenen „heidnischen“ Bevölkerung der Karibik zu veranstalten (Von Juden dagegen sind kaum blutige Unterdrückungsaktionen anderer Religionen bekannt; sie wurden im Gegenteil meist Opfer von Intoleranz in Gestalt antisemitischer Pogrome).

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Doch auch die islamische Toleranz gegenüber Juden und Mozárabes (Christen unter arabischer Herrschaft) wandelte sich beim Wechsel der Kalifendynastien von den Umajjaden über die Almoraviden zu den Almohaden 1147 angesichts Rebellionen und Partikularismen zu Intoleranz und religiösem Monolitismus, führte zur Zwangsaussiedlung von Christen und dem massenweisen Exil jüdischer Gelehr­ter (vgl. Marie Simon 1992): Maimonides und Jehuda Halevi gingen nach Kairo, Abraham ibn Dad in das nun christliche Toledo, wo man ihm den Märtyrertod auf dem Scheiterhaufen bereitete, denn die dortige Religionsfreiheit für Juden wie Araber (mudéjares) hatten die reconquista-Christen aufgehoben (vgl. Franzbach 93, 22). Der endgültige Sieg über die Araber vor Granada und deren Hinauswurf 1492 koinzidierte mit der Judenausweisung und der Entdeckung und Kolonisierung Amerikas unter Isabel von Kastilien und Fernando von Aragon, die sich bewusst und demonstrativ reyes católicos nannten. Katholizismus wurde einzig erlaubte Staatsreligion, und die Inquisition verfolgte exterminatorisch Häretiker, se­kundiert von strengster Zensur dissidenter Meinungen im index librorum prohibitorum. (vgl. Gaeto 2000: El arte vigilado, Die bespitzelte Kunst). Die gleiche geistige Inquisition prakti­zierte später das Franco-Regime. (vgl. Neuschäfer 2000) Das noch das Erbe der Toleranz bewahrende christliche Kastilien des 12.– 13. Jahrhunderts gab diese Resultate jüdisch-muslimischer Kooperation an Europa weiter, weil es laut Vidal (1998, 14) noch „ein Land ohne Pogrome“ war, wo den Inquisitionsakten zufolge einfache Christen Alltagstoleranz mit Andersgläubigen übten. Die christlich-jüdisch-islamische Übersetzerschule von Toledo übertrug arabische Naturwissenschaft, Geographie, Medizin, Jurisprudenz und Philosophie ins Lateinische (Franzbach 1993, 24) und begründete damit die europäische wissenschaftliche Hochkultur. Ihr Gründer, König Alfons der Weise von Kastilien, gewählter Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der sein Amt jedoch nie antrat, verfasste nach arabischen Quellen wissenschaftliche Werke wie: Bücher über das Wissen von der Astronomie und ein Stein- und Mineralienbuch. Dieser Hintergrund fragilen kooperativen Zusammenlebens von Christen, Moslems und Juden erklärt Werk und Wirken des Mallorquiner Philosophen Ramón Llull.

Raimundus Lullius zwischen Toleranz und Intoleranz Der doctor ilustrat Ramón Llull (1233–1315), Mallorqui­ner Dichter, Theologe und Phi­losoph (dessen Ars Magna Leibnizens Dissertatio de Arte combi­natoria beeinflusste), ist einer der Vorväter des Toleranzdiskurses, wozu er auch sprach-

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lich kompetent war. Er schrieb auf Arabisch, in Latein und, ein in die Zukunft weisendes Novum, im vulgare, auf Katalanisch. Er verfasste ein wohl erstmals die Toleranzfrage zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen aufwerfendes Werk mit dem Titel Buch vom Heiden und den drei Weisen, dessen Vorbilder das Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen des durch seine Affaire mit Héloise bekannten Pariser Theologen Pierre Abélard, sowie das jüdisch-arabische Chasarenbuch Jehuda Halevis, ein Bekehrungs-Dialog zwischen einem König und einem jüdischen Weisen zum Thema „Glaube vs. Philosophie“, waren. Llull lässt drei weise Pilger, einen Juden, einen Christen und einen Muslim, in der Einöde einem Heiden auf dessen Bitte ihre Konfessionen zwecks Information, Belehrung und Bekehrung in freundschaftlich-respektvollem Disput darlegen. Er steht hier in der spanischen arabisch-jüdischen Philosophie-Tradition, dass sich der Glaube vor der Ratio bewähren müsse. Als der Heide seine Wahl bekannt geben will, wollen die drei sie nicht erfahren: denn wie sie ihm bedeuteten, wolle jeder für sich annehmen, er habe sich für seine Religion entschieden (welch herrliche, psychologisch weise Reaktion!). Dieser offene Schluss, der die theologische Differenz zwischen christlicher Trinität, muslimischer Prophetie und jüdischem Messianismus nicht in eine antitolerante Wertdifferenz zwischen superiorer und inferioren Religionen umschlagen lässt, ist Vorbild der Ringparabel in Nathan der Weise, dem Plädoyer Lessings für Toleranz zwischen Juden, Christen und Moslems bzw. den drei Ringen, die diese Konfessionen symbolisieren. Statt zwangsweiser Überzeugung demonstrierte Llull gewaltfreie Argumentation, statt Prädestination Anerkennung des freien Willens – jüdisch-arabisches Lieblingsthema! Gott hat dem Menschen die Freiheit gegeben,/ daß er ihm so viel als möglich diene, ohne dazu gezwungen zu sein./ Nur Willensfreie könne Gott richten, nicht die, deren Verdammnis Gott im voraus weiß/ und auch die Prädestinierten nicht, schrieb Llull in seinem epischen Poem Lo desconhort. (1998, XLV) Doch hat Llulls Buch über religiöse Toleranz hinaus multikulturelle Hintergründe: die drei Volksgruppen koexistierten laut Hösle (1998, 18) auf Mallorca als interkulturelle Alltagsrealität und als Konfliktpotential. Die noch nicht von den übrigen kulturellen Äußerungen verselbständigten religiösen Bekenntnisse figurierten dort als Dach eines noch ganzheitlichen Denkens der jeweiligen Kultur. Der Schluss dieses Werkes votiert für eine endgültige Diskussion zugunsten einer einzigen Wahrheit, „bis wir alle drei uns zu einem einzigen Glauben und einer einzigen Religion bekennen. (...) Wir sollten die Streitfrage diskutieren, wer von uns sich in der Wahrheit und wer sich im Irrtum befindet!“ (Lull 19981, 46

249) Also doch noch nicht Lessing, dem solche Rechthaberei entschieden missfallen hätte, denn gemeint war mit dem Rechthaben, wie bei Nikolaus von Cues, natürlich das Christentum. In Llulls Prolog heißt es nämlich, er schreibe dies Buch, „nachdem ich viel Zeit damit zugebracht hatte, an Gesprächen mit Ungläubigen teilzunehmen und ihre irrigen Meinungen kennen zu lernen.“ (Lull 19981, 1) Sein Missionarismus verstärkte sich später: er drängte noch im hohen Alter auf einen Kreuzzug zur Befreiung des Heiligen Grabes von den Moslems und reiste als 80-Jähriger nach Tunesien, wo er coram publico predigte, „das Christengesetz sei wahr (...), das muslimische Gesetz aber falsch und irrig“, worauf er gesteinigt wurde – Voltaire (2000, 169) gab dem offenbar häufigen beleidigenden und selbstgewissen Auftreten christlicher Missionare sogar die Hauptschuld an ihrem Märtyrertod. – Ein alternder, verbitterter Eiferer Llull, der der Gewaltlosigkeit abschwört? Der Zeitgeist drehte auf Intoleranz. Das Christentum wurde einzig erlaubte Staatsreligion, und die Inquisition verfolgte exterminatorisch Häretiker, sekundiert von strengster Zensur dissidenter Meinungen. (Vgl. Gaeto 2000) Die Motive der Intoleranz lassen sich in den Stichworten zusammenfassen, wie sie teilweise Friedrich II. in seiner Replik auf Holbachs Essay über die Vor­ urteile aufzählt: die monotheistische Neigung zur Alleinvertretung sowohl des Christentums als auch des Islam; der Katholizismus als einzig mögliche Identität der Spanier (vgl. Vidal 98, 17), der Islam als Identitätsstifter so verschiedener Völker wie der Araber, Syrer, Iraner, Türken und Kurden in einem gemeinsamen Reich; die Türkenangst der österreichischen Verwandten der spanischen Habsburger beim Nahen der Osmanen nach dem Fall von Konstantinopel. Die „offene, pluralistische Gesellschaft des Hochmittelalters wird im 15. Jhd. durch Fanatismus und das Streben, eine homogene, monolythische Gesellschaft ohne Raum für den Ausländer und den Anderen zusammenzuschmieden,“ abgelöst (Meyulas Ginio 96, 76). Auch im Franquismus war der Katholizismus Staatsreligion; Andersgläubige durften nur separat und insgeheim bestattet werden, nichtkatholische Religionsgemeinschaften hatten nicht den Status von juristischen Personen, nichtkatholischer Proselytismus war strafbar (García Barriuso 1960), was alles der katalanische Ordensbruder Llimona ignoriert, der in La toleráncia i els seus fonaments einzig Marxens Kapital und Hitlers Mein Kampf als Hauptquellen der Intoleranz bezeichnet. Auch widersprach die Unterdrückung anderer Nationen gleich zwei miteinander verknüpften Hauptforderungen der Aufklärung, der nach Freiheit und der nach Gleichheit, welche Franklin und Jefferson artikulierten. Die Vorherrschaft der jeweiligen Kolonialmacht bedeutete Entmündigung und Aufhebung vieler 47

traditioneller eigener Rechte und Kulturpraxen: in den österreichischen Besitzungen, meist von slawischen Völkern bewohnt, führte Joseph  II. Deutsch als Amtssprache ein – eine Desavouierung der Nationalsprachen wie der althergebrachten Rechts- und Gerichtssitten.

Die mitteleuropäische Toleranzvariante Der andere Modellfall war Mitteleuropa, Deutschland. Dort spielten seit der von dem Lutheraner Melanchthon redigierten, vom katholischen Kaiser Karl V. auf dem Augsburger Reichstag zur Kenntnis genommenen Augsburger Konfession und noch stärker nach Beendigung des Schmalkaldischen Krieges und des Dreißigjährigen Krieges die Religion bzw. Konfession eine kapitale, vielleicht sogar entscheidende Rolle. Im Westfälischen Frieden, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg zwischen Reformierten und Katholiken mit der vom Deutschen Reich anerkannten Formel cuius regio eius religio beendete, wurde kodifiziert, dass diese Konfessionen in relativ friedfertiger gegenseitiger Duldung in je verschiedenen Regionen, also getrennt voneinander, ohne die physische Möglichkeit und Notwendigkeit von Kollisionen koexistierten. Die Regelungen von Münster bzw. Osnabrück waren also nicht nur wie oft zu lesen Ausdruck des deutschen Hanges zur Kleinstaaterei, sondern wie schon Voltaire vermutete Durchsetzung von Toleranz bzw. Verhinderung weiteren Blutvergießens. Doch diese Möglichkeit war in den in Frankreich im Vorfeld der Aufklärung geführten Debatten kaum der Rede wert, wurde von Voltaire in seiner europäischen Geschichte nur am Rande erwähnt. Die deutsche Lösung des Toleranzproblems, eine Zersplitterung des Reiches in relativ selbständige Lande mit je eigener Konfession als angemessene strukturelle Lösung des Problems entsprechend den Beschlüssen des Westfälischen Friedens, das also das Zusammenprallen der beiden verfeindeten oder doch konkurrierenden Konfessionen durch deren territoriale Separierung voneinander verhinderte – die Formel cu­ ius regio eius religio konnte in dem extrem einheitsstaatlichen, zentralistischen, von Henri IV. begründeten und von Louis XIV. konsolidierten absolutistisch regierten Frankreich, das alle partikulären, regionalen oder kommunalen Institutionen zugunsten seiner ehernen Staatsräson abgeschafft hatte, nicht in Frage kommen.

„Vorurteil“: das Scharnier zwischen Toleranz und Aufklärung Immer noch bleibt die Frage offen, was eigentlich Aufklärung und Toleranz, diese beiden heterogen scheinenden Begriffe, miteinander verbindet bzw. wieso aus 48

der Toleranz Aufklärung wurde. Das lange gesuchte Scharnier, das beide scheinbar unzusammengehörigen und logisch miteinander unvereinbaren Phänomene, Toleranz und Aufklärung, verbindet, ist meiner Meinung nach der zu beiden Phänomenen konträre Begriff „Vorurteil“. Vorurteil gehört zu den Hauptschlagwörtern der Aufklärung, das in ursächlichem Zusammenhang mit Intoleranz, dem Gegenbegriff zu Toleranz, auftaucht. Holbach hat seine Überarbeitung des Dumarsais-Textes nicht zufällig Essay sur les prejugés, Essay über die Vorurteile genannt, das von Friedrich  II. attackiert wurde, weil es die Ernennung von Beamten aufgrund ihres adligen Standes als ein Vorurteil und nicht als Ergebnis eines sachkundigen Urteils angriff. In Lessings Toleranz- und Aufklärungsdrama Nathan der Weise ist von „von Vorurteilen unbestochner Liebe“ die Rede. Der Autor beweist mittels seines Dramas geradezu, dass Vorurteile auf falschen Prämissen und auf der Konstruktion falscher Zusammenhänge und Kausalitäten, aber auch auf böswilligen Unterstellungen gegenüber Vertretern anderer Religionen und Weltanschauungen beruhen. Überall in der Aufklärungsliteratur stoßen wir auf die Vokabel „Vorurteil“ als zentralen Begriff. Unter vorurteilen versteht die Aufklärung im Unterschied zu urteilen sowohl das bewusste ideologisierende Lügen, das Verdrehen von Tatsachen, als auch den bloßen Irrtum, falsche Verallgemeinerung, naives Weiterverbreiten geglaubter Wahrheiten, Glaube an Offenbarung statt an Beweise, an obsolet gewordene Kalenderweisheiten und natürlich auch an Orakelsprüche und Priesterbetrug und an aus politischen, aus Gründen der Machterhaltung und des Machtgewinns frei erfundene und durch „des Gerüchts tönende Posaune“ weiterverbreitete unwahre Behauptungen. Ganz besonders grobe und schwerwiegende, diskriminierende Vorurteile wurden und werden gegen die fremdrassigen und „primitiven“ Bewohner der heute Dritte Welt genannten Tropen verbreitet, selbst von wissenschaftlich gebildeten Europäern, die diese Welt aus eigener Anschauung kannten. So schrieb La Condamine, der eine französische Akademieexpedition in Ecuador 1735–1743 leitete, um mit einer zur gleichen Zeit in Lappland unter dem Kommando des preußischen Akademikers und französischen Aufklärers Maupertuis arbeitende Expertengruppe die Behauptung Newtons von der Abplattung der beiden Erdpole zu überprüfen, folgende pauschale, auf platter Unkenntnis beruhende negative Beurteilung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit und überhaupt der Intelligenz der Urwaldmenschen nieder: Man macht sich keinen Begriff davon, wie schwer die Indianer Spanisch lernen. Was mir aber (...) am meisten auffiel, ist, dass es den Indianern so ungemein schwer wird, die einfachsten Gedanken zusammenzubringen und auf spanisch auszudrücken, selbst

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wenn sie die Bedeutung der Worte und den Satzbau kennen. (...) In der Chaymaysprache zählen dieselben Menschen nicht über fünf oder über sechs. (Aus Humboldts Reisetagebüchern (1975), zit. nach Dill 2013, 90)

La Condamine hatte keine Ahnung von den strukturellen Verschiedenheiten der indigenen und der okzidentalen Sprachen. Dagegen bescheinigt denselben Indianern ein halbes Jahrhundert später Humboldt in aufklärerischer Diktion und Intention „eine so große geistige Beweglichkeit und so viel intellektuelle Fähigkeiten.“ Offensichtlich gegen La Condamine schrieb er: Was einige Gelehrte, abstrakten Theorien folgend, über die angebliche Armut aller amerikanischen Sprachen und die äußerste Unvollkommenheit ihres Zahlensystems vorgebracht haben, ist ebenso unbegründet wie die Behauptungen über die Schwäche und die Beschränktheit der menschlichen Gattung auf dem neuen Kontinent. (ibd.)

Letztere Bemerkung Humboldts, der im Gegensatz zu La Condamine etwas von Sprachen verstand und mit seinem Bruder, dem Sprachwissenschaftler, darüber diskutierte, ist aus aufklärerischer Perspektive gegen die Vorurteile kolportierenden Phantastereien von Hegel und dessen Gewährsmann de Pauw gerichtet, die die Indios als physische wie geistige Pygmäen und den ganzen südlichen Subkontinent als deformiert, verkümmert, verzwergt und verkrüppelt bezeichneten. In Shakespeares genanntem, in der Karibik spielendem Schauspiel The Tem­ pest zeigt der sprachmächtige Europäer Ariel Superiorität, der sprachlose und also subhumane Indio Caliban, mit Karibe = Kannibale konnotiert, (Vgl. dazu Toumson 1981) Inferiorität. Dieser herabsetzende vorurteilsvolle Kolonialdiskurs wird in der angelsächsischen Aufklärung weitergeführt: Defoes Robinson ist ein Lehrbuch zur Besetzung fremder Territorien in den Tropen zwecks ihrer politischen und wirtschaftlichen Übernahme. Diese negativen Fremdbilder erstarrten bald zu vorurteilsproduzierenden Klischees und gerieten als solche in das Visier der Aufklärer. Die europäischen Stereotypen von den Bewohnern der Südhälfte des Erdglobus sind sämtlich europäische bzw. mittelmeerisch-antike Erfindungen. Sie sind keine Produkte der eigentlich gemeinten Südmenschen, diesen meist völlig unbekannt, und würden von ihnen als falsche Selbstbilder abgelehnt. Sie haben nichts mit den wirklichen Bewohnern und der wirklichen Natur der Tropen zu schaffen. Diese inkarnieren mit ihrem abschreckenden, furchterregenden, „unheimlichen“ Charakter das „Böse“, Feindliche, Schädigende, „Teuflische“ schon in der Hautfarbe und rechtfertigen somit die Herabwürdigung, Inferiorisierung und Versklavung dieser „anderen“ Menschen.

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Sie sind als Fremdselbstbild ein  – negatives  – Gegenbild zum okzidentalen Selbstfremdbild, sind dessen absolute Negation wie auch dessen „schlechte“, abgründige Seite und insofern eine Selbstnegation der Europäer selber. Wie sehr sogar die Aufklärer selbst voller Vorurteile waren, geht aus folgender an Infamie grenzender Behauptung Montesquieus in Der Geist der Gesetze hervor, die Unvernunft der „Wilden“ äußere sich darin, dass sie einen ganzen Baum fällen, um eine einzige Frucht zu erlangen (81), so wie er die Dummheit der „Neger“, ihren Mangel an sens commun damit bewies, dass ihnen Glasperlen mehr gefallen als Goldgeschmeide, eine für die nations policées doch so wichtige Unterscheidung. (381) Gewecke schreibt unter Bezug auf Reinhold Berglers Schrift Steretypie. Ein Beitrag zur Sozial- und Entwicklungspsychologie, Bern-Stuttgart 1966, über das Fortleben von Stereotypen aus voraufklärerischer Zeit: Auch Reisende in späterer Zeit (...) vermochten sich der Suggestivkraft insbesondere ethnischer Stereotype schwer zu entziehen. Sie ließen sich leiten durch (positive oder negative) Vorurteile (Die Stereotype sind nicht nur Ausdrücke des Vorurteils, dieses notorischen Hauptfeinds jeglicher Aufklärung, sondern reproduzieren dies auch massenhaft, HOD) im Sinne vorschnell gefasster Vorausurteile, durch die historisch und regional bedingte Einzelerscheinungen verallgemeinert und einem bekannten Kategoriensystem zugeordnet wurden. (...) Die empirische Norm alltäglicher (idest lebensweltlicher, HOD) „Wirklichkeitserklärung“ ist nicht das Verhalten auf der Basis objektiver Strukturerhellung, sondern einer naiven Hingabe und Anmutung, die dann durch ein stereotypes letztlich wiederum naives und erlerntes Kategoriensystem in eine pseudorationale Ordnung gebracht wird. (...) Sie entstehen sehr häufig als Rechtfertigung bzw. Rationalisierung einer durch egoistische Motive hervorgerufenen feindlichen Einstellung, als gleichsam bewusstseinsoffizielle Formulierungen (...), die eine Scheinbegründung schaffen und die schließlich auch ein feindliches Verhalten rechtfertigen können (ibd., 278).

Der Kampf der Aufklärer gegen Vorurteile, gegen die von Holbach sogenannten „Meinungen“ bzw. die Adornoschen „Mythen“ war Teil ihrer Kampagne für Toleranz, wie man dem Artikel „préjugé“ (Vorurteil) der Encyclopédie entnehmen kann. In diesem wird „Vorurteil“ dahingehend definiert, dass „Unaufgeklärtheit“ d. h. Unwissenheit bzw. die nicht entwickelte Urteilsfähigkeit, das mangelnde ju­ gement, die Ursache des Vorurteils sei als eines „faux jugement que l’âme porte de la nature des choses, après un exercice insuffisant des facultés intellectuelles. Ce fruit meilleur de l’ignorance, prévient l’esprit, l’aveugle et le captive.“ Zu deutsch: Vorurteil ist ein falsches Urteil, das die Seele über die Natur der Dinge infolge ungenügender Übung der Geisteskräfte fällt. Diese höchste Frucht der Unwissenheit beeinträchtigt den Geist, macht ihn blind und nimmt ihn gefangen. Bekannt ist die diesbezügliche Meinung von Friedrich II. von Preußen, der 51

die drei Hauptfeinde der Aufklärung: Vorurteil, Aberglaube und Fanatismus, in einem Atemzug nennt: „Gewiß wäre es schön, könnte man den einzigartigen Anblick eines von Irrtum und Voreingenommenheit (also Vorurteil, HOD), von Aberglauben und Fanatismus freien Volkes genießen,“ (Friedrich II., 16 f.) Hinzu kommt in der Enzyklopädie-Definition eine psychologisch-anthropologische, sozusagen „allgemeinmenschliche“ Erklärung des Phänomens „Vorurteil“: der Mensch wolle lieber falsche Kausalzuschreibungen und damit Irrtümer in Kauf nehmen als unangenehmen Wahrheiten ins Auge sehen; „was ihm gefällt soll auch wahr und vor allem utile, solide et raisonnable,“ also nützlich, solide und vernünftig sein. Auch „Irrtum“ figuriert als Ursache von „Vorurteil“ in dieser Liste der sozusagen unabsichtlichen, unbewussten Unwahrheiten und falschen Meinungen, von denen man sich befreien sollte, wofür das Französische das schöne Wort „désabuser“ hat: je suis désabusé heißt auch: „ich bin meines Vorurteils ledig“. Vorurteile sind in dieser aufklärerischen Lesart alle Annahmen und zumeist negativen Behauptungen über Personen, Menschengruppen, Gegenstände und Sachverhalte, die nicht der empirischen Erfahrung entstammen und auch nicht der rationalistischen bzw. probabilistischen Logik entsprechen, sondern aus a priori vorausgesetzten, meist liebgewordenen, bevorzugten und gewünschten Überlieferungen ohne jede Evidenz und ohne jeden Beweis abgeleitet werden. Sie wurden dennoch als wahr und zutreffend angesehen, konnten für bewiesene Tatsachen gehalten oder ausgegeben werden, so die erfundene Genealogie der französischen Könige als Abkömmlinge des aus Troja entkommenen Aeneas, mit der die Bourbonen ihren Anspruch auf den französischen Königsthron motivierten – ein Beweis der Wirklichkeitsmächtigkeit von Mythen. Von den Aufklärern speziell wahrgenommene bzw. bekämpfte Vorurteile waren solche, die Fremdpersonen, -gruppen und -populationen von nichtkatholischen bzw. nichtchristlichen Religionen und außereuropäischen Rassen, vor allem den Juden, Muslims, den Indios Amerikas, den Schwarzen Afrikas sowie den schlitzäugigen Asiaten galten, aber auch den Russen und südslawischen sowie balkanischen Völkern wegen ihrer religiösen, rassischen, kulturellen oder ethnischen Andersartigkeit. Diese Vorurteile betrafen deren Sitten, Verkehrsweisen, Familienbräuche, Speisegewohnheiten, Kleidung, Sexualpraktiken und Wertvorstellungen, kurz die Lebenswelt der Anderen, die als minderwertig weil nicht den eigenen Normen, Gewohnheiten und Geschmäckern entsprechend hingestellt wurde. Vorurteile wurden meist von Europäern über andere Ethnien verbreitet, seltener umgekehrt, weil nur sie diese fremden Lande, aber jene ihrerseits nur selten die europäischenTerritorien bereisen, erobern und vorurteilsvoll von eigenen Wertvorstellungen ausgehend beschreiben konnten. 52

Vorurteile lieferten moralische oder juristische Vorwände für Ausbeutung, Unterdrückung, Kolonisierung, Verfolgung und Ausrottung der jeweiligen „Anderen“, wie dies Tzvetan Todorov in Die Eroberung Amerikas Das Problem des Anderen (1970) belegt. Insofern gehören Vorurteil und Intoleranz zusammen, ist ersteres eine Ursache der letzteren. Das „Problem des Anderen“, besser: die Nichtanerkennung der menschlichen Alterität ist eine Voraussetzung der Intoleranz, ihr notwendiger, wenn auch nicht hinreichender Grund. Das eigentliche Scharnier zwischen Aufklärung und Toleranz, diesen beiden praktischen wie ideologischen, miteinander verschränkten Hauptbewegungen des 18. Jahrhunderts, oder andersherum und besser gesagt zwischen Intoleranz und Aufklärungsbedarf war nicht so sehr die Differenz der Religionen bzw. der religiöse Glaube als Verursacher der Intoleranz, sondern das war, jedenfalls in den Augen der Aufklärer selber, das Vorurteil, also ein aprioristisches Gedankending. Das erkannte bereits der Autor des Stichworts „tolérance“ in der Encyclopédie. Es ging ihm keineswegs, wie vielleicht zu vermuten wäre, direkt um die religiösen, zur Intoleranz führenden Dissenzen, sondern er legt eingangs ganz pädagogischmethodisch überlegt die Charakter- bzw. Wesensverschiedenheiten aller menschlichen Individuen dar, die notwendig zu Meinungsdifferenzen führen müssten, die diese ohne Gewaltanwendung, rein dialogisch-argumentativ, auszutragen und auszuhalten, also zu tolerieren hätten. Definitorisch heisst es in frühklassischem Französisch: „Tolérance (est) la vertu de tout être foible destiné à vivre avec des êtres qui lui ressemblent.“ Toleranz (also Erdulden, Erleiden) ist die Tugend eines jeden schwachen Wesens, das mit Wesen zusammenleben muss, die ihm gleichen, womit Toleranz als Eigenschaft des gesellschaftlich Schwächeren und Niedrigeren und Notwehr-Waffe des Benachteiligten gegenüber den Stärkeren und Privilegierten klassifiziert wird. Sie gehöre zu „les douces & conciliantes vertus que tant de siècles ont fait plus ou moins l’opprobre & le malheur des hommes.“ Sie gehöre zu jenen milden und versöhnlichen Tugenden, die durch so viele Jahrhunderte mehr oder weniger die Schande und das Unglück der Menschen ausgemacht haben. Die Enzyklopädie setzt zuerst die persönlich-individuelle alteritas, um erst aus dieser verallgemeinernd zu schwerer wiegenden, die individuell differenten Lebensansichten übersteigenden Dissonanzen zu kommen. Dieser individualistische Einstieg mag als pädagogischer Trick erscheinen, um zwanglos vom Persönlichen zum Gesellschaftlichen, vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Politischen zum Weltanschaulich-Philosophischen, von Lebenswelt zu Philosophie überzugehen. Aber dialektische Logik ist nicht das Hauptelement dieses Artikels der Encyclopédie, sondern die Herstellung eines intersubjektiven, 53

eigentlich sogar eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses ganz im Sinn und Stil der deutschen „Aufklärung“. Hier belehrt ein Ich, der Verfasser des Artikels, den Leser als imaginären Dialogpartner in der zweiten Person Singularis unter Einschaltung von rhetorischen Fragen und Ausrufen und sachlichen Argumenten über Wesen und Bedeutung der Toleranz und Intoleranz. Er schafft damit die Modellsituation des Aufklärens par excellence. So unterbricht er den imaginären Dialog mit dem Leser mit direkten, an dessen Adresse gerichteten Interjektionen und antizipierenden scheinbaren Gegenargumenten: Mais, dites vous, („aber Sie werden sagen“) heißt es zum Beispiel. Der Stichwortbearbeiter schwingt sich sogar zu einem gewissen bildhaften Pathos auf, das von den Haupt-Schlagwörtern der Aufklärung: fanatisme, super­ stition, préjugé und raison geprägt ist: „Tentons encore une fois d’arracher aux fanatiques son poignard, & aux superstitieux son fardeau.“ Versuchen wir ein weiteres Mal, den Fanatikern ihren Dolch und den Abergläubischen ihre Last zu entreißen. Er ruft die „raison humaine“ an, doch ein und dieselbe Raison gilt nicht für andere Menschen mit anderer Erziehung (éducation) und ihren Vorurteilen (préjugés) sowie für „les objets qui nous environnent“ – also auch die gegenständliche Umgebung mit ihrer Spezifik prägt laut Enzyklopädie das Denken und erzeugt Vorurteile gegenüber aus anderen Milieus stammenden Individuen. Hier kommt der Enyclopédie-Artikelverfasser fast dem modernen Begriff der „Lebenswelt“ nahe. Man müsse das menschliche Irren und die individuellen Verschiedenheiten der Ansichten und religiösen Überzeugungen anerkennen: „(...) l’on sent assez la différence qu’il y a entre tolérer une religion & l’approuver.“ (Man spürt ziemlich stark den Unterschied zwischen „eine Religion tolerieren & sie billigen“) Toleranz heißt also nicht Akzeptanz. Daher predigt der Artikelverfasser Moderation und nennt die „violence“, die Gewalt, das schlechteste Mittel (argument) zur Überzeugung des Anderen; stattdessen müsse man preuves (Beweise) und raisonnement einsetzen und im übrigen die Droits de la Conscience, die Gewissensfreiheiten – eine weitere Forderung der Aufklärer – respektieren. Jetzt kommt die Wendung gegen die damalige mörderische Rechtsprechungspraxis als höchsten Ausdruck von Intoleranz samt Hinweis auf deren theologische Verstrickung: Quel étrange moyen de persuasion que des buchers & des échafauds, penser honorer un Dieux de paix & de charité en lui offrant vos frères en holocauste, & en lui élévant des trophées de leurs cadavres ? A l’égard des conversions forcées secouer les préjugés. (Welch merkwürdige Überzeugungsmittel sind doch die Holzscheite und Schafotte, einen Gott des Friedens und der Mildtätigkeit ehren zu wollen, indem man eure Brüder

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dem Holocaust hinopfert und ihm ihre Leichen als Trophäen widmet. Erschüttern wir also die durch erzwungene Bekehrungen erpressten Vorurteile!).

Schließlich erfolgt ein unerwartet kühner und psychologisch geschickter Seitenhieb auf die europäischen Vorurteile gegenüber Menschen anderer Rassen und Breiten: „Was würden wir nicht alles einem Fürsten aus Afrika oder der Neuen Welt vorwerfen, wenn er einen Missionar aufhängen ließe, nur um ihn zu seiner eigenen Religion zu bekehren?“ – ein Beispiel, das der Artikelverfasser sicherlich von Las Casas’ Bericht über die Zerstörung Westindiens übernommen hat, der ähnliche Fälle schildert, wo die christlichen Eroberer die Indianerhäuptlinge zuerst zwangsweise bekehrten, um nach vollzogener Taufe diese Neuchristen ins Jenseits zu befördern. Die beeindruckende pädagogisierende Umkehrung der wirklichen Verhältnisse in diesem Encyclopédie-Artikel denunziert überzeugend die Ungleichheit der Positionen zwischen herrschenden Kolonisatoren und beherrschten, duldenden Kolonisierten. Abschließend wird der Leser auf den philosophischen Kommentar Bayles, des Ahnherrn der Toleranzidee, verwiesen, in dem sich dieser Denker selbst übertroffen habe: „Nous renvoyons à ce sujet au commentaire philosophique de Bayle, dans lequel selon nous ce beau génie s’est surpassé.“ Der Kampf für Toleranz hat jedoch auch seine Aporie, insofern die Wortführer der Toleranzpartei, die den Kirchen Intoleranz vorwarfen und Toleranz predigten, zugleich oft als Aufklärer gegen die Religion auftraten, diese sogar polemisch mit Aberglauben gleichsetzten, was auf Intoleranz gegenüber den Gläubigen hinauslief. Aus diesem Widerspruch kamen die Aufklärer nie heraus. Der Encyclopédie-Toleranzartikel zeigt einen gewissen Ausweg aus dieser Aporie, indem die Toleranz als „Dulden“, als „Ertragenmüssen“, als „Waffe der Schwachen im Widerstand gegen die Starken und Mächtigen“ definiert wird, wogegen letztere herrschende Instanzen des Schutzes ja nicht bedürfen. Vorurteile gegenüber anderen Religionen und ihren Anhängern waren in den Augen der Aufklärer Äußerungen von Intoleranz und tiefere Ursache von Feindseligkeiten, Verfolgungen und Kriegen, weder bösartige Erfindungen noch Verleumdungen, sondern irrige Annahmen von an sich gutwilligen, aber leichtgläubigen Menschen. Ein Vorurteil entsprang also aus falschem tradierten Wissen, das zu einer Zeit geprägt wurde, da man noch keine modernen Erkenntnismittel und -methoden zur Verfügung hatte, wie es bereits Descartes angenommen hatte, und als man die richtigen, empirisch begründeten Erkenntnisse sogar, weil tradierten Vorurteilen widersprechend, ablehnte, ja nicht einmal zur Kenntnis nehmen wollte. Die katholischen Würdenträger, die Galilei zum Abschwören seiner Lehre nötigten, waren gewiss von der Richtigkeit ihrer eigenen Welterklärung und

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der Falschheit des Weltbildes Galileis überzeugt, setzten damit das Vorurteil der Kirche gegen die von ihnen nicht als Quelle des Wissens anerkannte Empirie. Die Mythen wurden lange für wahr gehalten, sogar mit Geschichtsschreibung gleichgesetzt. Die Beseitigung dieser und aller Fiktionen, Einbildungen und Täuschungen, eine konsequente Entlarvung des auf Mythenglauben beruhenden allgemeinen Unwissens war das Grund- und Hauptanliegen der Aufklärung und zugleich ihre große Illusion, insofern dies auch in der heutigen Welt nicht vollkommen gelungen ist. So kam es zur verallgemeinernden Phobie gegen alle Art geistiger voraufklärerischer, vor allem mittelaltriger und vormittelaltriger Überlieferungen und Erkenntnisse, für welche Adorno die Metapher „Mythos“ verwendete. Von diesem Moment an, mit der Erfassung dieses eigentlichen Aufklärungsthemas der Demythisierung erst. wurde aus der Toleranzbewegung die Aufklärung. In das semantische Umfeld von Intoleranz gehört der Fanatismus als deren höchste Steigerung. Friedrich II. (1985, 247) ging in seinem Antiklerikalismus sogar so weit, in seinem Vorwort zum Abriß der Kirchengeschichte (Histoire Ec­ clésiastique) von Claude Fleury die Jünger Jesu blasphemisch als „zwölf Fanatiker“ zu bezeichnen. Fanatismus ist die einseitige, hasserfüllte, irrationale, bis zur Tötung und auch zur Selbstaufopferung gehende höchste Steigerung der Intoleranz gegenüber Vertretern anderer Ideen, Politiken oder Religionen (Der Ausdruck meinte in Rom ursprünglich die exaltierte Verhaltensweise des Priesters des fanum-Tempels, der in ständiger Hatz aus Begeisterung über sein Amt und seinen Gott agierte). Erst Goebbels, der sein Ministerium in unfreiwilliger Selbstironie ganz offiziell „für Volksaufklärung und Propaganda“ nannte, seine systematische rassistische Menschenverhetzung also sogar demagogisch in die Tradition von Bayle, Voltaire, Holbach und Friedrich II. stellte, erhob „Fanatismus“ sogar zu einem positiven Begriff, zur Kennzeichnung des Ideals des total ideologisierten, gewaltbereiten und Terror gegen Andersdenkende ausübenden Hitlerfaschisten, sozusagen zur Verkörperung des nationalsozialistischen gegenaufklärerischen Menschenbilds par excellence.

Toleranz als Rationalismus und Wirtschaftsrationalität Auch der altmarxistische Philosoph Hans Heinz Holz hat versucht, Toleranz, diesen praktisch-politischen Zentralbegriff der Aufklärung, in das Begriffssystem der Aufklärungsphilosophie einzubinden. Er sieht in ihr das verstehende Verhalten in der Alltagslebenswelt gegenüber Andersdenkenden in stillschweigender Polemik gegen alle rein pragmatisch-moralischen Interpretationen. Er führt die Toleranz auf den Rationalismus oder, in anderen Worten, das politische, lebenspraktische Verhalten der Aufklärer auf ihre Philosophie zurück, er56

schließt also eine ganz andere als die bisher diskutierte lebensweltliche Brücke zwischen beiden Phänomenen, zwischen Toleranz und Aufklärung. Er beginnt (2002, 121 f.) seine kurze, auf einzelne Höhepunkte reduzierte Geschichte der Toleranztraktate mit Nicolaus von Cues’ De pace fidei. In dieser habe der Cusaner nicht die Ursachen der Existenz verschiedener Religionen und das Problem ihrer jeweiligen Gleichberechtigung untersucht, sondern umgangen, indem er ihre relative Kompatibilität unter dem gemeinsamen Dach des als „allgemeinste Religion“ firmierenden Christentums – ähnlich wie Llull, HOD – statuiert. Unter diesem gemeinsamen Dach seien einzelne Differenzen tolerabel, womit er den innerchristlichen Toleranzgedanken und damit die Toleranzidee überhaupt begründete, weil sieh die Intoleranz zu Lebzeiten des Kusaners, vor der Reformation, nur innerkatholisch manifestierte. (Der postreformatorische) John Locke habe in seiner Epistola de tolerantia Toleranz als ein wechselseitiges Dulden verschiedener christlicher Konfessionen, also von Katholiken und Protestanten (auch Anglikanern) untereinander aufgefasst, wodurch fast unbemerkt der Atheismus aus der Liste der zu tolerierenden Doktrinen herausgefallen sei. Er habe jedoch wesentlich den Unterschied zwischen Wissen und Glauben bzw. Staat und Kirche hervorgehoben und dadurch das Problem von der religiösen auf die politische Ebene geschoben. „Es geht nicht um Respekt vor dem anderen Denken, sondern um den Respekt vor dem anderen Eigentum“, so Holz etwas kurzschlüssig, womit er wohl die wechselseitige Anerkennung der Eigentümer als Konkurrenten auf dem Markt der Ideologien meint (ibd., 123), so wenn er Locke zitiert: „So ist der Schutz des Lebens der Menschen und der Dinge, die zu diesem Leben gehören, die Aufgabe des Gemeinwesens, und die Sicherung des Eigentums an diesen Dingen ist die Pflicht der Obrigkeit.“ (ibd.) Locke vertrete als britischer Aufklärer eine rationalistische Anschauung von Toleranz, die aber keine Lösung des Toleranzproblems, nämlich die Anerkennung der Pluralität der modernen Individuen und ihrer Meinungen, erbringe. Diese Leistung schaffte laut Holz erst Gottfried Wilhelm Leibniz mit seiner Monadologie, in der die einzelnen Monaden sprich Individuen in ihrer je eigenen individuellen Perspektive zugleich die allen gemeinsame und identische Welt widerspiegeln. Toleranz im Sinne von Leibniz’ Monadenlehre erlaube es, „jede individuelle Perspektive beizubehalten und doch die Vielzahl der Perspektiven aufeinander zu beziehen.“ (ibd., 25) Holz’ Schlussfolgerung: „Ich möchte darum (...) die These aufrechterhalten, dass Toleranz ihren Grund in der unwidersprechlichen Geltung des Vernünftigen hat. Inhalt des Vernünftigen ist das Allgemeine, Vernunft ist das Organ der Beziehung des Besonderen auf das Allgemeine.“ (ibd., 126) Zur Bekräftigung zitiert er die utilitaristische Maxime des niederlän57

dischen Naturrechtlers Grotius, „dass der Mensch über die Urteilskraft verfügt, das einzuschätzen, was nützt oder schadet“. (ibd., 8) So bewältigt Holz unter der philosophischen Vernünftigkeitsmaxime als oberstem Prinzip die Verwandtschaft zwischen Toleranz und Aufklärung und damit den fließenden Übergang von ersterer zu letzterer. Er hätte mit diesem Grotius-Zitat auch an den Uranfang des Rationalismus zurückkehren können, zu Descartes, der in seinem Diskurs über die Methode von der Prämisse ausging, dass in einer Art demographischer Normalverteilung jeder Mensch deshalb ein solcher ist, weil er wie alle anderen zu denken und zu urteilen vermag – cogito ergo sum – worauf schließlich Kant seine Aufforderung an einen jeden formulieren konnte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und denken – cogitare – zu wagen: sapere aude; oder auch zu dem US-Quäker William Penn und dessen Plädoyer für Toleranz in The Great Case of liberty of conscience von 1670, der damals in Pennsylvanien ein in der Welt einmaliges Asyl für von der Religion Verfolgte – und nicht für religiös Verfolgte! – einrichtete. Holz’ ansonsten stringente Darlegungen leiden darunter, dass er nicht die verschiedenen Stufen von Dissenzen – zwischen den Dissidenten und Katholiken vor der Reformation, zwischen Protestanten und Katholiken nach dieser, zwischen den verschiedenen monotheistischen Religionen, und danach zwischen Gläubigen und Atheisten sowie schließlich auf höchster Verallgemeinerungsebene zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen – wie dies Todorov tut – behandelt, nicht als toleranzrelevant erwähnt, obwohl die Austragung dieser Differenzen doch bedeutsame Folgen für die Weltgeschichte hatte. Dennoch ist Hans-Heinz Holz’ Rekurs auf den Rationalismus in Bezug auf den inneren Zusammenhang zwischen (rationalistischer) Aufklärung einerseits und (lebensalltäglicher) Toleranz andererseits von großem heuristischem Wert, denn vernünftige Übereinkommen bzw. Toleranzen verhindern die gewaltsame Austragung von Dissenzen zwischen verschiedenen Überzeugungen, um die es hier ja geht, worauf ja auch der Toleranz-Artikel der Encyclopédie abhob. In diesem rationalistischen Sinn wird die Toleranz in Lessings 1779 verfasstem Drama Nathan der Weise vom Juden Nathan vertreten, wogegen der eifernde, fast möchte man in Voltaires Diktion sagen „fanatische“1 christliche Patriarch schnell, auf den bloßen Verdacht einer dem Juden nachgesagten religi1 Fanaticus = von einer Gottheit in Entzücken versetze Person (von fanum Tempel, also religiösen Ursprungs), psychopathische Verhaltensform, die der leidenschaftlichen und oft kompromißlosen (fundamentalistischen) Durchsetzung eines Vorstellungkomplexes (Ideal) dient; Ideenfanatiker, der sich unter Mißachtung des Lebens anderer oder des eigenen für ein ideelles Ziel einsetzt.

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ösen Nötigung, mit der Inquisition, mit der Ketzerverbrennung als der passendsten Tötungsart droht. Fast als hätte Lessing, der mit dem Berliner Philosophen Moses Mendelssohn ein lebendes Modell jüdischer Toleranz vor Augen hatte, den Voltaire kommentiert, demgegenüber er sonst bekanntlich eine reichlich ambivalente Haltung hatte. Toleranz war ein historisch neues Phänomen, das aus dem Zusammenstoß, Zusammenleben und Kontakt im Zusammenhang mit Eroberungen und Migrationen – mit Eroberungen mehr als mit Völkerwanderungen – zwischen historisch wie geographisch verschiedenen, monokulturellen und damit auch monoreligiösen Populationen erst entstand. Zwischen diesen kam es zu gewalttätigen Konflikten, grausamen Gemetzeln und Genoziden, zu Akten von Intoleranz, die inszeniert wurden, um die verlorene Einheit von Religion und Population wieder herzustellen. Holz bringt gegenüber den meist rein ideologisierenden, auf die religiöse Konfession der Akteure abhebenden Erklärungsmustern einen materiellen Grund der Intoleranz in die Debatte, den Eigentumsbegriff, des Eigentums an materiellen Werten. Sieht man den Zusammenhang zwischen helvetischem Arbeitsamkeitsethos und damit letztlich zwischen wirtschaftlicher Aktivität und Protestantismus als Auslöser ganz im Sinne von Max Weber, so ist die Toleranz hinter dem Rücken der Akteure nichts weiter als indirekter Ausfluss der ökonomischen Interessen der sich herausbildenden Kapitalisten vs. anteökonomische Feudalität, also weniger ein Gegensatz zwischen verschiedenen wirtschaftlichen Interessen unterschiedlicher Klassen als vielmehr überhaupt der Gegensatz zwi­ schen Ökonomie und Nichtökonomie – Ökonomie als wirtschaftssubordinierendes Verhalten verstanden. Erst mit dem auf die Aufklärung folgenden Kapitalismus, dieser ersten politisch-sozialen Formation, die sich wesensbestimmend in der ökonomischen Sphäre entwickelt und diese zum wichtigsten Lebens- wie Aktivitätsbereich erhebt, wird die Ökonomie mit Adam Smith, Ricardo, Malthus und Bentham zur entscheidenden Wissenschaft in England, dem ökonomisch fortgeschrittensten und im eigentlichen Sinn des Wortes damals einzigen ökonomischen Land der Welt, während die französische Physiokratie von Rousseau und Turgot ein rückständiges, agrar- und gewerbeorientiertes und sozusagen anteökonomisches Land demonstriert, von den immer noch wenig marktaktiven deutschen Landen ganz zu schweigen, in denen es nicht einmal Marx gelang, der Wirtschaftswissenschaft den ihr gebührenden Rang zu erstreiten. Aufklärung im eigentlichen Sinn wäre also nicht nur die Beseitigung von auf Unwissen beruhenden Vorurteilen und die Etablierung der Toleranz zwischen Konfessionen und Religionen, sondern auch ein ideologisch verbrämter und be59

grifflich noch äußerst dürftiger Ausdruck moderner Wirtschaft, eine Vorform kapitalistischer Konkurrenzwirtschaft auf dem Markt der Religionen und Bekenntnisse. Trotz alledem kamen die Aufklärer in ihrer Theoriebildung nicht auf die Verbindung Religion-Wirtschaft, weil diese nur hinter ihrem Rücken und dem Rücken der Akteure sowie dem der den materiellen Prozessen fremden Intellektuellen vor sich ging. Sie sahen nur die Oberfläche des Konflikts und dachten sich folglich als unschuldig fühlende und unwissende Opfer von auf Vorurteilen basierenden Irrtümern, die aus Epochen stammten, da die Menschen noch unwissend waren und den Vorspiegelungen der Orakel leicht Glauben schenkten. Daraus erklärt sich die einseitige Überbetonung von Aberglauben, Priesterbetrug und Mythologie als Ursachen der Intoleranz und das permanente Bemühen, durch „Aufklärung“ diese zu beseitigen. Der Essay Voltaires über den Geist und die Sitten der Völker aus dem Jahre 1749 enthält bereits ein Jahr vor Beginn des Erscheinens des ersten Bandes der Encyclopédie – Bibel und Symbol der Aufklärung – deren zentrale alltagspolitische Themen und Hauptschlagwörter: Toleranz, Intoleranz, Vorurteil, Fanatismus, Krieg. Vielleicht wären Aufklärer wie Voltaire ohne vorherige gründliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Religion = Krieg nicht so schnell, konsequent und prinzipiell zum Pazifismus gelangt – diesem ihrem nach Toleranz und Kirchenkritik wichtigsten Thema auf den Gebieten des praktischen Lebens und der Politik, dem die philosophisch-ideologische Streitfrage Theologie vs. Wissenschaft untergeordnet blieb. Denn Kriege waren natürlich entsprechend aufklärerischen Denkens ebenfalls die Folge von Vorurteil und Fanatismus. Martin Fontius hat den Weg Voltaires vom Dichter zum Symbol und Führer der Aufklärung beschrieben und dabei die Behauptung Lessings bestätigt, dass Voltaire als Historiker (und Erzähler und Pamphletist), nicht aber als dramatischer und lyrischer Poet, seine Zeit überlebt habe. Diese Erhöhung zur Symbolgestalt der französischen Aufklärung führte zu seiner Verwandlung in einen Mythos der französischen Aufklärer durch seine Zeitgenossen und Landsleute, was sie anderen Heroen dieser Bewegung wie Rousseau und Diderot verwei­ gerten. In seiner Sittengeschichte der europäischen Nationen stellte Voltaire erstmals in der Weltgeschichtsschreibung die profane Wirklichkeit, also die politische und alltägliche Lebenswelt statt des damals dominierenden sacrosankten Ambientes der Dynastien und Herrscher dar. Darauf deutet schon der Titel, der Bezug auf Nation gleich Volk.

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Voltaires Wirken für die Entzauberung, d. h. die Dekonstruktion der irrationalen ideologischen Konstrukte des ancien régime und des späten Mittelalters im obengenannten Essay über die Sitten und den Geist der Völker endet nicht wie bei Fontius mit der Demystifizierung von kirchlicher und philosophischer Dogmatik und Intoleranz, sondern mit der ganz neuen wissenschaftlichen Entdeckung der bis dahin von kaum einem anderen Historiker und erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als welthistorisch neues Phänomen wahrgenommenen Kolonisierung bzw. Conquista Südamerikas, wobei dieses Thema bis heute selbst in anthologischen und Überblicksdarstellungen der Aufklärung unterrepräsentiert ist, die Kolonien meist nur in ihren von Europa unterschiedenen Geographien, Klimata, Bevölkerungen und Ethnographien samt Sitten und Bräuchen ihrer Bewohner mehr oder wenig zutreffend dargestellt wurden. So wie Voltaire sich in Bezug auf die unseligen Folgen religiösen Fanatismus’ im zweiten Teil des Essays auf die Kreuzzüge konzentriert, die diesen Fanatismus am klarsten und monströsesten vordemonstrieren, so fokussiert er im Dritten Teil auf die Conquista Südamerikas als das spektakulärste Kolonialisierungsunternehmen der Weltgeschichte, wohl auch weil in diesem die von ihm befehdete katholische Kirche ähnlich wie bei den Kreuzzügen eine miserable Hauptrolle spielte, und seine negativen Helden aus Spanien kamen, dem wegen seines Widerstands gegen jeden Fortschritt unter dem Kommando des Santo Oficio und der Zensurbehörden geradezu traditionellen Lieblingsfeind der Aufklärer; Spanien war Hauptland und Heimstatt der wie er schrieb „habsüchtigen und blutdurstigen Christen“. (93) Erst nach der napoleonischen Invasion und der Abdankung von König Carlos IV. und somit in einem zeitweilig staatsrechtsfreien Raum kam es zur Durchsetzung aufklärerischer politischer Forderungen auch in Spanien in den Cortes von Cádiz, die im März 1812 die erste, liberale, Verfassung des Landes verabschiedeten, nachdem die Pressefreiheit im November 1810 verkündet und kurz bevor das mittelalterliche Inquisitionstribunal im Februar 1813 endlich aufgelöst worden war.

Orientalische Fiktionen als travestierte Medien europäischer Selbstkritik Bilden die europäischen Vorurteile über die Ausländer, besonders die Asiaten, eine Zielschreibe aufklärerischer Kritik, so wurden diese im Kontext des damals aufblühenden, kritisch unter die Lupe genommenen Orientkults sogar in Gestalt fiktiver europabereisender und darüber in ihre Heimat berichtender Asiaten zu Medien europäischer Selbstkritik. Das geradezu populäre Volksvorurteil gegen 61

Türken wird scheinbar in folgendem Doppelporträt eines türkischen Pascha und eines französischen Königs ausgedrückt, dessen Autor der Enzyklopädie-He­ rausgeber Denis Diderot ist: Wenn ich unter einem gleichen Gesichtspunkt Frankreich und die Türkei vergleiche, so bemerke ich einerseits eine Gesellschaft von Menschen, die die Vernunft vereint und die die Tugend handeln lässt, und welche ein ebenfalls weiser und ruhmreicher Führer nach Recht und Gesetz regiert; auf der anderen Seite eine Herde von Tieren, die die Gewohnheit beieinander hält, die das Gesetz der Peitsche in Marsch versetzt, und die ein absoluter Herrscher je nach seiner Laune anführt. (zitiert und übersetzt nach Proust, ibd.): Si je rassamble sous un même point de vue la France et la Turquie, j’aperçois d’un côté une société d’hommes que la raison unit, que la vertu fait agir, et qu’un chef également sage et glorieux gouverne selon les lois de la justice; de l’autre, un troupeau d’animaux que l’habitude assemble, que la loi de la verge fait marcher, et qu’un maître absolu mène selon son caprice).

Dies grenzt, für einen Aufklärer einigermaßen ungewöhnlich, in seiner schroffen und wertenden Gegensätzlichkeit zwischen einem orientalischen Despoten mit seinen schafsmässig gehorchenden Untertanen und einem allerchristlichen „ruhmreichen“ König von Frankreich, der wie es ausdrücklich heißt nach Recht und Gesetz regiert, an Rassismus, Westeuropazentrismus und „Vorurteil“. Erst bei genauerem Hinsehen kann man auch Anderes, sogar das pure Gegenteil herauslesen, wenn man das zur Charakterisierung des Osmanen verwendete signalsetzende verräterische Wörtchen „absolu“ bedenkt, das doch eigentlich dem französischen „absolutistischen“ König zukommt. Vor allem aber erscheint die Charakterisierung von Ludwig XV., um den es sich handeln mag, als viel zu abgegriffen, banal, bewusst klischeehaft gegenüber der kräftigen, detaillierteren, ebenfalls stereotypisierenden Charakterisierung seines orientalischen Pendants. Der kritisch mitgehende Leser wird hinter der Entgegensetzung eine das Volksklischee vom despotischen Türken und weisen französischen König Ludwig desavouierende Gleichsetzung erkennen: der französische, absolutistisch ohne Parlament regierende Souverän wird mit dem orientalischen Alleinherrscher gleichgesetzt. Proust ist zuzustimmen, hierin eine Malice Diderots zu sehen, indirekt die Identität beider Herrscher aus Asien wie Westeuropa als autorités politiques zu suggerieren, Ludwig XV. in boshafter Übertreibung mit einem türkischen Pascha als seinem Ebenbild zu identifizieren. Damit artikulierte Diderot in Wahrheit also aufklärerische Kritik am französischen Feudalabsolutismus. Mit dieser suggerierten geheimen Gleichstellung des französischen Königs mit einem orientalischen Despoten konnte Diderot unter Umgehung der Zensur bzw. aus Schutz vor Verfolgung eine Wahrheit über die kalamitösen politischen Verhältnisse in Frankreich risikolos aussprechen. Ob diese subtile, indirekt ent62

hüllende, ambivalente Parodie vom gewöhnlichen Publikum so wahrgenommen wurde, ist eine andere Frage. Mehr Publikumsakzeptanz fand wohl eine andere Art indirekter Kritik an europäischen Verhältnissen ebenfalls unter Verwendung eine orientalischen Kontrastperson, in der von Klaus-Jürgen Bremer untersuchten Pseudoreiseliteratur. In dieser treten Europa bereisende Muslime und Ostasiaten durch ihre naive, verfremdete und verfremdende Sicht als Kritiker des christlichen Abendlandes mit seinen Absurditäten, Widersprüchen, Ungerechtigkeiten und Unvernünftigkeiten und seiner Intoleranz auf. Montesquieu, Voltaire, Friedrich  II. und der spanische Schriftsteller José Cadalso nutzten diese Form von Aufklärung und Gesellschaftskritik. Diese Briefliteratur ist eine Sonderspezies neben der sich bald in großem Maße entfaltenden, die Oberhand nehmenden, aufklärerischen Weltreiseliteratur. Letztere wurde von wirklichen, nicht fiktiven Beobachtern geschrieben, die Okzidentalen sind und keine Orientalen, und die nicht die okzidentale Welt aus imaginierter exotisch-orientalischer Perspektive, sondern die nichtokzidentale, außereuropäische Welt aus okzidentaler rationalistischer und objektiver Brille beschreiben. Die wichtigste und bekannteste dieser fiktiven Korrespondenzen sind die 1720 in Köln gedruckten Lettres Persanes des französischen Frühaufklärers Montesquieu (1689–1755) nach seiner Vorstudie, der Histoire véritable, der „Wahrhaftigen Geschichte“, eines erst postum edierten Romans in Briefen. Der fiktive Protagonist und Briefeschreiber entwirft aus seiner anderen, nicht-okzidentalen Kultur und Bildung heraus mit seinem fingierten verfremdeten Blick auf den Anderen ein ironisches Bild der absolutistischen Gesellschaft Frankreichs. Montesquieu hatte genau wie Diderot den Protagonisten, einen Europa bereisenden Perser, neben den mentalen und kulturellen Unterschieden zwischen französischen und orientalischen Herrschern auch die Gemeinsamkeiten „zwischen dem französischen Absolutismus und dem asiatischen Despoten“ erkennen lassen, wie er auch am fremden islamisch-arabischen bzw. türkischen Modell indirekte Kritik an den einheimischen Zuständen übte. In diesen beschreibt der persische Adlige Usbek die Agonie Frankreichs in der zu Ende gehenden Glanzepoche Ludwig des XIV. und der sorglos-lustigen Zeit der Régence bis zur Regierungsübernahme durch Ludwig XV. Führt Usbek die Welt der ernsten Politik, der Regierungsgeschäfte vor, so sein Bedienter Rica in seinen Briefen die lockere Moral der Franzosen, die von denen seiner muslimischen Heimat gewaltig abstach. Beide Briefromane Montesquieus dienen dem Vergleich Orient-Europa, wobei letzteres in Gestalt des zeitgenössischen Frankreich nicht gerade gut ab63

schneidet. Die Briefe der beiden Perser, natürlich camouflierte Sprachrohre des Autors, nehmen bereits die späteren Hauptobjekte und -schlagworte der antiklerikalen Aufklärungskritik: Herrschaft des Papsttums, Zölibat der Priester und Sakrament der Dreifaltigkeit ins Visier. Auch intendiert der Autor die „Entmythisierung seiner Welt“ (Bremer 552) – ein Hauptanliegen der Aufklärung. Montesquieu übt scharfe Kritik besonders an der Regierung Ludwig XIV., klärt seine Leser über dessen verantwortungsloses Wirtschaften und Regieren anhand der fingierten Briefe des persischen Besuchers auf. Bremer schreibt diesbezüglich: „Die Themen der Kritik (...) kreisen um Ludwig XIV. und seinen Hof, um seine absolutistische Machtausübung, seine Eroberungskriege und seine unheilvolle Finanzpolitik. Aber auch seine Minister und das Parlament werden nicht verschont.“ (106) Montesquieu schrieb bereits im Geist des 18. aufklärerischen Jahrhunderts, das laut Bremer „die Freiheit anstrebte, die Rechte des Individuums proklamierte, die Menschen vergötterte und der Vernunft Tempel baute. Es ist das Zeitalter der Aufklärung, der Befreiung, der Analyse.“ (ibd.) Die aufklärungstypische Kritik Montesquieus an Papsttum, Zölibat und am Dreifaltigkeitsmysterium wird von Friedrich  II. in seinen Briefroman Reisebe­ richt Phihihus, des geheimen Abgesandten des Kaisers von China in Europa noch verstärkt, die Kritik am Absolutismus Ludwig XIV. natürlich nicht. Amüsant ist für den Chinesen das Sakrament der Eucharistie, das Verspeisen des Gottes. In innerchristlichem Rahmen wäre diese Fremdheit unglaublich erschienen, da Orthodoxe wie Heterodoxe beider Konfessionen mit dieser Lehre vertraut sind. Demgegenüber konnte Friedrich durch einen Asiaten, dem die gesamte christliche Heilslehre, speziell das Neue Testament fremd ist, sehr wohl die logischen Ungereimtheiten, die für ihn diese ungewohnte europäische Überlieferung hat, auf geradezu provozierend naive Weise auch einem christlichen Leser vermitteln. Dabei war es kein Zufall, dass Friedrichs Darstellung neben der Schilderung so mancher Merkwürdigkeiten europäischer Sitten gerade deren religiöse Usancen aufs Korn nahm. Was mag ihn aber veranlasst haben, in sein zensurfreies überwiegend protestantisches Land eine solche pseudonyme Pseudoreisebriefsammlung über den Rombesuch eines Chinesen zu schreiben? Ganz offensichtlich erschien es ihm nicht ratsam, als König bzw. Kronprinz, unter seinem eigenen Namen, solche subversiven Gegenstände coram publico am Beispiel des in Preußen starken Protestantismus zu behandeln. Aber der Vatikan lag weit entfernt von Berlin. Der Chinese reist nach Rom, der Hauptstadt Europas, weil der Papst, der Lama bzw. Pontifex Rex, d. h. die altkatholische Kirche statt des Kaisers, des weltlichen Herrn, in Europa regiert. Der Papst gelte hier noch immer als höchste weltliche und geistliche Macht. Auch entscheide christliche, nicht 64

weltliche Gerichtsbarkeit über das Delikt der Ketzerei. Was sind Ketzer? Antwort: Andersdenkende! Der Heilige Geist oder Papst (sic) werde von 70 Bonzen gewählt plus einer Jungfrau als Mutter Gottes als Vierte im Bunde. Der Oberbonze habe große Mühe, das Volk bei seiner Leichtgläubigkeit zu halten. Die größte Schwierigkeit bereitet es dem Chinesen, das Sakrament der Heiligen Trinität zu verstehen, die für ihn unbegreifliche Einheit von Gottvater, Sohn und Heiliger Geist, womit Friedrich zwar auch seine eigenen Reserven und Zweifel an der Vernünftigkeit des Neuen Testaments ausdrückt, aber doch auch treffend die wechselseitige Toleranz, was hier auch heißt Verständnis für die Fremdheit der Kulturen demonstriert. Der Papst, Chef der Kirche des Friedens, weiht wider alle Logik Schwerter zum Krieg, um Fischgründe in Amerika zu erstreiten. Friedrich zitiert in diesem Zusammenhang indirekt Las Casas: lieber mit Konfuzius verdammt sein als gemeinsam mit Christen erlöst werden. Die Europäer enthüllen laut dem chinesischen Besucher bei ihren Fragen über China mehr Geringschätzung und Unkenntnis als Höflichkeit und Kenntnisreichtum. Seine an Blasphemie grenzende satirische Beschreibung des Katholizismus konnten sich nur wenige Aufklärer erlauben. Damit leitet der kaiserlich-chinesische Botschafter zu ernsteren Themen über, zu Intoleranz, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit: Ein aus Portugal geflohener Jude berichtet dem Chinesen von der dort überall horchenden Inquisition. Die Katholiken verbrennen alle Menschen, die ihre Sklavenketten zerreißen wollen, heißt es in Anspielung auf Rousseaus Du contrat social. Die kirchlichen Würdenträger betreiben Ehebruch, Blutschande und Giftmord, viele Verbrechen würden unter der Mitra und der Tiara verübt. Die Christen schlügen undankbarerweise auf die Juden ein, von denen sie doch ihre Religion haben, und vertreiben sie aus Portugal. Friedrichs mahnende Erinnerung an die Scheiterhaufen der Inquisition in Portugal atmet den besten Geist aufklärerischen Protests gegen mörderische Intoleranz. Des Spaniers José Cadalsos von Montesquieu beeinflusste kritische Cartas Marruecas (1774) des fiktiven marokkanischen Diplomaten Gazel über seinen Aufenthalt in Europa, speziell in Spanien, gehören mit Montesquieus Persanerbriefen und Friedrichs II. Geheimbericht des kaiserlich-chinesischen Abgesandten zur aufklärerischen Pseudoreiseliteratur. Sie lassen die Kritik an Politik und Religion in Spanien bewusst außen vor, was auf berechtigte Ängste vor Verfolgung durch die Inquisition wie auch auf die Loyalität des Offiziers Cadalso gegenüber der spanischen Monarchie zurückzuführen ist. Diese Kritikabstinenz

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entspricht laut Bremer einer unkritischen Akzeptanz der herrschenden Verhältnisse und des monarchistisch-feudalen Regimes durch die Bevölkerung: In Spanien war (im Unterschied zu Frankreich, HOD) vor der Französischen Revolution das Prinzip der absoluten Monarchie nie in Frage gestellt worden. (...) Niemand sprach in Spanien in Bezug auf die Regierung von Despotismus oder Absolutismus. Die Menschen der gebildeten Schicht waren davon überzeugt, in einer gemäßigten, fast liberalen Monarchie zu leben. Das sympathische Wesen des Königs Karl III. mit seiner Schlichtheit, moralischen Integrität, Abneigung gegen jeden Prunk und Extravaganz trug ebenso zu einer derartigen Vorstellung bei wie die Tatsache, dass seine hauptsächlichen Minister und Ratgeber als Anhänger der französischen Aufklärung galten. (ibd., 108)

Worin besteht dann überhaupt der aufklärerische Charakter dieser Marokko-Briefe? Meiner Meinung nach in Cadalsos grundsätzlicher Kritik an der traditionalistischen Volksmentalität, der der Marokkaner die Schuld an der sprichwörtlichen spanischen Dekadenz zuschiebt. So bedauert der Briefschreiber – meist gleich zu Anfang jeder Epistel – die Rückständigkeit der Pyrenäenhalbinsel gegenüber dem übrigen Europa auf je verschiedensten Gebieten, ohne dafür explizit das herrschende Regimes bzw. die Verhältnisse verantwortlich zu machen: So schreibt er in Carta VI über „El atraso de las ciencias en España“, die Rückständigkeit der Wissenschaften in Spanien, jedermann wisse doch „que se ha morir de hambre como se entregue a las ciencias“ (73), wer sich den Wissenschaften in Spanien widme stürbe Hungers). Im Brief Nr. IX spricht er über die patriotische Verherrlichung der von der Aufklärung allgemein als unmenschlich denunzierten Conquista Amerikas und über das von nichtspanischen Europäern kritisch über diese Conquista Geschriebene. Wenn man auf Seiten der Spanier nur die Worte Religion, Heldentum, Vasallentreue und andere Stimmen des Respekts höre, so benutzen auf der anderen Seite die Ausländer nur solche Worte wie Habgier, Tyrannei, Perfidie und andere nicht weniger schimpfliche Ausdrücke. Eine der Ursachen des Verfalls der Handwerke in Spanien sei der Widerwille, den jeder Handwerkersohn davor habe, den Beruf seines Vaters weiter zu führen.  – Eines der Fehler des spanischen Nationalcharakters sei nach Meinung der anderen Europäer der Stolz. „Heute wohnte (...) ich der ausgesprochen nationalen Zerstreuung der Spanier, nämlich dem von ihnen sogenannten Stierkampf bei“. „Gestern befand ich mich in einer Gesellschaft, in der man über Spanien, seinen Staat, seine Religion und seine Regierung sprach“. (De lo escrito por los europeos no españoles acerca de la conquista de América. Si del lado de los españoles no se oye sino religión, heroismo, vasallaje y otras voces de respeto, del lado de los extranjeros no suena sino codicia, tiranía, perfidia y otras no menos espantosos. – (87) Uno de los motivos de la decadencia de las artes (Handwerken) en España es la repugnancia que tiene todo hijo a 66

seguir la carrera de sus padres (XXIV, 121). – Uno de los defectos de la nación española, según el sentido de los demás europeos, es el orgullo. (XXXVIII, 152) Carta LXXII (231) beginnt: „Hoy he asistido por mañana y tarde a una diversión propiamente nacional de los españoles, que es lo que ellos llaman fiesta o corrida de toros“ (Stierkampf, HOD). „Ayer me hallé en una concurrencia en que se hablaba de España, de su estado, de su religión, de su gobierno“ (...) (LXXIV, 233) Dies sind natürlich nur vorsichtige Ansätze und Vorwände zur indirekten Kritik der spanischen Verhältnisse und des damaligen spanischen Denkens durch den Mund unverdächtiger Ausländer. In allen diesen Fällen gibt der Marokkaner meist historische, psychologische, auch anthropologische Begründungen für diese Phänomene, aber nie sind politische, ökonomische oder konfessionelle Wertungen im Spiel. Cadalso hatte mit seinem Vater, einem Geschäftsmann, mehrere Länder Westeuropas bereist und in Paris studiert, kannte also die dortigen Fortschritte und stellte dennoch nie aufklärerisch das politische System, die Regierung, die Herrschaft des Klerus und der Inquisition in Frage. Werner Bahner verweist in diesem Zusammenhang auf das demgegenüber kritisch-satirische Bild Spaniens im 78. Brief von Montesquieus Lettres persanes mit seinen Anspielungen auf die herrschende Inquisition und die Wirtschaftsmisere des Landes. Viel patriotische Empörung in Spanien löste Masson de Morvilliers kritischer Artikel Spanien in der Nouvelle Encyclopédie Methodique (1782) aus, der mit betont fortschrittsfeindlichen, gegen die afrancesados genannten Aufklärer gerichteten Argumenten wie: man brauche keine importierten Bücher, scharf abgelehnt wurde. Von den Kritikern wird meist vergessen, dass der Marokkaner als Vertreter eines noch weit weniger entwickelten und viel despotischer regierten Landes als Spanien überhaupt wenig Kompetenz in politischen und wirtschaftlichen Fragen besaß, wie auch die von Montesquieu und Friedrich II. vorgestellten Asiaten aus Orient und Fernost. Insgesamt reicht diese Kritik aus vorkapitalistischer Perspektive nicht aus, um sie zur moderne Aufklärung, die doch aus der Perspektive des Zukünftigen argumentiert, zu rechnen. Mit dieser orientalistischen, sehr rationalistischen, kritischen Pseudoreiseliteratur wurden auch die Vorurteile der Westeuropäer gegen religiöse und kulturelle Exoten indirekt denunziert, insofern die asiatischen Absender der Briefe ganz im Sinne der Aufklärung als mit gesundem Menschenverstand ausgestattete Individuen positiv vorgestellt werden Notabene wird hier auch gegen den teils unterschwelligen, teils offen verkündeten eurozentristischen Hochmut und das damit einhergehende Superioritätssyndrom polemisiert, wenn kluge, aufgeklärte 67

und selbstbewusste Nichteuropäer sich das Recht nehmen, kritische Urteile über die okzidentale Zivilisation zu fällen  – natürlich als Sprachrohre der aufklärerischen Verfasser, die ihnen ihre weisen Sentenzen in den Mund legten. Dabei findet immer auch so etwas wie das Recht der Nichteuropäer auf Andersdenken und Anderssein und auf eine andere als die hier etablierte Werteordnung seinen Ausdruck.

Alterität, Fremdheit und Intoleranz in der Sicht Tzvetan Todorovs Auf einer ebenfalls aufklärerischen Argumentationsschiene, die mehr die ethnisch-kulturellen als die religiösen Sachverhalte der Fremdheit und Alterität zur Erklärung des Phänomens der Intoleranz in den Mittelpunkt rückt, liegt die moderne, die Konflikte auf die kulturelle Differenz der historischen Akteure zurückverweisende Alteritätsthese. Deren Hauptvertreter, der bulgaro-französische Strukturalist Tzvetan Todorov, betont allerdings mehr das Anderssein als das Fremdsein, womit er der Genesis von Xenophobie gerechter wird, denn nach allen bisherigen Theorien der Anthropogenese bildete der erste aus Südafrika migrierende homo sapiens sapiens einen einzigen Stamm mit folglich gleichen Mitgliedern, der sich später im Laufe der Migrationen in einzelne Stämme mit unterschiedlichen physiologischen Hauptmerkmalen und psychischen Eigenschaften aufteilte, die zueinander statt Gleichheit Differenz, also genuine Alterität aufwiesen, die als fremd, bedrohlich und feindlich empfunden wurde und kriegerische Konflikte auszulösen imstande war. Todorov rekonstruiert in „Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen“ folgende historische Situation aus der Zeit der Conquista: der spanische caudillo Pizarro ließ den Inca Atahualpa wegen Gotteslästerung umbringen, weil dieser eine zum Zwecke der Bekehrung ihm in die Hand gedrückte Bibel aus totaler Unkenntnis christlicher Glaubensdinge und überhaupt dessen, was ein Buch ist und was Schriftzeichen bedeuten, achtlos auf die Erde fallen ließ, was Pizarro als Gotteslästerung auf der Stelle mit der Todesstrafe per Halsabschneiden ahnden ließ, wobei zu erwähnen ist, dass Pizarro wie der Inka Analphabet war, also selber die Bibel gar nicht lesen konnte. Hier trafen laut Todorov zwei grundverschiedene, einander zutiefst fremde Kulturen, eine christliche und eine indigene, zusammen, worauf die betreffenden Akteure in keiner Weise vorbereitet waren, die sich diese Alterität nicht erklären konnten und so zu Fehlreaktionen griffen. Damit wird von Todorov meiner Ansicht nach allerdings sowohl das Bereicherungs- wie das Machteroberungsmotiv wegeskamotiert, die doch die politischen und ökonomischen Hauptbeweggründe der Suche der spanischen 68

Conquistadoren nach dem Eldorado, nach den Goldschätzen der Indios bei ihren Zügen über die Anden und durch Amazonien waren. Damit verschwindet auch die ökonomische und politische Seite der Conquista aus seinem Blickfeld, denn Atahualpa war schließlich der regierende Inkaherrscher, dessen Beseitigung, unter welchem Vorwand immer, für Pizarro, den militärischen wie zivilen Führer der spanischen Conquistadoren, eine machtpolitische Entscheidung ersten Ranges und zugleich eine ökonomische war, insofern sie ihm den Zugang zu den vermuteten großen Goldschätzen Perus öffnete und nicht wie Todorov will nur Resultat eines Missverständnisses auf Grund unterschiedlicher Kulturen war. Vielmehr war hier angebliche Blasphemie bloßer Vorwand für den Mord am Inkafürsten und für dessen Destitution als Herrscher und seinen Ersatz durch Pizarro als neuen Machthaber, und damit für die Aneignung des riesigen Goldbesitzes der Inkas durch die Spanier. Dieser Zusammenhang (den übrigens mit vollkommener Eindeutigkeit Alexander von Humboldt in seinem Bericht über seine Reise nach Cajamarca als räuberische Erpressung schildert) wird von Todorov weitgehend ignoriert, wobei der französisch-bulgarische Strukturalist gerade von den als trivial bekannten ökonomischen und politischen Motiven, die er natürlich kennt, weg und hin auf die bislang in der Historiographie unbeachteten kulturellen Hintergründe der Verhaltensweisen der Akteure abheben will. Dennoch ist das von Todorov aufgeworfene Problem des Unverständnisses für kulturelle Verschiedenheit, für Alterität, ein Schlüssel zur Lösung des Kernproblems des Entstehens von Vorurteilen und darauf gründenden Konflikten zwischen Menschen mit grundverschiedenen Kulturen. In diesem Falle geht es um die Alteritäten zwischen einer rationalistischen und einer magischen Kultur, die zum erstenmal unbekannt und unvorbereitet aufeinander treffen, gleichviel ob während der Conquista oder bei einer touristischen Exkursion. Unterschiedliche Religionszugehörigkeit erscheint nur als Sonderfall kultureller Alterität, religiöse Intoleranz nur als Sonderfall von Vorurteilen und daraus resultierenden gegenseitigen Missverständnissen. Todorovs Alteritätsthese ist eine durcbaus zutreffende, jedoch unvollständige und einseitige wissenschaftliche Erklärung des Phänomens. Bayle, Voltaire und Friedrich II. waren schon aus Gründen der Toleranz keine Gegner der Religion, auch nicht der Kirchen, sondern verurteilten und bekämpften Konfessionen und Institutionen nur qua fanatische Repräsentanten der Intoleranz. Auf diese praktischen Aktivitäten wie auch auf die philosophischen Angriffe aus der Perspektive des Rationalismus antwortete die katholische Partei mit verstärkter publizistischer Polemik und politisch-juristischer Unterdrückung 69

und Verfolgung. Dabei sei nicht vergessen, dass auch protestantische Hierarchen mit religiöser Intransigenz und politischer wie persönlicher Verfolgung von Dissidenten antworteten, wie dies Siegfried Wollgast (2012, 101–314) an den sukzessiven Verhaltensweisen von zu Dogmatikern gewordenen ehemaligen Häretikern von Luther über Thomas Müntzer bis zu Sebastian Franck vordemonstriert hat. Man kann, denkt man an die Bartholomäusnacht wie auch an Massenpsychoseerscheinungen wie die regelmäßigen Pogrome unter Juden, in der Tat von weit verbreitetem religiösen Fanatismus als irrationaler Spitze der Intoleranz sprechen. Die Aufklärer und ihre Vorläufer, die seit der islamisch-arabischen und später alphonsinischen Vorrenaissance stark an Zahl und Bedeutung gewachsenen Naturwissenschaftler, Astronomen wie Kopernikus, Galilei, Kepler und selbst Tycho de Brahe, mussten mit der religiösen und nicht nur christlichen Dogmatik in Konflikt geraten. Denn ihre Entdeckungen widersprachen dem geozentrischen Weltbild, was Giordano Bruno und Galileo Galilei büßen mussten, die keine Häretiker, sondern gute Katholiken waren. Es ging in diesen letzteren Fällen nicht mehr um religiöse Intoleranz, auch nicht um Differenzen zwischen den monotheistischen Religionen oder um theologische Meinungsverschiedenheiten, sondern um den Streit zwischen Wissenschaft und Glauben, der zur Verfolgung und oft Liquidierung der Vertreter der ersteren durch die letzteren mittels Zensur, Indizierung und Scheiterhaufen führte. Diese Verfolgung wurde auf die Aufklärer ausgedehnt, die ja ausdrücklich auf den Erkenntnissen dieser Naturwissenschaftler als ihren Vorläufern und Methodelehrern aufbauten und den philosophischen Schulen des Cartesianismus, Physiokratismus, Sensualismus, Empirismus, Materialismus und auch Atheismus angehörten. Die zwischen religiöser Indifferenz und Antiklerikalismus schwankenden Aufklärer wurden zu Hauptvertretern der Toleranz tout court, zumal die Haupttrennlinie nach wie vor zwischen den Konfessionen, aber innerhalb des Christentums verlief. Atheistische Aufklärer konnten aus ihrer neutralen Perspektive über diesen interkonfessionellen Dissenz gelassener urteilen. Friedrichs II. Wort, in seinem Lande könne jeder nach seiner Fasson selig werden, ist ein wahrhaft großes und bedeutendes aufklärerisches Versprechen, bedenkt man, welche durchaus schlimmen irdischen Folgen die religiöse Intoleranz gehabt hat; deshalb sollte man es nicht aus politisch-ideologischen Gründen kleinreden und sich beispielsweise nicht darüber aufhalten, dass Kant unnötigerweise und submissest viel Aufhebens von der Toleranzpolitik des preußischen Königs gemacht habe. Von der Inquisition Verfolgte, mit dem Scheiterhaufen Bedrohte hätten über Friedrichs Toleranzofferte sicher ganz anders geurteilt.

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Andererseits verstärkte diese Intransigenz der Dogmatiker die Haltung der Aufklärer bis zu militanter Kirchenfeindlichkeit wie beim Deisten Voltaire, der seine Briefe an Freunde stets mit der Formel écrasez l’infâme (zerschmettert die infame) – gemeint war die katholische Kirche – beendete. Es gab auch Fälle von prinzipieller, weltanschaulich begründeter nicht nur Kirchen-, sondern Religionsfeindlichkeit von Seiten überzeugter Atheisten wie des aus England stammenden und zeitweilig im revolutionären Paris wirkenden US-amerikanischen Publizisten „citizen“ Thomas Paine, der eine Ausnahme unter den meist bibeltreuen, ja fundamentalistischen Gründern und Führern seiner neuen Heimat war. Er schrieb in dem schon genannten Werk The age of reason: „Alle nationalen Kirchen, ob jüdisch, christlich oder türkisch, sind für mich nichts anderes als menschliche Erfindungen, errichtet, um die Menschheit zu ängstigen und zu versklaven und alle Macht und allen Gewinn für sich zu beanspruchen.“ (zit. nach Postman 71) Hier wird eine Radikalisierung deutlich, die vielleicht schon in Richtung Terrorherrschaft, der Schlussphase der Französischen Revolution, weist. Wenn man der These von Todorov folgt, dann wäre das Anderssein des Anderen der letztliche Grund für Intoleranz und die Anerkennung des Andersseins der erste Schritt zur Toleranz. Ich meinerseits glaube, dass es die mit dem Anderssein verbundene, aber mit diesem nicht identische Fremdheit ist, die stets, seit altersher, seit dem Urmenschen, etwas Bedrohliches an sich hat, das einen mit Misstrauen oder sogar Angst erfüllt und zu feindlichen, ja selbst zu kriegerischen Abwehrhandlungen Anlass gibt, eine Haltung, die erst durch kultivierten Rationalismus überwunden werden kann. Der mexikanische Philosoph Leopoldo Zea (Urheber und erster Interpret des Begriffs Filosofía de la liberación in Analogie zur Teología de la Liberación) spricht von dem neutralen „derecho a la diferencia“, dem Recht auf Unterschied (1994), weil ihm das Adjektiv „anders“ offenbar zu eurozentristisch ist, weil es die okzidentale Identität als Ausgangsbegriff unterstellt.

Krieg und Toleranz Der Krieg gehörte für die Aufklärer, der sozialökonomischen und politischen Kriegsmotivationsforschung zum Trotz, zu denjenigen unheilvollen Phänome­ nen, die sich in erster Linie Vorurteilen  – in der Regel über den jeweiligen Feind  – verdanken, also rein ideologisch-geistige und nicht materielle, etwa wirtschaftliche und/oder staatspolitische Ursachen haben. Vor allem hielten sie das als feindlich empfundene Anderssein des Fremden für die Ursache von Missverständnis und Vorurteil, das dem Krieg gegen den jeweiligen Fremden sowie dem Annektieren und Töten den Schein subjektiver Berechtigung verleiht. 71

Hatten die Aufklärer die in Europa so häufigen Kriege auf religiöse Intoleranz zurückgeführt, so verlor diese motivationale Zuordnung im Laufe des 18. Jahrhunderts an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft, weil kaum noch Religionskriege geführt wurden. Ludwig XIV., der die größte Zahl von Kriegen innerhalb seiner Regierungszeit angezettelt hatte, die jemals ein Souverän führte, tat dies bereits mit anderer Begründung, nämlich der réunion, der Wiedervereinigung aller Gebiete mit dem Mutterland Frankreich, die jemals von Franzosen bewohnt worden waren oder auf welche Frankreich erblichen Anspruch angemeldet hatte. Auch dem religiös indifferenten, wenn nicht gar religionsfeindlichen Friedrich  II. von Preußen kann man nicht vorhalten, die nicht wenigen Kriege des protestantischen Preußen gegen das altkatholische Österreich aus religiösen Gründen vom Zaun gebrochen zu haben: es ging ihm vielmehr um den Besitz des reichen und strategisch wichtigen Schlesien, also um politische und sicherheitspolitische bzw. militärische sowie ökonomische Ziele. Auch Katharina die Große führte ihre Kriege nicht aus konfessionellen Gründen, sondern um den Besitz der Ukraine und der Krim. Deshalb sahen sich die Aufklärer, die zudem das Christentum für eine prinzipiell friedensliebende Konfession hielten, dessen Motto ja et in terra pax lautete, veranlasst, Kriege aus welchem Anlass immer als einen der menschlichen Gattung unwürdigen, auf Vorurteil und Irrtum beruhenden Zustand zu verurteilen, auch wegen der schlimmen materiellen und kulturellen Folgen für die Opfer. Erstaunlich scharf die Ablehnung des kriegerischen Geistes der Europäer in religiöser Maske im Artikel „guerre“ der Enzyklopädie: „Krieg ist unter dem Schleier der Religion eine dem Menschengeschlecht feindliche Meinungsäußerung“, eine „opinion ennemie du genre humain“. Daraus erklärt sich die wahre Flut von Friedensprojekten der Aufklärer. Man muss sich bei der moralischen wie politischen Wertung der Aufklärung absolut heutiger Maßstäbe und Beurteilungsweisen enthalten. „Krieg“ war durch Jahrtausende die übliche Form der Regelung territorialer und dynastischer Zwistigkeiten und einzige Möglichkeit der Erwirtschaftung eines Surplus der ärmeren Länder zur Ernährung ihrer Bevölkerungen. Pazifismus war trotz solcher Vorläufer wie Lysistrata oder Thomas More eher ein utopisches als ein praktisch-politisches Thema. Es existierte eine gewissermaßen naiv-spontane Akzeptanz von Krieg. Deshalb findet sich in der Encyclopédie im Eintrag „Guerre“ neben genereller Verurteilung eine rein technische Beschreibung des Krieges als art, als einer „Kunst“, eben der Kriegskunst. Da wird über den Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung, Infanterie und Kavallerie, Belagerung und Feldschlacht räsonniert. Es werden sogar kritiklos 72

Elogen auf den Krieg aus Historiographie und Epik und auf antike Kriegshelden zitiert. Der Krieg wird als „Différend entre des princes ou des états qui se décide par la force ou par la voie des armes“ definiert, als „Meinungsverschiedenheit zwischen Fürsten oder Staaten, die mittels Gewalt oder durch den Waffengang entschieden wird“. Es blieb der Krieg so wie ihn Machiavelli in Il principe ganz wertfrei als eine „Kunst“ wie jede andere Tätigkeit beschrieb, als Anwendung einer geschulten Fähigkeit in Form von Strategie und Taktik und Waffengebrauch, ohne die dabei unterlaufende massive Tötung von Menschen irgend zu problematisieren. Als Grund für den Krieg als Konfliktlösung mittels Gewalt statt Verhandlungen oder Verträge wird das Fehlen einer dafür zuständigen Gerichtsbarkeit angegeben, indirekt gewissermaßen ein internationales Gericht angemahnt. Krieg als politisches Geschehen wie etwa in der späteren Clausewitz-Definition vom Krieg als der Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, als Eroberungs- und Bereicherungsunternehmen und Besetzung von Territorium existiert in dieser Wörterbuchdefinition der Encyclopédie nicht, ebenso wenig werden mögliche Motive für den Ausbruch von Kriegen oder gar ihre Verhinderung angegeben. Anders der mit der Encyclopédie verfeindete Rousseau, der Grotius widersprach, der dem Sieger das Recht zusprach, den Besiegten zu töten, eine Argumentation, der auch Campe in seiner Diskussion von Defoes Robinson Crusoe ohne Rousseau zu nennen folgt, und der im übrigen avant la lettre die diesbezüglichen Theorien von Carl Schmitt zurückweist: (...) aus dem Umstande, dass Menschen in ursprünglicher Unabhängigkeit ihren Beziehungen noch nicht einen klar friedlichen oder kriegerischen Charakter gaben, folgt noch nicht, dass sie von Natur aus Feinde sind. Es sind die Verhältnisse und nicht die Menschen, die den Krieg begründen; der Krieg kann sich nicht aus rein persönlichen, sondern nur aus sachlichen Verhältnissen heraus entwickeln. (Rousseau 1953, 43)

Allerdings hatte Clausewitz seine Kriegstheorien erst nach genauen Analysen der Kriegsführungen Friedrichs des Großen und Napoleons ausgearbeitet, so wie dies Fichte im Hinblick auf das politische Geschehen der antinapoleonischen Kriege Preußens tat. Es scheint so, als ob innerhalb der Aufklärung erst die Analyse der Kolonialkriege zu einer genaueren, wissenschaftlicher Darstellung sich annähernden, über das bloße Beklagen seiner materialen und moralischen Folgen hinausgehendes Bild des Krieges führen konnte. Wie Kirche und Intoleranz gehörten für die Aufklärung Religion und Krieg zusammen. Auch heutige Geschichtsbücher enthalten meist ein Kapitel „Religionskriege“. Der Dreißigjährige Krieg, der die vielleicht schlimmsten Folgen in der Menschheitsgeschichte für Leib und Leben der Bewohner vor allem 73

Deutschlands mit sich brachte, war laut Golo Mann ein Krieg zwischen den beiden christlichen Hauptkonfessionen infolge des durch die Reformation verursachten Schismas. Die Frontlinie verlief zwischen den katholischen Habsburgern unter Wallenstein mit ihren gegenreformatorischen Kriegszielen und dem antihabsburgisch-antikatholischen Lager unter dem Schwedenkönig Gustav Adolf (vgl. Wollgast 1993, 53). Kolumbus stellte seine „Entdeckung“ Amerikas in einem Brief vom 16.12.1492, wenngleich vielleicht nur aus pragmatischen Gründen, insofern er als getaufter Jude sich in einer antisemitischen spanischen Gesellschaft nach der Vertreibung der Juden unverdächtig äußern musste, als eine Großtat für die Verbreitung des Christentums hin, Er sagte der Heiligen Dreifaltigkeit dafür Dank, „daß die Bekehrung so vieler Völker zu unserem Glauben dem Christentum neuen Aufschwung geben wird – ganz zu schweigen von dem materiellen Wohlstand, den dies alles im Gefolge haben wird. Denn nicht nur Spanien, sondern die ganze Christenheit wird daraus mannigfachen Nutzen ziehen,“ ein Satz, der die Einheit und nicht schlechthin die Zweck-Mittel-Relation zwischen materiellen und geistig-religiösen Gütern illustriert. (zit. nach Gewecke, 2006, 79) Immerhin schrieb er in einem Brief an den Papst, er habe seine Gewinne stets für die Befreiung des Heiligen Grabes vorgesehen und wolle für eine Kreuzzug wider die Ungläubigen „50 000 Fußsoldaten und 5000 Reiter und nach fünf Jahren weitere 50 000 Fußsoldaten und 5000 Reiter“ ausrüsten – eine wahrhaft gigantische Rüstungsausgabe. (zit. nach Gewecke 2006, 93) Dennoch ist die schnelle Identifikation Religion gleich Krieg falsch, geradezu kurzschlüssig, zumal in Bezug auf das Christentum, das sich selbst als Religion des Friedens definiert. Liest man Golo Manns Das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges oder seine Wallenstein-Biographie, so wird man sehr schnell inne, dass machtpolitische, kulturell-ethnische, nationelle, dynastische und persönliche Motive sich mischen und letztlich gegenüber den religiösen überwiegen. Auch die heutigen islamitischen Terrorakte sind kein Religionskrieg, sondern eher Ausdruck des von Huntington beschriebenen „Kampfes der Kulturen“, des verzweifelten Widerstands untergehender traditioneller Kulturen kleiner Populationen gegen die für die Moderne charakteristische Verwestlichung. Die Identität Religion  =  Krieg wurde von den Aufklärern aus ihrem antikirchlichen Ressentiment heraus bewusst hochgespielt. Kriege wurden trotz des biblischen Friedensgebots aus machtpolitischen oder wirtschaftlichen Gründen geführt, hatten Reichtumserwerb und Gebietserweiterung zum Ziel. Die Aufklärer waren engagierte Pazifisten. Sie konnten durch die von ihnen behauptete Identität Religion-Krieg ihr Engagement für den Frieden problemlos 74

mit ihren Animositäten gegen die Kirche verbinden. Ihr Pazifismus verstärkte sich in dem Maße, in dem die Kriege in Europa, in dem niemals in seiner langen Geschichte auch nur ein Jahr ohne Krieg bzw. ohne mehrere gleichzeitige Kriege verging, extrem zunahmen. Sowohl Voltaire als Rousseau und Diderot verurteilten vehement die Kriege ihrer Zeit. Rousseau verlangte brieflich von Friedrich  II., der ihm später immerhin Asyl gewähren sollte, die Beendigung des Siebenjährigen Krieges. Diderots nahezu manische Feindschaft gegen Friedrich II. hatte hauptsächlich in dessen Militarismus ihre Ursache. Katharina führte ihre Kriege nicht unter religiösen Vorwänden, und der irreligiöse Friedrich II. schon gar nicht.

Frieden und Toleranz Für die Aufklärer des 18. Jahrhunderts war religiöse Intoleranz zwar nicht identisch mit Krieg, wohl aber Krieg immer eng verbunden mit Intoleranz, besonders was die Begründung kriegerischer Aktionen betrifft. Ihre Forderung nach gegenseitiger Toleranz der Religionen und Konfessionen ohne Rekurs auf Gewalt schloss logischerweise die Beendigung jedweder Religionskriege ein. Jedenfalls war für die Aufklärer auch wegen der scheinbaren Sinnlosigkeit und damit Unvernunft und sogar Irrationalität der Kriege (Friedrich  II.: „wie viel Blut und Gemetzel aber, wie viel Krieg und Verwüstungen allein weil man sich unterfing, ein paar Glaubensartikel fallen zu lassen“) und vor allem wegen ihrer einschneidenden moralischen wie materiellen Folgen für den praktischen Lebensalltag der Menschen, der Krieg ein bevorzugtes Feld ihrer über sein Wesen und über seine Unvernunft aufklärenden Kritik. Sie hatten neben den vielen Religionskriegen die zahlreichen Kriege Frankreichs und des preußischen Königs im Auge, die allesamt reine Eroberungskriege waren, um mehr Untertanen, Steuerzahler, Ländereien, Reichtümer und Macht zu gewinnen, bei denen das religiöse Moment eine immer geringere Rolle spielte und zum bloßen Vorwand, wie schon Friedrich II. bemerkte, mutierte. In Frankreich, Schauplatz vieler landesinterner Religionskriege der herrschenden Katholiken gegen die Hugenotten, regte sich beginnend mit Michel Montaigne, diesem Vordenker der Aufklärung aus Bordeaux, der Pazifismus. Die Antikriegsmanifestationen der Aufklärer und zugleich ihre denkwürdigsten Dokumente überhaupt waren die erwähnten „Ewigen-Friedens-Projekte“ der Franzosen Saint Pierre und Rousseau und des Preußen Immanuel Kant sowie des Nordamerikaners William Penn. Dieser Pazifismus zeigt sich in der Identität der Titel der Abhandlungen des Abbés de Saint Pierre und Immanuel Kants, die beide mit der Vokabel „ewig“ 75

die Notwendigkeit des Friedens als normalen Weltzustand und nicht als bloße Kampfpause zwischen dem letzten und dem nächsten Krieg betonen, wie auch der Moskauer Frieden zwischen Russen und Polen aus demselben Grunde ein „ewiger“ genannt wurde. Der Frühaufklärer Abbé Charles Irénée de Saint-Pierre publizierte zuerst 1712 in Köln die „Mémoire pour rendre la paix éternelle en Europe“, und 1717 in U­trech­t den „Projet de paix éternelle entre les souverains chrétiens“, (das Projekt immerwährenden Friedens in Europa, der Bezug auf das stets sehr kriegserfüllte Europa ist nicht zufällig). Der Abbé hatte sich zuvor mit Leibniz über die Schaffung einer friedenssichernden europäischen Konföderation verständigt, die den nationalistisch-vaterländischen Kriegen ein Ende setzen sollte, ein Projekt, das man als Vorstufe der Kantischen Entwürfe und der heutigen Europäischen Union, als Vorform einer Gemeinschaft friedlicher europäischer Staaten betrachten könnte. Jean-Jacques Rousseau wiederholte in seinem posthum 1782 publizierten „Jugement sur la paix perpétuelle“ (Gutachten über den Ewigen Frieden) das aufklärerische Desiderat eines endgültigen und unwiderruflichen und daher „ewigen“ Friedens. Es ist nicht zu übersehen, dass diese Friedensprojekte eine aufsteigende Linie im Raum und in der Zeit aufwiesen, nicht nur immer längere Zeiträume, sondern auch größere und fernere Territorien in die gedachte Friedenszone gleichsam globalisierend einbezogen. St. Pierre wollte über den europäischen Frieden hinaus zu einem Friedensplan gelangen, welcher den Vorderen Orient und Afrika, also die mediterranen Konflikt- und Aufmarschgebiete der Westeuropäer in der außereuropäischen Welt einschloss. Sein zweites „Projet de paix éternelle entre les souverains chrétiens“ (Projekt ewigen Friedens zwischen den christlichen Souveränen) von 1717 sah räumlichgeographisch eine substantielle Erweiterung seines ersten Entwurfs durch die Schaffung einer Friedensunion zwischen Europa und Afrika vor, womit ein erster gedanklicher Schritt in die Welt außerhalb Europas, in die ganze Welt getan war. Wie sehr der Friedensgedanke eine aufklärerische Idee war, geht aus der Behauptung Kants vom Fríeden als eines „süßen Traums der Philosophen’“ hervor, denn philosophes nannten sich die französischen Aufklärer: demgegenüber konnten die Staatsoberhäupter, sprich die Politiker, dem Königsberger Philosophen zufolge „des Krieges nie satt werden“. (1984, 7) Der Göttinger Aufklärer und Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg schlug sogar vor, alle verantwortlichen Politiker für die Dauer eines jeden Krieges auf Pulverfässer zu

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schnallen, um am eigenen Leib die Gefahr und reale Auswirkung eines so verhängnisvollen Ereignisses zu spüren. Für Immanuel Kants geistiges Itinerar den Frieden betreffend ist charakteristisch, dass ihn, nachdem ihn das Thema der Religion zur Kriegsthematik führte, letztere nunmehr zur Kenntnisnahme der Kolonialkriege der Europäer und diese ihn wiederum auf das Kolonialismusthema brachten. Damit schlug er den Weg zur Abwendung vom Eurozentrismus, zum Einschluss der Drittweltbevölkerung und fernerhin zum erstmaligen Konzept der Weltbevölkerung als „Menschheit“ ein, wovon er solch moderne Begriffe „Weltbürger“, wie „Menschenrechte“ und „Weltbürgerrechte“ ableitete. Frieden sollte nach seiner Vorstellung ein nicht zeitlich befristeter, sondern ein immerwährender, gleichsam ontischer oder anthropologischer Zustand sein. Daher die definitorische, wissenschaftliche Verallgemeinerung signalisierende Monosemierung durch das Epitheton „ewig“! sowie seine Ablehnung trügerischer Friedensschlüsse, die in sich den Keim zu neuen Konflikten trügen. Diese pazifistischen Gedankengänge sind unerfülltes Erbe der Aufklärung. was heißt, dass sich die heutigen Mächte oder zumindest eine große Zahl von ihnen den „Idealen der Aufklärung“ noch nicht verpflichtet fühlen. Im 19. Jahrhundert tobten viele Kriege in Europa, im Orient und im Nahen Osten, im 20. Jahrhundert fanden auf europäischem Schauplatz und von scheinbar aufgeklärten Europäern ausgelöst und geführt die zwei verheerendsten Kriege der Menschheitsgeschichte statt, und das beginnende 21. Jahrhundert erlebt eine Folge Militäreinsätze in Afrika und Nahost wieder in denselben Gebieten und durchgeführt von meist denselben ehemaligen Kolonialmächten wie schon einmal zur Zeit der Eroberung. Allerdings hatte Johann Gottlieb Fichte, der den ersten großen Kommentar zu Kants Entwurf zum „Ewigen Frieden“ schrieb, bereits aufgrund der Erfahrungen des frühen 19.  Jahrhunderts, vor allem der Kriege Napoleons, Kants Friedensprojekt revoziert, denn er bestritt ausdrücklich die Meinung des Königsberger Philosophen, mit der Beendigung der Kolonisierung, d. h. der Aufteilung der Welt unter die Westeuropäer und dem sich anbahnenden Welthandel seien keine Motive für einen Krieg mehr vorhanden. Fichte sah dagegen im Handel ein Kriegsmotiv zwecks Beschaffung von Rohstoffen oder aus machtpolitischen Gründen, weshalb er sein umstrittenes, den ungehinderten Welthandel negierendes Projekt eines „geschlossenen Handelsstaates“ entwickelte, das nur Binnenhandel sowie bilateralen freiwilligen Handelsaustausch zwischen souveränen Staaten vorsah.

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In den heutigen menschenrechtlichen Begründungen für Militäreinsätze findet sich leider kaum ein Hinweis auf Kants, St. Pierres und Rousseaus Friedensprojekte, kaum eine Erwähnung der vielen, nach Hunderttausenden zählenden unschuldigen Todesopfer der ausländischen Interventionen in Nahost und Afrika, die doch keineswegs alle todeswürdige Terroristen waren. Aber wie schon Kant seinerzeit zur Haltung der europäischen militärischen Interventen gegenüber den Landesbewohnern sagte: „die Einwohner galten ihnen für nichts“. Dabei waren diese Kriege für den Königsberger Denker – auch diese Erkenntnis ist für seine Zeit erstaunlich – keineswegs nur Religionskriege. Nicht ohne Hintersinn erwähnt er als einer der ersten Aufklärer neben dem Glaubenseifer die Besitz- und Geldgier als letztlich entscheidende Motivationen der Kriegsführenden und als seine tiefste, wenngleich beiläufig formulierte Erkenntnis die „Geldmacht“ als „das zuverlässigste Kriegswerkzeug“ (ibd., 9). Der Glaubenseifer als Kriegsgrund wird von ihm ironisierend als bloßer Vorwand angesehen, denn von Religion spricht er in diesem Zusammenhang erst gar nicht.

Von Toleranz zu Freiheit und Gleichheit Die französische Aufklärung als Mutter aller Aufklärungsbewegungen in der Welt ging wie erwähnt von der Toleranz, vor allem aber von ihrem Gegenteil, der Intoleranz, sowie von Vorurteil und Irrtum als deren Verursachern aus, um zur Entlarvung von Aberglauben, religiöser Ignoranz und jenseitigem, irrationalistischem, falschem Denken überzugehen. In der Vulgärgeschichtskunde werden Gleichheit und Freiheit als Schlagworte der Französischen Revolution von 1789 gehandelt, sie sind aber eine Findung der dieser vorangehenden Aufklärung. Rousseau schreibt im Vierten Kapitel von Der Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des Staatsrechts: Selbst wenn sich jemand seiner eigenen Freiheit entäußern kann, steht es ihm doch nicht zu über die seiner Kinder zu verfügen: denn sie werden als freie Menschen geboren; ihre Freiheit gehört ihnen, keiner hat das Recht, darüber zu bestimmen. (...) Der Verzicht auf die eigene Freiheit schließt den Verzicht auf Menschentum, Menschenrechte und -pflichten mit ein. Für einen solchen Verzicht gibt es überhaupt keinen Ersatz; er verträgt sich nicht mit der Natur des Menschen. Nimmt man seinem Willen die Freiheit, so nimmt man seinem Handeln die sittliche Grundlage. (Rousseau 1953, 42 f.)

Die neue, aufgeklärte Welt sollte Freiheit als Alltagserfahrung aller Menschen mit sich bringen. Schillers Marquis Posa forderte: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“, und Fichte sprach 1792 schärfer noch, in echt aufklärerischer, wenngleich durch die Französische Revolution radikalisierter Diktion, von der Rückforde­ rung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten. Frei78

heit schloss Gleichheit gleichsam in sich, ja war erst durch letztere konditioniert, nicht umgekehrt, wie oft vorschnell angenommen wird. Nicht erst durch die Französische Revolution von 1789 also, sondern schon in der ab 1751 erscheinenden Enzyklopädie, dem damaligen Hauptorgan der Aufklärung, wurden li­ berté und égalité als sich gegenseitig bedingende Hauptlosungen festgeschrieben. Dem Artikel liberté wird dort zwar ein weit größerer Umfang eingeräumt als dem zur égalité – „liberté“ umfasst die Seiten 462–76, „égalité’“ 414–15 – was auch höhere Wertigkeit bedeutet. Doch heißt es umgekehrt, nur Gleichheit bedinge die Freiheit, liberté sei eine von égalité abgeleitete sekundäre Größe, was in Aufklärungsforschung und Feuilleton wenig Beachtung findet. Unter „Freiheiten“ werden mit Berufung auf Bayle und Leibniz die Denkund Meinungsfreiheit sowie Gewissensfreiheit und Handelsfreiheit mit Verweis auf die Artikel „Tolérance“ und „Jésus Christ“ beschrieben. Neben Aufrufen zur Gleichbehandlung der Mitmenschen behandelt der Verfasser die Gleichheit nach dem Naturrecht, diesem „principe incontrestable de l’égalité naturelle“, unter erstaunlich freimütigem Hinweis auf die horrenden sozialökonomischen Unterschiede zwischen Herrschern und Beherrschten: Ich bemerke hier nur, dass es die Verletzung dieses Prinzips ist, die zur Errichtung der politischen und zivilen Sklaverei führte. Darauf ist es zurückzuführen, dass in den Ländern, die einer Willkürherrschaft unterworfen sind, die Fürsten, die Höflinge, die Premierminister, diejenigen, die die Finanzen unter sich haben, alle Reichtümer der Nation besitzen. Demgegenüber hat der Rest der Bürger nur das Notwendige, und der größte Teil des Volkes stöhnt unter der Armut. Je remarquerai seulement que c’est la violation de ce principe, qui a établi l’esclavage politique et civile. Il est arrivé de-là que dans les pays soumis au pouvoir arbitraire, les princes, les courtisans, les premiers ministres, ceux qui manient les finances, possédent toutes les richesses de la nation. Pendant que le reste des citoyens n’a que le nécessaire, & que la plus grande partie du peuple gémit dans la pauvreté. (419)

Ein immerhin beachtliches und hochdramatisches sozialpolitisches Bekenntnis! Andererseits sichert sich der Enzyklopädiemitarbeiter hellsichtig gegen radikalere Schlussfolgerungen nach Expropiation der großen Besitzstände ab, wie sie bei Rousseau anklangen: Man möge mir aber nicht das Unrecht antun anzunehmen, dass ich aus dem Geist des Fanatismus heraus in einem Staatswesen diese Chimäre absoluter Gleichheit billigte, die kaum eine ideale Republik hervorzubringen vermag; ich rede hier nur von der natürlichen Gleichheit der Menschen Ich kenne nur zu gut die Notwendigkeit verschiedener Bedingungen, der Grade, der Ehren, der Auszeichnungen, der Prärogative, der Unterordnungen, die unter allen Regierungen herrschen müssen, und ich füge sogar noch hinzu, dass die moralische oder natürliche Gleichheit dem nicht entgegensteht.

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Im Naturzustand werden die Menschen sehr wohl in Gleichheit geboren, aber sie werden darin nicht verbleiben, weil die Gesellschaft sie diese verlieren lässt, und sie werden nicht wieder zu gleichen Menschen außer durch die Gesetze; Aristototeles berichtet, dass Phaleas von Chalcedonien eine Art Art Möglichkeit ersonnen hatte, die Vermögen der Republik dort zu gleichen zu machen, wo sie es nicht waren, er wollte, dass die Reichen den Armen Geschenke überließen, und nichts davon für ihre Töchter zurückbehielten, was sie aber nicht herausgaben. Aber wie sagt der Autor von Der Geist der Gesetze (also Montesquieu, HOD): „Es brachte die Bürger unter so frappiernd verschiedene Bedingungen, dass sie diese Gleichheit hassten, selbst wenn man sie errichten würde, so dass es verrückt wäre, sie einzuführen.“ (Cependant qu’on ne me fasse pas le tourt de supposer que par un esprit de fanatisme, j’aprouvasse dans un état cette chimère de l’égalité absolue, que peut à peine enfanter une république idéale; je ne parle ici que de l’égalité naturelle des hommes; je ne connois que trop la nécessité des conditions différantes, des grades, des honneurs, des distinctions, des prérogatives, des subordinations, qui doivent regner dans tous les gouvernements; & j’ajoute même que l’égalité naturelle ou morale n’y est point opposée. Dans l’état de nature, les hommes naissent bien dans l’égalité, mais ils n’y sauraient rester, la socíété la leur fait perdre, & ils ne redeviennent égaux que par les lois; Aristote rapporte que Phaleas de Chalcédoine avoir imaginé une façon de rendre égales les fortunes de la république ou ils ne l’étoient pas; il vouloit que les riches donnassent des dots aux pauvres, & n’en resçussent pas, & et que les pauvres reçussent de l’argent pour leurs filles, & n’en donnassent pas, „Mais comme (dit l’auteur de L’esprit des lois) aucune république s’estelle jamais accédé á un réglement pareil? Il mets les citoyens sous des conditions dont les différences sont si frappantes, quìls hairoient cette égalité même que l’on chercherait à établir, & qu’il seroit fou de vouloir introduire). (ibd.)

In diesem Encyclopédie-article stellt der Verfasser M. le Chevalier de Joaucourt allerdings nicht die Frage nach möglicher Angleichung der ungleichen Umstände an die natürliche Gleichheit der menschlichem Individuen. Rousseau, Antipode der Enzyklopädisten, geht in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755, Rede über den Ursprung und die Gründe der Ungleichheit unter den Menschen) von dieser ursprünglichen, natürlich-anthropologischen Gleichheit aller Menschen qua Naturwesen aus. Jedoch in Fortführung seiner gegen Voltaires naiv wissenschaftsgläubigen Geschichtsoptimismus gerichteten Zivilisationsskepsis und Wissenschaftskritik schreibt er im Discours si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les moeurs (1750), dass Zivilisation, Wissenschaft und Kunst die Dekadenz des „bon sauvage“ verursacht habe. Die Ungleichheit der Individuen, zunächst als bloße, wertungsfreie Differenz gefasst, sei historisches Produkt der Differenzierung der an sich gleichen Anlagen der Menschen per Bildung von Privateigentum und politischer Macht einzelner: die „inégalité, étant presque nulle dans l’état de nature, tire sa force 80

et son acroissement du dévéloppement de nos facultés et des progrès de l’esprit humain“ (Die Ungleichheit, die im Naturzustand fast null war, bezieht ihre Kraft und ihr Wachstum aus der Entwicklung unserer Anlagen und den Fortschritten des menschlichen Geistes). Es sind soziale bzw. ökonomische Unterschiede, die auch im relativ kurzen égalité-Artikel der Enzyklopädie genannt werden. Kants Definition der Aufklärung als Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit meint mit letzterer das Fehlen von Selbstbestimmung und also von Freiheit. Aufklärung verkündet die Freiheit als solche, sowohl der ganzen Menschheit wie aller Individuen, sowohl von der bloßen tierischen Naturnotwendigkeit wie von von den Menschen künstlich geschaffenen Herrschaftsinstanzen, von denen sie beherrscht zu werden scheinen und sich auch daran glaubend quasi naturvergottend verhalten. Aus der natürlichen Gleichheit der Menschen durch Geburt und Tod wird das Naturrecht, das droit naturel, und aus diesem die égalité abgeleitet. In diesem Verständnis der liberté verstößt jede Freiheitsberaubung durch Andere gegen die natürliche Gleichheit, da es damit Freie und Unfreie gibt. Alle Menschen seien naturrechtlich frei, und Unfreiheit und Ungleichheit Sünde wider die Menschennatur.

Aufklärung als Tod des Mythos und Wachsein der Vernunft Von der Aufklärung wurden Mythos und Vernunft zu Antagonismen erklärt. Der Mythos, der alle Menschen beherrschte, weil sie nichts anderes wussten, es ihre einzige oder doch hauptsächliche Vorstellungsweise war, ist eine Kategorie der Unfreiheit. Die Paralysierung und Beherrschung des Menschen durch eingebildete und daher um so stärker erscheinende jenseitige, in den Mythen narrativ vergegenständlichte Mächte war die Hauptobsession der Aufklärer. Da alles vergangene Wissen unter un- oder voraufklärerischen Bedingungen produziert wurde und also stets falsches Bewusstsein war, erklärte die Aufklärung so ziemlich die gesamte Überlieferung mitsamt allen tradierten Denkweisen für obsolet und wert, vernichtet und vergessen zu werden. Eine solche grundsätzliche, pauschale, kritische Überprüfung aller immaterieller Produktionen der Gegenwart und Vergangenheit hat es meiner Ansicht nach niemals, weder vorher noch nachher, gegeben: eine Art tabula rasa, wie sie Descartes zwar verkündet, aber nie durchgeführt hatte. Denn die meisten früheren und viele spätere geistige Revolutionen in der Weltgeschichte galten kurzzeitig nur dem jeweiligen ancien régime. nicht noch früheren oder sogar allen Vergangenheitsepochen. „Aufklärung“ aber bedeutete ihrem eigenen Selbstbild nach einen einschneidenden Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit überhaupt. Und weil sie 81

damit recht hatte, ist es kurzschlüssig, ihre historische Rolle auf die geistige Vorbereitung der Französischen Revolution zu reduzieren. Sie war eine notwendige Wende als Folge gewaltiger, nie dagewesener Veränderungen: im jenem Jahrhundert erfolgten in Europa wesentliche Modernisierungen und Produktivitätssteigerungen in der Wirtschaft in Gestalt wachsender Manufakturen und aufstrebender Industrien sowie der Transport- und Verkehrsmittel einschließlich der wichtigen maritimen. Ebensolche Veränderungen fanden in Technik und Wissenschaft aufgrund neuer Kenntnisse und Methoden in den Natur- und Geo-Wissenschaften statt. Auch in den Gesellschaftsstrukturen hatten sich starke Veränderungen vollzogen, die auf Ablösung der feudalaristokratischen, auf agrarischem Großgrundbesitz und absolutistischer Monarchie basierenden Ordnung hinausliefen. Alles dies rief dringend nach einer nachholenden Neuinterpretation der Welt und nicht nach bloßer additiver Kenntnisnahme des Neuen. Aufklärung bedeutete also weniger, das qualitativ Neue kumulativ in den bereits vorhandenen Wissensfundus einzuarbeiten, als vielmehr diesen durch die neuen Erkenntnisse komplett und ersatzlos zu ersetzen sowie, vielleicht das Wichtigste, entsprechend der Wissensinnovationen ganz neue Denkweisen zu entwickeln und erst von dieser Warte aus die alten Wissensbestände und Denkvorräte neu zu evaluieren. Der qualitative Unterschied zwischen altem und neuem Denken war so gewaltig, insofern das frühere Wissen der Eliten und noch viel weniger der Volksmassen nicht den neu entdeckten Kriterien wissenschaftlichen Forschens und wissenschaftlicher Erfahrung entsprang. Statt von natürlichen wurde bis dahin von übernatürlichen Prämissen ausgegangen, statt Geschichte Mythologie, statt Chemie Alchemie, statt Astronomie Astrologie betrieben, wobei diese verbalterminologischen Doubletten keine Synonyma waren, sondern einen magischen Zustand vor und einen wissenschaftlichen nach der Wende, d. h. zwischen Unaufgeklärtheit und Aufgeklärtheit beschrieben. Astrologie war vor- oder unaufgeklärte und Astronomie wissenschaftlich begründete Sternguckerei im Zeichen der Aufklärung. Volksphantasie, also spontane, unaufgeklärte, empirische Weltsicht und Leichtgläubigkeit herrschte unter voraufgeklärten Verhältnissen vor. So glaubte man kritiklos aus Sensationslust oder Missverständnis entstandenen Phantastereien über die Welt, bevölkerte sie, besonders die empirischer Kon­ trolle entzogene südliche Halbkugel, mit phantastischen Ungeheuern. Kolumbus glaubte allen Ernstes, im Meer vor den amerikanischen Küsten schwimmende Sirenen entdeckt zu haben, und er glaubte Berichten von Menschen ohne Kopf mit dem Bauchnabel als Mund aufs Wort. Man glaubte an Goldmacherei auf der Pfaueninsel im Berliner Wannsee, an Zauberei und an Hexen, und noch 1775 82

wurde in Kempten im Allgäu eine Frau als Hexe, die angeblich anderen Leuten Tod und Krankheiten an den Leib gezaubert hatte, verbrannt, und fast gleichzeitig wurden im aufgeklärten nordamerikanischen Boston brave, von hysterischen Kindern denuncierte Bürger als Hexer gehängt. Die jeweiligen Urteile sprachen studierte Juristen. Auch sie waren durch Mythen und Legenden „verzaubert“ (Vgl. das instruktive 8. Kapitel Friedrich von Spee und der Kampf gegen den He­ xenaberglauben in: Siegfried Wollgast 1993, 47–49). „Aufklärung“ bedeutete also die offensive und argumentative Beseitigung alles dessen und zugleich die Verbreitung eines wissenschaftlich begründeten neuen Bewusstseins, somit pauschalen und frontalen Kampf gegen das den Verstand vernebelnde mythische Denken, das auf Unwissenheit beruhte und Unwissenheit zeugte: „Wie ersichtlich ist also die Unwissenheit die allgemeine Quelle für die Verirrungen des Menschengeschlechts“, schreibt Holbach (1972, 21). Die Aufklärung betrieb laut Adorno/Horkheimer (1998, 9), die sich auf entsprechende Feststellungen Max Webers beriefen, „die Entzauberung der Welt, (sie) wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“ Habermas (1988, 9) spricht in Weberschem Kontext vom „Zerfall der religiösen Weltbilder, die eine profane Kultur aus sich entließen.“ „Mythos“ war in der Tat für die Aufklärer das schwergewichtigste Reizwort, gleichsam der Konterbegriff zu „Aufklärung“, Oberbegriff für alles falsche, mittelalterliche, obsolete, vorwissenschaftliche, religiöse, auf Fabeln rekurrierende Denken, das keinen kritischen Vergleich mit der neuen Wirklichkeit und der diese mehr oder weniger korrekt wiedergebenden neuen aufgeklärten wissenschaftlichen Weltsicht aushielt. Mythos war Summe allen vorgängigen, unvernünftigen Denkens und Verhaltens, stand für alles Märchenhafte, Sagenhafte, Phantastische, Irrationale und Spekulative. „Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung, verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben.“ (Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie Dietz Verlag Berlin 1974, 30). Doch sie verschwand keineswegs mit der höheren Naturbeherrschung, sondern lebt fortzeugend weiter, wie Horkheimer und Adorno nachweisen (Marx hatte aber insofern Recht, als Mythenglaube nicht mehr notwendigerweise für die Existenz gebraucht wurde.) Adorno und Horkheimer (ibd., 36) fassen dieses Wesen des Mythos als des Antagonisten der Aufklärung wie folgt zusammen: Das mythische Grauen der Aufklärung gilt dem Mythos. Sie gewahrt ihn nicht bloß in unaufgehellten Begriffen und Worten, wie dies semantische Sprachkritik wähnt, sondern in jeglicher menschlichen Äußerung, wofern sie keine Stelle im Zweckzusammenhang je-

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ner Selbsterhaltung (des Menschen) hat. Der Satz des Spinoza „Conatus sese conservandi primum et unicum virtutis est fundamentum“ enthält die wahre Maxime aller westlichen Zivilisation, in der die religiösen und philosophischen Differenzen des Bürgertums zur Ruhe kommen. Das Selbst (...) bildete zum transzendentalen oder logischen Subjekt sublimiert den Bezugspunkt der Vernunft, der gesetzgebenden Instanz des Handelns.

Angesichts dieser grundsätzlichen aufklärerischen Ablehnung alles vorherigen Denkens als Mythos gab es nur eine einzige annehmbare und adäquate Position für die Wissenschaft: die Kritik. Man könnte das achtzehnte und das darauf aufbauende frühe neunzehnte Jahrhundert das Zeitalter der Kritik nennen, Kritik als methodisches, auf prinzipiellem Zweifel aufbauendes Grundprinzip, das die bedeutendsten geistigen Produktionen dieser und der nachfolgenden Epoche schon in ihrem Namen führen: Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft, Kritik der Politischen Ökonomie. Neben Kritik des Alten war der Aufbau einer neuen Denkstruktur das Hauptziel der Aufklärer, die sich „philosophes“ nannten, eine Bezeichnung, die auf einen weit größeren Interessenkreis der so Benannten hinweist als die im gewöhnlichen Verstand eher auf Weltfremdheit hindeutende deutsche Bezeichnung „Philosoph“, und vielmehr über die bloße Philosophie hinaus ihr praktisches, auf die Lebenswelt gerichtetes Engagement in politischen und Alltagsfragen ihrer Zeit und ihres Landes meint. Daraus geht implizit hervor, dass die Aufklärung mehr destruktiv in Bezug auf das Alte und weniger konstruktiv war in Bezug auf das Neue. Sie ist sowohl als historisches Phänomen des 18. Jahrhunderts wie als permanente zeitlose Infragestellung obsoleten Wissens eine Aktion der Säuberung der Gegenwart von den störenden Rückständen des Vergangenen und Falschen, nicht aber in gleichem Maße ein Vorstoß ins Neue. In den Aufklärungsdefinitionen spielt onomastisch ersichtlich der Vernunftbzw. ratio = raison = reason-Begriff die zentrale Rolle als Konterbegriff zu „Mythos“. Er meint Erwachsenwerden, Majorennwerden, Volljährigkeit im Sinne von zur Vernunft, zur Raison Kommen des Menschen als Gattung wie als Individuum. Das Selbstbewusstsein der Aufklärer lehnte die Mythologien als irrational-spekulative Vernunftwidrigkeiten ab. Die Aufklärung ist ihrem Wesen nach ein unendlicher Prozess, weil es immer wieder neue Mythen gibt, die wieder neue Aufklärung erfordern. Deshalb bin ich ein Gegner der in der Literaturwissenschaft, besonders der französischen üblichen Reduzierung der Aufklärung auf das 18. Jahrhundert im Rahmen der lange Zeit dominierenden teleologischen Einteilung der Geschichte in literarische Epochen von der Renaissance über den Barock und die anschließende Aufklärung zur Romantik, zum Realismus und Naturalismus etc. 84

Aufklärung ist keine literarische Schule, sondern eine Philosophie sowie eine intellektuelle Bürgerbewegung des 18. Jahrhunderts, die sich natürlich auch in der zeitgenössischen Literatur widerspiegelte, wenngleich die Mehrzahl der Aufklärer – aus guten Gründen – keine großen Dichter und Schriftsteller waren. Es gab einen Streit zwischen Literaturwissenschaftlern über die zeitliche Extension der Aufklärung, die einen, vor allem Franzosen, sprechen nur vom 18. Jahrhundert der Aufklärung als eines einmaligen Phänomens, die anderen, vor allem auch Deutsche, sehen die Aufklärung als einen ewigen Prozess. Allerdings wird aus der ursprünglich zivilgesellschaftlichen, jedoch auf den wissenschaftlichen und politischen Diskurs fokussierten Bewegung der Aufklärung nach institutioneller Durchsetzung ihrer Ideen mit der bürgerlichen Zivilgesellschaft eine staatliche Bildungspolitik. Diese materialisierte sich in den beiden folgenden Jahrhunderten in einem zumeist von Berufspolitikern und Regierungsbeamten professionell geplantes und ausgebautes Volksbildungs- und Hochschulwesen samt Kulturbetrieb mit allen dahin führenden Einrichtungen und Institutionen. Aber die Aufklärung als Bürgerbewegung ging nicht unter, löste sich auch nicht in der offiziellen Bildungspolitik auf, sondern blieb stets bis heute ihr kritischer, gewissermaßen informeller, in der Öffentlichkeit wirkender Begleiter.

Rationalistische Philosophie und rationalistische Lebensführung Die Aufklärung teilte sich im 18. Jahrhundert in zwei Diskursarten: einen Diskurs über rationalistische Philosophie und einen Diskurs über rationalistische Lebensführung. Diese Zweispurigkeit entspricht der historischen Rolle der Aufklärung, die beides, sowohl die Philosophie als auch die alltägliche Lebensweise der Menschen radikal erneuern wollte, und drückt in gewisser Weise das Verhältnis von Theorie und Praxis aus. Einerseits nahm sie am philosophischen Diskurs aktiv und diesen revolutionierend in Richtung Empirismus, Sensualismus, Materialismus und Pragmatismus teil, andererseits griff sie als Geistesbewegung in den öffentlichen Diskurs, sogar in tagespolitische Auseinandersetzungen und in Alltagsprobleme ein. Diese aufklärungstypische Gedoppeltheit in den theoretisch-philosophischen und in den Alltagsdiskurs wurde vor allem von Holbach bewusst theoretisiert und praktiziert und auch diskurstheoretisch definiert. Im Kapitel VIII seines Essays über die Vorurteile mit dem diese Zweispurigkeit anzeigenden Untertitel von der praktischen und spekulativen Philosophie schreibt er explizit: „Halten wir also zwei Arten von Philosophie auseinander: die eine ist spekulativ, die andere ist praktisch“. (ibd., 134) Er unterscheidet darin 85

zwischen Philosophie im Sinne der französischen philosophes als den „Denkgewohnheiten“ einerseits, und den Subjektivitäten, u. a. der „Gemütsart“, den „Leidenschaften“, und „falschen Vorstellungen von Glück“ der Menschen andererseits. Implizite differenziert er zwischen der Philosophie als wissenschaftlicher Theorie und der Lebenspraxis als Moral. (ibd.) Auch seine eigenen Schriften lassen sich in zwei dem gleichen Kriterium folgende Klassen einteilen: einerseits seine philosophisch-materialistischen und naturwissenschaftlichen sowie religionskritischen Werke: sie hießen beispielsweise Le système de la nature (Das System der Natur), Le christianisme dévoilé (Das enthüllte Christentum), La contagion sacrée ou Histoire naturelle de la su­ perstition, (Die heilige Ansteckung oder Naturgeschichte des Aberglaubens). In diese philosophische Rubrik des mechanischen Materialismus gehört auch La Mettries L’homme machine (Der Maschinenmensch). Zu seinen lebensweltlich-praktischen Schriften gehören dagegen sein Essay über die Vorurteile und seine Einträge in der Encyclopédie zu Toleranz, Fanatismus, Krieg und Frieden usw. Wichtiger noch erscheint mir folgende Fußnote, in der er den von der Philosophie stricto sensu kategorial verschiedenen, in den Bereich der Praxis gehörenden, von ihm geprägten Begriff „Lebensführung“ wie auch den Begriff „Lebenskunst“ ganz offenbar als Synonyma für „praktische Philosophie“ und „Lebenswirklichkeit“ (anhand eines Cicero-Zitats) verwendet (ibd., 129): „Wenn ein Philosoph in der Lebensführung (Hervorh., HOD) fehlt, so ist das schimpflicher, weil er die Pflichten, dessen Lehrer er sein will, verletzt und, obwohl er sich zur Lebenskunst bekannt hat, im eigenen Leben Fehltritte begeht.“ Mit diesen Termini Lebensführung und Lebenskunst erweist er sich lexikalisch wie begrifflich eindeutig als Vorläufer der modernen Philosophie (und Soziologie) des 20. Jahrhunderts, verweist er voraus auf die nahezu ähnliche Verwendung durch Max Weber, Edmund Husserl und Alfred Schütz („Lebenswelt“) und Wittgenstein („Lebensform“). Man könnte die Aufklärungsphilosophie in die Nähe der Kritik der reinen Vernunft, und die mehr lebensweltlich bzw. alltagspraktisch orientierte Enzyklopädie in die Nähe der Kritik der praktischen Vernunft rücken. Sowohl Kants „reine Vernunft“ als auch die Aufklärungsphilosophie bewegen sich in Begriffen, wogegen Holbachs pragmatisch-„praktische“ Vernunft subjektive oder intersubjektive Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Meinungen meint, wobei er geradezu behaviouristische Begriffe wie Moral, Arbeitsteilung (!), Liebe, Pflicht, Zwangshandlung, Freiheit und Politik verwendet. Fichte spricht im ähnlichen Sinn ebenfalls von „praktischer Vernunft“. 86

Auf den lebensweltlichen Aufklärungs-Diskurs hat nach Holbach erst wieder Max Weber hingewiesen, der (1989, 241) dem Kapitalismus als der „schicksalsvollsten Macht“ unseres modernen Lebens nachsagte, dass sich dessen Rationalismus des Denkens, Fühlens und Handelns (d. h. der Lebenswelt) bemächtige und damit eine rationalistisch-rationelle Alltagsmentalität auch im Berufs- und Privatleben erzeuge. Wörtlich betont Weber die „Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung“, (ibd., 249, Hervorh., HOD), verwendet also denselben Terminus wie Holbach offenbar ohne ihn zu kennen. Auf diese äußerst interessante und von den kompetenten Forschern bislang unentdeckte Verbindung Holbach-Weber in Bezug auf die alltägliche Lebensführung der Menschen haben mich eigentlich erst Wolfgang Küttler und Friedrich Hauer in ihrer Einleitung zu einer Auswahl von WeberAufsätzen (ibd., 12) gebracht, in der sie hinterfragen, „wie ganze Gruppen von Menschen veranlasst wurden, ihre praktische Lebensführung gegenüber den früheren Normen und Traditionen radikal zu ändern“. Gerade die „praktische Lebensführung“ der Massen war im 18. Jahrhundert noch stark vom mythologisierenden, irrationalen, abergläubischen, vom Mittelalter ererbten Denken bestimmt. Noch in anderer Hinsicht verklammert sich ein wichtiger Hauptpunkt von Holbachs klarsichtigem und aufklärendem Denken mit dem kritischen Diskurs der Moderne, ohne dass die zuständige Fachwissenschaft allem Anschein nach darauf aufmerksam macht, in Bezug nämlich auf das blinde Beharren des gewöhnlichen Menschen mit seinem sogenannten „gesunden Menschenverstand“ auf falschen, subjektiven und spontan und unkritisch gefassten Alltags-„Meinungen“ („Meinung“ meint hier „Dafürhalten“. Darauf macht schon der Titel seines Buches De l’ìnfluence des opinions sur les moeurs et sur le bonheur des hommes – Vom Einfluss der Meinungen auf die Sitten und das Glück der Menschen – aufmerksam. Holbach differenzierte scharf zwischen „Fürwahrhalten“, also durch Mythen, Aberglauben, Vorurteile gespeiste falsche „Meinungen“, und „Wahrheit“, die er in seinem Essay über die Vorurteile zu einem für die gesamte Aufklärung fundamentalen Begriff erklärt. Dieser sei nicht einfach nur eine Eigenschaft von Aussagen, sondern der logische Gegenbegriff zu „Mythos“, „Vorurteil“, „Aberglauben“ und magischem Denken Er setzt Unkenntnis der Wahrheit mit „Unwissenheit“ und „Vorurteil“ gleich: „Vorurteil ist also die Unwissenheit als allgemeine Quelle für die Verirrungen des Menschengeschlechts. Seine Vorurteile sind die wahren Ursachen für das Unglück, von dem es von allen Seiten bedrängt wird“. (Du Marsais/Holbach 1972, 21)

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Bedeutsam ist Holbachs/Dumarsais’ Fokussierung des Lebensweltbegriffs auf das Alltagsleben des 18. Jahrhunderts, auf „die Welt in der die Menschen leben mussten“. Dabei ging es ihm um die Entlarvung des Scheins des Selbstverständlichen und der Alternativlosigkeit der den Individuen präexistierenden Verhältnisse, in die sie hineingeworfen wurden. Husserl sah es in wohl unbewusster Fortführung dieses Gedankens als aufklärerische Aufgabe des Philosophen an, gerade das im Alltagsleben das „als das Selbstverständliche und das Vorvertraute vorhandene Unerkannte und Verdeckte“ freizulegen. Wittgenstein, der in seiner analytischen Philosophie von einem „Naturgesetz des Fürwahrhaltens“ sprach, erkannte „nur die Anknüpfung an Bewusstseinsprädikate mit ausschließlich öffentlich-intersubjektivem Status“ als legitim an. (ibd.) Unter Berufung auf Hobbes schrieb Holbach, „die Wahrheit (ist) für den Menschen wichtig, und der Irrtum – das unbeabsichtigte Verfehlen der Wahrheit – kann für ihn immer nur gefährlich sein“ (Du Marsais/Holbach 1972, 11). Hobbes zufolge werde die Welt von der „Meinung“ regiert, „aber die Meinung ist nur die im Denken der Sterblichen ohne Prüfung etablierte Wahrheit oder Unwahrheit.“ (ibd.) Ganz empiristisch schreibt er, die Wahrheit erfahre man, „indem man sich an die Erfahrung und an die Vernunft, die deren Frucht ist, wendet.“ Empirismus und Rationalismus, die beiden Hauptphilosophien der Aufklärung, fungieren mit dem ebenfalls von Hobbes entlehnten Kriterium der „Nützlichkeit“ als Kronzeugen für Holbachs pragmatischen Wahrheitsbegriff. „Die überkommenen Meinungen zu achten, heißt fast immer die Lüge achten“ (ibd., 108), schreibt er sehr überspitzt: also „Meinung“ ist für ihn gleich Lüge. Hierin steckt sowohl seine Verurteilung allen traditionellen (=  „überkommenen“) Wissens als Unwissen und Mythos (= „Lügen“), wie auch allen individuellen „Fürwahrhaltens“ (das sich in den überkommenen „Meinungen“ ausdrückt). Die Holbachsche Denklinie lief vom Begriff der alltäglichen Lebensführung über Max Weber weiter zu Edmunds Husserls „Lebenswelt“-Begriff, der von Alfred Schütz zur „Lebensweltwissenschaft“ ausgearbeitet wurde, den auch Jürgen Habermas verwendet und der in Ludwig Wittgensteins Kategorie „Lebensform“ anklingt, und den auch Steinbacher benutzt. Letzterer schreibt in Sandkühlers Enzyklopädie der Wissenschaften zu diesen Stichwort im Zusammenhang von Rationalität und Lebenswelt-Begriff zusammenfassend: „Seit Weber die entzauberte soziale Realität moderner Gesellschaften als Ermöglichung von Rationalität als Lebensform (sic, HOD) rekonstruierte, ist über das Motiv rationaler Lebensformen die Lebenswelttheorie mit der Rationalitätstheorie verquickt.“ Deshalb ist Webers nähere adjektivische Bestimmung seines Begriffs „Lebensführung“ im 88

Gefolge des „schicksalhaften“ Kapitalismus extrem wichtig, die da lautet: „‚rational‘ ist das Leben nach der Uhr, der vernünftige Umgang mit Geld mittels Sparen und die Zweiteilung in ‚Arbeit‘ und ‚Freizeit‘ als Erholung von ersterer.“ Der cartesianische, in der Aufklärung gipfelnde Rationalismus als Widersacher des „Mythos“ hat sich somit in der Moderne als Herrschaft der Vernunft bzw. Rationalität auch als bestimmenden Prinzips des Lebensalltags und der Lebensweise der Menschen durchgesetzt. Diese führen unter dem Patronat der Aufklärungsphilosophie und dem Zwang der neuen Verhältnisse ihr privates Leben, ihren empirischen Alltag, ihre Lebenswelt und Lebensweise als ihr praktisches Dasein in der zeitgenössischen Gesellschaft auf nunmehr rationale Art und Weise. Habermas schließlich postulierte den Übergang von einem traditions- zu einem „vernunftgeleiteten Leben“ als moderner Lebensform, was dem von Holbach signalisierten Übergang vom Mittelalter zur Aufklärung entspricht, ohne jedoch meines Wissens auf diesen Denker der Aufklärung zu rekurrieren. Die Holbachsche Zweiteilung in Philosophie und Lebenswelt bleibt also bis ins 21. Jahrhundert erhalten. Diese Doppelstrategie war eine Innovation der Aufklärung, wobei die Neuerung die Einführung des zweiten Strangs oder Gleises neben dem fachphilosophischen, dieses sozusagen popularen Ablegers des ersteren, voll auf das Konto der Aufklärer ging. Denn dieses entsprang ihrer gewissermaßen demokratisierenden Intention, auch auf das allgemeine Publikum, nicht nur auf die wenigen Philosophen einzuwirken. Das Einwirkenwollen scheint mir überhaupt aufklärungstypischer zu sein als das bloße Verbreiten eines neuen Denkens, was natürlich auch ein wichtiges Anliegen der sich selber „philosophes“ nennenden Aufklärer war. Beide Diskurse wollten auf je getrennte, dem je unterschiedlichen kulturellen Niveau und Ansprüchen der jeweiligen Publika angepasste gedankliche Neuheiten wie Toleranz, Freiheit und Gleichheit zum Durchbruch helfen, was durch alleinige Beschränkung auf den tradierten Intellektuellenzirkel und also die Philosophie nicht hätte geschafft werden können. Vor allem ging es in dem zweiten Diskurs nicht wie in der ersten um bloße Revolution des Denkens, sondern um eine solche des Verhaltens, statt der Theoriebestinmtheit des philosophischen Diskurses um Praxis, um Pragmatik, um Alltag und um Politik, statt der wissenschaftlichen Darstellung der objektiven Realität wie im philosophischen Diskurs der Aufklärung, um verändernde Einwirkung auf die menschlichen Subjekte. Dieses Aktivieren der Tätigkeit, diese Pragmatik, diese Zentrierung auf die Subjektivität war der Aufklärung sozusagen begriffs- und wesenseigen. Es manifestierte sich auch und geradezu aufklärungstypisch in 89

der Ausrichtung auf die Pädagogik, diese ausschließlich ad hominen ausgerichte Wissenschaft, die nicht zufällig zuerst von der Aufklärung als solche entdeckt und gegründet wurde. Bei der begrifflichen Formulierung des aufklärerischen Rationalismus und der folgenreichen Verschiebung der Subjektivität von der „Seele“ in die „Ratio“ spielte das eigentliche wissenschaftliche Haupt der Aufklärung, Condorcet (Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, marquis de Condorcet, 1743–1794), für dessen Beurteilung ich der Ausdeutung seiner Leistung durch Dorothee Röseberg folge, eíne große Rolle. Gegenüber dem mehr naturwissenschaftlich orientierten sensualistischen Materialisten Holbach war für Condorcet als Scientist par excellence die Mathematik die Hauptform der reinen Verstandesarbeit und damit des mit Descartes beginnenden Rationalismus der Aufklärung. Er setzte laut Röseberg die instruction (Belehrung) höher als die von Rousseau gepredigte éducation (Erziehung) und dementsprechend Verstand höher als Gefühl, „dass also für Condorcet die Arithmetik ein Modell für Rationalität als philosophische Kategorie (...) schlechthin ist. (...) Bis in die didaktischen Dimensionen bleibt Condorcet Rationalist.“ (Röseberg 2012, 48) „Im raisonnement bündelt sich bei Condorcet die Opposition zu einer auf Glauben beruhenden éducation“. Mathematik und Physik bilden die Prototypen für die condorcetsche „instruction par la raison“ (ibd.), die Belehrung des Menschen durch die Vernunft, als wissendes Räsonnieren. „Raisonner“ (man könnte ins Hegelianische verdeutscht sagen „den Verstand anstrengen“, HOD) st wie Mathematik und Physik dem Beweis (preuve) verpflichtet. Die Beweisführung steht ihrerseits bei Condorcet „im Zusammenhang mit der Theorie der Kombinationen nach den Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung,“ (ibd., 49) das heißt wiederum mit der Mathematik. Charakteristischerweise erarbeitete er eine „Mathématique sociale“. Die geistige Vorbereitung der Moderne durch die Aufklärung stand also voll im Zeichen des Rationalismus. Dieser Rationalismusanspruch war total und bewirkte die Einheitlichkeit dieser Bewegung. Im Prinzip vertrat der mathematische Rationalist Condorcet den rein philosophischen, im ursprünglichen Wortsinn „metaphysischen“ also auf Mathematik statt auf Physik – Physik im weitesten Sinn als Summe der von Holbach präferierten empirischen Naturwissenschaften – abhebender Diskurs.

Aufklärung als Fortschrittsdenken Die meisten Aufklärer mit Ausnahme solcher Gegendenker wie Montesquieu und Rousseau hatten einen ausgesprochenen Fortschrittsoptimismus, eine Tendenz, die der heutige Poststrukturalismus am meisten an der Aufklärung 90

kritisiert und ablehnt. Sie sahen die gesamte Weltgeschichte von Antike über Mittelalter und das absolutistische Regime Ludwigs XIV bis in ihr philosophisches 18. Jahrhundert in einer fast marxschen Teleologie als einen notwendigen Vorlauf an, der in ihr, in der Aufklärung selber, im siècle des lumières, kulminierte. Fortschrittsglaube war geradezu außer dem ihr quasi inhärenten Rationalismus eines ihrer charakteristischen Wesensmerkmale. Sie hatten ein Gefühl dafür, dass die Aufklärung eine außerordentlich einschneidende Epochenwende und keineswegs eine Epoche wie jede andere war. Sie fühlten sich nicht als Herolde einer neuen Zeit, sondern der neuen Zeit, weil jetzt die Herrschaft der neu entdeckten menschlichen Vernunft anbrach, die in der ganzen bisherigen Menschengeschichte nur ein Schattendasein geführt habe. Das Fortschrittsdenken war bereits in der Querelle des Ancients et des Modernes (Streit der Alten und der Modernen) im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts zwischen Charles Perrault und Nicolas Boileau-Despréaux samt ihren Mitläufern Fénélon bzw. La Bruyère artikuliert worden, als die modernen Schriftsteller die Vorbildhaftigkeit des antiken Epos, das bisher als Norm und unnerreichtes Muster gegolten hatte, ablehnten, da nun mit dem christlichen Epos die Moderne in die Dichtung eingezogen sei. Die französische Dichtung und Kultur sei der Antike überlegen, und das siècle de Louis le Grand, das 17.  Jahrhundert, also die damalige französische Nationalkultur, sei bedeutsamer als die griechischrömische Antike, die dagegen für die anciens nach wie vor als höchster Maßstab der Künste galt. Das veranlasste Marx zu dem ironischen Kommentar von der Einbildung der Franzosen, weil man heute besser Maschinen baue als die Alten könne man auch bessere Epen als jene machen – was er bezweifelte, da er die Künste explizit aus seinem Fortschrittsbegriff ausschloss. Hinter der Position der Modernen steckte die lange Zeit ausschließliche und einfache, lineare Fortschritts-Vorstellung, die aber ihrerseits bereits einen Fortschritt gegenüber der aus der Antike bekannten allgemeinen Meinung darstellte, die überhaupt keine Entwicklung der menschlichen Zivilisation wahrnehmen wollte und „nichts Neues unter der Sonne“ sah. Es gab aber innerhalb der Aufklärung auch Gegenpositionen, die ähnlich wie die Antike von einem einstmals existierenden Goldenen Zeitalter, das verfallen sei, oder wie der jüdisch-christliche alttestamentarische Glaube von dem Verlorenen Paradies ausgingen, das zu einem irdischen Jammertal geworden sei. Rousseau hatte einen Aufsatz an die Akademie von Dijon als Wettbewerbsbeitrag gesandt und damit den ausgesetzten 1. Preis gewonnen, den er nachträglich folgendermaßen titulierte: Discours qui a remporté le prix à l’académie de Dijon en l’année de 1750, sur cette question proposée par la même académie: Si le réta­ 91

blissement des sciences et des arts a contribué a épurer les moeurs. (ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Reinigung der Sitten beigetragen habe). Rousseau verneinte diese Frage und konstruierte starke Gegensätze zwischen Wissenschaft, Sittlichkeit, Kunst und Moral, die statt zu „Fortschritten“ zur Entartung des Menschengeschlechts und, vor allem, zur Ungleichheit, dieser Quelle allen Übels, geführt hätten. Er publizierte wenige Jahre später, 1755, eine gleichsalls an jene Akademie als Wettbewerbsbeitrag eingesandte Abhandlung mit dem Titel Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (Über den Ursprung und die Gründe der Ungleichheit zwischen den Menschen), die allerdings keinen Preis gewann. In dieser brandmarkte er den Übergang des bon sauvage vom Urzustand in die Zivilisation als Rückschritt und Naturwidrigkeit. Die Grundgedanken aus diesem discours tauchten in verwandelter Form u. a. in seinem berühmtem contrat social wieder auf, einer kleinbürgerlich-radikalen Utopie als Gegenstück zur großbürgerlichen Staatstheorie Montesquieus, der der andere Fortschrittsskeptiker innerhalb der französischen Aufklärungsbewegung war. Charles-Louis de Secondat, baron de la Brède et de Montesquieu (1989–1755) popularisierte mit seinem theoretischen Hauptwerk De l’esprit des lois (1748) die aus England bekannte Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judicative. Die Frage nach Aktualität und Zukunft der Aufklärung war also die Frage nach dem Fortschritt überhaupt, ein Begriff, der zu ihrem spezifischen Gedankengut gehört, sogar von ihr als geschichtsphilosophischer Terminus erst geprägt wurde. Der deutsche Aufklärungsforscher W. Bahner 1985, 26) schrieb in diesem Zusammenhang: „Erst von Aufklärern des 18. Jahrhunderts wurde die bereits im 17.  Jahrhundert entwickelte lineare Fortschrittstheorie rationalistischen Gepräges nach der moralisch-gesellschaftlichen Seite hin ausgebaut.“ Kant hatte später zwischen Aufgeklärtheit als Menschheitszustand und Aufklärung als einer philosophischen Zeitströmung unterschieden: „Wir leben in einem Zeitalter der Aufklärung, aber noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter.“ Aufgeklärtes Zeitalter heißt Aufklärung als abgeschlossener Prozess, als Zustand, doch ist Aufklärung selber nicht ein Zustand, sondern ein unendlicher Prozess des Aufklärens, weshalb es nie eine künftige Vollendung des Projekts „Aufklärung“ geben wird. Dieses mag auch dem Konzept mancher Aufklärer entsprochen haben, die Aufklärung nicht als Fortschritt, sondern als ein Fortschreiten dachten, als einen schlechthin unendlichen Prozess: Progress als Zustand. Auf den fortschreitenden Prozesscharakter der Evolution der Menschheit als Gesellschaft waren die Idealsetzungen der Aufklärung gemünzt als quasi ideale Zukunftsentwürfe für die Menschheit. 92

Der Fortschrittsbegriff der auf den Rationalismus eingeschworenen Kernaufklärung nimmt einen zeitlichen Entwicklungsverlauf der Geschichte an, der sowohl ein technisch-wissenschaftliches wie auch ein moralisches und kulturelles Voranschreiten der Menschheit auf dem Wege ihrer Vervollkommnung mit sich bringe. „Perfektibilität“ des Menschen gehörte zu den Schlagworten des Aufklärungsdiskurses und als Begriff unmittelbar in die Aura des Fortschrittsdenkens. George Louis Leclerc de Buffon entwickelte in seiner 44bändigen „Histoire naturelle et particulière“ – Allgemeinen und Naturgeschichte – den ersten Entwurf einer Evolutionstheorie, die im Unterschied zur vergangenheitsorientierten Dekadenztheorie, der sowohl Montesquieu als auch Rousseau nahe standen, Zukunft mit Fortschritt identifizierte. Montesquieu hatte mit seinen Considé­ rations sur la grandeur et décadence des Romains, den Betrachtungen über die Größe und den Niedergang der Römer, den politisch-kulturellen Fortschrittsbegriff wie auch sein Gegenteil, die Dekadenz, am römischen Exempel vorgeführt. Jean-Jacques Rousseau war sogar ein prinzipieller Leugner des menschlichen Fortschritts, insofern er eine zu den technisch-wissenschaftlichen und künstlerisch-literarischen Errungenschaften umgekehrt proportionale moralische Korruption der Menschheit durch die Zivilisation behauptete und dieser den guten Wilden, le bon sauvage, nostalgisch als unwiederbringlich verlorenen „besseren“ Urtyp des Menschen gegenüberstellte. Hinter dieser Konzeption verbarg sich sowohl die antike Ansicht von Geschichte als Verfall des ursprünglichen Goldenen Zeitalters und damit der unverdorbenen, guten Sitten, wie die jüdischchristliche von der biblischen Vertreibung des adamitischen Menschen aus dem Irdischen Paradies. Hier schien noch jede Vergangenheit besser.

Aufklärung als Pädagogik Der von der Aufklärung geschaffene und propagierte Fortschrittsbegriff misst der augustineischen Dimension der Zukunft natürlich einen besonderen Stellenwert bei. „Zukunft“ assoziiert die Begriffe „Jugend“, „Schule“, „Universität“ und damit auch „Erziehung“ und „Pädagogik“. Die Aufklärung hat schon an sich, rein phänomenologisch, ja tautologisch, per definitionem, durch den ihr immanenten Akt des Aufklärens und Belehrens eine grundlegend pädagogische Dimension, die sich sogar im Gestus und der Inszenierung des weiter oben schon beschriebenen Toleranzartikels der Encyclopédie findet. Tenorth und andere Bildungsforscher bezeichnen die Aufklärung geradezu als das „Pädagogische Jahrhundert“, denn ihr Grundgestus geht in eine belehrende und erziehende Richtung, besonders in der deutschsprachigen Version, die stets ein anderes menschliches Subjekt zu ihrem Objekt macht, dieses durch 93

permanente Aufklärung in einen aufgeklärten Menschen verwandeln will. In der Aufklärung selbst entstand eigentlich erst die Pädagogik als Wissenschaft: Aufklärung als Thema der Pädagogik und Schulgeschichte füllt ganze Bibliotheken, nicht zuletzt deshalb, weil sie, die Aufklärung, ja letztendlich – im weitesten Sinne – als eine pädagogische Aufgabe verstanden werden kann, und die Wertschätzung einer die Vernunft des Menschen freisetzenden Erziehung Teil ihres anthropologischen Gedankengebäudes ist. (...) Seit Rousseau und Kant arbeitet sich Pädagogik in Theorie und Praxis an den Ideen der Aufklärung ab. Im Erziehungskonzept der Aufklärung liegen die ideellen Wurzeln neuzeitlicher Pädagogik: Säkularisierung der Bildung, Wissen als Erkenntnisgewinn und Erkenntniswandel, Entwicklung, Vervollkommnung und Selbstbestimmung des Menschen (anthropologischer Wandel), Bildung und Erziehung als Wege zu Vernunft, Zivilisation, Freiheit, Emanzipation. (...)

So schreibt mir die Berliner Erziehungswissenschaftlerin Christa Uhlig: Dies ist bei den theoretisch-philosophischen Denkern der Aufklärung wie Rousseau manifest, der mit Emile den wohl bedeutendsten und folgenreichsten Erziehungsroman aller Zeiten schrieb. Laut Tenorth, Autor einer Geschichte der Erziehung (1992), spiegele sich im Erziehungskonzept der Aufklärung der Aufbruch zur Moderne (ibd., 116). Nicht zufällig erklärte der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant die Erziehung zu einer spezifisch menschlichen, geradezu anthropologischen Existenznotwendigkeit, die für das Tier nicht bestehe: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss. (...) Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Der ist nichts, als was Erziehung aus ihm macht.“ Ähnlich äußerte sich Johann Gottlieb Fichte. Auch die Anthropologie ist als „Wissenschaft der Konzentration auf den Menschen selbst im Unterschied zum Renaissance-Humanismus als Geisteshaltung, eine Errungenschaft der Aufklärungszeit.“ (ibd., 74) – Erziehung der Bürger (zu Kultur und Bildung) ist des Schweizer Pädagogen Pestalozzis eigentliches Programm jeglicher Erziehung. (ibd., 92) Da die Aufklärung sich als erste philosophische Schule der ganzen Gesellschaft und somit allen Individuen widmete, war die „öffentliche“ Erziehung eines ihrer Hauptfelder. Aufklärung als Pädagogik bedeutet eine diesseitige, auf die oben erwähnte „Lebenswelt“ orientierte, weniger berufsbezogene als staatsbürgerliche Erziehung zum citoyen éclairé, die dem voraufklärerischen allgemeinen Bildungswesen, dessen Oberaufsicht in den Händen der Kirche lag, fremd war. Der citoyen war nicht nur ein politisches Ideal, sondern in erster Linie ein pädagogisches Ideal des gebildeten und daher überall mitdenkenden, mitredenden und mitgestaltenden Bürgers, des citoyen éclairé, zu dem die neue Generation erzogen werden sollte als eines selbständig denkenden, in diesem Sinn emanzipierten Individuums. 94

Ein hervorragendes Exempel der Aufklärungspädagogik ist die Bearbeitung des Romans The Life and Adventures of Robinson Crusoe von Daniel Defoe durch den Übersetzer dieses Werkes, Joachim Heinrich Campe. Dies Buch erschien auf Deutsch außer in einer „wörtlichen“ Ausgabe im Jahre 1779/80 in einer anderen, stark bearbeiteten Version von Joachim Heinrich Campe (1746–1818), dem Theologen, Philanthropen, Verleger und praktischen Pädagogen sowie prominentem Vertreter der deutschen Aufklärung. Er arbeitete reformpädagogisch die englische Vorlage um, indem er ihr eine im Schulambiente in Hamburg spielende Rahmenerzählung gab, in welcher ein von ihm erfundener Vater seiner Tochter Lotte und einer nachbarlichen Kinderschar Robinsons abenteuerliches Leben in Defoes Vision kapitelweise vorliest. In seiner Bearbeitung erwies sich Campe als Anhänger von Jean-Jacques Rousseau und als Kenner von dessen Roman Emile oder die Erziehung, in dem dieser die Spezifik des Kindseins im Unterschied zum Erwachsenen sozusagen experimentell darstellte und statt einseitiger Beeinflussung des Alumnen durch den Lehrer auf eine Kooperation zwischen beiden setzte. Campes Werk ist eine Vision des Robinson gesehen durch die Brille von Emile. In heutiger Terminologie unternahm er eine wenn auch vorsichtige Dekonstruktion dieses hübschen Kinderbuches, Spielt auf die kolonialistischen Hintergründe und Motivationen des Verhaltens dieses britischen Matrosen an, die auf literaturwissenschaftlicher Ebene ohne direkten Bezug auf Campes Bearbeitung jedoch höchst beweiskräftig Hans-Jörg Tidick (1983) unternommen hat, dem ich in meiner Kurzinterpretation weitgehend folge. Campe praktizierte eine sehr originelle aufklärungspädagogische bzw. hermeneutische Aufbereitung des Romanstoffes, indem er nämlich im Anschluss an jeden Lektüreabschnitt des Romans den Vater eine Diskussion mit den Kindern über das soeben Gehörte führen ließ. Dadurch wurden die Kinder an demokratisches Mitgestalten und an selbständiges und vor allem kritisches Denken und Dialogisieren und Kommunizieren im Sinne Rousseaus und ohne jede Bevormundung ganz im Sinne der aufklärerischen Aufforderung Kants gewöhnt, ihren eigenen Verstand zu gebrauchen. Sie lernten so auch Toleranz  – diese Hauptforderung der Aufklärer – gegenüber der Meinung Anderer und Andersdenkender in freier Diskussion untereinander zu praktizieren. Ferner arbeitete Campe bzw. die von ihm erfundene literarisch-fiktionale Figur des Lehrers-Vaters in dem Roman gegen die Vorurteile Defoes betreffs der sogenannten „Wilden“ in der außereuropäischen Welt an. Als Aufklärer verweist der Lehrer auf die während der Kolonisierung betriebenen Zwangsbekehrungen der Indios durch die spanischen Priester, die er als Fremdbestimmung ablehnt, 95

und tritt für Glaubensfreiheit, also religiöse Toleranz ein. Er kämpft sowohl gegen die sogenannte „Schwarze Legende“, den kolonialistischen Mythos vom „bösen Wilden“, genauso wie gegen den Gegenmythos vom „bon sauvage“, dem guten Wilden an. Diese Mythisierungen mussten Campe, dem wie allen Aufklärern die Mythen suspekt waren, missfallen. Der Vater-Lehrer sät folglich unter den Kindern Zweifel an der Darstellung der Wilden als Menschenfresser, – eine Kommentierung, die natürlich nicht in Defoes Version stand: „Er dachte sich (...) keinen gesitteten Europäer, sondern einen wilden, menschenfressenden Kannibalen, deren es damahls, wie ihr wisst, auf den Karibischen Inseln gegeben haben soll.“ (ibid., 24) Das „soll“ drückt Zweifel, Reserve an der traditionellen klischeehaften Charakterisierung der Indios durch Defoe aus. So wirkt der Vater aufklärerisch der stereotypen Darstellung der Indios durch Defoe, ihrer Verteufelung als Inkarnation des „Bösen“ und verweist auf ihr Anderssein, ihre Kultur, Sozialisation und Mentalität. Er macht den Kindern in einer Art kausaler Explikation klar, dass die Wilden gar keinen Begriff davon hätten, dass Kannibalismus etwas Böses sei, dass sie „sogar in dem traurigen Irrthume standen, dass es etwas religiös Verdienstvolles sei, recht viele Feinde geschlachtet und verzehrt zu haben“ (ibd., 158). Campe ging bereits von der Institutionalisierung der Volksbildung mit allgemeiner Schulpflicht ganz im Geiste der Forderungen der Aufklärung aus. Er verfasste ein diesbezügliches umfangreiches, sechzehnbändiges pädagogisches Standardwerk mit dem Titel Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erzie­ hungswesens (1785–92), Ähnlich wie durch Campes Lehrer wurde auch im obligatorischen Schulunterricht der tradierte Mythen-, Aber- und Wunderglaube, der Glaube an übernatürliche Mächte, unheilvolle Prophezeiungen, Liebeszauber, Hexen und Zauberer wie auch das Vorurteilsdenken – ganz wie in Campes Kinderbuchadapation des Robinson – aus den Köpfen der neuen Generationen vertrieben. Es wurde weitgehend das aus dem Mittelalter und noch älteren Menschheitsepochen überlieferte und von den Aufklärern beharrlich bekämpfte mythologisierende Weltbild durch ein wissenschaftlich und naturwissenschaftlich wie auch philosophisch begründetes, rationales und säkularisiertes Weltwissen im Geist der Aufklärung ersetzt. So verschwand zum Beispiel auch das von dem Fuldaer und nachmaligen römischen Geistlichen Athanasius Kircher auf reichlich 5000 Jahre entsprechend der biblischen Genesis errechnete Alter der Erde aus den Enzyklopädien und Manualen und wurde durch moderne wissenschaftlich begründete Schätzungen des Erdalters ersetzt.

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In Deutschland bzw. Österreich und der Schweiz fielen die pädagogischen Angebote der Aufklärung auf fruchtbaren Boden, bei Pestalozzi, Basedow, Salzmann, Campe sowie dem pädagogisierenden und experimentierenden brandenburgischen Gutsherrn Friedrich Eberhard Rochow auf seinem Gut Reckahn, Rousseauist und Autor von Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen. Ein sehr streng schülerdisziplinierender und frömmigkeitsorientierter frühaufklärerischer Erzieher war der Hallenser Pietist August Hermann Francke, Gründer der dortigen Franckeschen Stiftungen. In Preußen wurde die allgemeine Schulpflicht schon vor der Frühaufklärung eingeführt. Doch der revolutionäre Geist der französischen Aufklärung wurde in deutschen Landen bereits beginnend mit den frühaufklärerischen Philanthropisten auf machbaren Pragmatismus übertragen, meint Uhlig: „Am ehesten lässt sich das ‚Allgemeine Landrecht‘ (1794), in dem der Erziehungsanspruch des Staates formuliert wird, im Kontext der Aufklärung diskutieren.“ Von Wilhelm von Humboldt, der zwei Jahre die Unterrichtsabteilung im Innenministerium leitete, kamen übergreifende progressive Schulgesetzvorlagen (1809), die aber kaum realisiert wurden. So setzte sich die aufklärerische Pädagogik in Deutschland im Unterschied zu Frankreich nur zögernd durch, weil auch die Aufklärung selber als gesamtgesellschaftliche Bewegung sich nicht konsequent durchsetzte, sogar aggressiv und offensiv von den preußisch-deutschen Machthabern liquidiert wurde, schreibt Uhlig.

Die preußischen Reformer um den Staatskanzler Hardenberg mit seinem Adlatus Scharnweber – beide wie Scharnhorst und Clausewitz Vertreter der Aufklärung und moderate Anhänger der Französischen Revolution oder jedenfalls überhaupt einer Re­volution – mussten ihren aufklärerischen Kurs der Bauernbefreiung und Demokratisierung sowie Domestisierung der von Napoleon und vom Hohenzollernregime gestützten reaktionären Feudalherren abbrechen und das Regime den „Patrioten“ bzw. den „Romantikern“ überlassen (Vgl. Barbara Vogel über letzteren und Helmut Bock über Napoleon und Preußen). In Korrespondenz mit dieser gegenreformatorischen Politik tauchten gegenaufklärerische Ideologien mit Erziehungszielen auf, die im Jahrhundert der Aufklärung noch gar nicht virulent gewesen waren, so der Nationalismus und Patriotismus als die die Nationenbildung begleitende und unterstützende Ideologie. Der Gegenpol Internationalismus bzw. Kosmopolitismus, war bis weit in das 20. Jahrhundert nur wenig entwickelt. Nationalismus wie mangelnder Kosmopolitismus waren sicher nicht die Kriegsursachen, erhielten aber den kriegsstimulierenden Hurrapatriotismus am Leben. War im postrevolutionären republikanischen Frankreich laut Röseberg das Erziehungsziel die Entwicklung des citoyen éclairé ganz im Sinne der Aufklärung, so ging das Erziehungsideal im wilhelminischen Obrigkeitsstaat eher in 97

die Richtung des Untertanen, der trotz hoher kultureller, technischer und wissenschaftlicher Qualifikation in staatsbürgerlicher Hinsicht auf dem voraufklärerischen Niveau des ancien régime stehen geblieben war. Der gegenaufklärerische Regress begann entsprechend dem Rückwärtsgang von Gesellschaft und Politik auch in Sachen Pädagogik mit der Restauration. Nach der gescheiterten 1848er Revolution untersagten die „Preußischen Regulative“ den Lehrern und Schülern der Volksschule die Lektüre aufklärerischer Schriften. Fröbels Kindergärten wurden verboten, fortschrittliche Lehrer wie Diesterweg oder Wander verfolgt und mit Berufsverbot belegt. Die Kirche behielt Macht über die Erziehung, Nationalismus, wie Uhlig schreibt, überlagerte Toleranz, Weltoffenheit und Freiheitsideen. Dieser totale Regress hängt mit der Abhängigkeit des Bildungssystems von den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen wie überall so auch in Deutschland zusammen, wo auch alle gesellschaftspolitischen Reformen der antinapoleonischen Demokraten zurückgefahren wurden. Die reaktionäre hohenzollernsche Reichsregierung machte nach der Reichseinigung 1871 mit den meisten demokratisierenden und emanzipatorischen Restbeständen der Aufklärungspädagogik resolut Schluss. Die dann geforderte regierungsamtliche Staatstreue bedeutete in Theorie und Praxis auch die gegenaufklärerische autoritäre Kontrolle über die Jugend im Sinne von Michel Foucault. Tenoth spricht vom mit der Restauration verbundenen Griff des Staates auf Pädagogik, auf ihre Instrumentalisierung, auf den „offensiven Traditionalismus und Konservativismus“, die in das absolut antiaufklärerische obrigkeitsstaatliche Autoritätsregime der Wilhelminen mit den entsprechenden pädagogischen Konsequenzen für die Volksbildung überleiteten. Das ging soweit, dass Wilhelm II. die Schule mit der Abwehr von sozialdemokratischen und kommunistischen Ideen und „vom Elend der Aufklärung“ (wörtlich!!) beauftragte. (1992, 235) In der Weimarer Republik als demokratischer Alternative zum wilhelminischen Obrigkeitsstaat wurde die Schule zum aufklärerischen Werkzeug der Erziehung zur Demokratie erklärt, zur Erziehung des Bürgers zu einer Art „citoyen“ éclairé (Uhlig 92), doch überlebten die alten „Lebensverhältnisse“. (ibd., 94) Doch als wenn es das Weimarer Reformprojekt nie nicht gegeben hätte, kam mit dem Hitlerfaschismus das bislang aufklärungsfeindlichste Regime ans Staatsruder, das mit allen Restbeständen der Aufklärung durch polizeilichen wie geistigen Terror – durch das ironischerweise Ministerium für Volksaufklärung genannte Propagandazentrum des Ministers für Volksaufklärung und Propaganda, Goebbels – aufräumte.

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Der Nationalsozialismus räumte mit allen Restbeständen der Aufklärung durch polizeilichen wie geistigen Terror  – durch das ironischerweise Ministerium für Volksaufklärung genannte Propagandazentrum des Ministers für Volksaufklärung und Propaganda, Goebbels  – auf. Aus dem Obrigkeitsstaat wurde der Gefolgschaftsstaat, der von einem nicht gewählten „Führer“ geleitet wurde, in dem die von der Aufklärung gehasste Personaleigenschaft „fanatisch“ zu einem positiven Wertbegriff umgedeutet wurde. Die Kriegs- und Eroberungspolitik der Nazis war genauso Negation der Aufklärung wie ihr Chauvinismus, Revanchismus und Antisemitismus. Aus dem Obrigkeitsstaat wurde der Gefolgschaftsstaat, der von einem nicht gewählten „Führer“ geleitet wurde, in dem die von der Aufklärung gehasste Personaleigenschaft „fanatisch“ zu einem positiven Wertbegriff umgedeutet wurde. Die Kriegs- und Eroberungspolitik der Nazis war genauso Negation der Aufklärung wie ihr Chauvinismus, Revanchismus und Antisemitismus. Heute, auch in der Bundesrepublik, gilt die Aufklärung als wichtigster B­ezugspunkt moderner, humanistischer, kritischer Pädagogik, prägt sie Bildungstheorien und ist Grundlage pädagogischen und bildungstheoretischen Selbstverständnisses. Seit zweiter Hälfte des 20.  Jahrhunderts gehören die pädagogischen Ideen der Aufklärung zur Basisausbildung in den Erziehungswissenschaften und sind in den Lehrplänen der Schulen präsent. Die aufklärerische Pädagogik galt sowohl im Westen wie im Osten als eine Säule des Erbe- und Traditionsverständnisses von der Volksschule bis zur Hochschule. Erziehungsziel ist nach wie vor der rational gebildete, denkende und handelnde Bürger. Diesem Ziel gilt auch die Kritik an ihren alten Widersachern: Vorurteil, Fanatismus, Dogmatismus, Traditionalismus, Autoritarismus und Intoleranz. Auch Rassismus und Chauvinismus gehören zu den von ihr bekämpften und in Lehrplänen und Unterrichts- und Erziehungszielen denunzierten Phänomenen. In bezug auf Krieg und das problematische Verhältnis des reichen Westens zu den armen Ländern der Dritten Welt, den Erben des Kolonialismus, geht sie dagegen nicht über die gemäßigten Positionen der klassischen Aufklärer hinaus.

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Zweiter Teil Aufklärung als globale räumliche Erstreckung Orte und Wege Die Aufklärung war keine Lehre, sondern eine Bewegung und entwickelte sich wie alle Bewegungen in der Zeit. Sie ist insofern ein unendlicher Prozess. Der Begriff des Fortschritts, den sie prägt – ebenfalls ein Begriff der Zeitlichkeit – bezieht sich auch auf sie selber. Sie ist immer wieder gefordert, weil neue Fortschrittshemmer durch den Fortschritt selbst erzeugt werden, die sie überwinden muss, wodurch sie sich weiter entwickeln, neue Wirkungsfelder und Begründungszusammenhänge erschließen muss, die sie auf ihrem Weg der steten Erneuerung der Vernunft vorantreibt. Zugleich aber ist die Aufklärung entsprechend den Kantschen apriorischen Kategorien des Denkens nicht nur ein Verlauf in der Zeit, sondern ebenso eine bislang nicht weiter untersuchte, ja nicht einmal als solche wahrgenommene Erstreckung im Raum, eine Ausbreitung auf der Erdkugel unter den diese bewohnenden Menschen. Diese tendenzielle Aufklärung der ganzen Erdpopulation schließt die außereuropäische Welt notwendig mit ein. Sie nahm ihren Ausgangspunkt als geographisch-räumliche Ausdehnung entsprechend ihrem Ursprung im mittleren Westen Europas, in Frankreich und England, und breitete sich in gleichsam konzentrischen Kreisen mit dem Fokus Paris zunächst in Deutschland und Mitteleuropa aus und wanderte sodann weiter in Richtung Süd- und Südosteuropa sowie Südwest- und Westeuropa, wo sie sich auf die drei europäischen Halbinseln, den Apennin, die Pyrenäen und den Balkan verteilte. Schließlich überquerte sie den Atlantik und erreichte die Neue Welt, Nordamerika, die Karibik und Lateinamerika. Die Aufklärung machte also nicht nur eine zeitliche Entwicklung durch, sondern auch eine räumliche Wanderbewegung. Sie hat nicht nur ihre Geschichte, sondern auch ihre Geographie. Sie machte an keinen Länder- und Sprachgrenzen halt und erstreckte sich über die ganze Welt, orbis terrae. Diese Aufklärungsbewegung im Raum ist infolge ihres Prozesscharakter natürlich auch Verbrauch an historischer Zeit, vollzieht sich nicht auf einen Schlag, sondern sukzessive als allmähliche Aufklärung der Menschheit durch Globalisierung. Ihre Mundialisierung ist das menschheitlich wichtigste aller vorherigen und gleichzeitigen Globalisierungen, weil sie die in diesen Regionen lebenden Menschen ohne ihr Wissen einfach durch ihr Aufgeklärtsein trotz riesiger Ent101

fernungen miteinander verband, indem sie diesen eine neue zusätzliche gemeinsame Identität vermittelte. Die erste Runde dieser Globalisierungen leiteten laut dem ersten Globalisierungstheoretiker und Spätaufklärer Alexander von Humboldt die unschuldigen Pflanzen ein, die er 1794 in seiner botanisch-aufklärerischen Publikation Aus­ breitung der Gewächse über den Erdboden beschrieb als „innere vegetabile Decke, die mit mehr oder weniger Dichte die lebendige Natur über die nackte Erdkugel gezogen hat“. (zitiert bei Dill 2013, 79 passim). Ursache dieser von ihm meist als „allmählich“ bezeichneten, das heißt auch Zeit verbrauchenden Migrationen der Pflanzen, die in der totalen Besetzung des vormals leeren Erdballs kulminierte, d. h. die Motivation der Pflanzen für diese Wanderungen war Humboldt zufolge wie bei allen Lebewesen die Suche nach Lebensmitteln, den essentiellen Mineralen, auf dem anfangs toten Globus, wobei ihre „allmähliche Ausbreitung über die öde Erdrinde (...) ihre Epochen wie die Geschichte der wandernden Tierwelt“ hat. Die zweite Okkupationswelle der Erde durch die Lebewesen erfolgte daher immer laut Humboldts Ansichten der Natur bzw. seinem Kosmos durch die Tiere, ihre verschiedenen Rassen und Familien, ebenfalls auf der Suche nach ihren Lebensmitteln, den organischen Substanzen, den Pflanzen und anderen Tieren, denen sie auf dem Fuße folgten. Die anschließende dritte „allmähliche“ (d. h. sich über lange Zeitläufte erstreckende) finale Besiedlung des Erdballs durch die Menschen ist für Humboldt die massivste, folgenreichste und rezenteste Etappe der Globalisierung, für die der Mensch durch seine Freiheit und Mobilität sich von Natur aus besonders gut eignet. Humboldt nannte sie die „relative numerische Verbreitung der Menschenstämme über den Erdkörper“. (Kosmos, Bd. I, 141) Humboldt sah keineswegs den abstrakten Menschen, sondern konkrethistorisch die seefahrenden Griechen als erste Globalisierer, die vor allem die mittelmeerische Welt bereisten und kolonisierten. Ihnen folgten später andere europäische Mächte bis nach Ostasien, Schwarzafrika und dem amerikanischen Kontinent. Deren Motivation war seiner Ansicht nach nicht wie bei dem Pflanzen und Tieren die Nahrungssuche – jedenfalls nicht im unmittelbaren Wortsinn – sondern die Erkundung immer neuer Gebiete sowie deren militärische Eroberung, Kolonisierung und Unterwerfung, wobei anfangs wohl eher als nut als Nebenprodukt auch materieller Gewinn erzielt wurde, so bei den Feldzügen Alexanders des Großen der Weinanbau und die Mehrfelderwirtschaft, bei der Conquista Amerikas die Kartoffel und den Cacao. Bei diesen Erkundungs-, Kriegs- und Eroberungszügen wurden früher gesiedelte „primitivere“ und weniger zivilisierte, „barbarische“ Völker von den Siegern unterwarfen. Die Westeu102

ropäer gründeten sodann ihre Kolonien auf den Territorien der unterworfenen Stämme und begannen damit die Okzidentalisierung der ganzen Welt. Anschließend begann dann die Verbreitung der Aufklärung in Europa und danach über den Globus. Diese menschlichen Globalisierungen waren stets auch Erkundungen der außereuropäischen Räume und Verbreitung von Wissen und damit von Aufklärung über diese. Humboldt erkannte in Südamerika schnell, empirisch, dass die Aufklärung zur Eroberung des Erdballs als letzter Globalisierungsrunde ansetzte, differenzierte ihre verschiedenen Grade von Halbcultur bis Cultur, registrierte die Ankunft und das Weiterziehen der lumières auf dem amerikanischen Subkontinent und meinte, die Zivilisation habe sich nun auch „bleibend in dem Weltteil angesiedelt, dessen nördlichste Regionen weniger kalt als unter gleicher Breite die von Asien und Amerika sind. (...) Die physische Beschaffenheit von Europa hat der Verbreitung der Kultur weniger Hindernisse entgegengesetzt, als ihr in Asien und Afrika gesetzt waren“ (ibd., 66). Damit unternahm er den Versuch einer Erklärung für die in West und Süd ganz verschiedene Entwicklung und für das sogenannte Zurückbleibens der afroasiatischen und afroamerikanischen Weltteile. Er sah nach Wildheit und kolonialer Rückständigkeit Gewerbe und Landwirtschaft sich in Amerika ausbreiten: „selbst Kunstsinn, wissenschaftliche Bildung und edle Liebe zu Bürgerfreiheit sind längst darinnen erwacht.“ (ibd., 89) Das sind echte Kriterien für die Ausbreitung der Aufklärung, Er sah in Mexiko „Fortschritte der Gesittung, der geistigen Ausbildung“. (ibd., 127) Er registriert die beginnende Popularität nordamerikanischer Aufklärer in Lateinamerika: „Hier hörten wir zum erstenmal in diesem Himmelsstrich die Namen Franklin und Washington mit Begeisterung aussprechen“ (ibd., 154–5S), und er vernimmt auch die „Forderungen nach Bürger- und Menschenrechten“. Er sah den europäischen Kolonialismus als Kulturverbreiter, aber auch als Hindernis für die Ausbreitung der Aufklärung, denn, wie er wörtlich schreibt: „die Idee der Kolonie selbst ist eine unmoralische Idee (...) eines Landes, „in welchem der Gewerbefleiß, die Aufklärung (Hervorh., HOD) sich nur bis zu einem bestimmten Punkt entwickeln dürfen, jenseits dieser Grenze würde sich eine zu starke, wirtschaftlich zu selbständige Kolonie unabhängig machen“ (ibd., 158). Er sieht also den aufkeimenden Gegensatz zwischen Globalisierung als Aufklärung und kommerzieller Globalisierung, die nicht nur die Aufklärung fördert, sondern sie auch hemmt. Bedenkt man Habermas’ diesbezügliche Bemerkung, der auf den von Humboldt genannten machtpolitisch und kommerziell bedingten Widerspruch allerdings nicht eingeht, so ist in der Tat die Aufklärung ein bis heute unvollendetes 103

Weltprojekt, das sich nicht einmal in Europa außerhalb ihres Entstehungsgebietes in West-, Nord- und Mitteleuropa, nämlich in Süd- und Westeuropa, dem Apennin, den Pyrenäen und dem Balkan, und nur punktuell-insularisch in /der außereuropäischen Welt durchgesetzt hat. Die verschiedenen Aufklärungen vernetzten sich, gaben den Stab weiter. Jedenfalls war die Aufklärung die erste geistige Bewegung, in der von einem Herd ausgehend alle Völker und Populationen sich miteinander sukzessive verknüpfen. Es gab keine absolut isoliert arbeitenden Aufklärungen. Im Lichte einer Kulturgeographie erscheint die Aufklärung durch ihre ursprüngliche Fixierung auf Paris, Frankreich und Mittelwesteuropa als Epizentrum einer Lehre, die fix und fertig vom Rest der Welt übernommen werden konnte und sollte, auch in ihren nachfolgenden entwicklungsbedingten Metamorphosen. Außer dieser Proliferation gab es keine bedeutende endogene Produktion von Aufklärungsgut, – es werden einfach die Ideen und Konzepte der französischen Aufklärer übernommen un d an die einheimischen Bedingungen adaptiert. Sie hat dadurch einen vereinigenden, vereinheitlichenden, homogenisierenden, die Individuen und Völker tendenziell zur Menschheit solidarisch zusammenführenden und -zwingenden Charakter. Das macht die weltweite Verbreitung der Aufklärung zur bedeutendsten aller Globalisierungsrunden. Dabei ist klar, dass die franco-europäische Aufklärung bei ihrem Transfer in andere Gebiete entscheidend modifiziert und transformiert wurde durch ihre Adaptierung an diese fremden Geographien, durch diese Anpassungen an die ganze übrige Welt auch ein ganz anderes und vielgestaltiges Gesicht bekam. Doch in den Kolonien war die Aufklärung keineswegs nur die Verbreitung des Lichts der Vernunft, der lumières, wie Aufklärung auf französisch heißt. Dazu schreibt der kubanische Romancier Alejo Carpentier: Das 18.  Jahrhundert war das Jahrhundert des Lichts für die Philosophen, Franzosen, Enzyklopädisten, aber es war ein dunkles Jahrhundert für Millionen Personen in den Kolonien, wo die vielleicht größte Ausbeutung der Sklaven erfolgte, wo es Massaker, Tote, Kriege, Bombardierungen gab, ohne die Geheimaktionen der Geheimgesellschaften (...) alle jene Sekten von Illuminaten, Magiern, Sankt-Medardo-Veitstänzern zu zählen; es war, im Grunde, ein in gewissen Aspekten sehr barbarisches Jahrhundert. (zit. nach Dill, 1993, 250)

Humboldt demonstriert die allmähliche weltweite Ausbreitung qua Globalisierung von einzelnen Kenntnissen und Erkenntnissen, so der Algebra, des Stellenwertes der Ziffer, der Null, der Astronomie, der Chemie, also der Mathematik und der Naturwissenschaften, als Elemente der ursprünglich in Arabien, Indien, 104

China und Griechenland erfundenen und entwickelten Wissenschaften. Alle immateriellem Aufklärungsgüter migrieren. Doch geht es hier nicht um die weltweite Verbreitung irgendwelcher nützlicher Kenntnisse, sondern um solche, die der Aufklärung im engeren Sinn, also der geistigen Befreiung des Menschen von aller Subsumtion unter imaginäre oder wirkliche Herrschaft durch Natur, Mythen, Doktrinen oder autoritäre Regimes dienen. Weil sich dem Licht der Vernunft stets neue Verfinsterungen in den Weg stellen, ergibt sich ein scheinbarer ewiger Zyklus bzw. ein Endlosband Finsternis-Aufklärung-Finsternis anstelle von linear aufsteigender Evolution und Fortschritt. Die geographisch-territoriale Erstreckung der Aufklärung findet in der laut Kant endlichen Begrenzung alles menschlichen Strebens durch die Kugelgestalt der Erde, die keine Verlängerung ins Unendliche sondern höchstens endlose Wiederholungen zulässt, ein Ende. So sind nicht nur die einzelnen zeitlich aufeinanderfolgenden Etappen der Aufklärung – von den Vorläufern in der Renaissance über die Vor- und Frühaufklärung zu Beginn des 18. Jahrhunderts und ihren Gipfelpunkt in der Jahrhundertmitte bis zu ihrem Ende als eigenständiger Kulturepoche mit dem gewaltigen Schlusspunkt der Französischen Revolution und den darauffolgenden Schicksalen dieser Bewegung in der neuen, bürgerlichen Gesellschaft bis ins 21. Jahrhundert – zu bedenken, sondern auch ihre Fortbewegungen im Raum, ihre geographisch-topographischen Erstreckungen über die Erde. Nur so kann man sich ein Gesamtbild dieser Bewegung verschaffen, das in den meisten Darstellungen weitgehend noch fehlt.

Aufklärung als europäisches Phänomen in England, Frankreich, Deutschland Beginnen wir mit der von Werner Bahner mit Recht so geographisch-topologisch benannten „Aufklärung als europäischem Phänomen“. Dieser Leipziger Romanist erfasst sowohl die Gleichzeitigkeit der Aufklärung als Phänomen des 18. Jahrhunderts wie ihre Ubiquität in mehreren europäischen Ländern, verfolgt aber nicht ihren Weg, noch registriert er die ortsrelevanten Bedingungen, Hindernisse und Veränderungen, auf die sie unterwegs stößt. Historisch entstand die Aufklärung zuerst in England, nicht in Frankreich. Auf den britischen Inseln erfolgte die erste stofflich-wissenschaftliche Aufbereitung dieser Materie, des neuen Denkens, von Bacon und Hobbes bis Locke und Hume, Erkenntnisse, welche sich andere europäische und überseeische Populationen als fertige aneigneten, ohne dass die Briten, vielleicht auch wegen ihrer 105

Insellage, einen diesbezüglichen Propagandismus oder Proselytismus entfalteten. Die britische Aufklärung war erster Anstoß für die sich dann selbständig zu einer richtigen Bewegung entwickelnde französische Aufklärung und deren nachfolgenden Ausweitung zu einer europäischen und dann Weltbewegung. Es gab in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts enge persönliche Kontakte zwischen den Aufklärern Frankreichs und Englands, die die Aufklärungsbewegung enorm förderten, man denke an den folgenreichen Aufenthalt von Voltaire in England, das er als Vorbild einer konstitutionellen Demokratie mit einer sehr aufgeklärten Bürgerschaft schätzte. Nach einem Rousseaubesuch in London weilte Hume längere Zeit bei diesem in Frankreich, und der aufklärerische britische Ökonom Adam Smith, Verfasser der ersten wahrhaft wissenschaftlichen und aufklärerischen, viele Irrtümer zumal der Physiokraten korrigierenden Wirtschaftslehre, der Richesses of the Nations, besuchte die französischen Physiokraten Turgot und Quesnay in Paris und verkehrte mit den radikalen französischen Aufklärungsphilosophen Helvétius und Holbach. Auch waren natürlich die britischen Philosophen und Gesellschaftstheoretiker Hobbes und Locke sowie der Naturwissenschaftler Newton – über letzteren ließ sich Voltaire sehr angelegentlich aus – in Frankreich sehr bekannt und einflussreich, so dass man in dieser Anfangsphase von einer binationalen Aufklärungsbewegung beider Länder sprechen kann. Der für die französische Aufklärung wohl bedeutendste britische Einfluss resultierte aus der politisch-ökonomischen Praxis Englands, namentlich seiner parlamentarischen Demokratie und unabhängigen Justiz, was Montesquieu im Geist der Gesetze (228) als Gewaltenteilung bezeichnete: Il y a dans chaque etat trois sortes de pouvoir, la puissance législative, la puissance exécutive, lesquelles dépendent du droit des gens (gentium), et la pusissance exécutrice de celles qui dépendent du droit civil. Dass es in jedem Staat drei Sorten von Gewalten gibt, die legislative Gewalt, die exekutive Gewalt, die beide dem Menschenrecht (ius gentium) untergeordnet sind, und die exekutive Gewalt, die zum Zivilrecht gehört.

Damit meinte er gleichwohl auch die Machtteilung zwischen König, Parlament und noblesse de robe (der Beamtenschaft), also zwischen denjenigen Ständen, die diese jeweiligen „Gewalten“ arbeitsteilig okkupierten, aber in Frankreich unter dem Absolutismus an König Louis XIV. verloren hatten. Die französische Aufklärung zog begünstigt durch die kontinentale Nachbarschaft alle anderen europäischen Regionen, auch die Britischen Inseln, in ihren Bann auch dank der Superiorität und des hohen Ansehens der französischen Kultur. Namens der populistischen Fraktion der Aufklärung formulierte Rousseau die moderne Staatsauffassung Montesquieus in die Begriffe „Sozialvertrag“ 106

und „Volkssouveränität“ um und lieferte damit die politisch-staatstheoretische Grundlage der Französischen Revolution, die in der Gleichheit der drei Gewalten auch die Gleichheit der drei gesellschaftlichen Kräfte, die sie repräsentierten, und damit das Gleichheitsgebot der Aufklärungsdoktrin zu verwirklichten glaubte. Trotz der zeitlich-historischen Priorität Londons bzw. Englands wurde Paris bald zur eigentlichen Welthauptstadt der Aufklärung nicht erst infolge der spektakulären Französischen Revolution von 1789. Hatte London mehr die Wirtschaft und Naturwissenschaften und die politisch-gesellschaftliche Praxis im Blick, so die Franzosen die Gesellschaftstheorie, die Kultur und die Künste sowie die Philosophie. Auf dem ganzen europäischen Kontinent, aber auch in Übersee übte vor allen anderen Nationen Frankreich den meisten aufklärerischen Einfluss aus. Den Engländern fehlte die von den Franzosen geübte Agitation und Propaganda, das Einwirkenwollen auf die Menschen, dieses eigentliche Anliegen des siècle des lumières, das im Deutschen in der Vokabel Aufklärung mitschwingt. Was Deutschland als den Juniorpartner der französischen Aufklärung betrifft, so haben alle DDR-Forscher wie Werner Krauss und die Autoren des Kollektivbandes Französische Aufklärung diesem Land einen enormen Rückstand zu den beiden Hauptländern der Aufklärung und damit zu dieser überhaupt bescheinigt, was allerdings für den übergroßen Teil der Menschheit, den Normalpegel, noch viel mehr zutrifft: Frankreich und England waren mit den Niederlanden und einigen skandinavischen Exklaven wohl die absolut anormalen einsamen Avantgarden oder „fortgeschrittenen“ Inseln der Zeit. Die deutschen Aufklärer, nach den Engländern und Franzosen die „fortschrittlichsten“ im damaligen Weltmaßstab, spielten eine sekundäre, also nicht unwichtige Rolle beim Aufbau des Netzes der europäischen Aufklärung: der Pfälzer Baron von Holbach sorgte durch seine vielen Übersetzungen aus deutschen Geologiewerken sowie durch seine daraus resultierenden Bücher und mehrere Hundert Enzyklopädieartikel für die materialistisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung der an sich traditionell rationalistischen, also mehr ideologischen französischen Aufklärung. Da in dem überwiegend protestantischen Deutschland kaum eine Zensur herrschte und der Index librorum prohibitorum folglich nicht griff, wurden viele Werke der französischen Aufklärer und Holbachs außer im holländischen Amsterdam auch in Kehl und Köln gedruckt. Der aus Regensburg stammende und in Gotha verstorbene Melchior Grimm sorgte durch seine Correspondance littéraire für die auswärtige Propaganda der Bewegung auch unter den gekrönten Häuptern Europas und für inneren Zusammenhalt und Versöhnung der oft zerstrittenen Pariser Enzyklopädisten. Die deutsche Aufklärung hatte ihrerseits auf dem Balkan einen fast mit der französischen gleichzusetzenden Einfluss und Ruf. 107

Es lebte auch eine große Zahl radikaler französischer Aufklärer wie Friedrich II. und La Mettrie – ganz abgesehen vom dreijährigen Aufenthalt Voltaires – in Potsdam/Berlin. Und die nur brieflich und durch Drucksachen geführte „Berliner Debatte“ über die Neue Welt und den Kolonialismus wurde auf französisch von teils in Berlin, teils in Paris residierenden, aber meist in Deutschland auf französisch publizierenden Autoren im Geiste Rousseaus geführt. Unter ihnen waren Antoine-Joseph de Pernety, preußisches Akademiemitglied und Bibliothekar Friedrich des Großen, einstmals Schiffskapitän auf Bougainvilles berühmter Weltumsegelung, der Vorleser von Friedrich  II., der holländische Abbé Corneliusz de Pauw, ferner der Franzose Raynal, prominenter Vertreter der französischen Aufklärung und Mitautor des ersten Buches über die Welt der Kolonien. Die These von Bahner/Krauss’ (99) von der im Gegensatz zum französischen Atheismus stehenden christlich-religiösen Ausrichtung der deutschen Aufklärung speziell durch den Einfluss des evangelischen Pfarrhauses  – was sicher stimmt  – ist zumindest einseitig. Auch der Satiriker Christoph Martin Wieland und die beiden Forster müssen als prominente deutsche Aktivisten der Aufklärung neben Campe, Herder, Humboldt und Kant Erwähnung finden. Nur aus einer Perspektive, die Friedrich II. nicht als Aufklärer und Holbach und Grimm, die beide in manchen französischen Publikationen als deutsche Mitglieder der französischen Aufklärung verzeichnet sind, als Franzosen rechneten, kam ein solches schiefes Bild heraus.

Siècle des lumières vs. Aufklärung Das französische Siècle des lumières und die deutsche Aufklärung waren nach der vorangegangenen englischen die wohl bedeutendsten Aufklärungen. Hegel erklärt diese beide sogar zu den einzigen wirklichen Aufklärungen, wobei er aber aus seinem gewohnten Westeuropazentrismus heraus die Aufklärungen anderer Länder und Völker gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. An dieser großen Epoche in der Weltgeschichte sind (...) haben nur diese zwei Völker teilgenommen das deutsche und das französische Volk, sosehr sie entgegengesetzt sind oder gerade weil sie entgegengesetzt sind. Die anderen Nationen haben keinen Teil da­ ran genommen (Hegel 1971, 3, 464)

Hegel betont die Überlegenheit der französischen Aufklärung und ihre Rolle als Lehrmeisterin der deutschen und nennt Kant, Fichte und Schelling die Höhepunkte der Aufklärung tout court. Die Aufklärung war als rein geistiges Phänomen auch für Deutschland trotz politisch-ökonomischer Unterentwicklung erreichbar, während in Wirtschaft und Politik die Engländer und Franzosen 108

unüberholbar weit vorn lagen. Mit dem deutschen Aufklärer Grimm war eine gewisse personale Verzahnung beider Aufklärungen gegeben. Man kann sagen, dass erst mit der Aufklärung, sieht man von einzelnen Vorgängern wie dem spätmittelalterlichen Kölner Philosophen Albertus Magnus, von Agrippa von Nettesheim, Nikolaus von Kues und natürlich Gottfried Wilhelm Leibniz ab, eine intensive französisch-deutsche Intellektuellen-Kooperation einsetzte, die sich später leider wieder verlor. Diese Beziehungen begannen mit der tiefgehenden und intensiven Rezeption der französischen durch die deutsche Aufklärung, die einem Schüler-LehrerVerhältnis glich: in gewissem Sinne könnte man sogar von einer wenn auch den deutschen Verhältnissen angepassten sehr freien „Übersetzung“ alles Aufklärerischen aus dem Französischen ins Deutsche sprechen, wobei die englische „enlightenment“ auf Grund der fortgeschrittenen Verhältnisse auf den Britischen Inseln bereits ein Jahrhundert früher als die französische erblühte und ihrerseits diese direkt beeinflusste. Die deutschen Lehrjahre setzten mit den Aufklärerreisen über den Rhein nach Frankreich ein, so von Herder nach Nantes, der Stadt des Toleranzedikts Heinrichs IV., und wurden fortgesetzt mit den „Wallfahrten“ von Joachim Heinrich Campe, Wilhelm von Humboldt, Johann Reinhold Forster, Georg Forster und Alexander von Humboldt nach Paris als der Stadt der Aufklärung und der Französischen Revolution, in welcher letzterer den produktivsten Teil seines Lebens verbrachte. War Preußen der bevorzugte Exilort für prominente heterodoxe französische Denker im 18., so wurde Frankreich im 19. Jahrhundert das Gastland für von der deutsch-preußischen Reaktion gejagte Dissidenten wie Ludwig Börne, Heinrich Heine und Karl Marx. Auch sonst waren die Beziehungen zwischen deutschen und französischen „Aufklärern“ bedeutsam. In Deutschland waren wie erwähnt viele Schriften der französischen Aufklärer ediert oder gedruckt worden. Im Gegenzug wirkte der vom preußischen König berufene Franzose Maupertuis, der eine geistreiche Fortsetzung von Leibnizens Monadologie schrieb, als preußischer Akademiepräsident in Berlin. Der preußische König Friedrich II. war kulturell kein Deutscher, sondern ein Franzose. Er schrieb nur französisch, beherrschte diese Sprache fast wie ein Muttersprachler und drückte eine höchst abschätzige, nur aus seiner Francophilie heraus stimmige Meinung über die deutsche Literatur aus – immerhin hatten Klopstock, Lessing, Moritz und Goethe bereits weltliterarisch bedeutende Werke zu seinen Lebzeiten publiziert – und umgab sich nur mit französischen Geistesgrößen, die auch seine hauptsächlichen Korrespondenzpartner waren, während 109

er – gewiss nicht zufällig – die Deutschen bzw. Preußen nur als Militärs in seiner Umgebung duldete. Voltaire war sein geistiger Ziehvater und inspirierte den ano­nymen, Friedrich zugeschriebenen staatspolitischen Antimachiavell. Friedrich II. gewährte als Aufklärer vielen vom royalen französischen Regime verfolgten oder bedrohten Persönlichkeiten als seinen geistigen Compatrioten politisches Asyl und damit verbundene Sinekuren. Voltaire lebte wie erwähnt drei Jahre auf Einladung des Preußenkönigs in Berlin bzw. Potsdam. Prominenter Exulant war der radikalste, selbst aus den liberalen Niederlanden wegen seines Atheismus vertriebene Aufklärer La Mettrie, Autor von L’homme machine (Der Mensch als Maschine), der nur noch in Berlin einen Fluchtpunkt finden konnte. Friedrich  II., der nachweislich Gedanken und Begriffe Rousseaus in seine Schriften übernahm, zum Beispiel die Antinomie Freiheit-Ketten (vgl. dazu Brunhilde Wehinger, 2013, 95), gewährte diesem in der preußischen Enklave Neuchâtel in der Schweiz politisches Asyl, was von Rousseau, der aus seiner Antipathie gegen den König wegen dessen Kriegstreibereien nie ein Hehl gemacht hatte, akzeptiert wurde. Es gab nie wieder eine solche Allianz der Intellektuellen beider Länder, sie existierte nur und ausschließlich im aufklärerischen 18. Jahrhundert, auch nicht entre les deux guerres. Diese Beziehungen waren einseitig und „unegal“, insofern zwischen dem westeuropäischen Einheitsstaat Frankreich mit den sich stark entwickelnden Manufakturen, einer bemerkenswert fruchtbaren intellektuellen, sowohl künstlerisch-literarischen wie wissenschaftlichen Kultur, und seinen reichen Kolonien einerseits, und den in viele kleine Teilstaaten fragmentierten, agrarischen und zurückgebliebenen armen deutschen Landen andererseits große Unterschiede bestanden, so dass es eine einheitliche Aufklärungs-Bewegung beider Länder auf die Dauer nicht geben konnte, die sich folglich in die deutsche „Aufklärung“ und die französischen „lumières“ spaltete – eine nicht nur sprachliche Differenz. Die Übernahme der Ideen der französischen Aufklärer durch die deutschen Denker war an sich schon so etwas wie eine an die zurückgebliebenen deutschen Verhältnisse angepasste „Übersetzung“, was sich nicht nur in der geistigen Grundhaltung, sondern auch im Vokabular ausdrückte, das den Verschiedenheiten Rechnung tragen und gleichzeitig die Gemeinsamkeit des Anliegens zum Ausdruck bringen musste, nämlich in der Differenz zwischen „Aufklärung“ (Singular) und „lumières“  =  Lichter (Plural), bzw. sogar in der gegenüber der deutschen zeitlichen Unentschiedenheit eindeutigen französischen temporalen Zuordnung „le siècle des lumières“, das Jahrhundert oder Zeitalter des Lichts. 110

„Aufklärung“ als Begriff ist im deutsch-französischen Vergleich ein onomastisches Problem. In Frankreich und Deutschland hat „Aufklärung“ zwei ganz andere Namen mit unterschiedlicher Semantik, was bedeutet, dass sie nicht ohne weiteres gegeneinander austauschbar bzw. nicht einfach von einer in die andere Sprache ohne Bedeutungsverlust bzw. ohne Bedeutungsveränderung übersetzbar sind. Dtsch. „Aufklärung“ ist nicht semantisch gleichbedeutend mit frz. „les lumières“ (die Lichter, das Licht), wozu noch als quasi Doublette „le siècle des lumières“ kommt, das Jahrhundert des Lichts, also eine zeitliche Präzisierung beziehungsweise Reduzierung auf das achtzehnte Jahrhundert, derer das mehr Endlosigkeit ausdrückende deutsche Pendant entbehrt, die aber meiner Ansicht nach von grundsätzlicher Bedeutung für die Differenzierung beider Aufklärungen ist. Auch das engl. „Enlightenment“ (Erleuchtung, Licht), obwohl laut Bahner eine Lehnübersetzung im frühen 19. Jahrhundert aus dem Deutschen, bedeutet nicht ganz dasselbe wie der deutsche Ausdruck, scheint durch den semantischen Kern „light“ (Licht) sogar eher dem französischen lumière nahe zu stehen, was man auch von der spanischen Bezeichnung „Ilustración“ sagen könnte, in der die Wurzel „Luz“ = Licht denselben Sachverhalt konnotiert. „Aufklärung“ ganz allgemein meint im Deutschen nicht schlechthin das Belehren eines Individuums durch ein anderes, sondern eine Handlung, mittels welcher ein Individuum oder mehrere Individuen durch ein anderes über einen Irrtum – „Irrtum“ war ein Hauptschlagwort der Aufklärer –, über eine falsche Sicht der Dinge oder über nicht wahrgenommene Zusammenhänge und Hintergründe und damit wegen seiner „Unwissenheit“ „eines Besseren belehrt wird“, wie es in der naiven Alltagssprache oft in solchen Fällen heißt. Nicht auf das Belehren an sich, sondern auf das Belehren eines Besseren, nämlich des Ersatzes eines Vorurteils oder Irrtums durch moderne Kenntnis kommt es an. Diese alltägliche Konnotation des Terminus schwingt in „die Aufklärung des Kindes“ durch Erwachsene über dessen irrtümliche Sichten der Umwelt mit, wozu auch die sexuelle Aufklärung gehört, an die man gemeinhin zuerst beim Wort „Aufklärung“ denkt – eine im Französischen wie im Englischen semiologisch undenkbare Gedankenassoziation – mittels welcher kindlich-naive, märchenhafte Vorstellungen über Herkunft und Entstehung der Kinder, zum Beispiel ihre Herbeibringung durch den Klapperstorch, als falsch dargestellt und durch die Schilderung der wirklichen, biologischen, anatomischen und physiologischen Vorgänge von Zeugung und Geburt, durch „bessere Kenntnisse“ mittels Aufklärung ersetzt werden. Dieses Beispiel bezöge sich im übertragenen Sinne auf die Relation zwischen den „Mythen“ als „phantastische“, obsolete, aus 111

der Kindheit der Menschheit stammende Traditionen vs. wissenschaftlich überprüfbare Gewissheiten des majorennen homo sapiens. In diesem belehrenden Sinn als Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Aufklärer und Aufzuklärendem verstand sich die deutsche „Aufklärung“, zumal hier von einer Generation zur anderen ein weitverbreiteter Erkenntnisrückstand schnellstens aufgeholt werden sollte, was oft ohne Zwang und Gewalt bzw. Nötigung nicht abging, worin auch Kant und Fichte den untilgbaren Grundwiderspruch jedweder Aufklärung erblickt hatten. Demgegenüber geht die französische Bezeichnung „Jahrhundert des Lichts“, le siècle des lumières, bzw. les lumières auf eine religiös-philosophische Tradition zurück, auf die in der Antike fast zu einer Weltreligion aufgestiegene Lehre des orientalischen Manichäertums, die die Welt in himmliches geisterfülltes Licht und dunkle Materie zweiteilte, wobei das Licht der Geist, die Materie der Körper war, dessen man sich als guter Christ durch Askese zu entledigen trachtete. Das Christentum, das den Körper als sündig ansah, übernahm diese Lehre als Ausdruck der Opposition zwischen dem Licht des Glaubens und der Finsternis der physischen Materie, was dem Hell-Dunkel-Gegensatz zwischen Tag und Nacht entsprach. Das Französische drückte im Unterschied zur Subjekt–Objekt–Dialektik des Deutschen nicht die Beziehungen zwischen Personen als Subjekt-Subjektbeziehungen qua Akteuren eines Belehrungs- und Bekehrungsprozesses aus, sondern zwischen Begrifflichkeiten als unterschiedlichen geistigen Entitäten: das Licht des Denkens vertreibt die Finsternis von Mythos, Aberglauben, Wunderglauben, Fanatismus und Vorurteil, diesen begrifflichen Hauptfeinden der Aufklärung. Der Übergang von Schatten zu „Licht“ bezeichnet auch einen Paradigmenwechsel, vom Belehren zur philosophischen Debatte auf gleicher Augenhöhe. Diese sprachlichen Unterschiede zwischen beiden Bezeichnungen für dieselbe Sache würden sich auf einer sprachphilosophischen Analyseebene meines Erachtens im Sinne des Wittgensteinschen Begriffs der Lebensform auch als Differenz beider nationaler Lebensformen – „eine Sprache vorstellen heißt sich eine Lebensform vorstellen“ schrieb der österreichische Philosoph (Wittgenstein 1960, 296) – und damit von zwei innerhalb der gemeinsamen okzidentalen Zivilisation durchaus historisch, sozial und kulturell unterschiedlichen Typen von „Lebenswelt“  – der deutschen und der französischen  – darstellen lassen: „Lebenswelt“ fungiert hier als ein wissenschaftlicher Terminus, dessen spezifische Anwendung auf die praktische – nicht auf die philosophische – Aufklärung ich bereits vorgenommen habe (zum Begriff „Lebenswelt“ bei Husserl, Schütz und Habermas, vgl. Sierra 2013). 112

Doch es gibt auch semantisch-begriffliche Überschneidungen zwischen den Bezeichnungen „Aufklärung“ und „lumières,“ die auf der gemeinsamen Zugehörigkeit beider Völker zur okzidentalen Kultur beruhen. Die in den romanischen Sprachen statt der deutschen Opposition „Kindheit vs. Erwachsenenalter“ übliche bereits genannte Licht- und Schattenmetapher sieht die neue Denkweise nicht so sehr als Besserwissen, sondern vielmehr als Tageslichthelle der Aufklärung im Gegensatz zum vorherigen Nachtdunkel des Mythos, und damit ist eine Verwandtschaft mit dem deutschen Begriff „Aufklärung“ gegeben, insofern in diesem das Sem „klar“ steckt, das als Synonym für „licht“ und „hell“, für lumières als geistiges Klarwerden, für Auf„klaren“ bzw. Aufklärung betrachtet werden kann, und das, vor allem, die deutsche Entsprechung zu éclairé in den Zusammensetzungen ci­ toyen éclairé und roi éclaré ist, zwei Zentralbegriffe der französischen lumières. Jacques Vier bedient sich der clair-obscur-Symbolik zwecks Periodisierung seiner Geschichte der französischen Literatur (1965), indem er eine Zweiteilung in dem dem 18.  Jahrhundert gewidmeten Band vornimmt: den ersten Teil, die Frühaufklärung, nennt er Brumes d’Aurore, Morgennebel, den zweiten, die Hochaufklärung, Les lumières, das Tageslichtleuchten. Im deutschen Terminus „Aufklärung“ steckt wie im französischen die Vorstellung von „Erleuchtung“ für denselben geistigen Vorgang des VernunftAnnehmens, der Lossagung von den Ammenmärchen bzw. Mythologien, die Anerkenntnis der diesseitigen Wirklichkeit wie sie ist, des „Sich-Klar-Werdens“ durch logisches Denken, also durch interiorisierten Rationalismus. Umgekehrt entspricht der ursprünglichen Semantik des deutschen Wortes „Aufklärung“ als juristischem Majorenn— und Erwachsenenwerdens des Jugendlichen und damit seines „Zur-Vernunft-Kommens“ bzw. „Zur-Vernunft-Gebrachtwerdens“ das französische l’Age de la Raison, englisch the Age of Reason. Beide Ausdrücke bedeuten „Alter der Vernunft“ und damit „Erwachsenalter“. (Auf diese Doppelbedeutung als Zeitalter der Geschichte wie als Lebensalter des Individuums bezieht sich sowohl die Flugschrift Common Sense des nordamerikanischen Aufklärers Thomas Paine als auch der Roman L’âge de la raison von Jean-Paul Sartre). Insofern existiert Korrespondenz, wenn auch nicht Identität zwischen „Aufklärung“ und „siècle des lumières“. Immanuel Kant, der die Aufklärung als Zeitalter der Vernunft, d. h. der rai­ son verstanden hat, rief den Menschen zu, sie sollten es doch wagen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, sich zu denken getrauen. Er spielte mit dieser Doppelbedeutung, als er in seiner berühmten Definition die Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bezeichnete, wobei „Unmündigkeit“ die juristische Form von Kindheit und Unreife, 113

also eine Generationsbezeichnung ist, der als implizites Gegenteil „Mündigkeit“, also Volljährigkeit und damit das „Erwachsenenalter“ des Menschen wie der Menschheit gegenübersteht. „Aufklärung“ und „Zeitalter der Vernunft“ und damit implizit „Enlightenment“ bzw. „Siècle des Lumières“ werden so zu Synonyma, die das Erwachsenenwerden des Menschen sowohl als Individuum wie auch als Gattung bezeichnen. In diesen Onomastica und Begrifflichkeiten steckt immer der Terminus „Vernunft“ und seine verwandten Begriffe Verstand und Räson. Die neuen Lehren verwiesen auf Verstand bzw. „Vernunft“ = ratio als Instrument allen Erkenntnisund Wissensgewinns anstelle der früher in Anspruch genommenen göttlichen, übermenschlichen, geoffenbarten mythologischen Instanzen und Medien. Dies war der größte geistige Paradigmenwechsel der Neuzeit, wie es die Französische Revolution auf politischem Gebiet war. Diese Betrachtungen tangieren die früher häufige, heute als obsolet geltende sogenannte Basis-Überbau-Dialektik und die doch noch immer sehr plausibel klingende Behauptung, dass die herrschenden Gedanken einer Epoche stets die Gedanken der herrschenden Klasse waren. Im französischen 18.  Jahrhundert war die herrschende Klasse die von Krone und Kirche politisch und ideologisch gestützte und geführte Feudalität, und die dieser Trinität verbundene katholischchristliche mittelalterliche Ideologie war ihr „Überbau“. Die „Aufklärung“ spielte dagegen die Rolle einer oppositionellen, minoritären, dissidentischen Geistesbewegung, die als Projekt und daher nicht als Realität über eine andere materielle, nicht herrschende, sondern oppositionelle Basis verfügte: die in Frankreich heranreifende bürgerliche Gesellschaft mit ihren oben schon genannten neuen ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Parametern. In Deutschland/Preußen dagegen herrschte nach wie vor das ancien régime unumschränkt, monopolistisch, so dass sich die Frage stellt, wie dort überhaupt eine Aufklärung als oppositionelle, dissidentische Ideologie zustande kommen konnte, zumal angesichts der notorischen „Zurückgebliebenheit“ dieser Lande. Sie war sozusagen „Überbau“ ohne „Basis“, während die später zu behandelnde Revolution in Haiti eher eine Basis ohne Überbau war. Man könnte sagen, die dazugehörige Basis wurde von der externen modernen Entwicklung in der übrigen fortgeschrittenen Welt, in England, Frankreich, den Niederlanden und Rheinpreußen, geliefert, denn Denken kann stets von der lokalen Unmittelbarkeit abstrahieren, den Ort wechseln, ist omni-ubiquitär. Hegel hat vor diesem Hintergrund eine verblüffende Antwort gegeben, indem er die damalige neueste deutsche Philosophie, den deutschen transzendentalen 114

Idealismus von Kant, Fichte und Schelling, sich selber eingeschlossen, als den Überbau des Frankreich der französischen Revolution als ihrer Basis betrachtete, eine gewagte Beziehung also zwischen Deutschland und Frankreich, die die sehr weit auseinanderliegenden Entfernungen zwischen dem französischen 18. Jahrhundert und dem auf halbem Weg, um ein halbes Jahrhundert, zurückgebliebenen Deutschland überwand. Der deutsche Idealismus als gedachter Überbau der Französischen Revolution ist möglich dank der empirismusfreien Ubiquität des philosophischen Geistes. Hegels die Nationen und Epochen überquerende Erkenntnis des Charakters der deutschen Philosophie, und nicht der französischen Aufklärung, als des geistigen Überbaus des revolutionierten Frankreich lautet folgendermaßen: In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in der letzteren Zeit in Deutschland fortgeschritten ist: ihre Folge enthält den Gang, welches das Denken genommen hat: (...) In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt. (Hegel 1971, 3, 464)

Die mediterran-atlantische Aufklärung in Italien, Spanien, Portugal Es gehört zu den Besonderheiten der Aufklärung als paneuropäischen Phänomens, dass ihre von Frankreich ausgehende, strahlenförmige, beinahe konzentrische Ausbreitung drei so unterschiedliche, an drei südlichen Extremen des Kontinents gelegene Halbinseln wie die Pyrenäenhalbinsel im Westen, die Apemninhalbinsel im Süden und die Balkanhalbinsel im Osten nahezu gleichzeitig erfasste, jedoch mit in allen drei Regionen stark unterschiedlichen Ergebnissen, die infolge des immer gleichen Ausgangspunktes Frankreich bzw. Paris nur auf die Differenzen zwischen den Empfängerregionen zurückzuführen sind. Was Italien betrifft, so ist das Land im 18. Jahrhundert genau wie Deutschland in verschiedene Regionen bzw. (Stadt)staaten zerfallen, so dass die Verbreitung der Aufklärung in beiden Regionen ähnliche Ergebnisse zeitigen müsste, und es gibt in der Tat einige Parallelen bis hin zur nahezu gleichzeitigen nationalen Einigung beider Länder 1870/71. Aber schon der oberflächlichste Vergleich erweist, dass diese strukturelle Ähnlichkeit nur zufällig ist. Die Partikularität der Aufklärung auf der Apenninhalbinsel – und ihre flagranten Unterschiede zu Deutschland, Frankreich und England und damit der spezifische Charakter der italienischen Aufklärung – beruht ganz entscheidend auf dem kulturellen Profil des Landes, wobei auch das Fehlen von Merkmalen ein charakteristisches Merkmal darstellt. Die Besonder115

heit resultiert aus der italischen Geschichte, genauer aus der Kulturgeschichte Italiens, die sich wesentlich von den anderen europäischen Ländern durch ihre besondere Rezeptivität unterscheidet. Das regional zersplitterte, als Land ähnlich wie Deutschland inexistente Italien ist anders als die obengenannten Länder, insofern es nicht wie jene im 18. Jahrhundert einen Einheitsstaat bildete. Dadurch musste es auch in mehrere Aufklärungen zerfallen, in die toskanische, lombardische, venezianische und napolitanische, die durchaus eigene Charakterzüge aufweisen. Es war ferner anders als jene und auch anders als Deutschland, weil es teilweise von Fremdmächten beherrscht wurde, so dass die Frage der Freiheit und damit auch der Befreiung eine besondere Rolle spielte wie ähnlich auch auf der Balkanhalbinsel. Eine weitere aufklärungsrelevante Partikularität Italiens besteht in der prägenden und konfliktiven Präsenz des Vatikans und der katholischen Kirche  – zwei verwandte und doch zu trennende Faktoren. Der Vatikan war in Italien auch eine weltliche Macht, darüber hinaus aber eine weltpolitische Macht erster Ordnung, die Inhalt und Verlauf der Aufklärungen in der ganzen Welt, vor allem in Ländern mit ganzer oder teilweise katholischer Population, jahrhundertelang entscheidend determinierte. Für die Geschichte der Aufklärung ist aber nicht nur die katholische Konfession als solche wichtig, sondern gleichermaßen die des Protestantismus, der durch seinen Kampf um Toleranz das hier allein interessierende Phänomen der Aufklärung überhaupt erst ins Leben rief, so dass man sich fragen muss, ob es je ohne den Protestantismus überhaupt eine Aufklärung gegeben hätte mit ihrer ganzen historischen und kulturellen Dynamik, die Europa in Mobilität versetzte und über den Okzident die ganze Weltmechanik, die von da an keine Ruhe mehr fand und Weltgeschichte machte. Der in Frankreich, Deutschland und England geradezu toleranz- und aufklärungsherausfordernde Protestantismus fehlte aber in Italien vollkommen und damit auch das Schisma, die Teilung der christlichen Bevölkerung in Katholiken und Protestanten. Das Trientiner Konzil, das die Gegenreformation beschloss, fand in Italien statt. Doch es gab eine wenn auch stärker als in den protestantischen oder bikonfessionellen Ländern vom Vatikan abgebremste Aufklärungsbewegung in Italien auch ohne Protestantismus, weil der Einfluss der Aufklärung sich infolge der neuen Kommunikationsverhältnisse, vorzüglich auch durch den Buchdruck, sowie über die Universitäten gewissermaßen jenseits der Konfessionen einschlich, wenngleich in Italien nicht ohne Konflikte, man denke an die vielen Opfer der Inquisition in diesem Land, an die Schicksale Campanellas, Giordano Brunos und Galileo Galileis. 116

Dennoch fällt auf, dass die stürmische Entwicklung der Naturwissenschaften und besonders der Erdwissenschaften sowie der Astronomie in Italien, die im Widerspruch zur christlichen Offenbarungslehre standen, im 18. Jahrhundert zu Ruhe kam, so dass auch keine Konfliktaustragung mehr stattfand. Es gab ferner mangels Protestanten keine Intoleranz, so dass das Problem der religiösen Toleranz sich nicht stellte, wie auch auf der Pyrenäenhalbinsel nicht, wo ebenfalls der Katholizismus nach Ausweisung der Juden und Muslime die nie in Zweifel gestellte ideologische Alleinherrschaft ausübte. Dennoch blieben die vom Vatikan verordnete Unfreiheit des Denkens, die kanonischen Rechtsnormen der Justiz, die Knebelung der Wissenschaften, das Fehlen der Presse- und Meinungsfreiheit, es blieben Inquisition und Zensur, also die Hauptthemen der Aufklärung auch in Italien auf der Tagesordnung. Aufgrund der historischen Erfahrungen mit dem weltlichen Autoritarismus von Vatikan und katholischer Kirche bekam die italienische Aufklärung von vornherein ihren antiklerikalen, besonders auch antivatikanischen – nicht antireligiösen  – Grundzug, der sich in der privilegierten Forderung nach Abschüttelung und damit Befreiung der Gemeinwesen von der Vorherrschaft der Kirche und nach Trennung von Staat und Kirche ausdrückte, was jedoch erst im 20.  Jahrhundert wenigstens teilweise erreicht wurde! Zugleich wurde die Trennung von Wissen und Glauben, ein weiterer Grundzug der europäischen Aufklärung, weit stärker als in Frankreich und England und als auf dem Balkan und den Pyrenäen nötig, wo deine moderne Wissenschaftsentwicklung noch gar nicht auf der Tagesordnung stand, die aber in Italien seit der Renaissance eine lange Tradition hatte. Aus den Publikationen wird, auch wenn meist keine Namen genannt werden, der starke Einfluss der französischen und überhaupt der europäischen Aufklärer deutlich, so in den Schriften des napolitanischen Juristen Pietri Giannone, der die französische (Descartes, Gassendi), portugiesisch-jüdische (Spinoza) und deutsche Aufklärung (Thomasius, Christian Wolf) kannte und verarbeitete; er brachte kritisch das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Macht und die politische Rolle der römischen Kurie in seiner von Montesquieu und Voltaire begrüßten Storia del regno di Napoli zur Sprache, in der er auch die Missbräuche der Geistlichkeit, ein Lieblingsthema der Aufklärer, anprangerte. Die Jesuiten trieben ihn dafür ins Exil nach Wien, da kein italienischer Staat ihm Asyl gewährte – so stark war der Einfluss des Vatikan – und er schwor wie einst Galilei in Bologna vor der Turiner Inquisition ab, die ihn dennoch bis an sein Lebensende ins Gefängnis sperrte. Im postumen Triregni beschuldigte er die Kirche, als Feudalmacht die wirtschaftliche Entwicklung Italiens zu bremsen. Die ita117

lienische Geschichte erweist, dass der Weg der Aufklärer sehr dornenreich war und genau so viele Märtyrer wie das Christentum während der Verfolgungen im spätrömischen Reich hatte. Die Trennung von Wissenschaft und Glauben und die Förderung der Experimental- und Naturwissenschaften und des Naturstudiums überhaupt verlangte der Aufklärer Ludovico Antonio Muratori, Bibliothekar und Archivar in Modena, dessen wissenschaftsreformatorische Ideen bis in Österreich und Portugal Verbreitung fanden. Besonders groß auch auf Grund der häufigen Prozesse zur Unterdrückung der Gewissens- und Denkfreiheit sowie der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung war in Italien die Zahl der für die Aufklärung wirkenden Juristen. Der bedeutendste von ihnen war zweifellos der Mailänder Rechtstheoretiker Graf Cesare Beccaria (1738–94), wohl der bedeutendste Jurist der Aufklärung überhaupt. Vom „aufgeklärten Fürsten“ erhoffte er sich ähnlich wie zwei Jahrhunderte zuvor Niccolò Machiavelli und wie sein Zeitgenosse Voltaire entschiedene Maßnahmen zur Förderung des gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Fortschritts. Er schrieb 1764 unter Anspielung auf Friedrich II., Katharina die Große von Rußland und vor allem auf Maria Theresia und Josef II. als virtuellen Oberhäuptern der Lombardei, dass nunmehr „wohlmeinende, Tugend, Wissenschaft und Künste liebende (...) Fürsten, welche Väter ihrer Völker und aufgeklärte Bürger sind, auf den europäischen Thronen glänzen“ (zit. nach Bahner 59; ähnliche Jubeltöne auf die Habsburger stimmten gleichzeitig die Aufklärer auf dem Balkan an). Er gehörte zu der der Aufklärung verschworenen Mailänder Accademia dei Pugni um die Zeitschrift Il Caffé, was zeigt, dass in größeren Städten des zerstückelten Italiens sich aufklärerische, sozusagen zivilgesellschaftliche Ortsvereinigungen bildeten, die allerdings nie die Organisiertheit und Durchschlagskraft der französischen Enzyklopädie-Equipe erreichten. Beccaria erlangte europäischen Ruf durch seinen Einsatz für die Reform und Humanisierung des in Italien und in den meisten europäischen Staaten noch immer mittelalterlichen Strafrechts in seinem aufsehenerregenden, in 22 Sprachen übersetzten Hauptwerk Dei delitti e delle pene (1764, Von den Delikten und von den Strafen), in dem er bedingungslos für die Abschaffung der Folter, der Inquisition und der Todesstrafe eintrat – nach dem Vorbild des Hallenser Philosophieprofessors, Naturrechtlers und Frühaufklärers Christian Thomasius (1655–1728), der für Toleranz und für Humanisierung der Strafprozessordnung gewirkt und in seinem Einflussbereich die Einstellung der Hexenprozesse und das Verbot der Folter erreicht hatte.

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Aufklärerisch und weit über seine Zeit hinaus wirkend war Beccarias Forderung nach einer präventiven statt strafenden Justiz und nach Errichtung einer Gesellschaft, in der Verbrechen gar nicht erst geschehen können. Den gleichen Zielen verschrieb sich der französische Mediziner und Aufklärer J. I. Guillotin (1738–1814), der wohl unter Beccarias Einfluss und aus humanitären Gründen vorschlug, statt mit dem Handbeil mit einer Tötungsmaschine (= Guillotine) die Hinrichtungen zu vollziehen. Diese Erfindung kam während der Jakobinerherrschaft häufiger in Anwendung als das im vorrevolutionären Frankreich gemeinhin traditionelle Rädern und Vierteilen und wurde vom Deutschen Reich im Strafgesetzbuch von 1871 zur einzig humanen, gesetzlich zugelassenen Tötungsart erklärt. Der in den USA von dem phantasievollen Multitalent Thomas Alva Edison erfundene Elektrische Stuhl verdankt sich hingegen wohl eher kommerziellen Motiven. Die meisten italienischen Aufklärer tendierten zu lebensweltlichen, auf den Alltag der Menschen bezogenen Lösungen und einzelnen konkreten Freiheiten und Fortschritten, vor allem in Bezug auf die Wirtschaft, wie der schon genannte, dem Gemeinwohl verpflichtete Muratori für die Entwicklung von Handel, Gewerbe, Landwirtschaft und Gesundheitswesen; der Napolitaner Francesco Mario Pagano trat für die Förderung des lokalen Handels in seinem Ragiona­ mento sulla libertá del commercio del pesce in Napoli (1789) ein, vielfach wurde auch in Italien – vor allem angesichts des vatikanischen index librorum prohibi­ torum – die Denk- und Pressefreiheit eingefordert. Doch viele ihrer Schriften hatten einen hochpolitischen Inhalt wie die der französischen Aufklärer, die sie sehr genau studierten. So gibt es gedankliche Beziehungen zwischen Rousseaus Contrat social und Muratoris Staats- und Verfassungstheorie, die ebenfalls von einem Vertrag zwischen Herrscher und Volk ausgeht. Die Forderung des Beccaria-Schülers Giuseppe Gorani (1770) nach Abschaffung der feudalen Privilegien und nach einer fachlich kompetenten und geschulten Beamtenschaft ähnelt den Reklamationen Dumarsais/Holbachs im Essay sur les préjugés. Der Ökonom Antonio Genovesi kannte eingehend Montesquieus De l’esprit des Lois und polemisierte gegen Rousseaus Discours Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les moeurs, während sich Francescantonio Grimaldis Riflessioni sopra L’ineguaglianza tra gli uomin­i von 1780 eindeutig auf Rousseaus Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes beziehen. Er trat wie Beccaria für die eguaglianza, die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz wie die französischen Aufklärer für die égalité ein.

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Hier zeigt sich jedoch ein zwischen Anerkennung und Ablehnung changierendes Verhältnis der Italiener zu den französischen Aufklärern, das sich umgekehrt im Verhältnis Diderots zu Beccaria manifestiert. Dabei ist zu bemerken, dass sich die französischen Aufklärer kaum gegen die Folter zur Erpressung von Geständnissen oder als Strafe aussprachen, eigentlich auch nie gegen ihre französischen Patrioten, die in den Kolonien Frankreichs Negersklavererei betrieben. Voltaire und Friedrich  II. haben sich zwar entschieden gegen das gegen Calas und den Chevalier de la Barre verhängte skandalöse Urteil ausgesprochen, aber die grausame Vollstreckung durch Rädern nicht explizit beanstandet. Doch Diderot forderte sogar die Folterung von Staatsfeinden bzw. von Feinden der Gesellschaft. Er sprach sich in Randglossen zu Beccarias Dei delitti e del­ le pene sehr schroff gegen dessen scharfe Ablehnung der Folter aus (Thomasius, der im Sächsischen die Abschaffung der Folter erreichte, erwähnt er nur einmal kurz in anderem Zusammenhang). Allerdings hatte er deswegen ein schlechtes Gewissen, so dass er sich dazu entschloss, von einer Veröffentlichung seiner Ansichten und seiner Polemik gegen Beccaria abzusehen, weshalb diese erst aus seinem in St. Petersburg befindlichen Nachlass publiziert wurden. Humanität, Mitleid usw., so schreibt er in typisch cornelianischer Vergottung französischen Staatsinteresses, hätten nichts zu schaffen in der Justiz, einem Gebiet, auf dem nur die Vernunft und die Gesetze sprächen – eine Trennung von Ratio und Emotion ganz im Geist der französischen Aufklärung. Beccaria habe zwar die Delikatesse einer edlen und grossmütigen Seele, „mais la morale humaine, dont les lois sont la base, a pour objet l’ordre public.“ (zit. nach Proust 1995, 500); doch die menschliche Moral, diese Grundlage der Gesetze, habe die öffentliche Ordnung zum Ziel. Die Lobpreisung des ordre public, von law and order als höhere Instanzen betonte Diderot mit folgenden Worten: „Die Strafe (pena) darf nicht in Ansehung des Individuums, das die Fehlhandlung begangen hat, festgelegt werden, (also nicht aufgrund einer subjektiven ‚Schuld‘), sondern entsprechend des Bruchs (infraction), der der Ordnung zugefügt wurde.“ (ibd., 501), also entsprechend Ausmaß und Folgen des Delikts nach gerichtlicher Schadensfeststellung. Er rechtfertigt ganz kalt die Folter, „ein ohne Zweifel grausames Mittel,“ weil sie notwendig sei, um dem Verbrecher „zu dem Geständnis, wer seine Komplicen sind und mit welchen Mitteln man diese dingfest machen kann“, und zur Anzeige der „notwendigen Beweise, um sie zu überführen“ zu bringen, (ibd., 502) eine heutigem europäischen Rechtsempfinden zutiefst widerstrebende und zudem kleinkarierte, wenig überzeugende, eines Aufklärers nicht würdige Argumentation zugunsten einer schrecklichen mittelalterlichen Rechtsgewohnheit. Die Folter sei zwar übel „vor dem Geständnis“, „aber nicht etwa aus Gründen der 120

Humanität“, sagt er wörtlich, denn sie sei gut, „wenn die Zeugen und die Beweise nicht ausreichen, um die Fäden der Komplizenschaft auseinander zu wickeln.“ (ibd.) Folterstrafen seien nur abscheulich, wenn sie unnötig sind, ist sein rein utilitaristisches Befinden. (ibd.) Diderot unterwirft überhaupt alle moralischen und rechtlichen Fragen dem Kalkül der bürgerlichen Nützlichkeit. Proust (ibd., 318) stellt mit vollem Recht fest: „Es ist also die Nützlichkeit (utilité), worunter die gesellschaftliche Nützlichkeit zu verstehen ist, die schließlich das gerechte Strafmaß festsetzt.“ So ist Diderot zufolge die Folterstrafe nützlich wegen ihres Abschreckungseffekts: ein paar Minuten Qual des Delinquenten könnten, so schrieb er, doch das Leben hunderter Unschuldiger retten, denen seine Komplizen gerade die Kehle durchschneiden wollen. Schließlich erhob er sogar, um die Bestrafung von Kriminellen besonders grausam und effektiv zu gestalten, die Sklaverei zum gerechtfertigten Strafmaß für Schwerverbrecher: die Kettensklaverei sei gerechter als die Todesstrafe, weil sie länger andauere als diese, während eine Hinrichtung nur Minutensache sei. Diderot verlangte also im Namen der Aufklärung die Beibehaltung von Folter, Todesstrafe und Sklaverei, weil sie den Delinquenten länger und stärker quälen. Er glaubte im übrigen wie das Mittelalter und die Kirche an die objektive Existenz des „Bösen“, des „mal“, als eines sozusagen ontologischen Phänomens (vgl. Proust ibd., 318). Der französische General Bugeaud, die 1831 bei der Eroberung Algeriens ganze Dörfer, Männer Frauen und Kinder, in Felshöhlen mittels Reisigfeuern vergaste, für welchen „Dienst an der Zivilisation“ (laut Alexis de Toquevilles hommage-Rede in der Deputiertenkammer) er zum Marschall von Frankreich ernannt wurde, und später im 20. Jahrhundert die französischen para(chutistes) (Fallschirmjäger) unter General Massu mit ihren Folterungen an Algeriern (vgl. La question von Henri Alleg) im Krieg gegen Algerien von 1950 bis 1960 hätten sich somit auf Diderot berufen können.2 Doch seit 1782 wurde in vielen zivilisierten Ländern Europas allgemein die Folter aus jedem prozessualen Verfahren ausgeschlossen.3 2 Das allgemeine preußische Landrecht von 1794 ist das erste Gesetzbuch der Welt, das keinerlei Folter als juristische Maßnahme mehr vorsieht, vielleicht auch weil dieses Land damals keine Kolonien hatte, die zu solchen inhumanen Verhör- und Strafmethoden besonders einluden. (112) 3 Auf einem Symposium der Universität Osnabrück über juristische und philosophische Aspekte der Folter war keiner der Referenten bereit „die gewaltsame Erzwingung von Aussagen zu verdammen“ (Laut W. Lenzen, Ist Folter erlaubt? Paderborn 2006, zitiert nach Lanius 2009, 11). Insofern ist jedes Gerede von Zivilisation und Menschenrecht

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Viele italienische Aufklärer-Märtyrer kamen aufgrund des mittelalterlichen Justizwesens des Landes und des Einflusses des Klerus ins Gefängnis oder wurden wie der Republikaner Francesco Mario Pagano von der bourbonisch-royalistischen Reaktion am 29. Oktober 1799 in Neapel öffentlich hingerichtet. Auch Beccaria und damit die italienische Aufklärung bekennt sich sowohl zur libertá als auch zur eguaglianza, zu Freiheit und zur Gleichheit der Individuen, also zur Aufklärung: „Jeglicher Unterschied, (...) wenn er rechtmäßig sein soll, setzt eine vorgängige Gleichheit unter den Bürgern voraus und gründet sich auf Gesetze, welche alle Untertanen von sich in gleicher Abhängigkeit betrachten“, schrieb er. (zit. nach Bahner 59) Es wird klar ersichtlich, dass die italienischen Aufklärer in vielen Städten des Landes wirkten, meist ohne Kontakt untereinander und ohne ein stabiles Theoriegebäude, so dass sie kein Gegengewicht zum Vatikan und zum Klerus bilden konnten, die in Italien bis weit ins 19. und sogar 20.  Jahrhundert hinein das Rechtsdenken und die öffentliche Moral bestimmten. Erst längere Zeit nach dem 2. Weltkrieg konnte eine Italienerin sich beispielsweise scheiden lassen und war gesetzlich dem Mann unterstellt, und nur die kirchliche Trauung war rechtsgültig, nicht die standesamtliche, so dass im Rechtswesen und im Familienrecht wie auch im Zivilrecht fast bis in unsere moderne Zeit hinein voraufklärerische Zustände in diesem Land herrschten, die Aufklärung also keineswegs mit dem 18.-Jahrhundertende aufgearbeitet war. Allerdings beseitigten die Italiener die lange Fremdherrschaft der spanischen Bourbonen, der Franzosen und Österreicher bzw. Habsburger in beiden Sizilien, Venetien und der Lombardei und damit ein Rückgriff auf die Zeit der europäischen Aufklärung vor Beccaria. Doch auch in der abendländischen Gegenwart, mitten im aufgeklärten 21. Jahrhundert, gibt es von den Regierungen „tolerierte“ Folterpraktiken gegen unschuldige Häftlinge. So regeln mit bürokratischer Exaktheit die USA-Rechtsvorschriften die genaue Zeitdauer von Prügel, die Zahl von erlaubten Schlägen ins Gesicht, die Dauer und Temperatur der Kalt- und Heißwasserbehandlung sowie des überlangem Schlafentzugs, und des probeweisen Ertränkens der Staatsgefangenen in den USA. Dieses Register hochnotpeinlicher Untersuchungsmethoden hat Tzvetan Todorov auf den Seiten 150–164 seines Buches Die Angst vor den Barbaren – kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen (2014), in zwei Kapiteln mit den Titeln Folter: die Tatsachen bzw. Folter: die Debatte veröffentlicht, wobei der naive Leser während der Lektüre die im Titel annoncierte Angst weniger vor den gemeinten muslimischen Terroristen, als vor den diese bekämpfenden Geheimdiensten bekommt. Für diese Aufklärung in Sachen Menschenrechte politischer Gefangener sollte man der Bundeszentrale für politische Bildung Dank sagen, weil sie die nicht leichte Übersetzung und den schönen Druck in Auftrag gegeben und finanziert hat, ohne allerdings für den delikaten Inhalt verantwortlich zu zeichnen.

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die Unterdrückung von Recht und Freiheit der Bevölkerung dieser Gebiete und vereinigten ihr Land 1870 nach dem von Garibaldi geführten Volksaufstand, der auch im Zeichen der Aufklärung stattfand. Im Vergleich zu Italien hatte sich in Spanien trotz starkem französischen und englischen Einflusses eine noch weit geringere und schwächere Aufklärung he­ rausgebildet. Dieses Pyrenäenland hatte unter den Anhängern der europäischen Aufklärung einen denkbar schlechten, an Verteufelung grenzenden Ruf als Land der finstersten Inquisition und des Santo Oficio. Hier war 1759 die französische Enzyklopädie verboten und zahlreiche Heterodoxe und des Atheismus Verdächtige auf den Scheiterhaufen oder die Galeeren geschickt worden. Bis zum Ende des Franquismo 1975 waren mit geringen Unterbrechungen durch liberale Regierungen und die Volksfront der dreißiger Jahre keine der Minimalforderungen der Aufklärung verwirklicht worden, der Katholizismus war bis dahin Staatsreligion, andere religiöse Gemeinschaften hatten keinerlei juristischen Status, und auch sonst gab es keine religiöse Freiheit und Gleichheit, ganz abgesehen vom Fehlen von politischen, Bürger- und Menschenrechten. So war die Aufklärung hier kaum auffindbar und äußerst zahm, was weiter vorn schon an den Cartas Marruecas, den Marokkanerbriefen Cadalsos, demonstriert wurde. Marx schrieb, ich weiß nicht ob zu Recht, aber jedenfalls sehr einleuchtend, dass dort, wo das Edelmetall wie von den Spaniern in Südamerika in seiner Naturform ohne Arbeit vorgefunden wird, die Nation verarmt, während die Engländer, die um das spanische Gold in ihre Hände zu bekommen hart arbeiten mussten, dadurch den wahren Reichtum, den der Arbeit und damit des Arbeitswerts erschlossen. Das große spanische 17.  Jahrhundert, das europäische Maßstäbe setzende spätbarocke Siglo de Oro der großen Dramatiker Lope de Vega und Calderón und der Romanciers von Mateo Alemán bis zu Cervantes’ unsterblichem Don Quijote war zu Ende und die Bevölkerung verarmt, in Hidalgos – hijos de algo – verwandelt. Die spanische Aufklärung war Ausdruck dieser Ernüchterung: sie verbreitete sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fast auf dem Fußweg von Frankreich aus auf der Pyrenäenhalbinsel, begünstigt schon durch die große Nähe, ja Nachbarschaft zwischen beiden romanischsprachigen Ländern, aber erschwert auch durch das hinter den Pyrenäen in Spanien herrschende besonders fortschrittsfeindliche klerikale Regime und die Zensur der Inquisition. Nach dem Aussterben der spanischen Habsburgerdynastie, die das Land wirtschaftlich und politisch endgültig in den Ruin geführt hatte, scheiterten auch die Bourbonenkönige und der „aufgeklärte Fürst“ Carlos III. in ihrem Modernisie123

rungswerk an der allgemeinen Indolenz als Folge des Abstiegs Spaniens nach seiner einstmals der Ausbeutung der Kolonien zu verdankenden Prosperität und seiner Rolle als eines der führenden politischen und Kulturmächte Europas. Diese vergangene Größe erwies sich jetzt als Blüte, die nun verwelkte. Die Ernüchterung förderte das Eindringen und die Akzeptanz aufklärerischer französischer Ideen. Kritischer Geist drang mit dem stark zunehmenden Zeitschriftenwesen, so mit dem Diario de la Literatura de España (1737–42) in die Öffentlichkeit, wodurch das Meinungsmonopol der Kirche aufgebrochen wurde. Auch mit dem Bildungsmonopol der Kirche war Schluss durch eine ganze Reihe von Neugründungen staatlich-laizistischer Kulturinstitutionen, denen man das französische Muster anmerkt: La Real Academia Española de la Lengua 1713, die Real Academia de la Historia (1738) in Madrid, die Real Academia de Buenas Le­ tras in Barcelona 1729. Es erschienen solche akademischen Publikationsreihen wie Diccionario de autoridades, d. h. Liste der kanonisierten Autoren, in 6 Bänden und die Akademie-Grammatik 1771. Die Nationalbibliothek wurde 1719 wie auch das Archivo de Indias, die Sammlung der die amerikanischen Kolonien betreffenden Archivalien in Sevilla und damit das schriftliche Gedächtnis der spanischen Conquista gegründet. Diese Initiativen waren sowohl Ergebnis der Propaganda der Aufklärung wie der staatlichen Bildungspolitik, die Speicherkapazitäten für die vielen historischen und kulturellen Dokumente schuf, und somit die wissenschaftliche Arbeit mit dem thesaurierten Wissen besonders zur Geschichte Spaniens und seiner Kolonien ermöglichte. Merkantilismus und Physiokratismus als wirtschaftlich-agrarische Aufklä­ rung erbrachten unter Carlos III. eine Stärkung der Wirtschaftskraft. Die Effektivität der Verwaltung wurde nach französischem Vorbild durch Zentralisierung und Einführung des Intendantensystems, also der Kontrolleure und Aufpasser der Madrider Regierung in den Provinzen, und damit die Herstellung einer einheitlichen Nation im Unterschied zu Italien und Deutschland erreicht. Es entstanden spezifisch spanische, woanders inexistente zivilgesellschaftliche Vereinigungen zur Ankurbelung der Wirtschaft und überhaupt von Entwicklung, die Sociedades éconómicas (del país), so 1764 im Baskenland die Sociedad Vascongada de Amigos del País, denen andere in Madrid, Zaragoza, Valencia, Sevilla u. a. größeren Orten sowie in den amerikanischen Kolonien folgten. Das Ergebnis war die Produktivmachung und Integration der großen Bettlerarmeen in die Wirtschaft und Gesellschaft. Dazu kam die Publikation aufklärend-belehrender ökonomischer Schriften wie des Discurso sobre el fomento de la industria popular (1774) des Grafen Cam124

pomanes, eines hohen Minuisterialbeamten, und Gaspar Melchior de Jovellanos’ schriftliche Kritik an unproduktiver adliger Toter Hand und unökonomischer Weidewirtschaft. Insgesamt gab es eine erstaunliche Breite und Tiefe von durch die Aufklärung angeregten praktischen Schriften und Aktivitäten sowohl von einzelnen „aufgeklärten“ Individuen der Zivilgesellschaft als auch von kompetenten und weitblickenden Beamten und Staatsfunktionären, um Land und Volk aus der wirtschaftlichen und politischen Stagnation herauszureißen. Dazu gehörte auch die geistige Aufklärung als solche: Die französische Enzyklopädie wurde trotz Bespitzelung und Denunziation durch die Inquisition mit staatlicher Duldung viel gelesen: Von 1747 bis 1806 wurden 500 französische Titel verboten, also gelesen. Typisch aufklärerisch waren von hohen Beamten verfasste Streitschriften wie Pan y toros von Jovellanos oder León de Arroas kritische Carta sopra politica económica al Conde de Lorena. Die Anhänger der Aufklärung wurden wegen der französischen Herkunft ihrer Ideen verächtlich afrancesados genannt, so der Abbé José Marchena, der aus seinen antiklerikalen, sogar irreligiösen Anschauungen in seinen Schriften kein Hehl machte. Zur spanischen Aufklärung gehörte unbedingt als ihr wohl größter Repräsentant der mit Jovellanos befreundete und längere Zeit in Bordeaux exilierte Hofmaler Francisco Goya, der u. a. mit seinem Graphikzyklus Los desastres de la guerra die grausam-perverse Kriegsführung der napoleonischen Besatzer Spaniens und die nicht minder unmenschlichen Gegenreaktionen der spanischen Widerständler denunzierte. Doch er ordnete diese lebensweltlichen, empirisch von ihm wahrgenommenen und bezeugten Zeitgeschehen weltanschaulich, ja philosophisch verallgemeinernd als den vom Obscurantismus immer drohenden Angriff auf die Vernunft, auf la razón, ein: wenn diese schläft, erwachen die Ungeheuer von Inquisition und Aberglauben: El sueño de la razón pare mons­ truos heißt sein bekanntestes bildhaftes Bekenntnis zur Aufklärung. Herausragendster Vertreter der spanischen Aufklärung in der Literatur war der schon erwähnte Benediktiner Benito Jerónimo Feijóo (1674–1764). Er hatte den Rationalismus René Descartes’, die Toleranzideen Pierre Bayles wie auch Bernard Fontenelles Kritik am mittelalterlichen Mysterien- und Mythenwahn und am antiken Orakelglauben gelesen und interiorisiert, denn in ihrem Geiste schrieb er weit verbreitete, essayistisch aufgelockerte, den damaligen Durchschnittsleser ansprechende Texte im Geiste der „rationalistischen Lebensführung“, so sein neunbändiges Teatro crítico universal (1726–40). Er wandte sich gegen Ignoranz, Aberglauben, Hexenwahn, Vorurteile aller Art und gegen die in Spanien besonders fest verwurzelten obsoleten mittelalterlichen Traditionen, die durch moderne wissenschaftliche Kenntnisse, Experimentalwissenschaft 125

und empirische Bebachtung, wie sie Newton und Bacon lehrten, ersetzt werden sollten. Er arbeitete gewissenhaft das Programm der europäisch-französischen Aufklärung ab und rationalisierte in echt aufklärerischer Manier lebensweltlichalltägliche Probleme seiner Landsleute. Bahner (85) zitiert diesbezüglich den Spätaufklärer Sempere y Guarinos: Wer ist mit größerer Kraft gegen falsche Frömmigkeit, volkstümliche Ansichten über Hexen, Kobolde und Besessene, Missbräuche der Obrigkeit und Mängel im Unterricht an unseren Universitäten losgezogen als Pater Feiijóo. Die Werke dieses klugen Mannes  (...) begannen, Zweifel zu säen, machten mit anderen Büchern bekannt, die von denen im eigenen Lande sehr verschieden waren; sie erregten Neugier und öffneten schließlich das Tor zur Vernunft, das vorher Gleichgültigkeit und falsche Weisheit verschlossen hielten.

Also keine großen Wahrheiten und Erzählungen, keine Philosophie im engeren Sinn, sondern gesunder Menschenverstand, nicht ohne Kleinkariertheit, aber auch ohne jedes intellektuelle Besserwissertum. Die relativ schwache spanische Aufklärung verbreitete sich daher weit weniger als die französische in den Kolonien in Amerika und trug nichts zur dortigen Aufklärung bei, wobei wieder das speziell für die Aufklärung charakteristische Ziel der Gleichheit des Landes mit anderen Nationen eine große Rolle spielt, eine Forderung, die verbal lautstärker ertönte als die nach Freiheit. Aufgeklärten Absolutismus praktizierte Spaniens König Carlos III., der mit den Liberalen Jovellanos, Campomanes und anderen über qualifizierte Ratgeber (verfügte), die ernsthaft daran interessiert waren, die Lage der Nation zu verbessern und durch eine große Zahl von Reformplänen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen und Spanien dem Niveau der übrigen europäischen Länder (damit kann Osteuropa kaum gemeint sein, HOD) anzugleichen. (ibd., 114)

Das heißt auch, dass der „aufgeklärte Absolutismus“ in Spanien auch politische Kritiklosigkeit, Passivität und lähmenden Optimismus für die bloß technokratische Beseitigung der „Rückständigkeit“ und der sogenannten „spanischen Dekadenz“ erzeugte. Im Verhältnis zu den aufgeregten Diskussionen, Publikationen und Bewegungen der Aufklärer auf dem Balkan und in Italien, ganz zu schweigen von denen in West- und Mitteleuropa und in beiden Amerika, herrschte auf der Pyrenäenhalbinsel Friedhofsruhe. Die Feststellung von Bremer, der von einer behäbigen Zufriedenheit der Bewohner Spaniens sprach, die die autoritären, diktatorialen bzw. absolutistischen politischen Verhältnisse im Lande „als normal betrachteten“ und deren Obsoletheit gar nicht wahrnahmen, also ein völlig unterentwickeltes Bürgerbewusstsein hatten, besteht wohl völlig zu Recht. 126

Gleiches ließe sich von Portugal, dem anderen Pyrenäenstaat im äußersten Westen des europäischen Kontinents sagen, der durch das grabenstille und immobile Spanien von dem übrigen durch die Aufklärung in nachhaltige Bewegung versetzten europäischen Kontinent räumlich getrennt war. Auch war das Land durch seine geographische Lage an der äußersten westlichen Peripherie Europas an den langen Ufern des Atlantischen Ozeans ohne westliche Nachbarn von der Weltkommunikation abgeschnitten und zur Einsamkeit verdammt. Diese geographische Isolierung konservierte archaisch-mittelalterliche Zustände, die der Aufklärung das Eindringen schwer machten. Hier gab es wie in Spanien und Italien keine Toleranzbewegung, die die Vorreiterin zur Aufklärung hätte sein können, denn alle religiösen Dissidenten waren von der Inquisition umgebracht oder außer Landes getrieben worden, wie dies der Preußenkönig Friedrich II. in seinem weiter vorn analysierten „Chinesenbrief “ bezüglich Lissabons aus dem Munde eines vor der Inquisition geflohenen portugiesischen Juden, wohl Spinoza, anschaulich schildert. Hatte Spanien durch das Gold und Silber Potosís und Mexikos eine lange Scheinblüte, so delegierte Portugal ähnlich seine Wirtschaft in die Kolonie Brasilien. Das Gold und später die Baumwolle Brasiliens sowie der Portweinexport nach England sicherten ohne jede Industrialisierung einen gewissen Wohlstand, der sich in prächtiger Architektur, Theater und Literatur zu barocker Opulenz steigerte. Es gab aber keine wirtschaftlich wie politisch entwickelten Verhältnisse, auf denen eine Aufklärung und damit die politische und ökonomische Weiterentwicklung hätte aufbauen können. Auch gab es keine zivilgesellschaftliche oder von Privatpersonen initiierte Aufklärungsbewegung von einiger Bedeutung mit Ausnahme von politisch wie weltanschaulich harmlosen geselligen Dichterakademien wie die 1756 gegründete Arcádia Lusitana, denen die Academia Real de Historia (1720) und die Academia das Ciéncias (1779) folgten. Die politische Herrschaft lag in den Händen einer absolutistisch regierenden Dynastie; der mit ihr verbundene frömmelnde Klerikalkatholizismus erstickte jede geistige wie politische Opposition mit drakonischer physischer wie ideologischer Gewalt, mittels Zensur, Inquisition, Santo Oficio, Scheiterhaufen und Zwangsexil schon im Keim. Der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago leugnete sogar ironisch-metaphorisch die Zugehörigkeit Portugals zum (aufgeklärten und fortschrittlichen) Europa und prognostizierte das terrestrisch-maritime Abdriften des Landes als riesenhaftes Floß in Richtung Afrika. Welch ideologische Stimmung der Aufklärung in Portugal entgegenwehte, veranschaulicht A voz do profeta (1836) von Alexandre Herculano: Darin macht sich der Autor „zum Propheten des nationalen Unglücks. Im Namen Gottes ver127

dammt er revolutionäre Volksunruhen, die an Stelle von Freiheit Freizügigkeit suchen und das Land in eine Höhle von Lastern verwandeln. Die Folge davon konnte für den Propheten nur Elend, Not, Sklaverei und Gefangenschaft bedeuten,“ schreibt Siepmann (110) in seiner Kleinen Geschichte der Portugiesischen Literatur. Die portugiesische Aufklärung erstreckte sich von der Regierung von König Dom Joao V. in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur liberalen Revolution (as lutas liberais) von 1820. Es ist ein sehr christliches „seculo das luzes“ (= siècle des lumières), das infolge der historischen Zeitverzögerung durch das beträchtliche politische wie ökonomische Zurückbleiben Portugals zeitlich gleichzeitig mit der europäischen und der von dieser beeinflussten portugiesischen Romantik koexistiert. Diese artikulierte sich durch Naturverbundenheit, Intimismus und Revolte gegen einseitigen modernen Rationalismus und also gegen die Aufklärung, weshalb ihre typischen Vorbilder die elegisch-larmoyanten französischen Romantiker Lamartine, Vigny und Chateaubriand waren: eine Literatur, die einen öffentlichen Diskurs weder führte noch führen wollte. Herculanos obengenanntes Werk drückt „eine tiefe Gläubigkeit im Rahmen eines regionalen, unverdorbenen Milieus aus,“ ist „die Geschichte eines Landpfarrers, der sich um die pastoralen und häuslichen Probleme seiner Pfarrkinder kümmert“ (ibd., 111): also eine totale Idyllisierung der ländlichen Rückständigkeit des ganzen Landes und der Priesterherrschaft, die gleichwohl eine generelle Stimmung und Tendenz ausdrückt. Es gab sowohl infolge der Zurückgebliebenheit wie der strengen Zensur wegen keine andere, etwa kritische, aufklärende, Sehnsucht nach Fortschritt und geschichtlicher Dynamik artikulierende, stumm gegen die Immobilität der Zustände protestierende Literatur, sondern eine meist nostalgische Beschreibung christlicher nationaler Vergangenheit wie in Herculanos historischem Roman Eurico, o Presbiero, eine mythische Verklärung des heroischen Christentums der Westgotenzeit. Filinto Elisio (1734–1819), vor der Inquisition immerhin nach Paris geflüchteter Poet, übersetzte in einer Art katholischer „Aufklärung“ Chateubriands christliches „Märtyrerbuch“ als Protest gegen ein durch die Aufklärung profaniertes Europa! Es herrschte landein landaus eine mittelalterliche, bigotte, aber auch bedrohliche Stimmung. Laut diktatorischem Regierungschef Pombal sei die Staatsmacht direkt von Gott verliehen, und jeder Versuch sie zu begrenzen, sei es durch die Cortes, durch das kanonische Recht oder durch die Autorität des Papstes, sei folglich „aufrührerisch“ oder „absurd“. 128

Die hauptsächlichen Instrumente der ideologischen Unterdrückung, die Inquisition und die Zensur, wurden unter die direkte Verfügungsgewalt der Krone gestellt. Das kanonische Recht der lusitanischen Kirche beherrschte die Justiz. Aufklärer und liberale Antidogmatiker wie Hobbes, Spinoza, Voltaire, La Mettrie und Rousseau standen auf dem Index der als besonders gefährlich verbotenen Bücher. Die politische und klerikale Repression untersagte streng den Vertrieb und die Lektüre von Voltaires und Rousseaus Schriften, namentlich von Emile, La Nouvelle Héloise und Les Confessions. In solchem Ambiente würde wohl jedes authentisch aufklärerische Wort ins Leere fallen. Und dennoch gab es Widerstand und Aufklärung. Kritische Intellektuelle empfanden schmerzlich die Abgeschlossenheit Portugals als geistiges Ghetto. Zu Aufklärern wurden sie jedoch erst wirklich im Exil, wo sie eine gänzlich andere, „moderne“ Gesellschaft mit einer ganz anderen progressiven Realität, eine Gesellschaft in Bewegung und dieser dynamischen Wirklichkeit zugewandte Bücher kennen lernten, die es in Portugal nicht gab, weil sie als aufklärerisch verboten waren. „Das Exil machte sie gerade mit den Ideen, vor denen die Regierung sie schützen wollte, bekannt“, so der Literaturhistoriker Helmut Siepmann (99). Eine Hauptrolle spielte die nach Deutschland und England exilierte Marquesa de Alorna (1750–1839), die portugiesische Mme de Stael, die die Französische Revolution in Marseille als Zeitzeugin erlebt hatte und in ihren Werken die neuen Ideen Voltaires, Rousseaus und der Enzyklopädisten verarbeitete. Sofort nach der liberalen „Revolution“ von 1820, die aus der absolutistischen eine konstitutionelle Monarchie machte, erschienen gleich zwei portugiesische Übersetzungen von Rousseaus Du Contrat social anonym in Lissabon, und Freiheitsdichtungen wie A Libertade von Almeida Garrett tauchten in den Buchläden auf. Aber es gab kaum genuin portugiesische aufklärerische Schriften und Werke, höchstens solche auf dem anekdotischen, altmodischen und alltagsorientierten Ratgeberniveau von Feijóos Teatro crítico universal. Quasi indirekte weil unpolitische Aufklärung verbreiteten dagegen die in erstaunlicher Fülle erscheinenden wissenschaftlichen, pädagogischen und Sachbücher. Diese erfüllten neben üblicher inhaltlich-sachlicher Information und Belehrung eine aus heutiger Sicht kaum noch vorstellbare Aufgabe, nämlich die an den Universitäten Lisboa und Coimbra, diesen altwehrwürdigen Institutionen, noch immer gelehrte Scholastik, diese überlebte Inkarnation mittelalterlichen Denkens, aus den Lehrbüchern und den Köpfen zu vertreiben und durch die neuzeitlichen Inhalte und Methoden wissenschaftlichen Arbeitens in Fort-

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setzung und Anwendung des Descartschen Discours de la méthode zu ersetzen, um so das Reich der kritischen Vernunft auch in Portugal zu errichten. Daraus resultierte die für Portugals intellektuelle Entwicklung kapitale Bedeutung des 1746 in Neapel gedruckten, bei der Einfuhr vom santo oficio beschlagnahmten und 1747 unter dem falschen Druckort und Druckjahr „Valencia 1746“ erschienenen pädagogischen Hauptwerkes von António de Verney (1713–1790) mit dem bezeichnenden Titel Verdadeiro método de estudar (Wahre Methode des Studierens). Verney ging es ein halbes Jahrhundert nach Bayles philosophischem Dictionär mit diesen 16 Briefen (cartas) über 16 Wissenschaftsdisziplinen um die vernunftgemäße und nicht theologisch basierte Lehre der Wissenschaften, vor allem der Experimental- und Naturwissenschaften, und um ihre definitive Scheidung von der Scholastik durch strenge Trennung von Glauben und Wissenschaft. Hier wurden von Verney in einzelnen Lehrbriefen die verschiedenen Fächer mit ihren Methodiken vorgestellt. Modern nicht nur für Portugal war die Stellung der Frau in diesem Werk, der Verney volle intellektuelle Gleichberechtigung mit dem Mann zubilligte. Außer Katechismus, Musik, Tanz und Hauswirtschaft sollte jede Portugiesin auch in Mathematik, Geschichte der Welt und Portugals sowie in Grammatik und Latein unterrichtet werden. Das war etwas völlig Neues in diesem patriarchalischmachistischem Land. Verneys Status als Priester hielt ihn nicht davon ab, von seiner Zeit bezogen auf die Pyrenäenhalbinsel als einem „século de ignorancia o período de apogeo da Contra-reforma na Península“, einem Säkulum der Ignoranz und einer Periode des Höhepunkts der Gegenreformation auf der Halbinsel zu sprechen, gegen jede Art Wunder- und Aberglauben aufzutreten, das bis dahin gültige Wahrheitskriterium der „Autorität“ zugunsten der Empirie und Logik außer Kurs zu setzen und sich auf kritische Aufklärer wie den italienischen Rechtsgelehrten Muratori, auf Lockes Natur- und Völkerrecht (Direito Natural e das Gentes) und die naturrechtlichen Staatstheorien von Grotius und Pufendorf zu berufen. Er vertrat die Idee der anthropologischen Gleichheit aller Menschen unter ersichtlichem Einfluß von Rousseaus Sozialvertrag; Os homens nascem todos livres e todos sao igualmente nobres“ (Die Menschen werden alle frei geboren, und alle sind gleichermaßen edel) lautet seine Devise. Ohne seinen moralischen Impetus hätte es Verney wohl nie geschafft, eine Schneise für die modernidade in die traditionalistische portugiesische Wissenschaftskultur zu schlagen. In seinem Gefolge erschien bald eine wahre Flut von wissenschaftlichen, aufklärungsinspirierten Kompendien auf dem Markt, die Cartas sobre a educacao da mocedade nobre (Briefe über die Erziehung der adli130

gen Jugend) von Ribeiro Sánchez, ein Método par aprender a estudar medicina, (Methode zum Studium der Medizin), Darstellungen der Geschichte Portugals, Bücher zu Rechtsgeschichte und Pädagogik sowie zur Hebraistik, das Handbuch des portugiesischen Ingenieurs von Manuel de Azevedo Fortes, die Lógica racional e geometría analitica von demselben enzyklopädistischem Autor, einem in Paris ausgebildeten Fachmann für Mathematik und Experimentalwissenschaften. Man spürt das Bemühen, auf allen Gebieten der Naturwissenschaft und Technik sowie der Staats- und Rechtslehre aufzuholen, mit „Europa“ gleichzuziehen und sich dabei der großen Autoren der französischen Aufklärung zu versichern. Deshalb wurden nunmehr ihre Hauptwerke publiziert: José Anastásio da Cunha übersetzte Schriften von Montesquieu und Voltaire, Barbiosa de Bocage Paul et Virginie von Bernardin de Saint Pierre. Die Rezeption der ökonomischen Theorien der Physiokraten, der Wirtschaftstheoretiker der französischen Aufklärung, äußerte sich in dem sozialpädagogischen Werk A Felicidade pela Agricultu­ ra (Weg zum Glück durch die Landwirtschaft), das diesen in dem Agrarland Portugal wichtigen, aber ebenfalls rückständigen Sektor voranbringen wollte. Der aufklärerische Monetarismus spiegelte sich in den Nociones Elementares de Economía Política (Grundbegriffe der Politischen Ökonomie) von António de Olivera Marreca, der darin erstmals die Notwendigkeit der Industrialisierung Portugals ansprach und, vor allem, das noch primitive, unentwickelte Finanzwesen zum Schlüssel der wirtschaftlichen Entwicklungspolitik erklärte. Diese aufklärerischen Aktivitäten erfolgten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter der autoritären Herrschaft von Sebastian de Carvalho e Melo, genannt Pombal (1699–1782), ab 1756 allmächtiger und autoritativer Premierminister des Landes und ohne jeden Zweifel eine der ganz großen Figuren europäischer Politik. Er gehörte zu den von den Nationalisten und Patrioten estrangeirados (Auslandsverehrer) genannten Anhängern der portugiesischen Aufklärung unter dem despota esclarecido, dem aufgeklärten König Joao V. als portugiesische Pendants zu den spanischen afrancesados, die wie jene eine ökonomische und mentale Modernisierung des Landes nach ausländischem, das heißt nach fortschrittlichem französischem und englischem Modell anstrebten, eine Öffnung ohne die traditionellen politischen und sozialen Strukturen anzutasten. Eine modernisierende Aufklärung wurde auch durch Vorträge und Diskussionen in den Geheimbunden ähnelnden bürgerrechtlichen Clubs, den den spanischen Sociedades Económicas gleichenden halb illegalen Conferencias discretas e eruditas, vorbereitet. Die rigorose Reformpolitik Pombals hatte zum Ziel, allmählich ein gleiches politisches und ökonomisches Entwicklungsniveau Portugals wie in den fortge131

schrittenen mittelwesteuropäischen Ländern zu schaffen. Dafür blieb nur der Weg der apolitischen Technokratie: Das Século dos luzes portuguesas, die portugiesische Aufklärung, wurde technokratisch und ökonomisch „von oben“ durch den despotismo esclarecido, den aufgeklärten Absolutismus, und durch zwangsweises Lernen vom fortgeschrittenen franco-und anglophonen Ausland durchgedrückt. Was die meist in England oder Frankreich exilierten und ausgebildeten es­ trangeirados vordergründig bewegte, waren „problemas (...) de natureza restritamente técnica, económica e pedagógica“ (595); Probleme strikt technischer, ökonomischer und pädagogischer Natur. Der aufgeklärte Absolutismus (despotismo esclarecido) war in Portugal wie in den anderen europäischen Ländern in zweierlei Hinsicht für die Aufklärung förderlich: zu einem beschützte er die Aufklärer vor schlimmen Verfolgungen durch die Inquisition, zum anderen reformierte und modernisierte er das Bildungswesen systematisch und überführte die von einzelnen engagierten Intellektuellen betriebene Aufklärungsbewegung in Gestalt privatrechtlicher Vereinigungen wie der seit 1756 bestehenden Arcádia Lusitana in eine staatliche „Bildungspolitik“ mit der Gründung entsprechender Institutionen wie Akademien, Hochschulen, Bibliotheken und Museen. Allerdings wäre es ohne die Anregungen und ohne die Opferbereitschaft der Aufklärerbewegung wohl nie zur progressiv intendierten Regierungspraxis Pombals in Portugal gekommen, hätte dieses Land, das stets zu den wirtschaftlich wie politisch schwach entwickelten Nationen des Kontinents gehörte und gehört, nie auch nur den Anschluss an die anderen europäischen Länder erreicht. Die widrigen strukturellen und ideologischen Bedingungen und Traditionen sowie die geographische und politische Isolation und lange Jahrzehnte der Diktatur im 20. Jahrhundert waren der Aufklärung trotz allem aufgeklärten Despotismus so feindlich, dass sie erst im 21. Jahrhundert den Durchbruch zur okzidentalen Zivilgesellschaft erreichen konnte.

Die Aufklärung auf dem Balkan Ein äußerst interessantes, sehr eigenes, extrem vielseitiges und widersprüchliches, ganz anderes Panorama als die eher homogenen Aufklärungen auf den beiden weiter westlich gelegenen europäischen Halbinseln, dem Apennin und den Pyrenäen, bietet die den Südosten der Alten Welt einnehmende Balkan-Halbinsel, die wahre Zerreißproben zwischen österreichischer monarchistisch-christlicher Aufklärung und orientalisch-muslimischer Despotie zu bestehen hatte. Die diesen unterstehenden Gebiete waren allesamt feudalistisch, agrarisch, latifundistisch, von niedriger Produktivität und geringer Produktion, schwachem Han132

del und Gewerbe und traditioneller Lebensweise sowie vom mittelalterlichen Denken der Bevölkerungen geprägt, so dass ein Eindringen der Moderne nicht auf der Tagesordnung stand und damit die Aufklärung als geistige Bewegung zur Schaffung der diesbezüglichen intellektuellen und mentalen Voraussetzungen erst in ihren Anfängen begriffen war. Aber diese Regionen standen mittels politischer und Handels- sowie kultureller Beziehungen mit dem moderneren Ländern Mittel- und Westeuropas in Kontakt und sahen durch den Vergleich mit letzteren auch Anregungen für eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Angleichung an erstere  – Gleichheit stets weniger individuell und mehr kollektivisch als ersehnte Gleichheit des Landes mit den anderen entwickelten Nationen Europas verstanden. Deshalb konnte die historische Mission der einheimischen Aufklärer nur darin bestehen, einerseits ein unverstelltes, ungeschminktes, wahres Bild der eigenen Realität zu entwerfen und ihren Landsleuten als Spiegel vorzuführen, aber andererseits gewissermaßen als Zielvorstellung und zum Nachvollzug auffordernd die Vorzüge der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ordnung der mittelwesteuropäischen Länder Frankreich, England und der Niederlande ins rechte Licht zu rücken. Das war eine ganz andere Aufgabenstellung als die Aufklärung in diesen Ländern selbst, gewissermaßen eine Aufklärung über die Aufklärung. Alle hierarchischen Gleichsetzungen beider Phänomene sind falsch, aber Vergleichungen notwendig. Eine Gleichsetzung ist auch innerhalb der balkanischen und speziell der rumänischen Regionen falsch, aus deren Verschiedenheit sich vielmehr auch die Differenzen der balkanischen bzw. rumänischen Aufklärungen ergaben, die weit größer sind als beispielsweise die zwischen Frankreich und Deutschland. Der Hauptunterschied bestand vor allem zwischen Siebenbürgen einerseits und den Donaufürstentümern Valachei und Moldavien andererseits: erstere Region gehörte zum Herrschaftsbereich des habsburgischen Österrreich, letztere zum osmanischen Imperium der „Pforte“, also Istambuls. Wie sollte hier Aufklärung funktionieren? Hier hatte die Aufklärung von zwei grundverschiedenen Kulturen auszugehen, einerseits der muslimisch osmanisch-türkischen, die nach dem Fall von Konstantinopel die am weitesten östlich gelegenen Donaufürstentümer Moldawien und Walachei besetzte, und andererseits der deutsch-österreichischen unter den „aufgeklärten Monarchen“ Maria Theresia und Josef II. in Siebenbürgen (und Ungarn), die sich ferner in eine protestantisch-lutheranische und eine römisch-katholische Linie teilten, zu denen als gleichsam verbindendes Glied noch die unierte rumänisch-russisch-orthodoxe Kirche kam. 133

Dennoch gab es nicht wie im Frankreich der Bartholomäusnacht und wie in Italien, Spanien und Portugal und auch Mitteleuropa Kriege als manifestesten Ausdruck von Intoleranz und Unterdrückung Andersgläubiger durch die jeweiligen Machthaber, sondern wie in den späteren USA eine von allen Parteien mehr oder weniger skrupulös und spontan gepflegte Toleranz. Das Aufklärungsgebot der Toleranz gegenüber den Reformierten und Unierten wurde sogar von den erzkatholischen Habsburgern in dem von ihnen beherrschten Siebenbürgen eingehalten, obwohl sie doch immerhin die Salzburger Reformierten außer Landes verwiesen hatten. Auch die in Istanbul residierenden muslimischen Paschas und Kalifen, die über die Walachei und Moldawien herrschten, unternahmen keinerlei Versuche, den Islam den dortigen christlichen Rumänen mit Gewalt aufzuzwingen, betrieben keinen Proselytismus, was sie auch in dem von ihnen beherrschten „maurischen“ Andalusien nicht getan hatten, sondern praktizierten Religionsfreiheit und damit modrate religiöse Toleranz mit den Christen und den Juden. Ihre Herrschaft über die Donaufürstentümer hatte außer politischen und strategischen Zielen den Zweck, möglichst viel und ständig höhere Abgaben aus der Bauernschaft herauszupressen, was schließlich zu deren Ruin und zur Wirtschaftskrise führte. Deshalb hat die Pforte mit den grausamsten Mitteln jedwede Insubordination verhindert. Jedenfalls war hier kein Toleranzedikt wie im christlichen Okzident nötig. Der Weg der Aufklärung verlief hier auf ganz anderen Pfaden als nur auf dem direkten Weg von Frankreich zum Balkan. Das spiegelte sich im Verhältnis zwischen Aufklärung und den Himmelsrichtungen Nord, Ost, Süd und West wider, das sogar theoretisiert wurde. Die Rückführung der französischen Originalbezeichnung für die Aufklärung: lumières (= rum. Lumina), auf das lateinische Ur-Etymon lux = Licht wurde zur Charakterisierung ihrer Hauptströme auf dem Balkan benutzt: Ausgangspunkt ist die althergebrachte, fast proverbiale Bezeichnung ex oriente lux, das sowohl den Sonnenaufgang und damit das Sonnenlicht als auch die Geburt Christi im Osten und folglich das Aufgehen des Lichtes der Christenheit im Orient bedeutete. Aber aus dieser selben Himmelsrichtung, dem Orient, stammten auch die aus Kleinasien kommenden türkischen Eroberer, die Osmanen, die nicht gerade als Lichtbringer, als Aufklärer angesehen werden konnten, und die auch als spezifisch orientalische Kultur ein ganz besonderes, jedenfalls sich unaufgeklärt oder aufklärungsfremd gerierendes despotisches System mit vielen archaischen, vor- und antimodernen Zügen repräsentierten. Der Orient konnte also in keiner Weise mit dem Gegenteil, mit der modernen Lichtbringerin, den lumières, lumen, lux, lumina, also mit der Aufklärung identifiziert werden. 134

Ex oriente lux wurde also von den rumänischen Anhängern der Aufklärung ersetzt durch das völlig deplaciert anmutende ex septemtrione lux, durch „aus dem Norden kommt das Licht“, um sich schließlich in die wider den Sonnenlauf gerichtete Umformulierung ex occidente lux (aus dem Westen kommt das Licht (der Aufklärung)) zu verwandeln. (Vgl. hierzu Micu 2000, 48) Auf diese Umkehrung der zivilisatorischen Urformel auch in den Donaufürstentümern, die seltsamerweise sogar vom orientalischen Konstantinopel ausging, stoßen wir noch. Der nördliche Weg war tatsächlich eine Haupteinzugsroute der Frühaufklärung zum Balkan: „Norden“ meinte vor allem Polen, aber auch Russland und Deutschland (mit dem dort vielgelesenen Christian Wolf). Auch der Fürst Moldaviens, Dimitrie Cantemir, hatte enge Beziehungen zu Polen, vor allem als Folge der polnischen Eroberung der an Rumänien angrenzenden Ukraine, aber auch zu Russland: mit dem prowestlichen Reformator und Voraufklärer Zar Peter dem Großen war er eng befreundet, hätte sicher gern dessen Modernisierungen auch in seinem Fürstentum realisiert und kämpfte in dessen Heer gegen die Türken; nach einer vernichtenden Niederlage in einer Feldschlacht ging er nach Russland ins Exil und übernahm dort von Zar Peter noch hohe Ämter. Aus einer zweiten, mehr südlichen Richtung kamen der aufgeklärte österreichische Absolutismus und italienische Kultur und Sprache auf die BalkanHalbinsel, und aus der dritten, dem Westen, kam die eigentliche Aufklärung aus ihrem Ursprungsland Frankreich, sei dies durch Studium von Rumänen und Bulgaren in Paris, Wien und Leipzig, oder, indirekt, per Lektüre der Werke der französischen Aufklärer  – das philosophische und staatstheoretische Denken der Engländer stand hier wie vielerorts in Europa im Schatten der französischen Aufklärung und befruchtete nur durch die Vermittlung letzerer auch das aufklärerische Bewusstsein der Balkanbewohner. In dem von Rumänen, Magyaren und den privilegierten Sachsen bewohnten Siebenbürgen, das 1683 an die Habsburger Monarchie gefallen war, hatte die reformfreudige Maria Theresa bereits den Rumänen solche „Rechte“ wie den Besuch höherer Schulen und die Einführung des muttersprachlichen Unterrichts zugestanden und auch die materielle Lage und staatsrechtliche Position der benachteiligten rumänischen Bauern verbessert bzw. erleichtert sowie durch eine Justizreform das Willkürregime der einheimischen Magnaten begrenzt. In der Fachliteratur werden diese Maßnahmen als Gleichstellungen bzw. Abbau von Unterprivilegien und Privilegien angesehen, die das Aufklärungsgebot der Gleichstellung auch auf die Nationalitäten und Religionen dieser Region ausdehnten. So wird der Monarchin unterstellt, aus diesem aufklärerischen Gleichheitsgrundsatz heraus alle vergleichbaren Verhältnisse in ihrem Großreich 135

juristisch-staatsrechtlich zu harmonisieren, natürlich auch in Gedenken an die europäischen Religionskriege für die damals extrem wichtige, ja entscheidende Frage der Gleichstellung der drei in dieser Region vorhandenen Konfessionen, also der offiziell bis dahin laut Behring (82) zugelassenen Religionen Römischer Katholizismus, (sächsischer) Protestantismus und griechische Orthodoxie. „Nachdrücklich hatte der Wiener Hof dem rumänischen griechisch-orthodoxen Klerus völlige Gleichheit der Rechte (...) zugesichert, falls er zur unierten, also der griechisch-katholischen Kirche überträte. (ibd., 82) Das zeigt, dass hier ein ganz anderes, schwierigeres Niveau religiöser Toleranz erklommen werden musste als im europäischen Westen, was auch erfolgreich bewältigt wurde, wobei wie stets in älteren Zeiten die Anerkennung der ekklesiastischen Gleichheit auch mit der Reklamierung politischer, rechtlicher wie kultureller (= sprachlicher) Gleichstellung der Nationalitäten, hier der rumänischen mit der ungarischen und sächsischen Nationalität verknüpft war, so in den Forderungen des Bischofs Inochentie Maria Micu-Klein (1692–1768). Maria Theresias Sohn Joseph II. setzte verstärkt die Bemühungen um Zentralisierung und Vereinheitlichung fort, was auch größtmöglichste Gleichstellung und Gleichheit der Bevölkerungen heißen mochte, wobei sich seine Aufklärungspolitik besonders in seinen physiokratischen Maßnahmen auf wirtschaftlichem Gebiet manifestierte. Für ihn galt mehr noch als für Maria Theresia die Grundtendenz aller Aufklärung, das Bildungswesen als Rückgrat ihrer Politik zu behandeln, weil es ihr wirksamstes Herrschaftsinstrument war, wofür auch der allerdings gescheiterte Versuch einer Universitätsgründung in Hermannstadt (Sibiu) zeugt. Doch ließ sich Josef dazu hinreißen, Waffengewalt gegen protestierende Bauern einzusetzen, bei denen er wegen der ihnen gewährten Befreiung von vielen Lasten doch sehr beliebt war, obgleich er nicht verhinderte, dass die drei Bauernführer nach althergebrachter Sitte durch das Rad hingerichtet wurden. Der wichtigste Sachwalter der Siebenbürger Sachsen war ihr Comes und Gubernator Samuel Freiherr von Brukenthal (1721–1803), dessen Physiokratismus und moderater Rationalismus (Behring, 85) seine Beeinflussung durch die französische Aufklärung belegen. Aufklärerisch ist auch die Ausgestaltung seines Barockpalais in Hermannstadt mit einer riesigen Mineralsammlung und einer Universal-Bibliothek für alle Naturwissenschaften, Theologie, Rechtswesen, Staatswissenschaften, Ökonomie und Agrikultur. Auch neugegründete Lesekabinette in den Städten trugen aufklärerisches Gedankengut an breitere Bevölkerungskreise heran; nach Aufhebung der Zensur 136

1781 erschienen viele, vor allem deutschsprachige Zeitschriften und Zeitungen. „Insgesamt war die Presse zu einem wirksamen Forum für die Verbreitung aufklärerischer Ideen geworden,“ schreibt Eva Behring in ihrer Rumänischen Li­ teraturgeschichte (89) und zählt unter ihren bevorzugten Themen Geschichte, Kirchengeschichte, Naturgeschichte, Medizin, Geographie und Wirtschaft auf. Die rumänischen Hauptaufklärer der sogenannten „Siebenbürgischen Schule“ waren Samuil Micu-Klein, Ghheorghe Sincai und Petru Maior, die auf der lateinischen Herkunft des Rumänischen insistierten und auf der staatsrechtlichen Gleichheit der Rumänen pochten. Gegen die Rücknahme der Josefinischen Reformen durch Kaiser Leopold und dessen Nachfolger auch im Zusammenhang mit der nach 1800 einsetzenden politischen Restauration in Europa erschien ihre Protestschrift Supplex Libellus Valachorum Transilvaniae (1791) mit ihrem aufklärerischen Programm, der Betonung der Bedeutung des Lesens, der Zurückweisung von Obskurantismus und Aberglauben, der Propaganda für Hygiene und Gesundheit, was der Rolle des Supplex auch als praktischen Ratgebers für den Alltag und den Standardforderungen der europäischen Aufklärung entsprach. Was ihre spezifisch aufklärerischen Quellen und Anregungen betrifft, so ist wohl die relativ starke Rezeption der deutschen Aufklärer Christian Wolf und Christian Thomasius charakteristisch für Siebenbürgen. Der obengenannte Micu-Klein übersetzte beispielsweise Wolfs Vernünftige Gedanken, dessen historischen Optimismus er besonders schätzte. Auch der Buchtitel von Gheorge Sinacai (1754–1816) Natürliche Belehrung zur Beseitigung des Volksaberglaubens (verfasst um 1804) verrät das typisch aufklärerische Grundanliegen des Kampfes gegen den Aberglauben. Als literarische Gipfelleistung der rumänischen Aufklärung bezeichnet Beh­ ring (96 ff.) das komisch-satirische nationale, im Lemberger Exil, wohin ihn Aufklärungsgegner vertrieben hatten, nach dem Vorbild Vergils entstandene Epos Die Ziganiade von Ion-Budai-Deleanu (1760–1820), dessen Hauptheld Graf Dracula ist, der gegen die türkischen Unterdrücker zu Felde zieht, dessen Verbündete die komödienhaft dargestellten Zigeuner sind. Ihnen erscheint eine Art Rousseauscher Sozialvertrag zwischen Souverän und Volk die beste staatsrechtliche aufklärungskonforme Lösung für Rumänien: Bojaren, hohe Kleriker und der Papst werden Dantes Anregung in der Divina commedia folgend dagegen zu Höllenqualen verurteilt. Für die in den Donaufürstentümern wohnenden aufklärungsbedürftigen Rumänen war Siebenbürgen bereits ein aufgeklärtes „westliches“ Land, der halbe Weg nach Paris, dem Welt-Aufklärungszentrum. Aber es ging paradoxerweise 137

auch andersherum, in Richtung Osten, wo Istanbul, das ehemalige Konstantinopel bzw. Byzanz lag, die Pforte, das Zentrum der aufklärungsfeindlichen Türkei, die zudem die Walachei und Moldawien und andere Vasallenstaaten unterdrückte. Die Instrumente der Osmanenherrschaft waren christliche Griechen, die Fanarioten hießen, weil sie im Istanbuler Stadtteil Fanar in der Nähe des Leuchtturms, des pharos bzw. Fanals wohnten. Die Fanarioten hielten als Administratoren und Wahlfürsten die rumänischen Fürstentümer sozusagen in türkischer Geiselhaft: die Zeit der Fanariotenherrschaft wird jedenfalls in den Chroniken und von den Fachhistorikern als die finsterste Periode rumänischer Geschichte bezeichnet. Doch hochgebildete Fanarioten waren auch die Lehrer der Söhne der valachischen und moldauischen Eliten. Diese fanariotischen Intellektuellen und Pädagogen waren Kenner und Anhänger der französischen Aufklärung und verbreiteten deren Lehren unter ihren Schülern: „Konstantinopolis“ wurde somit zu „Kosmopolis“, schreibt Micu. Über den Umweg via islamisches Istanbul also wurden paradoxerweise die rumänischen Donaufürstentümer Valachei und Moldawien, auf die ich mich hier stellvertretend für alle ostrumänischen Provinzen beschränke, in den Sog der westeuropäischen Aufklärung gezogen: Dimitrie Cantemir s-a format în spirit vest-european, tocmai în citadela orientialismului și a celui mai anacronic medievalism, la Istanbul. Istanbul era capitala imperiului celui mai reacționar, principalul suport al forțelor celui mai obtuz obscurantism, materializarea colosală a rezistenței la spiritul de progres, însă el includea Bizanțul. (...) Cucerit în 1453 de turci, Constantinopolul a devenit un centru al spiritualității islamice, nu însă fără să rămână în același timp și un focar de cultura creștină și un depositar al multora dintre vestigiile antiquității. (Micu, 49) (Dimitrie Cantemir hat sich im westeuropäischen Geist gebildet, und zwar geradeswegs in der Zwingburg des Orientalismus und des anachronistischen Mittelalters, in Istanbul. Istanbul war die Hauptstadt des reaktionärsten Imperiums, Hauptstütze des allerstumpfesten Obskurantismus, die kolossale Materialisierung des Widerstands gegen den Geist des Fortschritts, Byzanz eingeschlossen. (...) 1453 von den Türken erobert, wurde Konstantinopel geistiges Zentrum des Islamismus und ist zugleich ein Fokus christlicher Kultur und ein Depositorum vieler Spuren der Antike geblieben)

„Byzanz hat sich gegen Istanbul durchgesetzt“, urteilt Micu und schreibt weiter: In aparatul de stat imperial și în toate instituțiile funcționau greci. Prin ei îndeosebi, prin intelectuali greci avizi de cultura occidentală, receptivi la filosofia raționalistă, la spiritul Enciclopediii, cititori – unii și traducători – ai operei lui Montesquieu, Rousseau, Fontenelle, Condillac, ale celorlalți gînditori sau scriitori francezi progresiști, admiratori

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mai cu seama ai lui Voltaire, metropola celui mai înapoiat feudalism oriental a devenit Cosmopolis (...) nu doar și nu atît creștină cât de tip occidental laic. (...) Venea Occidentul la ei.... (ibd.) (Im imperialen Staatsapparat und in allen Institutionen wirkten jedoch Griechen. Unter ihnen waren auf okzidentale Kultur und die rationalistische Philosophie, den Geist der Enzyklopädie begierige Griechen, die die Leser – und manchmal auch die Übersetzer der Werke Montesquieus, Rousseaus, Fontenelles, Condillacs, der progressiven französischen Denker und Schriftsteller, besonders auch die Bewunderer von Voltaire waren. Die Metropole des schlimmsten orientalischen Feudalismus wurde so zur Cosmopolis nicht nur christlichen als auch westlich-laizistischen Typs. So gelangte der Westen zu ihnen.)

Auf diese einmalige Art der Kulturvermittlung dank dieser dialektischen Volte der Kulturgeschichte blieb Rumäniens Kultur trotz vieler übrigens interessanter und wertvoller türkisch-osmanischer Einsprengsel in Folklore, Küche, Musik und Vokabular neuromanisch, Teil der Romania. Die Standardlektüre eines rumänischen Bojaren, wie sie aus Bibliotheken und Bibliotheksbeständen, Briefen und sonstigen archivalischen Zeugnissen rekonstruiert wurde, enthält viele alte Bekannte der Aufklärungsliteratur, so in rumänischer Übersetzung aus dem Griechischen (!) Cesare Beccarias Dei delitti e delle pene, Condillacs Logique und dessen Cours d’Etudes pour l’instruction du prince de Parme, Rousseaus Du contrat social, Montesquieus Considérations sur les causes de la grandeur et décadence des Romains, Fénelons Les aventures de Télémaque, Fontenelles Entretiens sur la pluralité du monde, ferner Werke von Voltaire wie Le Tocsin des rois aux souverains de l’Europe und die Übersetzung seiner Histoire de Charles Douze roi de Suède (1792) sowie eine schriftliche Bestellung eines Exemplars der französischen Encyclopédie durch einen Literaten aus Hermannstadt (Sibiu) bei einem Buchhändler. Es waren offensichtlich in den Bojarenbibliotheken viele Werke der französischen Aufklärer vorhanden, von anderen Autoren und von Autoren aus anderen Geschichtsepochen und Ländern wie England wird weniger berichtet, was für eine massive und gezielte, ja systematische Aneignung aufklärerischen französischen Gedankenguts durch die Elite spricht. Behring schreibt: Um die Vermittlung der westeuropäischen Kultur (und in ihrem Zentrum der Aufklärung, HOD) machten sich nach wie vor auch die griechischen Emigranten verdient. Ausgebildet an den großen kulturellen Zentren in Wien und den italienischen Städten, eröffneten sie den rumänischen Bojarensöhnen neue Horizonte und weckten gewiß einmal mehr den Wunsch nach persönlicher Anschauung jener Welt der Freiheit, Toleranz und des wissenschaftlichen Fortschritts. (Behring 106 f.)

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Der genannte Cantemir war der berühmteste Orientalist seiner Zeit mit der His­ toria incrementorum atque decrementorum Aulae Othomanicae und einer Isla­ mischen Geschichte. Er schrieb nach dem Vorbild von Heliodors Aithiopike die Hieroglyphische Chronik, in der er sich als Vorgänger Goethes, des Verfassers des Reineke Fuchs, erwies, in dem er die Tiergesellschaft mit König Löwe an der Spitze als Parabel der zeitgenössischen Gesellschaft kritisch-satirisch darstellte wie ein halbes Jahrhundert später Montesquieu die französische. Cantemir, der in zehn Sprachen – darunter auf Türkisch und Persisch – schrieb und las, war laut dem von Micu zitierten Calinescu „spirit de Renaștere, într-un cuvînt‚ un Lorenzo de Medici al nostru“ (ein Renaissancegeist, in einem Wort unser Lorenzo de Medici. (Micu 37) Er wurde 1715 zum Mitglied der Preußischen Akademie zu Berlin gewählt. Es erschien auch eine radikal antiklerikale, also genuin aufklärerische mönchs- und klosterfeindliche Schrift mit dem Titel Monachologie (in Anspielung auf Leibniz’ Monadologie) des ehemaligen Siebenbürger Jesuiten Ignaz von Born (1742–91) mit dem vielsagenden deutschen Titel Neueste Naturgeschichte des Mönchstums beschrieben im Geiste der Linnäischen Sammlungen, eine Art Fortsetzung von Cantemirs Hieroglyphischer Chronik. Die gleiche kulturelle Konstellation zwischen Pforte, Fanarioten und Einheimischen scheint im Nachbarland Bulgarien existiert zu haben, das 1393 Teil des Osmanischen Reiches wurde und damit unter die Fanariotenherrschaft kam. Hier spielten Griechen ebenfalls die Rolle von Vermittlern der westeuropäischen Aufklärung. Vratchanski veröffentlichte zwei Bände von ihm übersetzter Schriften verschiedener Genres, in denen er Probleme der Aufklärung behandelte, wie zum Beispiel die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten, neue Entwicklungen der westlichen Welt besprach etc. Die Aufklärung begann hier Ende des 18. Jahrhunderts und zog sich als Bewegung über das ganze 19. Jahrhundert und wurde wie überall auf den Balkan von der Romantik ein- und übergeholt. Mit diesem Blick auf den Balkan sei die Revue – nicht die noch zu schreibende Geschichte – der europäischen Aufklärungen zwischen Portugal und Rumänien unter besonderer Berücksichtigung der mir näher bekannten romanophonen Länder abgeschlossen (Die skandinavischen Länder kann ich aufgrund meiner fehlenden Fachkenntnisse nicht behandeln). Sie zeigt den strahlenförmigen Weg der Aufklärung von Paris in die verschiedenen Länder Europas. Sie hat erwiesen, dass die je besonderen aufklärungsrelevanten Charakteristika von den soziokulturellen Bedingungen vor Ort, von den jeweiligen Traditionen geprägt waren, dass es primär die endemischen Faktoren sind, die die geistigen Physiognomien dieser Regionen bestimmen, so dass es 140

kontraproduktiv und sogar gefährlich wäre, diesen einfach eine aufklärerische Zivilisation über zu stülpen. Die Aufklärung kam hier auf dem Balkan nicht als eine ungebetene „Beglückung“ von außen und als Vorhut kolonialer Herrschaft, sondern als eine unter vielen Opfern erkämpfte Handreichung für den dornenreichen Kampf um die staatliche und religiöse Freiheit und den Triumph der Vernunft, die allerdings erst im Laufe des 19. Jahrhunderts defimitive Wirklichkeit wurde. Aber sie demonstriert auch, dass die von der Aufklärung vertretenen und verbreiteten Kenntnisse wie auch ihr neues Moralgesetz zu einem gemeinsamen Identitätsmerkmal aller europäischen Völker, zumindest ihrer Eliten wurden. Wenn sie sich später in einer Art spezifischer Globalisierung über den alten Kontinent hinaus nach Übersee wendete und neue, außereuropäische Völker erfasste, stellte sich allmählich über die europäische Identität hinaus so etwas wie eine zweite anthropologische Gemeinsamkeit, ein weltweites Menschen- und Menschheitsbewusstsein her, das von jener übergreifenden Instanz bestimmt wird, in deren Zeichen die Aufklärung seit Pierre Bayle, seit der Verkündigung der Toleranz und des Kampfes gegen Vorurteile stand. Diese höchste Instanz heißt Vernunft. Ihr sind alle anderen Aufklärungsphänomene: Toleranz, Freiheit, Gleichheit, Eigentum, Menschenrecht, Bürgerrecht, Weltbürgertum, Fortschritt und Rationalismus zugeordnet.

Die Herausforderungen der Aufklärung in der außereuropäischen Welt Auf ganz andere als auf die aus Europa gewohnten Herausforderungen traf die Aufklärung bei ihrem Eindringen in die außereuropäischen Gebiete, besser gesagt bei ihrer Konfrontation mit den diese bewohnenden Menschen. Die Aufklärung war keine Religion und wurde insofern von keinem missionarischem Bekehrungseifer angetrieben, sie war auch keine Organisation irgendwelcher, Art die sich den Proselytismus zur Aufgabe gemacht hätte. Dabei schrieen diese Territorien geradezu nach Aufklärung, weil ihre Bewohner voller Mythologien, abergläubischer Vorstellungen, Phantastereien und magischen Denkens waren, also jener Phänomene, deren Bekämpfung sich die Aufklärung zu ihrer ersten Hauptaufgabe gemacht hatte. Jedoch waren diese archaischen Denkweisen schwer zu durchdringen und zu vernichten, weil die Aufklärer des 18.  Jahrhunderts über keinerlei brauchbare diesbezügliche ethnologische und religionstheoretische Vorkenntnisse verfügten, besonders was die relativ urtümlichen „primitiven“ Bewohner Schwarzafrikas und Amerikas betraf. Im Orient und Ost- und Südostasien dagegen 141

existierten altkulturierte monotheistische Religionen mit starkem Rückhalt in den Völkern, die sich der Aufklärung weitgehend verschlossen, auch fehlte dort das in Europa dominierende Christentum als Vorreiter des Rationalismus. Woher kam dann überhaupt das Bedürfnis nach der aus Europa stammenden Aufklärung in Amerika, in dem sie spektakuläre revolutionäre Gesellschaftsveränderungen durchsetzte, die bis zur Unabhängigkeit am Ende dieses 18. Jahrhunderts und am Anfang des nachfolgenden 19.  Jahrhunderts führten. Diese waren möglich aufgrund der gemeinsamen okzidentalen Kultur und Geschichte sowie der christlichen Religion eines Teils der Bewohner, der eurostämmigen Kreolen, der „Weißen“, die aufgrund der kolonialen Vergangenheit auch die führenden Eliten stellten. Diese blieben stets über persönliche Beziehungen, Reisen und aufgrund der von ihnen interiorisierten westlichen Bildung mit der europäischen Kultur in Kontakt, ja verfügten über keine andere als diese, während ihnen die indigenen und schwarzafrikanische Kulturen absolut fremd waren. Aber sie hatten darüber hinaus eine ganz besondere Rezeptivität für die Aufklärung, insofern diese ja eine ursprünglich dissidentische Bewegung war, mit der sich viele Amerikaner identifizieren konnten, weil sie selber ebenfalls dissidentischer Herkunft waren, aus religiösen oder politischen oder weltanschaulichen oder auch wirtschaftlichen Gründen die alte Welt verlassen hatten, um sich in der neuen ein neues, ihren Bedürfnissen, Ambitionen und Glücksvorstellungen entsprechendes Leben aufzubauen. Dabei mussten sie feststellen, dass sie den lebensweltlichen und politischen Zwängen der alten Welt auch hier nicht entkamen, sie von diesen eingeholt wurden. Von daher erklärt sich sowohl die Rezeption als auch die erfolgreiche Weiterverbreitung der Ideen der europäischen Aufklärer besonders auf staats- und gesellschaftstheoretischem Gebiet, ihre besondere Fixierung auf Freiheit und Gleichheit, diese Grundwerte aller Revolutionen. Dabei wurden sehr wohl auch falsche Vorstellungen, Vorurteile und Phantastereien der Europäer über die Neue Welt und ihre Bewohner korrigiert, so die seit der Antike über die Bewohner der Südkugel der Erde verbreiteten Behauptungen als schreckenerregende Monster. Gleichfalls als pure Erfindungen wurden die weit verbreiteten Berichte von kriegerischen Frauen entlarvt, die zu der Flußbezeichnung AMAZONAS geführt hatten, sowie von dem sagenhaften Eldorado, Mythen, die sich der Conquista und der Kolonisierung verdankten. Aber diese Demythisierungen erstreckten sich nicht auf die Entdecker und Eroberer selbst, die vielmehr – worauf auch kritisch der Spanier Cadalso in seinen Marokkanerbriefen hingewiesen hatte – hispanischerseits heroisiert worden 142

waren. Die an den sogenannten Eingeborenen begangenen Landraube und Ethnizide wurden verschwiegen bzw. als gerechtfertigte Strafaktionen wegen Kannibalismus und anderer kollektiver Delikte dargestellt Es erschienen hingegen eine Unmenge an Literatur, an Chroniken und Reiseberichten, die die einreisenden und ansiedelnden Europäer über die Geographie und Geschichte dieser ihnen bislang unbekannten Gebiete aufklärten und sie sozusagen für die Eroberung und Landnahme sowie die Indienstnahme der einheimischen Indier, Indianer oder Indigenas qualifizierten. Ganz im Sinne der Rechtfertigung dieser Kriege und Inbesitznahmen waren auch erste völkerrechtliche Ausarbeitungen erschienen.

Vitoria und Suárez, Begründer des Kolonialrechts Dabei darf nicht vergessen werden dass die erobernde Macht infolge der Einheit von Staat und Kirche auch im Namen beider Institutionen handelte, wogegen sich später die Aufklärung wenden wird, die ihrerseits zum Schrittmacher, Begleiter und auch Widerpart des Kolonialismus in der übrigen Welt außerhalb Europas wurde. Schon seit den Kreuzzügen, besonders aber seit der Renaissance, dem sogenannten Zeitalter der Erfindungen und Entdeckungen, hatten die fast als einzige Weltbewohner seefahrenden Westeuropäer den großen Rest der Welt mit Afrika, Asien und Amerika „entdeckt“, den Globus erforscht und bereist, kennen gelernt und allmählich in Besitz genommen: so vermischten sich seit jener Zeit im Weltmaßstab geradezu systematisch Erforschung und Erkenntnisgewinn, also genuine „Aufklärung“, mit Expansion in der südlichen Halbkugel, Studium und Forschung mit kolonialer Inbesitznahme dieser exotischen Territorien und zwangsweiser kolonialistischer Unterwerfung und Ausbeutung ihrer Bewohner. Da es dabei häufig, sogar permanent zu Kollisionen, Konflikten und Kriegen sowohl mit den jeweiligen Populationen und ihren Herrschern als auch unter den miteinander konkurrierenden neuen Kolonialmächten kam – es waren dies vor allem England, Frankreich, Spanien, Portugal und die Niederlande  – erschien es notwendig, den bislang herrschenden gesetzlosen Zustand zu beenden und zu einem geregelten Mit- und Gegeneinander der Kolonialmächte untereinander zu gelangen. Daher wurde für dieses neue Konfliktfeld der internationalen Beziehungen statt des bisher mittelalterlich-rechtsfreien Raumes ein für alle Mächte verbindliches internationales Recht entworfen, das Völkerrecht. Dieses wurde von einem spanischen und einem portugiesischen Juristen ausgearbeitet, nicht zufällig Vertreter der beiden damals einzigen Kolonialmächte auf amerikanischem Boden 143

und überhaupt in der damaligen Welt noch lange vor der englischen und französischen Landnahme in Nordamerika und Afrika. Sie schrieben vor allem die Interessen der iberischen Kolonialmächte einfach in Völkerrecht um, wobei sie die außereuropäischen Völker überhaupt nicht als Subjekte dieses Rechts in Betracht zogen, denn diese galten ihnen ja wie Immanuel Kant später sagen würde „für nichts“. Beide Juristen waren aber genauso wenig aus Zufall katholische Theologen und Würdenträger: der von ihnen ersonnene Paragraphenkatalog erkannte als Völkerrechtssubjekte ausschließlich christliche Mächte an und übertrug kanonisches Recht schlicht auch auf diese profanen Verhältnisse. Dieses Völkerrecht war also in erster Linie Kolonial- und Kirchenrecht. Francisco de Vitoria (1483–1547), Zeitzeuge der Entdeckung qua Kolonisierung Amerikas, Theologieprofessor und Urheber der sogenannten Rechtsschule von Salamanca, begründete das Völkerrecht, indem er dessen Subjekte feststellte und statt des bisherigen ius gentium das ius inter gentes statuierte. Dieses proklamierte das Kolonialrecht als Recht der christlichen und insofern europäischen Mächte auf Eroberung, Ausbeutung und Bevormundung anderer Völker. Vitoria spricht nur von den Rechten der Spanier in Amerika und Asien, ein reziprokes Recht der „Barbaren“, also der einheimischen bzw. autochthonen und nichtchristlichen Bewohner erwog er nicht einmal theoretisch. Er setzte also die Ungleich­ heit zwischen Europa und den damaligen und zukünftigen Kolonialländern als Völkerrecht, als ius inter gentes fest. Er etablierte auch rechtspolitisch, nicht nur theologisch, das Christentum, also die damals nur in Europa samt Mittelmeerraum verbreitete und dominierende, als die wahre Religion, und das neutestamentarische Gebot der Missionierung der Heiden als Rechtsgrundlage der Beziehungen zwischen Christen und Nichtchristen. Daher erklärte er es zum ca­ sus belli, wenn Christen in irgendeinem Winkel der Erde das Recht auf Verbreitung ihrer Religion verwehrt würde, während er den indianischen Schamanen natürlich kein solches Recht auf Proselytismus zuzugestehen auch nur erwog. Auf Grund der mittelalterlichen Dominanz des kanonischen oder Kirchenrechts über das Zivil- und Strafrecht wurde von Vitoria juristisch die Ungleichheit auch zwischen den Religionen durch Privilegierung des Christentums gegen alle anderen Bekenntnisse kodifiziert. Für seinen Nachfolger und Fortsetzer, den spanisch-portugiesischen Völkerrechtler Francisco de Suárez (1548–1617), ehemals Vertreter der Kolonialmacht sowohl in Asien wie im amerikanischen Brasilien, sind nichtchristliche Länder ebenfalls keine Subjekte des internationalen Rechts. Nichtrechtgläubige Frauen und Kinder dürfen im Fall eines Krieges nötigenfalls niedergemacht, nicht144

christliche Geiseln erschossen, gefangene Heiden zu Sklaven gemacht werden, während gefangene Christen in Freiheit gesetzt werden müssten, denn „sic enim ius gentium de servitute captivorum in bello iusto in ecclesia mutatum est, et inter Christianos id non servatur.“ (nach Dill 2008, 67) Er etabliert damit endgültig zwei Völkerrechte, ein souveränes zwischen den Staaten des christlichen Abendlandes und ein koloniales zwischen europäischen und nichtchristlichen Ländern. Hieraus ist nicht nur die gesetzliche Privilegierung Europas, sondern auch des Christentums statuiert und juristisch die koloniale Unterwerfung der Heiden durch die Christen und damit die führende Rolle des Klerus bei der als Christianisierung deklarierten Kolonialisierung abgesichert. Mit diesen Präjudizierungen wurden Unfreiheit und Ungleichheit und mittelalterliche Rechtsprechung zum Gesetz erhoben, antiaufklärerische Tendenzen artikuliert noch bevor die Aufklärung selber auf den Plan trat, denn diese Gesetze widerliefen den aufklärerischen Forderungen nach Freiheit und Gleichheit. Dadurch wurde der im 18.  Jahrhundert einsetzende Kampf der Aufklärer für Fortschritt und Freiheit und Naturrecht bereits mehrere Jahrhunderte vorher eingeholt. Diese Situation spiegelt sich in der ambivalenten Haltung der Aufklärer wider, die natürlich für die Gleichheit aller Völker vor Recht und Gesetz und für die Trennung von Staat und Kirche sowie für das Naturrecht und gegen das kanonische Recht als juristische Privilegierung des Christentums eintraten. Es gab mit den wenigen Ausnahmen der arabischen und türkischen Besiedelung Andalusiens und Besetzung von Teilen des Balkans in historischer Zeit nur die europäische, genauer westeuropäische Expansion über die Weltmeere hinweg zu anderen Weltteilen. Diese war stets an die europäische Kolonialisierung gebunden, eine Expansion, die sich von Europa aus in einer spezifischen Art Globalisierung der Weltherrschaft der Westeuropäer alllmählich über die übrige Welt erstreckte. Diese eroberischen Unternehmungen, namentlich die Kolonisierungen, wurde jedoch durch die Aufklärung, die sich allmählich den außereuropäischen Aktivitäten der Mächte des Alten Kontinents zuzuwenden begann, ihren heldischen Nimbus entkleidet. Der erste Dekonstruktivist der Conquistalegende war der nachmalige Bischof von Chiapas Bartolomé de las Casas, der einen Reisebericht mit demTitel Brevísima relación de la destrucción de las Indias als ersten dokumentarisch belegten und polemisch-kritischen Augenzeugenbericht über den Beginn der Kolonisierung in der Karibik in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verfasste und publizierte, der somit der erste moderne Aufklärer war. Doch vermittelte er seinen europäischen Lesern weniger Information über Land und 145

Leute der Neuen Welt als vielmehr Aufklärung über deren verschwiegene oder geschönte Eroberung, Inbesitznahme und Kolonisierung durch die Europäer. Sein Werk setzten Reiserschriftsteller und Wissenschaftler, vor allem Geographen und Ethnologen, bis ins 20. Jahrhundert hinein fort. Las Casas hatte seinerzeit voller Empörung die grausame, unmenschliche und rücksichtslose Durchsetzung der spanischen Kolonialherrschaft und kriegerische Inbesitznahme der Ländereien und sonstigen Reichtümer der Karibik durch die Conquistadoren als Ausdruck ihrer sacra auri fames gegeißelt und den von ihm erlebten Ethnozid, die totale Ausrottung der Kariben, der indigenen Einwohner der Karibik, beschrieben, die sozusagen als Strafe für das kollektive Delikt des endogenen Kannibalismus von den selbsternannten Richtern und Henkern aus Spanien an ihnen vollzogen wurde. Las Casas hatte damit die phantastischen Berichte in der Nachfolge von Kolumbus’ Bordjournal über das Goldland Eldorado, das die Conquistadoren magisch anzog, widerlegt und seinem Bericht eine ganz andere, realistische, politisch-moralische, entdeckungs- und conquistakritische Richtung gegeben, die erst im Aufklärungszeitalter, dem siècle des lumières, wiederaufgenommen wurde. Alle nachfolgenden Berichte sollten weniger als eine politische und moralische Anklage der Machenschaften und Gräueltaten der Ahnherren des Kolonialismus, als ihre Chronik gelesen werden, als vielmehr als eine Folge von Enthüllungen über ihre Skandalgeschichte. Es kommt auf die Widerlegung der falschen, verlogenen Darstellungen, also auf die „Aufklärung“ im wortwörtlichen Sinn an und nicht auf die moralische Verurteilung derselben an, die vielmehr dem Leser überlassen wird.

Die Geschichte beider Indien von Raynal und Diderot Den Beginn der Aufklärung über die neue Welt markierten Thomas Raynal (1711–96) und Denis Diderot (1713–84) mit ihrer Histoire des deux Indes. Sie hatten die Kolonien nie gesehen, sondern kompilierten lediglich die vorhandenen Expeditionsberichte in die Tropen zu ihrer vielbändigen Histoire philoso­ phique et politique des etablissements et du commerce des européens dans les deux Indes (Philosophische und politische Geschichte der Einrichtungen und des Handels der Europäer in beiden Indien, 1770–89), die mit ihren etwa 30 Auflagen ganz entscheidend und mit beträchtlicher Breiten- und Tiefenwirkung das Bild der Franzosen und Europäer von den Kolonien und überhaupt von der südlichen Tropenwelt bestimmte: die deutsche Original-Übersetzung von Johann Martin Abele erschien in zehn Bänden in den Jahren 1782–1788. Schon durch die meist abgekürzte Titelei Histoire des deux Indes (Geschichte beider Indien) assoziierten die Autoren Las Casas’ Bericht über „las Indias“, über 146

„die Indien“. Ihr umfangreiches Werk ist bis in die Titelgebung hinein ein Momument sowohl der Kolonisierung der Welt durch die Europäer, diese „Erfinder des Kolonialismus“ (Ronald Daus), als auch ein Aufklärungswerk über die Kolonien. Die Zusammenziehung „beide Indien“ hätte es unter diesen Namen ohne den Kolonialismus nie gegeben, und noch weniger wären sie je in einem Atemzug genannt worden: sie lagen zehntausende von Seemeilen voneinander entfernt, waren durch den Riesenkontinent Afrika und zwei gewaltige Meere, den Atlantik und den Pazifik, voneinander getrennt, ihre jeweiligen Bevölkerungen sprechen Sprachen, die ganz verschiedenen Sprachfamilien zuzuordnen sind, und gehören ganz verschiedenen Rassen mit noch dazu extrem unterschiedlichen Kulturen an; keines der beiden Indien wusste vorher von der Existenz des jeweils anderen Indien, und auch ihre „Namen“, von denen sie selber nie etwas gehört hatten, und die sie sich nie selber gegeben hätten, waren freie Erfindungen der europäischen Kolonisatoren, waren onomastischer Kolonialismus. Raynal und Diderot konnten sie nur aus dem einzigen Grunde unsinnigerweise in einem Buch zusammenspannen, weil in diesen beiden Regionen die damaligen Kolonien konzentriert waren. Doch von diesem allerwichtigsten Thema, dem Kolonialismus, ist in dem Buch selten die Rede, nur von den Kolonien. Warum gehört es in die Aufklärung? Weil es die durch die Mythen vom Eldorado und den Amazonen verklärte und geschönte Kolonialwelt ganz ohne jede Maske nackt und bloß vorführte. Es blieb allerdings weitgehend bei der Erzählung der kolonialen Eroberung stehen, ging selten zu analytischer Kritik der Kolonialherrschaft über. Dennoch brachte es gerade durch die unsinnig scheinende Koppelung von Ost- und Westindien erstmals das ganze Kolonialsystem als ein Weltsystem und nicht als lokales Ereignis der Karibik oder Bengalens in die Weltdebatte, in das Bewusstsein des Okzidents, der diese Debatte allein führte und sozusagen die selbsternannte Weltöffentlichkeit war. Den Europäern wurde so erstmals die Umwandlung der ganzen Erde mittels des Kolonialismus in einen weiten Kommunikations- und Wirtschaftsraum  – unter (west)europäischem Kommando – bewusst gemacht. Hatte Las Casas nur eine Handvoll karibischer Inseln im Sinn gehabt, so brachten Raynal und Diderot eine kapitelweise Auflistung sämtlicher europäischer Kolonien der damaligen Welt: im Ersten Teil – Asien – die „Entdeckungen, Kriege und Eroberungen der Portugiesen in Ostindien“; im Zweiten Teil – Südamerika  – die „Entdeckung von Amerika. Eroberung von Mexiko. Besitzungen der Spanier in diesem Teil der neuen Welt; im Dritten Teil – Karibik – die „Niederlassungen der europäischen Nationen in dem großen amerikanischen 147

Archipel“, im Vierten Teil – Afrika – Guinea, wobei dieser Kontinent nach einigen ausschweifenden landeskundlichen Bemerkungen in seinem damaligen aufblühenden Hauptwirtschaftszweig vorgeführt wird, als Lieferant nämlich von Sklaven für beide nach Arbeitskräften hungernden Amerika, während Teil  V. „Nordamerika und die amerikanische Revolution“, also die jüngst unabhängig gewordenen USA behandelt. Damit nicht genug: Während sich Las Casas und Conquistachronisten wie Bernal Díaz del Castillo (Historia Verdadera de la Conquista de la Nueva España, 1632, Wahrhaftige Geschichte der Eroberung Neu-Spaniens), vorwiegend den Kriegszügen und siegreichen Schlachten der europäischen Eroberer widmeten, wird der Leser von Raynal und Diderot über ein wichtiges neues Element der Kolonialpolitik der Westeuropäer aufgeklärt, nämlich über die raffinierte Politik und Strategie der europäischen Kolonialmächte, die in den genau beschriebenen diplomatischen und kriegerischen, zumeist unsauberen Machenschaften zwischen den jeweiligen Konkurrenten, ihren Kriegsallianzen und ihrer Korrumpierung und Entzweiung der einheimischen Herrscher und Mächte bestanden, Machinationen, aus denen die europäischen Kolonisatoren als lachende Dritte hervorgingen, was Immanuel Kant als Grundlage für seine ätzende Denunziation der kolonialistischen Heimtücke des divide et impera nahm. Die beiden Autoren waren sich der Bedeutung ihrer Entdeckung des Kolonialismus bewusst, indem sie die Geschichte dieser Gebiete in eine solche vor und in eine solche nach der Entdeckung zweiteilten. Doch erstere stellen sie nicht als Geschichte der jeweiligen Bewohner vor, sondern vertreten implizit die auch von de Pauw und Hegel verbreitete Auffassung von der „Geschichtslosigkeit“ der oralen indianischen Völker und ignorieren also vollkommen und bewusst deren eigene, und das heißt eigentliche Geschichte, die von vor 1492. Die von mir benutzte auf rund 350 Seiten reduzierte deutsche Original-Übersetzung dieses Opus folgt allein europäischen, meist französischen Quellen, was den oft ungewollten, weil für selbstverständlich angesehenen Euro- bzw. Gallozentrismus erklärt. Manche Irrtümer resultieren aus der manischen, vorurteilsvollen und damit eigentlich antiaufklärerischen Gegnerschaft beider Aufklärer zur Kirche und gegenüber Spanien als notorischem Land des finstersten religiösen Obskurantismus. Deshalb auch folgen die Autoren mehr dem offiziellen Diskurs von Kolumbus, Cortés und Vespucci, weil deren Kritik den angeblich rückständigen, kulturlosen und heidnischen Indios und nicht den Eroberern galt. Deshalb, aus ihren Vorurteilen als Aufklärer heraus ignorierten Raynal und Diderot die heute weltberühmten Chroniken von Dominikanern und Franziskanern wie Sahagún, 148

die doch ein sehr genaues und ethnographisch wie historisch sachkundiges, fakten- und zeitzeugengestütztes Bild der Geschichte der indigenen Stämme vor der „Entdeckung“, und vom hohen Niveau ihrer Kultur, Künste, Poesie, Theater, Religion und Bildung lieferten. Dies alles war seit der „Entdeckung“ bekannt: weltberühmt ist die Lobeshymne Albrecht Dürers (66) auf die in Brüssel ausgestellten indianischen Kunstwerke: Und ich hab aber all mein Lebtag nichts gesehen, das mein Herz so erfreuet hat als diese Ding. Dann ich hab darin gesehen wunderliche künstliche Ding und hab mich verwundert der subtilen Ingenia der Menschen in fremden Landen.

Nach Albrecht Dürer nun Diderot/Raynal zur selben Sache: Die Mexikaner waren fast ganz nackend (1988, 140) und sind in den Künsten sehr unvollkommen wegen ihres Müßiggangs. Die Form und Bearbeitung der wenigen Gefäße und des goldenen oder silbernen Geschmeids, die bis zu uns gekommen sind, ist gleich barbarisch. Das nämliche Rohe herrscht in den (...) Gemälden, von denen die Spanier mit so viel Bewunderung sprechen. Der Künstler ist unendlich unter seinem Gegenstand (das heißt diesem nicht gewachsen, HOD), er mag Pflanzen, Tiere oder Menschen vorstellen. In seiner Arbeit ist weder Licht noch Schatten, weder Zeichnung noch Wahrheit. Die Baukunst hat keine größeren Schritte gemacht. Man findet im ganzen Reich nicht ein einziges Denkmal von einiger Majestät, nicht einmal Trümmer, die das Andenken einer vergangenen Größe erneuerten. (...) Der Palast des Fürsten und der Großen (Granden, HOD) war zwar groß genug und von Steinen gebaut, hatte aber weder Bequemlichkeit noch Schönheit, noch nur einmal ein Fenster. Der gemeine Mann wohnte in Hütten, die von Erde aufgeführt und mit Baumzweigen bedeckt waren. Es war ihm verboten, solche höher als ein Stockwerk zu bauen. Die Hausgerätschaft war der Bewohnung würdig. Meistens fand man statt Tapeten bloß Decken, statt des Bettes Stroh, statt eines Stuhls geflochtene Palmblätter, statt des Geschirrs irdene Gefäße. Baumwollene Tücher und Tapeten, die mehr oder weniger fleißig gearbeitet und zu Verschiedenem gebraucht wurden, machten den Unterschied zwischen reichen und gemeinen Häusern aus. Wenn aber die Künste der allerersten Notwendigkeit schon so unvollkommen waren, so muß man billig schließen, daß die Künste des Vergnügens es noch weit mehr waren. In den Wissenschaften war man noch weiter zurück als in den Künsten, und das war eine natürliche Folge des gewöhnlichen Ganges des menschlichen Geistes. Es war beinahe nicht möglich, dass ein Volk, dessen Aufklärung (sic, HOD) nicht alt war, und das von seinen Nachbarn keine Anleitung erhalten konnte, nur irgend ausgebreitete Kenntnisse (ibd., 141) haben sollte. Alles, was man aus seinen gottesdienstlichen und Staatseinrichtungen schließen konnte, war, dass es einige Fortschritte in der Sternkunde gemacht hat. Wie viele Jahrhunderte hätte es zu seiner Aufklärung (sic, HOD) nötig gehabt, da es der Hilfe der Schreibkunst beraubt war, da es, noch bei der Unvollkommenheit der Hieroglyphen, von diesem mächtigen und vielleicht einzigem Mittel zu Einsichten so weit entfernt war. (ibd., 141 f.)

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An diesen Behauptungen, in denen zweimal die Abwesenheit von „Aufklärung“ moniert wird, ist fast alles falsch oder doch schief. Zum Beispiel gingen die Mexikaner nicht nackt. Conquistadoren, die zuvor in dem heißen Amazonasgebiet nur Waldindianer gesehen und gekannt hatten, die tatsächlich nichts weiter am Leib trugen als ihre bunt bemalte Haut, waren nicht schlecht erstaunt, als sie in Mexiko in wallende, schön gewirkte Baumwollgewänder gehüllte Menschen erblickten! Der hohen Meinung des sicherlich kompetenten Dürer vom künstlerischen Niveau des von den beiden Aufklärern geschmähten mexikanischen Kunsthandwerks einschließlich Bildhauerei und Architektur kann man die von Alexander von Humboldt edierte, sachkundig kommentierte und mit seinen Originalzeichnungen versehene illustrierte Schrift Vues pittoresques des Cordillères et monu­ mens des peuples indigènes de l’Amérique (Nanterre France Editions Erasme 1989; Malerische Ansichten der Cordilleren und Monumente der indigenen Völker Amerikas) hinzufügen. Humboldt schrieb, die peruanischen Bauhandwerker hätten das Geschick, die härtesten Steine „mit der äußersten Schönheit des Schnitts“ zu bearbeiten (ibd., 117), und sagt ausgerechnet vom indianischen irdenen Geschirr, dessen Qualität die beiden Verfasser in einer geradezu perfiden Unterstellung heruntermachten, es habe die „Feinheit von Meißner Porzellan“ (zit. nach Dill 2013, 53), was aus berufenem Mund den Indios hohes ästhetisches Gestaltungsvermögen bescheinigt. Man möchte meinen, die Autoren hätten die vielen Zeugnisse über die großartigen Bauten der Azteken und Maja nicht gekannt und urteilten aus purer Unkenntnis, aber dem war nicht so. Wenn sie den „Gemälden, von denen die Spanier mit so viel Bewunderung sprechen“, jede Qualität absprechen, müssten sie diese doch gekannt haben, Aber diese konnten sie nicht gesehen haben, weil sie nach Indianersitte unter der Erde vergraben wurden, wenn je eine mythische Zeitepoche zu Ende ging, oder auch weil sie als Teufelswerk von abergläubischen Christen zerstört worden waren. Was hätten die Verfasser erst zu den wunderbaren Pyramiden in Guatemala, auf Yucatán oder im mexikanischen Teotihuacán gesagt, diesen Weltwundern, schöner als die Ägyptens, zum sogenannten Aztekenkalender, dieses skulpturale Prunkstück des Anthropologischen Museums von Mexiko, oder über die himmelstrebende Inka-Festung Machu Picchu? Sie, die niemals in diese Gebiete gereist waren, hielten die Behauptungen vom hohen Kunstsinn der Azteken und der Größe und Schönheit von Mexico-Tenochtitlán für Erfindungen der Spanier, die dadurch angeblich ihrem Sieg über die Mexikaner höheren moralischen Wert verleihen wollten: die Eroberung einer armseligen dorfähnlichen 150

Ansiedlung, von der Diderot und Raynal allen Ernstes inbezug auf Mexico-Tenochtitlán sprechen, hätte Cortés nicht allzu viel Ruhm eingebracht, meinen sie; daher die Selbstaufwertung der Conquistadoren durch künstliche Erhöhung der Kulturleistungen ihrer Opfer. Sie schreiben: Aber welche Glaubwürdigkeit soll man Jahrbüchern (d. h. Chroniken, HOD), die dunkel, widersprechend und mit den abgeschmacktesten Fabeln, die man jemals der menschlichen Leichtgläubigkeit vorgelegt hatte, angefüllt sind, zubilligen? (...) Es bedürfte anderer Zeugen als schwärmerischer Priester, die an nichts dächten als ihren Gottesdienst auf den Trümmern des vorgefundenen Aberglaubens zu gründen. (ibd., 143) Noch ein (weiterer) abergläubischer Gebrauch (...) ist der: die Priester kneteten einen Teig in Gestalt eines Menschen und backten ihn. Diese Bildsäule stellten sie auf den Altar, wo sie ein Gott ward, der danach von allen Anwesenden in einer Art Eucharistie verzehrt wurde. (ibd., 127)

Hieraus spricht die geradezu allergische Abneigung der Aufklärer gegen den spanischen Klerus, die hispanokreolischen Lateinamerikaner eingeschlossen, die Diderot und Raynal zum blindwütigen Abwerten der Bemühungen der wackeren Padres trieb, die mit ihren Interviews, Grammatiken und Lyriksammlungen die reiche orale Kultur der Indios vor der Vernichtung gerettet hatten. Sie schreiben sogar (1988, 122) in typischem Aufklärerjargon: „Vielleicht hat nie ein Volk seine Vorurteile in einem so hohen Grad abgöttisch verehrt als damals und auch noch jetzt die Spanier tun“, – ein sehr pauschales „Urteil“, das einem „Vorurteil“ über diese „Vorurteile“ gleichkommt. Doch beide Aufklärer insinuieren aus ihrem gehässigen Antichristentum heraus die Unseriösität der katholischen Ethnoforscher, wenn sie der Hoffnung Ausdruck gaben, dass künftige wirklich professionelle Historiker und Archäologen „weder Mönche noch Spanier sein werden“, sondern solche, „welche – im Gegensatz zu den unfähigen und heuchlerischen Mönchen und Spaniern, HOD – alle Freiheit, alle Mittel, die Wahrheit zu entdecken, haben werden.“ (ibd., 143, Hervorh. HOD) Von dieser skandalösen Herabsetzung der mexikanischen Künste als spanischen „Priestertrug“ leiten sich viele geradezu irrationale Fehlurteile der beiden ab, doch auch im zivilisierten Frankreich werden die armen Bauern wohl nicht immer aus porzellanenen Schüsseln, sondern wie ihre mexikanischen Pendants aus irdenem Geschirr gegessen haben, das vielleicht nicht immer Meißener Porzellan glich. Auch spricht es gegen ihr wirtschaftshistorisches Denken, wenn sie das Metallgeld als einzige wirkliche Währung ansehen und den Mexikanern Rückständigkeit vorwerfen, weil sie es nicht bis zur Metallmünze, sondern nur zur Kakaobohnenwährung gebracht haben.

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Hieran ist ersichtlich, wie schwer es den damaligen Europäern fiel, eurozentristische und ahistorische Werturteile bei der Beurteilung der Kultur nicht-okzidentaler Völker zu vermeiden. Erst Humboldt kam aufgrund seiner empirischen südamerikanischen Reiseerfahrungen zu einer Kritik der Positionen Raynals (und de Pauws und Robertsons), denn „für uns (...) können solche tiefen Unterscheidungen zwischen barbarischen und zivilisierten Völkern nicht existieren“ (zit. nach Dill 2013, 163). Aus ihrer bornierten „aufklärerischen“ Perspektive heraus betrachteten Raynal und Diderot die europäische Expansion als einen nur positiven zivilisatorischen Vorgang, als eine Kampagne zur „Aufklärung“ der abergläubischen Ureinwohner über ihren Wunder- und Mythenglauben. Raynal kritisiert allerdings voller Mitleid mit den Opfern die Gräueltaten der Spanier – oder waren es die der Franzosen in Saint Domingue? – und schreibt voller Rührung: „Ich muss einen Augenblick innehalten. Meine Augen sind voll Tränen, und ich sehe nicht mehr, was ich schreibe.“ (ibd., 112) Seine Tränen gelten den Opfern der längst vergangenen Conquista, nicht dem zu seiner Zeit herrschenden grausamen Kolonialregime der Spanier, Portugiesen und Franzosen in ihren amerikanischen Besitzungen, das als solches kaum in ihrem Text vorkommt. So haben sie ihre richtig gestellte Ausgangsfrage – „warum gehören die am meisten von der Natur begünstigten Länder nicht zu den blühendsten und reichsten“ – nicht beantworten können. Die Antwort gab schon Humboldt mit dem Hinweis auf die aus den nordisch-mediterranen Naturbedingungen folgende technisch-kulturelle und nautische Überlegenheit der seefahrenden Westeuropäer. Immerhin stellen Raynal/Diderot fest, dass „die Völker, die andere gesittet haben, Handel treibende und seefahrende Völker waren“, ohne daraus jedoch weitere Schlussfolgerungen zu ziehen. Mit der Durchsetzung von „Gesittung“ meinen sie die Domestizierung der „Wilden“ per Kolonisierung. Schließlich kommen sie auf die entscheidende Frage: „Hatten die Europäer das Recht, Kolonien in der neuen Welt zu errichten?“ Ihre nicht unerwartete Antwort: „Vernunft (sic) und Billigkeit erlauben Kolonien.“ (ibd., 161) Das heißt eine „vernünftige“, im Geist der Aufklärung arbeitende Kolonialverwaltung und die damit vorgegebene politische und polizeiliche Herrschaft der Europäer über die Einheimischen und deren Bevormundung war für sie akzeptabel. Doch zugleich findet sich eine runde Ablehnung des europäischen Kolonialismus als Inbesitznahme fremden Landes und ungerechtfertigter Herrschaft über dessen Einwohner, die sich darin zeige, dass die Ankömmlinge in der Neuen Welt ein Blech mit folgender Inschrift in die Erde eingruben: diese Gegend gehört uns zu. Worauf an den Kolonisator die rhetorische Frage gerichtet wird: 152

Und warum gehört sie dann euch? Seid ihr nicht ebenso ungerecht, ebenso unsinnig, als es Wilde sein würden, welche das Ungefähr an eure Küsten geführt hätte, wenn sie in den Sand eurer Ufer oder auf die Rinde eurer Bäume schreiben würden: dies Land gehört uns? Ihr habt kein Recht auf die unmerklichen und rohen Produkte des Landes, in welchem ihr anlandet, und ihr wollt eines über die Menschen, die euresgleichen sind, behaupten? Anstatt in diesen Menschen einen Bruder zu erkennen, seht ihr nur einen Sklaven oder ein Lasttier in ihm. (ibd., 163).

Genau dieselbe polemische, utopische, pädagogisch erfundene Modellsituation der Verkehrung von Subjekt- und Objektrolle im Prozess der Kolonisierung erscheint auch in einem Encyclopédie-Artikel. Die Widersprüche zwischen Verteidigung eines „vernünftigen“, also aufklärungskonformen Kolonialismus und der Forderung nach Selbstbestimmung, nach Freiheit und Gleichheit der Kolonien und ihrer Bewohner ziehen sich durch das ganze Werk. Sie sind Ausdruck des der Aufklärung immanenten Gegensatzes zwischen ihrem allgemeinmenschlichen emanzipatorischen Anspruch und ihrem bis zur Komplizenschaft gehenden Einverständnis mit dem westeuropäischen Kolonialismus. Stenger vermutet wohl mit Recht, Raynal habe sein Werk im Auftrag des französischen Außenministeriums verfasst, da Frankreich 1763 im Frieden von Paris viele Kolonien verlor und der Erwerb neuer wieder auf die Tagesordnung kam. Aber die Lektüre dieses Buches hat auch den schwarzen haitianischen Sklavenbefreier Toussaint l’Ouverture nach dessen eigenem Eingeständnis entscheidend in seiner Entwicklung zum Revolutionär beeinflusst. Es ist anzunehmen, dass auch Humboldt dieses Werk genau kannte und von diesem früh zu seinen Reisen angeregt wurde. Warum sonst schrieb er in Ich über mich selbst über seine Tegeler Kindheit: „Ich träumte mich bisweilen nach beiden Indien“ (Humboldt 1987, 34 f.), eine doch ungewöhnlich seltene Zusammenziehung zweier so weit auseinanderliegender, nur onomastisch von den beiden Autoren im Titel zusammengekoppelter Reiseziele, die kaum auf einer einzigen Expedition hätten besucht werden können. Der Neuherausgeber Hans-Jürgen Lüsebrink (1988, 343 f.) hat diese zwei sich widersprechenden Tendenzen des Werkes zwischen Pragmatismus und Utopie, zwischen Reform und Revolution den beiden Autoren differenziert zugeordnet, wobei seine Einschätzung Raynals das negative Urteil Humboldts tendenziell zu bestätigen scheint: Während Raynal Faktenmaterial sammelt, ein enzyklopädisches Wissensinventar aufstellt, das in pragmatische Reformvorschläge „zur Verbesserung des Kolonialsystems, zur effizienteren Nutzung der Kolonien, zur Humanisierung des Sklavenhandels“ (sic, welch eine Kreisquadratur, HOD) mündet, nimmt Diderot „die Rolle des geschichtsphilosophischen Kommentators ein, (...) der nach den großen historischen Zusammenhän-

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gen forscht, nach den Prinzipien sucht und – ganz im Gegensatz zu Raynal – durchweg radikale Lösungen vorschlägt: er ruft die Sklaven zum bewaffneten Widerstand auf, rechtfertigt die Loslösung der Kolonien vom Mutterland und prophezeit Europa nach der Revolution Nordamerikas eine Welle revolutionärer Veränderungen.

Diese Geschichte beider Indien enthüllt den wahren Charakter der Aufklärung als einer Bewegung für die Herstellung moderner, und das heißt kapitalistischer Verhältnisse. Letztere erheischten unabdingbar den Kolonialismus: ohne die von den Kolonien gelieferten agrikolen und mineralischen Rohstoffe hätte es niemals die kapitalistische Industrialisierung gegeben. Dieses Eingeständnis liefern auch die im 19. Jahrhundert erschienenen Editionen der französischen Larousse-Enzyklopädie: dort werden im Eintrag „colonie“ als deren Urheber „les nations commerçantes de l’Europe“, die Handelsvölker Europas genannt. Dabei wird sogar im persönlichen Possessiv in späteren Ausgaben des Larousse uni­ versel im 19. Jahrhundert forsch von „unseren Kolonien“ (nos colonies) gesprochen. Zwecks Vervielfachung der ausbeutbaren Flächen „wurde es notwendig, diese Ländereien zu erobern und die ehemaligen Besitzer zu vertreiben, um dort die unseren anzusiedeln“ (sic, HOD). Diese Besitznahme wird im Larousse mit Selbstverständlichkeit ohne jeden Unterton von Kritik oder wenigstens moralischer Entrüstung gesagt. Zweck sei, so heißt es ganz sachlich-nüchtern, „le profit du commerce & de la culture“, der Profit des Handels und des Ackerbaus. Entsprechend der „convenance de la domination“, dem Ermessen der Herrschaftsausübung, sei es möglich, die Wirtschaftsfreiheit der Kolonie zugunsten der Metropole einzuschränken. Dieser apologetisch-prokolonialistische Text der französischen NachfolgeEnzyklopädien rechtfertigt die Vertreibung der Einheimischen schlicht mit wirtschaftlichen Notwendigkeiten bzw. dem Gewinnstreben der französischen Kolonen. In dem ein Vierteljahrhundert später erscheinenden Larousse universel wird bereits von „mère patrie“, von „Mutterland“ gesprochen. Kolonien seien „pour les grandes nations européennes une nécessité de premier ordre.“ Kolonien seien für die großen europäischen Nationen eine Notwendigkeit erster Ordnung. Der französischen Kolonisierung in Afrika und Asien im großen Stil unter starkem Einsatz von Militär wird damit das Wort geredet. Man darf hier keine falschen Widersprüche hineininterpretieren, nicht vergessen, dass wie schon gesagt die Aufklärung die geistige Vorbereitung des Industriekapitalismus, der ökonomischen Moderne ist, wozu in allererster Instanz die Rohstofflieferungen aus den Kolonien gehören, ohne die die wichtigsten Industrien Frankreichs, Englands, Hollands und Belgiens sich nie zu weltbeherrschenden Ökonomien hätten entwickeln können, ja die europäische Zivilisation 154

vielleicht nicht zustande gekommen wäre. Insofern liegt eine moderate Befürwortung des französischen Wirtschaftskolonialismus durchaus auf der Linie der französischen Aufklärung. Deshalb unterscheiden sich die kritischen, aufklärenden Bewertungen des „Kolonialismus“ der damals (noch) nichtkolonienbesitzenden Länder Europas von den apologetischen Verrationalisierungen der öffentlichen Medien der Kolonialmächte. Die Berichte von Forschungsreisen in die südliche Halbkugel der Erde, die sich im 18. Jahrhundert häuften, befriedigten allesamt einerseits aufklärerische wissenschaftliche Neugier und sind andererseits Informationen von Vorausabteilungen künftiger Eroberer, wie zum Beispiel die über die Weltumsegelung Cooks, an der die beiden deutschen Geographen und Naturwissenschaftler Forster Vater und Sohn teilnahmen – auch der Berliner Dichter und Biologe Adalbert von Chamisso war an einem solchen Unternehmen beteiligt, das anders als mit Aussicht auf künftige Gewinne durch die Kolonien nicht vorfinanziert worden wäre. Es ging also zwar um Aufklärung, aber um eine solche, die der Erkundung von ausbeutbaren Bodenschätzen und Naturreichtümern und der politischen Verhältnisse dient. Ganz diesen im Ursinn des Wortes „aufklärerischen“ Zielen dienten auch die Reiseberichte der Teilnehmer dieser Erkundungsexpeditionen, nachweislich auch der Mexikoreport Alexander von Humboldts, der sogar die Londoner Börsenkurse beeinflusste. Diese Darstellungen „klärten“ die unwissenden neugierigen Leser über die fremden Gebiete auf, doch klärten einige dieser Chronisten und Kommentatoren wie Diderot, Raynal, Campe, Herder, Kant und Humboldt diese Leser auch über die oft suspekten Aktivitäten der aus Europa kommenden „Entdecker“, Besucher, Eroberer und Kolonisatoren auf. Mir geht es keineswegs um die moralische oder humanitäre Anprangerung der in den jeweiligen Texten beschriebenen kolonialistischen Machenschaften und Verbrechen, die meist für bzw. gegen sich selber sprechen, sondern um deren aufklärende Darstellung und Öffentlichmachung der Vorgänge in den Kolonien, um das „Ins-rechte-LichtRücken“ von Verhältnissen, die gemeinhin der Aufmerksamkeit der oft nur auf europainterne Probleme zentrierten Aufklärung entgingen.

Nochmals Campes Robinson Crusoe Zu diesen in doppeltem Sinn „aufklärenden“ Darstellungen der Kolonien und des Kolonialismus gehört als wohl erste die oben bereits unter pädagogischem Aspekt untersuchte Campesche Bearbeitung des Robinson Crusoe, den dieser Reformpädagoge kritisch gegen den Strich las. Dieser schiffbrüchige britische Matrose landete auf einer karibischen Insel, die er mit der Selbstverständlichkeit 155

des Kolonialherrn ohne jede rechtlichen Skrupel in Besitz nimmt, und überfällt anreisende nichtsahnende Eingeborene unter dem Vorwand des Kannibalismus mit Waffengewalt. Einen namenlosen, also personalitätslosen Kariben – soweit waren laut Defoe diese Barbaren noch nicht, dass sie Namen und damit Individualität hatten – den er einfängt bzw. vor dem Gefressenwerden durch seine „kannibalischen“ Rassengenossen rettet  – tauft er auf den englischen Namen Friday, um ihn gleich an die europäische Kalendernomenklatur zu gewöhnen, über die die „Eingeborenen“ ja (noch) nicht verfügen. Dieser musste sich an die neuen ungleichen Herr-Knecht-Relationen gewöhnen und seinen Herrn mit master, also „Herr und Meister“, und schließlich sogar mit „Majestät“ anreden und ihm aufs Wort gehorchen – „gehorchen“ (obey) ist eine in diesem Roman geläufige Vokabel. Robinson bringt gemeinsam mit Freitag, seinem Bediensteten und Vorläufer der aus Eingeborenen rekrutierten Kolonialtruppe, einige zwanzig Kariben mit gezielten Schüssen um, deren Liste er mit (von Marx allerdings in anderer Hinsicht gelobten) buchhälterischer Exaktheit fakturiert. Bilanz: „Im ganzen 21 Totschüsse“. Robinsons Motiv für das Gemetzel unter den Wilden ist deren Kannibalismus, der ihn als unmenschlich empört. Dieser Vorgang wird von Campe diskret als Metonymie britischer Kolonialpolitik beschrieben, die mit der 1599 gegründeten East India Company ihren Anfang nahm. Defoe war ihr eifriger Befürworter, der als Journalist und Memorandenschreiber für einen Krieg Englands gegen Spanien die Werbetrommel rührte, um diesem seine amerikanischen Kolonien abzunehmen. Auch gegen die Portugiesen sollte England nach Defoes Propagandaschriften Krieg führen und ihnen Brasilien entreißen, um die dortigen nackten Schwarzen, wie er offenherzig moralisch indigniert schrieb, mit englischen Tuchen zur Bekleidung ihrer Scham zu versorgen, woraus man außerdem auch ganz schön Profit schlagen könnte. In der Deutschen Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin fand ich ein Exemplar eines von ihm verfassten Flugblatts mit folgendem Wortlaut: We talk of, and expect a war with Spain and foresee the advantage which new settlements in the abandoned countries of America, as well as the islands as the continent considered, we should wish for such a war, that the English might by their superiority of sea get and mantain a form footing, as well as the continent as the Islands of America.

Das heißt also, man muss den Robinson Crusoe als belletristische, popularisierende Illustration von Defoes journalistischer Propaganda für einen britischen Kolonialkrieg gegen die Konkurrenten Spanien bzw. Portugal interpretieren. Das aufklärerische Anliegen Campes, zeitweise Privatlehrer der beiden Brüder Humboldt in Tegel, bestand nun darin, diesen Roman seiner Aura als hüb156

sches und spannendes Kinderbuch in den Augen der Kinder zu entkleiden und als selbstentlarvende Propagandaschrift Defoes für einen britischen Kolonialkrieg wider den Strich zu lesen. Campe als prominenter Vertreter der deutschen Aufklärung und Anhänger Rousseaus, der mit George Washington, Friedrich Schiller, Friedrich Gottlieb Klopstock und Johann Heinrich Pestalozzi vom Nationalkonvent zum Ehrenbürger der Französischen Revolution ernannt wurde, schob in seine Bearbeitung eine kritische Diskussion eines Lehrers mit seinem Kinderpublikum nach der kapitelweisen Lektüre des Buches ein, in der Robinsons kolonisatorisches Verhalten kritisch hinterfragt wird, so seine schnelle Bereitschaft, bei einem vagen Verdacht von Kannibalismus zwei Dutzend Indios zu töten, darunter einen wehrlos am Boden liegenden Insulaner. Damit wird der Kolonialismus überhaupt, werden die „Vorurteile“ der Weißen gegen Farbige und sogenannte „Wilde“ und andersrassige Nichteuropäer und ihr leichtfertiger Umgang mit dem Leben dieser fremden Menschen kritisch beleuchtet. Campe kratzt sozusagen mit dieser „Aufklärung“ an der üblichen medialen Bagatellisierung von Kolonialverbrechen und dem unmenschlichen Umgang der Europäer mit Menschen anderer Kultur, Rasse, Religion und historischem Entwicklungsniveau.

Herders Enthüllung des europäischen Kolonialismus Die behutsame aufklärerische Kritik Campes am westeuropäischen Kolonialsystem wird von dem evangelischen weimarischen Oberkonsistorialrat Johann Gottfried Herder (1744–1804) zu einer prinzipiellen und auch verbal mit außerordentlicher Schärfe vorgetragenen Aufklärung über den europäischen Kolonialismus weitergeführt. Herder stand nicht an, in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität (West)Europa der Versklavung der asiatischen, afrikanischen und amerikanischen „Eingeborenen“ zu bezichtigen und dem alten Kontinent wegen seines ausbeuterischen Kolonialregimes die Leviten zu lesen. Sein Ausgangspunkt ist folgende provokatorische, anklagende Behauptung: Künste und Wissenschaften, die den angeborenen Stolz, die freche Anmaßung, das blinde Vorurteil, die Unvernunft und Unsittlichkeit stärken, verschleiern, schmücken, schönen, sollte man brutalisierende Künste und Wissenschaften nennen, wert von Sklaven getrieben zu werden, damit auf ihnen die menschliche Tierheit ruhe. (Herder 1971., 6 f.)

Mit dieser scharfen Formulierung nimmt der Aufklärer Herder natürlich implizit Bezug auf Rousseaus an die Akademie von Dijon als Preisausschreibenbeitrag gesandte bereits weiter vorn erwähnte Abhandlung mit dem Titel: Discours qui a remporté le prix à l’académie de Dijon en l’année de 1750, sur cette question propo­ 157

sée par la même académie: Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué a épurer les moeurs. (ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Reinigung der Sitten beigetragen habe). Rousseau verneinte diese Frage und konstruierte starke Gegensätze zwischen Wissenschaft und Kunst auf der einen und der Sitte und Moral auf der anderen Seite, was statt zum „Fortschritt“ zur Entartung des Menschengeschlechts und, vor allem, zur Ungleichheit, dieser Quelle allen Übels, geführt hätte. Über letztere schrieb er einen weiteren, allerdings erfolglosen Wettbewerbsbeitrag an dieselbe Akademie mit dem Titel Über die Ursachen und Grundlagen der Ungleichheit zwischen den Menschen. Herders Positionierung belegt seine innere Verbundenheit mit dem Aufklärer Rousseau, dessen skeptische, fortschrittspessimistische Meinung er zu teilen scheint, während die obligate Nennung des „Vorurteils“ seine Identifizierung mit der Aufklärung ganz allgemein markiert. Speziell in Bezug auf den Kolonialismus ist seine folgende Äußerung relevant, die allerdings einer genaueren Interpretation und Kommentierung bedarf: Europa halte zwar selbst keine Sklaven, weil diese teurer seien als Freie, schrieb er, „nur einen Luxus leistet sich das gesittete Europa noch (Gesittung taucht häufig in den Selbstdefinitionen der Europäer als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu den ‚ungesitteten‘, also unzivilisierten Einwohnern der drei anderen Weltteile auf, HOD), nämlich die Einwohner Asiens, Afrikas, Amerikas als Sklaven zu gebrauchen (...) Drei Weltteile durch uns verwüstet und polizieret. Eigentlich müsste sich der Europäer wegen des Verbrechens beleidigter Menschheit fast vor allen Völkern schämen. (...) Europa müßte nicht der weise, sondern der übervortheilende Theil der Erde heißen, er hat nicht cultiviert, sondern die Keime eigener Kultur der Völker, wo und wie er nur konnte, zerstört.“ Europa müsse „materiell ersetzen, was es verschuldet, gutmachen, was es verbrochen hat“. (ibd., 98)

Soweit in der Kritik am Kolonialismus ist meines Wissens kein anderer europäischer Aufklärer gegangen. Damit sagt Herder nicht, dass der Europäer die ganze übrige Welt als Sklaven hält, sondern wie er wörtlich schreibt als Skla­ ven gebraucht, was meint, die ganze übrige Welt arbeite wie Sklaven für die Europäer. Hier ist weniger Sklaverei als unmittelbare Zwangsarbeit von Unfreien oder persönlich Abhängigen, sondern vielmehr die quasi kostenlose Aneignung von deren Arbeitserträgen gemeint, für welche diese hart in einer Art mittelbarer Zwangsarbeit angesichts existentieller Notwendigkeit für geringem Entgelt schuften müssen, was so gut wie Sklavenarbeit ist. Mit der Bezeichnung Europas als „übervortheilender Theil der Erde“ meint er den hohen Gewinn, den Europa betrügerisch zuungunsten der Drittweltländer aus dem nichtäquivalenten Handel zwischen beiden Weltteilen schlägt, der die Bevölkerungen der Drittwelt wirtschaftlich ruiniere. 158

Herders Forderung nach materiellem Ersatz bzw. Gutmachen des durch Europas Verschulden seiner Meinung nach für die Drittweltländer eingetretenen Verlustes, der bis ins jetzige 21. Jahrhundert samt Zinsen auf eine schwindelnd hohe Summe angelaufen wäre, ist durchaus ernst gemeint. Durch diese Ausbeutung würden diese modernen Sklaven über keinerlei über ihre bloße Reproduktion als Arbeitsmaschinen hinausgehende Finanzmittel für effektive Investitionen und eigene Entwicklungspolitik verfügen (Sklaven haben nun einmal keine Bankkonten oder sonstige Reserven). Damit entfielen die für den Aufbau einer kulturellen Infrastruktur nötigen Mittel, ganz abgesehen davon, dass die Kolonialmacht in ihren Besitzungen nur die ihnen genehme Kultur duldete. Das isst gemeint, wenn Herder schreibt, dass der Europäer „die Keime einer eigenen Kultur (in den Kolonien) wo er nur konnte zerstörte“. Damit war laut Herder den Kolonialvölkern die eigene Kulturentwicklung verwehrt, womit er bis zum heutigen Tag Recht behalten hat. – Er war zwar nie in den Kolonien, hatte sich jedoch mit der Kultur der Völker, auch der Kolonialvölker intensiv und professionell als Folklorist beschäftigt, deren Volkslieder er zum Beispiel in seine Anthologie Stimmen der Völker in Liedern (1778) aufnahm, darunter indianische Gesänge aus Peru. Das Zurückbleiben der Kolonien ist also für Herder nicht schlechthin nur eine im Kantschen Sinne „selbstverschuldete Unmündigkeit“, sondern ein Fremdverschulden, ein gerüttelt Maß Schuld der abendländischen Vormunde am elenden Zustand ihrer Mündel, die ihre großen Ressourcen nicht zur von Herder geforderten Wiedergutmachung einsetzten. So ist nach offiziellen Berechnungen die Entwicklungshilfe der Bundesrepublik Deutschland für manche mittelamerikanischen Staaten geringer als die Einnahmen des deutschen Zolls aus dem beiderseitigen Handel. Herders implizite Empfehlung an die Europäer lautet also: keine Entwicklungshilfe leisten, sondern aufgelaufene Schulden bezahlen für durch den europäischen Kolonialismus verursachte Entwicklungsverhinderung. Seine Einschätzung der kulturzerstörerischen und die Entwicklung und Höherentwicklung einer eigenen Nationalkultur der kolonialen Länder verhindernden Effekte des Kolonialismus greift im Übrigen modernen kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Postkolonialismusstudien voraus. Er trifft darüber hinaus noch eine weitere, viel grundlegendere Feststellung von großer Tragweite über das Verhältnis Europ-übrige Welt: Er sieht Europas hochentwickelte Zivilisation als das Ergebnis eines gewissermaßen unverdienten Privilegs, das auf dem unbegrenzten Ausnutzen der Fremdkapazitäten der gesamten übrigen Welt beruht und also konsequenterweise auch der ganzen Welt 159

gehört und nur zeitweilig, leihweise, von den Europäern aufbewahrt wird. Das meint Herders zunächst enigmatisch klingende Formel: „In Europa sollte das Gewächs der alten Weltjahrhunderte nur gedörrt und abgekeltert werden“. Diese von und in Europa gekelterte Frucht, die Weltkultur, „sollte aber von da aus unter die Völker der Erde kommen“ (Herder 2007, 88). „Unter die Völker der Erde kommen“ soll heißen, das zur Aufbewahrung den Europäern überlassene und von der ganzen Menschheit direkt oder indirekt produzierte Weltkulturgut muss wieder anteilig an die ursprünglichen Mitproduzenten bzw. Besitzer, also an die übrige Welt, darunter die ehemaligen Kolonialländer, zurückgegeben werden. Herder meinte damit auch implizite, dass das relativ kleine Europa, dieses winzige Anhängsel Asiens, sich nicht nur allein die Bodenschätze und sonstigen materialen Reichtümer der übrigen Welt angeeignet, sondern auch alles Wissen und Können, alle immateriellen Güter der übrigen Völker monopolisiert hat, wenn er schrieb: „Die sogenannte Aufklärung und Bildung der Welt hat nur einen schmalen Streif des Erdballs berührt und gehalten.“ (ibd., 89) Der schmale Streif der Aufklärung und Bildung war Westeuropa. Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774 ist eine wahre Aufklärungspredigt des Theologen und evangelischen Geistlichen für naive und unwissende Deutsche über die Hauptprobleme der damaligen „Dritten Welt“, in der man sehr genau und detailliert die Einflüsse der großen französischen Aufklärer, namentlich Rousseaus wiedererkennt: er artikuliert jedoch im Unterschied zu diesem weniger staatsrechtliche und theoretische Fragen in abstracto, sondern geht sie sehr direkt und konkret in Hinblick auf die Folgen der großen Politik für die Zeitgenossen für den Alltag, für die Lebenswelt der Menschen zumal in den Kolonien an. Darin und weniger in theoretischen Höhenflügen besteht seine besondere Bedeutung innerhalb der Aufklärer, daraus bezieht er auch seine polemische Verve gegen die Regierer in Europa, die seine Schriften oft in Pamphlete verwandelt: seine Hauptkritiken galten dem Krieg, dem Nationalismus und dem Kolonialismus und dem von ihm äußerst kritisch gesehenen Verhältnis der (West)Europäer zur heute sogenannten Dritten Welt. Den größten Einfluss in Thematik und Sichtweise übte er bis in die Wortwahl auf Alexander von Humboldt aus.

Immanuel Kants Aufklärungslektion über Kolonialkriege Am Jahrhundertende vollzog sich ein grundlegender Wandel in Bezug auf den mit den Kolonien verbundenen Gegenstand der Aufklärung. Hatten Diderot-Raynal Kritik an der Kolonisierung, aber nicht an der Kolonie geübt, so zeichnete die deutschen Aufklärer in Bezug auf das Kolonialproblem ein 160

weit k­ritischeres und zugleich entspannteres Verhältnis als ihre französischen Pendants aus, was oft von den Chronisten der Geschichte der Beziehungen beider Länder zur außereuropäischen Welt übersehen wird. So erscheint in des Sprachwissenschaftlers Werner Bahners europäischer Aufklärungsgeschichte zwar Herders allerdings bedeutendes Werk zur Sprachwissenschaft, aber dessen substantielle Fundamentalkritik am Kolonialismus wird nicht erwähnt. Ähnliches ließe sich von den diesbezüglichen Darstellungen von Michael Nerlich in Kritik der Abenteuerideologie sagen. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1727–1804) denunzierte, sich offensichtlich auf die vielen zeitgenössischen Reiseberichte, auf die französische und die deutsche Enzyklopädie und Diderots und Raynals Geschichte beider In­ dien stützend – bei einem Textvergleich fallen die Übereinstimmungen sogleich ins Auge – in ungewöhnlich polemischer Schärfe den europäischen Kolonialismus, nämlich das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich Handel treibenden Staaten unseres Weltteils. So geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten, denn die Eingeborenen rechneten sie für nichts. In Ostindien (Hindostan) brachten sie unter dem Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederlagen fremde Kriegsvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingeborenen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weitausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag. (Kant 1984, 24f; alle Parenthesen und Hervorhebungen sind von Kant)

Mit Kant hört die Aufklärung, zumindest die deutsche, auf, das Publikum nur vorrangig über Land und Leute, Natur und Bodenschätze, Wirtschaft und Glaubensdinge der südlichen Welthemisphäre und deren primitive Bewohner zu informieren und damit auch für die Kolonisierung zu werben, sondern dieses zunehmend über die dubiosen kolonialistischen Aktivitäten der Europäer in diesem Teil der Welt „aufzuklären“ bzw. nach französischer Lesart, das „Licht“ des Siècle des Lumières in das Dunkel der Kolonialwelt zu bringen. Die Bedeutung des Terminus „Aufklärung“ dreht sich um 180 Grad und es beginnt, wenngleich zögerlich, die Aufklärung über die Aufklärer, d. h. die Kolonisatoren. „Entdeckung“ meint nicht mehr nur die Beschreibung der neuen Welten des Südens, sondern die „Enthüllung“ der Praktiken der Kolonialmächte. Kants Darstellung der raffinierten Strategien der Eroberer folgt hier Diderot/Raynal, besonders ihrer Beschreibung der Machinationen des brutalen und gewalttätigen portugiesischen „Entdeckers“ und Kolonisators Albuquerque, 161

doch er gelangt zu ganz anderen, weit kritischeren Schlussfolgerungen als jene, schreibt fast ein Szenarium für strategisch und ideologisch gut vorbereitete Eroberungskriege. Kant kam mit Sicherheit auf das Kolonialismusproblem erst durch die Kolonialkriege, auf die er wiederum im Zusammenhang mit seinem pazifistischen Projekt Zum ewigen Frieden stieß. Über diese Umwege erst wurde er zur Kenntnisnahme der problematischen Existenz der außereuropäischen Welt angeregt. Mit deren Eingliederung in das Weltganze gelangte er zu einem Begriff der Erde als kugeliger Körper und zugleich als Wohnstatt der Menschen und damit zum Menschheitsbegriff, an den sich als weiterführende Implikationen die sogenannten Menschenrechte als von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts geprägter Begriff überhaupt erst anschlossen. Auf so verwickelte assoziative Art der Verkettungen der einzelnen politischlebensweltlichen und nicht im engeren Sinn philosophischen Phänomene, per Metonymisierung und nicht per Metaphorisierung funktionierte Kants kritische Gesamtsicht von Welt und Menschheit. Er war wohl einer der ersten Philosophen, der seine kritische Aufmerksamkeit den Kolonialkriegen zuwendete, die die Verbindung zwischen Europa und dem Nahen und Fernen Osten, also über lange geographische Distanzen hinweg, erst schufen. Diese gedankliche Verbindung zwischen Europa und der exotischen Drittwelt erfolgte zwar auf seine assoziative Art, doch der gemeinsame, verbindende Nenner waren die Kriege der europäischen Mächte, ob in Europa oder im Nahen und Fernen Osten oder in Afrika. Kant war einer der wenigen, die zu seiner Zeit über die Kolonialkriege räsonnierten, die von den Kriegen in Europa um Macht, Territorien, Untertanen, Steuerzahler und religiös-weltanschauliche Prinzipien kategorial verschieden waren, weil sie um Rohstoffe, Luxuswaren und weltstrategische Einflusssphären geführt wurden und ferner auch im Unterschied zu ersteren kein Kriegsrecht und keinen Pardon mit den Eingeborenen kannten. Seine diesbezüglichen Texte sind in ihrer Kompromisslosigkeit und Tiefgründigkeit bis heute unübertroffen. Er warf den europäischen Kolonialmächten, den wie er ironisch sagt „gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils“ (also Europas), zu denen Deutschland (damals noch) nicht gehörte, „inhospitales Betragen“ vor, indem sie dorthin den Krieg als ihr Besuchergeschenk an ihre unfreiwilligen überseeischen Gastgeber trugen. Er schreibt in einer Mischung von Empörung und beißender Ironie von den Kolonialkriegen der Europäer, dass letzere „von der Frömmigkeit viel Werks ma-

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chen und, indem sie Unrecht wie Wasser trinken, sich in der Rechtgläubigkeit für Auserwählte gehalten wissen wollen“. (ibd., 26) Der letzte Satz manifestiert seine Ansicht, dass die Religion nur als vorgetäuschter, allgemein für ein christliches Publikum bestimmter und von diesem gern akzeptierter Vorwand für Aggression, Krieg und Unterwerfung funktio­ niert. Wichtig ist an diesen Zitaten außer der Kriegskritik die von ihm in ihrem Wesen und ihren Erscheinungsformen erkannte Herrschaftsstrategie der Kolonialmächte, die im Entzweien und Aufeinanderhetzen der Kolonialvölker besteht; Kolonialkrieg als gewissermaßen Fortsetzung der Kolonialpolitik mit anderen Mitteln. Im Anhang seines Friedensappells unter der Überschrift: Über die Misshelligkeit zwischen der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden, schreibt er über die raffinierte Morallosigkeit der europäischen Kriegstreiber und Kriegführenden im taktischen Umgang mit eingeborenen Stammeshäuptlingen zum Zwecke der Machtsicherung  – die Macht ist für ihn wie er schreibt das zweitwichtigste „Kriegszeug“ –: Divide et impera. Das sind gewisse privilegierte Häupter in deinem Volk, welche dich bloß zu ihrem Oberhaupt (primus inter pares) erwählt haben, so veruneinige jene untereinander und entzweie sie mit dem Volk. Stehe nun dem letzteren unter Vorspiegelung größerer Freiheit bei, so wird alles von deinem unbedingten Willen abhängen. Oder sind es äußere Staaten, so ist Erregung der Mißhelligkeit unter ihnen ein ziemlich sicheres Mittel, unter dem Schein des Beistandes des Schwächeren einen nach dem anderen dir zu unterwerfen. (...) Weil sich große Mächte nie vor dem Urteil des gemeinen Haufens, sondern nur eine vor der anderen schämen, was aber jene Grundsätze betrifft, nicht das Offenbarwerden, sondern nur das Mißlingen (Hervorhebung von Kant, HOD) sie beschämen machen kann (denn in Ansehung der Moralität der Maximen kommen sie alle überein, (Parenthese von Kant, HOD)), so bleibt ihnen immer die politische Ehre übrig, auf die sie sicher rechnen können, nämlich die der Vergrößerung ihrer Macht, auf welchem Wege sie auch erworben sein mag. (Ibd., 44, Parenthese von Kant)

Die Strategie des „divide et impera“ war einst von den Römern zum Kern ihrer imperialen Politik erhoben und von Machiavelli in Il Principe zur Begründung moderner Politik im Geist der Renaissance erweitert worden, war daher ein erprobtes Mittel zur Herrschaftssicherung in besetzten Territorien, in denen es Differenzen zwischen den Urbewohnern gab, den Vertretern unterschiedlicher und rivalisierender Ethnien, Sprachen, Kulturen, Religionen und Traditionen, was beispielsweise in Indien, Indochina, im Nahen Osten und auf dem Balkan in starkem Maße der Fall war, worauf Kant hier anspielt.

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Alexander von Humboldts empirische Kolonialismusvision Alexander von Humboldts aufklärerisch-enthüllende Kommentierung des Kolonialismusproblems unterscheidet sich bei annähernd gleichem kritischen Tenor von den Darstellungen der Kolonisierung durch Campe, Kant und Herder sowie durch Raynal und Diderot durch den nicht unwesentlichen Unterschied, dass er infolge seiner fast fünfjährigen Reise durch Iberoamerika und Teile Nordamerikas sowie durch kürzerfristige Aufenthalte in Nordafrika und Russland neben seinen vielen Expeditionen in Deutschland und Europa als Geograph und Geologe, als einziger über eingehende empirische Kenntnisse der Materie auf vier Kontinenten vor Ort verfügte, zumal er sowohl Natur- als auch Sozialwissenschaftler, also für einer ganzheitliche Betrachtung kompetent war. Als letzterer interessierte er sich kritisch für das damalige politische Kolonialsystem, die Lebensverhältnisse und Denkweisen der Menschen in den Kolonien, ihre Produktionsweisen sowie überhaupt für das Verhältnis Kolonisierer vs. Kolonisierte. Er hatte eingehend die französischen Schriften über Eroberung und Kolonisierung Amerikas sowie die spanischen Conquistachroniken und alle einschlägigen Reiseberichte gelesen, so dass sein Wissen über eine historische Tiefendimension verfügte: viele der Franzosen der Spätaufklärung aus dem Milieu der Wissenschaftler der Akademie und des Jardin des Plantes gehörten zu seinem Pariser Freundes- und Bekanntenkreis, und mit Sicherheit war er mit den Werken der deutschen Aufklärer Moses Mendelssohn – an dessen Beerdigung er als Schüler teilnahm!, – Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling sowie, wenn auch in geringerem Maße Johann Gottlieb Fichte – bestens vertraut. Wenn er in Politischer Essay über die Insel Kuba, (Alicante 2002: Club Universitario, 126) schreibt, dass sich der Europäer wegen der von ihm in den Kolonien praktizierten Sklaverei und Räuberei „am meisten schämen muss“, so wiederholt er damit wörtlich eine Bemerkung Herders. Er distanziert sich aber auch von der Aufklärung als „Begleiterin“, wie Ottmar Ette schreibt, des Kolonialismus, wenn er meint, die europäische Sklaverei empöre einen in beiden Indien „wie überall, wohin europäische Kolonisten ihre sogenannte Aufklärung (Hervorh. HOD) und ihre Industrie getragen haben.“ (Alexander von Humboldt: Reise auf dem Magdalena, durch die Anden und Me­ xiko, Teil II, Berlin: Akademie Verlag 2003, 47). Auch er registriert wie Voltaire und Herder die unmenschliche Behandlung der Eingeborenen und Fremdrasssigen durch die Europäer in den Kolonien: Sich darüber streiten, welche Nation die Schwarzen mit mehr Humanität behandelt, heißt sich über das Wort Humanität lustig machen und fragen, ob es angenehmer sei,

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sich den Bauch aufschlitzen zu lassen oder geschunden zu werden, heißt fragen, ob die Spanier mehr Grausamkeiten in Peru als in Venezuela verübt haben, ob die Spanier mehr Grausamkeiten in Amerika als die Engländer und Franzosen in Ostindien verübt haben. (Alexander von Humboldt: Über die Freiheit des Menschen. Auf der Suche nach Wahrheit (Hrsg. Manfred Osten). Berlin 1999: Ruhrwall Verlag, zit. nach Dill, HansOtto: Alexander von Humboldts Metaphysik der Erde. Berlin 2013: Peter Lang, 99)

Damit setzte er die Anklagen der Behandlung der Eingeborenen durch die Kolonen, wie sie Voltaire und Raynal/Diderot äußerten, fort. Er greift auch wie die französischen Aufklärer heftig den europäischen „Fanatismus“ – diesen psychischen Lieblingsfeind der Aufklärer  – an: „Die Europäer sind außerhalb ihrer Länder so barbarisch wie die Türken, nur schlimmer, weil fanatischer“. (ibd., 272). Die adverbiale Bestimmung „außerhalb ihrer Länder“ meint die Kolonien, in denen er während seiner Reisen sowohl das arrogant-brutale Auftreten vieler Europäer als auch ihre religiöse Intoleranz gegen die ja meist andersgläubigen Kolonialvölker beobachtet hatte. Die Europäer ruinierten seiner Erfahrung nach beispielsweise auch die von den Indios einst peinlich respektierte Ökologie in den Anden: „Zerstört man die Wälder, wie die europäischen Siedler aller Orten in Amerika mit unvorsichtiger Hast tun, so versiegen die Quellen (...) und (entstehen) plötzliche Hochwasser, welche nun die Felder verwüsten.“ (ibd., 98) Hier traf die aus Europa kommende Aufklärung, ihr mühseliges Vordringen in Amerika, Humboldt zufolge nicht so sehr auf die Widerstände der unaufgeklärten „mythengläubigen“ Eingeborenen, sondern was zunächst paradox erscheinen mag auf die der europäischen Kolonialmächte. In seinen amerikanischen Reisejournalen registriert er jede Regung von Modernisierung, von wirtschaftlicher Entwicklung und Reichtumsentwicklung, jede Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen auf den Welthandel und Weltmarkt sowie jede Äußerung der Vordringens demokratischer Ideen aus den nahen USA und ihrer Menschenrechts- und Bürgerrechtserklärungen als Anzeichen von Ankunft und freudiger Begrüßung der Aufklärung durch die Bewohner. Er ist absolut indigniert über die elende Lage der Indios, die er die wahren Herren des Landes nennt, die man ihres Ackerlandes unrechtmäßig beraubt habe. Enttäuscht ist er von den USA wegen ihrer Annektion von Texas, von der er die Einführung der Sklaverei in diesem Landstrich befürchtet, ganz im Unterschied zu Karl Marx, der in diesem Raub die Durchsetzung des kapitalistischen Fortschritts anstelle des maroden spanischen Kolonialsystems begrüßte, dessen Fäulnis Humboldt natürlich ebenfalls bemerkt und in vielen kritischen Beschreibungen zu Papier gebracht hatte. Seine Verurteilung des spanischen Kolonialismus beruht auf seiner genauen empirischen Kenntnis vor allem der archaisch-zurückgebliebenen und unren165

tablen Wirtschaft der spanischen Kolonen, was er statistisch belegte, und auf seiner moralischen Indignation über die Korruptheit der Behörden. In Erkenntnis dieser einmaligen wissenschaftlichen wie ethischen aufklärerischen Haltung Humboldts im damaligen Europa sagte der kubanische Dissident Jesús Díaz über dessen bedingungslosen Antikolonialismus unter Hinweis auf die damalige Kolonienlosigkeit im dazumal zudem nicht staatlich existierenden Deutschland: Die frühzeitige Wahrnehmung einer in bezug auf die Verteilung des Reichtums relativ ausgewogenen Gesellschaft, die anders als England, Frankreich oder Spanien nicht über ein Kolonialreich verfügte, verlieh Humboldt einen bemerkenswerten Ausgangspunkt für die Beurteilung der außereuropäischen Welt. (2001, 74 f.)

Er schreibt weiter (wobei was in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss viele lateinamerikanische Denker ihren sensualistischen Subkontinent explizit als manifesten Gegensatz zum französischen Cartesianismus ansehen), Humboldt sei nicht in die Falle gegangen, den scholastischen spanischen Blick (...) durch die rationalistische Weltsicht der Franzosen zu ersetzen, bzw. diese verstehen zu wollen, indem man ausschließlich und messianisch und mechanisch nur europäische Rezepte anwendet. (...) Die meisten Bewohner Westeuropas sahen Europa, „diese kleine asiatische Halbinsel“, als Zentrum der Welt, doch „für Humboldt traf dies nicht zu, und dieser Tugend ist es zu verdanken, daß er zum wahren Entdecker Amerikas wurde.“ (ibd.)

Die Deutschen hatten (noch) keine Kolonien und waren daher (noch) von allem patriotischen Opportunismus und diesbezüglichen Rücksichtnahmen der französischen Aufklärer frei, was ich ebenso wie Díaz als einen wesentlichen Unterschied zu ihren französischen Mitstreitern betrachte, eine Situation, die sich mit dem späten Erwerb einiger unbedeutender Kolonien nach der Reichsgründung 1871 änderte. Allerdings hatte sich Brandenburg unter dem Großen Kurfürsten bzw. dem ersten preußischen König Friedrich I. ein gutes Jahrzehnt am Sklavenhandel beteiligt, was von Friedrich Wilhelm I. nach Regierungsantritt jedoch bald wieder abgeschafft wurde. Das Aufklärerische bei Kant, Herder; Humboldt und Campe betrifft nicht mehr in erster Linie die Kolonialwelt oder die Südhälfte der Erde als solche, gilt nicht mehr deren Entdeckung und Enthüllung, sondern dreht die Enthüllungsfunktion, also Aufklärungsfunktion geradezu um, „entdeckt“, enthüllt das Tun der sogenannten Entdecker in der später sogenannten Dritten Welt, wie sie Ende des neuen, 19.  Jahrhunderts nur der aus Polen stammende Engländer Joseph Conrad in der Kongoerzählung Herz der Finsternis beschrieben hat, in dessen Nachfolge der Dokumentarroman Der Traum des Kelten (2010) des Peruaners 166

Mario Vargas Llosa steht, eine kritisch-aufklärerische Literatur im Unterschied zur Apologie des Kolonialismus und Imperialismus etwa durch Rudyard Kipling. Hierin, in diesem Umschlagen des Objekts der Enthüllung von den Verhältnissen in den Kolonien zu den Verhaltensweisen der Kolonialisten, besteht die wahre „Dialektik der Aufklärung“. Wenn „Aufklärung“ die Auffindung und Enthüllung von Genesis und Kausalität von Intoleranz, Unfreiheit, Ungleichheit und Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten ist, so haben Campe, Kant, Herder, Humboldt und Raynal die Gründe des Ursprungs des Unterschieds zwischen West und Süd im Kolonialismus gefunden. Die Bewohner der amerikanischen Kolonien selber, zumindest ihre besitzenden und gebildeten Eliten, genauer die Kreolen, die Abkömmlinge der herrschenden Kolonialmächte, wurden sich durch normale Kontakte, durch fast überall noch intakte Beziehungen zu in Europa wohnenden Verwandten, durch ihre Geschäftsverbindungen und den interkontinentalen Handel der großen Unterschiede zwischen beiden Weltteilen bewusst: diese Unterschiede bestanden in der rechtlichen Ungleichheit mit den Bewohnern der „Mutterländer“ und der ihnen auferlegten Unfreiheiten. Beim Erkennen dieser Sachlage spielten die Ideen der Aufklärung, die in den Kolonien natürlich verboten waren, eine Hauptrolle. Die von der europäischen Aufklärung vertretenen Ideen der Freiheit und Gleichheit, der Bürger- und Menschenrechte wurden eigentlich erst in den Kolonien zu einer materiellen Gewalt durch ihre Umformulierung zu einer antikolonialistischen Programmatik, die die erste große kreative Leistung der führenden Denker der Kolonien war, von Männern wie Franklin, Jefferson, Thomas Paine, Toussaint l’Ouverture, Francisco de Miranda, Simón Bolívar, Mariano Moreno und Andrés Bello. Diese arbeiteten hinter dem Rücken der Kolonialbehörden ihre Befreiungsprogrammatik aus, die sie in ihren Unabhängigkeitsrevolutionen zum Sieg führten.

Aufklärung, Kolonialismus und Globalisierung Der Kolonialismus bewerkstelligte, wie die vorhergehenden Kapitel zeigten, die dynamische und unaufhaltsame Ausbreitung der modernen okzidentalen Zivilisation und der diese begleitenden Aufklärung sowohl auf die Länder der europäischen Peripherie als auch auf die außereuropäische Welt, Gebiete, die nicht auf den Kapitalismus eingerichtet und vorbereitet waren, die jedoch durch das Weltprojekt „Aufklärung“ aus ihrer Isolierung gerissen und in den Strudel globaler Zusammenhänge hineingezogen wurden. Nur dadurch, durch die Inklusion dieser abseitigen Territorien und Völker gleichgültig mit welchen meist schäbigen 167

Mitteln in dieses Weltprojekt wurde aus der Weltbevölkerung die Menschheit. Denn die Aufklärung hätte sich nie auf Amerika erstreckt, hätte es nicht dort ein entsprechendes Bedürfnis nach ihr gegeben, das sich auch mehr der weniger offen artikulierte. Das Weltprojekt begann sich von dem Augenblick an zu entwickeln, als die Aufklärung erfolgreich den europäischen Kolonisatoren folgend den Sprung über den Atlantik in die Neue Welt, nach Amerika machte. Sie tat dies von dem Punkt aus, an dem sie entstanden war, von Frankreich, und zwar in allen drei Fällen, in den englischen Kolonien im Norden, in der französischen Karibik in der Mitte und in Lateinamerika im Süden, wohin sie quasi als blinder Passagier gelangte. Der Ariadnefaden der „Illustration/ilustración/enlightenment“ lief direkt von Frankreich in die jeweiligen amerikanischen Kolonien der Europäer. Aufklärung bedeutete hier wie in Europa stets dasselbe: Installation der Vernunft als höchster Instanz und des Regimes der Toleranz, des demokratischen Sozialvertrags zwischen Regierenden und Regierten, Teilung der drei Staatsgewalten, der exekutiven, legislativen und judikativen, sowie die Garantien von Freiheit, Gleichheit, Eigentum, Bürger- und Menschenrechten. Aber auch hier, in der Neuen Welt, prägte das je verschiedene einheimische Substrat wesentlich die von außen, von Europa eindringende Aufklärung mit, mischte beide Elemente zu einem amerikanische Identität stiftenden Amalgam lokaler amerikanischer und universaler, menschheitlicher Substanzen. Die amerikanische Aufklärung differenzierte sich von der europäischen durch folgende Eigenheiten, die auch entsprechende besondere Strategien erforderten: Zum ersten war sie als Ideologie der Freiheit auch auf die Befreiung von den europäischen Kolonialherrschaft gerichtet, musste also auch einen entsprechenden antikolonialistischen Inhalt in ihrem Programm haben; Zum zweiten bedeutete wegen des voraussehbaren und manifesten Widerstands aller europäischer Kolonialmächte die amerikanische Aufklärung auch den Einschluss und die entsprechende Vorbereitung des bewaffneten Kampfes um die Freiheit; Drittens musste auf einem multikulturellen Kontinent auch stets die Präsenz der drei Hauptethnien mit ihren verschiedenen Kulturen berücksichtigt werden, auch wenn sich die Aufklärung als solche nur unter den weißen Kreolen, und innerhalb dieser nur in einer intellektuellen, politischen und militärischen Elite durchsetzte, wodurch von vornherein Spannungen zwischen diesen verschiedenen Bevölkerungsteilen herrschten und die Aufklärung praktisch allein von den machthabenden Weißen angeeignet wurde. 168

Viertens hatte die Aufklärung in allen amerikanischen Kolonien das in Europa praktisch inexistente Phänomen der Sklaverei zu bedenken, der Tatsache, dass juristisch ein Grossteil der Bevölkerung weder frei noch gleich und insofern auch keine Bürger waren. Auch die Ureinwohner, die sogenannten Indianer, hatten einen inferioren sozialpolitischen Sonderstatus, so dass allein die freien europastämmigen Weißen von der Aufklärung und der nachfolgenden Unabhängigkeitsrevolution tangiert wurden. Fünftens bestand ein großer Unterschied zu den relativ homogenen europäischen Ländern mit ihrem gemeinsamen antiken Kulturerbe, dem Latein als gemeinsamer Wissenschaftssprache und dem Christentum als gemeinsamem Glaubensbekenntnis, während die amerikanischen Kolonien kulturell weit diffuser organisiert waren. Sie bestanden gegenüber dem monorassischen Europa aus drei verschiedenen Rassen und ihren Mischungen: den europastämmigen Kreolen („Weiße“), den Indigenen oder Ureinwohnern („Indianer“) und den Nachkommen der aus Afrika zwangsimportierten Negersklaven, den „Schwarzen“, die allesamt ihre verschiedenen Kulturen wenngleich mit unterschiedlichem Daseinsrecht eingebracht hatten, sowie den Mestizen, Mulatten und Zambos. Nur die weißen Nord- und Südamerikaner hatten die ihnen nahestehende okzidentale Kultur als ihren geistigen Besitz mehr oder weniger tief verinnerlicht und vermochten so, sich die aus Europa kommende Botschaft der Aufklärung anzueignen, die durch Reisen, Seehandel, Buchmarkt und Briefverbindung in die Neue Welt gelangte. Die Unzufriedenheit der weißen Bevölkerungen der amerikanischen Kolonien mit ihrem inferioren Status, mit ihrer mangelnden Teilhabe an der Leitung und Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten, also an den Regierungen, die die europäischen Kolonialmächte allein und fest in den Händen hielten, sowie mit dem aus dem Kolonialstatus resultierende Fehlen von Bürgerrechten und Freiheiten wie Presse- und Meinungsfreiheit schwoll stark an; die Gegensätze zwischen den herrschenden Kolonialmächten und den Bevölkerungen waren in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts der Aufklärung bis zum Zerreißen gespannt und unüberbrückbar. So war die bewaffnete Revolution, der revolutionäre Krieg im Norden, im Süden und in der Karibik gegen England, Spanien und Frankreich, überall in Amerika mit Ausnahme des nördlichen teils francophonen Arcadiens bzw. Kanadas, unvermeidlich geworden. Es kam zur Abschüttelung der europäischen Fremdherrschaft durch Unabhängigkeitsrevolutionen, zunächst in Nordamerika 1776, sodann auf der Karibikinsel Haiti 1792 und schließlich auf dem lateinamerikanischen Festland 1810–30: alle diese Ereignisse waren Folgen der Rezeption der französischen 169

Aufklärung oder auch, in der francophonen Karibik, ihres praktisch-politischen Nachhalls, der Französischen Revolution. Die Perspektivverkürzung infolge verzögerter Gesellschafts- und Kulturentwicklung bei gleichzeitiger mehr oder weniger voller Rezeption der aus Europa kommenden modernen Ideen führte zum zeitlichen Beinahe-Zusammenfall von Aufklärung und Revolution, im Unterschied zum Musterland Frankreich, wo zwischen der nach der Régence Anfang des 18. Jahrhunderts einsetzenden, als lumières bekannten Aufklärung und der am Jahrhundertende – 1789 – stattfindenden Revolution fast ein ganzes Jahrhundert, eben das 18., verstrich. Der Unabhängigkeitskampf der Amerikaner wurde ausgelöst durch die auf zunächst unterschiedlichen und bald feindlichen Interessen beruhenden Gegensätze zwischen den europäischen Mächten und den amerikanischen Siedlern, zwischen Kolonialisten und Kolonen. Alle drei amerikanischen Revolutionen hatten das Ziel, die nationale Freiheit und die staatliche Gleichheit mit den Ländern Europas sowie die Menschen- und Bürgerrechte für ihre Bewohner zu erringen, die ihnen von den jeweiligen Kolonialmächten vorenthalten wurden. Die entsprechende politisch-ideologische Vorbereitungsphase war von der europäischen Aufklärung entscheidend beeinflusst. Nur gleichsam regional und fast wie nebenbei beförderte sie auch die Befreiung von europäischer bzw. eurozentristischer Ideologie, die von den Kolonen in die Neue Welt hineingetragen worden war, durch eine genuin „amerikanische“ Aufklärung. Die Aufklärung, die nie in Amerika selbst als Theoriegebäude hätte errichtet werden können und also als solche fix und fertig importiert werden musste – was nachträgliche Adaptationen nicht ausschloss, sondern sogar notwendig machte – hatte auf ihrem Weg in die Neue Welt ganz außerordentliche und neuartige Hindernisse zu überwinden. Die Schriften oder Personen, die die Botschaft der Aufklärer überbrachten, hatten zum einen den Atlantik zu überwinden, was auf den damals üblichen Segelschiffen eine zeitaufwendige und nicht ungefährliche Sache war. Ebenso gefährlich, wenn nicht gefährlicher waren zum andern die administrativen und juridischen Hindernisse, die sich den aufklärerischen Schriften durch die extrem rigide Kontrolle der Zensur in den spanisch-portugiesischen Besitzungen entgegenstellten, die seit der Conquista in Kraft waren: Die von Kaiser Karl V. am 29. September 1543 unterzeichneten Leyes de India sahen extra für die Kolonien ein äußerst rigoroses Regiment vor: hier durften keine Romane, Fabeln und Liebesgeschichten, vor allem nicht solche von den Kolonien handelnde importiert, verkauft oder gar gedruckt werden. Dies betraf natürlich auch alle Schriften protestantischen und politisch subversiven Inhalts, die in dem mehr als 5 000 Titel umfassenden index librorum prohibitorum erfasst wurden. 170

Dabei ging es nur um die Aufklärung der europastämmigen, weißen Kreolen. Die analphabetischen indigenen wie schwarzafrikanischen Massen waren zu einem großen Teil noch tief versunken in die magische Welt ihrer Mythen und Kosmogonien, also in ihren von den Westlern als „Aberglaube“ bezeichneten animistischen Naturreligionen, waren also für die Aufklärung als ein modernes Produkt der westeuropäischen Zivilisation nur gering ansprechbar. Die Vertreter dieser beiden exotischen Volksgruppen wurden von den amerikanischen Aufklärern daher fast ein ganzes Jahrhundert lang links liegen gelassen.

Aufklärung und Unabhängigkeitsrevolution in Nordamerika Toleranz, Religion, Aberglauben und Aufklärung Das amerikanische Befreiungsprojekt breitete sich zunächst in den nordamerikanischen Kolonien Englands aus, wohin die britischen Kolonisten ihre eigene okzidentale Kultur seit ihrer ersten Ankunft an Bord der Mayflower am 21. November 1620 verpflanzt hatten. Hier fasste die aus Frankreich  – und nicht aus dem ebenfalls anglophonen England! – kommende Aufklärung zuerst Fuß und inspirierte die erste amerikanische Unabhängigkeitsbewegung, die in eine bewaffnete Revolution überging und 1776 den Sieg über die britischen Kolonialtruppen erfocht. Hier in den britischen Kolonien fand die Unabhängigkeitsrevolution noch vor dem Sturm der französischen Revolutionäre auf die Bastille, also absolut unabhängig von der Französischen Revolution statt, doch war der Kontakt der Nordamerikaner mit den französischen Aufklärern traditionell eng. Die Aufklärung wurde sozusagen von den Nordamerikanern durch viele Besuchs- und Studienreisen direkt aus Paris geholt. So weilte der nordamerikanische Agent Benjamin Franklin lange Zeit im vorrevolutionären Paris, u. a. um Waffen für die amerikanischen Revolutionäre von Frankreich unter Ausnutzung der britischfranzösischen Rivalitäten in einer fast umgedrehten divide-et-impera-Strategie zu erlangen. Auch der nachmalige Präsident Thomas Jefferson hielt in Paris ständigen subversiven Kontakt mit „aufgeklärten“ französischen Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern. Die komplizierte binationale Vita des Autodidakten „citizen“ Thomas Paine (1737–1809) ist ein Beispiel für die personale Verkettung zwischen amerikanischen und französischen Revolutionären: der geborene Brite arbeitete in London als separatistischer Publizist, emigrierte mit Franklins Unterstützung nach Nordamerika, wo er 1776 sein Hauptwerk mit dem sehr aufklärerischen Titel Common sense, eine revolutionäre Flugschrift mit einer Auflagenhöhe von mehr 171

als ½ Mill. Exemplaren, verfasste; wieder in Europa publizierte er sein Werk Rights of Man (1791, Menschenrechte). Er wurde 1792 französischer Staatsbürger und Abgeordneter für das Département Pas de Calais. Vom Nationalkonvent 1793 als Girondist verhaftet, kam er 1794 nach Robespierres Sturz frei und starb in New York arm und vergessen. Der Anfang, wenngleich nicht der Ursprung der Aufklärung in Nordamerika war wie in Europa/Frankreich der Kampf um religiöse Toleranz für Andersgläubige von Seiten dieser Andersgläubigen. Jedoch richtete sie sich nicht wie dort gegen die Intoleranz des Katholizismus, der hier im Unterschied zu Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Österreich und den spanischen und französischen Kolonien im südlichen Amerika nur schwach präsent war, sondern gegen die in den englischen Besitzungen mit rigider Intoleranz herrschenden Calvinisten/ Hugenotten bzw. die Anglikanische (episcopale) Kirche, die ihrerseits einstmals selber den Kampf für Toleranz aufgenommen hatten. Die Mayflower, mit deren Landung 1620 die Besiedlung Nordamerikas reichlich mehr als hundert Jahre nach der Entdeckung durch Kolumbus begann, hatte englische Dissidenten an Bord, die in die Neue Welt flohen, um sich der Verfolgung durch die dogmatischen, intoleranten Puritaner Alt-Englands zu entziehen, die ihrerseits einstmals Dissidenten innerhalb der dort herrschenden autoritären anglikanischen Kirche gewesen waren. Hier, in Massachusetts, hatten die Puritaner einen theokratischen Gottesstaat errichtet, in dem sie keinerlei religiöse Minderheiten duldeten („tolerierten“), sondern vielmehr jegliche Abweichung von ihren calvinistischen Normen genau so rigoros ahndeten wie einstmals der Vatikan mit Inquisition und Heiligem Offizium. „Die Todesstrafe für Mord und Aufruhr, für Sodomie, Ehebruch und Hexerei und öffentliche Körperstrafen für religiöse und sittliche Verfehlungen sowie der alttestamentarische Glaube an die Erbsünde und damit des Bösen im Menschen gehörten dazu“, schreiben Sylvers/ Sylvers (21 ff.) in ihrem bemerkenswerten Buch über „Kritik und Mythen“ in den USA. An Stelle einer überwachenden, in den Kolonien nicht vorhandenen staatskirchlichen Bürokratie „sollte die religiöse Inspiration der Siedler für soziale Kontrolle sorgen.“ (ibd., 22) Die Aufklärung begann ihre nordamerikanische Karriere also wie einst in Europa nicht mit dem eigentlichen Aufklärungsanliegen, dem Kampf für Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung sowie für ein demokratisches Staatswesen, sondern mit dem Kampf für Toleranz und gegen die Intoleranz allerdings nicht der fast inexistenten Katholiken, sondern der puritanischen Calvinisten. Der baptistische Pfarrer Roger Williams (1603–1683), Freund von Revolutionsführer Oliver Cromwell, trat angesichts dieser Querelen zwischen den verschiedenen 172

Schattierungen des Calvinismus schon ein halbes Jahrhundert vor Pierre Bayle in Amerika für gegenseitige Duldung innerhalb der christlichen Konfessionen und sogar zwischen Christentum und den indianischen animistischen Naturreligionen sowie, als logische Folge, für die Trennung von Staat und Kirche ein. Die anglikanisch-protestantische Kirche war als Institution keine legislative staatserhaltende Gewalt, sondern ihre Gläubigen, auch die Pfarrer, handelten nur individuell, in persönlichem eigenen Auftrag, nur dem eigenen Gewissen folgend – ein für das un- bzw. antietatistische Nordamerika bis heute charakteristischer Grundzug bürgerlich-freiheitlicher Gesinnung. Es fällt die große Zahl von Pfarrern (wie auch von Advokaten) auf, die persönlich, individuell im Interesse der Toleranz aufklärend in die öffentlich-politischen Angelegenheiten eingriffen, diese nicht den staatlichen und kirchlichen Institutionen allein überließen und sich  – was noch wichtiger weil demokratischer  – weniger an die Behörden als vielmehr in direktem Dialog an die Bevölkerung in einer Art urtümlichen citoyen-Bewusstseins wandten, das sich im nachbarschaftlichen Umkreis, im lokalen Ambiente der vielen Kleinstädte dezentral organisierte und artikulierte. Ihre ungeschriebenen Gesetze forderten autoritär eine tugendsame Lebensführung, unablässige Selbstüberwachung und öffentlich kontrollierte moralische Rechenschaft als individuell interiorisierte Praktiken, „die in die USamerikanische Kultur eingegangen sind“ (ibd., 22). Gegen diese aggressive Vereinnahmung predigten Leute wie der erwähnte Pfarrer Williams religiöse Toleranz, die er in der von ihm betreuten Kleinstadt Providence auf Juden, Katholiken, Hugenotten, Quäker, Mohammedaner und selbst – wie ein halbes Jahrhundert später Pierre Bayle in Europa – auf Atheisten ausdehnte. Die indianischen Religionspraktiken erklärte er für gleichwertig mit den christlichen! In seiner Schrift mit dem bezeichnenden Titel The Bloody Tenent of persecution for cause of Conscience (1635) trat er für „Mitbestimmung und eine gewisse Gleichberechtigung der Gläubigen aller Konfessionen“ auf (ibd., 30). Im Prinzip bildet die gegenseitige religiöse Toleranz bis heute in dem aufgrund der späteren Einwanderungswellen multireligiösen Land mit seinem durch die vielen Sekten sehr variantenreichem Christentum eine Basis aller USamerikanischen Demokratie, ist dort bis heute viel stärker als in den katholischen Ländern Teil der Zivilisation. Wurden die magischen Praktiken der indianischen und afroamerikanischen Medizinmänner und Zauberer bei völligem Fehlen von historisch-kulturellem Hintergrundwissen und damit von Aufklärung über deren Naturreligionen drakonisch verfolgt, so wurde andererseits von den europastämmigen Einwan173

derern ein sozusagen christlich inspirierter Aberglauben in die Kolonie hineingetragen, darunter der Glaube an Hexen  – in puritanischen Hochburgen wie Boston wurde die Todesstrafe über angebliche Hexer verhängt und vollzogen, wie das Jean-Paul Sartre und Arthur Miller im 20. Jahrhundert in ihren Theaterstücken dokumentarisch-literarisch beschrieben. Es gab unter den USA-Intellektuellen des beginnenden 19. Jahrhunderts sogar Vorbehalte gegen Goethe wegen dessen Verwendung von Hexen und Zauberern in seinen Dichtungen.

Nordamerikanische Aufklärung und Unabhängigkeitsrevolution Der Kampf der nordamerikanischen Aufklärer gegen religiösen Aberglauben, der auch die Verdammung der indigenen Mythen und der Afrofolklore als Zeugnisse von Magie und Rückständigkeit einschloss, entsprach ganz der europäischen und besonders der französischen Aufklärung und lenkte mittels einer Themenverschiebung vom amerikaspezifischen Aufklärungsbedarf ab, der sich eigentlich gegen die Mythisierung von Rasse, Okzident und Kolonialismus hätte richten müssen. Es gab eine gewisse, durch Fraternisierungsgesten übertünchte, fast koloniale Abhängigkeit der amerikanischen von der französischen Aufklärung. Diese Aktionseinheit zwischen beiden Aufklärungen drückte sich selbst in symbolischen Verbrüderungsakten aus. Franklin wurde bei seinem Auftreten in Paris 1778 in der Académie Française von Voltaire demonstrativ umarmt, Münzen, Ringe, Uhren und Gedenkmedaillen zeigten aus Anlass seines Parisbesuchs das Triumvirat Franklin, Voltaire und Rousseau, und der berühmte Houdon fertigte eine Porträtbüste Franklins an, der seinerseits Anhänger der französischen Physiokraten, Agrarist und Gegner des englischen Industrialisierung war und in diesem Zuge der amerikanisch-französischen Verbrüderung im Zeichen der Aufklärung der Witwe des französischen Aufklärers Helvétius sogar einen ernst gemeinten politisch gewollten Heiratsantrag machte. Jefferson bezeichnete die jakobinische Phase der Französischen Revolution geradezu apologetisch als Fortführung der amerikanischen Revolution. Doch die zentralen Themen der nordamerikanischen Aufklärung waren aufgrund der historischen, sozialen und kulturellen Andersartigkeit und des Kolonialstatus ganz anders besetzt als die der französischen „lumières“. Wurde Aberglaube durch naturwissenschaftlich orientiertes Denken zurückgedrängt  – der Politiker und Journalist Franklin erfand u. a. den Blitzableiter zum zweiten mal  – so waren andererseits die rassisch-ethnischen Bevölkerungsgruppen der Indianer und Afroamerikaner aus der ganzen Aufklärungsbewegung sowohl als menschliche Subjekte wie als Objekte aufklärerischer Fürsorge und Förderung fast 174

gänzlich ausgeschlossen. Diese wussten auch wegen der Monopolisierung jedweden über bloße christliche Religionsausübung hinausgehenden Wissens durch die herrschenden „Weißen“ nichts von Aufklärung, Revolution und Unabhängigkeit. Die relevanten Mythen der Weißen Nordamerikas waren folglich kein Ausdruck von indianischem oder schwarzafrikanischen religiösen Mythen- und Aberglaubens, sondern rankten sich um die von ihnen allein betriebene Politik und die nur von ihnen erzählte Geschichte, die durch Wegeskamotierung ihres menschlich-gesellschaftlichen und historischen Urgrundes die Aura des Naturhaften und Göttlichen bekam. Es waren der Freiheits- und Gleichheitsmythos, diese beiden Gründungsmythen, die die Nordamerikaner von der französischen Aufklärung übernahmen und in die Praxis umsetzten. Hinzu kam der USA-spezifische Mythos der amerikanischen Nation.

Der Freiheitsmythos USA Nordamerika, die späteren USA, war von Anfang an der Hort der Freiheit für alle Einwanderer aus Europa. Diese waren aus Monarchien ohne bürgerliche Freiheiten geflohen, um der dort herrschenden Unterdrückung zu entgehen, von den Passagieren der Mayflower bis zu den Scharen deutscher Flüchtlinge zur Zeit der Bismarckschen Sozialistengesetze und zu den Juden und Nazigegnern, die in den USA während des NS-Regimes Sicherheit vor Verfolgung fanden. Alle USABewohner waren irgendwie Immigranten oder deren Nachkommen, Nutznießer der demokratischen Freiheiten dieses Amerika. Die überdimensionale Freiheitsstatue im Hafen von New York begrüßt seit über einem Jahrhundert mit ihrer Fackel glückverheißend Besucher, Flüchtlinge und Einwanderer, obwohl sie nach den Worten des berühmten modernistischen nicaraguanischen Dichters des fin de siècle Rubén Darío in seiner Ode an USA-Präsident Theodore Roosevelt den Weg zur leichten Eroberung, „el camino de la fácil conquista“ weist, womit auf die Ambiguität des US-amerikanischen Freiheitsbegriffs angespielt wird. Denn das Bild Nordamerikas als Hort der Freiheit ist sowohl einseitiges Selbstbild der Yankees als auch einseitige Sicht okzidentaler Bewohner, Besucher und Bewunderer der Vereinigten Staaten, weshalb diese Freiheit zu einem trügerischen Mythos wurde. Für die „Indianer“ und die aus Afrika zwangsimportierten Negersklaven war es ein Ort der Unfreiheit und Unterdrückung par excellence. Die Indigenen wurden ihres Bodens, die Sklaven ihrer Arbeitskraft und beide der Früchte ihrer Arbeit beraubt. Allein die Tatsache der Sklaverei beschädigt den Mythos vom Freiheitshort, denn schon die Bezeichnung „Sklave“ bezeichnet den höchstmöglichen Grad menschlicher Unfreiheit, ganz abgesehen davon, dass das vorausgehende Fangen 175

von Menschen in Afrika, um sie als Arbeitssklaven nach Amerika zu verbringen, und überhaupt jeder Menschenhandel natürlich Freiheitsberaubungen größten Ausmaßes darstellten. Die Entlarvung dieses die Realität schönenden Mythos und die Enthüllung des realitätsverfälschenden amerikanischen Freiheitsmythos sahen spätere Aufklärer als ihre Hauptaufgabe an, die schwerpunktmäßig die Sklaverei attackierten. Die von Thomas Jefferson, Besitzer von 150 Sklaven  – Franklin besaß nur fünf – und spätere dritte USA-Präsident verkündete Menschenrechtserklärung hat den Geburtsfehler, dass sie von vornherein die Indianer und Schwarzen aus der Gattung Mensch und damit aus den Menschenrechten ausschloss. Er erklärte 1776 zur Begründung dieses Dokuments: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass ihnen von ihrem Schöpfer bestimmte unveräußerliche Rechte verliehen sind und dass zu diesen Rechten das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ (zit. nach Morgan 1991, 538) Wieviel Heuchelei und Doppelzüngigkeit bei manchen Gründern der Vereinigten Staaten auch im Spiel gewesen mag: die logischen Widersprüche zwischen Sklaverei und der von Jefferson apostrophierten „Freiheit“ waren stets offensichtlich: Sklaven sind per definitionem nun einmal unfrei, stehen sogar auf der untersten Stufe der Unfreiheit, noch unter den Leibeigenen Europas und Lateinamerikas. Wenn jeder Mensch von Jefferson durch seine unveräußerliche Freiheit definiert wird, so ist der Sklave also kein Mensch. Doch unbehelligt von solchen Skrupeln und Zweifelsqualen begründete Jefferson den Freiheits-Mythos der USA, demzufolge alle Menschen das unveräußerliche Recht auf Freiheit haben.

Die Gleichheit als Gründungsmythos der USA Neben dem Freiheitsmythos wurde die Gleichheit der Bürger von Jefferson zum zweiten Gründungsmythos der USA erhoben. Die Gleichheit war für Voltaire, der sich als einer der ersten über diese Frage Gedanken machte, in der menschliche Natur begründet. Sie war für ihn das allen Menschen aller Zonen und Zeiten Gemeinsame, und insoweit war die Gleichheit ein fast anthropologisches Moment und das Basiselement der Menschenrechte noch vor dem Recht auf Freiheit. Doch die Menschenrechte mit ihrem begrifflichem Zentrum der Gleichheit wurden nicht im aufgeklärten Europa Voltaires, sondern außerhalb des alten Kontinents, in den Vereinigten Staaten von Amerika, in der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ erstmals formuliert und definiert, was ein Indiz dafür ist, dass die von Europa ausgehende Aufklärung bereits den Atlantik überschritten und in der Neuen Welt Fuß gefasst hatte. 176

Dort begann die eigentliche Begriffsgeschichte der Menschenrechte, die aber nicht vom anthropologischen Menschheitsbegriff als dem Gemeinsamen und Gleichen der Menschennatur ausging, wie es Voltaire meinte, sondern von der Reduktion der Gleichheit auf die Bewohner der Vereinigten Staaten von Amerika, also eines Teils der Menschheit, und seiner noch weiteren Einschränkung auf die weiße Minderheit dieser Bevölkerung. In diesem Sinne kommentiert der USA-Historiker Edmund S.  Morgan die von Jefferson redigierte und verkündete Erklärung folgendendermaßen: „diese Worte statteten die allgemeine Gleichheit der sozialen Lage, die unter den (Nord)Amerikanern seit jeher bestanden hatte, mit göttlicher Sanktion als Teil des Schöpfungsplanes aus.“ (ibd.) Demnach ist das Prinzip der Gleichheit wie in Voltaires Berufung auf die „Menschennatur“ auch die Grundlage der USA-Menschenrechtserklärung (wozu das ebenfalls für die Aufklärung grundlegende Prinzip der Freiheit kommt). Morgan bezieht sich auf die soziale Gleichheit, die allgemeine Gleichheit der sozialen Lage, die in den nordamerikanischen Kolonien und späteren USA seit jeher bestanden habe. Das ist aber eine sehr großzügige, die Realitäten schönende Interpretation, weil sie die von Voltaire behauptete anthropologische Gleichheit, um die es den Aufklärern in der Menschenrechtsfrage geht, die ja allen Menschen die gleichen Rechte zuteilt, ignoriert. In den nordamerikanischen Kolonien und späteren USA wurde der Mythos der Gleichheit als eines von den Neu-Amerikanern begründeten Menschenrechts geboren, der sogar vor „Freiheit“ rangierte wie übrigens schon in der Encyclopédie. Hier herrschte in der Tat von Anfang an eine mehr oder weniger stark ausgeprägte soziale Gleichheit unter den die Hauptmasse der Bevölkerung stellenden rezenten, meist unbegüterten Einwanderern, was noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts so blieb. Aber es war eine Gleichheit nur unter den Weißen, die ja das Hauptkontingent der Immigranten stellten, wogegen die Ureinwohner, die sogenannten Indianer, und die zwangsimportierten Negersklaven, die Afroamerikaner, aus dieser Gemeinschaft der Gleichen rechtlich und faktisch ausgeschlossen waren. Die von Jefferson in der Menschenrechtserklärung beschworene Gleichheit war ein Mythos, eine Chimäre, voraufklärerisches Denken. Diese falsche Gleichheitsideologie war ein Bündel von Vorurteilen und Irrtümern und insofern eine Herausforderung für die Aufklärer. Die bekannte deutsch-nordamerikanische Historikerin und Philosophin Hannah Arendt wiederholt als ihren Ausgangspunkt bei ihrem Versuch, die Ursachen von Faschismus und Totalitarismus zu ergründen, dieselbe natürlich 177

zutreffende Behauptung der ursprünglichen sozialen Gleichheit in den USA wie der oben zitierte Morgan, wenngleich weniger assertorisch. Dabei vergisst sie jedoch völlig – was für sie als eine vor dem deutschen Antisemitismus geflohene Jüdin einigermaßen erstaunlich ist – die rassistische Ungleichbehandlung, ja Diskriminierung der Indios und Afronordamerikaner in den nordamerikanischen Staaten  – im Unterschied zu den relativ privilegierten Weißen und auch im Vergleich mit den eindeutig antirassistischen Bestimmungen der französischen Aufklärung und Revolution, die von Arendt jedoch gerade wegen ihrer sozialen Lösungsversuche gegenüber den USA abgelehnt werden. Während in Amerika, wie sie schreibt, also in den USA die Gründung der Freiheit gelungen sei, da „die politisch unlösbare soziale Frage nicht im Wege stand“ (zit. nach Habermas 1978, 114), also wegen der dort an und für sich vorhandenen sozialen Gleichheit, weshalb es dort auch kein soziales Problem gab, habe sich die Französische Revolution durch die „Invasion sozialer und ökonomischer Gegebenheiten“, also durch den Versuch der Lösung sozialpolitischer Fragen, von ihren politischen (Hervorh., HOD) Grundzielen entfernt. Für diese deutsch-nordamerikanische Denkerin existierte also in den USA politisch-soziale Freiheit trotz schwerster rassistischer Benachteilung zweier gro­ßer nichtarischer Bevölkerungsteile, der Indigenen und der Afroamerikaner. Und darüber hinaus ignorierte sie unglaublicher- oder besser gesagt unverständlicherweise den noch schlimmeren Fakt der Negersklaverei, die sowohl gegen das Gebot der Gleichheit wie das der Freiheit verstößt, denn Sklaven sind per de­ finitionem keine freien Menschen. Doch waren für Arendt Freiheit und Gleichheit die Hauptelemente der Menschen- und Bürgerrechte. Es kam jedoch bei einzelnen Nordamerikanern schon frühzeitig zu Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Sklaverei. Am Anfang des kritischen Nachdenken stand der schon genannte wackere Baptistenpfarrer Williams, der die übliche Kolonisierungspraxis kritisierte, das Ackerland als Besitz des Königs von England, was an sich schon ein Unrecht war, an weiße Siedler zu verpachten, ohne überhaupt zu erwägen, ob nicht die ansässigen Ureinwohner gewisse Besitzrechte über diese Ländereien hätten. Williams erklärte seiner Gemeinde, dies sei glatter Raub, kein ehrlicher Erwerb. Der Acker wurde im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, häufig den Indianern meist unter Zuhilfenahme von Alkohol weggenommen, was Benjamin Franklin, „der Aufklärer ohne Utopie“, also mit gesundem Menschenverstand, seinen Kindern zur Nachahmung empfahl. Wie er in seiner Autobiographie lobend erwähnt, sei bereits die ganze USA-Ostküste von Indianern frei und den ökonomischer als diese wirtschaftenden Weißen rechtens in die Hände gefallen. 178

Was die indianischen Ureinwohner betrifft, so sprach Jefferson, Verfasser der sogenannten Menschenrechtserklärung, von den „mercyless indian savages“, den „gnadenlosen indianischen Wilden“, obwohl gerade er wissen musste, dass viele indianische Frauen und Kinder bei Massakern der wahrhaft „gnadenlosen“, auf das Indianerland gierig blickenden Weißen umgebracht wurden. Es ist nichts bekannt von Protestaktionen der sonst sehr rührigen demokratischen weißen USA-Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit war bis ins späte 19. Jahrhundert hinein nur „weiß“ – gegen die offiziellen Gemetzel unter den Indios, ganz zu schweigen von Solidaritätsbekundungen mit den Opfern. Die „Siedler“ auf indianischem Land forderten im Gegenteil und erhielten im 19. Jahrhundert auch militärische Unterstützung von den Regierungen zum Kampf gegen marodierende Ureinwohner. Die landläufige Volksmeinung drückte General Philip Sheridan mit seinem Ausspruch aus: „Only a dead Indian is a good Indian“. Mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfuhren die Negersklaven, weil sie ständig in Stadt und Land präsent waren und das Stigma ihrer Unfreiheit geradezu offensiv ad oculos demonstrierten, wogegen die Indianer in ihren Zwangs-„Reservationen“ den Blicken der Passanten entzogen waren. In den christlichen Südstaaten der USA waren 1860 von 12 Millionen Ew. 4 Millionen Sklaven, deren Existenz allein schon ein grober Verstoß gegen die von der Aufklärung verkündeten Menschenrechte darstellte, während der muslimische Bey von Tunis, um ein Gegenbeispiel zu nennen, den Sklavenhandel bereits 1842 und die Sklaverei 1848 verbot. Die rassistischen Nordamerikaner, und das war wohl die Mehrzahl, sahen die Schwarzen nicht als Menschen, sondern als ihr dingliches Zubehör, als ihr ebenfalls in dem Menschenrechts-Dokument garantiertes Eigentum an, wie ihr Viehzeug, ihre Wohngebäude und Immobilien, das heißt als ihren in den Zeitungsreklamen angepriesenen, auf dem Sklavenmarkt marktwirtschaftlich rechtens gekauften und verfassungsmäßig garantierten Besitz: der Eigentumsbegriff gehört in den Menschenrechtserklärungen der Aufklärer, auch der französischen Enzyklopädisten, zum Grundinventar aller „unveräußerlichen Rechte“. Also Freiheit und Menschenrecht blieben wie Gleichheit auf die weißen USAmerikaner beschränkt, denn unter solchen Verhältnissen konnte von „Gleichheit“ (vor dem Gesetz) wohl kaum die Rede sein. Die ungleiche Behandlung war jedoch nicht schlechthin Willkür, sondern wurde mit der intellektuellen, sozusagen biogenetisch-naturgegebenen Minderwertigkeit der beiden „anderen“ Rassen begründet, mit ihrer mangelnden Begabung für höhere Tätigkeiten und Bildung, weshalb ihnen wegen ihrer defekten biotischen Ausstattung durch die Natur die niedrigste Stufe der Gattung Mensch 179

und damit der menschlichen Lebenstätigkeiten, die Sklaverei bzw. Erbuntertänigkeit zugewiesen wurde. Demgegenüber bemühten sich die Aufklärer, das niedrige Bildungsniveau und den geringen Wissensvorrat der Indigenen und Schwarzen umgekehrt durch das niedrige historische Kulturniveau und die ihnen aufgezwungenen unqualifizierten Arbeiten und Lebensumstände zu erklären. Diese Kampagne kulminierte erst Mitte des 19. Jahrhunderts, des eigentlichen, nachholenden, aufklärerischen „american century“, in den Forschungen von Lewis H. Morgan in den Büchern The League of the Iroquis (1851) und besonders in Ancient Society or Researches on the in the Lines of Human Progress from Savagery, through Barbarism to Civilization (1877) über die Irokesen, über dessen heute teilweise angezweifelten wissenschaftlichen Wert meist vergessen wird, dass es eine Aufklärungsschrift war, die den Amerikanern ein unvoreingenommenes Bild ihrer indigenen Landsleute, ja ein Bewusstsein davon vermitteln sollte, dass diese überhaupt Menschen und sogar ihre Landsleute und nicht irgendwelche sonstigen Landschaftsobjekte waren. Der Titel des zweitgenannten Werkes wie seine Vergleiche zwischen Indianern, asiatischen und afrikanischen Völkern und der Frühgeschichte des Okzidents sollten beweisen, dass alle Völker aufgrund gleicher menschlicher Eigenschaften eine annähernd gleiche Frühgeschichte zurückgelegt haben, was natürlich auch die schwarzen Sklaven und die Rothäute einschloss. Vor allem ging es um die Beseitigung des tiefsitzenden Vorurteils – dieses begrifflichen Hauptinventars der Aufklärung – der intellektuellen Minderbegabung, moralischen Insuffizienz und ästhetischen Minderwertigkeit der Schwarzen und Indigenen. Zu diesem Zweck verbreiteten die Aufklärer historische Kenntnisse über die Geschichte der Sklaverei und brachten wissenschaftliches, biologisch-anthropologisches Material bei, das die Behauptung der geistig-moralischen Inferiorität beider nichtweißer Rassen widerlegte. Morgan sah in der Selbstregierung der Irokesen sogar so manche modernen demokratischen Elemente im Sinne der Aufklärung und der USA-Verfassung präfiguriert, so die Montesqieusche Gewaltenteilung, die er in den verschiedenen Häuptlingscharaktermasken herausstellte. Erst diese „Aufklärung“ der Öffentlichkeit über das wahre menschliche Gesicht der Schwarzen schaffte die geistige Disposition und Voraussetzung für die allmähliche Abschaffung der Sklaverei und später der von dieser übriggebliebenen Rassendiskriminierung und -trennung, was keineswegs allein eine politisch-administrative Maßnahme staatlicher Behörden, sondern ein von der weißen bürgerrechtlichen Aufklärungsbewegung hart erkämpfter, typisch USamerikanischer Akt der Demokratisierung der Gesellschaft war. Diese Korrektur des falschen Bildes der Negersklaven leistete der Abolitionismus, die bedeutendste Bürgerbewegung für die Aufhebung der Sklaverei im 180

19. Jahrhundert, in einer „nachholenden“ Aufklärung. Die politische Folge dieser Aufklärungskampagne war die gesetzliche Aufhebung der Sklaverei 1862 durch Abraham Lincoln und der Sieg der Abolitionisten in den Sezessionskriegen über den sklavenhaltenden Süden. Doch die faktische Gleichstellung der Farbigen mit den Weißen erfolgte erst nach dem 1. Weltkrieg, und die Rassentrennung in den Schulen wurde noch später, u. a. erst durch die schwarze Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings und die black-power in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts 100 Jahre nach Lincolns großer Tat, diesmal nicht allein durch den Kampf solidarischer Weiße, sondern der Betroffenen selber, beseitigt. Diese Geschichte der sukzessiven Aufhebung der Sklaverei zeigt die große Rolle von Volks- und Bürgerbewegungen und öffentlicher Meinung und des persönlichen, ja individuellen Engagements der Sklavereigegner der USA als in­ tellectuels engagés in den Manifestationen und Diskussionen „auf der Strasse“, durch welche die Politiker immer wieder zum Handeln gezwungen wurden. Demgegenüber blieb die Bewegung zum Öffentlichmachen der Massaker u­nter den Ureinwohnern und der bis an die Schwelle des 20.  Jahrhunderts in dem Gemetzel der US-Kavallerie am Wounded Knee kulminierenden mörderischen „Indianerkriege“, sowie die Kampagne zur Widerlegung der Behauptungen der intellektuellem und moralischen Minderwertigkeit des coloured people vergleichsweise schwach, u. a. auch deswegen, weil die auf wenige Hunderttausend Überlebende zusammengeschmolzenen Indigenen in den ihnen aufgezwungenen Reservaten dem Blick der Öffentlichkeit entzogen waren. Auch wurde das wissenschaftlich obsolete und nicht mehr überzeugende Argument der menschlichen und damit menschenrechtlichen Inferiorität der „Farbigen“ infolge ihrer Rasse durch die Behauptung ihrer „otherness“, des Andersseins, was durchaus fortschrittlich und demokratisch klingt, ersetzt. Die Geschicke der Indigenen und Schwarzen berührten zutiefst die von den nordamerikanischen und französischen Aufklärern als erste in der Welt proklamierten Menschenrechte, die auch in den die Verfassungen beider Länder begleitenden diesbezüglichen Erklärungen fixiert sind, von denen der US-amerikanischen von 1776 die Priorität vor der französischen von 1794 gebührt. Aus diesem historischen Grunde berufen sich die USA-Regierungen zu Recht auf diese Rechte und klagen sie ständig bei anderen Regierungen und Regimes ein. Dessen ungeachtet sind diese in ihrer US-amerikanischen Urvision von 1776 nicht so einfach definiert. Selbst wenn man die in den USA lange Zeit teils bis heute praktizierte Todesstrafe für menschenrechtlich vertretbar hält, so ist doch das Recht auf Leben als erstes Menschenrecht angesichts der vielen Ethnizide und Massaker in den USA durch Militär wie Milizen und Zivilisten an den Indi181

anern, die sicher Tausende von Todesopfern wie die Massaker der Kavallerie am Wounded Knee forderten, empfindlich verletzt.

Negersklaverei, Indianer und nordamerikanische Aufklärung Der Kampf gegen Vorurteile – diese traditionellen Zielscheiben und Hauptauslöser der Aufklärung – stand auch in Nordamerika im Zentrum dieser Bewegung. Die Vorurteile gegen Schwarze und Indios unterstützten die zur Diskriminierung und Inferiorisierung der Indigenen und Schwarzen tendierende öffentliche Meinung bis hin zu pogromartigen Ausschreitungen und physischer Liquidierung bei volksfestartigen lynchings, und der Ku-Klux-Clan als Veranstalter war Vorläufer faschistischer deutscher Terrororganisationen wie der SA und SS. Zu den meistgeglaubten und schwerstwiegenden, rassistische Vorurteile anheizenden und konservierenden Unterstellungen gehörten neben der behaupteten moralischen und intellektuellen Minderwertigkeit primitive und unbewiesene Behauptungen aus der Alltagswirklichkeit, denen zufolge die „negroes“ gewohnheitsmäßig weiße Frauen vergewaltigen, Kinderraub betreiben und mit dem Teufel im Bunde sind. Zu den Gegnern der Gleichheitsidee gehörten Joh. C. Calhoun (1782–1850), und George Fitzhugh (1806–1881), einflussreiche liberale Publizisten, die die Sklaverei ökonomisch mit ihrer Überlegenheit gegenüber der freien Lohnarbeit des Nordens und mit Kritik an der kapitalistischen Ausbeutung verbanden. Ihre Argumente bauten sie pauschalierend auf der Generalisierung von Einzelfällen ohne Beweispflicht auf, wobei sie populare Spruchweisheiten und Volksvorurteile wiederholten. Gehört die Rassendiskriminierung in die Rubrik Menschenrechte bzw. deren Verletzung, so die daraus ebenfalls resultierende Ungleichheit in die der Bürgerrechte: sichern die Menschenrechte gleichsam die Zugehörigkeit eines Individuums zur Spezies Mensch, so die Bürgerrechte diese zur Gemeinschaft der Bürger eines Staates, umfassen seine Staatsangehörigkeit im weitesten Sinne, was natürlich auch für die Vereinigten Staaten gilt. Jefferson verkündete in seiner sakrosankten Erklärung von 1776 erstmals in der Welt den absoluten, für alle Menschen gleich welchen Standes geltenden, schon von der französischen Aufklärung und namentlich von der Encyclopédie verkündeten Gleichheitsgrundsatz, nämlich „dass alle Menschen als gleiche geschaffen werden“, ein Bürgerrechtsprinzip anderthalb Jahrzehnte vor der Französischen Revolution mit ihren Losungen liberté, égalité und fraternité. In der Tat waren gegenüber den absolutistisch regierten Ländern Europas, in denen die Volksvertretungen nicht mehr befragt wurden – von den Despotien 182

Asiens und des Orients ganz zu schweigen – die USA wohl damals das einzige Land der Welt, dessen Bewohner, zumindest die weißen unter ihnen, auch seine Staatsbürger – und zwar mit allen diesen zukommenden Rechten – waren. Eben diese Rechte wurden jedoch den Indigenen und den Schwarzen verweigert, weil nur „Menschen“, natürliche Personen, auch Staatsbürger sein konnten. Ihnen wurde also mit den Menschenrechten auch ihr Rechtsstatus als Bürger des betreffenden USA-Staates geraubt. Sie waren keine Bürger und hatten demzufolge keine Bürgerrechte, weder das aktive noch gar das passive Wahlrecht, konnten keine Gerichte anrufen und durften nicht wie die weißen Männer Waffen tragen; von ihren Herren konnten sie misshandelt und bestraft werden; Bürger, die entlaufenen Sklaven Unterschlupf gewährten, wurden laut US-Verfassung juristisch belangt. Die Schwarzen durften im Bürgerkrieg als Soldaten gegen den rassistischen Süden kämpfen, aber keine Offiziersränge bekleiden. Während der sogenannten Black Reconstruction, des menschen- und bürgerrechtlichen Aufschwungs nach Aufhebung der Sklaverei 1862 durch Abraham Lincoln in höhere Regierungsbeamtenpositionen aufgerückte Schwarze wurden nie zu protokollarischen Anlässen eingeladen. Von staatsbürgerlicher Gleichheit konnte folglich noch keine Rede sein, wobei das individuelle Gleichheitsgebot in den USA infolge der noch lange Zeit relativ starken Gleichheit innerhalb der weißen USA-Bürger keine solche Rolle spielte wie in der französischen Aufklärung und Revolution, wo auf „liberté“ sogleich „égalité“ und sogar „fraternité“ folgte. Die individuelle Gleichheitsforderung als aufklärerisches bürgerrechtliches Anliegen blieb deshalb auch nach Aufhebung der Sklaverei uneingelöst, da scheinbar nur die Weißen betreffend. Sylvers/Sylvers schreiben über die Überschätzung des bürgerrechtlichen Gewinns der Aufhebung der Sklaverei, dass die Sklaven nach dem Abzug der Unionstruppen aus dem Süden vom Regen in die Traufe gerieten. (...) Tatsächlich blieben sie – abgesehen davon, dass ihnen in Sachen Rassismus das Schlimmste noch bevorstand – noch auf weitere hundert Jahre Fremde im eigenen Land (134).

Die schon in Jeffersons Menschenrechtserklärung erhobene Gleichheitsforderung aber bezog sich in Wahrheit nur auf die staatsrechtliche  – nicht staatsbürgerliche – und damit völkerrechtliche Gleichstellung der Bewohner der britischen Kolonien in Nordamerika mit denen der Kolonialmacht England. Edmund S. Morgan (1991, 538) schreibt diesbezüglich ausdrücklich in Bezug auf die amerikanische Declaration of Rights of Man: Am inhaltsschwersten war die Verkündung, dass alle Menschen als Gleiche geschaffen werden. In erster Linie sollte damit seit 1776 gesagt sein, dass die Amerikaner den

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E­ngländern gleich geschaffen worden seien und darum auf dieselben Rechte wie Engländer, die Vertreter der europäischen Kolonialmacht, Anspruch hätten.

In den meisten diesbezüglichen wissenschaftlichen Publikationen wird jedoch nicht penibel genug zwischen individuellen Bürgerrechten innerhalb eines Staates und deren nationalen Rechten im Verhältnis zu Bürgern anderer, namentlich der kolonienbesitzenden Staaten, das Jefferson im Auge hatte, also zwischen individueller und völkerrechtlicher Gleichheit unterschieden.

Die „Nachholung“ der Menschen- und Bürgerrechte im 19. Jahrhundert Generell wurde in den USA erst im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert die Aufklärung auch in Bezug auf die Bürgerrechte der Angehörigen der ethnischen Minderheiten nachgeholt. Man kann es als peinlich empfinden, dass in der von Golo Mann edierten Weltgeschichte in dem der Menschenrechts- und Bürgerrechtserklärung gewidmeten Kapitel selbst der leiseste Hinweis auf die Verweigerung dieser Rechte an die Indios und Afronordamerikaner fehlt. Das Großartige und Einmalige an der USA-Aufklärung des 19. Jahrhunderts ist jedoch, dass sie weder wie in Frankreich von vielseitig gebildeten intellectuels en­ gagés, den philosophes, noch wie in Deutschland von juristisch und historisch hochgelehrten Universitätsprofessoren und Philosophiespezialisten vertreten wurde, sondern von einfachen, durchschnittlich gebildeten Menschen bürgerlicher bzw. sogar plebejischer Provenienz mit „gesundem Menschenverstand“ (common sense) und pragmatischem Vernunftdenken. Ihr Prototyp war der self­ mademan, Buchdrucker und Amateurnaturwissenschaftler Benjamin Franklin. Es gab sowohl Privatinitiativen einzelner weißer Sklavereigegner als auch eine starke Vereinigung von sogenannten Abolitionisten zur Abschaffung der Sklaverei. Zu diesen gehörte William Lloyd Garrison (1805–79), religiöser Abolitionist, Moralist und Aufklärer über die Übel der Prostitution, Jugendverwahrlosung und Spielsucht – so weit über den bloß politischen Bereich hinaus ins Soziale und Moralische muss man in den USA den Begriff der Aufklärung wohl spannen. Frederick Douglas (1817–95), ein Kampfgenosse von Garrison, prägte den Begriff des Angloafrikaners, um so die Rassenintegration und Assimilierung in dem stärker als das mestizische Südamerika rassegetrennten Land durchzusetzen. Höchst erstaunlich scheint zumindest auf den ersten Blick die Tatsache, dass die meisten und wirksamsten öffentlichen Denunziationen der rassistischen Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte in den USA gegenüber Indigenen und Schwarzamerikanern hauptsächlich von couragierten Frauen inszeniert 184

wurden. Auch und gerade in der antisklavistischen Befreiungsbewegung waren sie in der ersten Reihe zu finden, heizten sie diese an, waren ihr Herzstück. Nicht zufällig schrieb das Buch, das laut Abraham Lincoln wesentlich die Stimmung für die Sklavenbefreiung hochtrieb, Uncle Tom’s Cabin, eine in der Abolitionistenbewegung schon lange vorher aktive Frau, Harriet Beecher-Stowe aus der damals rassistischen Hochburg Atlanta. Synchron zum Abolitionismus entstand nicht zufällig die USA-Frauenemanzipationsbewegung wohl als erste solche Bewegung der Welt. Als auf dem Abolitionistenkongress 1840 in London die USA-Frauen wegen ihres Geschlechts nicht als Delegierte anerkannt wurden, fühlten sie sich genauso diskriminiert wie die schwarzen Nordamerikaner und gründeten einen eigenen Verband, in dem der rassisch-ethnische Abolitionismus mit der Frauenbewegung zusammenfloss, mittels der die Frauen die antifeministischen wie die rassistischen Vorurteile von der angeblichen Minderbegabung beider Bevölkerungsgruppen in einer langen Kampagne widerlegten. Hier ging es weniger um die Aushöhlung des Freiheitsmythos’ und mehr um den aufklärerischen Kampf für Gleichheit beider Geschlechter. Der bereits genannte Garrison nannte die USA gar eine Despotie, nicht Demokratie, da die Hälfte der Bevölkerung, die Frauen, nicht wählen dürfe. Die Hauptrolle in dieser Aufklärungskampagne über die Unterdrückung und Benachteiligung des weiblichen Geschlechts spielten eine Reihe mutiger Frauen, die durch die Hauptstädte der USA mit wechselnden Vortragen und Auftritten reisten und sich dem Publikum in höchst wirksamen, oft spektakulären und risikoreichen Veranstaltungen mit effektvollem Showcharakter nach USA-Art stellten, wobei sie es an Berühmtheit mit den Damen des aufkommenden Showgeschäfts durchaus aufnehmen konnten. Sehr großen Eindruck auf ihr Publikum machten die aus Berlin stammenden Geschwister Angelina (1805–79) und Sarah Grimké (1817–1873), die ihr feministisches und abolitionistisches Programm auch in der Broschüre Appel to the Christian Women of the South und Letters on the Equals of sexes (Appell an die christlichen Frauen des Südens und Briefe über die Gleichheit der Geschlechter) präsentierten, wie auch Margaret Fuller in ihrer Schrift Women in the Nineteenth Century (1845). Sie machten bewusst, dass zu den von der Aufklärung und der USA-Menschenrechtserklärung eingeforderten Gleichheiten auch die der Geschlechter und vor allem die Gleichberechtigung der Frauen gehört, die ihnen bislang verweigert worden war. Kataloge der damaligen „Frauenthemen“ gleichen denen von heute: Schwangerschaft, Vergewaltigung in der Ehe, Frau als Kindererzeugungsapparat, Sexu185

alität als männliche Herrschaftsform, Prostitution, Ehebruch, free love, women culture, Haushaltsarbeit, Frau und Beruf sowie der alttestamentarische Patriarchalismus. Elizabeth Cady Stanton (1815–1902) aggressive Tabubrecherin, warb für Frauenwahlrecht, gleichen Lohn, Reform der frauenfeindlichen Scheidungsgesetze, Geburtenkontrolle, sexuelle „Aufklärung“ und moderne Ehen-, Familien- und Sexualverhältnisse, wofür sie auf Betreiben der New Yorker Gesellschaft für Unterdrückung von Sünde als obszöne Rednerin ins Gefängnis kam. Charlotte Perkons Gilman (1860–1935) artikulierte laut Sylvers/Sylvers ihre Absage an die traditionelle, Kindern und Küche gewidmete Frauenrolle zu einem Zeitpunkt, da Virginia Woodhall 1872 erste Präsidentschaftskandidatin der USA war, lange bevor Europäerinnen einen solchen Ehrgeiz entwickelten. Der Hauptstoß der Aufklärungsarbeit richtete sich gegen das von Männern behauptete Vorurteil der intellektuellen Inferiorität der Frau und andere antifeministische, vor allem biologisch-anthropologisch begründete Vorurteile. Die Frauenthematik beherrschte die Öffentlichkeit in den USA im 19. Jahrhundert weit stärker als in Europa, das sich dieser erst im 20. Jahrhundert stärker zuwandte. In beiden Hälften des amerikanischen Kontinents wurde die notwendige Aufklärung über die Geschlechterverhältnisse unterschiedlich betrieben, um die berufliche und gesetzliche Gleichberechtigung der Frau durchzusetzen. Während der Norden Amerikas von Familien kolonisiert wurde, in denen füglich die Frau eine wenn auch zweitrangige Hauptrolle spielte, herrschte der Machismo unumschränkt im allein von Männern, von Soldaten, den Conquistadoren eroberten und besiedelten Südamerika, die sich indigene Frauen nahmen und damit den mestizischen Subkontinent schufen. Auch die Frauen woben mit am Nationalmythos der USA als caput mund­i, den Sylvers/Sylvers in ihrer Studie über dessen Schöpfer George Bancroft 1800– 1891) beschreiben, und in dem beide USA-Forscher viel Geschichtsmythen, aber wenig aufklärerische kritische Geschichtsselbstdarstellung ausfindig machen, zumal es dort keine Forscher der eigenen Geschichte vom Schlag des Italieners Gramsci oder des Peruaners Mariátegui gäbe, stattdessen die Mythen vom Fortschritt, von der doch sehr dubiosen Demokratie, von Technik, Wissenschaft und Wirtschaft sowie insgesamt sehr viel „Stilzüge eines gewissen protestantischaufklärerischen Impetus.“ (Sylvers/Sylvers 14) Der genannte George Bancroft schrieb den Nationalen Mythos von der historischen Mission der USA, der Welt den Weg zur Freiheit zu weisen, insbesondere von der Überlegenheit der angelsächsischen Völkergemeinschaft (mit Einschluss Deutschlands!) gegründet auf den Glauben an Gottes Allianz mit den Vereinigten Staaten. Die amerikanische Revolution mit Washington an der 186

Spitze sei „ein Höhepunkt der Weltgeschichte, bedeutsamer als die materialistische französische Revolution“. Die Sklaverei habe ihren Beitrag zur wealth of nations genauso geleistet wie Amerikas edle, freiheitsliebende Wilde. In diesem Nationalmythos hat allerdings die Geschichte von Kolonialismus, Rassismus, Ethnizid, Unterdrückung der Indigenen und Afroamerikaner und von Eroberungskriegen keinen Platz. Religion, Moral, Tierschutz, Antialkoholismus, Familienleben, Kindererziehung sind in dieser Reminiszenz wichtiger als die Sklaverei. Auch Henry Morgan sah 1877 in seiner Ancient Society die USA als die demokratischste aller Welten, doch ihre Zukunft verortete er in der Gleichheit und Brüderlichkeit aller Völker. Im 20. Jahrhundert erledigten sich viele der liegengebliebenen Probleme der Aufklärung, vor allem durch den gezielten, systematischen Aufbau von Schulen. Viele Universitäten vermittelten in Lehre und Forschung ein kritisches Bild der USA, auch der Geschichte und Lage der Afronordamerikaner, die nun ohne Hindernisse auch auf neugegründeten, Afroamerikastudien gewidmeten Universitäten studieren konnten und akademische Würdenträger wurden, so der berühmte Erforscher der afronordamerikanischen Geschichte und Gegenwart und Bürgerrechtler William Du Bois, der als Strafe für diese Arbeiten ein langjähriges Ausreiseverbot erhielt. Die Rassentrennung in Schwimmbädern und Schulen ist längst nur noch historische Reminiszenz, aber nicht alle Rassenschranken sind gefallen und existieren vor allem Dingen noch in manchen Köpfen weiter, und die USA-Mythen sind noch immer nicht zugunsten von Kosmopolitismus resemantisiert worden.

Die Sklavenrevolution auf Haiti Die zweite von der Aufklärung stimulierte amerikanische Revolution fand in Saint-Domingue statt, damals französische Kolonie in der Karibik, heute Haiti, die größere, francophone Hälfte der Insel Hispaniola, deren hispanophoner Teil die jetzige Dominikanische Republik ist. Diese Unabhängigkeitsrevolution ereignete sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts, also des mit der Französischen Revolution von 1789 und ihrem Einfluss und Nachhall endenden siècle des lu­ mières. Sie war eine weltgeschichtlich einmalige Revolution, die von der französischen Aufklärung wie von der französischen Revolution inspiriert war, die jedoch meiner Meinung nach eine Revolution ohne Aufklärung war und daher auch keine aufgeklärte Republik, kein aufgeklärtes Volk, keine aufgeklärte Elite hinterließ, wie es in Nordamerika/USA und in Lateinamerika der Fall war, wo alle beide, Aufklärung wie Französische Revolution, das Denken und Handeln 187

der Menschen beeinflussten. In Haiti blieb stattdessen jenes archaische, mittelalterliche, abergläubische, mythologisierende Denken, das die Aufklärung seit Bayle bekämpft hatte, bis in unsere Zeit hinein in den Massen zurück, während die zahlenmäßig sehr geringe Elite dem französischen Positivismus als verbürgerlichter Aufklärung verfiel. In Haiti kam es wie in den USA und in Lateinamerika zu einer Perspektivverkürzung infolge der verspäteten Verarbeitung der Ideen der Aufklärung als eines langwierigen intellektuellen, philosophischen und philosophiegeschichtlichen Rezeptionsvorgangs, der mit der praktisch-politischen Reaktion auf das epochale Ereignis der Französischen Revolution koinzidierte. Revolution, Aufklärung und Unabhängigkeit fielen zusammen, wie man Hans-Jürgen Lüsebrinks Darstellung (155) der USA-Sekundärliteratur entnehmen kann: So betont C.L.R. James den unmittelbaren Zusammenhang von Französischer und Haitianischer Revolution bereits im Titel seines Buches (The Black Jacobins), in Kapitelüberschriften wie „The San Domingo Masses begin“/„and Paris Masses Complete“ oder „The Black Consul“ (ein Vergleich Toussaints mit Napoléon, HOD), (...) aber auch in der Bedeutung, die er der Verbreitung der Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution durch Schriftliteratur beimisst. Wie James spielt auch der kubanische Schriftsteller Carpentier in seiner Haiti-Erzählung El reino de este mundo (Das Reich von dieser Welt) auf den gleichzeitigen Einfluß beider Phänomene, der französischen Aufklärung und der französischen Revolution, auf das revolutionäre Geschehen in Haiti an – oft erbringen die künstlerisch-literarischen Darstellungen mehr historisches Material und Einsichten als die der von mir konsultierten professionellen Historiker. Lüsebrink lobt sehr und mit Recht die Fiktionalisierungen der historischen lateinamerikanischen Stoffe durch Alejo Carpentier, ich hingegen halte mich an dessen narrative Dokumentationen über die haitianische Wirklichkeit. Carpentier schrieb in der Einleitung zu El reino de este mundo folgende in manchen Versionen und deutschen Übertragungen unterschlagene, von mir übersetzte Passage: Denn es ist nötig, darauf aufmerksam zu machen, dass der Text, den man im Folgenden lesen wird, auf der Grundlage einer äußerst rigorosen Dokumentation hergestellt wurde, die nicht nur die historische Wahrheit der Ereignisse, die Namen der Personen, sogar der Nebenfiguren, der Örtlichkeiten und selbst der Straßen respektiert, sondern die unter ihrer scheinbaren Zeitlosigkeit einen genauen Vergleich von Daten und Chronologien verbirgt. (Porque es menester advertir que el relato que va a leerse ha sido establecido sobre una documentación extremadamente rigurosa que no solemente respeta la verdad histórica de los acontecimientos, los nombres de los personajes – incluso

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secundarios –, de lugares y hasta de calles, sino que oculta, bajo su aparente intemporalidad, un minucioso cotejo de fechas y de cronologías. (Carpentier 1976, 15)

Dies ist zu beachten, wenn ich unüblicherweise hier einem belletristischen Werk mehr Vertrauen als Dokumentation als den eigentlichen Geschichtsbüchern entgegenbringe. Authentische Namen historischer Figuren sind z. B. der König Henri Christophe, der Gutsbesitzer Lenormand de Mezy, der (noch) Tischler und Kutscher und spätere Generalissimus Toussaint l’Ouverture, der Santiagoer Organist Estebán Salas, der Revolutionär Boukman, der französische General Leclerc und seine Frau Pauline, Schwester Napoléons. der mulattische Aufklärer Ogé sowie Rochambeau, ebenfalls historisch verbürgter von Napoleon in die Karibik zur Unterdrückung der Sklavenrevolution als Nachfolger Leclercs abkommandierter französischer General. Doch wichtiger erscheinen mir seine historisch fundierten Anspielungen auf die authentische französische und haitianische Revolution. Auch der deutsche Geograph Karl Ritter als Zeuge der Plünderung von Sanssouci, sowie Henri Christophes Beichtvater, der Kapuzinerpater Corneille, „aquel capuchino que estaba emparedado er el edificio del Arzobispado (que) era Cornejo Breille, duque del Anse, confesor de Henri Christophe“, figurieren im Personal seiner Erzählung. Bedeutsam sind Carpentiers Anspielungen auf konkrete Personen und Örtlichkeiten und damals gerade ablaufende Peripetien sowohl der französischen als auch der haitischen Revolution, z. B. seine fast dokumentarische Nacherzählung der den Aufstand vorbereitenden Verschwörung der Schwarzen im Bois Caiman und der Rede Boukmans dortselbst über die Revolution in Paris und ihre Forderung nach Freiheit für die Negersklaven, was ihn veranlasste, auch seinerseits für ihre Freiheit zu kämpfen: „Ti Noel creyó entender que algo había ocurrido en Francia, y que unos señores muy influyentes habían declarado que debía darse libertad a los negros, pero que los ricos propietarios del Cabo, que están todos unos hideputas monárquicos, se negaban a obedecer.“ (ibd., 59) Es geht also nicht einfach um eine historische Situierung der Szene, sondern darum, zu zeigen, dass die Sklaven begierig die Nachrichten von der französischen Revolution aufnahmen, die ihr Freiheitsbedürfnis stärkten, was letztlich für das Wagnis eines Aufstands entscheidend war. Diese motivationalen und kausalen Zusammenhänge, die natürlich nur im wissenschaftlichen und nicht im literarischen Diskurs explizit gemacht werden können, sind hier nur implizite vorhanden bzw. auf die bloße Evokation von Namen und Geschehen reduziert, existieren nur als Andeutungen für den verständigen und geübten Leser, der sich der Mühe der Aktivierung seiner eigenen 189

Einbildungskraft unterziehen muss. Dazu gehört auch die Kenntnis der die Sklavenrevolution auslösenden Proklamation der „Erklärung der Menschenrechte“ in Paris: „Ya en mayo, la Asamblea Constituyente, integrada por una chusma liberaloíde y enciclopedista, había acordado que se concedieran derechos políticos a los negros, hijos de manumisos (ibd., 63). Y en vista de que sería necesario redactar una proclama y nadie sabía escribir, se pensó en la flexible pluma de oca del abate de la Haye, parroco del Dondón, sacerdote volteriano que daba muestras de inequívocas simpatías por los negros desde que había tomado conocimiento de la Declaración de Derechos del Hombre“ (ibd., 61). (Und angesichts der Notwendigkeit, eine Proklamation zu erlassen und da niemand schreiben konnte, dachte man an die biegsame Entenfeder des Abtes de la Haye, Pfarrer des Dondon, ein voltairianischer Geistlicher, der Anzeichen von untrüglichen Sympathien für die Neger geäußert hatte, seitdem er Kenntnis genommen hatte von der Erklärung der Menschenrechte.) Erwähnt werden ferner ein paar verrückte Spanier, unos cuerdos españoles, die in Südamerika „en días de la Revolución francesa  – viva la razón y el Ser Supremo (...)“ – ein bezeichnender Zwischenruf – (Carpentier 1966, 98) zu Zeiten der Französischen Revolution  – hoch lebe die Vernunft und das Höchste Wesen  – nach dem sagenhaften Eldorado suchten,  – was auf die für das Verhältnis zwischen außereuropäischer Welt und Okzident charakteristische Ungleichzeitigkeit der Zeiten bzw. die „Rückständigkeit“ der Spanier gegenüber den „fortgeschrittenen“ französischen Okzidentalen verweist. Dass also der im Kult der Göttin der Vernunft kulminierende moderne Rationalismus mit dem irrationalen Glauben an und der Suche nach der mythologischen ciudad de los césares, der sagenhaften Stadt der Cäsaren im südamerikanischen Urwald zeitlich koexistiert. Zu den Anspielungen auf die Aufklärung und damit die Anerkenntnis ihrer Verarbeitung durch die haitianischen Revolutionäre gehört der Hinweis auf den „sacerdote voltairiano“ (ibd., 61), also auf eine Gallionsfigur der klassischen Aufklärung und ihre Lehre, und auf eine weitere Hauptfigur der französischen Aufklärung, Jean-Jacques Rousseau, wenn von der „profesión de fe del vicario saboyardo“, also dem so benannten Kapitel aus Rousseaus Erziehungsroman Emile gesprochen wird und im Teatro del Cabo „richtige Schauspielerinnen aus Paris Arien von Juan Jacobo Rousseau sangen.“ (ibd., 56) Wenn von „vituperios a los filósofos“ (ibd., 68) die Rede ist, gelten diese Verwünschungen natürlich den „philosophes“, d. h. den Enzyklopädisten, die auch als solche abschätzig von den Kolonen so genannt wurden. Auch sonst muss der geneigte Leser ganz gute Kenntnisse der französischen Aufklärung parat haben, um alle diesbezüglichen Anspielungen zu verstehen. Die 190

von mir weiter vorn analysierte Geschichte beider Indien von Raynal/Diderot wird erwähnt, ohne deren kritische Darstellung des portugiesischcn und französischen Kolonialismus zu kommentieren, welche doch erst die Behauptung von James erklärt, warum ihre Lektüre den schwarzen, antinapoleonischen Armeechef Haitis, Toussaint l’Ouverture, zum Wortführer der Aufständischen machte: From the people heaving in action will come the leaders, not the isolated black at Guy’s Hospital or the Sorbonne. (...), but the quiet recruits in a blach police force, the sergeant in the French native army (...) familiarising himself with military tactics and strategy, reading a stray pamphlet of Lenin or Trotzky as Toussaint read the Abbé Raynal (and Diderot, müsste man vervollständigen). (zit. nach Lüsebrink 155)

Auch andere schwarze Autoren der „Harlem-Renaissance“ in den USA außer James wie Ralph Korngold in Citizen Toussaint (1944) heben laut Lüsebrink den „herausragenden Einfluss“ des Aufklärers Raynal hervor (der der französischen Revolution später abschwor, in der Nationalversammlung die Jakobiner wegen Königsmord anklagte und sich noch rechtzeitig vor seiner drohenden Guillotinierung ins Ausland absetzte, HOD). He (idest Louverture, HOD) was twenty-six when the Abbé Raynal published anonymously his famous Histoire philosophique (...) and nearly forty when that work appeared under the author’s own name. Hence it was in his maturity that he read these words: „Nations of Europe“, your slaves will break the yoke that weighs upon them. The Negroes only lack a leader.“ To Voltaire this was „du réchauffé avec de la déclamation“, but to Toussaint the words must have a prophetic ring. (ibd., 155–156) (Louverture war sechsundzwanzig Jahre alt, als der Abbé Raynal anonym seine berühmte Histoire philosophique vröffentlichte und fast vierzig, als jenes Werk unter dem eigenen Namen des Autors erschien. Er war also in der Reife seiner Jahre, als er folgende Worte las: „Nationen Europas, eure Sklaven wollen das Joch zerbrechen, das auf ihnen lastet. Die Neger brauchen nur einen Führer.“ Für Voltaire war dies nur Aufgewärmtes mit einem Schuß Pathos, aber für Toussaint müssen diese Worte einer Prophezeiung gleich geklungen haben)

Rousseau, Voltaire, die Enzyklopädie, die Menschenrechte, die Vernunft (la razón), Raynal-Diderots Riesenkolonialenzyklopädie: das alles sind literarische Symbole, Personen und Schlagworte der Aufklärung, verweisen auf ihre Bekanntheit und ihren mobilisierenden geistig-ideologischen Einfluss auf die revoltierenden Haitianer, während der Vodu-Gott Ogún die Göttin Vernunft als seine Feindin sah: „Ogún Badagrí guiaba las cargas al alma blanca contra las últimas trincheras de la Diosa Razón.“ Es ist eine kuriose Mischung von französischer Aufklärung und französischer Revolutionsrhetorik und -ideologie mit Vodu-Mythologie, die das revolutionäre Denken der Haitianer beeinflusste. Doch nicht letztere erreichten die Aufhebung der Sklaverei in den französi191

schen Kolonien Saint-Domingue, Martinique und Gouadeloupe 1793, sondern per Abstimmung die Delegierten der französischen Nationalversammlung nach Vorschlag der Pariser Freimaurerlogen und Klubs. Bereits 1781 wirkte im Geiste der Aufklärung, von Revolution war noch gar keine Rede, der Pariser Club Massiac und danach, 1788 bzw. 1792, die Société abolitioniste bzw. die Société des Amis des Noirs für die égalité. Engagierter Befürworter der Sklavenemanzipation war der Abbé und Bischof Grégoire, der zunächst im Geist der Aufklärung als Vertreter der Société des amis noirs, einer zivilgesellschaftlichen Gruppe in der Nationalversammlung 1789–90, das Recht der Mulatten und freien Schwarzen verteidigte „to vote in the election of delegates representing the colonies in Paris.“ Danach war er im Convent Mitglied der neojakobinischen Opposition gegen Napoleons Diktatur: „he was a relentless defender of the emancipation of blacks“ (ibd.). Er vertrat als französischer Aufklärer die Menschenrechte mit großem Einfluss auf die öffentliche Meinung Frankreichs. Kurioserweise hat Grégoire niemals europäischen Boden verlassen, niemals Haiti betreten, aber unerschrocken die Freiheit und Gleichheit, diese von der Revolution übernommenen Basisforderungen der Aufklärung auch für die Haitianer vertreten. Er war lange Gegner der Unabhängigkeit Haitis, weil er sich vom aufklärerischen und revolutionären Geist Frankreichs die Hauptimpulse für die Rassenemanzipation erhoffte: (...) until 1802, Grégoire remained hostile to the independance because he saw the colonial bond between revolutionary continental France and its colonies as a way to bring freedom and equality (also liberté und égalité, HOD) to the oppressed black people in the West Indies: jedoch wegen des nachfolgenden re-establishment of slavery and the failed French expedition aimed at retaking control of Saint-Domingo (1802), Grégoire switched his position to supporting Haiti. Grégoire war am Ende seines Lebens saddened to see the Haitian republic run by an authoritan regime and later by the country’s apparent willingness to satisfy France’s conditions for the recognition of Haitian independance. (ibd.) (Bis 1802 war Grégoire gegen die Unabhängigkeit weil er eine koloniale Verbindung zwischen dem revolutionären kontinentalen Frankreich und seinen Kolonien sah als einen Weg, Freiheit und Gleichheit der unterdrückten schwarzen Bevölkerung Westindiens zu bringen: jedoch wegen der nachfolgenden Wiedereinführung der Sklaverei und der verfehlten französischen Expedition zur Wiedererlangung der Kontrolle über SaintDomingo (1802) wechselte Grégoire seine Position dahingehend, die Unabhängigkeit Haitis zu unterstützen als er die neue Republik als das letzte übriggebliebene Gebiet sah, die revolutionären Ideale der Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen. Grégoire war am Ende seines Lebens darüber betrübt, zu sehen dass die Haitianische Republik einem autoritären Regime verfiel, sowie später durch die offenbare Bereitschaft des Landes, Frankreichs Bedingungen für die Anerkennung der haitianischen Unabhängigkeit anzunehmen).

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Ohne Impulse aus Frankreich hätte diese Revolution also nie stattgefunden, was aber neuerdings mit sehr schwachen Gründen und gegen jede wissenschaftliche Wahrscheinlichkeit abgestritten wird.4 Die Haitier übernahmen die beiden von der Französischen Revolution proklamierten zentralen Forderungen der Aufklärung, nämlich einerseits die nach Freiheit, die sich auf die Befreiung sowohl vom knechtenden europäischen Kolonialismus als auch von der europäischen Sklaverei beziehen konnte, wie auch die nach Gleichheit, nämlich Gleichstellung der Farbigen mit den Angehörigen der weißen Rasse. In Haiti beriefen sich nacheinander die verschiedensten – meist nach Rassenzugehörigkeit gestaffelten – unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen auf das Gleichheitsgebot, das auch ein Verbot der Privilegien war, wie man schon bei Holbach nachlesen konnte. Der Leipziger Historiker Matthias Middell bezeugt in diesem Zusammenhang eine Art Wiedergeburt des Ansehens der Aufklärung zu Beginn des 21. Jahrhunderts in seinem Referat – Neue Diskussionen um die Erklärung der Französischen Re­ volution5 auf dem Eichhorn-Colloquium der Berliner Leibniz-Sozietät im April 2015: Nachdem die Französische Revolution und das vorangegangene Jahrhundert der Aufklärung lange Zeit eine Zentralstellung in den Geschichtserzählungen inne hatten, zeichnete sich in den 1980er Jahren deren Erosion ab. Auf der einen Seite war die Revolution als „Lokomotive der Weltgeschichte“ (Marx) mit einem wachsenden Misstrauen gegenüber einer exzessiven Gewaltbilanz (worin aber auch eine unzulässige, doch bewusste Reduktion der Revolution auf die Endphase des Robespierreschen Terrors der Jakobiner steckt, HOD) sowie mit der Frage konfrontiert, ab wann die revolutionäre Variante der Transformation durch schonendere Reformprozesse abgelöst werden könnte. Auf der

4 manche Autor(inn)en wie Karin Schüller (1994, 125 ff.) leugnen sogar die spezifische Relevanz der Französischen Revolution für die haitianische, insofern wie sie postuliert diese wie jedes anderer äußere Ereignis und eher zufällig in dem unentwirrbaren Gesamt von Kausalitäten fast die Rolle nur des Zufalls spiele. Doch war diese Revolution denkbar ohne den Einfluss eines Ereignisses in einem Lande, das wie Frankreich immerhin zu den wichtigsten Kolonialländern zählt und speziell die in Saint Domingue, dem späteren Haiti alleinherrschende Kolonialmacht war. Dass in diesem „Mutterland“ der französischen Kolonie Saint-Domingue eine politische Revolution stattfand, war eine Revolution zur Abschaffung der Sklaverei als sozialökonomischen Teils des ancien régime, was keineswegs identisch mit der Abschüttelung der französischen Kolonialherrschaft als solcher war. 5 Hinzu kam die „verspätete“ Sonderentwicklung Brasiliens von der ehemaligen Kolonie Portugals zum „Mutterland“: der vor Napoléon aus Portugal in die amerikanische Kolonie geflüchtete König herrschte von dort aus als Kaiser von Brasilien auch über das europäische „Mutterland“ Portugal.

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anderen Seite traf die Geschichte vom Ursprung moderner Demokratie und vom folgenden Aufstieg des Westens auf Zweifel im Namen des Postkolonialismus. Das Jahr 1989 erwies sich als Angelpunkt – statt feierlicher Kommemoration verhedderten sich die Fäden teleologischer Narrative weiter in den Beobachtungen einer revolutionären Praxis. Doch interessanterweise erwiesen sich, so Middell, skeptische Prognosen für das dritte Jahrhundert der Forschungen zur Französischen Revolution als vorzeitiger Abgesang. Die Revolution gewinne im neuen Kontext einer um sich greifenden Globalgeschichtsdebatte neue Facetten und löse neue Kontroversen aus. In der internationalen Historiographie zur Französischen Revolution setzt sich immer mehr eine Perspektive durch, die den globalen Bezügen mehr Stellenwert einräumt, in erster Linie dem Zusammenhang mit der erfolgreichen Sklavenbefreiung auf St. Domingue, aber auch darüber hinaus den Unruhen und gesellschaftlichen Transformationen im gesamten französischen Empire bis hin zum Versuch Napoleons, die angestammte europäische Suprematie wieder herzustellen. Weiterhin spielt der transatlantische Charakter der Revolutionen zwischen 1776 und 1826 eine wachsende Rolle, wobei zwei Deutungen vorherrschen. Während die einen, u. a. David Armitage (Harvard), das Vorbild der Unabhängigkeitserklärung für die Emanzipationen des 19. und 20. Jahrhunderts betonen, stellen andere, wie Pierre Serna (Paris), das Modell des Republikanismus mit seinen politischen und sozialen Partizipationsmöglichkeiten in den Vordergrund. Insgesamt hat sich der Pessimismus mancher Zeitzeugen des Bicentenaire im Jahre 1989, dass nun wohl alles über die Französische Revolution gesagt sei, nicht bewahrheitet, sie ist vielmehr auf neue Weise wieder zu einem Anknüpfungspunkt für politische Diskurse und wissenschaftliche Innovation geworden.

Soweit Middell. Dazu gehört unbedingt auch die neuerliche Einschätzung der Rolle der französischen Aufklärung als Auslöserin bzw. Geburtshelferin der nationalen Befreiungsrevolutionen in Nordamerika, der Karibik und Südamerika. bzw. des Erwachens selbstbewussten antikolonialen Denkens in der tropischen Südhälfte des Planeten. Gleichheit = égalité war in Haiti wie in Frankreich und den USA das Ideal der neuen Gesellschaft nicht nur als Gleichstellung der Individuen, sondern ganzer Kollektive, von Nationen, Rassen, Völkern: „los blancos criollos enviaron un informe a la Asamblea Nacional de la Francia revolucionaria pidiendo derechos iguales (igualdad) a los ciudadanos e instituciones metropolitanas“ (die weißen Kreolen (Haitis, HOD) sandten einen Bericht an die Nationalversammlung Frankreichs, in dem sie gleiche Rechte (Gleichheit) mit den Bürgern und Institutionen der Metropole forderten), das heißt den Reigen der sich auf die Gleichheitsstatuten der Menschenrechtserklärung berufenden Schichten und Stände eröffneten die an sich schon privilegierten Weißen Haitis mit ihrer Forderung nach Gleichstellung mit den Bürgern des französischen „Mutterlandes“, ganz wie kurz zuvor die führenden Kräfte der nordamerikanischen Kolonien aus dem Munde Jeffersons auf der hoheitlichen Gleichheit mit den ehemaligen britischen Kolonialherren insistierten. 194

Danach folgte die weit minder privilegierte Rasse der Mulatten: „Los mula­ tos, apoyándose en kos principios de la Revolución francesa“, verlangten Gleichberechtigung mit ihren ehemaligen Herren. (ibd., 237) „Las noticias de los acontecimientos parisinos y metropolitanos eran aqui bien conocidos gracias a numerosos impresos, escriben dos hacendados“ laut Carpentier, der diesen Brief in einem Staatsarchiv ausgegraben hatte. Im April 1792 schließlich kam das Gleichheitsdekret, das auch die Schwarzen mit den einstmals privilegierten Weißen vor dem Gesetz gleichstellte. Freiheit und Gleichheit, diese zentralen Losungen der Aufklärung und der Französischen Revolution, erfreuten sich auf Haiti überhaupt der besonderen Wertschätzung der schwarzen Bewohner und ihrer Regierungen. Es war das einzige Land „à conserver les emblèmes de la révolution française“, das die Inschriften liberté und égalité als Staatslosungen auf dem offiziellen Dokumenten bewahrte. „En 1826, le gouvernement de Charles X exigeat que les autorités haitiennes cessent de lui expédier des lettres sur un papier à en-tête oú figuraient le bonnet phyrgien et la dévise „Liberté‚ Egalité“. (Die Regierung von Charles X. forderte die haitianischen Behörden auf, die Entsendung von Briefen zu unterlassen, auf deren Kopf die (revolutionäre) phrygische Mütze und die Losung libertéégalité stünden. (Brière 2008, 167) Diese bildliche Erinnerung an die Revolution von 1789 stellte für das restaurativ-konservative Regime offenbar eine Provokation dar. Von der Restauration erhofften sich in einer „Pétition des anciens colons de Saint-Domingue“ im Jahre 1838 an die vom „Bürgerkönig“ Louis Philippe wieder errichtete Pairskammer, also an die Vertretung des Hochadels des ancien régimes, die Gleichstellung mit der neuen französischen Geldaristokratie. Interessanterweise scheint der kommandierende französische General Leclerc gegenüber seinem Hauptanliegen, Haiti wieder zur französische Kolonie zu machen, die Wiederherstellung der Sklaverei wohl auch aus politischer Klugheit vor sich hergeschoben zu haben; er gründete nach einem Waffenstillstand im Einvernehmen mit dem Schwarzenführer L’Ouverture einen Kolonialrat, um ein „nouveau règlement des cultures“ nach den Prinzipien von „la liberté et l’égalité“, also nach den aufklärerischen und revolutionären Prinzipien der Freiheit und Gleichheit zu erarbeiten (Girard 195), ein Projekt, vor dessen Verwirklichung Leclerc am Gelbfieber verstarb, und das dessen Nachfolger Rochembeau zu den Akten legte, um den Krieg zur Wiederherstellung der Sklaverei und zur Rückverwandlung des freien Haiti in eine Kolonie Frankreichs wieder aufzunehmen. Welche bleibenden Spuren hinterließ die Aufklärung im postrevolutionären Haiti? Hatte sie sich dort überhaupt in Geisteskultur wie in Institutionen materialisiert? 195

Das schwerwiegendste von der Vergangenheit ererbte Problem war die Sklaverei, die gewissermaßen vollständige Negation von Freiheit und Gleichheit. Haiti ist das einzige Land der Welt mit einer erfolgreichen Sklavenrevolution: die haitianischen Sklaven erreichten sowohl die persönliche Freiheit innerhalb Haitis, als auch die ihres Vaterlands nach Erringung der Unabhängigkeit und der internationalen und diplomatischen Anerkennung, sie erreichten auch ihre menschenrechtliche und weltbürgerrechtliche Gleichstellung mit anderen freien Bürgern der Welt. Sie erlangten diese égalité im kosmopolitischen Sinn trotz vieler USA-Interventionen und fast zwanzigjähriger Besetzung durch Vereinigte-Staaten-Marineinfanterie unter dem Vorwand der Bedrohung der USA-Sicherheit oder wegen vorgeblicher oder auch wirklicher Menschenrechtsverletzungen. Doch Haiti verfügt gleichwohl noch über ein zweites, ebenfalls weltweit einmaliges Alleinstellungsmerkmal, falls der Pleonasmus gestattet ist: es ist das ärmste, unterstentwickelte Land des Kontinents. Der Historiker Bernecker (7 f.) zieht diesbezüglich eine erschreckend negative Bilanz für das heutige Haiti, das „Armenhaus der Welt“, über zweihundert Jahre nach Erringung der Unabhängigkeit und der Sklavenbefreiung: Die Lebenserwartung beträgt 55 Jahre, die Kindersterblichkeit ist extrem hoch, es herrscht Subsistenzproduktion, das Verkehrswesen ist schwach entwickelt, es gibt wenig Lehrer und Schulen, erst 1944 wurde die erste Universität des Landes eröffnet. Es gibt wenig Intellektuelle und Zeitungen, die Analphabetenquote lag 1990 zwischen 75 und 80–90 Prozent. Von Aufklärung der Bevölkerung kann nicht einmal im vulgärsten Wortsinn von sexueller Aufklärung die Rede sein. Es fehlt „Bildung“ in einfachster institutioneller Ausprägung. Ohne Schulbildung keine Aufklärung, ohne Aufklärung keine moderne Wirtschaft und Kultur! Da das eigentliche Geschäft des Wissenschaftlers die Erforschung der Ursachen bzw. der Genesis eines Problems ist, liegt es nahe, beide Alleinstellungen miteinander zu korrelieren, also das extrem niedrige Wirtschafts- und Kulturniveau auf die Selbstbefreiung der Sklaven zurückzuführen, zumal in anderen, prosperierenden Ländern die Befreiung der Sklaven durch weiße Regierungen erfolgte, die die Sklaverei als wirtschaftlich unproduktiv und politisch gefährlich abschafften. Obwohl es wenig Forscher gibt, die diesen Schluss explizit ziehen, legen ihn manche Arbeiten nahe, weil keine andere Korrelation als diese Juxtaposition in Betracht gezogen wird, wodurch ihre Aussagen unbeabsichtigt einen rassistischen Akzent bekommen. Bernecker stellt sogar fest, dass die Sklaven durch ihre Revolution ihr einstmals blühendes, außerordentlich reiches Land ruiniert und in den Abgrund gerissen hätten. Über einer halben Million meist in 196

der Zuckerproduktion tätigen Sklaven standen lediglich 38 000 Weiße: Grundbesitzer; Kolonialsoldaten, Seeleute, zivile Verwaltungsangestellte, Gastwirte und Händler gegenüber. In der rund 20 000 Einwohner zählenden Hauptstadt gab es vor der Revolution viele Restaurants, Geschäfte, Verwaltungsstellen, Garnisonen und ein Theater. Es darf nicht verschwiegen werden, um falsche rassistische Schlüsse gar nicht erst aufkommen zu lassen, dass ausschließlich die Sklaven diesen Reichtum ihrer sklavenhaltenden Herrn geschaffen hatten. Saint-Domingue war wie Bernecker mit Recht herausstellt, die reichste Kolonie Frankreichs, wenn nicht gar der Welt, dank der Sklavenarbeit auf den Zuckerrohrfeldern. Ihr Arbeitswert war infolge ihrer niedrigen Produktions- und Reproduktionskosten und wegen des fast kostenlosen Grundes und Bodens, der den ausgerotteten indianischen Ureinwohnern weggenommen worden war, wie auch wegen der äußerst niedrigen Grundrente äußerst billig: dank niedriger Produktionskosten erzielten die aus Haiti stammenden begehrten „Kolonialwaren“ Zucker, Cacao und Tabak Weltmarkthöchstgewinne. Es war die billige Arbeit armer Sklaven als solche, die den sagenhaften Reichtum von Saint-Domingue erbrachte, wovon die unter armseligen Umständen dahinvegetierenden Sklaven selber allerdings nichts erhielten, wie aus den diesbezüglichen Forschungen Alexander von Humboldts in seinem Politischen Essay über die Insel Kuba hervorgeht. Eine wahrhaft aufklärerische Wissenschaft muss diesen Zusammenhang schon im Interesse des Kampfes gegen unterschwellige Inferiorisierung der Haitier und Kolonialismusverharmlosung in manchen Medien und Büchern offen und explizit klarlegen. Im Vorfeld der Unabhängigkeitsrevolution und Sklavenbefreiung auf Haiti gab es keine diesbezüglichen Aufklärungskampagnen, die diese überraschende Sklavenrevolution vorbereitet und damit auch rational erklärt hätten, worauf auch der Buchtitel Ces esclaves qui ont vaincu Napoléon von Girard anspielt. Sie konnte deshalb nur eine politische und militärische, keine Kulturrevolution, kein Triumph der Aufklärung sein wie die französische, hispanoamerikanische und nordamerikanische Revolution, weil das den Sklaven von ihren Besitzern aufgezwungene subhumane Kulturniveau (ihre „Unkultur“) und ihr absoluter Ausschluss von jeder zeitgemäßen „Bildung“ und „Zivilisation“, die Nichtexistenz auch der geringsten Bildungseinrichtungen für sie, kurz ihre Existenz als reine Arbeitsmaschinen bzw. -tiere jede nachhaltige Aufklärung unter ihnen und damit auch eine autochthone bürgerliche Entwicklung in Haiti unmöglich machten.

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Den Sklaven wurde ein Vernichtungskrieg aufgezwungen, der jedwede Entwicklungskeime vernichtete. Das völlig wirtschaftlich ruiniert aus dem napoleonischen Kolonialkrieg hervorgehende Haiti musste sogar noch gewaltige Summen an Entschädigungen an die Sklavenhalter für den Verlust ihrer Arbeitssklaven in Höhe von zunächst 120, sodann, halbiert, 60 Millionen GoldFrancs zahlen, um die Anerkennung durch Frankreich zu erreichen und einen drohenden Krieg zu verhindern, was das ausgepowerte Land vollends ins Elend stürzte und ihm jedes entwicklungsnotwendige Surplus fortnahm. Die durch Schweigen verfälschende und somit antiaufklärerische, mehr verdunkelnde als das Licht der Aufklärung verbreitende mainstream-Geschichtsauffassung sollte man ex post korrigieren, denn aus Gründen der Billigkeit und historischen Gerechtigkeit hätten die Sklaven für ihre Verschleppung aus Afrika und ihre nachfolgende Zwangsarbeit von den Sklavenhaltern mit hohen Abfindungen entschädigt werden müssen statt umgekehrt. In diesem Sinne hat die Bundesrepublik Deutschland an die jüdischen, polnischen und anderen ausländischen, während des Hitlerfaschismus nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter Entschädigungssummen gezahlt. Lüsebrink wie andere Autoren berichtet von der barbarischen Brutalität der Negersoldaten Toussaint Louvertures. Er nennt als Beispiel eines zeitgenössischen Kommentators den liberalen brasilianischen Abgeordneten Coutinho: dieser wies „ganz im Sinne bestimmter Tendenzen der europäischen Aufklärungsbewegung auf die Notwendigkeit hin, den Sklavenhandel menschlicher zu gestalten und die Besitzer von Negersklaven einer schärferen, humanitären Kontrolle zu unterziehen, um eine Entwicklung wie in Haiti zu verhindern.“ Was ist ein „menschlicher“ Sklavenhandel anderes denn ein Handel mit zu Waren herabgewürdigten Menschen? Knapp ein Jahrhundert später forderte Nabuco, ebenfalls brasilianischer Parlamentarier und wieder unter Bezugnahme auf das Beispiel Haitis die Abschaffung der (in Brasilien noch existierenden, HOD) Sklaverei (...), „sprach aber den befreiten Sklaven zunächst das Recht auf politische Repräsentation (auf Deutsch: auf die von der Aufklärung und der französischen Revolution proklamierten Bürgerrechte, HOD) ab, da sie erst – unter Führung der Weißen – zu Staatsbürgern und zivilisierten Menschen erzogen werden müssten.“ (Lüsebrinks (151) kritischer, vorsichtig zurüchhaltender Kommentar: Die Haitianische Revolution erscheint hier als Paroxismus der Französischen Revolution: als traumatische Bruchstelle der modernen Geschichte und als Einbrechen barbarischer Unkultur und kannibalischer Monstrosität in den Gang einer grundsätzlich – in Coutinhos Sicht – fortschrittlich gerichteten Welthistorie.

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Im Rahmen einer wissenschaftlichen Beurteilung der Sklaven- und Unabhängigkeitsrevolution auf Haiti müsste die Zuschreibung der genannten drei Charakteristika: „traumatische Bruchstelle“, „Einbrechen barbarischer Unkultur“ und „kannibalische Monstrosität“ an die haitianischen Sklaven hinterfragt werden. Die Bezeichnung „traumatische Bruchstelle“ bezieht sich auf den Schrecken der französischen Kolonen über das selbständige Handeln der Sklaven und deren notorisch grausame Kriegstaten gegenüber den weißen Sklavenhaltern. Ihre Brutalitäten erscheinen aus dieser Opfer-Perspektive, einer Perspektive die hier ganz selbstverständlich eingenommen wird, als „barbarische Unkultur“. Heinrich v. Kleist in Die Verlobung in Santo Domingo und Hans-Christoph Buch in Die Hoch­ zeit von Port-au-Prince und Nachruf auf einen gescheiterten Staat hauen in dieselbe Kerbe, die sich befreienden Sklaven als unmenschliche Vandalen darzustellen, wogegen Anna Seghers in Die Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe und Die Hochzeit von Haiti mehr auf die diese Brutalitäten auslösende Vorgeschichte verweist. Die Wirkung wird hier als Ursache suggeriert einfach dadurch, dass die Geschichtsdarstellung mit den Untaten der Neger beginnt, also entgegen dem wirklichen chronologischen und damit kausalen Ablauf, der vielmehr umgekehrt zu beschreiben wäre, beginnend mit den Gräueltaten der weißen Kolonialarmee unter den Negern, die ihrerseits zur Gegenwehr griffen und mit ihren Gegenreaktionen bzw. Racheakten oder wenn man so will mit ihren Untaten auf den weißen Terror antworteten. Doch erwähnt wird von der weißen Geschichtsschreibung nur der schwarze Terror, der Terror der Schwarzen. Sodann ist das wilde Massakrieren von Weißen durch die bis zum Paroxismus erregten Schwarzen zu hinterfragen. Man muss vor allem fragen, wer hier eigentlich traumatisch verletzt worden ist. Dazu muss man rekapitulieren, dass die überwiegende Zahl der haitianischen Schwarzen noch im freien Afrika geboren wurde und dort in Freiheit aufgewachsen war. Sie wurden dort, in ihrer afrikanischen Heimat, als während des Zuckerbooms Arbeitskräfte in Haiti fehlten, wie wilde Tiere von Sklavenhändlern gefangen bzw. aufgegriffen oder von Häuptlingen an diese wie eine Handelsware verkauft. Man entriss sie somit auf brutale, ja man muss sagen unmenschliche Weise ihren Eltern und Familien, pferchte sie wie Vieh in engen Schiffsladeräumen zusammen und verschleppte sie in das ihnen sowohl ambiental wie sozial fremde, kolonialfeudale Amerika, wo sie unter schmählichsten Entbehrungen schwere Arbeiten zu verrichten gezwungen wurden und die klatschenden Hiebe der Lederpeitschen aus ma­nati der mayorales bzw. Sklavenvögte auf ihren nackten Rüchen tanzen spürten: das sind doch existentielle Erlebnisse, die zu den „traumatischsten“ gehören, die Menschen überhaupt je erleben mussten, bevor der deutsche Faschismus an199

derthalb Jahrhunderte später noch eine weitere Steigerung solcher Unmenschlichkeiten praktizierte. Also das Trauma erlitten sowohl zeitlich als auch in seiner Intensität zuallererst die Afroamerikaner, obgleich die sensiblen Europäer den ihrer Ansicht nach subhumanen Schwarzen sowieso keinerlei Seelenleben und daher auch keinerlei traumatische Verletzungen, fühllose Dingmenschen die diese ja waren, zubilligten. Doch wissenschaftlich-kausal darf man nicht von solchen primitiven „Vorurteilen“ – Vorurteil im aufklärerischen Sinne verstanden – ausgehen, sondern muss das Primat eines schweren Traumatisierung durch die Weißen unbedingt den Schwarzen zuerkennen, bevor man von der der Sklavenhalter, dieser veritablen Unmenschen, spricht. Das ist doch in diesem Zusammenhang zumindest erwähnenswert, denn schon allein die Zumutung, wieder zu Sklaven zu werden, rechtfertigte den spontanen Widerstand der nègres. Den mulattischen Aufklärer Ogé, der einen Aufstand organisierte, um die von Paris deklarierte Möglichkeit, dass auch Farbige öffentliche Funktionen einnehmen können, also die staatsbürgerliche Gleichheit für sich zu erzwingen, ließ der französische General Rochembeau zum Tode durch Rädern verurteilen und diese mittelalterliche Exekution, die fatal an den von Voltaire und Friedrich II. angeprangerten Fall Callas im anci­ en régime erinnert, auch wirklich vollstrecken. Wurde Rochembeau dafür von den Engländern in neunjähriger Gefängnishaft gehalten, in der er verstarb? Der Kolonialgouverneur von Saint-Domingue jedenfalls, der den Rebellen, Agitator und Terroristen Machandal zu einem Hexer erklärte und ihn vor der versammelten Schwarzengemeinde von Saint-Domingue öffentlich lebendig verbrennen ließ, führte damit eine andere traditionelle altfranzösische Hinrichtungsart von hohem Schauwert, „una función de gala para negros“ (Carpentier, 47), eine Galavorstellung für Neger vor, um sie von jeglicher Freiheits- und Gleichheitsforderung abzuschrecken. Rochembeau drohte sogar die vollständige und ausnahmslose Ausrottung aller Sklaven sowie der freien Mulatten an (68). Seine Praxis, Neger von aus Kuba importierten Negerhunden öffentlich bzw. vor geladenem Publikum zerfleischen zu lassen (a comer negros), ist notorisch. Sie ist einem camouflierten Kannibalismus nahe, der fast in den Reden eines mulattischen Matrosen anklingt, der aus Kuba mit der „nave de los perros“ gelieferte Hunde aus dem Zwinger holen ließ und auf die Frage, wohin mit diesen Doggen, das Bellen übertönend antwortete: „a comer negros!“, Neger fressen. (ibd., 78) Den von Lüsebrink apostrophierten „Einbruch barbarischer Unkultur“ begingen also nicht die Schwarzen, sondern die Weißen. Dennoch ist auch hier 200

im aufklärerischen Interesse die Frage zu stellen, ob nicht mit solchen Behauptungen bewusst oder unbewusst rassistische Vorurteile durch Fälschung der historischen Tatsachen oder, gelinder gesagt, durch einseitige Verallgemeinerung zuungunsten der Schwarzen und durch Außerachtlassung der historischen Genesis der jeweiligen Emotionen erzeugt werden. Wenn beispielsweise zu lesen ist, dass die Schwarzen nach ihrem Sieg alle Weißen massakriert hätten, so liest man anderenorts, dass in den Jahren 1793–1803 fast alle Weißen ausgewandert, das heißt geflohen seien, so dass solchen Feststellungen mit Vorsicht begegnet werden muss. Zumal, wenn man solche Briefe der Ex-Sklavenhalter an die Behörden liest wie dass man die Neger befreien müsse, indem man sie in die Sklaverei zurückführt!: „L’état des nègres autrefois l’objet des soins d’un bon maître, aujourd’hui courbés sous le jougue de ces tyrans.“ („die einst den Gegenstand der Fürsorge eines guten Herrn bildenden Neger, die heute unter das Joch dieser Tyrannen gebeugt sind, Breux, 1992, 24). Man kann sich vorstellen, dass die Adressaten solcher Sklavenhalterbriefe derartige Behauptungen gern weiterverbreiteten und so zu einem wahren Volksvorurteil gegenüber den Haitianern und den Schwarzen überhaupt verfestigten. Jedoch ist von den Herkunftsvölkern – im Unterschied zu manchen Indiound Südseestämmen – nicht bekannt, dass sie Homophagie betrieben hätten, die insinuiert wird, wenn hier von „kannibalischer Monstrosität“ gesprochen wird. Diese Qualifizierung würde eher auf die französischen Interventionstruppen zutreffen, denn General Rochembeaus Praxis war es, extra aus Kuba importierte Negerhunde (perros negreros), die auf entlaufene Negersklaven (cimarrones) dressiert waren, als Belohnung die lebenden Neger zerfleischen und verzehren zu lassen: „Los días de fiesta, Rochambeau comenzó a hacer devorar negros por sus perros: On leur fera bouffer du noir! (An Festtagen begann Rochambeau Neger durch seine Hunde verschlingen zu lassen. „Man wird ihnen Schwarzenfleisch zu fressen geben!)“ Carpentier beschreibt in der Erzählung Los fugitivos (Die Flüchtlinge) eine für den Neger tödlich ausgehende zufällige Schicksalsgemeinschaft zwischen einem solchen cimarrón, also geflohenen Sklaven, und einem solchen perro negrero. Vielleicht erinnert sich der vielbelesene Carpentier auch des englischen Romanciers Joseph Conrad, Autor von The heart of darkness über Menschenjäger im Congo, der auch von einem britischen Kolonialoffizier berichtete, der in einer Art Monstershow vor geladenem Publikum gefangene Neger von einem auf ihn gehetzten Kannibalenstamm lebend zerfleischen und verzehren ließ. Es bleibt dabei, dass die Sklaverei eine große Entmenschlichung darstellt, in die zurückzukehren sich die Haitier mit allen Mitteln zu wehren das Recht hatten. 201

Aber der eigentliche Punkt ist doch die weit früher erfolgte Traumatisierung der Haitianischen Schwarzen durch den Sklavenfang, Sklaventransport und  – handel und die sklavische Zwangsarbeit. Sie erklärt rational die wilde, tierische, umgezähmte Wut der Exsklaven im Losschlagen auf ihre Feinde, die Sklavenhalter, die ihnen das Schlimmste angetan hatten, was damals menschenmöglich war, und ihnen durch ihre neuerliche Versklavung dies nochmals antun wollten. Sie sind also erklär- und entschuldbar und moralisch völlig exculpiert. Friedrich Schiller, Anhänger der französischen Revolution, aber Gegner des Jakobinerterrors, schrieb Verse, die wohl letzterem galten, aber auf die entfesselten haitianischen Sklaven, seine Zeitgenossen, geschrieben scheinen: Der Mensch ist frei geschaffen. ist frei und würd er in Ketten geboren, Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei, Nicht den Missbrauch rasender Toren, Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, Vor dem freien Menschen erzittert nicht.

Dieses Gedicht ist nicht ohne Rousseaus provozierendes dictum im Contrat so­ cial: „Die modernen Völkern haben keine Sklaven. Sie sind selbst welche“,6 im Kontext der Aufklärung entstanden. Rousseau benutzte den Terminus „Sklaverei“ als höchsten verbalen Ausdruck von Entmündigung und Unfreiheit; „Sklaverei“ kollidierte direkt mit den von der Aufklärung und Revolution konsakrierten Idealen der Freiheit und Gleichheit, die auf Rousseaus Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) aufbauten. Doch in der üblichen und meist verbreiteten Historiographie werden im Gegensatz zu Schiller und Rousseau den aufständischen Schwarzen einseitig und ohne kausale Erklärungsbemühung schwere Menschenrechtsverletzungen und die Schuld an den gegenseitigen Morden im Krieg auf Haiti angelastet, wodurch die eigentlichen Menschenrechtsvergehen im Dunkeln, im Wortsinn unaufge­ klärt bleiben. Aber auch unabhängig von der die Sklaven traumatisierenden Vorgeschichte scheinen die französischen Kolonen auch diejenigen gewesen zu sein, die die gegenseitigen Brutalitäten eröffneten. „Cuando los blancos entraron en batalla destruyeron, enardecidos por la venganza, todo lo que era negro“. (Als die Weißen in die Schlacht eingriffen, heißt es bei Carpentier, zermalmten sie durch das Rachegefühl erhitzt alles was schwarz war (ibd, 238)).

6 (Contrat social, ed. critique, ed. Simone Goyart-Fabre, Paris, 231)

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Für die von Kindesbeinen an von den europäischen Unmenschen ihrer Freiheit in Afrika beraubten Jungsklaven war Afrika, das primitive, unzivilisierte, aber freie Afrika die Freiheit, die einzige, die sie kannten, eine Freiheit, die sie mit der Revolution wiederherstellen wollten, die ihnen die europäische Zivilisation verwehrte, weshalb man letztere so man konnte auch zerstörte. Auch die gesellschaftliche Organisation, die Regierungsform des alten, freien Afrika war eine Stammeskultur ohne jede Gewaltenteilung und ohne jedweden Gesellschaftsvertrag. Wenn professionelle Historiker inbezug auf L’Ouverture, Boyer oder Henri Christophe von „Diktatoren“ sprechen, begehen sie eine Äquivokation bzw. einen Achronismus. Der mit der aussereuropäischen Kulturgeschichte vertraute Carpentier wusste es besser, wenn er den Afroamerikaner Mackandal dem haitianischen Neophyten Ti Noel den kulturhistorischen Unterschied zwischen einem afrikanischen und einem europäischen „König“ fast in Montesquieuschen Termini als die Differenz zwischen moderner Gewaltenteilung und traditioneller synkretischer Personalunion von Herrscher, Priester und Richter erklären lässt, im Einklang mit Morgan und noch mehr mit Lévi-Strauss: „En el África, el rey era guerrero, cazador, juez y sacerdote (...) En Francia, en España, en cambio, el rey enviaba sus generales a combatir; era incompetente para dirimir litigos, se hacía regañar por cualquier fraile confesor (...).“ (ibd., 22: In Afrika war der König Krieger, Jäger, Richter und Priester, in Frankreich, in Spanien hingegen schickte der König seine Generäle in den Kampf, war er unfähig, Streitereien zu schlichten und ließ sich von jedem beliebigen Beichtvater anschnauzen). Klar schien für alle Negersklaven, dass mit der Wiederherstellung der afrikanischen Freiheit auch der afrikanische, sozusagen monopersonale Häuptling wieder das Zepter übernehmen würde. Jedenfalls war „König“ für die haitianischen Sklaven etwas ganz anderes als für ihre okzidentalen Herren und hatte schon gar nichts mit dem modernen okzidentalen Begriff des Diktators zu tun. Es fehlten den haitianischen Sklavenrevolutionären die geistigen und materiellen Mittel, um die eine moderne Zivilisation ermöglichenden Bildungsinstitutionen wie Bibliotheken, Volksschulen, Lehrerbildungsanstalten, Druckereien, Verlage, Museen, wissenschaftliche Institute, Archive, Theater usw. zu gründen und dementsprechende Fachkräfte heranzubilden, ohne welche eine auch nur elementare Aufklärung nicht realisierbar war. Die Schlussfolgerung kann meiner Ansicht nur sein, dass Haiti eine Unabhängigkeitsrevolution ohne eine Aufklärung hatte. Dennoch gingen von Haiti und der Karibik und speziell auch der haitianischen Revolution schon allein durch die definitive Erringung der Freiheit positi203

ve Impulse bei der weiteren Verbreitung der Aufklärung auf der Erde aus. So zog sich eine schmale aber direkte Verbindung von Haiti und der Karibik auch nach Südamerika, insofern nämlich Simón Bolívar, lateinamerikanischer Befreier und Militär, der zutiefst von der französischen Aufklärung wie von der Französischen und eben auch von der haitianischen Revolution zwar nicht beeinflusst, wohl aber beeindruckt war, Haiti zum Exilort wählte, was ihm von Präsident Pétion gewährt wurde. Dieser verlangte von dem in der wichtigen Frage der Sklaverei zögerlichen Bolívar für die ihm gewährte moralische Hilfe die Abschaffung der Sklaverei in Venezuela, „und wenn dies auch nicht sofort erfolgte, so wurde sie doch in Venezuela, Bolívars Heimatland, wo dieser den meisten Einfluss hatte, als einem der ersten Länder vollzogen.“ (Salcedo Bastardo 43) Bolívar hatte aus dem Negativbeispiel Haitis die Lehre gezogen, dass eine Revolution ohne Aufklärung, die aus den konkreten Zielstellungen das notwendige Idearium entwickelte, keine echte Unabhängigkeit und Freiheit und noch weniger den Anschluss an die führenden westlichen Länder und damit die Gleichheit mit diesen sichern konnte. Von den Antillen aus schrieb er seinen berühmten Brief aus Jamaica an einen USA-Bürger, in dem er sein politisches wie kulturelles Projekt eines aufgeklärten Lateinamerika entwickelte, eines noch inexistenten und erst zu schaffenden Kontinents. Die demographischen Verhältnisse auf Haiti waren am Ende der Kriege so, dass die Gesamtbevölkerung nahezu ausschließlich aus ehemaligen Sklaven und einer winzigen Zahl überlebender Weißer bestand: keine Modernisierung und moderne Freiheit, keine Rezeption aufklärerischer Schriften war möglich, alle Haitianer träumten von Afrika, von der Afrikanisierung, von einer archaischen Kultur und Gesellschaft als Reich der Zukunft und Freiheit. Die Weißen, fast die einzigen Haitianer, die überhaupt etwas vom Sozialvertrag oder vom Geist der Gesetze hätten verstehen können, waren als Kolonen, als Grundbesitzer allein an der Aufrechterhaltung des status quo interessiert. Anders in Südamerika.

Lateinamerikanische Aufklärung Die französische Aufklärung hatte besonders tiefgreifenden Einfluss – weit mehr als im anglophonen Nordamerika und in der francophonen Karibik – im hispanobzw. lusophonen Lateinamerika, den spanischen und portugiesischen Kolonien. Damit erfasste die Aufklärung auch den letzten möglichen Winkel potentiell westlicher Kultur, verwandelte praktisch den gesamten Okzident in ein aufgeklärtes Territorium. Okzident und Aufklärung wurden fast zu identischen Begriffen. Hier, in Lateinamerika, kam es nach Nordamerika und der Karibik zwischen 1810 und 1830 ebenfalls zu einer Unabhängigkeitsrevolution, der dritten auf dem 204

Kontinent. Gemeinhin wird diese als ein Ereignis angesehen, das eng mit der Französischen Revolution von 1789 zusammenhing. Der ungarische Historiker Tibor Wittman (237) schrieb sogar, letztere „ejercició una influencia transformadora en las colonias latinoamericanas“, letztere übte dort einen umwälzenden Einfluss aus, aber unterschlägt kurzschlüssig zugunsten des spektakulären 14. Juli 1789 den ebenfalls starken, aber länger anhaltenden Einfluss der Aufklärung auf die Lateinamerikaner. Abgesehen davon, dass die Südamerikaner weniger aus sozialen als vielmehr aus vordergründig nationalen Motiven in den Kampf zogen, sprechen die meisten Zeugnisse der Protagonisten der lateinamerikanischen Befreiungskriege für ihre direkte Rezeption der französischen Aufklärungsschriften. Bei seiner Beschäftigung mit staats- und rechtspolitischen Problemen des zukünftigen Hispanoamerika studierte Bolívar intensiv die großen Modelle der klassischen französischen und britischen Staatsrechtler, Montesquieus Geist der Gesetze, Rousseaus Gesellschaftsvertrag und Lockes Two treatises of government, worin Gleichheit, Freiheit und Eigentum zu höchsten Rechtsgütern erklärt wurden. Unter dem Einfluss dieser Nachfolger von Althus, Grotius und Pufendorf schrieb er zwei an lateinamerikanische Verhältnisse adaptierte Verfassungsentwürfe, für Groß Kolumbien 1791 und für Bolivien 1826. Bolívars Regierungskonzept war eine aus gleichen und freien Wahlen hervorgehende „Drei-Gewalten-Republik“ im Montesquieuschen Sinne. Als die Französische Revolution 1793 in ihre jakobinische Spätphase trat, war der spätere Hauptakteur der lateinamerikanischen Befreiungsrevolution, Simón Bolívar, gerade einmal 10 Jahre alt; den reifen Jüngling bewegten später weniger die Pariser Ereignisse als seine Lektüren der Werke der französischen Aufklärer und ihre Anwendung auf Lateinamerika. Doch im für ganz Lateinamerika gedachten Verfassungsentwurf von Angostura nahm er auch die persönliche Freiheit der Individuen auf. So trägt Bolívar die Bezeichnung „El Libertador“ zu Recht, wobei allerdings seine Befreierrolle von den Historikern meist auf die militärische beschränkt wird. Doch vor allem war er ein konzeptiver Ideologe und als solcher ein Befreier auch vom eurozentristischen Denken. In Lateinamerika hatte sich ein epochaler Freiheitsgewinn vollzogen, der ganz wesentlich auf das Wirken von Simón Bolívar zurückzuführen ist. Ihm, dem Sohn eines reichen Großgrundbesitzers und Magnaten, ging es nicht so sehr um die soziale Freiheit des Dritten Standes gegenüber den privilegierten Ständen, dem Adel und Geistlichkeit, noch um das politische Schicksal der Monarchie, sondern um etwas anderes: um die kollektive Freiheit der Südamerikaner von spanischer Kolonialherrschaft.

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Sein Biograph Salcedo-Bastardo (92) schreibt, Freiheit sei seit seinem 12. Lebensjahr, seit 1795, „Alpha und Omega seines kreativen, großzügigen, romantischen und aufopfernden Seins.“ Notabene umfasste sein Freiheitsbegriff vor allem bürgerlich-politische Freiheiten: eine unabhängige, also freie Justiz, Meinungsfreiheit und die angesichts der drückenden Zensur seit den von Kaiser Karl V. einst im 16. Jahrhundert erlassenen Leyes de Indias besonders wichtige Pressefreiheit, auch wenn die rhetorischen Lobpreisungen der Freiheiten der neuen postrevolutionären Ordnung infolge der entschlossenen Sabotage dieser revolutionären Regulative durch Latifundisten, Klerus, Bürokratie und Militär meist auf dem Papier blieben und sich nur äußerst verdünnt in gesellschaftspolitische Praxis umsetzten. Dennoch hatte sich hier allerhand Veränderung im Sinne des Liberalismus vollzogen: „Se trató de abolir la virtual servidumbre de los nativos; se declararon libres las actividades económicas“, auf deutsch: der faktische Leibeigenschaft der Indios, der mittelalterliche Zunftzwang und das Handelsmonopol mit Spanien wurden aufgehoben und damit der Zugang der Lateinamerikaner zum Weltmarkt frei. Bolívar wurde ähnlich wie Beethoven und Humboldt zum Gegner des sich in Napoleons Kaiserkrönung artikulierenden imperialen, antifreiheitlichen Bonapartismus lange bevor er den Kaiser der Franzosen wegen dessen Eroberungsfeldzügen in Spanien und in der Karibik zu hassen begann. Die Kaiserkrönung Napoleons, so schrieb er, „ließ mich an die Sklaverei in meiner Heimat denken und an den Ruhm dessen, der sie davon befreien würde“ (zit. nach Salcedo-Bastardo, 103). Für Bolívar wurde angesichts des Erlebnisses der erfolgreichen Sklavenrevolution auf Haiti neben der Freiheit auch „das Thema der Gleichheit und der greifbaren Gerechtigkeit (sic!...) zum Mittelpunkt seiner Bemühungen“, schreibt Salcedo-Bastardo (ibd., 125). Die beiden magischen Stichworte der französischen Aufklärung und Revolution, liberté und égalité, feierten in den neuen lateinamerikanischen Republiken ihre Rückkehr: „La libertad, segun los revolucionarios, debía ser amplia, y la igualdad completa. Se declararon nulas las discriminaciones de clase y de raza, quedaron abolidos los títulos de nobleza. Se decidió abolir la esclavitud“. (ibd. 569). Die Freiheit in Lateinamerika sollte den Revolutionären zufolge umfassend und die Gleichheit vollständig sein. Die Unterscheidungen nach Klasse und Rasse wurden annulliert und die Adelstitel abgeschafft). Auch die Juden, Mohammedaner und Protestanten, die von der Inquisition nicht geduldet wurden, hatten jetzt Anspruch auf Gleichheit.

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Denn selbst die weißhäutigen, von Europäern abstammenden, in der Kolonie geborenen und dort gesellschaftlich tonangebenden Kreolen waren vor der Unabhängigkeitsrevolution selbst in ihrer eigenen Heimat nicht den europäischen Halbinselspaniern gleichgestellt. Bolivar beklagte in seinem „Brief aus Jamaica“ bitter die Rechtsungleichheit, unter der die Kreolen gelitten hatten, wofür er mit genauen Zahlen aufwartete: sie stellten in der Geschichte des Subkontinents zwischen 1492 und 1810 nur 18 hohe Beamte gegenüber 754 Spaniern. Jedenfalls waren die Lateinamerikaner vollkommen von der „ciencia del gobierno y administración del estado“, von der Wissenschaft der Regierung und der Staatsadministration ausgeschlossen, wie er statistisch nachweist: Jamás éramos virreyes, ni gobernadores, sino por causas muy extraordinarias; arzobispos y obispos pocas veces; diplomáticos nunca; militares, sólo en calidad de subalternos, nobles. Sin privilegios reales; no éramos, en fin, ni magistrados ni financistas, y casi ni aun comerciantes (...) (Bolívar 41) (Niemals waren wir Vizekönige oder Gouverneure außer bei Vorliegen sehr außerordentlicher Gründe, Erzbischöfe und Bischöfe selten, Diplomaten nie, Militärs nur im Dienstrang von Subalternen und Adlige ohne wirkliche Privilegien wir waren keine Magistratsräte oder Finanzleute und nicht einmal Händler.)

Die Lateinamerikaner waren im eigenen Land in seinen Worten de facto so unmündig wie die Kinder. Uns wurde, schreibt er, „eine Verhaltensweise aufgezwungen, die uns (...) in einem permanenten Zustand des Kíndseins beließ, was die Dinge des öffentlichen Lebens betraf “ (ibd. 59). Das „Kindsein“ erinnert stark an Kants Aufklärungsdefinition als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, die etwas mit Kindsein zu tun hat. Bolívar erinnert an die einstige Gleichheit der Kreolen während der Conquista: „El emperador Carlos V formó un pacto con los descubridores, conquistadores y pobladores de América que. (...) es nuestro contrato social“ (Hervorh. HOD, ibd.): Karl V. habe einen Pakt mit den Entdeckern, den Eroberern und den Siedlern Amerikas geschlossen, „der unser Gesellschaftsvertrag ist“, formuliert er in indirekter Parallelsetzung zu Rousseau. Dieser Gesellschaftsvertrag sei jedoch von den Nachfolgern Karls gebrochen worden infolge des Erlasses von Gesetzen, die die Halbinselspanier privilegierten „und den Kreolen keine andere Rolle in der Gesellschaft ließen als den von Sklaven für die Arbeit, und höchstens noch von einfachen Konsumenten“ (ibd., 40). Gleichheit war für Bolívar laut Salcedo– Bastardo (265) „das Gesetz aller Gesetze“, was seine hohe Wertschätzung für die politische égalité bekundet. Auch der Entwicklung einer eigenständigen und leistungsfähigen Wirtschaft im neuen Staatswesen widmete er sich als zeitweiliger Präsident Groß-Kolumbiens, vor allem der Agrikultur, dem Bergbau und einem effektiven Finanzwesen. Er 207

meinte gegenüber seinem Stellvertreter: „Denken Sie daran, dass eine der wichtigsten Ursachen für die französische Revolution die schlechte Finanzlage war.“ (ibd., 191), eine Feststellung, die kurz vor 1789 bereits Humboldt getroffen hatte. Bolívar hatte zwei besonders lateinamerikatypische Neuerungen in die Aufklärer-Ideologie auf dem Gebiet der Staats- und Kulturtheorie eingebracht: die eine war die Definition Lateinamerikas als polykultureller Kontinent, was von den Rassisten stets ignoriert oder bestritten wurde, aber heute eine akzeptierte Grundtatsache sein dürfte. Die Spezifik Lateinamerikas sei die Präsens von drei Rassen, Ethnien und Kulturen, der Weißen, Indios und Schwarzen, eine Mischung, die es sonst nirgendwo auf der Welt gäbe: durch welche sozusagen die ganze Welt in Miniaturformat in Lateinamerika vertreten sei „Wir sind das Menschengeschlecht in Kleinformat“ sagte er („somos un pequeño género huma­ no“). Er widmete der in Lateinamerika besonders akuten Frage der Convivenz der Rassen und Ethnien und der Pflege ihrer diversen Kulturen große Aufmerksamkeit und sprach sich bei jeder Gelegenheit für Gleichheit und Gleichberechtigung der Rassen statt ererbter Inferiorisierung und Intoleranz gegenüber anderen Rassen und Kulturen sowie, politisch wichtig, gegen jede Form von Rassentrennung aus und begrüßte als vielleicht erster Staatsmann die Mischung der Rassen als einen positiven und für Iberoamerika konstitutiven Faktor: „Das Blut unserer Bürger ist verschieden, laßt es uns vermischen, um es zu vereinen“. (zit. in Salcedo-Bastardo, 237) Diese aufklärerischen Grundzüge konnte er infolge seines frühen Todes nicht in seiner regierungsoffiziellen Bildungs- und Erziehungspolitik durchsetzen. Sie sind auch bis heute trotz großer Fortschritte der Gleichberechtigung der Rassen infolge des Widerstandes der politisch und ideologisch noch immer mächtigen Rassisten nicht Grundlage aller Regierungspolitiken und Teil der Menschenrechte auf dem Subkontinent geworden. Der zweite kritische Punkt in seinem Denken ist der für Lateinamerika stets und bis heute akute Widerspruch zwischen Demokratie und Diktatur. Mit der Unabhängigkeitsrevolution etablierten sich für Bolívar optimale demokratische und aufgeklärte Regimes. Mexiko bescheinigt er „el ejercicio de las funciones legislativas, ejecutivas y judiciales“ (44), also die Einführung der Montesquieuschen Gewaltenteilung. Er würdigt Venezuelas Demokratismus, die Einführung der Menschenrechte sowie von demokratischen Freiheiten in die Verfassung: Venezuela erigió un gobierno democrático y federal, declarando previamente los derechos del hombre (wie in den USA und in Frankreich, HOD) manifestando el equilibrio de los poderes (also der drei Montesquieuschen Gewalten), y estatuyendo leyes generales en favor de la libertad civil, de imprenta y otras“ (42; also auch hier Menschenrechte, Gewaltenteilung, Presse- und andere Freiheit(en)).

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Dennoch sieht er Probleme Lateinamerikas mit der demokratischen Regierungsform: Los acontecimientos de la Tierra Firme nos han probado que las instituciones perfectamente representativas no son adecuadas a nuestro carácter, costumbres y luces actuales. (...) Así como Venezuela la república americana que más se ha adelantado en sus instituciones políticas, también ha sido el más claro ejemplo de la ineficacia de la forma demócratica y federal para nuestros nacientes estados. (ibd., 44) (Politische Erfahrungen vom amerikanischen Festland bestätigen ihm, „dass die vollkommen repräsentativen Institutionen unseren gegenwärtigem Charakter, Sitten und Denkweisen nicht angemessen sind“).

Er stellte damit also das Beharren eines staatspolitischen Autoritarismus und die Wirkungslosigkeit der „Repräsentativ-Demokratie“ und des liberalen Föderalismus für „diese unsere entstehenden Länder“ fest, ist sich also des Problems bereits bewusst, das sich noch bis Ende des 20,. Jahrhunderts in der großen Zahl von sprichwörtlichen Militärdiktaturen bis zum Pinochet-Regime in Chile und der argentinischen Junta äußerte, was auch eine rigurose Beschränkung der individuellen Freiheiten der Bürger mittels Verfolgung, Kriminalisierung jeder Opposition, Pressezensur und Errichtung von Lagern für Regimegegner bedeutete. Er gibt dem feudalen Partikularismus wie der kolonialen Vergangenheit die Schuld an diesem scheinbar endemischen Übel des Autoritarismus in Lateinamerika, wo demokratiefeindliche autoritäre Regimes statt durch demokratische Wahlen durch Staatstreiche an die Macht kamen und ohne Parlament und Gewaltenteilung regierten. Montesquieus und Rousseaus demokratische Visionen setzten sich hier nicht wie in Europa und den USA dauerhaft durch. Im Unterschied zu leichtfertigen eurozentristischen Interpretationen, die Bolívar geradezu als Urvater der notorischen lateinamerikanischen Diktatoren ansehen, war es vielmehr seine hervorragende Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse und seine Kenntnis der Besonderheiten des kolonialfeudalen Lateinamerika, die ihn zum vorausschauenden Warner vor dieser vorsintflutlichen Diktatorenfauna machte, die seiner Meinung nach aus ihrer Übereinstimmung mit der Zurückgebliebenheit der kulturhistorischen Verhältnisse entspringt, die archaische Regimeformen erheischten, und die folglich mit einer fortschrittlichen demokratischen Gesamtentwicklung auch aussterben wird. Er schrieb dies unter Berufung auf einen Großen der französischen Aufklärung: „Es más difícil, dice Montesquieu, sacar un pueblo de la servidumbre que subyugar uno libre.“ (ibd., 44: es sei schwieriger, sagt Montesquieu, ein Volk aus der Versklavung herauszureißen als ein freies zu unterjochen.) Es scheint, dass er eine straffe autoritäre Regierung für ein einheitliches ganzes Lateinamerika 209

als einziges Mittel ansah und auch praktizierte, um das divide et impera, diese seit der römischen Antike erprobte Politik aller Kolonialmächte, vor der schon Kant gewarnt hatte, zu verhindern, die darin bestand, die kleinen Mächte zu entzweien und aufeinander zu hetzen. Doch statt eines einheitlichen lateinamerikanischen Staatswesens entstanden zwanzig Republiken, von denen so manche ihre separate Existenz den Intrigen von Drittmächten verdankten. Bolívar sah als wichtigstes Instrumentarium für die Entwicklung eines demokratischen Amerika und die Überwindung der von der Kolonie ererbten Zurückgebliebenheit die Schaffung eines effektiven Bildungssystems an, eine Orientierung, die erst mit den Volksuniversitäten der 30er Jahre und den Alphabetisierungskampagnen der 50- und 60er Jahre des 20.  Jahrhunderts ihre Realisierung fand. So gründete er mehrere Universitäten, u. a. die von Trujillo im Norden Perus. Die Betrachtung des Bildungswesens als Schlüssel für die Entwicklung des Subkontinents verdankte er seinem Lehrer Simón Rodríguez (1771–1854), der die kreolische Utopie eines aufgeklärten Kontinents im Geist Rousseaus und Diderots sowie Saint-Simons und Fouriers konzipierte. Dardo Cuneo hebt in seinem Vorwort zu Rodríguez’ Inventamos o erramos (wir erfinden oder wir irren) ausdrücklich den prägenden Einfluss der französischen Aufklärer auf die Bildungsvorstellungen Rodríguez’ hervor. Die Dekolonialisierung konnte für diesen Pädagogik- und Bildungstheoretiker nur das Produkt der Universalisierung der bislang von Europa monopolisierten Bildung und deren Distribution auf die ganze Welt sein, wodurch auch alle Länder Lateinamerikas zu mit dem Okzident gleichwertigen Staaten werden würden. Rodríguez vertrat geradezu exemplarisch die fundamentale Rolle der Pädagogik als eines für die Befreiungsrevolution der Lateinamerikaner unhintergehbaren Faktors. Sie findet sich als solche in den Erklärungen und Politiken wie auch den Programmatiken der Bürgerrechtsbewegungen, in denen Bildung, vor allem die Beseitigung des Analphabetismus absoluten Vorrang hat. Seine pädagogischen Vorstellungen beruhten auf dem von Rousseau im Emile konstruierten Erziehungsmodell sowie der von Condorcet begründeten und vieldiskutierten Dialektik zwischen instruir und éduquer. Rodríguez’ pädagogisches Traktat mit dem seltsamen Titel Die Lichter der Aufklärung und die sozialen Tugenden propagiert neben der Vermittlung nützlichen Wissens die Erziehung der Lateinamerikaner zur Soziabilität, also zu aufgeklärten, in der Gesellschaft aktiv mit ihren sozialen Tugenden wirkenden Staatsbürgern. Kenntnisvermittlung sei nicht gleich Erziehung, aber Erziehung

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ohne Kenntnisvermittlung gehe auch nicht, müsse vielmehr über die Erkenntnis, also die Ratio wie bei Condorcet erfolgen. (Rodríguez 105) Für die Erziehung zum aufgeklärten Staatsbürger schlug er in Inventamos o erramos (1794) eine neue Pädagogik für Lateinamerika vor, die er nach Lektüre von Rousseaus Sozialvertrag und Schriften von Voltaire und Diderot „Sozialpädagogik“ nannte. Dies Buch schrieb er in Auseinandersetzung mit Condorcet, der die instruction (Belehrung) höher setzte als die von Rousseau gepredigte éducation (Erziehung), und dementsprechend den Verstand höher als das Gefühl. Rodríguez dagegen wollte eine sozialwissenschaftliche, man könnte sagen gesellschaftskundliche Ausbildung und Erziehung eben wegen der Kompliziertheit der lateinamerikanischen Gesellschaftsverhältnisse und ihrer anstehenden Modernisierung, wofür er den merkwürdigen Terminus „Luces sociales“ prägte, vielleicht am besten zu übersetzen mit „gesellschaftskundliche Aufklärung“. Er propagierte in seinen Sociedades americanas (ersch. 1840, aber wesentlich früher konzipiert) demokratisch verfasste, wirtschaftlich entwickelte und aus gebildeten und aufgeklärten Staatsbürgern bestehende lateinamerikanische Gesellschaften nach dem Muster der USA. Er forderte schon 1794 als Essayist und Publizist die flächendeckende Errichtung von Schulen und die Ausbildung von Lehrern als Vorbedingung, um mit dem Bildungsniveau Europa gleichziehen zu können. Revolutionär im Milieu der europastämmigen Kreolen voller rassistischer Vorurteile war seine Forderung nach Vermittlung gleicher Bildung auch an die indianische Urbevölkerung, berücksichtigte also die vom europäischen Modell abweichenden soziokulturellen und ethnokulturellen Besonderheiten des Subkontinents, die von den meisten südamerikanischen Bildungspolitikern wie Andrés Bello oder Domingo Faustino Sarmiento überhaupt nicht gesehen wurden und Lateinamerika bildungspolitisch als monokulturellen, monoethnischen (sowie monolingualen) Block betrachteten. Gleiches Recht auf Bildung wie überhaupt die Gleichberechtigung dehnte er, revolutionär für seine Zeit und das stark machistische Südamerika auch auf die Frauen aus. Er vertrat die Einführung naturwissenschaftlicher Fächer in den Unterricht weniger wegen ihren möglichen Anwendung in der Praxis als vielmehr, um ein wissenschaftliches, rational begründetes, aufgeklärtes Verhältnis der Alumnen zu Natur und Unwelt zu erzeugen und dem Aberglauben und tradierten Volksglauben entgegen zu wirken. Im übrigen hatte schon der mexikanische Voraufklärer Sigüenza y Góngor­a (1645–1700) la verdad y la razón, die Wahrheit und die Vernunft gepriesen und das Manifiesto filosófico contra los cometas despojados del imperio que tenían so­ bre los tímidos (1681): Philosophisches Manifest gegen die ihrer Herrschaft über 211

die Furchtsamen beraubten Kometen) geschrieben, in dem er szientistische und rationalistische Gedanken im Zusammenhang mit der Erscheinung eines riesigen Kometen am Himmel gegen die diesbezüglich aufkommenden auf Astrologie und Aberglauben gegründeten Ängste ein ganzes Jahr vor den aus gleichem Anlass und in gleicher frühaufklärerischer Tendenz geschriebenen Pensées di­ verses sur la comète (1682, Verschiedene Gedanken über den Kometen) des Begründers des Toleranzgedankens und der Aufklärung überhaupt, des Franzosen Pierre Bayle! In dieser Hoch-Zeit lateinamerikanischer Aufklärung, im 18. Jahrhundert, kamen mehr Zeitungen als in der ganzen Kolonialzeit heraus: diese informierten nicht nur die Bürger, sondern trugen auch zu ihrer staatsbürgerlichen Bildung bei, die von dem Mariano Moreno gegründete Gaceta de Buenos Aires, El des­ pertador americano (Guadalajara). La Aurora de Chile, El Diario Político de Santa Fe de Bogotá, El Pensador mexicano und 1812 in Chile die von Andrés Bello herausgegebenen Periodika Biblioteca Americana (1823) und Repertorio Americano (1826). Diese Publikationen „no se limitaban a defender la causa de la independencia, y contenían estudios sobre temas muy variados de información sobre el movimiento científico europeo, con el fin de difundir la ilustración en América“ (60, beschränkten sich nicht darauf, die Sache der Unabhängigkeit zu verteidigen, sondern enthielten Studien über die wissenschaftliche Bewegung in Europa mit dem Ziel, die Aufklärung in Amerika zu verbreiten, schreibt Henríquez Ureña. Die lateinamerikanischen Aufklärer waren allesamt ähnlich wie ihre europäischen Pendants als Privatpersonen oder als Mitglieder loser Bürgerbewegungen als intellectuels engagés tätig. Praktische Umsetzungen ihrer Vorstellungen war die Gründung (1827) der Universitäten Arequipa, Antioquia und Trujillo, der Nautikschulen von Cartagena und Guayaquil, der Öffentlichen Bibliotheken von Buenos Aires, Santiago de Chile und Lima und des Museo de Ciencias von Bogotá. Francisco José de Caldas, ein Freund Humboldts, verfasste die erste Abhandlung über einheimische Ökonomie: Estado de la geografía del virreinato con relación a la economia y del comercio. Es gab auch Ansätze zu einer eigenen südamerikanischen Aufklärung, so die jesuitische Aufklärung in Paraguay und im nordargentinischen Misiones, wo die societas Jesu wirtschaftliche Entwicklungsprojekte unter den Indios begann, diesen okzidentale Kultur vermittelte und gleichzeitig deren identitätsstiftende indigene Musik in mestizischem Synkretismus mit europäischer Barockmusik weiter entwickelte. Der als Jesuit später aus Venezuela vertriebene Missionar José Gumilla (1690– 1758) assoziiert bereits im Titel seines Bestsellers El Orinoco ilustrado (1741) 212

hintergründig die Ilustración, die Aufklärung. Er beschreibt darin liebevollkritisch die von ihm geistlich betreuten und landwirtschaftlich unterwiesenen Indios und kämpft gegen antiindigene Vorurteile an, indem er seine Indios in ihren Tugenden wie menschlichen Schwächen zeigt. Aufklärerisch ist auch sein Bemühen, seinem zahlreichen Publikum in der hispanischen Welt und Italien die Schönheit und den Reichtum der damals als Inbegriff der Wildnis geltenden Orinoco-Region vorzuführen. Dabei breitet er ein Jahrzehnt vor dem Erscheinen der französischen Enzyklopädie sein enzyklopädisches Wissen über die Menschen, Pflanzen, Früchte und Tiere dieser Flussniederung einschließlich der Curareproduktion aus, macht sein Buch zu einem Kompendium der örtlichen Geographie, Geschichte, Biologie, Topographie, Ökonomie, Toxikologie, Ethnologie und Sittenkunde, das den beschränkten europäischen Gesichtskreis seiner okzidentalen Leser in außerordentlichem Maße erweiterte. Auch die aufklärungstypische enzyklopädische Tradition wurde in Lateinamerika aufgegriffen und weitergeführt, so mit dem Diccionario geográfico his­ tórico de las Indias Occidentales o América (1786–89) des Ecuatorianers Antonio de Alcedo. Der radikalaufklärerische ecuadorianische Mediziner Francisco Javier Eugenio de Santa Cruz y Espejo (147–95) wagte es, den spanischen Kolonialminister wegen mangelnder Hygiene und Pockenbekämpfung zu kritisieren und bekam dafür ein Jahr Gefängnis und anschließende Verbannung, Santa Cruz y Espejo schrieb 1779 El Nuevo Luciano de Quito o Despertador de ingenios quiteños en nueve conversaciones eruditas para el estímulo de la literatura, Dialoge im Stil des römischen Satirikers Lukian zwischen dem Aufklärungsphilosophen Mera und dem altkirchengläubigen Mediziner Murillo über Aberglauben und Rückständigkeit in der Kolonie. In La ciencia blancardina, der Fortsetzung dieser handschriftlich verbreiteten Satiren, überführen beide den Zensor von Quito der Ignoranz, wofür Cruz y Espejo 1795 erneut in den Kerker kam, in dem er als eines der vielen Opfer der Inquisition verstarb. Der Peruaner Concolocorvo (1715–83) verfasste mit dem Lazarillo de ciegos caminantes (1775–76) eine typisch aufklärerische Mischung zwischen Autobiographie, Dokument und Fiktion im Stil eines Reiseführers für die Route Buenos Aires–Lima mit Entfernungen, Reisezeiten, Gasthöfen und satirisch-kritischer Beschreibung der Ineffektivität von kolonialem Verkehrswesen und Verwaltung sowie der Unsicherheit und Kriminalität im Stil und unter Einfluss von Montesquieu und Feijóo, also der Gewährsleute der französischen und spanischen Aufklärung.

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Der rousseanische mexikanische Expriester und Aufklärer Servando Teresa de Mier (1765–1827) beschrieb seine Verfolgung, Flucht und Irrfahrt durch Amerika und Europa in seinen Memorias (posth.) voller vernichtender Kritik am europäischen Kolonialismus und am Vatikan: „Rom ist die Heimat der Heimtücke, des Betrugs und des Gifts sowie des Mordens und Raubens“ schrieb er. Der Mexikaner José Joaquín Fernández de Lizardi (1776–1826) praktizierte einen kolonialismuskritischen Journalismus in El Pensador mexicano (1812–13) wofür ihn die Zensur (!) ins Gefängnis sperrte. Er schrieb den vielgelesenen Roman El periquillo Sarniento, dessen Romanpersonal er didaktisch-dichotomisch nach Aufklärerart in Müßiggänger und produktive Klassen teilt. Faulheit und Luxus charakterisieren die Kolonialfeudalität, Sparsamkeit, Fleiß und Vernunft die Kaufleute, Landwirte und Freiberufler, die seine Utopie einer aufgeklärten lateinamerikanischen Arbeitsgesellschaft realisieren. Henríquez Ureña schreibt in seiner hispanoamerikanischen Kulturgeschichte, dies sei zwar ein Schelmenroman, „doch die gesellschaftlichen Lektionen die er einzuprägen versucht entstammen der ‚Aufklärung des XVIII. Jahrhunderts‘ (pero las lecciones sociales que trata de inculcar proceden de la ‚Ilustración del siglo XVIII‘ )“ (63). Die Aufklärung bedeutete für die Kulturgeschichte des Subkontinents (ich folge hier teilweise meiner Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick, 91 ff.) einen totalen Umbruch, eine absolute Kehrtwendung, ja den Abbruch, eine „Explosion in der Kathedrale“ oder Weltuntergang in den sich gerade erst formierenden lateinamerikanischen Gesellschaften mitsamt den sie ausdrückenden Nationalliteraturen hervor: Frontale Ablehnung des üppig-sinnlichen und protzenden Kolonialbarock, Rücknahme des Poesiezentrismus, der Versenkung ins Artifizielle; statt Luxus Einfachheit, statt Verschwendung Sparsamkeit, statt Genuß Nützlichkeit. Also bürgerliche Tugenden („Virtudes“ laut Rodríguez), Wissenschaften und Philosophie stehen höher als Kunst und Literatur, Wirtschaft steht höher im Kurs als Kultur. Statt Gegenreformation nunmehr Aufklärung, statt Kolonialismus Unabhängigkeitsdenken. Die neuen Träger des neuen Denkens: statt Höflinge, Priester, Beamte, Bürokraten nun kreolische Bildungsbürger, Universitätsprofessoren und Advokaten. Nach dem Personalwechsel der Ortswechsel: statt Hofhaltungen und Residenzen Handels- und Hafenviertel und -städte mit Lagerhöfen und Kontoren. Dabei auch Dezentralisierung von Verwaltung, Wirtschaft, Kultur. Ursachen des Wandels: Krise, Hungersnöte, Seuchen, Staatsverschuldung, Produktionsrückgang, Aufstände vielerorts. Die Kolonien wollten Befreiung von Lasten, das Bürgertum den Ausbau von Handel, Wirtschaft, Bildung, politische und Wirtschaftsfreiheit, Liberalismus, Wissenschaft statt Scholastik, Produktion statt Konsumtion, Arbeit statt Müßiggang, Industrie statt Luxus.

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Die auf Reform und Gleichberechtigung mit dem „Mutterland“ setzende Aufklärung hatte sich also zur amerikanischen Ideologie der Freiheit und Unabhängigkeit gewandelt.

Die amerikanischen Aporien der Aufklärung: Mythos als Sehnsucht nach Freiheit Hier, in Amerika, besonders in Süd- und Mittelamerika, wurde die Aufklärung bei ihrem Vordringen erstmals von einem Wall von phantastischem, vorrationalem, weder mit den Erkenntnissen noch der Methode der Wissenschaft kompatiblem äußerst kompakten Denken gestoppt, von den Hervorbringungen des archaischen Bewusstseins der indigenen Ureinwohner Amerikas, deren schriftliche und bildnerische Zeugnisse von Klerus, Inquisition, Zensur und Heiligem Offizium einst während der Conquista als heidnisches Teufelszeug auf Scheiterhaufen verbrannt worden waren, die jedoch ihre Wiederkehr feierten. Diese Kleriker hatten damit scheinbar den rationalistischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts, die jedem obsoleten mythologischen Denken den Kampf angesagt hatten, vorauseilend in die Hände gearbeitet. Es kam so zu einer merkwürdigen kurzzeitigen strategischen Allianz zwischen Inquisition und Aufklärung, was ein Licht auf die Aporien, die unauflöslichen Widersprüche wirft, auf die letztere in der Neuen Welt gestoßen wurde. Denn diese indigenen Mythen, etwa die vom guatemaltekischen Nobelpreisträger Miguel Angel Asturias in seinen Romanen verarbeiteten Maya-Überlieferungen, funktionierten nicht als narrativ vergegenständlichter Aberglaube, sondern mobilisierten den Widerstand der Indios gegen ihre Versklavung und Inferiorisierung durch die ausländischen Mais-Monopolgesellschaften als Metaphern einstiger Freiheit von kolonialer und rassischer Unterdrückung und signalisierten gleichzeitig die kulturelle Identität der Indios und ihre menschliche Gleichwertigkeit mit der eurokreolischen Kultur. Diese Indio-Mythologien waren strukturell wie funktional identisch mit den aus Afrika mitgebrachten und weiter hinter dem Rücken der katholischen Kleriker oder mit ihrer Toleranz weitergepflegten und sogar an die neuen amerikanischen Verhältnisse und Medien adaptierten Mythen der afroamerikanischen Sklaven. Diese Mythen hatten beispielsweise den Haitianern zum Widerstand gegen die ihnen von den europäischen Kolonen aufgezwungene Sklaverei verholfen. Die afrikanischen wie indianischen Mythen standen also im Dienst der Befreiung dieser Bevölkerungen, obwohl sie eigentlich, als Aber- und Wunderglauben, Unfreiheit gegenüber den unbeherrschten Naturkräften zum Ausdruck brachten. Darin bestand die potentielle Aporie der Aufklärung in der Neuen Welt, einerseits jedes mythologisierende Denken als falsches Bewusstsein zu denun215

cieren, andererseits die einheimischen oder heimisch gemachten indigenen und afroamerikanischen Mythen als identitätsstiftende Kraft und Sehnsucht nach Freiheit sozusagen in den Dienst einer neuen Aufklärung über das wahre menschliche Wesen der farbigen Amerikaner zu stellen. Soweit gelangte die lateinamerikanische Aufklärung jedoch erst im 20. Jahrhundert, dass sie in den einst von ihr als irrational bekämpften afrokaribischen Dichtungen und dem magischen Realismus der indigenistischen Romanprosa einen dezidiert freiheitlich-antiimperialen und zugleich eigenen Akzent erblickte.

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Dritter Teil Der Erde- und Weltbegriff der Aufklärung mundus vs. tellus Dritte Welt vs. ganze Welt Erst dank sowohl der kolonialistischen Unterwerfung des amerikanischen Kontinents als auch der sich überall innerhalb wie außerhalb Europas infiltrierenden Aufklärung wurde der ganze Erdglobus zu einer wirklichen Welt des Menschen als eines weltweit kommunizierenden Wesens. Zu dieser Einsicht gelangte Alexander von Humboldt als Terrrestriker, Geograph, Geologe und Geodät, der sowohl Natur- als auch Sozialwissenschaftler war, so dass er alle diejenigen Phänomene in Natur wie Kultur registrieren konnte, die einen Gesamtzusammenhang zwischen den zuvor voneinander getrennten einzelnen Erdteilen und menschlichen Populationen ergaben. Humboldt kannte und studierte empirisch nicht nur das gemäßigt temperierte Europa, sondern mehr noch den tropischen Süden und auch das kalte Russland bis hin zur chinesischen Grenze; kannte Nordafrika, den Okzident wie den Orient, die Alte und die Neue Welt, „Mutterländer“ und Kolonien, künftige Industrie- wie künftige Entwicklungsländer: in einem Wort: er kannte nicht nur die Welt, sondern die Erde. Und er verband diese einmalige Chance holistischer Weltsicht und empirischer Welterfahrung mit dem philosophischen Erbe des deutschen Idealismus von Kant, Fichte, Schelling, Goethe und Schiller. Das versetzte ihn in die Lage, als erster zusammenhängend die aufeinanderfolgenden Hauptphasen der Globalisierung als Eroberung der ursprünglich leeren Mineralkugel „Erde“ in seinem Hauptwerk Kosmos, diesem Buch der Globalisierungen zu beschreiben: zuerst kamen ihm zufolge die Pflanzen, die sowohl in die unterirdischen Tiefen wie in die Bergeshöhen sich ausbreiteten, sodann die Tiere und, verallgemeinert, alle Lebewesen, zu denen endlich auch die Menschen kamen, inkarniert in einer besonderen Rasse Mensch, dem Griechen und diesem folgend dem Europäer, dessen globalisierende Rolle darin bestand, durch Reisen, Eroberungen, Annexionen, Kolonisierungen und Kriege den ganzen Globus in Besitz zu nehmen und zu vereinheitlichen. Den militärischen Globalisierern qua Eroberern und Kolonisatoren folgten die Maler und Kartographen, die durch ihre Werke eine sinnliche Eroberung der Welt vornahmen, sodann kam die intellektuelle Globalisierung, wobei die meisten und produktivsten Forschungsreisenden den Eroberern auf dem Fuße folgten (vgl. Dill 2013, 172), wie er im Kosmos schrieb. Mit der Eroberung der Kolonialwelt durch die Okzidenta217

len endlich wurde die Erde begrifflich komplettiert und damit zur einen ganzen Welt. Diese sukzessiven Globalisierungswellen beschrieb Humboldt in seinem Hauptwerk, dem Kosmos, dieser Kosmologie und Kosmogonie der Moderne. Die Kenntnisnahme der gesamten wirklichen Welt, des Planeten Erde, die in Antike und Mittelalter auf Europa samt Mittelmeerregion beschränkt war, als eine Totalität nahm im 18. Jahrhundert, in engem Zusammenhang mit der Aufklärung erheblich zu, nicht so sehr quantitativ, obwohl mit Australien, Tasmanien, Neuseeland und dem Südsee-Archipel noch ein fünfter Kontinent „entdeckt“ wurde, als vielmehr qualitativ, durch geographische, geologische, ethnologische Erkundung aller Gebiete der Welt, was durch die Fortschritte der Wissenschaften und Technik, speziell der Schifffahrt und Navigation sowie der Experimentalwissenschaften ermöglicht wurde. Erst damit wurde aus Europa begrifflich wie wirtschaftlich und politisch die Erde, und aus der Erde die Welt. Diese doppelte Wandlung als Ergebnis vieler Weltreisen, Reiseberichte und anderer Publikationen führte zur Wahrnehmung der Erde als einer Einheit vieler Faktoren mit gegenseitiger Passfähigkeit und mit aufeinander abgestimmten Bewegungsgesetzen, was Leibniz zu seiner oft missverstandenen These von der prästabilierten Harmonie führte, die Diderot aufgrund seiner „Ontologie des Bösen“ (Proust 318) gern „ins Fatalistische gedreht hätte“. Diese wurde, wie Hartmut Hecht beweist, zu Maupertuis’ These von „universeller Harmonie und Ordnung“ (in: D’Aprile et alii, 143 ff.), die dieser aufgeklärte Berliner Akademiepräsident französischer Nationalität in seinem Essai de cosmologie (ibd., 175) darlegte. Heute wird diese von Leibniz entdeckte ontologisch-terrestrische prästabilierte Harmonie als beste der möglichen Welten durch eine Theorie der ökonomischen Gleichgewichte ergänzt, „wonach die je individuelle Optimierung eigener Interessen zur Harmonie von Marktgleichgewichten führt“. (Nida-Rümelin 2013, 4) Diese Zunahme und Erstreckung des Wissenserwerbs über die Erde wurde durch eine rapide Steigerung der Erkundungsreisen samt nachfolgenden Reiseberichten ermöglicht, deren Abfassung von den beiden Forster, Vater und Sohn, geradezu zu einer Wissenschaft im Dienst der terrestrischen Wissensverbreitung ausgearbeitet wurde. Erst durch diese Reisen wurden ganz im Stil der Aufklärung, auf empirischem Weg, auch die phantastischen, teilweise seit der Antike tradierten Vorstellungen und Erzählungen über die Südkugel, so von dort lebenden Monstern mit dem Mund am Bauchnabel und halslosen Kopf, die der vorrationale Mythenglaube der unaufgeklärten Menschen früherer Jahrhunderte erfunden hatte, als Fabeln enthüllt. Jede frühere Behauptung über den Zustand der Welt wurde mit den neuen, von der Aufklärung eingeführten Kriterien der 218

Wahrheit – Wissenschaftlichkeit, Empirismus, Beweisbarkeit, logische Konsistenz und Widerspruchsfreiheit  – gemessen und durch neue wissenschaftliche Welterkenntnis ersetzt. Damit entstand das neue, moderne „Weltbild“. Zwecks Abrundung (im wahren Sinn des Wortes) dieser Kenntnis der Welt fand die von Ottmar Ette sogenannte „Berliner Debatte“ statt, auf der diese Forschungen und Berichte im Namen der Aufklärung bilanziert wurden, auch wenn die Aufklärungsgegner in diesem Dialog rhetorisch nicht auf der Verliererseite standen. Erst mit dieser Debatte wurde jedoch die Erde nicht nur rhetorisch-hyperbolisch, sondern auch empirisch-wissenschaftlich als zusammenhängendes kugelförmiges Gebilde anerkannt. So konnte Turgot zwischen 1748 und 1753 auf die Idee kommen, eine erste und wirkliche Universalgeschichte, eine histoire universelle als „Geschichte der menschlichen Gattung“ auf der Grundlage eines Menschheitsbegriffs zu konzipieren „von der Barbarei, die bei den amerikanischen Völkern noch immer fortlebt, bis hin zur Zivilisation der aufgeklärten Völker Europas“ (Rohbeck 2001, 125), womit er eindeutig und explizit alle Völker der Welt und nicht nur die Bewohner des Abendlandes meinte. Denn wie Rohbeck hervorhebt, ist Turgots Weltgeschichte nur deshalb eine wirkliche Universalgeschichte, weil sie nicht nur das Gesamt der seit Erdentstehung abgelaufenen Zeit, sondern auch das Gesamt der Geschichten der einzelnen Regionen bzw. Erdteile statt der üblichen auf das Abendland oder auf einzelne Regionen beschränkten, segmentierten Geschichtsdarstellungen beinhaltet. Des Aufklärers Turgots Begriff von Weltgeschichte war nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich, sah sogar von der Chronologie laut Rohbeck weitgehend ab, weil er als eigentliches Maß der Weltgeschichte nicht abgelaufene und gemessene Zeitquanten, sondern den zivilisatorischen Fortschritt als qualitative Messgröße betrachtete, wobei er in seinem universellen Geschichtskonzept die Unterschiede zwischen entwickelten und „zurückgebliebenen“ ebenfalls als einfachen, sozusagen simultanen räumlichen Ausdruck von unterschiedlichen Geschichtsverläufen betrachtete, eine Sicht, die sich auch in der geschichtsphilosophischen Reflexion der – von Kant noch in seiner Kritik der reinen Vernunft ( ) als unvernünftig und also unmöglich abgelehnten Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen  – direkt betroffenen Lateinamerikaner von Sarmiento bis Carpentier wiederfindet, die also einen genuinen Beitrag der Aufklärung zur Weltgeschichtsphilosophie darstellt.

Weltdenken als aufklärender Enzyklopädismus Dem neuen „totalen“ Weltbegriff der Aufklärung durch ihre Erstreckung auf die ganze Welt, die alte und die neue an beiden Ufern des Atlantik, dem Welt219

bild Turgots und Humboldts entsprach ein neues, weltumfassendes, enzyklopädisches, auf alle Erscheinungen der ganzen Welt gerichtetes Denken. Mit dem Enzyklopädismus korrespondierte auch die erste größere deutsche und wohl im Weltmaßstab damals umfangreichste Welt-Enzyklopädie: der sogenannt­e Zedler, der wie seine jüngere aber bedeutendere Schwester, die französische Encyclopédie, ganz im Geist der Aufklärung verfasst war, aber sich durch eine Spezialität von anderen Nachschlagwerken auszeichnete, nämlich durch seine besondere Berücksichtigung der Geographie und Geologie in Auswertung der damals massiv einsetzenden Forschungs- und Weltreisen und kolonialen Eroberungen durch die Westeuropäer, womit er zum Aufschwung der weltweit führenden deutschen Erdwissenschaften beitrug und die späteren Forschungsreisen der beiden Forster, Leopold von Buchs sowie Alexander von Humboldts, Chamissos, Leichhardts und der Brüder Schomburgk inspirierte. Der „Zedler“ war wohl das erste erdwissenschaftliche Werk, das bewusst im Sinne des Hauptanliegens der Aufklärung alle tradierten phantastischen und mythologisierenden „unwissenschaftlichen“, eurozentristischen geographischen und ethnographischen Angaben über fremde Länder kompromisslos tilgte und zu diesem Zweck die „weißen Flecke“ im beilegenden Kartenwerk erfand, die also wortwörtlich und nicht wie heute nur metaphorisch zu verstehen sind, um damit anzudeuten, dass es über die betreffenden Gegenden kein abgesichertes Wissen gab. Der Herausgeber dieses als „Grosses vollständiges Universal-Lexikon“ betitelten Unternehmens, Johann Heinrich Zedler, Buchhändler und Editor von Luthers Werken, das 1961 als Reprint in toto in der Akademischen Druckund Verlagsanstalt Graz erschien, verwies in seiner Titelei darauf, dass sowohl Geographica als auch Historica behandelt werden sollen, im Unterschied sowohl zu der vor allem auf naturwissenschaftliche und historische Sachkomplexe orientierten Encyclopédie und zum rein erdkundlichen Dictionnaire gógraphique des Franzosen La Martinières, die jedoch allesamt auf den der Aufklärung inhärenten neuen enzyklopädischen Sinn aufmerksam machen. Zedler setzte die sowohl politisch-geographische als naturwissenschaftlichgeologische Erfassung der gesamten Erdoberfläche im geographisch-enzy­ klopädischen Titel an die Spitze, was ganz ungewöhnlich war, gefolgt von den geschichtlichen, vor allem personalistischen, dynastischen, genealogischen und ereignisgeschichtlichen Fakten: zum einen die „geographische Beschreibung des Erd-Kreyses nach allen Monarchien, Kaysertümern, Königreichen, Fürstenthümern, Republiken, freien Herrschaften, Ländern, Städten, See-Häfen, Festungen, Schlössern, Flecken, Ämtern, Gebirgen, Pässen, Wäldern, Meeren, Seen, Inseln, Flüssen und Canälen „(...) samt allen Gestirnen, Planeten, Thieren, Pflantzen, 220

Metallen, Mineralien, Salzen und Steinen (...),“ zum andern „das Leben und Wirken der Kayser, Könige, ingleichen von allen Staats-, Kriegs-, Rechts-, Polizey- und Haushaltungsgeschäften“. Ein wenig Kameralistik ist in dieser Aufzählung schon dabei, doch fällt natürlich der schon in der Titelei ersichtliche Unterschied zur Zielrichtung der französischen Enzyklopädie auf, die sich von vornherein auf die ökonomischen und sozialen, vor allem produktions- und berufsbezogenen arts et métiers als die bürgerlichen Bereiche konzentriert, was auch den Entwicklungsunterschied zwischen dem „fortgeschrittenen“ Frankreich und dem „zurückgebliebenen“ Deutschland demonstriert. Der der Encyclopédie zeitlich vorausgehende Zedler wird kaum je im Zusammenhang mit diesem Geschichte machenden französischen Nachschlagewerk erwähnt, obwohl seine vielbändige Edition 1733 in Halle und Leipzig begonnen und 1750 schon abgeschlossen wurde, ein Jahr bevor der erste Band der Encyclopédie, der Enzyklopädie par excellence, gerade erst einmal herauskam. Der Zed­ ler hatte einen monumentaleren Umfang als seine prominentere französische Nachfolgerin. Er war ein „bibliographisches Monstrum“ mit seinen 284 000 Artikeln und 276 000 Verweisungen in 64 Bänden. Die zeitliche Überlappung mit der von d’Alembert und Diderot geleiteten französischen Encyclopédie spricht doch für eine sozusagen unterirdische, weil nicht bewusst erzeugte Parallelität der französischen und der deutschen Aufklärung in der Mitte des „Jahrhunderts der Vernunft“ und für ein objektiv vorhandenes wissenschaftliches Informationsbedürfnis. Merkwürdig, aber nicht zufällig für einen gewissen deutsch-französischen Parallelismus erscheint mir auch die meines Wissens von keinem Buchwissenschaftler bisher erwähnte und noch weniger erklärte Tatsache, dass Zedler sein Unternehmen nicht nur dem deutsch-römischen Kaiser Karl VI. und dem König von Preußen und anderen deutschen Potentaten, widmete, sondern ziemlich unmotiviert einen Band dem „allerchristlichsten König von Frankreich und Navarra, Louis XV.“ dedizierte. Zedler hatte meiner Ansicht nach bereits ein Gespür für die Bedeutung der französischen Aufklärung, so wenn er Voltaire – „ein berühmter französischer Poet“ – einen längeren biographischen Eintrag widmet, obwohl in seiner programmatischen Auflistung der zu behandelnden Personengruppen im historischen Teil nur die Potentaten, nicht aber die Dichter und Künstler zu finden sind. Er schreibt darin, wohl zu Recht, Voltaire und nicht Friedrich II. die Autorschaft des Antimachiavell zu.

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Doch der Unterschiede zwischen beiden Mammutwerken waren viele: waren die leitenden Redakteure und die einzelnen Artikelautoren der französischen Enzyklopädie meist renommierte Intellektuelle, die Diderot zu einem auf die Ideale der Aufklärung eingeschworenen Kollektiv zusammengeschmiedet hatte, wurden die Einträge im Zedler von regelrechten Leipziger Literaturproletariern mit speziellen Fachkenntnissen ohne weltanschaulich-philosophische Ansprüche verfasst, allerdings mit interdisziplinärem Sinn für Gesamtzusammenhänge. Gehörten die Pariser allesamt mehr oder weniger lose zu den philosophes als einer einheitlichen philosophischen Schule mit gemeinsamen rationalistischen oder rationalismusaffinen Ideologien und ähnlichen politischen Ansichten, hatten die Leipziger Autoren keine vergleichbare gemeinsame ideologisch-philosophische Plattform in ihrem rein kommerziellen Verlagsprojekt. Aber beide Equipen hatten sich der „Aufklärung“ qua Aufklärung verschrieben. Zedler hatte laut Ingo Löppenberg (20013, 71), dem ich viele diesbezügliche Angaben verdanke, ein absolut „aufklärerisches Programm“ und forderte den Leser auf, sich an diesem Diskurs zu beteiligen, den Text selber zu korrigieren bzw. mit den neuesten Erkenntnissen abzugleichen und dabei „seinen eigenen Verstand zu gebrauchen“ – eine fast kantische Formulierung avant la lettre, die auf „Mündigkeit“ des kooperierenden Benutzers zielt, die in dieser Interpretationsoffenheit die französische Edition mit ihren ehernen Wahrheiten an explizitem aufklärerischen Geist sogar übertraf. Beim Zedler ging es wie bei der Encyclopédie um die aufklärungstypische „Demythologisierung des Wissens“ (ibd., 75) und die Tilgung vom Ballast der in früheren Nachschlagewerken und Berichten erschienenen, aus Antike und Mittelalter überlieferten und kompilierten Sagen und Phantastereien, also der „Mythen“ und Mythisierungen im Sinne von Adorno und Barthes, und, selbstverständlich, der Vorurteile. Es ging den deutschen Redakteuren um rigorose Trennung der noch vom Mittelalter überkommenen Identität von fact(ion) und fiction (ibd., 75), von Tatsachen und Erdichtungen, von Glauben und Wissen; lediglich die Bibel blieb noch unangreifbare Autorität. Enzyklopädismus bedeutet universales und kosmopolitisches Denken, das sich zeitgeistkonform in Zedlers Universallexikon besonders durch seine innovative Spezialität, die massive, von anderen Enzyklopädien verschmähte Hereinnahme von Geographica auszeichnete. Die Beiträge der so genannten Berliner Debatte über die Neue Welt beruhten möglicherweise auch auf der Kenntnis der einschlägigen Artikel dieses Lexikons. Der Zedler hatte durch seine Konzentration auf Geographie vielleicht noch stärker als die französische Enzyklopädie dem „Weltbegriff “, wie er exemplarisch später u. a. von Alexander von Humboldt im 222

Kosmos dargestellt wurde, vorgearbeitet. Er ging nach dem Doppelprinzip Aktualität (neueste Erkenntnisse und Forschungen) plus Authentizität (Belegbarkeit und Beweisbarkeit, ibd.) vor, daher seine obengenannten „weiße Flecken“ für Gebiete, für welche weder Aktualität noch Anthentizität gegeben war. Damit schürte er implizit, bewusst oder unbewusst, im Text wie vor allem im begleitenden Kartenwerk, auch kolonialistische Ambitionen und Intentionen, diese weißen Flecken durch Bereisen und Eroberung zu tilgen, denn ein Hauptprodukt dieses Lexikons waren laut Löppenberg bezeichnenderweise und erklärtermaßen, wörtlich, „die Karten über die neu entdeckten und kolonisierten oder noch zu kolonisierenden Gebiete in Übersee“. (ibd., 69, Hervorh. HOD) Die wissenschaftliche, uneigennützige geographische Neugier der Aufklärer ging mit dieser Diktion in die Gier nach kolonialer Inbesitznahme fremder Gebiete, Unterwerfung der Einwohner und Aneignung von deren Naturreichtümern über, wie dies Herder und Kant später kritisch erwähnten. Die Zedlersche Enzyklopädie war also nicht, wie Löppenberg schreibt, ein „globaler Wissensaustausch“ bzw. die „Begründung eines kulturellen Austausches mit fremden Völkern“ (ibd.) – von gegenseitigem Austausch von Wissen und Kultur war hier keine Spur  – sondern einseitige, prokolonialistisch interessierte Wissensmonopolisierung durch die Europäer, denn „Wissen über Gebräuche und Sitten, Religionen, geographische Begebenheiten, Geschichte und Sprache der anderen Kontinente flossen nach Europa und wurden dort von den Gelehrten, Händlern und Missionaren und Beamten aufgenommen und verarbeitet“, deren Hauptzweck laut dem genannten Verfasser ja die Suche nach „ökonomisch Verwertbarem“ (sic) gewesen sei. Dem entsprach keine Gegenströmung. Nichts Umgekehrtes geschah von Seiten nichteuropäischer Völker in Europa, keine Unterwerfung und Versklavung von Europäern durch Inder, kein Errichten von persischen Bergwerken in Freiberg im Erzgebirge, keine Ernennung von schwarzafrikanischen Vizekönigen für Frankreich oder Schweden (diese Umkehrung der Verhältnisse nahmen zwecks polemisch-pädagogischer Entlarvung des okzidentalen Kolonialimperialismus sehr gezielt und gekonnt u. a. Raynal/Diderot und die französische Encyclopédie vor). Die Aufklärung ist eine einseitig europäische Angelegenheit aus eurozentristischer Perspektive gewesen, eine Vorausabteilung der Kolonisierung. Sie hatte stets ein Janusgesicht. Die Idee einer umfassenden französischen Enzyklopädie, die ursprünglich lediglich eine bearbeitete Übersetzung des englischen Konversationslexikons von Ephraim Chambers sein sollte, ist wie das Lexikon von Zedler von vornherein 223

sowohl ein kommerzielles Unternehmen wie auch Ausdruck des für die Aufklärung charakteristischen Strebens nach einem Gesamtüberblick über das bis dato von der Menschheit akkumulierte Wissen von der Erde gewesen. Es ging darum, den bürgerlichen Leser bzw. Benutzer über den inzwischen beträchtlich angewachsenen Wissensvorrat der Menschheit über die Welt zu informieren, damit er seine Berufs- und Lebenstätigkeit (ganz im Sinne Max Webers) danach ausrichte. Wir können also annehmen, dass derlei Enzyklopädien auch ein antizipiertes Abbild des gebildeten Benutzers und nicht nur der Intentionen der Verfasser waren. Dass der Drang zum terrestrischen Enzyklopädismus für die gesamte okzidentale Aufklärung typisch war, zeigt die in jenem Jahrhundert sich häufende Herausgabe solcher Nachschlagewerke, darunter speziell der gesamten Naturwissenschaft und Naturgeschichte, wie sie Buffon in den vielen Bänden seiner His­ toire naturelle, générale et particulière (1749–1804) und Les époques de la nature (1788) verwirklichte. Die französische, von Diderot und d Alembert herausgegebene Aufklärungs-Enzyklopädie war also weder das einzige noch – bedenkt man ihren englischen Vorläufer und den Zedler – das erste Unternehmen dieser Art. Sie erschien zwischen 1751 und 1780 in 35 Bänden, in Stuttgart erfolgte ab 1966 die von mir benutzte facsimilé-Gesamtausgabe. Dieses Lexikon war bis ins 20. Jahrhundert hinein das nach dem Zeidler weltgrößte wissenschaftspropagandistisch-editorische Unternehmen und zugleich das erste, bewusst ein modernes Weltbild verbreitende interdisziplinäre Kollektivwerk, an dem außer den Hauptredakteuren und Koordinatoren Diderot und d’Alembert die führenden Köpfe der Natur- und Geisteswissenschaften Frankreichs mitarbeiteten: Buffon, Condillac, Dumarsais, Duclos, Holbach, Marmontel, Montesquieu und Voltaire, der bedeutendste Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Die aufklärerische Programmatik dieses Dictionärs geht schon aus dem Untertitel hervor, in dem außer den Wissenschaften und Künsten die Bereiche der materiellen Gebrauchswertproduktion und der Arbeitswelt herausgehoben wurden, Technik, Handwerke, Industrien, Berufe: „Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, mis en ordre & publié par M. ... Diderot et M. ... d’Alembert.“ D’Alembert, hauptsächlichster Korrespondenzpartner Friedrich II., forderte im Discours préliminaire die Unterwerfung unter die von der Aufklärung zur höchsten Instanz des Denkens erhobene Vernunft und folglich die Aufgabe und Bekämpfung von Vorurteilen und Aberglauben, dieser beiden Hauptfeinde der philosophes, womit er bei seinen beiden Hauptthemen landete, der Geschichte der menschlichen Erkenntnis, die er sensualistisch-empiristisch allein auf sinn224

lich-naturwissenschaftliche Erfahrung und mathematische Stochastik aufbaute und nicht wie von der voraufklärerischen Tradition überliefert aus angeborenen Ideen entstehen ließ. Sie wurde anhand anekdotischer Exempel illustriert und brachte insgesamt den zusammenhängenden geschichtsphilosophischen Zentralgedanken der Enzyklopädie, den menschlichen Fortschritt, der sich vor allem in der Technik und in der progressiven Kenntniszunahme der Naturwissenschaften verwirklichte, zum Ausdruck. Die Enzyklopädie wurde vor allem vom Klerus (jedoch verfassten auch Kleriker so manchen Artikel dieses Nachschlagewerks), der päpstlichen Kurie, den Jesuiten sowie von den staatlichen Instanzen des Hochabsolutismus attackiert und zensiert und mehrere Male an den Rand der Verbots bzw. Ruins getrieben, was zeigt, wie schwer sich die heutzutage von jedem Grundschüler beherrschte, von den Enzyklopädisten vertretene moderne Wissenschaft gegen mittelalterlichen Obscurantismus und Dilettantismus durchsetzen musste. Wie sehr der aufklärerische Enzyklopädismus und der davon abgeleitete Zeitgeist die Menschen ausgehend von den beiden großen Enzyklopädien beherrschte, beweist das von dem modernistisch-romantischen Dichter und Naturwissenschaftler Novalis begonnene Projekt, nun auch seinerseits eine Enzyklopädie zu schreiben. Dieser Enzyklopädismus, der auch ein enzylopädisch interessiertes Leserpublikum voraussetzt, mühte sich darum, sozusagen alle konstitutiven Elemente der Erde zusammenzufassen und damit auch deren Zusammenhang, den Weltzusammenhang, zu demonstrieren. Ein Fortschritt war jedenfalls die „allmählig“ fortschreitende und zugleich neue Hindernisse bewältigende beginnende Aufklärung der ganzen Erde und damit der Menschheit als ihrer Bewohnerin.

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Vierter Teil Menschheit und Menschenrechte Mit den wissenschaftlichen Forschungsreisen und den die ganze Welt überziehenden und erobernden Kriegen, besonders den Kolonialkriegen, ist die Aufklärung endlich bei der Geschichte und Gegenwart der ganzen Welt sowie ihrer Bewohnerin, der Menschheit angekommen. Sie wird erst damit zu einem Weltprojekt. Die Bezeichnung „Universal- und Weltgeschichte“ von Turgot und seinen Nachfolgern, so auch Hegels Begriffe „Weltgeist“, „Weltgeschichte“ und „Weltbewusstsein“ und zuvor schon Kants „Weltbürgerbegriff “ bezogen sich auf dieses neue „Weltbewusstsein“. Vorher hätten Bücher mit solchen „weltlichen“ Titeln nicht geschrieben werden können. Doch fehlte überall das Subjekt der Weltgeschichte, der Mensch oder genauer, die Menschheit. Meist blieb man faktisch beim „Europäer“ stehen. Turgot geht vom Kenntnisgewinn der Europäer über die Nichteuropäer aus und zieht nicht nur mangels Materials, sondern aus seiner prinzipiell eurozentristischen und auf Kolonialismus gegründeten Borniertheit heraus nicht einmal die abstrakte Möglichkeit einer umgekehrten, extraeuropäischen Perspektive nichtokzidentaler Subjekte in Erwägung, wie dies doch schon Michel de Montaigne in seinen Essays wenigstens gewagt hatte. Turgot konzipierte eine Universalgeschichte faktisch ohne das einzig wirklich universale Subjekt der Weltgeschichte par excellence, die Menschheít, die mehr ist als nur die abstrakte Gattung und natürlich weitaus mehr als das Abendland oder die Summe der je zur gleichen Zeit lebenden Weltbewohner. Doch erst im Kontext der Globalisierungen kommt es zu einem Menschheitsbegriff, der eine wissenschaftliche Anthropologie und einen solchen politischen Begriff wie „Menschenrechte“ denkmöglich macht. Es erstaunt, dass bei so viel aktuellen Berufungen auf die Menschenrechte nicht auch der Begriff des Menschen und der Menschheit expliziert wird, denn der Mensch ist das Subjekt dieser Rechte, Menschenrechte haben keine nur rein sprachliche oder rhetorische Existenz. Die Vorgeschichte erklärt, dass der Begriff der Menschheit zuerst und nur in Europa und nur im Zusammenhang mit der Aufklärung und der Beschränkung auf den übersichtlichen und homogenen Okzident erstmalig auftauchte, dass er noch nicht im Rahmen der orientalischen und fernöstlichen Hochkulturen gedacht werden konnte, weil nur West-Europa mit seinen Handelsflotten, Ar227

meen und Kolonien die ganze Erde und damit die ganze Menschheit als Subjekt kannte und beherrschte. Daher erscheinen nur im Diskurs der Aufklärung, das heißt Europas, sowohl die Menschheit als auch die Erde als die beiden globalen Grundbegriffe. Die Vereinigung oder dieses Überkreuzen beider Phänomene, der Menschheit und der Welt, vollzog sich erst im Denken des preußischen Philosophen Immanuel Kant. Dieser, der seine Heimatstadt Königsberg nie verlassen hatte, wurde auf die außereuropäische Welt durch die ihn seit langem beschäftigende Kriegsthematik aufmerksam, als er von dortigen Kriegen aus der Presse, wissenschaftlichen Publikationen und natürlich aus dem Zedler erfuhr. Die Apperzeptions- und kritische Analysefähigkeit für das Phänomen des Kolonialismus muss er erst durch diesen Konnex der Zusammenhänge von Kolonialisierung und Krieg erworben haben, die ihn für die Besonderheiten der Vorgänge außerhalb Europas sensibilisierten. Dieses erstmalige „Weltbewusstsein“ vertiefte sich im Zusammenhang mit der von Ottmar Ette (2002, 2009) wiederentdeckten „Berliner Debatte“ um die Neue Welt, an der zahlreiche französische Aufklärer teilnahmen, die hauptsächlich aus politischen Gründen in der preußischen Hauptstadt residierten bzw. exiliert waren. Diese bedeutete eine erste europäische Diskussion über den menschlichen Wert der Ureinwohner Amerikas und damit die Anerkennung ihrer Zugehörigkeit zur Gattung Mensch und verhalf zur Erweiterung des ursprünglich eurozentristisch bornierten Menschheitsbegriffs zu einem, der die ganze Menschheit umfasste. Diese nur mittels Schriftliteratur geführte Diskussion ermöglichte die Präsentation und Kenntnisnahme u. a. von Reiseberichten Cooks und des preußischen Akademiemitglieds und Bibliothekars Friedrich des Großen Antoine-Joseph de Pernety, einstmals Schiffskapitän auf Bougainvilles berühmter Weltumsegelung, die empirisch wahre, „aufklärende“ Informationen über Sitten, Familienmoral, Hygiene, sprachliche Ausdrucks- und Denkfähigkeit und Mythenglauben der Indigenen aller Kontinente vermittelten. Dazu gehörte auch die in diesem Band weiter vorn von mir besprochene Geschichte beider Indien von Raynal und Diderot. Diese Autoren verwiesen die verleumderischen oder auf purem Unwissen beruhenden, zumeist phantastischen Behauptungen über die südliche Welt der Tropen in das Reich der Sagen und Märchen, der von den Aufklärern mit besonderer Inbrunst bekämpften „Mythologien“. Die mythologisierende und inferiorisierende Beschreibung der indigenen Amerikaner durch den holländischen, in Potsdam residierenden, aber nie außerhalb Europas gereisten Abbé Corneliusz de Pauw in seinem vielgelesenen Buch Recherches philosophiques sur les Améri­ 228

cains (1768) – das Hegel leider zur Grundlage seiner dubiosen geschichtsphilosophischen Betrachtungen über die Bewohner der Neuen Welt nahm – wurde von Pernety in seiner polemischen Publikation Dissertation sur l’Amérique et les Américains contre les Recherches Philosophiques de Mr. Dr. De P*** (Abhandlung über Amerika und die Amerikaner wider die Recherches Philosophiques des Mr. Dr. De P***) als falsch und verleumderisch unter Hinweis auf seine eigenen empirischen Reiseerfahrungen in der Welt des tropischen Südens denunziert. In aufklärerischen Werken wurden europäische Mythen und Legenden über die Neue Welt endgültig in das Reich der Fabel verwiesen, die Reiseberichte vom sittenlosen, nackten, schmutzigen, unhygienischen, abergläubischen und stets kannibalischen „Wilden“ ad absurdum geführt. Die Berliner Diskussionsteilnehmer bemühten sich, ein nüchternes, auf Sachkenntnis aufbauendes Bild von der nichteuropäischen Welt zu zeichnen und die Europäer über diese für sie in der Tat „neue“ wirkliche Welt „aufzuklären“. Damit erst, mit dieser sich auf Wissen stützenden Aufklärung über den bislang unbekannten Großteil der Erde wurde begonnen, das noch halbmittelalterliche, auf „Vorurteilen“ beruhende Welt- und Menschenbild der Europäer zu korrigieren, die unter dem Vorwand des Kannibalismus die „Wilden“ aus der Menschheit heraus und in das Tierreich eingewiesen hatten. Auf dieser Vorgeschichte beruht die Entstehung einer zusammenhängenden Weltsicht und des Konzepts einer ganzheitlichen Menschheit. Die in diesen Kontext erstmals formulierten „Erklärungen der Menschenrechte“ entsprangen also keineswegs abstrakter Rechtsspekulation, sondern aktualisierten die Rechte aller Mitglieder der sich als solche überhaupt erst konstituierenden Menschheit. Geschichtlich sind die Menschenrechte eine sehr späte Frucht der Menschheitsgeschichte und des Rechtsdenkens, in den Rechtssystemen erschienen sie erst mit der Aufklärung. Voltaire benutzte in seiner Geschichte der Sitten und des Geistes der Nationen erstmals das Wort „Menschenrechte“, wenn er nach Darstellung der Gräuel der Kreuzzügler schrieb: „Und nach alledem wagen wir es, von Menschenrechten zu sprechen“. In diesem Werk stellte er ebenfalls erstmals die Gleichheit der Menschennatur überall in der Welt fest, dass nämlich „tout ce qui tient intimement à la nature humaine se ressemble d’un bout de l’univers à l’autre,“ dass „alles das, was eng mit der menschlichen Natur zusammenhängt, sich von einem Ende des Universums zum anderen ähnelt“. Die menschliche Natur ist also Voltaire zufolge das allen Menschen aller Zonen gemeinsame und sie gleichmachende anthropologische Moment, das die Menschenrechte begründet.

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Der eigentliche aufklärerische Menschheitsbegriff wurde von Herder artikuliert, der alle bisherige Geschichte als Entwicklungsgeschichte der Humanität als ihres geistigen Substrats ansah. Der Humanitätsbegriff bedeutete die Anerkennung der essentiell-anthropologischen Gleichheit aller Menschen und deren Erstreckung auch auf deren politische Gleichberechtigung „unabhängig von Rasse, Nation und Stand“, was auch die Gleichberechtigung aller Religionen und Weltanschauungen und damit die Toleranz einschließt.„Aufklärung“ ist der nun mögliche unbeschränkte Zugang zur Weltweisheit und zur Aneignung von einer eine bloße Wissensvermittlung übersteigenden „Bildung“. Der epochale Zug zum Menschheitlichen klingt selbst in den bloßen, zu früherer Zeit unbegrifflichen und unbegreiflichen Titeln der Herderschen Hauptwerke an, in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) und in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91). Damit leitete Herder die Diskussionen zu den Menschenrechten ein. Hermann Klenner (in Sandkühler, 367) schreibt dazu: Die Behauptung, dass es ungeachtet des entgegenstehenden Inhalts geltender Rechtsordnungen für jeden Menschen einen Grundbestand gleicher Rechte gebe, entwickelte sich als Bestandteil des Selbstverständigungsprozesses der antifeudalen Klassen und Schichten über ihre Interessen, besonders als Moment der Aufklärungsphilosophie. Sie sind im Widerspruch zum Feudalrecht, das die gesellschaftliche Ungleichheit zwischen den Angehörigen der verschiedenen Stände in Form von angeborener und vererbbarer Rechtsungleichheit widerspiegelte.

Nur auf der Grundlage der durch Weltreisen und Kolonisierungen gesammelten Kenntnisse von der Natur und der akkumulierten geistig-wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Menschen und die Erde entwickelten die Aufklärer ein enzyklopädisches Register aller materiellen und immateriellen Reichtümer der Welt, zuerst im deutschen Zedler und später und stärker in der französischen En­ cyclopédie, die eine Art Bestandsaufnahme der ganzen materialen wie humanen Welt, ein enzyklopädisches „Weltbild“ in Buchform war. Das neue monistische „Weltbild“ stellte erstmals Alexander von Humboldt in seinem „Weltbuch“ Kosmos dar. Er erzählt darin nicht die – anthropologische – Menschwerdung, sondern die – historische – Menschheitswerdung, die sehr wohl von ersterer zu unterscheiden ist. Im tellurischen Teil beschreibt er die Menschheitswerdung als einen sukzessiven Agglomerationsprozess der einzelnen Populationen. Die je größere Quantität der wachsenden Menschenmengen erbringt für ihn schon per se eine höhere Qualität des Menschseins. Die Assoziation der Menschen erhält so relativen Eigenwert. So zählt er viele „Vereinigungen“ von Populationen in der Menschheits230

geschichte auf ohne jede Nennung manifester Folgen für Sieger oder Besiegte. Meist genügt ihm der bloße Assoziationsmodus – gewaltsame Eroberung oder friedlicher „Anschluss“ (Vgl. Dill 2013, 167 ff.). Damit erarbeitete Humboldt einen anschaulichen, empirischen und wirklichen Weltbegriff, eben des Kosmos, aus dem heraus erst eine nicht mehr auf Antike, Mittelmeer und Europa regional fokussierte, sondern eine die ganze Erde umfassende Weltgeschichte geschrieben werden konnte. Erst damit im Zusammenhang kamen die Aufklärer zu einem inhaltlichen und nicht mehr nur metaphorischen Begriff „Menschheit“ und zu einer solch kapitalen Kategorie wie „Menschenrechte“ (droits de l’homme, Rights of Man), wie sie sich in den Verfassungen Nordamerikas und Frankreichs niederschlugen. Die als Stämme oder Clans isoliert in der Wildnis lebenden Urmenschen konnten daher keinen Menschheitsbegriff entwickeln, der über den jeweiligen Stamm hinausging und „andere“ Menschen einschloss; sie betrachteten vielmehr, wie Humboldt in Südamerika feststellte, die Mitglieder anderer Populationen als Nichtmenschen, als eine andere, wenngleich menschen- oder affenähnliche Gattung von Animalen und daher als essbares Wildbret, womit er für den Kannibalismus eine wissenschaftlich-anthropologiehistorische Erklärung und nicht wie üblich eine moralisierende Entschuldigung zur Hand hatte. Im 2. Band des Kos­ mos insistiert er auf der Bedeutung der Überwindung isolationistischen Lebens durch die Agglomeration immer größerer Menschenkollektive für die allmähliche Konstruktion des Begriffs „Menschheit“. Doch erst mit der Ausdehnung der Menschenrechte auf die Dritte Welt bezog sie sich auf alle Menschen im anthropologischen Sinn, wurde die Aufklärung zu einem Weltprojekt. Immerhin also bedeuteten die amerikanische wie die französische Menschenrechtserklärung eine definitive, explizite und bewusste juristisch-staatsrechtliche Anerkennung des Menschen- und Menschheitsbegriffs und damit der Menschenrechte über den Okzident hinaus auf die ganze Welt und somit eine Antizipation der UNO-Proklamation der Menschenrechte.

Der emphatische Menschheitsbegriff der Dichter und die Menschenrechte Die im I8. Jahrhundert besonders in Deutschland erblühende emphatische „Menschheitsdichtung“ steht mit dem in der philosophischen und politischen Aufklärung hochkommenden „Menschheits“-Begriff sowie mit der Menschenrechtsdiskussion in einem ursächlichen Zusammenhang. In diesem Sinne ist des überzeugten Kantianers Friedrich Schillers Ode an die Freude 1785 – im Vorfeld der französischen Revolution – entstanden, in der es heißt: alle Menschen wer­ 231

den Brüder – diesen Kuss der ganzen Welt, die an die Prinzipien der aufklärerischen Freimaurer erinnert, in denen von der „Verbrüderung aller Menschen“ die Rede ist, und sich auf „die ganze Welt“, die ganze Erdkugel als Lebensraum der Menschheit beruft. Auch Herder verwendet in diesem emphatischen Sinn das Wort „Menschheit“ in einem Zusammenhang, in dem er ganz eindeutig die Bewohner der Kolonien, der „ganzen Welt“ in den Menschheitsbegriff einschließt, wenn er von der Kolonialistenkriminalität in der weiter oben bereits zitierten Passage schreibt:, dass sich die Europäer des Verbrechens „beleidigter Menschheit“ schuldig machen. Im Vorjahr, 1784, war der erste Band von Herders Ideen zur Philosophie der Ge­ schichte der Menschheit erschienen, und im Folgejahr 1786 kam E.E. Göchhausens Enthüllung des Systems der Weltrepublik heraus. In diesem chronologischen und semantischen Umfeld kreierte Goethe den Begriff „Weltliteratur“, der keine quantitative Addition von Nationalliteraturen, sondern ein synthetischer Begriff ist, der über die tradierte literarische Trinität Antike-Orient-Okzident hinausgreifend erstmals aufs Weltganze zielt. Ein solch planetarisches Menschheitspathos hatte es in der gesamten voraufklärerischen Weltliteratur nicht gegeben und konnte es auch nicht geben, weil die entsprechende außerliterarische Begrifflichkeit, die weite Erdkugel und die auf dieser lebende Menschheit als über den einzelnen Nationen stehende Ganzheit fehlte. Wahrscheinlich deshalb sind die unter dem Einfluss der Freimaurer entstandenen einzigen deutschsprachigen Opern Mozarts sowohl der Toleranz als auch der Menschenverbrüderung gewidmet, so dass hier wohl zum ersten Mal auch in der Weltmusikgeschichte das im Deutschen laut Wolfgang Hildesheimer schwer singbare Wort „Menschheit“ auftaucht. Deshalb ist es absurd, wenn Hildesheimer (365) trotz dieses menschheitlichen Kontexts von „patriotischer Kraftmeierei“ Mozarts wegen dessen forcierten Einsatzes für die Verwendung der deutschen Sprache auf der Opernbühne spricht. Es scheint mir nicht zufällig, dass der mehrmals genannte kubanische Romancier Carpentier in seinem nach Ende des 2. Weltkrieges verfassten Roman Die Verlorenen Spuren („Los pasos perdidos“), die Begegnung eines lateinamerikanischen Musikologen mitten im Urwald mit Schillers Ode bzw. Beethovens Sinfonie, die er auf einem Transistorradio hört, gestaltet, den. dieses Werk an die Aufklärung erinnert: Die Neunte Sinfonie: das war Montaignes zartes Gedankenbiscuit, der Azur Utopias, die Essenz der Elseviers, die Stimme Voltaires im Prozeß gegen Callas. Jubelnd schwoll sie jetzt an: Alle Menschen werden Brüder wo dein sanfter Flügel weilt.

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Und dann mit einmal erfolgt die herbe Enttäuschung, das Zurückzucken des Protagonisten: „Plötzlich langweilte mich diese Neunte Sinfonie mit ihren unerfüllten Versprechungen, ihrem messianischen Drang, zumal dieses Jahrmarktsarsenal der „türkischen Musik“, die im Prestissimofinale so pöbelhaft ausufert. (Carpentier 1971, 107)

Der überraschend plötzliche Widerwille des Protagonisten gegen diese Musik rührt aus der Erinnerung, dass deutsche KZ-Wächter diese Hymne nach vollendetem Tun mit Inbrunst sangen, aber auch wegen der Schrecken des Kolonialismus im 18.  Jahrhundert im Namen der Aufklärung, also wegen ihrer Ambivalenz, ihrer Janusköpfigkeit: das Zeitalter der Aufklärung, der lumières, sei zwar „für die Philosophen, Franzosen und Enzyklopädisten (in dieser für die Aufklärung äußerst typischen Zusammenstellung und Reihenfolge, HOD) le siècle des lumière, das Lichtjahrhundert gewesen, „aber es war ein finsteres (Hervorh. HOD) Jahrhundert für Millionen Menschen besonders in den Kolonien, wo die vielleicht größte Ausbeutung der Sklaven stattfand, wo es Massaker, Tote, Kriege, Bombardierungen gab (...) es war im Grunde ein (...) höchst barbarisches Jahrhundert“. (Alejo Carpentier: (1958): Entrevistas. La Habana: Editorial Letras Cubanas 1985) Carpentier zufolge war der Kolonialismus die Kehrseite der Medaille der Aufklärung. Sein oben erwähnter 1958 erschienener Roman über die Französische Revolution und ihre Auswirkungen in den Kolonien Frankreichs, insbesondere über die totale Verkehrung der aufklärerischen Freiheits- und Menschheitsphrasen, trägt den bezeichnenden, absolut unpoetischen, nicht an einen Roman, sondern eher an ein geschichtsphilosophisches Werk erinnernden Titel El siglo de las luces, auf französisch Le siècle des lumières, auf deutsch „Das Zeitalter der Aufklärung“ (der deutsche Buchtitel „Explosion in der Kathedrale“ ist eine Übersetzung des mehr einem Roman entsprechenden englischen Titels „Explosion in a Cathedral“). Die Aufklärung als solche ist also sogar das Thema dieses Romans. Carpentier bestreitet ganz ähnlich wie Immanuel kant diesem „Jahrhundert der Aufklärung“ das Prädikat, ein „aufgeklärtes Jahrhundert“ zu sein. Sein auf dokumentarischen Quellenstudien beruhender Roman beschreibt mancherlei Gräuel der französischen, besonders der napoleonischen Kolonialsoldateska auf Haiti und in anderen außereuropäischen Besitzungen Frankreichs, so die Wiedereinführung des französischen Sklavenhandels auf Sklaventransportschiffen, die noch unüberpinselt wie eine Realsatire die Titel berühmter Werke und Personen der Aufklärung und der Französischen Revolution tragen. Ein Sklavenschiff heißt z. B. Le contrat social, „Der Gesellschaftsvertrag“, nach Rousseaus bekanntem Hauptwerk, und ein anderer Sklaventransporter trägt den hochtönenden Namen L’incorruptible (Der Unbestechliche), nach dem Beinamen Robespierres. 233

Carpentier stellt aus der Opferperspektive den Zusammenstoß und die Kohabitation von Aufklärung und Restauration dar. Wolfgang Eichhorn (1995, 8) hat den Versuch Lyotards, das gerade erst mit der Aufklärung aufgekommene ganzheitliche Weltdenken ohne jeden Gegenbeweis rein spekulativ für obsolet zu erklären, mit dem Hinweis auf die in allen (irdischen) geschichtlichen Prozessen wirksame „strukturelle Uuiversalität“ zurückgewiesen. Er spricht vom (neuartigen) „aufklärerischen“ Konzept der Weltgeschichte als Erkenntnis der Anerkennung der „einen“ Menschheitsgeschichte durch die geschichtsphilosophische Einordnung alter außereuropäischer Kulturen durch die Europäer, wobei allerdings die eigentliche Innovation die empirische wie wissenschaftliche Kenntnisnahme der zeitgenössischen „primitiven“ Völker der südlichen Halbkugel war.

Menschenrechte, Bürgerrechte, Weltbürgerrechte Während die Menschenrechte für alle Menschen unabhängig von Kultur, Rasse, Geschlecht, Religion und Nationalität gelten, existieren die in den Verfassungen der USA und Frankreichs erwähnten Bürgerrechte, als da sind Denkfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Freiheit der Berufswahl, die in den Verfassungen demokratischer Gemeinwesen in dieser oder jener Form garantiert werden allein in institutionalisierten „zivilen“ Gesellschaften. Unter der Prämisse des unterschiedlichen semantischen Abstraktionsniveaus von „Bürger“ und „Mensch“ hat Iwan d’Aprile gezeigt, dass die u. a. von Victor Klemperer, Iring Fetcher und Lord Russel of Liverpool vertretene These vom faschistoiden bzw. präfaschistischen Rousseau als Vorgängers Hitlers, weil er im Gesellschaftsvertrag vom Individuum seine Aufopferung zugunsten der Kollektivität verlange, falsch sei. Es handele sich vielmehr um die schon von Descartes vertretenen passions de l’âme, die Seelenkräfte des Menschen, also um eine sensualistisch-empfindsame Ergänzung des einseitig intellektualistischen Rationalismus’ Descartes’, und somithin nicht um Gegenaufklärung, nicht um nazistische Vergottung gefühlsbetonter Raserei, sondern um ein notwendiges Komplement von „raison“, da der Mensch nun einmal aus Verstand und Gefühl bestehe. Mir erscheint die Faschismus-These auch insofern falsch, als alle demokratischen Staaten von ihren Bürgern im Extremfall ebenfalls die Hintanstellung persönlicher Interessen zugunsten des Gemeinwohls, sogar im Kriegsfall die Aufopferung ihres Lebens fordern und stets gefordert haben. Bei den Berufssoldaten allerdings handelt es sich nicht um den Heldentod, sondern um ein Berufsrisiko. Einen Ausweg aus dieser begrifflichen Aporie weist D’Aprile, indem er zeigt, dass Rousseau da, wo er vom Menschen im gattungsspezifischen Sinne des genre 234

humain spricht, also von Menschenrecht, das Wort homme, Mensch, verwendet, dagegen, wenn er den Angehörigen eines Volkes bzw. einer Nation meint, stets vom citoyen, vom Staatsbürger spricht. Diese Unterscheidung zwischen homme als anthropologischem und citoyen als historisch-sozialem Begriff halte ich für fruchtbar und produktiv. Noch lange war im Zeitalter der Nationenbildung, also vor der Aufklärung, jedenfalls in Frankreich das Nationalbewusstsein vorherrschend gegenüber dem gerade erst entstehenden Weltbürgerbewusstsein oder Kosmopolitismus; in dem in Partikularstaaten fragmentierten Deutschland war das Nationalbewusstsein sogar zur Zeit der Aufklärung erst im Entstehen begriffen. Demgegenüber ist der von der Aufklärung begründete Kosmopolitismus als Synonym für Weltbürgertum das politische Komplement zu Menschheit, zu hu­ manité, als größtem irdischen Menschenkollektivum, von homines. Beide Rechtskomplexe, die bürgerrechtlichen wie die menschenrechtlichen, finden sich in den Erklärungen sowohl Nordamerikas von 1776 wie Frankreichs von 1791 nebeneinander als declaration of the rights of man and citizen bzw. déclaration des droits de l’homme et du citoyen. Zwischen beiden Erklärungen wird meist wenig differenziert. Kant hat mit dem Weltbürgerrecht einen weiteren Begriff kreiert, der beide Phänomene subsumiert: die Menschenrechte sind ein anthropologischer Begriff, der das gesamte Anthropozän umfasst und Welt und Menschheit meint, während „Bürgerrechte“ ein politischer Begriff ist, der die Rechte der Bürger der jeweiligen Nationalstaaten bezeichnet, in welche die bürgerlich-kapitalistische Zivilisation zerfällt, und zu welchen sich die Bürger als zu ihrem jeweiligen Gemeinwesen verhalten. Hauptziel der Aufklärung war ein bürgerrechtliches, die Heranbildung eines aufgeklärten und gesellschaftlich nützlichen Bürgers, eines citoyen plus éclairé, plus utile, wie es Jacques Proust an Hand von Diderots Encyclopédie definiert, als Staatsbürger der jeweiligen Nation wie als Weltbürger. Die Verwirklichung des aufgeklärten und nützlichen Bürgers entspricht dem von der französischen Aufklärung formulierten Ideal der Zivilgesellschaft, die nur eine Sozietät aufgeklärter und gesellschaftlich nützlicher Staatsbürger sein kann. Während die Menschenrechte für die Menschen gleichgültig welcher Kultur, Rasse, Geschlecht und Nationalität gelten sollen, gehören in den Bereich der Bürgerrechte solche politischen, auf einen je einzelnen Staat bezogenen Sachverhalte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit. Sind die Menschenrechte ein Produkt der Moderne selber, der Entstehung der Menschheit als Bewohnerin der ganzen Erde, so haben die „Bürgerrechte“ eine lange Geschichte schon in den vormodernen Gesellschaften, im römischen Bürgerrecht, der civitas romana. Sie 235

sind nötig, wo zusammenlebende, voneinander gegenseitig abhängende Glieder menschlicher Populationen sich staatliche oder kommunale Institutionen, ihrem Gemeinwesen entsprechende Strukturen und ihren Mitgliedern Rechte der Mitbestimmung, Mitgestaltung und Selbstverwirklichung ihres Gemeinwesens, eben Bürgerrechte, gegeben haben. Der besondere emphatische, fast pathetische Gebrauch des Substantivs „citoyen“ meint nicht einfach „Bürger“ und schon gar nicht „Staatsbürger“, obgleich es natürlich mit einem dieser beiden Wörter übersetzt werden muss. Citoyen als offizielle Anrede der französischen Revolution bezeichnete eine enge, auf staatsbürgerlicher Gleichheit beruhende neue Beziehung zwischen den „Bürgern“ der Republique Française. Alexander von Humboldt sprach in Briefen und Tagebüchern stets von seinem Reisegefährten Bonpland als le citoyen Bonpland, Bürger Bompland, um erst nach dcr napoleonischen Konterrevolution zum vorrevolutionären „Monsieur Bonpland“ zurückzukehren. Diese emotionale Konnotation von citoyen erstreckte sich auch auf die Erklärung der „Bürgerrechte“, die „droits du citoyen“. Die Begrifflichkeiten der Bürgerrechte wurden von der Aufklärung unter Rückgriff auf die naturrechtlichen Vorstellungen von Hobbes, Locke, Grotius, Pufendorf, Altenius, Wolf und Thomasius erarbeitet und umfassten vor allem die Gewaltenteilung zwischen der legislativen, exekutiven und juristischen Gewalt, die Montesquieu in „Der Geist der Gesetze“ nach Vorarbeiten von Hobbes und Locke entwarf, und die Volkssouveränität, die Legislative, deren Funktion Rousseau in Du contrat social (Vom Gesellschaftsvertrag) skizzierte. Nicht realisiert hat sich das Projekt des deutschen Rousseau-Anhängers Rittinghaus, anstelle der von ihm als undemokratisch denunzierten repräsentativen Demokratie in Europa die Direktwahl nach urschweizer Vorbild einzuführen. (Vgl. Erbentraut 213: Moritz Rittinghaus – ein deutscher Rousseau) In der kapitalistischen Gesellschaft wurden die Freiheits- und DemokratieIdeale der Aufklärung formell weitgehend eingelöst und in der Praxis teilweise übertroffen. So waren ursprünglich sowohl die amerikanischen wie die französischen Frauen von den Bürgerrechten ausgeschlossen, was sich in der die Frauen ausschließenden Identität von Mann und Mensch in der englischen wie der französischen Sprache widerspiegelt, die nicht wie das Deutsche über das beide Geschlechter umgreifende neutrale Wort „Mensch“ verfügen, was bei der Differenzierung zwischen Menschen- und Bürgerrechten von Belang ist. Die Menschenrechte wurden als Männerrechte ausgelegt, so dass die Frauen und damit die Hälfte der Bevölkerung von den Bürgerrechten ausgeschlossen wurde. In der Französischen Revolution wurden Frauen, die ihre Bürgerinnenrechte einforder236

ten, guillotiniert. In der Schweiz dürfen Frauen erst seit dem Jahre 2000 wählen, sind erst seit diesem Jahr gleichberechtigte Staatsbürger(innen). Im Hitlerfaschismus, im stalinistischem Sowjetsystem sowie in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen waren alle Bürger- und vielfach die Menschenrechte suspendiert. Diese Einschränkungen der Bürgerrechte galten notabene besonders für alle Kolonien. Über uneingeschränkte Bürgerrechte verfügte bis zur Dekolonisierung Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts nur eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung, und auch heute bei weitem nicht alle Erdenbürger. Kant kam auf den aufklärungstypischen Gedanken, den nationalitätsbegrenzten Bürgerbegriff um den darüber hinausgehenden, menschenrechtlichen Begriffs des „Weltbürgers“ und folglich die „Bürgerrechte“ um das „Weltbürgerrecht“ als Anpassung an die Mundialisierung zu erweitern, das er dementsprechend mit einem von ihm „Weltbesuchsrecht“ genannten Reiserecht über die ganze Erdkugel verknüpfte. Dieses Besuchsrecht stehe allen Menschen zu „vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen.“ (1984, 24); „dulden müssen“ meint „sich gegenseitig ertragen müssen“, also Toleranz. Die Ausübung des Weltbesuchsrechts machte er in seinem Entwurf von der Genehmigung der zu Besuchenden abhängig. So beginnt sein „Dritter Definitivartikel zum ewigen Frieden“ mit „eingeschränkt sein.“ Kant begründet diese Einschränkung des Welt-Besucherrechts mit dem gewohnheitsmäßigen Missbrauch der Besuche in anderen Ländern durch die Westeuropäer: „So geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten, denn die Eingeborenen rechneten sie für nichts.“ Dieses Besuchsrecht stehe trotz aller Gefahren des Missbrauchs, denen man völkerrechtlich wehren müsse – der Unterschied zu den kolonialistisch-klerikalistischen internationalen Rechtsentwürfen von Vitoria und Suárez fällt in die Augen – allen Menschen als Weltbürgern zu „vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen.“ (1984, 24), „dulden müssen“ meint „sich gegenseitig er­ tragen müssen“, also Toleranz.

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Fünfter Teil Mythos und Aufklärung im 20. Jahrhundert Trotz der überwältigenden Präsenz der Aufklärung im öffentlichen Bewusstsein des 18. Jahrhunderts in Europa und der okzidentalen Welt kam es im darauffolgenden bürgerlichen 19.  Jahrhundert zu ihrer Rücknahme oder doch Minderung bei gleichzeitig schnellem, machtvollem Vordringen gegenaufklärerischer und aufklärungsfeindlicher, zumindest aufklärungsneutraler Tendenzen in der Philosophie und Literatur wohl aller europäischen Länder. Das wirft die Frage nach den Gründen eines solchen Paradigmenwechsels auf, um den es sich hier zweifellos handelt, die natürlich im Charakter der Aufklärung lagen, mit der sich die neuen Denker sehr schwer taten, die sich sogar als ihre Antagonisten gerierten und dieses Produkt des 18. Jahrhunderts am liebsten ignoriert hätten. Ein häufiger Grund für diese Verdrängung der Aufklärung aus dem kulturellen Gedächtnis der Menschen wird im sich ausbreitenden Irrationalismus gesehen, dem Hauptwidersacher des im Vorjahrhundert dominierenden, vor allem von der Aufklärung vertretenen Rationalismus. Der ungarische Philosoph Georg Lukács, der sich als Marxist dem Rationalismus eng verbunden fühlte, sah den entstehenden Irrationalismus als Zerstörer der rationalistischen Vernunft, dieser Zentralkategorie der Aufklärung, und damit der Aufklärung selber an. Sein dickleibiges, vielgelesenes und vielbeachtetes Hauptwerk zum Aufstieg des Irrationalismus nannte er deshalb beziehungs- und bedeutungsvoll Die Zerstö­ rung der Vernunft. Er hätte dies Buch auch „Die Vernichtung der Aufklärung“ nennen können. Auch die vielen Kriege bedeuteten die Vernichtung der Vernunft, wurden von den Aufklärern als Ausbrüche von Irrationalismus gebrandmarkt. Der spanische Maler Goya (1746–1828) denunzierte in den desastres de la guerra die Schrecken der französischen Soldadeska in Spanien als Schlaf der Vernunft, als el sueño de la razón, so wie der Berliner Dadaist Hans Richter 1917 eine Gouache über die Schrecken des 1. Weltkrieges mit der Titel „Das Ende der Vernunft“ überschrieb. Das Wesentliche an Lukács’ Werk ist, dass es nicht nur die Handvoll waschechter Aufklärungsgegner, der Widersacher Rousseaus, Holbachs, La Mettries, Diderots und Condorcets, und gewissermaßen lupenreine Irrationalisten der Weltphilosophie wie Schopenhauer, Schelling, Kierkegaard, Nietzsche, Houston Stewart Chamberlain, Richard Wagner, Oswald Spengler, Edmund Husserl, Martin Heidegger und den Gründer der Darmstädter „Schule der Weisheit“, Graf Keyserling, sondern alle irgendwie nichtkommunistischen bzw. nichtmar239

xistischen deutschen Denker des 19. und 20. Jahrhunderts aufzählt unter dem Verdacht, Vorläufer und Schrittmacher des Hitlerfaschismus zu sein, für welche alle es keine Unschuldsvermutung gäbe. Zu den Präfaschisten qua Irrationalisten zählt er außer dem Dänen Kierke­ gaard, und dem französischen Lebensphilosophen Henri Bergson fast die gesamte geistige Elite dieses Landes: Fichte, Schleiermacher, den Lyriker Stefan George, den Begründer der deutschen Soziologie Georg Simmel, den Kulturphilosophen Oswald Spengler, den Phänomenologen Edmund Husserl und dessen Schüler Martin Heidegger, ferner die Historiker, Soziologen und Philosophen Heinrich Rickert, Max Weber, Wilhelm Dilthey, und Theodor Lessing, den Begründer der Philosophie des Unbewussten, Eduard von Hartmann, den völkischen Kunsthistoriker Moeller van den Bruck und den parteilosen Nazi-Juristen und heute wieder Mode gewordenen Kriegstheoretiker Carl Schmitt (welch letztere beide authentische Nazianhänger, wenngleich nicht NSDAP-Mitglieder waren). In dem Buch äußert er die Meinung, dass Deutschland gewissermaßen das Ursprungsland und die Heimstatt von Irrationalismus und Faschismus sei. Dabei muss berücksichtigt werden, dass er Die Zerstörung der Vernunft im sowjetischen Exil während der infamen und unmenschlichen Herrschaft des deutschen Faschismus über fast ganz Europa mit seinen Kriegen, Gemetzeln und Konzentrationslagern niederschrieb und 1950, wenige Jahre nur nach Ende des 2. Weltkrieges, im ostberliner Aufbau-Verlag veröffentlichte. Allerdings unterschlägt Lukács die große Zahl der deutschen Naturwissenschaftler und Techniker, die wie Hermann von Helmholtz, Max Planck oder Albert Einstein und die vielen Nobelpreisträger alles andere als Irrationalisten waren, auch wenn sie sich nicht zum mechanischen Materialismus der Aufklärung oder zur marxistischen Dialektik bekannten. Und natürlich gehörten auch die Tausende deutscher Geisteswissenschaftler wie die Historiker Boeckh und Mommsen und der Kulturphilosoph Walter Benjamin oder die Schriftsteller Heinrich Heine, Heinrich und Thomas Mann, Kurt Tucholsky, die Philosophen Feuerbach, Max Stirner und Bruno Bauer nicht in Lukács’ Schwarze Liste der deutschen Irrationalisten. Nicht zuletzt gehört Lukács zu denjenigen, die die Romantik, speziell die deutsche, als Negation von Aufklärung, Rationalismus und Vernunft verteufelten, wobei er sich auf den stockkonservativen Goethe stützen konnte, der die von ihm selber vertretene Klassik bekanntlich das Gesunde und die Romantik das Kranke nannte. Man muss in diesem Zusammenhang erinnern, dass die Romantik nicht nur Kritikerin der Aufklärung, sondern auch des beginnenden Kapitalismus war, 240

wozu sie allerdings, ähnlich wie einst die „Modernen“ der Antike, das „unaufgeklärte“ Mittelalter nach dem Motto des spanischen Barockdichters Jorge Manrique Jede Vergangenheit war besser in ihren positiven, vor allem moralischen Werten herausstrichen. Doch haben romantische Naturwissenschaftler wie Novalis durchaus positiv im Sinne des menschlichen Fortschritts gewirkt, was man auch von Schriftstellern der Romantik wie Heinrich Heine, Hermann Fürst von Pückler-Muskau oder Bettina von Armin sagen könnte. Jamme hat am Dramenfragment Empe­ dokles von Friedrich Hölderlin nachgewiesen, wie sehr dieser Romantiker von den Idealen der französischen Aufklärung durchdrungen war und die radikalsten Forderungen der französischen Revolution einschließlich demokratischen Republikanertums und Gütergemeinschaft vertrat. Allerdings gab es andere Romantiker wie der Franzose de Maîstre, Autor des berühmten Erzählbandes Les soirées de Saint-Petersbourg, bei dessen Lektüre Alexander von Humboldt mitten im amazonischen Urwald geradezu einen Tobsuchtsanfall bekam, als er las, dass dieser die Bartholomäusnacht, auf der wie bekannt immerhin 10 000 Protestanten von katholischer Miliz massakriert worden waren, sowie die gefürchtete spanische Inquisition in schönen Worten bagatellisierte. Natürlich war die Annahme vom endgültigen Sieg der Vernunft, der undialektische Glaube allein an die Kraft des Intellekts und an die einseitige und vollständige Durchsetzung des Rationalismus, die auf der fälschlichen Annahme basierte, dass der Mensch und die Geschichte letztlich von rationalen Erwägungen und Überzeugungen geleitet werden, ein großer Irrtum. Vor allem war es wohl auch eine vereinseitigende Fehleinschätzung, dass der Mensch allein mit der Ratio ohne jedes Geheimnis leben könne, wie Pablo Neruda zweifelnd fragt, und dass zum ganzen Menschen neben der Ratio auch das Gefühl, neben der Wissenschaft auch die Kunst, neben dem Denken auch die Sinnlichkeit, neben den Verstand auch das Herz gehört. Der einseitige Aufklärungs-Rationalismus war der Tod jeder schöpferischen Phantasie und damit von Kunst. Die Missachtung der Aufklärung für Ästhetik und zugunsten von Gnoseologie und Didaktik fügte der Weiterentwicklung der Künste großen Schaden zu und erregte den Widerstand der Künstler aller Sparten. Die daraus resultierende Verarmung der Künste wie auch der Wissenschaften und des öffentlichen Lebens überhaupt durch die Aufklärung ist wohl auch die Ursache für die ästhetische Armut und Phantasielosigkeit der meisten künstlerischen Produktionen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und bewerkten den Auftrieb der gegenteiligen Produktionen von Moritz Jean Paul und E.T.A. Hoffmann und überhaupt von Sturm und Drang, Klassik und Romantik und den Rückgang der Aufklärung in der Publi241

kumsgunst, so dass bis heute diese Kunst- und Literaturepoche zu den ästhetisch schwächsten in der gesamten Kulturgeschichte der Menschheit gezählt werden muss trotz einiger Meisterwerke von Voltaire über Diderot bis Lessing. Auch aus diesem Grunde werden kaum noch die Werke der großen Aufklärer gelesen. An allen diesen unleugbaren Fehlstellen macht die postmoderne Kulturkritik die Falschheit und Obsoletheit der Aufklärung überhaupt fest. Doch waren dies natürlich zeitbedingte Beschränkungen und Einseitigkeiten. Die heutige Welt ist jedenfalls wenn nicht ein Spiegel, so doch ein Produkt der Aufklärung auch mit all ihren Fehlern und Einseitigkeiten. Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Menschenund Bürgerrechte sind von der Aufklärung ererbte Desiderata und Imperative, die auch für die moderne Welt des 21. Jahrhunderts noch Gültigkeit haben. In diesem Sinne ist auch ihr wechselhaftes Schicksal im vergangenen 20. Jahrhundert zu sehen. Zu Beginn des 20.  Jahrhunderts stellte die sogenannte Reformpädagogik dem notorischen Rationalismus der Aufklärungspädagogik die Emotionalität, Kreativität, Irrationalität (Seele), Erlöserkraft des Kindes, Ästhetik, Natur, Leben und Erleben als pädagogische Konterbegriffe gegenüber. Das erscheint als eine notwendige Ergänzung des einseitig rationalistischen Menschenbilds der Aufklärung zum wirklichen ganzheitlichen Menschen, mit seiner Emotion, seiner Leidenschaft und seinem Überschwang, als nachvollziehender Rückgriff auf die Literatur der Empfindsamkeit und des in Goethes Werther kulminierenden „Sturm und Drang.“ Doch darin offenbarte sich die immanente Widersprüchlichkeit bzw. Dialektik des Phänomens „Aufklärung“, wie Christa Uhlig schreibt: Werden an Erziehung einerseits größte Zukunftshoffnungen geknüpft und wird sie deshalb zunehmend pädagogisch organisiert und kontrolliert, impliziert dies andererseits auch Unterwerfung der Heranwachsenden unter diese Erziehungsmaximen und -systeme. Kant fasste das Problem in die prägnante Frage, wie Erziehung des Menschen zur Freiheit im Zwange möglich sei! (Ähnlich äußerte sich Fichte über den Widerspruch zwischen Freiheit und Zwang der Erziehung, HOD).

Ernst Bloch sah einen kausalen Zusammenhang zwischen extremistisch rationalistischer und objektivistischer Aufklärung und dem kompensatorischen Aufkommen eines extremen Subjektivismus, als er das Aufflammen von Irrationalismus mitten im angeblich aufgeklärten Europa noch vor dem Nationalsozialismus beschrieb: Der Kapitalismus konnte das Irrationale so wenig austrocknen, daß es gerade als Widerspruch zu seiner Sachlichkeit und Rationalisierung immer stärker geworden ist, und der Vulgärmarxismus baut diesen Hunger gewiss nicht ab, wenn er ihn als Restbestand der Zurückgebliebenheit hinstellt.

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Wie wahr! Vielleicht aber wäre ohne die Einseitigkeit der Aufklärer niemals der Rationalismus als Philosophie und Praxis der Vernünftigkeit durchgesetzt worden. Auch ist der von den Aufklärern als verlogen und irreführend verachtete Mythos der Romantik, wie dies Christoph Jamme in Aufklärung als Mythos überzeugend darstellt, nicht identisch mit mythologischem Denken als falschem Bewusstsein mnd verlogenem Illusionismus etwa im Sinne von Horkheimer und Adorno, ist vielmehr laut Jamme „Mythos als Aufklärung“, eine sicher für Dogmatiker unerträgliche contradictio in subiecto, die die Einheit von Kontinuität und Innovation erkundet und hervorhebt. Das aufklärerische Mythenkonzept war ein ideologisches und epistemologisches, das die Wirklichkeitsadäquatheit der Mythen verneinte und sie als Priesterbetrug oder als Hilfs- und Schutzersuchen der von den Naturgewalten verängstigten Menschen der Urzeit und des Altertums an die Götter ansah. Im Unterschied zur Aufklärung blieben Romantik und Klassik nicht beim gnoseologisch-philosophischen Begriff von Mythos als Episteme stehen, sondern hoben auf ein ästhetisches Konzept von Mythen als Wortkunstwerken der Urzeit und Antike ab: Mythos als literarisches Genre, als abrufbare Chiffre für menschliche Ursituationen und Sinnbild auch für existentielle Fragen war daher von den historisch-konkreten Sachbezügen entkoppelbar und freigeworden für gegenwärtige Sinnbelegung. Dass dies nicht Apologie gesellschaftlichen Rückschritts und Leugnung der Aufklärung bedeuten muss, zeigt Hölderlins Dramenfragment Empedokles, in der Antike sagenhafter Herrscher von Agrigent unterhalb des Ätna, erscheint in dem Hölderlin-Fragment als verfremdete Personifizierung eines „idealen Aufklärers“, der achronisch in der Antike so handelt wie ein historischer Aufklärer des 18.  Jahrhunderts handeln würde und im 19.  Jahrhundert handeln sollte, der politische Konsquenzen aus den Grundideen der Aufklärung zieht. Der Literaturhistoriker Jamme versucht in Hölderlins Vision in der Antike eine neue staatlich-gesellschaftliche Ordnung nach dem Modell der Aufklärung des 18.  Jahrhunderts zu begründen, ist insofern ein „zeitloser“ Revolutionär des Anthropozäns. Er propagiert in seinem politischen Testament als Vermächtnis vor seinem Freitod im Krater des Ätna eine Zeitenwende, ein zukünftiges herrschaftsfreies Dasein der Menschen, was alles den Transfer aufklärerischen Gedankenguts, vor allem Rousseaus, in die utopische Antike Siziliens, in die Anthropologie bzw. die Moderne bedeutet. Hölderlin predigt laut Jamme (2013, 538) die „Revolution von oben“, aber er vertritt nicht die Monarchie, auch nicht die aufgeklärte, sondern den Republikanismus, denn er ruft seinem Volk zu: 243

„Schämt euch, dass ihr noch einen König wollt“, und betont das rousseausche Grundprinzip universaler Gleichheit. Insofern war die Romantik kein aufklärungsfeindlicher Block, sondern auch Komplement zur Aufklärung. Die positivistische, vorwiegend naturwissenschaftliche Bildung des 19. Jahrhunderts räumte den Lehren der Aufklärung folgend mit allem Aberglauben, mit der Esoterik und den geglaubten Mythologien im westlichen und mittleren Europa gründlich auf, auch wenn sie nicht zum strikten Rationalismus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurückkehrte. Doch bei der absoluten Verrationalisierung wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und ein einseitiges Welt- und Menschenbild entworfen. Es meldeten sich bald Gegenstimmen, die die Amputation des menschlichen Wesens um die Dimensionen des Gefühls, der Emotion, Sensibilität und Subjektivität beklagten, darunter Nietzsche, Bergson, Kierkegaard und viele der von Georg Lukács in seine Schwarze Liste der Irrationalisten des 19. und 20. Jahrhunderts in Die Zerstörung der Vernunft eingetragenen angeblichen oder wirklichen Vorfaschisten. Wobei die Risiken und Gefahren dieser Widerrufung der Vernunft – wie in Thomas Manns Doktor Faustus – von den Philosophen des Irrationalismus entweder unterschätzt oder sogar in Kauf genommen wurden, was sich bei vielen Mitläufern der Faschisten zeigte.

Die Frankfurter Schule oder der Beginn der Aufklärung des 20. Jahrhunderts Wir sehen, dass in jedem Lande die Menschen nur im Sinn haben, sich kindischen Zeitver­ treib zu verschaffen, und von denen, die sie regieren, wie Kinder behandelt werden. Wenn die Fürsten Begabungen fördern, dann gewöhnlich nur solche, die sich mit Nichtigkeiten und für die Gesellschaft belanglosen Dingen beschäftigen. (DuMarsais/Baron von Holbach: Essay über die Vorurteile, 1769)

Nach den philosophischen, wissenschaftlichen und lebenspraktischen Höhenflügen, Zusammenhängen und Fragestellungen von gesamtgesellschaftlicher und menschheitlicher Relevanz fällt der moderne Aufklärungsdiskurs mit der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer/Adorno in die Niederungen der industriellen Produktion und Distribution von geistigen Denk- und Rezeptionsweisen herunter. Die neue Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts, die nicht mehr an die traditionellen von der Aufklärung vom Sockel gestoßenen Mythen glaubte, schuf sich ihre eigene moderne, neue Mythologie. Den Übergang von den transzendentalen, auf Vorurteil, Unwissen und Aberglauben beruhenden Mythen zu den sä244

kularisierten Mythen der Aufklärung vollzog die populare Massenliteratur, der Kitsch- und Schauerroman des 19. Jahrhundert, die Liebesromane von Hedwig Courths-Mahler und Eugenie Marlitt, die popularen Abenteuerromane von Karl May, Friedrich Gerstäcker und Charles Sealsfield und die provinzialistisch-lokalistische Heimatliteratur von Gustav Frenssen, Peter Rosegger, Hermann Löns, Fritz Reuter, Friedrich Spielhagen, Gustav Freitag und Willibald Alexis. Diese gehörten laut Schulte-Sasse/ Werner (1987:  155 ff.) kaum noch in die Tradition der Aufklärung, sondern sind die Ahnherrn der modernen gegenaufklärerischen Trivialmedien. Denn das Hauptresultat der bürgerlichen Mythologie war der Rückzug ins Private, in die Familie, ins Regionale und sogar die Idylle und damit die Flucht vor der Öffentlichkeit, die einst im Mittelpunkt der Aufklärungsbewegung gestanden hatte. Die Arbeit von Adorno/Horkheimer war die erste kompetente Reaktion von aufklärerischer Seite auf die neue Situation, die durch die grundlegenden Veränderungen in der Folge der durchgängigen Kommerzialisierung der geistigen Produktion bzw. ihrer Distribution zu einem Zeitpunkt in den USA eingetreten war, da die europäischen Verlage und Distributionsapparate noch unter sozusagen vormodernen Bedingungen arbeiteten. Durch ihr Exil in den USA hatten die Frankfurter die Chance, den sich in diesem Land vollziehenden endgültigen Einbruch der Moderne in die immaterielle Produktion zu beobachten und zu analysieren und damit gleichsam die nachfolgende Entwicklung in Europa vorwegzunehmen. Die beiden Frankfurter Philosophen widmeten sich wenn nicht als erste, so doch am wirkungsvollsten dem neuen Phänomen der modernen ideologie- und kulturmächtigen Massenmedien, dieser für die Konsumtion bestimmten Produkte wie alle anderen Waren auch, besser gesagt sie klärten das deutsche und europäische Publikum über die ihnen im Nachvollzug der fortgeschrittenen USamerikanischen Verhältnisse bevorstehenden Kulturrevolution auf. Dabei machten sie wohl als erste Kulturphilosophen auf die dominierende Rolle der Massenmedien aufmerksam, die in jener Zeit in den USA hinter dem Rücken der Europäer in den Vordergrund der Kulturproduktion gerückt waren. Sie fragten nach den Bilanzen der Massenmedien in Bezug auf aufklärerische Elemente und Strategien, die die Persönlichkeitskultur der Konsumenten betreffen, ob sie mithelfen, die Rezipienten zu citoyens éclairés im Sinne der klassischen Aufklärung zu machen, die sie mithin in den Stand setzen, ihre Rolle als Vollmitglied der modernen Zivilgesellschaft zu spielen und nicht bloß unbeteiligte aber betroffene Zuschauer zu sein.

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Diese Fragen haben die beiden Hauptvertreter der Frankfurter Schule unter Verweis auf die Inhalte und Strukturen der massenmedialen Texte zu beantworten versucht. Analog zur Behauptung Postmans von ihrer zerstörerischen Wirkung auf die Schule behaupteten sie in der Nachfolge des Kulturpessimismus von Montesquieu und Rousseau die sich in diesen Produktionen manifestierende Destruktivität in Bezug auf die Persönlichkeit, was der wahre Sinn des Titels ihres diesbezüglichen Artikels Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug in ihrem gemeinsamen Werk Dialektik der Aufklärung (1998) ist, das sie 1944 aufgrund ihrer empirischen Erfahrungen mit der Vermarktung der Kulturprodukte in den USA verfassten, wobei auch der Begriff „Kulturindustrie“ als neuer kultur- wie wirtschaftswissenschaftlicher Terminus auf die beiden Autoren zurückgeht. Dabei darf man nicht übersehen, dass der sich in diesem Artikel ausdrückende Kulturpessimismus sich auf die ganze Epoche bezog und die „Dialektik der Aufklärung“ auch geistige Aufarbeitung des Hitlerfaschismus ist. Sie sahen im Nazismus die restlose Rücknahme der Aufklärung. Adorno erklärte bekanntlich, dass nach Auschwitz Dichten nicht mehr möglich sei. Ich glaube, dass ihre Aufmerksamkeit zunächst von der ungemeinen Spannung bzw. Schere zwischen den hohen geistig-kulturellen Ansprüchen der in der Sekundarschule wie in den Feuilletons vorrangig behandelten sogenannten „hohen“ Literatur und Kunst einerseits, und den von den Massen nahezu ausschließlich konsumierten Trivialprodukten der Kulturindustrie, als da sind Dödelmusik, Disney- und Horrorfilme, Schlager sowie die als kitschig denunzierten Kriminal- und Liebesromane erregt wurde. So schreibt Adorno, der bekanntlich auch Musiktheoretiker und Komponist-Arrangeur war, unter indirektem Bezug auf Walter Benjamins Analysen des Kunstwerks im Zeitalter seiner durch die Kulturindustrie ausgenutzten technischen Reproduzierbarkeit: Kein Palestrina konnte die unvorbereitete und unaufgelöste Dissonanz puristischer verfolgen als der Jazzarrangeur jede Wendung, die nicht genau in den Jargon passt. Verjazzt er Mozart, so ändert er ihn ab nicht bloß, wo jener zu schwierig oder zu ernsthaft wäre, sondern auch, wo er die Melodie bloß anders, ja wo er sie einfacher harmonisierte als heute der Brauch. (Horkheimer/Adorno 1998, 135)

Der Artikel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ fand in der ganzen intellektuellen Welt der Nachkriegszeit allergrößte Resonanz, weil hier die neuen Phänomene der industriemäßigen Fertigung von Massenkunst, vor allem auf dem Gebiet der Literatur und des Films sowie der Reklame, einer soziologischideologischen und kritischen Analyse als Ausdruck von negativer Dialektik – im Unterschied zu den üblichen technik- und fortschrittsapologetischen Darstellun246

gen in Presse und Popularwissenschaft – unterzogen wurden, wohl wissend, dass dieser Trend in der Nachkriegszeit die gesamte westliche Welt überfluten würde. Die Kulturindustrie – schon der von Adorno und Horcheimer gewählte Terminus „Industrie“ signalisiert ihren Ursprung aus der Wirtschaft wie ihre ökonomische Funktion – sahen sie als ökonomisch-geistige Herrschaftsausübung, als „Modell der ökonomischen Riesenmaschinerie“ (ibd.) an, die kritisches Denken und aktives Verhalten der Individuen in der modernen Gesellschaft zugunsten gesellschaftlicher Abstinenz, Unverbindlichkeit des Amüsements und Akzeptanz gegenaufklärerischer Ideologie verdrängt. Die nachfolgende Entwicklung bestätigte voll und ganz die Prognosen der beiden Frankfurter Philosophen. Dabei könnte der Bezug auf die Kunst den Eindruck erwecken, es gehe ihnen vordringlich um den Gegensatz „Trivialkunst vs. Kunst für die Elite,“ zumal von der avancierten, d. h. avantgardistischen Kunst als „Widerpart“ der Kulturindustrie die Rede ist. (ibd., 136) Doch bei Adorno/Horkheimer ist die Popularkunst nur ein Beispiel für das Wirken von Kulturindustrie. Sie schreiben nicht als Kunstwissenschaftler, sondern als Überlebende des von Horkheimer gegründeten und geleiteten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, dessen Name ein Programm war. Es ging ihnen also primär um die geistig-sozialen Inhalte der medialen Text- und Bildproduktionen. Den Anmarsch der Gegenaufklärung im nordamerikanischen Teil des Abendlandes erblickten sie in den Illustrierten, im Populärfilm, der Unterhaltungsindustrie und dem Reklamewesen, Phänomene, die ihrer Ansicht nach aus rein kommerziellen Gründen die massive Entmündigung, oder wie sie grob sagen die „Verdummung der Menschen“ in Kauf nahm – man erinnere sich, dass für den Aufklärer Kant eben die Mündigkeitserklärung des Menschen die große Tat der Aufklärung war – um daraus auf die Aufklärungsfeindlichkeit des massenmedialen Diskurses zu schließen. Laut Adorno und Horkheimer ist der Trivialdiskurs der Diskurs der Simplifizierung, des Verschweigens und der Lüge. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass beide Autoren „Aufklärung als Massenbetrug“ definieren (ibd., 128). Damit meinen sie, dass hier billige und somit wertlose Produkte unter der Maske „hoher Kunst“ teuer verkauft werden, was einen Betrug des Käufers dieser Billigware darstellt. Als Hauptartikel der Kulturindustrie charakterisieren Horkheimer/Adorno das Amüsement: Diesem ist immer schon das geschäftlich Angedrehte anzumerken, der sales talk, die Stimme des Marktschreiers vom Jahrmarkt (...) Vergnügtsein heißt Einverstandensein. Es ist möglich nur, indem es sich gegenüber dem Ganzen des gesellschaftlichen Prozesses

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abdichtet, dumm macht (...) Vergnügen heißt allemal nicht daran denken zu müssen, das Leiden zu vergessen, noch wo es gezeigt wird. Ohnmacht liegt ihm zu Grunde. Es ist in der Tat Flucht, aber nicht, wie es behauptet, Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen hat. (ibd., 153)

Sie meinten den Effekt dieser Art Kulturindustrie, den der Gesellschaft entfremdeten Rezipienten, der das Gegenteil des aufgeklärten Staatsbürgers, des citoyen éclairé ist, und die mit Erfolg das Banale und Nebensächliche auf Kosten der wirklichen und existentiellen Probleme der Menschheit, der Gesellschaft und der Individuen hyperstasiert bzw. letztere sogar ersetzt. Diese von Horkheimer/Adorno konstatierte Tendenz der damaligen, noch sehr traditionellen Medien sind durch die moderne, nunmehr elektronisch betriebene Kulturindustrie nicht widerlegt, sondern bestätigt worden. Die Kritik der Autoren des Sammelbandes Französische Aufklärung (1979), die beiden Frankfurter Kulturologen hätten nur die innerkapitalistischen und daher fälschlich für ewig gehaltenen Widersprüche der Konkurrenzgesellschaft in Anschlag gebracht, jedoch den dialektischen Hauptgegensatz zum Sozialismus und zum Kommunismus übersehen, geht ins Leere, zumal der Kapitalismus sich heute ja keineswegs als eine bloße Durchgangsetappe der Menschheitsentwicklung erweist und zudem der abenteuerlichsten Anpassungs-Metamorphosen fähig ist. Es gibt also keinen Grund, diese erste Analyse und Chronik des modernen gegenaufklärerischen Diskurses ausgerechnet in einem Augenblick klein zu reden, da man sich der Aktualität des vor 250 Jahren entstandenen Aufklärungsdiskurses vergewissern sollte. 1944 schrieben die beiden Dioskuren der Frankfurter Schule über die massenmediale Dialektik von Freiheit und aufklärendem Denken: Wir hegen keinen Zweifel, dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genau so deutlich erkannt zu haben, dass der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal. (ibd., 3)

Die Frankfurter Schule ist in lockerer Verbindung zum Marxismus entstanden, jedenfalls kannte Adorno laut Habermas den Marxismus besser als der Kommunist Walter Benjamin. So haben sie natürlich auch die von Marx wie auch von dem von ihnen ebenfalls mit Gewinn rezipierten Weber vertretene materialistische These der Basisrolle der Wirtschaft gekannt und geteilt und die kapitalistische Expansion, den Kommerz und die Marktwirtschaft als Hebamme der Kulturindustrie überhaupt erkennen können. Sie sahen in der Kulturindustrie 248

die erfolgreiche Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten für überschüssiges Kapital und damit nach neuen Absatzmöglichkeiten für das neue Produkt „Kultur“. Neue massenweise Rezeptionsfähigkeiten und damit exploitierbare Bedürfnisse für Produkte der Kulturindustrie entstanden durch mehr Freizeit, erhöhte Allgemeinbildung und höhere Einkommen auch der ungebildeten Schichten. All dies war den Frankfurtern natürlich geläufig. Aber sie sahen ähnlich wie übrigens Friedrich II. in seiner Anti-Holbach-Rezension, dass das nicht zur akademisch gebildeten Kulturelite gehörende Massenpublikum nach wie vor im Vergleich zu ersterer über ein mangelhaft entwickeltes intellektuell-philosophisches Rezeptionsvermögen verfügt, so dass nicht wie unter dem deutschen Faschismus die bewusste Verdummung und Ideologieverbreitung der Zweck war, sondern eher ein aus Gründen der Vermarktung und des Profits in Kauf genommenes Ergebnis. Die systemerhaltende Ideologieverbreitung ergab sich dabei ebenso gratis wie die Naturkraft in der Energieerzeugung aus Wasserkraft. Das massentriviale Rezeptionsniveau betrifft nicht nur die Form der Trivialkultur, sondern auch deren Inhalte, die meist nicht nur keinen über die Gesellschaft, die Welt, die Natur und die Menschheit und die Lebensprobleme des Alltags „aufklärenden“, informierenden Charakter tragen, sondern indirekt gegenaufklärerisch wirken, insofern sie Schein- und Ersatzlösungen, Illusionen über die Wirklichkeit, über die Machtverhältnisse, die Besitzverteilung und die ökonomischen Zusammenhänge anbieten – eben moderne „Mythologien“ – und damit in den Individuen ein falsches Bild der Wirklichkeit, ein falsches Weltbild und auch ein falsches Selbstbild sowie als lebenswirklichen Reflex das von der Frankfurter Schule sogenannte „Leben im Falschen“, das komplett falsche Bewusstsein erzeugen. Aber sie sahen auch, dass diese Ideologisierung der Massenmedien eine­r in den Massen vorhandenen Denktendenz entgegenkam, das auf ihrer im Vergleich zu den Intellektuellen und der gebildeten Bourgeoisie nicht, wie oft überheblich-diskriminierend behauptet, „Unbildung“, wohl aber im klassischen Sinn des 18. Jahrhunderts auf ihrer kulturellen Unaufgeklärtheit beruht. Adorno/Horkheimer schreiben diesbezüglich: „Die Befreiung, die Amüsement verspricht, ist die vom Denken“ (ibd., 153). „Donald Duck in den Cartoons wie die Unglücklichen in der Realität erhalten ihre Prügel, damit die Zuschauer sich an die eigenen gewöhnen.“ (ibd., 147) Noch schärfer formulieren sie an anderer Stelle den gleichen Gedanken des Selberbetrogenwerdenwollens der Massen: Wie freilich die Beherrschten die Moral, die ihnen von den Herrschenden kam, stets ernster nahmen als diese selbst, verfallen heute die betrogenen Massen mehr noch als die Erfolgreichen dem Mythos des Erfolgs. Sie haben ihre Wünsche. Unbeirrbar beste-

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hen sie auf der Ideologie, durch die man sie versklavt. Die böse Liebe des Volkes zu dem, was man ihm antut, eilt der Klugheit der Instanzen noch voraus. (ibd., 142)

Man hat bis heute nicht überzeugend die Thesen der Frankfurter Schule von den durch die Antiaufklärungsideologie betrogenen Massen ad absurdum führen, sie nicht falsifizieren können, sie sind, im Gegenteil, empirisch belegbar und wirken Anfang des 21. Jahrhunderts noch genauso so verblüffend wirklichkeitsadäquat oder noch realitätskonformer als zur Zeit ihrer Entstehung. Immanuel Kant hat an seine bekannte Definition der Aufklärung als Abwerfen der Unmündigkeit folgenden wesentlichen Zusatz angefügt: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ – Man braucht nicht erst diese pertinente Forderung auf ihre Verwirklichung durch den heutigen massenmedialen mainstream-Diskurs zu überprüfen, sondern muss sogleich fragen, ob es überhaupt dessen Ziel ist und sein kann, die Menschen zu dem Wagnis eigenen Denkens zu überreden. Kurz gesagt: es gibt Anlass genug, sich wieder mit der modernen kritischen Literatur zu befassen, die sich mit dem janusköpfigen Weiterleben der klassischen Aufklärung in der gegenwärtigen massenmedial gesteuerten Welt auseinandersetzt. Dabei besteht die Kunst des Kulturkritikers darin, aus den Produkten der Kulturindustrie auf ihre Wirkung auf die Köpfe der Rezipienten, ihre Denkstrukturen und ihr Weltbild, also auf ihr durch letztere erzeugtes inneres Modell der Wirklichkeit, das eine moderne Mythologisierung derselben darstellt, indirekt zu schließen. Denn Adorno/Horkheimer verfügten über keinerlei diesbezügliche statistische bzw. demoskopische Angaben. Bei der kritischen Revue der hauptsächlichsten modernen Kulturphänomene fällt sofort auf, dass die Hauptthemen des 18. Jahrhunderts weiterhin aktuell und präsent und also nicht abgearbeitet und erledigt sind: es gibt nach wie vor Vorurteile, Intoleranz, Kriege und Kolonialkriege, Fremdenfeindlichkeit und blinden Nationalismus.

Roland Barthes’ semiologische Kritik des Modernemythos Die Recherche von Adorno und Horkheimer über die Gegenaufklärung wurde mit moderner, dem spezifischen Gegenstand: der Sprache der Kulturindustrie, angemessener semiologischer Methodologie weitergeführt von dem französischen Strukturalisten und Semiologen Roland Barthes (1915–80) in seinem Werk My­ thologies aus dem Jahre 1958, das schon im Titel bewusst an die Mythologiekritik der klassischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts anknüpft. Ottmar Ette sieht in seiner bereits 1998 erschienenen Monumentalmonographie Roland Barthes Eine 250

intellektuelle Biographie Barthes’ kulturelles Projekt der Mythologiekritik ausdrücklich als Fortsetzung des cartesianischen Rationalismus und der Aufklärung: Die Semiologie wird zum Herzstück von Barthes’ kulturellem Projekt, das in seiner rationalen, ideologiekritischen Stoßrichtung letztlich auch ein im Habermasschen Sinne aufklärerisches, auf eine Demaskierung des (bürgerlichen) Mythos abzielendes gesellschaftskritisches Projekt ist. Das Ziel der Überwindung der Entfremdung wird hier auf der Basis strukturalistischer Untersuchungen weiterverfolgt (...) und auf den Kontext der Massenkultur (mit Hilfe des neuen Wissenschaftsparadigmas des Strukturalismus, HOD) ausgedehnt. (Ette 1998, 124)

Als nahezu einzige zeitgenössische Gegenposition zum Chor der Gegenaufklärung im literarischen Bereich nennt Barthes Bertolt Brecht, der die modernen Mythen auf die alltägliche Lebenswirklichkeit zurückführe mittels der Verfremdung (distancement) als eines Hauptinstruments der eigentlich dem Kapitalismus obliegenden Entzauberung, die er außer bei diesem deutschen kapitalismuskritischen, um nicht zu sagen antikapitalistischen Dramatiker in Ansätzen noch in den Filmen Charlie Chaplins oder bei Außenseitern wie dem heute vergessenen Dramatiker des französischen absurden Theaters Arthur Adamov vorfindet. Der Strukturalist und Kulturhistoriker Barthes verweist sehr engagiert auf die seriösen Forschungen „integrer“ französischer Ethnologen wie Mauss und Lévi-Strauss und ihre Bemühungen, die „Neger“ zu entmystifizieren und mit zweideutigen Begriffen wie „primitiv“ und „archaisch“ vorsichtig und zurückhaltend umzugehen, also Aufklärungsarbeit gegen die in einem kolonienbesitzenden Land weit verbreiteten rassisch-ethnischen Vorurteile und Stereotypien zu führen. Er spricht in diesem Zusammenhang ganz im Geist der klassischen Aufklärung vom „divorce accablant de la connaissance et de la mythologie,“ von der erdrückenden Trennung zwischen Erkenntnis und Mythologie. Wichtig seine Anerkennung des enormen und schnellen Fortschritts der Wissenschaften in den letzten Jahren (also Mitte des 20. Jahrhunderts) angesichts des wie er schreibt jahrhundertealten Zurückbleibens der kollektiven (Alltags) Vorstellungen (der Massen), die im Irrtum befangen bleiben, und macht als Schuldige an diesem Zustand der Stagnation des Alltagsbewusstseins drei unheilige Instanzen aus: „le pouvoir, la grande presse et les valeurs d’ordre“ (87), die Staatsmacht, die große Presse und die Ordnungswerte. Zu der von Adorno/ Horcheimer vorgenommenen Fokussierung der Gegenaufklärung auf die Massenmedien kommen für ihn also auch die staatlichen Machtinstanzen und die durch diese gesellschaftlich verbreiteten Wertorientierungen hinzu. Barthes stellte bei seinen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen in der Alltagswelt der Menschen, der ihn umgebenden Pariser, und in den die251

sen Alltag beschreibenden journalistischen, damals sich vor allem noch mittels Printmedien artikulierenden Massenmedien ein von diesen verbreitetes mythologisierendes Denken fest. Dieses materialisierte er in den „Mythologien“, kleinen lebensweltlich orientierten Artikeln, Glossen und Betrachtungen, die er später in einem Band mit diesem Namen herausgab, der in der Öffentlichkeit, zumal in den Feuilletons, einiges Aufsehen erregte. Die deutsche Übersetzung als „Mythen des Alltags“ trifft den von Barthes gemeinten Sachverhalt genau, dass nämlich im Alltagsdenken der einfachen Menschen von der Straße, in ihrer Lebenswirklichkeit und Lebensführung, wie auch in der von der Journaille in den Massenmedien verbreiteten Weltsicht ein mythologisches, ja mythologisierendes Denken dominiert, das strukturell den seit den Urzeiten verbreiteten, auf Aber- und Wunderglauben beruhenden Mythen entspricht, die ihrerzeit von den Aufklärern durch den konsequenten Rekurs auf die Wissenschaften unter Einsatz ihres neuerworbenen Rationalismus entlarvt und bekämpft wurden. Barthes sah gewissermaßen im massenmedialen Wirklichkeits- und Weltbild die Rückkehr der Magie in die Moderne. Er erklärte in seiner theorieorientierten Abhandlung Le mythe, aujourd’hui (Der Mythos, heute) diese Rückkehr voraufklärerischen Denkens nicht wie die Frankfurter Schule vorrangig mit soziologischen und ökonomischen Interessen der industriellen Produzenten, sondern mittels der von dem Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure in Genf in seinem Cours de linguistique générale entwickelten Semiologie, der Lehre von den Zeichen überhaupt, nicht nur der umgangs- und verkehrssprachlichen, auch der bildlichen und gestischen. Barthes beginnt seine diesbezügliche Erklärung der Mythen mit dem Hinweis, dass Mythe „Sage“ bedeutet, womit er sowohl auf die archaische oralliterarische Gattung als auch das „Singen und Sagen“ überhaupt anspielt. Ich bediene mich im folgendem der von Georg Klaus entwickelten Terminologie: Das „Sagen“ bzw. die „Sagen“ stellen die sprachliche Ebene des menschlichen Denkens dar, dessen Diskurs, der die Dinge der wirklichen Welt, die auf der ontologischen, der Seinsebene existieren, „bezeichnet“, was ihren „sigmatischen“ Bezug meint. Barthes spricht immer wie auch Saussure von der Relation signifiant-signifié. Doch dient die Sprache vor allem der – pragmatischen und lebensalltäglichen – Kommunikation zwischen den Menschen, drückt sie gleichzeitig semantische Bezüge aus, indem sie etwas Gedankliches „bedeutet’“, nicht nur etwas Ontisches bezeichnet. Das Bedeutete, das signifié also, muss daher im Unterschied zum „Bezeichneten“ gar kein ontisches Korrelat in der Realität haben, kann auch falsche oder sogar inexistente Sachverhalte, sogenannte Fiktionen, d. h. „Mythologien“ meinen, wofür wir fälschlich ebenfalls „bezeichnen“ sagen. 252

Der routinierte, sprachgewohnheitsgemäße Umkehrschluss im ungeschulten Alltagsdenken besteht jedoch laut Barthes darin, allen Bedeutungen Bezeichnungscharakter zu unterstellen, also bloß Gedachtes für Wirkliches zu halten, alle Semantik als Sigmatik zu behandeln. Dabei werden bei mangelnden wissenschaftlichen, vor allem naturwissenschaftlichen Kenntnissen, also bei sogenannter „Unwissenheit“, alle nicht begriffenen natürlichen Phänomene der eigenen empirischen Praxis entsprechend subjektiven Ursachen, also imaginären handelnden Subjekten, zugeschrieben. So wird statt Evolution der Natur eine Erschaffung der Welt durch ein göttliches Subjekt angenommen, was sich in den Kosmogonien aller Völker wie eben auch in der jüdischen Bibel widerspiegele. Dieses subjektivistische Kausaldenken hat der deutsch-mexikanische Ethnologe Carlos Lenkersdorf in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel Leben ohne Objekte als heutige mythologische Weltsicht des Mayastammes der mexikanischen Tojabales beschrieben. Der von den Aufklärern vielfach angegriffene Wunderglaube als Aberglaube wie überhaupt der Aberglaube als solcher, als Denkstil der Unaufgeklärten, z. B. der Glaube an Hexen als Verursacher von Krankheiten Dritter, gehört in diese falschen kausalen Subjektzuweisungen, die für objektive Wirkungszusammenhänge stehen. Barthes vereinfacht die Darstellung dieses semiotischen Sachverhalts dahingehend, dass er zwei Gleichungen setzt, zum einen die Relation signifiant-signifié – Bedeutendes-Bedeutetes – und auf dieser aufbauend eine neue Relation, in der das ursprüngliche signifié, also das primäre Signifikat, durch Funktionsumwandlung selber zu einem weiteren signifiant, also einem Signifikanten zweiter Ordnung wird, eine geistige Operation, die an Zauberei grenzt, weil sie die Zwischenstufe überspringt bzw. ausschaltet. Der neugeschaffene Signifikant ergibt ein weiteres, ursprünglich höchstens konnotativ existierendes signifié, ein mythologisches Significat, das, wenngleich vom Rezipienten und Sprecher nahezu unbemerkt, ideologisch aufgeladen ist, so dass keine unverstellte, unverfälschte Wiedergabe der Realität mittels sprachlicher Kommunikation und also keine „Aufklärung“ über dieselbe erfolgt, die vielmehr nur Schein ist, diese nur mythologisiert. Barthes sieht wie Adorno und nach ihm Eco, Todorov, MacLuhan und Neil Postman das Hauptfeld der Gegenaufklärung in der eben diese semiotische Vereinfachung praktizierenden Trivial- oder Massenkultur und daher die Notwendigkeit einer prinzipiellen Aufklärungsarbeit über diese. Er votiert nicht für ihr Verschwinden, sondern für ihre Verwandlung in einen allgemeinverständlichen und sozusagen popularischen – nicht populistischen – leichtverständlichen aber eben aufklärerischen Diskurs. Deshalb wird für ihn laut Ette die „Überwindung des großen Schismas“ (Huyssen) zwischen hoher Kultur, Volkskultur und Mas253

senkultur – was auf einer höheren semantischen Abstraktionsebene liegt als der übliche innerliterarische Dissenz zwischen Avantgarde und Trivialliteratur  – zum Hauptproblem. Es geht mir hier nicht um den semiologischen, sondern um den ideologischen Status der Trivialkultur, weshalb von mir die mit dieser verbundene Geschmacksfrage, die Frage des von Umberto Eco sogenannten „schlechten Geschmacks“, genau so wenig wie die nach ihrem ästhetischen Status, die formalästhetische Frage, gestellt wird, es vielmehr bei der ideologiekritischen Darstellung der Massenkultur als gegenaufklärerischem oder zumindest nichtaufklärerischem Phänomen sein Bewenden haben muss. Die modernen Alltagsmythen reflektieren eine Geistesverfassung, die der von Aberglauben und Unwissenheit beherrschten Geistesverfassung der (west)europäischen Bevölkerung aus der Zeit vor der Aufklärung, also vor der Inthronisierung des Rationalismus, analog ist. Sowohl die modernen Alltagsmythen wie die mittelalterliche Volksmentalität „naturalisieren“ laut Barthes menschlich-kulturelle bzw. soziale Sachverhalte, machen sie zu „natürlichen“, gleichsam als ob es keine Natur- und Sozialwissenschaften gäbe. Eine solche mythologisierende Denkweise entdeckt er in den Produkten der von Adorno und Horkheimer beschriebenen Kulturindustrie für die Massen, in der Massenkultur, wogegen die wissenschaftlich gestützte, auf der Sekundarstufe der Volksbildung aufbauende und auf anschließendem akademischen Studium beruhende Hochkultur der Eliten davon verschont bleibt. Hat die Frankfurter Schule vorwiegend die Masssenkultur als Schund im Auge, so insistiert Barthes mehr auf dem dialektischen Gegensatz MassenkulturHochkultur. Er analysierte die Mystifikationseffekte der Alltagsmythologisierung in einer Vielzahl von Bereichen. Dazu war er dank des weitgespannten Fächers seiner kulturwissenschaftlichen Interessen  – er war u. a. Kunstkritiker, Literaturtheoretiker, Filmwissenschaftler, Theaterexperte und Philosoph, besonders jedoch Mythenforscher, Semiologe und Strukturalist – wie kaum ein anderer in der Lage. Ette hat ihn in seiner „intellektuellen Biographie“ als einen der großen paradigmatischen Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewürdigt. Barthes verbindet mit den Aufklärern des 18.  Jahrhunderts wie besonders mit Holbach dieselbe Zweiteilung zwischen wissenschaftlicher Theorie und politischer bzw. Alltagspraxis oder zwischen Philosophie und aktueller Lebenswelt, eine Zweiteilung, die sich bei ihm auch in zwei unterschiedlichen Publikationsformen, Buch auf der einen Seite und kleinere „vermischte“ Genres wie Essays, Artikel, Vorworte und Tagungsbeiträge auf der anderen, äußert. (Vgl. Ette 1998, 28) Diese halb journalistischen, halb essayistischen Kleingen254

res illustrieren je bestimmte Aspekte der zeitgenössischen MythologisierungsIdeologie, die er an konkreten Einzelbeispielen in Bezug auf Inhalt, Form und ideologische Funktion untersucht. Für unseren Problemzusammenhang zwischen Aufklärung und Barthschen Texten ist wie für Adorno/Horkheimer, auf die er sich gelegentlich bezieht, die Tatsache relevant, dass die Trivialkultur das Hauptfeld der Verbreitung gegenaufklärerischer Ideologie ist. Im Unterschied zu ihnen widmet er sich jedoch weniger der die Trivialkultur verbreitenden kommerzialisierten Kulturindustrie als der ökonomischen Grundlage der Massenkultur, als vielmehr den die Massenkultur vermittelnden Medien in Form von Buch, Foto, Film und Reklame und analysiert als Semiologe die in ihnen verwendete Sprache, ihre Symbole, Metaphern, Metonymien, Hyperbeln und Litotes. Seine vielen in der Tagespresse, den Magazinen und Zeitschriften veröffentlichten, in den 1950er Jahren erschienenen ideologie- und sprachkritischen Arbeiten basierten noch nicht wie heute auf wissenschaftlich validierten Enquêten, sondern allein auf der semiologischen Analyse der dem Leserpublikum überantworteten massenmedialen Texte. Er schloss also aus der Produktion auf die Rezeption (Konsumtion) und von dieser auf die von den Konsumenten verinnerlichte und ihre Persönlichkeit konstituierende Mentalität. Diesen journalistischen, narrativen, von ihm kommentierten Texten fügte er am Ende die bereits erwähnte zusammenfassende, riguros wissenschaftliche semiologische Abhandlung mit dem Titel Le mythe, aujourd’hui hinzu. Ette warnt mit Recht davor, diesen Metatext über die Alltagstexte zu stellen, denn letztere sind für den Aufklärer Barthes womöglich charakteristischer als die Abhandlung, belegen sie doch immer wieder seine große Praxisnähe und kritische Durchdringung der Alltagswirklichkeit. (Ette 1998., 121) Das Wesen und Wirken der Alltagsmythen laut Barthes beschreibt sehr bündig der Klappentext der Originalausgabe der „Mythologies“: Unser tägliches Leben ernährt sich von Mythen: Catchen, Striptease, Auto, Reklame, Tourismus ... die uns bald überborden. Isoliert von der Aktualität, die sie geboren hat, erscheint sogleich der ideologische Missbrauch, den sie enthüllen. Roland Barthes gibt darüber für uns Rechenschaft – formuliert in dem Essay über den Mythos heute, der das Werk abschließt, um das Reale mit den Menschen, die Beschreibung und die Erklärung, das Objekt und das Wissen miteinander zu versöhnen. (Notre vie quotidienne se nourrit de mythes: le catch, le strip-tease, l’auto, la publicité, le tourisme... qui bientôt nous débordent. Isolés de l’actualité qui les fait naître, l’abus idéologique qu’ìls récèlent apparait soudain. Roland Barthes en rend compte ici avec le

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souci – formulé dans l’essai sur le mythe aujourd’hui qui clôt l’ouvrage de réconcilier le réel avec les hommes, la description et l’explication, l’objet et le savoir).

Barthes’ Definition des modernen Alltagsmythos: Der Mythos ist ein entpolitisiertes Wort – le mythe est une parole dépolitisée – verträgt sich sehr gut mit der Adorno-Horkheimerschen Definition der Kulturindustrie als Ablenkung, wie sie in dem oben zitierten Passus schrieben: „Vergnügtsein heißt Einverstandensein. Es ist möglich nur, indem es sich gegenüber dem Ganzen des gesellschaftlichen Prozesses abdichtet, dumm macht (...) Vergnügen heißt allemal nicht daran denken zu müssen.“ Barthes’ Mythenbegriff dreht sich nicht mehr wie bei den klassischen Aufklärern um Religionen und Konfessionen, die das menschliche Dasein verzaubern, sondern metaphorisch um die „Verzauberung“, so könnte man in der Terminologie von Max Weber formulieren, der Realität durch die Medien. Noch Weber hatte die Entzauberung, und das heißt die Demystifizierung und Entmythologisierung, die Rückführung der ideologisierten Weltbilder auf die wirkliche Welt, durch eben den nüchternen Kapitalismus als irreversiblen Paradigmenwechsel der Denkweisen gefeiert. Statt religiöser Vorurteile zeigt Barthes im Schreiben und Sprechen und also auch im Denken, das im popularen Schrifttum wie im Film dominiert, bereits den Gipsabdruck des geistigen Profils des künftigen, durch diese Druckerzeugnisse erzeugten Lesers, das durch permanente Verinnerlichung der Klischees qua uniformierende und vereinfachende Wirklichkeitsverfälschung in ihm entsteht. Er sieht in der Dichotomie Trivialkultur vs. Hochkultur gewissermaßen den Gegensatz Gegenaufklärung vs. Aufklärung verwirklicht.

Barthes’ aufklärerische Kritik massenmedialer Apologie der Konsumgesellschaft Ein auf die beschriebene Art sprachlich mythologisierter Wirklichkeitsbereich der Moderne ist für Barthes die sich mit dem Wirtschaftsaufschwung der späten Nachkriegszeit etablierende Konsumgesellschaft als solche. Barthes, der dieses Phänomen wohl als erster als mentalitätsbildend und ideologiestiftend begriff, demonstrierte, wie die von ihm untersuchte Denkweise der sogenannten „Ungebildeten“ moderne Produkte dieser „Wohlstands“gesellschaft wie das Auto, dieses sogar in erster Linie, mythologisiert. Dem vergleichsweise harmlosen Automobilmythos widmet er eine eigene Darstellung. Als Hauptgegenstand der Mythisierung des Konsumismus figuriert hier der neue, frz. „die“ neue Citroen, La nouvelle Citroen (1957, 150). Diese 256

ist eine leblose Maschine und als solche nach Max Weber (1989, 282) „geronnener Geist“. Weber schreibt zum Verhältnis Mensch-Maschine: „Nur dass sie dies ist (geronnener Geist, HOD), gibt ihr die Macht, die Menschen in ihren Dienst zu zwingen“ (ibd.), eine Macht, die von vielen Menschen unter dem Antrieb der „grande presse“ laut Barthes zum ungreifbaren Mythos, der wie eine Naturmacht fungiert, erhoben wird. Die Mythisierung bzw. Mystifikation des Autos besteht seiner Ansicht nach schon darin, dass es nicht mehr als „geronnener Geist“, als Vergegenständlichung menschlichen Konstruktionsvermögens begriffen, sondern wie ein Naturgegenstand und autonomes Wesen behandelt wird. Der implizite massenmedienaffine Vergleich mit imposanten religiösen Errichtungen, den Barthes anstellt, beweist die von ihm behauptete Sakralisierung dieses modernen Transportmittels – Resakralisierung als Hauptmoment moderner Mythologienbildung. „Je crois que l’automobile est, aujourd’hui, l’équivalent aussi exact des grandes cathedrales gothiques.“ (Ich glaube, dass das Automobil heute das ebenso genaue Äquivalent der großen gothischen Kathedralen ist, ibd., 150). Weiter heißt es: „durch seinen Gebrauch eignet sich ein ganzes Volk ein vollkommen göttliches Objekt an, und es kann sein, dass dieses neue Gott-Modell einen Umbruch in der Automobilmythologie hervorruft“ („par son usage, par un peuple entier que s’appropie en elle un objet parfaitement déesse (ibd., 151 f.) Il se peut que la Déesse marque un changement dans la mythologie automobile“). Durch ihr Befühlen durch die Käufer bei der Vorbesichtigung und Probefahrt werde die automobile Göttin quasi in einer Viertelstunde erotisiert und mediatisiert: „La déesse est en un quatre d’heure médiatisée“ (ibd., 152) (im Französischen heißt es „die“ und nicht „der“ Citroen, da „la voiture“, der „Wagen“, in dieser Sprache weiblichen Geschlechts ist). Diese Verwandlung des alltäglichen Gebrauchsobjekts „Auto“ in einen sakralen Gegenstand, der göttliche Verehrung genießt, zum Götzen wird, ist das Gegenteil aufklärerischen Verhaltens, denn dieses hatte sich seinerzeit vehement gegen jede Art Vergötzung gewandt, sie bekämpft und verspottet, aber es hatte im 18. Jahrhundert noch nicht damit rechnen können, dass Dinge, also Produkte des Menschen, einen höheren Wert als dieser erlangen und über ihn Herrschaft ausüben würden, diesen „verdinglichen“, ähnlich dem Golem, dem vom Prager Rabbi Löw im Mittelalter konstruierten künstlichen Menschen. Als logischen Konterpunkt und Gegenvorgang zu dieser Sakralisierung erfolgt dagegen, was Barthes auch vordemonstriert, die „Profanierung“ der hohen Kultur, der Literatur, insofern sie von der Massenkultur, dem Kitsch kontaminiert und sogar dominiert wird.

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Eine Art Mythologisierung, die an das antike Griechenland erinnert, sei die Vergottung des Sports, in Frankreich besonders des Radsports, in Gestalt der Tour de France (Le Tour de France comme épopée: ibd., 110), die gleichsam zur Erneuerung des Epos und seiner antiken oder mittelalterlichen Helden führt, zur Publikumsverehrung für die Giganten der Landstraße und die Spitzenathleten aller populären Sportarten, die von den Medien zu Göttern erhoben werden. Dies gilt noch mehr für die Filmstars der USA-Trivialleinwand, die Barthes vorführt, einer Branche, in der die Vergöttlichung der Stars schon durch die Bezeichnung „diva“ (die „Göttliche“) verbal annonciert wird. In diesem Zusammenhang untersucht er die massenwirksame und „vergöttlichende“ Präsentation des Gesichts von Greta Garbo in ihren Filmen (Le visage de Garbo). Die unter dem Gesichtspunkt der publicity erfolgende vergötternde und vergottende Gleichsetzung von Mensch und Ding wird von Barthes durchschaubar gemacht, indem er sowohl die Garbo als eine diva, als die Göttliche, als Gottheit, genauso und auf derselben begrifflichen Ebene wie den (franz. die) neue (n) Citroen als eine „déesse“, als Göttin bezeichnet: Diva ist Synonym für Göttin, Greta Garbo ist Auto. Sowohl die „sagenumwobene“ Tour de France als auch andere Sportperformancen, so die Catcherkämpfe, die damals en vogue waren, und schließlich Verfilmungen in seinem Kurzessay „Les Romains au cinéma“, (Die Römer im Film), erzeugen laut Barthes immer eine Gleichsetzung von aktueller Schaustellerei, von show business mit den die griechischen Sportolympiaden ablösenden römischen Gladiatorenkämpfen. Die Gedankenassoziation mit dem antiken panem et circences aus den Satiren des Juvenal ergibt sich zwangsläufig, und damit auch die Umfunktionierung aller politischen Evente zu Amüsement, zu Unterhaltung, zu Ablenkung statt Aufklärung, so wie dies begrifflich-abstrakter bereits Adorno/ Horkheimer ein gutes Jahrzehnt zuvor als nur US-amerikanisches Phänomen, und Unterhaltung als Produktion von „Einverstandensein“ mit dem herrschenden System konstatiert hatten. Auf derselben Argumentationslinie, wenngleich mit weniger klarer Einsicht in die konkrete sozialpolitische bzw. ideologische Ablenkungsfunktion des entertainments wird dies später Neil Postman formulieren. Durch den expliziten Vergleich des mit ablenkendem amusement überschütteten Frankreich mit dem „alten Rom“ legt Barthes einen Parallelismus zwischen dem gegenwärtigen Frankreich und dem imperium romanum nahe, die Frage nach der Ablenkungsfunktion von „was?“ Von was soll abgelenkt werden? Das Rom der Kaiserzeit mit seinen auswärtigen sich bis nach Asien, Nordafrika und Germanien/Britannien erstreckenden Provinzen war zugleich das größte Ko258

lonialreich des Altertums, und das Frankreich der 50er Jahre das immer noch wie zur Zeit der Nachaufklärung größte Kolonialimperium der Moderne, das zudem fast dieselben Territorien und Völker wie zur Zeit der Römerherrschaft beherrschte, die übrigens teilweise auch die Einsatzorte der französischen Militärschläge des 21. Jahrhunderts sind. Auch hier ist ein vergleichender Rückblick auf die klassische Aufklärung am Platze, auf ihre Auseinandersetzung mit dem damaligen europäischen Kolonialismus: die Aufklärung als radikale Kritik am ancien régime wurde mit Montesquieus Abhandlung Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, Betrachtungen über die Ursachen der Größe und des Niedergangs der Römer 1734 eröffnet, in dem der Verfasser, indirekt versteht sich, einen warnenden impliziten Vergleich des Großreichs Ludwigs XIV. von Frankreich mit dem imperium romanum anstellte und damit dessen baldigen Untergang, der allerdings noch bis ins Jahr 1789 auf sich warten ließ, prophezeite. Die antikolonialen Bewegungen jenes Nachkriegsjahrzehnts, die mit dem francoalgerischen Abkommen von Evian vom 18. März 1962 erfolgreich abgeschlossen wurden, verglich Barthes seinerseits implizit mit den Sklavenaufständen gegen das römische Imperium bzw. drängte dem Leser einen solchen, das Ende des französischen Kolonialismus nahelegenden Vergleich auf. In dieser Zeit erfolgte ein später aufgegebenes Einverständnis Barthes mit dem Engagement-Begriff Sartres, der sich bekanntlich beispielsweise in seinem Prolog zu Henri Allegs La question, dieser Dokumentation über die Foltermethoden der damaligen Kolonialtruppen Frankreichs in Algerien, persönlich eingemischt hatte. Was die Organe der Mythologisierung betrifft, so untersuchte Barthes die zeitgenössische volkstümliche und Trivialliteratur, Fotographie und Film, vor allem den Illustrierten-Journalismus und diesen besonders in seiner aktuellsten und popularsten Form, der Massen- bzw. Boulevardpresse, auf die von diesen Medien verbreiteten Stereotypien und Vorurteile, was ihn ganz direkt zu einem Nachfahren der französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts machte, die ihrerzeit ebenfalls die Vorurteile, die préjugés, die von den aktiven konzeptiven Ideologen vorfabrizierten Meinungen, die dann vom einfachen Volk verinnerlicht wurden, als Klischees thematisiert und attackiert hatten. Allerdings enthält sich Barthes im Gegensatz zu seinen kritischen Vorfahren aus dem „Jahrhundert der Aufklärung“ jedweder Polemik, greift höchstens zum Mittel der Ironie. Und im Unterschied zu den beiden Dioskuren der Frankfurter Schule betreibt er wenig Ursachenforschung, enthüllt nicht explizit die hinter den von ihm untersuchten sprachlichen Stereotypen stehenden Interessen, obwohl er diese 259

sehr wohl bemerkt. Er sieht weniger auf die Motive der Wort- und Mythenproduzenten als vielmehr auf deren mutmaßliche Resultate in den Köpfen der durch die Medien dressierten Rezipienten. Wenn Neil Postman den Status des Fernsehens für „mythologisch im Sinne von Roland Barthes“ (100) erklärt, so spricht dies dafür, dass sich Barthes’ moderne Mythentheorie in der internationalen Kulturwissenschaft weitgehend durchgesetzt hat. Schon Adorno/Horkheimer hatten explizit festgestellt: es „verfallen heute die betrogenen Massen mehr noch als die Erfolgreichen dem Mythos des Erfolgs,“ – „Erfolg“ als Zentralkategorie der USA-Philosophie des Pragmatismus und des Karrieredenkens. Barthes gelang es, die 50er-bis 60er Jahre durch seine Mythologies kulturwissenschaftlich zu erschließen. Doch er entlarvte nicht nur die ideologischen Manipulationen der Trivialkultur, sondern auch die hauptsächlichsten politischen Ideologeme Frankreichs, die auf die eine oder die andere Art miteinander zusammenhängen, und die ihrerseits ihm wahrscheinlich sogar unbewusste Analogien zu ähnlichen von den Aufklärern des 18. Jahrhunderts behandelten Phänomenen aufwiesen. So griff Barthes, wenngleich ergebnislos, als Journalist in zwei Mordprozesse in der Provinz ein, in denen „unaufgeklärte“ Richter und Anwälte seiner Ansicht nach absolut antiquierte, konservative, ungerechte, mit den modernen forensischen Wissenschaften wie der wissenschaftlichen Psychologie bzw. Psychiatrie nicht in Einklang stehende Ansichten vertraten und Todesurteile fällten und vollstrecken ließen, die seiner Ansicht nach Fehlurteile waren. Diese Prozesse gegen Dupriez und gegen Dominici erschienen ihm wie moderne Neuauflagen der auf Vorurteile und Vorverurteilungen und eben auch auf totalem psychologischen Unwissen gegründeten aufsehenerregenden Justizmorde des ancien régime. Dieses simplifizierende und falsch generalisierende juristische Denken stammt laut Barthes aus „unserer“, also der französischen traditionellen Literatur des document humain, man brauche also nicht erst Kafka zu bemühen. Die Gerichtsmenschen hätten die Psychologie der Medienautoren und -rezipienten verinnerlicht und zur Richtschnur ihres Richtens erklärt, also gegenaufklärerische Trivialliteratur zur gesetzgeberischen Instanz gemacht. Barthes konstatiert so die Rückwirkung der Medien auf die Handlungen realer Personen, hier auf die Richter, und zitiert wörtlich die dies beweisenden entrüsteten, den Angeklagten verteufelnden, „Vorurteile“ reproduzierenden Meinungen des Untersuchungsrichters, des Publikums und sogar der Polizisten und Gerichtsdiener. Ein Todesurteil erging mitten im 20. Jahrhundert laut Barthes allein auf der Grundlage von verinnerlichter Lektüre trivialer Bücher und Medien durch die Juristen. 260

Noch schärfer ist Barthes’ Position in Le procès Dumiez profiliert, in dem ein seiner Meinung nach psychisch Kranker, der seine Eltern aus unklaren Motiven umgebracht hatte, auf die Guillotine geschickt wurde. Hier steht er nicht ab, dieses moderne Gerichtsverfahren mit dem weiter oben schon erwähnten Fall des im 18. Jahrhundert trotz der Proteste Voltaires hingerichteten Calas’ direkt gleichzusetzen. Er nennt das „moderne“ französische Justizwesen direkt „irrational“ (ibd., 104) und vergleicht dessen Praktiken direkt mit den Hexenprozessen des Mittelalters, weil sogar der Verteidiger des Angeklagten in unseren doch aufgeklärten Zeiten von einer „magischen Kraft“ spreche, von der der Angeklagte Dupriez besessen gewesen sei, „ganz wie zu den schönsten Zeiten des Hexenwahns“ (S. 105: „comme aux plus beaux temps de la sorcellerie“). Barthes assoziiert diese Prozesse sogar, für meine Begriffe etwas zu weit ausholend, mit den stalinistischen Prozessen der dreißiger Jahre in der Sowjetunion und ihrer manichäischen Dichotomie von „Gut“ und „Böse“.

Le bon rouge français – Missbrauch des Patriotismus für Reklame Der Rotwein ist ein in Frankreich seit Menschengedenken beliebtes Getränk zum Zweck des Durstlöschens, eines genuin menschlichen Bedürfnisses, wozu noch die spezifisch französische gourmandise beim Verzehr kommt. Letzteres ist das dingliche Signifikat (signifié) des Objekts „Wein“, das in Barthes’ Mythologemtheorie zu einem neuen Signifikanten (signifiant) wird, dessen Significat (signifié) zweiter Ordnung der Wein als Ausdruck der französischen Trinkkultur und der Kultur dieses Landes überhaupt ist, der in Reklame, Folklore und Trivialliteratur zum nationalen Identitätsträger des französischen Volkes avanciert, eine „Bedeutung“ bzw. Konnotation, die der normale Weintrinker kaum je aktualisiert. Dieser nationalistische Symbolismus trifft Frankreichs Rolle als europäische und Weltmacht. Barthes beschreibt wie gesagt nicht den Nationalismus, führt kaum antinationalistische oder nationalismuskritische Narrative vor, sondern akkumuliert bzw. addiert sprachliche Ausdrücke, die per Mythologisierung aus normalsprachlichen, sigmatischen Bezeichnungen nach dem Foucaultschen Schema „Wörter-Sachen“ (les mots et les choses) ganz normale Dinge zu Signifikanten mit nationalistischen Bedeutungen machen. Worauf es Barthes ankommt: Das unumstößliche Ergebnis des Konsumierens der Massenpresse und Trivialliteratur im Denken der Leser ist, folgt man seinen Analysen, keine moderne, vorurteilsfreie, wissenschaftsbasierte Denkkultur, wie sie die Aufklärung erstrebte, sondern die zeittypische Rückkehr zum mythologi261

sierenden, die Wirklichkeit verfälschenden und verkehrenden Denken in wenngleich säkularisierter Form, als profanierte „Mythen des Alltags“. So wird, wie Barthes in mehreren „Mythologien“ vorführt, das Ausland von den Medien-Mythologen sehr selektiv als Konterpart des eigenen Vaterlandes behandelt. Diese semantische Verselbständigung vom ursprünglichen, gebrauchswert­ orientierten Signifikat zum ideologischen Symbol, zum nationalistischen Mythos „französischer Wein“ findet sich sowohl in der kommerzialisierenden Weinreklame wie in Trinkliedern und der Lyrik, und selbst in der deutschen Literatur, so wie es kritisch gegen studentischen deutschen Hurrapatriotismus und Fremdenfeindlichkeit im Faust des francophilen und kosmopolitischen Goethe heißt: Man kann nicht stets das Fremde meiden, Das Gute liegt uns oft so fern. Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, Doch ihre Weine trinkt er gern. (Johann Wolfgang Goethe: Faust. Auerbachs Keller in Leipzig)

Der europäische Westen und die USA erscheinen für die von Barthes in mehreren Mythologies vorgeführten französischen Touristen sozusagen als Normalität, während die damalige Sowjetunion und das kommunistische Osteuropa sowie die Kolonien als inferior charakterisiert werden, wobei sich mit empirisch gestützten oder evidenzorientierten tatsachengetreuen Aussagen über die Miserabilität der dortigen Regimes Meinungen mischen, die im Sinne der Aufklärung als Vorurteile bzw. als Klischees gegenüber „Russen“ identifizierbar sind. Letztere Tendenz summiert sich in bezug auf die sogenannten Dritte Welt durch Inferiorisierung ihrer Einwohner mittels eurozentristischer Über­ heblichkeit vor dem Hintergrund der Wohlstandsgesellschaft: diese Welt der Schlechterlebenden und -verdienenden wird stereotyp mit Diktatur, Stammeshäuptlingswillkür, Korruption, Massenelend und krasser Unbildung identifiziert, ohne dass rationale historische Gründe für die Existenz dieser Phänomene angeboten werden. Während seit der Nachkriegszeit in offenen demokratischen Gesellschaften Meinungsumfragen angestellt und deren Ergebnisse mehr oder weniger kommentiert publiziert werden  – derartiges wäre in absolutistischen, diktatorialen oder autoritären Regimes undenkbar und auch unsinnig, weil sie eben keine freien Meinungsäußerungen sondern Fälschungen, Manipulationen wären – geht Barthes den umgekehrten Weg, den der Untersuchung dieser Quellen von verinnerlichten Vorurteilen und kurzschlüssigen Verallgemeinerungen in Printmedien, 262

Film, Reklame und Trivialliteratur, die von den meisten Menschen aufgrund ihrer defizitären Vorbildung kritiklos übernommen würden, weil sie die in den Medien beschriebene, also mythologisierte Realität als Realität zu bestätigen scheinen. Aber eigentlich geht es ihm um die Verinnerlichung der von den trivialen – und keineswegs allen – Massenmedien oft durch bloße Gedankenlosigkeit der Redakteure verbreiteten Vorurteile und Klischees durch das Gros der Rezipienten. Die Strategie der Meinungsmache besteht Barthes zufolge nicht in Erfindungen und Lügen, sondern in der Mythologisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeitsphänomene, die dadurch zu Mächten werden, die sich wie die Automobile von den Menschen, ihren Schöpfern, verselbständigen und Macht über sie gewinnen, bzw. an die Stelle der wirklichen Mächte und Macher treten und diese vor dem Blick der Menschen verbergen.

Auslandstourismus als Verkennen des fremden Anderen Den nach dem Nachkrieg und im Zusammenhang mit der sich entwickelnden Wohlstands- und Konsumgesellschaft auch in Frankreich sich ausbreitenden Massenauslandstourismus beschreibt Barthes als Akkumulation von zeittypischen nationalen und okzidentalen Vorurteilen und überkommenen oder neu von den Medien produzierten Stereotypen, deren Verinnerlichung Verständnislosigkeit gegenüber Alterität, anderen Völkern, anderen Kulturen, sogar anderen Ess- und Trinkgewohnheiten mit sich bringt, woraus als wichtiger Sekundäreffekt die mit der eigenen kulturellen Wertüberhöhung korrespondierende Inferiorisierung der fremden Einheimischen folgt. Dadurch wird automatisch ein falsches Bild des Anderen erzeugt, im Widerspruch zu den aufklärerischen Potenzen, die Besuche in fremden Ländern über fremde Völker eigentlich mit sich bringen, und die durch ihren empirischen Augenschein zum Abbau von Stereotypen, Klischees und Vorurteilen führen könnten. Doch weit gefehlt. Für Barthes verstärkt der gewöhnliche kommerzialisierte Auslandstourismus meist die vorhandenen Vorurteile und erzeugt sogar neue, und nicht zu knapp. Dazu wird der Tourist schon durch die von ihm eher beiläufig untersuchten Reklameschriften und -poster der Tourismusbranche animiert. Ein illustratives Beispiel dafür bietet der Spanien-Prospekt des renommierten Guide bleu als Verbreiter billigster Gemeinplätze mitsamt der Bestätigung von altgepflegten Vorurteilen, aus dem Barthes einige Glanzstücke deformierender Information herauspickt. Von diesem populärsten und traditionsreichsten Reiseführer Frankreichs schreibt er unter Hinweis auf dessen penetrant triviale Klischeebeschreibungen:

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Der guide bleu kennt kaum eine Landschaft anders als unter der Form des Pittoresken. Pittoresk ist alles Unwegsame. Hier findet man diese bürgerliche Hochschätzung des Gebirges, diesen alten Alpenmythos wieder, den Gide zu Recht mit der helveto-protestantischen Moral assoziierte und der immer funktioniert hat als ein Bastardgemisch von Naturalismus und Puritanismus.

Statt lebendiger Individuen existieren in diesem Reiseführer nur (folklorischregionale) „Typen“. In Spanien sei der „Baske“ diesem simplifizierenden klischeehaften Reduktionismus zufolge ein abenteuersuchender Seemann, der Levantiner ein fröhlicher Gartenbauer, der Katalane ein geschickter Kaufmann und der Cantabrier ein sentimentaler Bergbewohner. (ibd., 122) Diese ethnisierende Darstellung des Guide widerspiegele den essentialistischen Mythos vom „Wesen des Menschen“ – eine weitere nur „nebenbei“ von Barthes erwähnte Mythologie – dessen unwahrscheinliche, also falsche Typologie dazu diene, das wirkliche Schauspiel der Verhältnisse, der Klassen und der Berufe zu maskieren, also zu verbergen. (ibd., 22) Dabei geht es Barthes weniger um den konkreten Fall der Spanien-Ausgabe des Guide bleu als vielmehr um die mediale Erzeugung nicht nur von falschen Bildern des Auslands durch ein populares Medium, sondern auch von Nationalismus, nationaler Überheblichkeit und Verachtung ärmerer Völker in den Rezipienten. Die meisten französischen Massenmedien sind Guides bleus in ihrer Auslandsberichterstattung, will er uns sagen, womit er auf die in den Köpfen der Touristen bereits vorfabrizierte Mentalität und entsprechende „Vorurteile“ über die andere Realität verweist (wobei er weniger auf „exotistische“ Sichten des Auslands durch einen anderen weniger häufigen Touristentyp verweist, der alles dort Gesehene kritiklos interessant findet). So demonstriert er beispielsweise in La croisère du Batory, wie Vorurteile in den Köpfen französischer Touristen durch die Reisebüros erzeugt worden sein müssen, weil sie über eine Realität urteilen, die sie empirisch noch gar nicht kennen. Er sammelt in diesem Artikel die Reaktionen einer der ersten – wohlbetuchten – französischen Touristengruppen, die die Sowjetunion an Bord des gleichnamigen Überseedampfers in der beginnenden Tauwetterphase des Kalten Krieges besuchten. Darin registriert Barthes nicht nur die politisch sozusagen korrekte Kritik an der miserablen sowjetischen Wirklichkeit, sondern auch die Äußerungen von krassem Nichtwissen und Unverständnis und vor allem von (nationalen) Vorurteilen gegenüber den Bewohnern des Landes und ihrer von dem Sowjetsystem doch relativ unabhängigen eigenen Kultur, pickt ihre von ihnen undifferenziert und unreflektiert vertretenen Klischees und Vorurteile heraus, denen man ihre Herkunft aus den massenmedialen Beschreibungen über den „primitiven“ Os264

ten und die kulturell natürlich tieferstehenden „Russen“ bzw. „Slawen“ anmerkt, wobei die oft erbärmlichen, im übrigen aber in vielen ländlichen Regionen des europäischen Südens und Westens ebenfalls anzutreffenden vorzivilisatorischen Verhältnisse derartige Mythologisierungen fördern, ihnen den Schein von Wahrheit verleihen. Auch hier geht es Barthes weniger um die zweifellos auch vorhandene semantische Unexaktheit und mangelnde Stimmigkeit der Beobachtungen und Bemerkungen der Touristen als vielmehr um die sozusagen tendenziöse Darstellung der fremden Menschen als verächtliche und bedauernswerte Wesen und die damit von den Medien vermittelte sowohl verfälschende als auch inferiorisierende Sicht, die die Touristen verinnerlicht haben: „Weil es von nun an Bourgeoisreisen nach Sowjetrussland gibt, hat die große Presse damit begonnen, einige Mythen zur Assimilierung der kommunistischen Wirklichkeit zu elaborieren“, (ibd., 130) so beginnt er diesen Kommentar. Bewertungsmaßstab für diese durchaus nicht hochgebildeten Besucher aus dem Westen ist die französische Kultur, auf die sie stolz sind, und durch die sie sich selber infolge ihrer Teilhabe zivilisatorisch aufgewertet sehen, wobei Barthes auch auf so manche durch deren eigene Unbildung hervorgerufene Irrtümer verweist. Auch fühlen sie sich geschmeichelt durch die Unterwürfigkeit, Minderwertigkeitskomplexe und Zeichen der Bewunderung der einheimischen Russen für sie. Ferner referiert er herablassende bzw. kritische Kommentare, die unter Verzicht auf grobe politische Denunziation und in gewissem Kontrapunkt zu diesen das Alltagsleben „auf der Straße“ in seinem schlichten unzivilisierten Anderssein „neutral“ und zugleich spießbürgerlich-kleinkariert schildern. Doch diese ehrbare Zurückhaltung hindere in keiner Weise den Touristen Macaigne daran, schreibt er, auf einige unglückliche Erscheinungen im unmittelbaren Leben aufmerksam zu machen, die geeignet seien, die barbarische Wirklichkeit Russlands in Erinnerung zu rufen: Die russischen Lokomotiven nämlich lassen ein langes Blöken hören, das keinen Vergleich mit dem Pfiff der unsrigen aushält: die Bahnsteige sind aus Holz, die Hotels schlecht geführt, und an den Waggonwänden sind chinesische Schriftzeichen, (das Thema der gelben Gefahr). Noch ein weiterer Fakt, der enthüllt, wie zurückgeblieben die Zivilisation hier ist: es gibt keine Bistrots in Russland, nichts als Birnensaft. (ibd., 131 f.)

Barthes’ Kritik des französischen Kolonialmythos Barthes’ halb wollüstige, halb mitleidige mediale Beschreibung sowjetischen Elends und russischer „Bären“-Mentalität bildet den Übergang zur Darstellung der Kolonialwelt aus der Perspektive des Massentouristen. Es geht mir hier nicht 265

um die durchaus auch vorhandene scharfe Kolonialismuskritik von Roland Barthes, sondern um seine Kritik der Apologie des Kolonialismus, um dessen Mythologisierung in den trivialen, also nicht in allen Massenmedien, die kolonialistisches Vorurteilsdenken als Teil des normalen Volksbewusstseins verbreiten. Beim Exempel des Rotweins als Monument französischer Trinkkultur und mythologisierendes significant französischer Identität und Frankreichs kultureller und politischer Weltmachtrolle ist la douce France als Mutter der Kolonialvölker nicht weit. Durch seinen Nachweis der meist unkritischen Sicht der Kolonialpolitik und kolonialen Vergangenheit des französischen „Mutterlandes“ – das weitgehende Ignorieren der militärischen Interventionen, Überfälle und Eroberungen, so von Quebec unter Heinrich IV. und Minister Sully und von Louisiana und Westindien (Haiti, Gouadaloupe, Guayana) unter Ludwig  XIV. und Minister Colbert bis zu den vielen französischen sich seit dem frühen 19. Jahrhundert regelmäßig wiederholenden Militärinterventionen in Südostasien, in Nordafrika und Mali — charakterisiert Barthes die defektive Erinnerungskultur der französischen Touristikbranche in den diebbezüglichen kritischen Beschreibungen als nationalistische Mythologie. Daher war seine semiologische Kolonialismuskritik ein Nachholen antikolonialistischer Positionen. Was er mittels der aktuellen Sprachanalyse im Jahre 1957 feststellte – also zu einem Zeitpunkt, da der Kolonialkrieg der Franzosen in Nordafrika für eine Algérie Française gegen das von der FLN geführte algerische Volk bereits drei Jahre, seit 1954 tobte  – war ein durch Mythologisierung gleichsam vernatürlichtes kolonialistisches Denken als verbal-mythisches Komplement zum mit modernen Vernichtungswaffen brutal geführten Krieg der Franzosen. Deshalb ist seine Sprachanalyse ein frühes antikolonialistisches Dokument der Nachkriegszeit. Bichon chez les nègres (ibd., 64–67) ist eine von Barthes der Pariser popularen Trivialillustrierten Match entnommene Geschichte, die er den „kleinbürgerlichen Mythos vom Neger“ nennt. le nègre ist ein an sich kolonialistischer, diskriminierender, vom offiziellen Diskurs als politisch inkorrekt verpönter Ausdruck für „den Schwarzen“, eine Farbbezeichnung, die zwischen Kritik und Verbrämung des Kolonialismus schwankt. Bichon ist ein kleiner Junge, der von den Eltern auf eine Reise nach Afrika mitgenommen wird, und der allein, als schutzloses „blondes“ Kind, unversehrt alle Wildnisgefahren des barbarischen, unzivilisierten Afrika wie Stromschnellen, Raubgetier und Tropenkrankheiten übersteht. Der Name dieses „Landes der Roten Neger“ assoziiert bereits eine erschreckende Ambiguität zwischen der Hautbemalungsfarbe und dem Menschenblut, das diese Kannibalen dort angeblich trinken. Barthes schreibt: 266

Diese Reise wird uns hier unter dem Vokabular der Conquista überliefert. Man reist zwar zweifellos unbewaffnet los, aber „Palette und Pinsel bei der Hand“. Alles sieht so aus wie bei einem Jagdausflug oder einer Expedition. Der junge Bichon spielt den Parzifal, er setzt seine Blondheit (sic, HOD), seine Unschuld, seine Locken und sein Lächeln gegen die infernalische Welt der Rot- und Schwarzhäute, der Menschenopfer und Schreckensmasken ... Bichon unterwirft die „Menschenfresser“ und wird ihr Idol (Die Weißen haben entschieden das Zeug, Götter zu sein, Parenthese von Barthes) – dont le nom légendaire propose déjà une ambiguité terrifiante entre la couleur de leur teinture et le sang humain qu’on est censé y boire’. Ce voyage nous est livré ici sous le vocabulaire de la conquête: on part non armé sans doute, mais „la palette et le pinceau à la main“, c’est tout comme si il s’agissait d’une chasse ou une expédition guerrière. Le jeune Bichon, lui, joue le Parsifal, il oppose sa blondeur (sic, HOD) son innocence, ses boucles et son sourire au monde infernal des peaux noires et rouges, aux sacrifications et aux masques hideux. ... Bichon soumet (sic, HOD) „les mangeurs d’hommes“ et devient leur idole (les Blancs sont décidément faits pour être des dieux).

Weiter geht’s in der Beschreibung: Während der Junge immer wieder von ängstlich machenden Kannibalen bedrohlich umringt wird, ist das einzige völlig beruhigende Bild des Negers das des Boys, des barbarischen Domestiken, gekoppelt im übrigen mit diesem anderen Gemeinplatz aller guten Afrikageschichten: der des diebischen Boys, der mit den Sachen des Herrn abhaut. Daniel (in der Löwengrube nach der altbekannten biblischen Mythenerzählung, HOD) lässt sich durch die Löwen belecken, die Zivilisation der Seele unterwirft die Barbarei des Instinkts. („la seule image pleinement rassurante du Nègre sera celle du boy, du barbare domestiqué, couplé d’ailleurs avec cet autre lieu commun de toutes les bonnes histoires d’Afrique: le boy voleur que disparaît avec les affaires du maître. Daniel se fait lécher par les lions, la civilisation de l’âme soumet la barbarie de l’instinct.“) (ibd., 66)

Es ist nahezu unmöglich, die Fülle von Mythologisierungen und euro- bzw. gallozentristischen, kolonialistischen und rassistischen Klischees, die Barthes in dieser Illustriertenstory des Paris Match – der laut Barthes in einer Auflagenhöhe von rund 1,5 Millionen Exemplaren erscheint, was mindestens 6 Millionen Leser ausmacht – entdeckt, detailliert zu kommentieren und interpretieren. Sie präsentieren sich dem Leser bzw. Betrachter mit äußerster Aufdringlichkeit in jedem Wort, in jedem Bild, jeder Metapher, die allesamt als Teile des GesamtMythologems funktionieren. Erst im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des westeuropäischen Kolonialismus überhaupt wurde Barthes die Präsenz der sogenannten Dritten, der kolonialen Welt Ende 1960er Jahre gewahr und sich „der Notwendigkeit der Enteignung abendländisch zentrierter Sinnstrukturen bewusst“ (Ette 1998, 32), d. h. sich zum Ablegen des letztlich kolonialistischen Eurozentrismus genötigt.

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Barthes zufolge ist die bewusst gewählte kindliche Perspektive des Protagonisten in der im Paris Match publizierten Geschichte die einer Kasperlefigur, genauer die des verkindischten Illustriertenlesers (Barthes 1957, 66): hier sieht sich dieser Leser in seiner kindlichen Vision der Kolonialwelt bestätigt. In Bichon bei den Negern, „Bichon chez les nègres“ (ibd., 64 ff.), bezieht sich Barthes direkt auf die Aufklärung, mit der er die Mentalität der geschilderten Figuren und damit des Journalisten und des Leser vergleicht und unverblümt und ausdrücklich feststellt, dass das Erbe Voltaires noch immer nicht, bei weitem nicht, verwirklicht worden sei: „Wir leben noch in einer vorvoltairischen Mentalität“: mit diesem Pauschalurteil Mitte des 20. Jahrhunderts beantwortet er eindeutig negativ aus berufenem Munde die von den deutschen Akademieen gestellte Frage: „leben wir in einer aufgeklärten Zeit?“ Weiter schreibt er unter Beibehaltung des direkten Bezuges auf die Aufklärer des 18. Jahrhunderts, als deren Nachfahr im 20. Jahrhundert: Denn wenn man zu Zeiten Montesquieus oder Voltaires über die Persaner oder Huronen staunte, dann war es zumindest, um ihnen die Tugend der Naivetät zuzuerkennen. Voltaire würde heute nicht die Abenteuer Bichons schreiben wie es Match tut: er würde sich eher irgendeinen kannibalischen oder koreanischen Bichon ausdenken, der mit einem napalmsprühenden „Kasperle“ des Westens herumrangelt. (ibd., 67)

Barthes fokussiert diese Studie über ein „blondes unschuldiges Kind des Westens in dem menschenfresserischen Ambiente afrikanischer Wildnis“ auf das per Mythologisierung erzeugte Zerrbild des Andersrassigen, des Nichteuropäers, das von der Massenpresse besonders während des Algerienkrieges gern vermittelt wurde. Besondere Aufmerksamkeit widmet Barthes daher der Mythisierung des laufenden Kolonialkriegs in Algerien im Paris Match. (ibd., 201 ff.) Er beschreibt das Titelblatt, auf dem ein junger, in eine französische Uniform gekleideter „Neger“ zu sehen ist – Barthes benutzt meiner Ansicht nach absichtlich das bereits damals im offiziellen politisch korrekten Diskurs verpönte Wort „nègre“, um den verborgenen rassistisch-kolonialistischen Subtext zu markieren – und schreibt: Dieser Schwarze in französischer Uniform führt die übliche militärische Grußbezeugung aus, die Augen in die Höhe gerichtet, ohne Zweifel eine Falte in der Trikolore fixierend. Das ist der Sinn des Bildes. Aber naiv oder nicht, ich sehe sehr gut was dieses Bild mir bedeuten will: dass Frankreich ein großes Imperium ist, dass alle seine Söhne ohne Unterschied der Hautfarbe treu unter seiner Fahne dienen, und dass es keine bessere Antwort auf die Verleumder eines angeblichen Kolonialismus gibt als der Eifer dieses Schwarzen, seinen vorgeblichen Unterdrückern zu dienen.

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Dies nennt Barthes „ein höheres semiologisches System“: es gäbe einen bereits vorgefertigten Signifikanten, nämlich das Bild, und ein Signifikat, Frankreich als Vaterland aller Rassen und Kolonien, ferner ein absichtliches Gemenge von Franzosentum und Militärwesen. Die kolonialismusapologetische und vaterländische Funktion des Mythos macht er offensichtlich. Es fehlt natürlich auch nicht eine Glosse über die Astrologie. In einem anderen Text, L’opération Astra (ibd., 44–46), beschreibt er die Verwandlung per Mythologisierung der Angehörigen der stets schießbereiten französischen Kolonialarmee mit ihrer, wie es heißt, durch viele Militärinterventionen erprobten kriegerischen Tradition, in Angehörige einer zutiefst menschenfreundlichen pazifistischen Institution, die sich für das Glück und Wohl der armen Wilden, ihrer Verbündeten und Untergebenen, in ihrem harten Landserjob in feindlichem Umfeld und Gelände aufopfert, so der ironische Wortlaut der Bartheschen Beschreibung. Barthes’ Texte sind gleichsam eine nachholende Korrektur des offiziellen mythisierenden Diskurses, der niemals die vielen militärischen Interventionen, Überfälle und Eroberungen des kolonialistischen Frankreich kritisch-selbstkritisch reflektiert hat. Vor allem aber demonstrieren sie – und das ist seine eigentliche aufklärerische Absicht  – die von den französischen Touristen durch die ständige Lektüre der Auslandsberichterstattung der trivialen Massenmedien interiorisierten kolonialistischen bzw. nationalistischen und eurozentristischen Vorurteile und damit den hohen Grad ihrer Unaufgeklärtheit gegenüber den Ausländern überhaupt und speziell gegenüber den Bewohnern der ehemaligen Kolonien und der sogenannten Dritten Welt.

Umberto Ecos aufklärerische Kritik der Medialisierung Den kulturkritischen Diskurs Roland Barthes’ setzt in den 80er und 90-Jahren des 20. Jahrhunderts der bedeutende italienische Semiotiker, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Umberto Eco fort, der sich in vielen in alle Kultursprachen übersetzten Artikeln und Essays der inzwischen rasend schnell weiterentwickelten massenmedialen Szene der westlichen Welt widmet. Neben einer Reihe von theoretischen Schriften zur Sprachwissenschaft und zur Ästhetik des Mittelalters und seiner literarischen Prosa – sein Meisterwerk ist Il romanzo della rosa, (1980, Der Roman der Rose) publizierte er gleichsam als Kontrapunkt zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten kritisch in der Tagespresse aktuelle Probleme des modernen Alltagslebens und der Politik ganz nach dem Vorbild der klassischen Aufklärer. Erstaunlicherweise ist sein diesbezüglicher Themenkatalog in vieler Hinsicht noch weitgehend derselbe wie der der Aufklärer des 18. Jahrhunderts, 269

was beweist, wie wenig sich in den inzwischen vergangenen rund zweihundertfünfzig Jahren die Wirklichkeit zum Guten verändert hat, denn er beschäftigt sich u. a. mit solchen brisanten und heiß diskutierten Problemen wie Krieg, Migration und Intoleranz, wozu das moderne Thema des Faschismus kommt, das er passend unter „Intoleranz“ bzw. unter „das Untolerierbare“ subsumiert. Extrem kritikwürdig erscheint ihm die Rückkehr zur Irrationalität. Eco sieht am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr nur wie Bloch die Schwäche, sondern den – scheinbaren? – Zusammenbruch des Rationalismus. In seiner diesbezüglichen, „Das Irrationale gestern und heute“ überschriebenen Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1987 sagte er unter Berufung auf das damals immerhin schon fast ein halbes Jahrhundert alte, von mir weiter vorn erwähnte Werk Die Zerstörung der Vernunft von Georg Lukács – und seine Rede klingt wie eine entmutigende Variation der aufklärerischen Diskurse von Voltaire, Diderot, Holbach und Kant – Folgendes: In Kürze, wenn wir wieder einmal die Stände der Buchmesse durchgehen, werden wir sehen, dass – als Reaktion auf den Zusammenbruch der großen rationalistischen Philosophien der Geschichte und angesichts einer Vertrauenskrise gegenüber Technik und Wissenschaft – viele derer, die in den letzten Jahrzehnten das politische oder wissenschaftliche Handeln als ein rationales Produkt zur Veränderung der Welt konzipierten, sich nun dem Heiligen und dem Mysterium zuwenden. In den Regalen der großen Buchhandlungen, wo vor zwanzig Jahren noch „Die Zerstörung der Vernunft“ von Lukács zu finden war, stehen heute Werke von Julius Evola, von René Guénon, G. I. Gurdjieff, Titus Burckardt und von Meistern des östlichen Denkens, Handbücher der Alchemie, der Astrologie, der Wahrsagerei und der schwarzen Magie. Man hat den Eindruck, dass Chesterton Recht hatte, als er sagte: „Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts mehr, sondern an alles“. (Eco 1990, 376)

Es ist fast überflüssig zu sagen, dass wegen dieses Irrationalismus, dieser Negation des Rationalismus die von ihm oben genannten Autoren und Bücher in die Kategorie der antiaufklärerischen Literatur gehören. Seine Reminiszenz an Lukács gilt der neuerlichen Aktualität von dessen kritischen Kompendiums des Irrationalismus. Trotz der scheinbaren Beiläufigkeit der Erwähnung des berühmten Werkes von Lukács ist unverkennbar, dass Eco es gut kennt und nach wie vor für aktuell hält und dessen Ablösung in der Garde der großen zeitgenössischen Philosophen durch die diesem größtenteils feindlichen Postmodernisten bedauert, weil er wie Lukács den Trend zum neuerlichen Irrationalismus beispielsweise in Gestalt der Esoterik für verderblich hält. Ecos Erneuerung des Rationalismus und damit sein Bekenntnis zur Aufklärung demonstrieren sowohl seine wissenschaftlichen Werke wie seine politischen und kulturkritischen Stellungnahmen. 270

Er registriert die mit Nietzsche7, der sich ja oft gegenüber der Aufklärung, vor allem Rousseau, abfällig geäußert hat, beginnende gegenaufklärerische Tendenz der Geistesgeschichte und nennt folgende Gründe: Argwohn gegen Egalitarismus (besonders Rousseaus), Zweifel an der Demokratie und speziell wohl am Begriff der Volkssouveränität (ebenfalls gegen Rousseau), Unbehagen am Aufstieg der Vielen in dem entwickelten Kapitalismus entsprechend Nietzsches intellektuellem Elitarismus, dessen abfällige „Rede über die Schwachen“ (Eco 1986, 39), dessen dazu komplementären Kult des Starken, sowie dessen „aristokratische Unduldsamkeit“ (auch von Ortega y Gasset). Dieser Antirousseauismus sei doppelt gegenaufklärerisch: einmal ist die Aristokratie jene monarchistische und feudale Klasse, die sich als solche gegen die bürgerliche Aufklärungsbewegung richtete, zum andern ist „Unduldsamkeit“ das Synonym für Intoleranz, gegen welche sich die Aufklärer wandten. Eco kritisiert an Nietzsche und anderen Vertretern der Lebensphilosophie die „Verachtung, die sich scheinbar gegen die Massenkultur, in Wahrheit gegen die Masse richtet“ (ibd.), denn, so schreibt er, „im Grunde rumort in ihnen das Heimweh nach einer Epoche, (nach der voraufklärerischen, vorvoltairianischen Zeit, HOD) in der die Werte der Kultur das Erbteil und der Besitz einer einzelnen Klasse waren und nicht jedermann offenstanden.“ (ibd.) Dagegen lässt Eco seinem Lieblingsfeind Adorno Gerechtigkeit in Bezug auf dessen Motivation widerfahren, wenn er von der anderen, nichtnietzscheanischen Richtung der Gegner der Massenkultur  – neben Adorno nennt er den USA-Kulturtheoretiker Dwight MacDonald  – schreibt: „Ihr Misstrauen gegen die Massenkultur ist ein Misstrauen gegen eine bestimmte Form intellektueller Herrschaft, welche die Bürger in Apathie und Unterwürfigkeit hält – (und) ein günstiges Klima für beliebige autoritäre Abenteuer (schafft)“. (ibd., 40) 7 Andererseits könnte auch der Einfluss moderner Philosophien als Absage an die rationalistische Grundlage jeglicher Aufklärung gewertet werden: Ette (S. 33) sieht einen Unterschied, „ob man wie etwa Habermas unter Moderne Rationalität und (Philosophie der) Aufklärung unter Ausklammerung von Nietzsche und der Postmoderne und der postnietzschesen Ästhetik verstehen oder ob wir gerade den Verfasser von Jenseits von Gut und Böse (diesen Rousseaugegner und Aufklärungspessimisten, HOD) gegen Hegel stark machen und die postnietzscheanische und nihilistische Ästhetik und Philosophie als die Ästhetik der Moderne betrachten“. (ibd., 33) Habermas’ neue Rezeption Adornos/Horkheimers werde stärker von Nietzsche als von Marx bestimmt. Dabei wäre jedoch, wenn dies stimmt, zu fragen, ob dieser Paradigmenwechsel einen kognitiven Zugewinn als dialektische Komplementierung oder eine bloße nachträgliche Problemideologisierung im Vorfeld von 1989 darstellt, eine Dekonstruktion à la Deleuze statt einer Entdichotomisierung?

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Er urteilt weit differenzierter und großzügiger als Adorno, Barthes und ihre Nachfolger MacLuhan und Postman über die Massenkultur, der er in dem Band Apokalyptiker und Integrierte u. a. einen Essay Zur Struktur des schlechten Ge­ schmacks widmete. Eco irrt sich jedoch mit seiner Unterstellung, Adorno/Horkheimer hätten die Trivialität der Produkte der Kulturindustrie aus dem industriellen Charakter der modernen Produktionsweise abgeleitet. Auch wirft er ihnen fälschlich „Elitarismus“ wegen Disqualifizierung der Trivialkunst vor, obgleich diese eigentlich aus Antielitarismus heraus schrieben, weil sie es schäbig fanden, dass man dem „Volk“ nur „Ramsch“ zudachte, während die bürgerliche Elite – scheinbar – in den Schöpfungen der Hochkultur schwelgte. Er berücksichtigt auch nicht, dass es Horkheimer und Adorno nicht wie ihm selber, Eco, vorrangig um die Literatur ging, sondern um die Kulturindustrie als von ihm weniger beachtetes und behandeltes ökonomisches wie soziologisches Faktum, wobei der Terminus Auf­ klärung (it. illustrazione) in seiner Schrift kaum eine Rolle spielt. Eco fokussiert auf den von Adorno/Horkheimer nur beispielhaft angedeuteten feindlichen Gegensatz „Kunstsurrogat vs. Kunst“. Ihm zufolge erzeugt die Kulturindustrie industriemäßig schlechten Geschmack, wie er in dem Aufsatz Die Struktur des schlechten Geschmacks beweist. Er nennt als Beweisstücke „gehobene“ Kitschprodukte besonders aus den USA, die äußerlich die Formen der „hohen“ Kunst nachahmen wie Hemingways Der alte Mann und das Meer, wofür dieser bekanntlich den Nobelpreis bekam, die Romane der USA-Superkitschproduzentin und ebenfalls Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck, oder das rhapsodische Musikstück Warshaw Concerto von Addinsel, von den US-Amerikanern als „unser Chopin“ bezeichnet (was er meiner Ansicht nach einer zentralen Szene des Romans La Pelle (Die Haut) von Curzio Malaparte entnimmt, der den Einzug der US-Armee in das von der Wehrmacht befreite Nachkriegsitalien vorführt). Diese „Entstellungen und geschickten Fälschungen“ der Kunst durch Kitsch beuten ihm zufolge die Errungenschaften der zur Massenkultur konträren Klassik wie Chopins Klavieretüden oder der Avantgarde wie Picassos kubistische Gemälde als Ideengeber für kommerzielle Gebrauchsobjekte wie zum Beispiel Sofakissenmuster aus, wodurch sie diese banalisieren und „auf die Konsumstufe zurückschneiden.“ (ibd., 40) – Man sollte allerdings meiner Ansicht nach auch würdigen, dass Addinsel mit dieser Komposition seiner Trauer über die Zerstörung der polnischen Hauptstadt durch die deutschen Hitlerfaschisten Ausdruck gab. Eco geht nicht wie die Frankfurter soziologisch von der Existenz zweier verschiedener Publika, dem „Volk“ und den „Gebildeten“ als zwei soziologisch unterschiedlichen Konsumenten/Rezipienten der zwei je entsprechend verschie272

denen Kulturprodukte, sondern von zwei intraliterarischen Bestimmungen: „Avantgarde“ vs. „Kitsch“, und den zwischen diesen herrschenden innerliterarischen Gegensätzen aus. „Kitsch“ ist für ihn „Massenkultur“ bzw. „Durchschnittskultur“ (Eco 1990: 250), wobei er nicht differenziert zwischen Kunst der Masse als Konsumtion und Kunst für die Masse als Produktion, als speziell für diese von der Kulturindustrie produzierte Ware. Eco arbeitet den kommerzkritischen Ansatz der Frankfurter Schule sogar noch weit systematischer und theoretisch bewusster als Adorno und Horkheimer heraus, „da die Massenkultur vorwiegend (...) wirtschaftlichen Mechanismen unterworfen ist ...die auch die Herstellung, den Absatz und den Konsum der übrigen Industrieprodukte regulieren: das Produkt muss dem Kunden verkauft werden“ (ibd., 251), woraus seiner Ansicht nach ein gemeinhin nur den Kommunisten vorgeworfenes „paternalistisches Kulturverständnis“ resultiert. Eco betont die Notwendigkeit eines „kritischen“ Lesers, womit er ein Haupt­ element und Hauptschlagwort der Aufklärung wieder aufnimmt, die „Kritik“, was immer heißt, gegenüber Vorurteilen, Irrtümern, Verdrehungen, Verfälschungen, Lügen und Schönrednerei auf der Hut zu sein. Eco führt ferner Roland Barthes’ Entdeckung der modernen Mythologisierung weiter und greift damit das polemische Hauptthema der klassischen Aufklärung, ihren Kampf im Namen des Rationalismus gegen den Mythos, aus aktuellem Anlass wieder auf, was sich eben auch in seinem Verständnis für Lukács’ Irrationalismuskritik zeigt. Dabei geht er von der Moderne als historischer Ära der „Entmythisierung“ im Zeichen der Krise des Sakralen aus und erinnert auch in dieser Hinsicht an die Aufklärung, als sie den Beginn des modernen Prozesses der Desakralisierung der religionsmythologischen Ikonen aus der Perspektive des Rationalismus einleitete und das christliche Epos durch den Roman als bürgerliches Prosa-Epos ersetzte, wie dies Hegel in seiner Ästhetik theoretisierte. Nun aber, in moderner Zeit, mitten im 20. Jahrhundert, im vollaufblühenden und expandierenden Kapitalismus mit seiner doch rationalistischen Wirtschaftsethik erfolgt laut Eco überraschenderweise eine Remythisierung auf breiter Front, eine Rückkehr zu den Irrationalismen der Voraufklärung, eine moderne Gegenaufklärung, eine kausale Verkettung dieser Rückkehr zum Mythos mit dem Warenfetischismus der kapitalistischen Marktwirtschaft. Unter Berufung auf den deutschen Kulturkritiker und Barockspezialisten Walter Killy spricht Eco von Kitsch als Kunstersatz. Auch er sieht wie die Frankfurter den Kommerzcharakter der Unterhaltungskunst qua Kitsch, denn der Autor „verkauft“ sie dem Publikum (ibd., 251), wobei Kitsch von Eco wie von Adorno/Horkheimer als „schlechter Geschmack“ definiert wird; also ein norma273

tiv wertendes Moment außerhalb der Kontroverse Aufklärung-Gegenaufklärung in die Debatte am Vorabend der massenmedialen, auf breitester Front einsetzenden elektronischen Verbreitung von kommerzialisierter Trivialkunst in die internationale kulturkritische Debatte einbringt. Kitsch sieht er als Anpassung der Literatur- und Buchproduktion an die Rezeptionsfähigkeit des literarisch ungebildeten breiten neuen Publikums der elektronischen Massenmedien. Aber was hat diese mehr in das Gebiet der Kulturkritik fallende Bemerkung mit der Aufklärung und Antiaufklärung zu tun? Eco arbeitet den antiaufklärerischen Charakter von Kitsch heraus, wenn er ihn eine als „fortwährende Mystifikation“ und „Vater der Lüge“, als „mystifizierende und tröstende“ Kraft (251) definiert, was ohne Zweifel gegen die Aufklärung gerichtete Wirkungen sind. Der Kitsch zeichne sich dadurch aus, dass er einen „Effekt“ anstrebe (ibd., 252), der nicht mit „Zweck“ zu verwechseln ist, den er natürlich jeder Gebrauchskunst zubilligt, sondern „Effekt“ hat etwas mit „Effekthascherei“, mit Verblendung, mit Vorspiegelung falscher Tatsachen, mit Schein statt Sein zu tun. Konsumkultur vermittle eingängige, leicht entzifferbare Botschaften, die die doch komplizierte Realität der Moderne sozusagen entproblematisieren, von den wirklichen, diese bestimmenden Fragen, sei es die der Anstiftung von Kriegen, das Sichabfinden mit sozialer Unsicherheit oder der inferioren Lage der sozial Benachteiligten, ablenken. Ganz sicher antiaufklärerisch sind folgende von ihm erwähnte beabsichtigte Effekte des Kitsches: populäre Romane befriedigen die „Nachfrage nach Ausflucht, Ablenkung, Illusion“ (253) also nach Scheinwelten, während die Aufklärung gerade jedem Schein abhold ist. Kitsch befriedige und schaffe Surrogatbedürfnisse: er nennt Andenkenkitsch wie „Votivlämpchen, Nippsachen, Abenteuercomics, Kriminalromane oder Westernserien. (255) Als Beispiele für Edelkitsch führt er den sogenannten Kultfilm Casablanca sowie Hemingways Der alte Mann und das Meer an. Kitsch verkaufe Klischees, Lügen, Täuschungen als Handelsware (258). Eco erinnert zwecks Vergleichs mit der ins Irrationale gedrehten Moderne die voraufklärerischen Mythenbildungen, den volkstümlichen Aberglauben, die „Erscheinungen“ von Heiligen oder der Jungfrau von Orleans und der Muttergottes in Copacabana und Lourdes und den Glauben an Mirakel, den einst der Frühaufklärer Fontenelle als vernunftwidrig entlarvt hatte. In dem Kapitel Symbole und Massen­ kultur beschreibt er die Rückkehr und die Profanierung der religiösen Symbolik durch die Massenmedien, die neue Wertesysteme mittels Symbolproduktion erzeugen. Auch im Zeitalter der industriellen Zivilisation gibt es ihm zufolge Mythisierungsprozesse, „die mit denen in primitiven Gesellschaften verwandt sind“ 274

(Eco 1989, 189), also Anzeichen einer Rückkehr der Moderne in die Epoche der Voraufklärung – eine Schlussfolgerung, die Barthes wohl so nicht gezogen hätte. Die Symbolisierung nimmt in seiner Kasuistik der Irrationalität der Moderne einen vorderen Rang ein. Er spricht von Symbolisierung als Identifikation eines Objekts oder eines Bildes mit einem Ensemble von Zielen (ibd.), wie der auf die Wand der prähistorischen Höhle gezeichnete Bison mit dem echten Bison identisch wurde und dem Maler den Besitz des Tieres durch den Besitz des Bildes sicherte, das Bild also eine sakrale Aura annahm. Die Moderne gilt ihm als Rückverwandlung des Menschen in den urzeitlichen Höhlenbewohner. Statussymbole werden in der Industriegesellschaft laut Eco gleichgesetzt mit dem Status selbst, also wer ein Auto besitzt – damit nimmt er den schon von Barthes theoretisierten Auto-Mythos in verstärkter Form wieder auf – wird als zum entsprechenden Status gehörig gerechnet, ob Renault, Ente, VW, Mercedes oder Jaguar. (Der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar hatte in seiner Erzählung Autopista del Stur, Südliche Autobahn, eine Autowartegemeinschaft im Stau als Symbol der modernen sachlichen Technikabhängigkeit des Menschen, seiner Beherrschung durch diese beschrieben, wo der Besitzer des Renault bald zum „Renault“, also mit der Maschine identifiziert wird, der mit dem VW oder dem Fiat spricht und vom Mercedes Antwort erhält). Diese Verdinglichung des Menschlichen durch eine tote Maschinerie, die laut Max Weber geronnener menschlicher Geist ist, erscheint ihm als absolut gegenaufklärerisches Phänomen: „Einen Status erlangen heißt, eine bestimmte Automobilmarke, ein bestimmtes Fernsehgerät, einen bestimmten Haustypus mit einem bestimmten Typ von Swimming pool sein eigen nennen“, heißt sich in Artefakten verdinglichen, schreibt Eco. (ibd., 90) Die Sache werde statt der Person des Besitzers und Herstellers Zeichen von dessen gesellschaftlicher Stellung, „rituelles Symbol, mythisches Bild“, das Hoffnungen und Wünsche verdichtet (ibd.). Der besessene Gegenstand sei insofern, schreibt er, nicht länger Ausdruck der Persönlichkeit, sondern das Mittel ihrer Aufhebung, denn diese verschwände in ihm. Ecos Aussage soll sein, dass die Mehrzahl der Zeitgenossen ihre Menschen unter dem ständigen Diktat solcher Lektüren und Meinungen nicht mehr nach ihrem Charakter und ihren Fähigkeiten, kurz nach ihrer Persönlichkeit beurteilt, sondern nach der Marke des Autos, das sie fahren und dem materiellen Mammon, den sie besitzen. Der Automythos entstehe jedoch nicht wegen der unbewussten Mythologisierungstendenz der Moderne entgegen dem aufklärerischen Impetus, sondern aus markt- und profitwirtschaftlichen Gründen, infolge der „bewussten Zugriffe der Industriegesellschaft, die auf steigende Produktion und beschleunigten Konsum 275

angewiesen ist“ und daher aus Reklamegründen zur attraktiven Mythisierung ihrer Produkte greift. Damit führt Eco das Mythologisierungsphänomen wieder auf den Ausgangspunkt, den Waren- und Fetischcharakter der Produkte zurück (ibd.) – Mythisierung per Kommerzialisierung und umgekehrt. Eco schreibt, die „modernen Vertreter der (einstmaligen) mittelalterlichen mythologieschaffenden und verbreitenden Abbés“ seien „die Forschungsbüros der Großindustrie und die Werbefachleute der Madison Avenue, denen die populäre Soziologie das vielsagende Epitheton ‚geheime Verführer‘ gegeben hat.“ (ibd.) Daraus leitet Eco für die semiologische Wissenschaft die aufklärerische Aufgabe der Entmythisierung ab, „d. h. dessen, was hinter dem Bild steckt, also nicht nur der unbewussten Bedürfnisse, die es begünstigt haben, sondern auch der bewussten Postulate einer paternalistischen Pädagogik, einer insgeheimen Überzeugung, die mit ökonomischen Zwecken besetzt ist.“ (ibd.) Eco sieht diese neumodische Mythologisierung besonders in den Comics, „weil hier ein mythologisches Repertoire im Spiel ist, das industriell betrieben, d. h. von einer Industriebranche erzeugt und eingesetzt wird.“ (ibd., 191) Die Überredungs- und Überzeugungskraft der Massenliteratur sei vergleichbar mit jener der großen Projekte: so hätte sie erreicht, dass sich die Öffentlichkeit hysterisch in ihre Mythen-Entwürfe vertiefe, „vom Raumflug bis zum atomaren Konflikt“. So enthalten die USA-Filme über Tery zwei Mythen, „einen patriotischen und einen sexuellen“ (ibd.). Als der Regisseur eine zur Idoldarstellerin (sic) gewordene Diva im Film sterben ließ, gab es in TV und Radio Schweigeminuten. In diesem Zusammenhang erinnert Eco an die klassischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts: „Es gab einen Aufschrei einer Fan-Gemeinde um den Tod eines Symbols. Was hätten Voltaire, der Baron Holbach, La Mettrie oder Diderot zu dieser Hysterie der Enttäuschung einer Empathiebewegung gesagt?“ (...) „Die Gemeinde der Gläubigen – ein passendes, von Eco nicht nur als Metapher gewähltes sakrales Syntagma – gerät in eine Krise, die nicht nur eine religiöse, sondern auch eine psychische ist.“ (ibd., 192) Eco betreibt mit den Mitteln moderner Semiotik und der Analyse der Warenästhetik eine tiefgründige aber folgenlose Kulturkritik, die am Käuferverhalten, am Gehorsam des Publikums der massenkulturellen Produkte gegenüber deren Herstellern natürlich nichts ändert, weil dazu das ganze System umgeworfen werden müsste, das sich jedoch mit der Massenmedialisierung noch stärker denn je verfestigt hat.

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Ecos Musteranalyse des Mythos vom Superman Sein Meisterstück einer medienkritischen semiologischen Analyse moderner massenmedialer antiaufklärerischer Mythenbildung gelang Eco mit seiner Dekonstruktion des filmischen Serienhelden „Superman“. Dieser sei eine heteroklyte Collage von mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Mythenhelden, von Siegfried, Roland etc., wozu die Schlauheit von Sherlock Holmes, Personifikation eines modernen Trivialmythos, komme. Dieser Tausendsassa aus dem Weltraum weihe sein Leben dem Kampf gegen das „Böse“, Doch was ist das Böse? Ich würde in Übereinstimmung mit seiner und Roland Barthes’ Medienkritik meinen, es ist die verteufelnde Mythologisierung und Ontologisierung unliebsamer gesellschaftlicher Gegenmächte, deren menschlich-gesellschaftlicher und also historisch entstandener Ursprung geheimgehalten werden soll. Hatte der antike Mythenheroe Herkules eine Biographie, eine Geschichte, so ist Superman ein bloßes „Geschöpf der Romankultur“, (ibd., 95), eine Figur für ein Publikum, das viele Romane gelesen hat, ohne über den Roman einer eigenen Vita zu verfügen. Superman besitzt alle Eigenschaften eines mythischen Helden und befindet sich stets in einer romanesken Situation. Er gehorcht wie alle Trivialprodukte gleichzeitig sowohl mythenbildnerischen als auch kommerziellen Zwängen, nämlich „der modernen soziologiebasierten Außensteuerung, da ihm in der Industrie- und Konsumgesellschaft alle seine Wünsche suggeriert und Entscheidungen abgenommen werden. Er ist konsumorientiert und werbungsabhängig“. (ibd., 203 f.) In einer solchen Gesellschaft werde laut Eco sogar die Politik „vermittels umsichtiger Verwaltung der Gefühlsressourcen des Wählers (...) betrieben“ (ibd., 205) und nicht durch Anstöße zum Nachdenken und zu rationaler Bewertung veranlasst. Ecos Analyse kulminiert in der Frage, was denn das Gute sei, für das Superman kämpft, und das Böse, wogegen er kämpft. Seine Antwort: Superman habe ein Riesenpotential zum Guttun in sich und hätte in der Tat ein unermessliches Betätigungsfeld vor sich als Mensch, der, in wenigen Sekunden, Arbeit und Reichtum in astronomischen Ausmaßen bewirken kann. Aufgrund dieser Riesenkräfte könnte man, so Eco, von ihm wohl die Umwälzung der politischen, ökonomischen und technologischen Ordnung der Welt zum Guten erwarten, „die Abschaffung des Hungers ebenso wie die Urbarmachung der Wüsten“. Und „von rechts“ gelesen: „Warum geht Superman nicht hin und befreit sechshundert Millionen Chinesen vom Joch Maos?“ (ibd., 216)

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Kurz. Supermann vermöchte, aufgrund seiner großen Talente, das Gute in geradezu kosmischen, ja galaktischen Dimensionen durchzusetzen und gleichzeitig einer neuen Ethik zum Siege zu verhelfen. Stattdessen geht er in seiner eigentlichen Inkarnation als bürgerlicher Existenz einer unbedeutenden Tätigkeit in einer kleinen Gemeinde nach und bekämpft dort „Verbrecher, die sich weder mit Drogenschmuggel noch mit der Bestechung von Behörden und Politikern (also dem wirklich gesellschaftlich relevanten und kapitalen, justiziablen Großverbrechen, HOD) beschäftigen, sondern mit dem Ausrauben von Banken und Postwagen...“, also gewissermaßen mit „peanuts“. Eco leitet daraus eine neue, moderne, wirtschaftskonforme Definition von „gut“ und „böse“ ab: „Mit anderen Worten: die einzige sichtbare Form, die das Böse annimmt, ist dcr Anschlag auf das Privatei­ gentum. (ibd., 217) In dieser manichäisch gegliederten Welt existiere dadurch ein „staatsbürgerliches Bewusstsein, das vom politischen Bewusstsein abgetrennt ist.“ (ibd.) Das Gute, das Superman tut, ist dagegen die mit großem Aufwand von ihm betriebene Organisierung von Wohltätigkeitsveranstaltungen und die Eintreibung der dafür nötigen Spendengelder für Waisenkinder und Arme, ein typisch nordamerikanisches und heute allgemein verbreitetes Alibi der reichen Bürger zwecks Beruhigung des eigenen schlechten Gewissens. Doch statt dieser punktuellen Einzelaktionen zur Minderung der vom System herrührenden Ungerechtigkeiten, schreibt Eco, sollte Superman doch lieber und effektiver für allgemeinen Wohlstand und die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse sorgen – hier spricht aus dem Literatur- und Kulturkritiker Eco der Gesellschaftskritiker Eco. Das Wesen der gegenwärtigen Gesellschaft der USA wird von Eco treffend anhand des herrschenden manichäischen Gut-Böse-Schemas, das typischerweise auch von den Präsidenten Bush und Reagan beschworen wurde, durchschaubar gemacht: „Wie das Böse allein als Angriff auf das Privateigentum, so existiert das Gute allein in der Gestalt der USA-typischen Wohltätigkeit (...)“. Die Geschichte von Superman sei „ein Spielzeugmodell mit Widerspiegelungsfunktion einer kulturellen Ordnung“ (ibd.), das heißt der WASP-Gesellschaft, also der weißhäutigen, angelsächsischen, protestantischen Herrschaftsklasse als des in den USA herrschendes Modells. In der Demaskierung dieser via Massenmedien transportierten Alltagsmythologien mittels semiotischer Sprachanalye besteht die aufklärerische Funktion dieses und vieler anderer Texte des italienischen Sprachphilosophen.

Ecos politisch-aktuelle Stellungnahmen zu Krieg und Frieden Vor dem Hintergrund dieser seiner kritisch-aufklärerischen Sicht der modernen aufgeklärten/unaufgeklärten Lebenswirklichkeit müssen auch Ecos politische 278

Stellungnahmen gesehen werden, die er wie die Aufklärer des 18. Jahrhunderts neben seinen sprach- und kulturphilosophischen Studien als Beiträge zu lebensweltlichen Problemen bzw. der Lebensführung im Holbachschen und Husserlschen Sinn in der Presse publizierte und 1997 als Vier moralische Schriften herausgab. Diese behandeln genau dieselben Themen, denen sich ihrerzeit die Aufklärer engagiert gewidmet hatten: Frieden, Toleranz, Vorurteil, Recht, Alterität, sowie, allerdings mehr am Rande, das Verhältnis der Europäer zu den Drittweltländern und die zwei modernen, ebenfalls „aufklärungsbedürftigen“, für die moderne kapitalistische Weltgesellschaft charakteristischen Komplexe „(Neo)Faschismus“ und „Terrorismus“, die es so im aufklärerischen 18. Jahrhundert nicht gab. Schon durch die aktuelle Wiederaufnahme derselben bereits von der Aufklärung traktierten Themen Ende des 2. Jahrtausends zeigt Eco an, dass nicht alle, vielleicht nur die wenigsten der vom 18. Jahrhundert aufgeworfenen Probleme von den Menschen definitiv gelöst bzw. von der Geschichte erledigt worden sind. Was den Frieden betrifft, so hat Eco in seinem Aufsatz Nachdenken über den Krieg Kants und Saint-Pierres Visionen vom Ewigen Frieden paradoxerweise, bedenkt man den Anlass, quasi wörtlich für realisiert geglaubt, auch wenn er diese beiden pazifistischen Hauptakteure der Aufklärung aus dem 18. Jahrhundert gar nicht namentlich erwähnt. Da ihm als „Krieg“ nur der heiße Krieg, den er „Schießkrieg“ nennt, gilt, in dem also Menschen in Massen umgebracht werden, war die lange Periode des „Kalten“ Krieges, des Gleichgewichts des Schreckens, für ihn eine Ära ungetrübten Friedens, der keine Menschenleben kostete. Es wäre daran zu erinnern, schrieb er, dass unser Jahrhundert eine exzellente Alternative zum Krieg gekannt hat, nämlich den „kalten“ Krieg. Sooft er auch Gelegenheit zu Gräueln, Ungerechtigkeit, Intoleranz (sic, HOD), lokalen Konflikten und diffusem Terror (sic) geboten hat – am Ende wird die Geschichte zugeben müssen, dass der kalte Krieg eine sehr humane und relativ sanfte Lösung war, bei der es schließlich sogar Sieger und Besiegte gab.

Aber es stehe der intellektuellen Funktion (damit meint er die Pflicht der Intellektuellen zum öffentlichen Engagement „für Wahrheit und Recht“ in der Tradition der Aufklärung und des Sartreschen Existentialismus, HOD) nicht zu, kalte Kriege zu erklären (1999, 35). Zu seinem unmotiviert scheinenden Friedensoptimismus mit Sicht auf das 21. Jahrhundert gelangte Eco in Erkenntnis des total veränderten Charakters des modernen Krieges, der nicht mehr zwei gegnerische Armeen einander bekämpfen sieht, sondern wo die Front überall und nirgends ist, was seiner Ansicht nach 279

jeden Krieg und Weltkrieg unmöglich mache. Als entschiedener Pazifist wie Kant, Voltaire und Rousseau meint er, Krieg dürfe nicht mehr geführt werden, „weil die Existenz einer Gesellschaft der Instant-Information und der schnellen Transporte (...) vereint mit dem Wesen der neuen Waffentechniken den Krieg unmöglich und widersinnig gemacht hat.“ (ibd., 22) Dabei spielt die Rationalität für Ecos Argumentation eine große Rolle, insofern der rationale Grund der Kriege, nämlich der für den Sieger herausspringende Gewinn, den der Verlierer zahlen muss, unter solchen veränderten Umständen nicht mehr gewiss ist. Es besteht für ihn kein Zweifel, dass der Krieg ein industriell-kapitalistisches Unternehmen ist, der die „Kanonenhändler reich macht“ und insofern genauso lange wie letztere existieren wird. „Dass der Irak (der damalige Gegner des Westens, HOD) von den westlichen Industrien bewaffnet wurde, ist kein Zufall. Es entspricht der Logik des reifen Kapitalismus, der sich der Kontrolle der Einzelstaaten entzieht“. (ibd., 24) Psychologisch werde ein Krieg nicht mehr wie früher vom Glauben der Bürger genährt, dass es einen „gerechten Krieg“ gäbe. (ibd., 26) Hier unterscheidet sich der vergleichsweise altmodische Eco von dem moderneren Tzvetan Todorov, der Angriffskriege und Folter zwar nicht für „gerecht“, jedoch für „unvermeidbar“ hält. Er verweist mehr als frühere Pazifisten als kompetenter Medienwissenschaftler auf die Rolle der Medien im Krieg, also auf die im TV-Zeitalter möglich gewordene visuelle Beteiligung der Massen am Krieg. Er bezweifelt ihre behauptete Neutralität „schon weil die Medien selber ein Teil des Krieges und seine/r) Instrumente sind und es daher gefährlich ist, sie als neutrales Gebiet zu betrachten.“ (ibd., 35) Dabei sagt er als Ergebnis der durch den Krieg erzeugten „Neuordnung der Gewichte, die dem Willen der Kontrahenten nie völlig entsprechen kann“, für die kommenden Jahrzehnte eine politisch-ökonomisch und psychologisch dramatische Instabilität voraus, die nichts anderes hervorbringen kann als eine „kriegsgesteuerte Politik“. (ibd., 33) Wiederholt er damit nicht die Warnungen Immanuel Kants vor illusorischen Friedensschlüssen, die den Keim zu neuen Kriegen zwecks Korrektur der Ergebnisse tragen? Am Schluss erhebt er sich zu einem beschwörenden Aufruf an die Intellektuellen, den Krieg für „tabu“ zu erklären, und erreicht damit die pathetische Höhe der Aufklärer des 18. Jahrhunderts: „Es ist eine intellektuelle Pflicht, die Unmöglichkeit des Krieges zu proklamieren.“ (ibd., 34)

Eco und die Toleranz Eco kommt in einem weiteren Kapitel seiner Moraltraktate notwendigerweise auf das Ursprungsproblem der Aufklärung, die Toleranz, unter der aktuellen 280

Perspektive der Migrationen zu sprechen, die es im 18. Jahrhundert vor allem in umgedrehter Richtung gab, als Vertreibungen und Emígrationen aus dem Westen, denen die gegenwärtige Flucht in den Westen gegenübersteht, und schlägt neuartige Lösungen für die veränderte Sachlage vor. Die heutigen Migrationen erzeugten eine neue Art von Intoleranz bei den Festansässigen, die der Aufklärung bedürfe, sagt er. Er fügt dem traditionellen Gegensatzpaar Toleranz vs. Intoleranz in radikaler Begriffserneuerung ein drittes Element zu, das von ihm in sprachlicher Neuschöpfung erfundene Prinzip des Untolerierbaren, ein Element, das mehr die Sache, den Gegenstand, eben „das“ Unduldbare, und weniger die Intoleranz als subjektive Haltung von Individuen meint. Natürlich kann man als Gegner der Intoleranz nicht tolerant gegenüber dieser sein, so ist sein Motiv für diese Gedankenkonstruktion, aber man kann auch nicht den deklassierten Begriff „Intoleranz“ ins Positive wenden, etwa als Glorifizierung der „guten“ Intoleranz gegen die „schlechte“ Intoleranz. Durch die Einführung des Begriffs des Unduldbaren wird die peinlich klingende Forderung nach „Intoleranz gegenüber der Intoleranz“, also die positive Verwendung des Terminus „Intoleranz“, der doch eine zutiefst antihumane Haltung meint, vermieden. Mit seinem neuen Komplementarbegriff zu Toleranz, mit dem neuen Prinzip des „Untolerierbaren“ meint er die neuen Phänomene des 20. Jahrhunderts, Faschismus, Holocaust, Völkermord, die nicht zu dulden, nicht zu tolerieren seien. Von daher schafft er durchaus in der Aufklärungsfunktion und -tradition eine neue Verbindung zum Recht, bzw. ein neues Recht. Unter Verweis auf die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, die eigentlich in einem rechtsfreien Raum stattgefunden hätten, die nicht völkerrechtlich und kriegsrechtlich abgedeckt gewesen seien, tritt er für die Schaffung neuer Gesetze und Tribunale für Verbrechen ein, die es in dieser Größenordnung noch nicht gab und für die keine adäquaten Gesetze existieren. Dazu gehöre auch das Recht, sich über nationale Gesetze und Grenzen, also über das bestehende Völkerrecht hinwegzusetzen, wozu allerdings ein Konsens der Völker und Regierungen, also weit mehr als ein europäisches Rechtsdiktat gegenüber dem Rest der Welt nötig wäre, das in etwa Kants Auffassung der Erdkugel als kollektives und nicht vermehrbares Gesamteigentum der Menschheit und dem daraus folgenden Welt-Rechtssystem entspräche. Insgesamt finden sich in den Schriften Ecos aus dem letzten Drittel des 20.  Jahrhunderts viele bereits abgearbeitet geglaubte Themen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wie auch absolut neue, aber strukturell ähnliche, aus den Widersprüchen des 21. Jahrhunderts entstandene Probleme, deren Genesis und 281

oft verfälschende Behandlung durch die Massenmedien er seiner Aufklärung für wert gehalten hat.

Foucaults Vision der Postmoderne als Gefängnisgesellschaft Meines Erachtens hat der postmodernistische französische Philosoph Michel Foucault die Entleerung des modernen Menschen, wie sie in den Erzeugnissen der Trivialkultur sich manifestiert, in absolut aufklärerischer Manier in seiner Arbeit Surveiller et punir gemeint. Er hat als Philosoph und als Wissenschaftshistoriker mit seiner Inauguralschrift Wahnsinn und Gesellschaft (1961) einen Komplementärbericht zum Siegeszug des Rationalismus geliefert, insofern er den Wahnsinn als dialektischen Gegenpart zu letzterem und wohl auch als dessen Produkt beschrieb und Entstehung und Wachstum der Psychiatrie im 19. Jahrhundert als notwendiges Parallelphänomen zur Rationalisierung der modernen Lebenswelt wertete. Seine Arbeit ist keineswegs Negation der Aufklärung, sondern wie in der kritischen Romantik anfangs des 19. Jahrhunderts Kritik an deren Insuffizienz mangels Berücksichtigung der außerrationalen Komponenten des Menschseins. Dabei war ihm der Nachweis wichtig, dass Wahnsinnige wie andere nicht rationalistisch dominierte Minderheiten durch die vom Rationalismus beherrschte Gesellschaft ausgegrenzt, diskriminiert und ausgeschlossen werden. Die Exklusion im Zeichen der Vernunft wies er als einen Charakterzug der Moderne auch auf anderen Gebieten nach, so von Kindern, Kranken, Soldaten und Strafgefangenen in einer Welt voller Tabus und Verbote. Hedwig Richter polemisiert in ihrem Aufsatz Die Heimtücke der Moderne. Warum Foucault ein Aufklärer ist (2013)  – eine hervorragende Arbeit, auf die ich mich wesentlich stütze  – gegen die verbreitete Meinung, Foucault sei wie allgemein die Postmodernisten ein Gegner der Aufklärung gewesen, wobei sie kaum auf seine philosophischen Positionen im engeren Sinn, sondern eher auf seine dazu komplementären, hier in erster Linie interessierenden lebensweltlichen bzw. politischen Textuntergründe und Biographica abhebt. Surveiller et punir (dtsch. „Überwachen und Strafen“) aus dem Jahre 1975 ist auch wegen des pluralischen Doppelschlags der Substantive im Titel des Werkes eine meiner Meinung nach mentalitätsgeschichtliche Replik auf die bereits weiter oben erwähnte rechtsphilosophische und rechtspraktische Schrift Dei delitti e delle pene des Mailänder Aufklärers Cesare Beccaria (1738–94), dieses Vorkämpfers für eine moderne, aufgeklärte, von jeder Art Inquisition und Folter freie Strafjustiz in Italien wie Voltaire in Frankreich und Thomasius in Deutschland.

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Alle sozialökonomischen Sachverhalte werden in der Sicht Foucaults laut Richter überwölbt durch den politik- und wirtschaftsfrei scheinenden modernen staatlichen Gesetzeszwang, der keine Kettensträflinge benötige und sozusagen physische Gewaltlosigkeit im Sinne Beccarias an die Stelle mittelalterlicher Folter, Fron und Hinrichtungspraxen setze. Anstelle physisch durch Folter, Gefängnis, Misshandlung und Exekution strafender staatlicher Gewalt entwickelt Foucault kritisch das Bild einer Gesellschaft der Moderne, die eine disziplinierte und disziplinierende Zwangsanstalt nach dem Modell von Gefängnis, Schule, Krankenhaus, Internat usw. sei, die den Einwohnern als ihren „Insassen“ jede Freiheit nimmt, wogegen sie keinen Widerstand leisten (können). Dieser Modellentwurf ähnelt der von Franz Kafka beschriebenen „Strafkolonie“, jedoch, was sehr wichtig ist, ohne deren körperliche Strafen und Exekutionspraxis. Foucault fragt, woher diese verordnete und akzeptierte Selbstdisziplinierung kommt, worauf sie beruht und warum sich kein Widerspruch und Widerstand gegen sie regt. Jedweder Leser würde normalerweise das von Foucault entworfene System solch rüder Strafpraxis als ein Abbild voraufgeklärter Gesellschaften, des ancien régime, oder des faschistischen Autoritarismus des 20. Jahrhunderts von Hitler, Franco und Mussolini bis zu Pinochet und den argentinischen Generälen nehmen; doch die Instrumentarien und Ambientes dieser von Foucault beschriebenen extrem disziplinierten „Wohlfühlgesellschaft“ verweisen eindeutig auf die kapitalistische Moderne, nicht auf ältere Zeiten oder die autoritären Regimes der sogenannten Dritten, ausserokzidentalen Welt. Auch könnte man es schon deshalb keinem totalitären, faschistischen Staatswesen mit seinen notorischen Zwängen zuordnen, weil laut Richter Foucault eben keine wesentlichen Unterschiede zwischen Totalitarismus und Liberalismus macht und metaphorisch oder besser hyperbolisch durchaus die westliche Gesellschaft meine, deren indirekte Disziplinierung sogar für einen hervorstechenden Zug der westlichen aufgeklärten Demokratie halte. In dieser Perspektive ist Foucaults Surveiller et Punier ein aufklärerisches Werk, das der vollkommen im Sinne Max Webers rationalisierten modernen Welt den Spiegel so vergröbert und vergrößert vorhält, dass sie sich in diesem entsetzt selber erkennen muss. Richter betont, dass Foucaults Vorliebe für die voraufklärerische Epoche, insonderheit für die (französische) Klassik (besser gesagt Klassizismus), sich ergo nicht aus seiner präsumptiven Gegnerschaft gegen die Aufklärung ergäbe, sondern dass die Evokation des ancien régime vielmehr die Funktion einer Kontrastfolie habe gegen die mit der kapitalistischen Zivili283

sation in die Welt gekommene Moderne als indirekte Zwangsgesellschaft, in der nicht nur eine Oberschicht die Gewaltherrschaft gegen die unteren Volksklassen ausübe, sondern in der alle Gesellschaftsmitglieder einem unsichtbaren, sozusagen kapillarischen und daher allgegenwärtigen Zwangsregime unterworfen seien. Er bringt also gleichsam die vorbürgerliche Gesellschaft im Namen der Aufklärung gegen die gegenwärtige Moderne in Stellung. Foucault, der sowohl Psychologe wie Philosoph war, hatte sich mit der Thematik der Disziplinierung praktisch wie theoretisch befasst. Als Psychologe war er Mitglied einer GIP genannten Gruppe, die die Öffentlichkeit über die skandalöse Lage der Insassen der französischen Gefängnisse informierte und auch Hilfsaktionen für letztere organisierte. Er wusste also aus empirischer Kenntnis, worüber er sprach und schrieb, und maßte sich aus dieser Wirklichkeitskenntnis heraus das Recht an, über diese verborgenen Zwänge seine Mitmenschen „aufzuklären“, die allzu arglos und unwissend die Parolen des Hegemonialdiskurses von Freiheit und Demokratie im Sinne von Wittgenstein „für wahr“ hielten, ohne die Dialektik und Ambiguität dieses politischen Vokabulars zu bemerken. Theoretisch und historisch setzte er sich u. a. mit dieser Thematik in seinem dreibändigen Werk zur Sexualgeschichte Histoire de la sexualité (1976–84), dtsch. Der Gebrauch der Lüste auseinander. Dabei behandelte er vor allem die auf die Sexualität bezogenen Ansichten und Vorschriften bzw. Verbote, Disziplinierungen und Bestrafungen heterodoxer, nicht mainstreamkonformer Gruppen und Konventionen in Bezug auf Keuschheit, Promiskuität, Homosexualität, Paarheit, Fortpflanzung, Zölibat und andere inkriminierte Praktiken in Antike und Christenheit, sowie und nicht zuletzt die Tabuisierung der Sexualität und des auf diese bezüglichen Vokabulars. Sein Werk hebt also auf genau dieselben Tabus und Zwänge besonders in sexueller Hinsicht ab, die 200 Jahre zuvor im 18.  Jahrhundert in prononciert aufklärerischer Tendenz bereits Denis Diderot in seinem Supplément au voyage de Bougainville denunziert hatte, die also seit damals intakt geblieben waren, sich allerdings in der offenen westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts im Unterschied zu vielen außerokzidentalen Kulturen aufgeweicht haben. Foucaults Buch setzt mit einer furiosen, fast sadistischen Beschreibung voraufklärerischer Folterpraktiken des ancien régime ein: mit der aktiven, zustimmenden und begeisterten Beteiligung des Volkes an einer Hinrichtung, an einem „Hinrichtungsfest“, müsste man sagen – dieses mittelalterliche, vom ancien ré­ gime ausgiebig gepflegte öffentliche Spektakel, das seine Verlängerung in den Guillotinierungsorgien auf der Pariser Place de Grève zur Zeit des Jakobinerterrors fand und also auch etwas mit Aufklärung zu schaffen hat. 284

Doch Foucaults Darstellung ist keine Apologie der Grausamkeit, sondern will lediglich funktional einleitend den Gegensatz zwischen voraufklärerischer offener physischer Strafdisziplinierung durch Folter und Exekution einerseits und der anschließend von ihm analysierten modernen, aufgeklärten, impliziten, quasi hinter dem Rücken der Gesellschaft bzw. der Individuen vorgehenden gewaltfreien Disziplinierung andererseits illustrieren, die nicht nur ohne öffentliche Hinrichtungs-Gala-Vorstellungen, sondern auch weitgehend ohne Todesurteile auskommt – und, und das ist wohl das Entscheidende, sogar ohne physische Strafen  – punitions –. Aber nicht, weil die Bürger aus Rechtsbewusstsein die geltenden Rechtsvorschriften und -verbote interioriert hätten, sondern weil der stumme Zwang der politischen und ökonomischen Verhältnisse sie ohne jede Strafandrohung diszipliniert, ein Vorgang, den sie laut Foucault ohne Protest willenlos akzeptieren. Aus diesem Grund und nicht als platte Identität setzt Foucault die westliche Demokratie-Gesellschaft mit ihren die Individuen disziplinierenden Instanzen und Institutionen mit Krankenhäusern, Schulen, Gefängnissen und Kasernen gleich, bloß ohne Ankettung und Inhaftierung der Insassen. Diese Art gewaltloser Disziplinierung erstickt jede Kritik und jeden Änderungswunsch an den bestehenden Verhältnissen und damit jedes aufklärerische Verhalten. Fast könnte man die Identität der Position Foucaults mit Adornos Kritik am „Einverstandensein“ in der Dialektik der Aufklärung unterstellen, am gewaltlosen Zwang zum Einverständnis mit den modernen Herrschaftspraktiken der Disziplinierung, Normierung und totalen Vernutzung des Menschen in einer Gesellschaft, „in der alles strafbar ist, was nicht konform ist“ (ibd., 221), also unter der Diktatur des mainstream. „Foucaults Zielscheibe ist die Heimtücke der westlichen Welt, er will die Freiheitsdiskurse und den naiven Glauben an die Kraft von Verfassung und Gesetz entlarven“, schreibt Richter (ibd., 227). „Aufklärung“ sei dagegen für Foucault immer schon dort am Werk, wo Kritik und Selbstkritik im Namen der Vernunft geübt würden ,„und nicht nur an patriarchalischen Diktaturen in Zentralafrika oder an intoleranten, fundamentalistischen Weltbildern“ (ibd., 230), sondern eben an der modernen westlichen Kultur. Diese Bemerkung ist insofern von Belang, als der mainstream die Kumulierung von Patriarchalismus, Fundamentalismus und Terrorismus nur in der Welt der Andersrassigen und Andersgläubigen, in der sogenannten Dritten Welt ortet, ohne deren historische, weltpolitische und geopolitische Ursachen zu benennen, so dass, allerdings völlig unbeabsichtigt, bei der in dieser Hinsicht weitgehend unaufgeklärten Masse der okzidentalen Bevölkerung zumindest unterschwellig durch die massierte tägliche mediale 285

Berichterstattung über diese ferne, exotische Welt alte Vorurteile gegenüber „Fremden“ bekräftigt und geschürt und neue Klischees aufgebaut werden. Man kann in der Tat diesen Gedanken Foucaults folgend vermeinen, die von Roland Barthes und Umberto Eco in den in den obigen Auswahltexten analysierten dümmlichen Meinungen und Urteilen einiger Massenmedien und der von ihnen vorbeeinflussten Leser und Touristen ihres Landes existieren auch heute unverändert unbelehrbar weiter. Foucaults Kritik gelte dem Mythos von Freiheit und Demokratie – wohlgemerkt nicht der Freiheit und Demokratie als solchen, sondern ihrer modernen Mythisierung – womit er der mythenkritischen Linie der modernen Aufklärer Adorno/Horkheimer, Roland Barthes, Umberto Eco und des nachfolgend zu untersuchenden Neil Postman folgt. Dabei muss man auch den von mir nachgewiesenen historischen Hintergrund der Mythisierung von freedom und equality in den USA-Menschenrechtserklärungen in die kritische Analyse mit einbeziehen.

MacLuhans und Neil Postmans aufklärerische Kritik am Fernsehzeitalter Im Vergleich zu diesen europäischen, philosophisch-theoretisch begründeten Kritiken an den neuen aufklärungsfeindlichen und -bedürftigen Zügen der Produkte der modernen Kulturindustrie sind die von den Nordamerikanern MacLuhan und Neil Postman verfassten medienkritischen, enthüllenden und also aufklärerischen Schriften zwar ebenso radikal, aber mehr pragmatischen Gehalts. Ihre andere Sicht und Aufklärung gilt den neuen, von den Medien dirigierten Verhältnissen des Fernsehzeitalters, das alte Kommunikationsmittel der dreißiger und vierziger Jahre wie Telefon und Film beiseite schiebt und die Massen „in Farbe“ erobere. Die TV sei ein Meta-Medium, das das Wissen der Menschen über die Welt und das Wissen, wie man Wissen erlangt, bestimme. Postman reiht sich bewusst in die moderne kritische Aufklärungstradition ein, wenn er sich ausdrücklich auf Barthes’ Mythologies beruft, die mit der TV eine neue Qualität erreichen: Gleichzeitig hat das Fernsehen den Status eines „Mythos“ im Sinne von Roland Barthes erreicht. Barthes versteht unter Mythos eine Form von Weltverständnis, die unproblematisch ist, deren wir uns nicht völlig bewusst sind, die uns, um es mit einem Wort zu sagen, natürlich erscheint. Ein Mythos ist eine Denkfigur, die so tief in unserem Bewusstsein verankert ist, dass sie unsichtbar wird. (Postman 1985, 100 f.)

Er meint natürlich nicht nur die modernen Medien, sondern auch die von ihnen geschaffenen oder verbreiteten modernen Mythen. Er überträgt auf das damals 286

neue Massenmemedium TV, wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, den ahistorisierenden, aufklärungsfeindlichen, weil jeden menschlich-gesellschaftlichen Ursprung der Erscheinungen verwischenden, sogar ignorierenden ontologisierenden Naturalisierungseffekt. Es ist nicht zufällig, dass Marshall MacLuhan und Neil Postman aus den USA/ Kanada stammen, wo nicht nur die Kulturindustrie entstand, sondern auch das neue, ebenfalls zur Kulturindustrie gehörende, wohl in Deutschland erfundene? Medium TV, das sich dort schnell und flächendeckend ausbreitete, auf dessen Erfahrungen dann die allerneusten, nämlich elektronisch betriebenen Massenmedien aufbauen. Neil Postmann zumal beschränkt sich fast ausschließlich auf die USA und erfasst mit dieser begrenzten Perspektive dennoch die wesentlichen Aspekte und Facetten des Mediums Fernsehen. Allerdings geht er am Verweis Adornos/Horkheimers auf die ambivalente Rolle der Kulturindustrie vorbei. Die reine Medialisierung des Problems durch ihn geht schon aus seinen einleitenden Bemerkungen zu seinem Hauptwerk Wir amüsieren uns zu Tode Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindus­ trie hervor, in denen er als wichtige Entwicklungsphasen weniger die neuen Denkinhalte als vielmehr die historischen Medienwechsel von der oralen über die skripturale Kultur und statische Bildhaftigkeit der Fotographie zur bewegten Visualität von Film und TV nennt  – wobei er manche Gedanken von Walter Benjamin über das Zeitalter der mechanischen Reproduzierbarkeit streift, ohne ihn zu zitieren und wahrscheinlich ohne ihn zu kennen, weshalb er bei einer rein phänomenologischen Sicht stehen bleibt und dessen philosophische Vertiefung nicht erreicht. Dabei kommt es ihm mehr auf die Medienkritik als auf die Aufklärung des TVKonsumenten über die Motive, Strategien und Interessen der Medienproduzenten an, die im Fokus der europäischen Neo-Aufklärer AdornoHorkheimer, Barthes und Eco stehen. Er geht auf eine in Europa in dieser Exklusivität und Funktion nicht vorhandene Besonderheit der USA-Demokratie ein, auf das Instrument des traditionellen „öffentlichen Diskurses“, der einst wie weiter vorn schon von mir erwähnt zur Herausbildung des aufgeklärten Staatsbürgers, des citoyen éclairé und der US-amerikanischen Basisdemokratie diente und die im 18. Jahrhundert von der Unabhängigkeitsrevolution verabsäumte Aufklärung nachholte, der jedoch nunmehr der Widerruf oder sogar die Abschaffung durch das neue Medium drohe: (während) sich der öffentliche Diskurs unter der Vorherrschaft der Druckpresse von dem des heutigen Amerika unterscheidet, dadurch nämlich, dass er im allgemeinen kohärent, ernsthaft und rational geführt wurde; dann muss ich nachzeichnen, wie dieser öffentliche Diskurs unter der Vorherrschaft des Fernsehens verkümmerte und unsinnig geworden ist. (ibd., 26)

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Postman geht wie sein Freund und Vorbild MacLuhan konsequenterweise von seinen medienwissenschaftlichen Erkenntnissen aus, weder von der Wirtschaft wie Adorno/Horkheimer noch von der Semiologie wie Roland Barthes, noch von einer politischen Semiotik wie Eco, was zu einer gewissen Ausblendung dieser Faktoren aus seiner Argumentation und Bilanzierung führt. Neil Postmans Wir amüsieren uns zu Tode setzt ein mit den basisdemokratischen öffentlichen politischen Dialogen in den englischen Kolonien im 18. und den USA des 19. Jahrhunderts, in denen die Printmedien, das Buch und mehr noch die Zeitungen so stark und verbreitet waren, dass sie ihren prosaischen Abhandlungsstil auch der oralen Rhetorik aufzwangen, in der beispielsweise Abraham Lincoln sich in stundenlangen Rededuellen mit Andersgesinnten vor einem begeistert wie in einer Sportschau mitgehenden Publikum erging: bewusste Vorübungen für seine öffentlichen Diskurse in Senat und Regierung und quasi unbewusste Vorwegnahme der heutigen publikumswirksamen und nahezu die Gesamtbevölkerung erreichenden spektakulären Fernsehduelle zwischen Präsidentschaftskandidaten als entertainment, die aber durchaus als Mittel des öffentlichen Diskurses unter dem damaligen demokratischen Funktionsverständnis von Öffentlichkeit praktiziert wurden. Damit gelangt Postman schnell zur TV, wobei stets der mediale Gesichtspunkt überwiegt, indem er das Dominieren des Bildes über das Wort als einen die intellektuelle Rezeption mindernden Medialeffekt konstatiert. Für ihn ist das Medium selbst, das Bild, und die Ablösung von Buch und Zeitung, also der Printmedien, durch die Bildmedien nicht wie für Horkheimer/Adorno die Folge des Geschäftssinns der diese neue Wirtschaftsbranche schaffenden Investitoren, die eine Marktlücke schließen, und von der sie die Entwicklung der Unterhaltungsindustrie ableiten, sondern im Gegenteil die Ursache für das Entstehen der letzteren. In seinen Ausführungen klingt immer seines Lehrers Marshal McLuhans Grunderkenntnis und Hauptentdeckung durch: „the medium is the message“. Er schreibt, dass „die Druckpresse als Metapher und als Epistemologie einen ernsthaften, rationalen öffentlichen Austausch hervorbrachte, von den wir uns heute bereits wieder entfernt haben“. (ibd., 59) Doch ist sein Ausgangspunkt, dass die Inhalte der Botschaften auf diese Medienform zurückzuführen seien, „dass die (mediale) Form ihrerseits die Beschaffenheit der übermittelten Inhalte bestimmt.“ (ibd., 8) Dafür, für diese Primärdetermination des gedanklichen Inhalts durch die mediale Form, rekurriert er als Beweis auf Marxens bekannte Feststellung in der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie:

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(...) ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die Iliade mit der Druckerpresse, und gar Druckmaschine? Hört nicht das Singen und Sagen und die Muse mit dem Pressbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie? (ibd., 58 f.)

In seiner ruhig dahinplätschernden essayistischen, anekdotengewürzten Prosa sieht Postman die Vorläufer der Medienkritik in der angelsächsischen Belletristik, in den düsteren Zukunftsvisionen von George Orwells 1984 und mehr noch in dem weit älteren „utopischen Roman“ Brave New World von Aldous Huxley. Er konstatiert, dass die heutigen Medien mit ihren billigen Bildern, flachen Narrationen und trivialen Inhalten genau das als eine Art fiktionalisierter Wirklichkeit bzw. besser gesagt als eine verwirklichte Fiktion realisieren, wovor ihrerzeit Orwell und Huxley mit ihren Utopien warnen wollten. Im Unterschied zu diesen beiden Vorvätern sieht er das moderne showbusi­ ness, also eine besondere Art Unterhaltung, als den Hauptzweig der Kulturindustrie an (von der nicht die Rede ist, weder inhaltlich noch lexikalisch; von deutschen Wissenschaftlern erwähnt er, wenn ich richtig sehe, nur Karl Marx und Ernst Cassirer). Das Fernsehen sei dabei, „unsere (d. h. die USA-) Kultur in eine riesige Arena für das Showbusiness zu verwandeln“ (ibd., 102), und nennt die heutigen USA eine Kultur, in der der gesamte öffentliche Diskurs immer mehr die Form des entertainments annimmt. Weitgehend ohne Protest und ohne dass die Öffentlichkeit auch nur Notiz davon genommen hatte, hätten sich Politik, Religion, Nachrichten, Sport, Erziehungswesen in kongeniale Anhängsel des Showbusiness verwandelt, was er „einen Abstieg in die grenzenlose Trivialität“ nennt. (ibd., 142) Weiter schreibt er: „das amerikanische Fernsehen hat sich ganz und gar der Aufgabe verschrieben, sein Publikum mit Unterhaltung zu versorgen“. (Ibd., 108) Das erinnert an die noch weitergehende, den wahren Effekt der ständigen Überschüttung mit Amüsement – „wir amüsieren uns zu Tode“ – bereits im VorTV-Zeitalter enthüllende Feststellung von Adorno/Horkheimer, dass das Amüsement jede kritische Sicht eines miserablen Gesellschaftszustandes und jedes widerständige, sozusagen oppositionelle und das heißt aufklärerische Nachdenken, zum Beispiel über die Hintergründe von moderner Intoleranz, von Vorurteilen, Fremdenfeindlichkeit, Terrorismus und kriegerischen Konflikten, abtötet. Postman schreibt, der Umbruch vom Buchdruckzeitalter zum Fernsehzeitalter habe eine Verschiebung im Inhalt und der Bedeutung des „öffentlichen Diskurses“ herbeigeführt, denn „zwei so unterschiedliche Medien können nicht die gleichen Ideen in sich aufnehmen. In dem Maße, wie der Einfluss des Buches schwindet, müssen sich die Inhalte der Politik, der Religion, der Bildung und 289

anderer öffentlicher Bereiche verändern und in eine Form gebracht werden, die dem Fernsehen angemessen ist.“ (ibd., 17) Ich glaube jedoch, dass nicht der Medienwechsel allein schon die Trivialisierung und damit Verfälschung des öffentlichen Diskurses und die Vernichtung oder doch Abminderung seiner aufklärerischen Potenzen bedeutet und damit die ständige Neuschöpfung des US-amerikanischen citoyen éclairé verhindert, obwohl dieser Wechsel zweifellos eine gewollte? Verschiebung der Aufmerksamkeit der Rezipienten von den Inhalten der Botschaften zur Form ihrer Präsentation mit sich bringt. Diese kann bis zum Ignorieren der eigentlichen Aussagen zugunsten rhetorischer. gestischer und sogar kosmetisch-modischer Effekte und, vor allem, kommerzieller Zwecke gehen  – der sales talk, die Stimme des Marktschreiers vom Jahrmarkt (...), wovor schon Horkheimer/Adorno warnten. Doch dies ist ein notwendiger, aber nicht hinreichender Grund. Aber wenn das entertainment (das allerdings Postman zufolge ohne physische Präsenz der Akteure und damit ohne Bildhaftigkeit, ob als Photo, Film oder TV, nicht seine Wirkung erreichten kann) zum Hauptzweck avanciert, also das Zeigen wichtiger wird als das Gezeigte, so rutscht der Inhalt in die Funktionale, wird laut Postman zur Nebensache. Insofern wird also der für den Bestand der demokratischen USA-Kommunität lebenswichtige öffentliche Diskurs, der Dialog der Bürger, der citoyens éclairés, der Regierten mit den Regierenden, dessen Hauptmedium in den USA das Fernsehen nun einmal geworden ist – und dessen enorme soziale, kulturelle und kommunikative Bedeutung Postman mit Recht hervorhebt – marginalisiert gegenüber den effektvoll ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Rezipienten gerückten und zu Haupt- und Staatsaktionen hochkatapultierten Nebensächlichkeiten und Banalitäten des show-business. Der Bürger wird so entmündigt, insofern er seines eigenen Mitdenkens und damit auch Mitwirkens an den öffentlichen Angelegenheiten und der Anstrengung seines eigenen Verstandes, des Selber-Denkens, also seines Status’ als aufgeklärter Bürger enthoben wird. Vor allem wird damit die Aufklärung im eigentlichen Sinne des Wortes, die Information über die Welt, den Staat, die jeweilige Kommunität, die der öffentliche Diskurs an die einzelnen Bürger heranträgt, eliminiert, zum bloßen Beiwerk reduziert, ja möglicherweise zum Instrument der Gegenaufklärung. Deshalb spricht Postman ähnlich wie Adorno/ Horkheimer vom Verdummungseffekt eines so um seine aufklärerische Potenz amputierten und auf das leere Amüsement reduzierten Diskurses. Dem TV-Diskurs sagt Postman nach, dass dieser die Zuschauer mit Information überfüttere – der Begriff „Information“ hat überall in der Moderne bereits ebenfalls den Status eines „Mythos“ erreicht – und daher handlungslos mache,

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ihre soziale und politische Handlungsfähigkeit, mit anderen Worte ihre Rolle als Staatsbürger verringere. (ibd., 88) Dabei macht er auf einen weiteren wesentlichen, die Ambivalenz und letztlich Falschheit und sogar Verlogenheit der „Information“ und damit des Terminus „Informationsgesellschaft“ enthüllenden Sachverhalt aufmerksam: statt Information erfolge „Desinformation“, aber mit dem Schein der Wahrheit bzw. Wahrscheinlichkeit, in genau demselben Sinne, „wie es Spione der CIA oder des KGB benutzen“, Information nicht als Aufklärung über die diesseitige Wirklichkeit, sondern als deren Verdeckung oder Verklärung, schreibt er, und fährt fort: Desinformation ist nicht dasselbe wie Falschinformation. Desinformation bedeutet irreführende Information – unangebrachte, irrelevante, bruchstückhafte oder oberflächliche Information, die vortäuscht, man wisse was, während sie einen in Wirklichkeit vom Wissen weglockt. (ibd., 133)

Erst durch diese  – sozusagen mythisierende, gegenaufklärende  – Bearbeitung, Aufbereitung und Präsentation wahrer Sachverhalte und damit ihre Verwandlung in Schein gelänge es, jede kritische Verstandesregung im Publikum auszulöschen und es von der „Wahrheit der Lüge“ zu überzeugen. In diesem Zusammenhang sei an die von Umberto Eco benutzte Kategorie kritischer Leser bzw. Rezipient erinnert, die ebenfalls ihren Ursprung in der Aufklärung hat, die stets das Moment der Distanz, der Verfremdung, des „Nichteinverstandenseins“ im Sinne Adornos/Horkheimers hervorhob. Eco monierte gerade an der gängigen Massen- und Unterhaltungsliteratur des mainstream ihren Verzicht auf den kritischen, an der Interpretation der Texte aktiv mitarbeitenden und damit im Aufklärungssinn „mündigen“ Leser, dessen Abwesenheit allerdings meiner Ansicht nach konstitutiv für die Ideologie der Trivialkultur ist, die nur auf der Passivität des Rezipienten aufgebaut ist und vor einem kritischen Leser bzw. Hörer versagt. Laut Eco ist schon das meist kurzzeitige, keine aufwändige Gedächtnisarbeit und Kombinatorik erfordernde Zerstückeln der Abenteuerromanhandlungen und  – fortsetzungen oder der Unterhaltungsmusikstücke eine den Trivialcharakter des jeweiligen Werkes fördernde Strategie, die einen niedrigen Aufmerksamkeitspegel voraussetzt, der doch für eine kritische Lektüre stets hoch angesetzt sein muss, und damit ein dessen aufklärerische Potenzen minimierendes Moment ist. Bei aller Anerkennung der Trefflichkeit der Feststellungen Postmans bezüglich der prinzipiell wachsenden und sich steigernden Trivialität des medialen Diskurses in den USA muss jedoch vor einer mechanischen Übertragung seiner Schlussfolgerungen auf europäische und speziell deutsche Medienverhältnisse

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gewarnt werden, besonders was die Degeneration des öffentlichen Diskurses betrifft, um den es Postman in erster Linie geht. Zu einen bedeutet Amüsement nicht automatisch Verdummung, und der Unterhaltungstrieb des Menschen hat sich in einem historischen Prozess der Zivilisierung gewissermaßen arbeitsteilig vom Lern- und Arbeitsprozess verselbständigt. Zum anderen ist die Identifikation Medium gleich Botschaft schlicht falsch. Ohne die Medien wäre nie eine Aufklärung zustande gekommen, wie auch die Rolle der Zeitschriften, Zeitungen und Bücher und natürlich auch von Rundfunk und Fernsehen bei der „Aufklärung“, d. h. sachkundigen Information über Wissenschaften, Politik und Lebensführung zeigt. Im Rahmen des mitteleuropäischen TV-Netzes existiert zudem immer noch ein von der Mehrzahl der Fernsehzuschauer akzeptiertes und verfolgtes öffentlich-rechtliches, jetzt sogar zwangsweise durch Gebühren vom Publikum mitfinanziertes Fernsehen, in einigen anderen Ländern ein ähnlich organisiertes staatliches TV-Unternehmen, wogegen die meisten und am meisten gesehenen Sendungen in den USA von privaten Sendern oder der CIA und damit aus rein kommerziellen bzw. ideologischen Gründen, und nicht als öffentlicher Diskurs ausgestrahlt werden. Vor allem letztere, die durch keinen Bildungs- und Informationsauftrag gesetzlich gebunden sind, die aber die hohen Betriebskosten einspielen müssen und prinzipiell gewinnorientiert sind, tragen für das von Postman so eindringlich charakterisierte kulturzerstörerische, mit großer Breiten- und Tiefenwirkung betriebene Werk der Trivialisierung und der systematisch scheinenden Ablenkung des mainstream von den großen Problemen der Gesellschaft und der Welt die Verantwortung. Vor allem okkupieren sie den begrenzten Lebenszeitfonds der Menschen einseitig auf bloßen Zeitvertreib, ganz abgesehen von der oft dubiosen Moralität solcher Medienproduktionen. Man kann im Gegenteil in Europa noch von einer aufklärerischen Rolle von Fernsehen und Rundfunk in der Gesellschaft sprechen, nicht nur was das gemeinsame deutsch-französische arteProgramm betrifft, die beide als öffentlich-rechtliche Institutionen einen verfassungsmäßigen Auftrag u. a. zur Förderung der öffentlichen Meinungsbildung haben und in diesem Sinne spielerische, phantasieanregende wissenschaftliche, künstlerische und politische und in diesem Sinne bildende und erzieherische Programme ausstrahlen, die zudem des Unterhaltungswertes nicht entbehren müssen. Insofern greift die bereits von MacLuhan in seinem damals aufsehenerregenden Werk erhobene These, die Geschmacksnivellierung sei auf das enter­ tainment-Fernsehen zurückzuführen, bislang in Europa weniger. Dennoch bleibt die Frage, warum sich flache Unterhaltung geradezu flächendeckend durchsetzt und die meisten Printmedien erfasst, vor allem die bunten 292

Illustrierten und die früher meist als „seicht“ bezeichnete Unterhaltungsliteratur und -musik, sowie den Rundfunk und vor allem das Fernsehen. Auf diese Gründe geht Postman, der seinem Vorgänger und Vorbild Marshall MacLuhan vorwirft, keine Ursachenforschung zu betreiben, kaum ein. Die Gründe liegen in der bereits von König Friedrich II. festgestellten niemals aufgehobenen, sondern sich in der Neuzeit verstärkenden Spaltung der Gesellschaft in eine gebildete intellektuelle oder bürgerliche Elite und eine auf Arbeit, Beruf und entspannende Freizeit dressierte Menschenmasse, die der Rezeptionsvoraussetzungen, nämlich des erforderlichen Vorwissens für das Verständnis und den Genusscharakter der Produkte der Hochkultur ermangeln, weil ihre Rezeptionsfähigkeiten, -gewohnheiten und -bedürfnisse aufgrund ihres Bildungsweges nicht durch Habituierung an diese Kultur angepasst sind. Auf diese Massenkultur („masscult“, wie sie der USA-Theoretiker MacDonald lt. Eco (1990, 256) genannt hat) stellen sich die Massenmedien ein, während die gehobenen Journale ihre Publikationen auf die geistigen Bedürfnisse der Mittelklasse mit dem „Midcult“ und die der intellektuellen Minderheiten mit Produkten der „Hochkultur“ abstellen. Hier wie überall in der Moderne entscheidet die kommerzielle Rationalität in letzter Instanz über die Distribution der Kultur, vor allem über die Inhalte und Strukturen der Freizeitbedürfnisse und über die Mittel zu deren Befriedigung. Infolge der durch die wirtschaftliche wie ideologische Globalisierung sich kulturell vereinheitlichenden Welt nähern sich innerhalb des Abendlandes nicht die amerikanischen den europäischen, sondern scheinbar umgekehrt die europäischen den fortgeschrittenen amerikanischen an, zumal sowohl im Veranstaltungswesen wie in der Belletristik und im Film die USA-Produktionen mit ihrer nationalspezifischen Dramaturgie, Denkweise, Lebensphilosophie und Individualpsychologie bis zu den körperlichen Bewegungen und der Gestik der Filmschauspieler alle anderen Varianten des homo sapiens sapiens aus dem Kulturvorrat der Menschheit ersatzlos verdrängt oder marginalisiert bzw. vernichtet haben. Von einer „kulturellen Vielfalt“, von der statt eines Huntingtonschen „Kampfes der Kulturen“ Tzvetan Todorov im Untertitel seines bereits erwähnten Buches Die Angst vor den Barbaren schwärmt, kann nicht die Rede sein. Aber es geht hier nicht um das kulturelle Niveau der Massenmedien, obwohl die Verführung groß ist, in den allgemeinen Chor trister Ablehnung und Medienbeschimpfung einzustimmen, sondern um die verunklarende Weltsicht dieser Produktionen, ihre verunselbständigende Wirkung auf die Rezipienten und die Reduktion des Angebots an reichen Möglichkeiten des Menschseins auf die je trivialste Variante und um die daraus folgende interiorisierte Gewöhnung an 293

diese Verarmung, was alles ihre der Aufklärung extrem widersprechende Wirkungen sind. Viel gravierender noch als diese relativ anspruchslose und meist harmlose Massen-Unterhaltungskunst „an der Aufklärung vorbei“ erscheint mir die im Bereich der gehobenen Wissensvermittlung angesiedelte indirekte und eher öffentlichkeits- als massenwirksame Negierung des aufklärerischen Erbes zu sein. Dies drückt sich beispielsweise aktuell im Fehlen einer intensiven und gezielten „Aufklärung“ über Ursachen und Hintergründe des II. Weltkrieges aus, die in einer Umkehrung der wahren Kriegsgründe und Schuldigen durch daran interessierte Kreise besteht: statt den Hitlerfaschisten wird den späteren Siegermächten USA, Sowjetunion, Grossbritannien und Frankreich wenn nicht die Hauptkriegsschuld, so doch eine große Mitschuld angelastet, die notorischen, im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess – auf den merkwürdigerweise gar nicht in diesem Zusammenhang hingewiesen wird – aktenkundig der Weltöffentlichkeit vorgelegten Beweise zu „Siegergeschichtsschreibung“ deklariert. Dieser Revisionismus, der das Gegenteil von Aufklärung ist, wird in dem Artikel Von Scharlatanen und Geschichtsrevionisten von Dick Mellis in der Festschrift für Thomas Stamm-Kuhlmann (ibd., 013) anhand von Schriften und Vorträgen zweier rechtsrevisionistischer Autoren über den II. Weltkrieg  – des Bundeswehr-Generalmajors a. D. Gerd Schultze-Rhonhoff und des Historikers und gelegentlichen Mitarbeiters der FAZ Dr. phil. Stefan Scholl – analysiert. Die beiden bemühten sich in auflagenstarken Büchern mit bis zu 27 000 Exemplaren bzw. vielbesuchten Vorträgen vor Schülern und Studenten, ihre rechtsrevisionistischen Thesen zu verbreiten, die die wissenschaftlich-empirisch oder logischsystemisch bewiesenen Fakten und Zusammenhänge leugnen oder verdrehen und damit eine falsche Realitätssicht über den II. Weltkrieg – ein kapitales Ereignis der europäischen und Weltgeschichte – in ihren jungen Zuhörern in einer Art Gegenaufklärung, in einer Widerlegung der historischen Wahrheit erzeugen. Noch auf eine andere aufklärungsfeindliche, ebenfalls im theoretischen und nicht im praktisch-politischen Bereich liegende Spur führt die Arbeit von Langewand über „Geschichtswissenschaftliche Praxis zwischen Postmoderne und Rechtsrevisionismus“ (In: Güth et alii, 2013), aus der oben zitiert wurde: er sieht in der Vorherrschaft des Postmodernismus angelsächsischer Provenienz in der Geschichtswissenschaft einen zwar nicht neofaschistischen, wohl aber einen aufklärungsfeindlichen Rechtsrevisionismus, der sich u. a. in der Leugnung des Holocaust äußere. Er zitiert (ibd., 256 f.) Deborah Lippstadts Einschätzung, dass sich die Leugnung von Auschwitz zum Teil auf das durch den Postmodernismus herrschende intellektuelle Klima zurückführen lasse: „Die Holocaust-Leugner 294

betreiben ihr Gewerbe zu einem Zeitpunkt, da weite Domänen der Geschichtsschreibung anscheinend frei disponibel geworden sind und Angriffe auf die Tradition der Aufklärung (...) zur Tagesordnung gehören.“ Den Generalangriff des Postmodernismus auf die „Tradition der Aufklärung“ sieht er in der Behauptung des britischen Historikers Keith Jenkins vom unwiederbringlichen Zusammenbruch von Geschichte, Ethik und Epistemologie (ibd., 255) sowie in der postmodernen Leugnung des Kriteriums der Wahrheit und der daraus folgenden Beliebigkeit mitsamt des inhärenten „Mangels an wissenschaftlichen Kriterien für die Falsifikation faschistischer Geschichtstheorien“ (ibd., 257).8 Seine Schlussfolgerung ist eine Rückbesinnung auf Adorno und Horkheimer: „(...) nicht trotz, sondern eingedenk der Dialektik der Aufklärung (...) ließe sich so ein aufklärerisches Ideal bewahren“. (ibd., 270)

Das Fernsehen als Ersatz und Konkurrenz der Volksbildung Die meisten Darstellungen der Erziehung und Volksbildung vergaßen lange Zeit weitgehend die dominierende Rolle der Medien in praktischer Pädagogik, ihren Einfluss auf die je junge Generation. Darauf macht Postman in alarmierender Weise aufmerksam, obgleich er zum eigentlichen damit verbundenen Thema, welchen spezifischen Effekt auf die Erziehung und Bildung der Schüler das Fernsehen ausübt, nicht viel zu sagen hat. Dabei stehen diese Medien unter ständiger Beobachtung und meist kritischer Kommentierung durch die darauf spezialisierten Wissenschaftler und Journalisten. Die Zahl der Publikationen auf dem Gebiet der Massenmedienstudien ist bereits Legion, es gibt eine internationale Vereinigung der Medienforscher, die Beschäftigung mit den Medien ist seit ihrem Übergang in die elektronischdigitale Phase geradezu zu einer Pflicht aller Kulturologen geworden. Insofern ist die bewusste Zuspitzung der Aufklärungsproblematik auf die Rolle der Medien für die Volksbildung durch den US-Amerikaner MacLuhan –

8 An diesen Feststellungen zur privilegierten Stellung von Bildung und Wissenschaft in Frankreich lässt sich der kulturelle Unterschied zu Deutschland ermessen, der nicht durch oberflächlich ideologisierende Gegensätzlichkeiten zwischen deutscher Zurückgebliebenheit und französischem Kulturavantgardismus polemisch heruntergespielt werden sollte. Die Hauptdifferenz ist die zwischen dem gleichbleibend kooperativen Verhältnis zwischen Staat und Bildung in Frankreich und dem aus einstigem und heutigem Paternalismus und Gleichgültigkeit bestehenden Kulturföderalismus in deutschen Landen, folgt man Tenorth in seiner auf die deutsche Bildungspolitik fokussierenden Erziehungsgeschichte.

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über die bei von Adorno bis Eco zu beobachtende bevorzugte und einseitige Behandlung der Beeinflussung des allgemeinen Bewusstseins durch diese modernen Informations- und Kommunikationsorgane hinaus – ein bislang von der Forschung zu wenig beachtetes Novum. Über den allgemeinen und doch meist überzeugenden und treffenden Feststellungen Neil Postmans über die doch vielfach aufklärungsneutrale bis aufklärungfeindliche Rolle der meisten USA-Fernsehstationen bzw. TV-Sendungen wird leicht vergessen, dass dieser führende nordamerikanische Kulturologe  – was ein verwandtes, aber ganz anders kalibiertes Problemfeld ist – an hervorragender Stelle auf die Rolle der Medien, speziell des Fernsehens, als Ersatz und Konkurrenz zum Volksbildungswesen verweist: dies ist sogar sein eigentliches Thema. Er schreibt, „dass das Fernsehen  – wie vorher das Alphabet oder die Druckpresse – dadurch, dass es die Zeit und die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmungsgewohnheiten unserer Jugend zu kontrollieren vermag, die Macht erlangt, ihre Erziehung zu kontrollieren.“ (Postman 1985, 178) Diese wissenschaftliche und nicht nur polemische Feststellung trieb Postman zur These von der erzieherischen Konkurrenz zwischen Schule und TV als Curricularinstanzen: Deswegen halte ich es für zutreffend, wenn man das Fernsehen als Curriculum bezeichnet. Ein Curriculum ist nach meinem Verständnis ein eigens erstelltes System der Information und Unterweisung, das zum Ziel hat, den Verstand und die Persönlichkeit junger Menschen zu beeinflussen, zu unterrichten, zu schulen und zu kultivieren. Genau dies tut das Fernsehen natürlich  – und zwar schonungslos. Dadurch tritt es mit Erfolg in Konkurrenz zum Schulunterricht, will sagen, es ist verdammt nahe dran, ihn zu zerstören. (ibd.)

In Frankreich bezeichnete laut Röseberg (1992, 137) der Soziologe Georges Friedmann das Fernsehen ähnlich wie Postman als „école parallèle“, da vor allem viele Kinder sehr viel Zeit auf den Bildschirm verwenden. „Nachweislich hat dieses Medium Ende der 60er Jahre auf die Lektürewahl bereits größeren Einfluss als die Schule“. In den Veröffentlichungen der 70er und 80er Jahre, also der im beginnenden massenmedialen Zeitalter dominierenden „Kritischen Psychologie“ von Holzkamp-Osterkamp, wird dieses Problem kaum registriert. Heinz Elmar Tenorth sieht in seinem 1992 in zweiter Auflage erschienenen Standardwerk Geschichte der Erziehung, das ausdrücklich den Untertitel trägt: „Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung“, diese neuzeitliche Entwicklung fast ausschließlich in den sozusagen professionellen und institutionalisierten Spezialorganen der Pädagogik, in den Theorien der Erziehung 296

und in der Unterrichtspraxis der allgemeinbildenden Schulen, also im öffentlichen Bildungssystem. Die erzieherische Rolle der Medien handelt er dabei gleichsam nebenbei in dem Abschnitt „Schule und Familie“ ab, doch es geht ihm mehr um den problematischen, meist als störend oder sogar destruktiv empfundenen Einfluss der Medien auf das traditionelle Familienleben mit seinem kindererzieherischen Am­ biente, als um ihren bildenden oder deformierenden Einfluss auf die Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen und natürlich der Erwachsenen, und auf deren Bedürfnisentwicklung, die ja weitgehend die menschliche Individualpersönlichkeit ausmacht. In dem darauffolgenden Kapitel Jugendleben und Generationskonflikte behandelt Tenorth die Motive der „Protestgeneration“ wie auch die Konflikte zwischen Berufsausbildung und Lebensstil, der sich von der Jugend ausgehend in der nächsten Generation notwendigerweise als Erwachsenenstil zeigt. Hier spricht er sehr anschaulich und sachkundig von der „Jugendkultur“, die sich artikuliere „in Kleidungs- und Freizeitgewohnheiten, an den Mustern des Konsums von Kultur, also in Musik, Lektüre, Freizeitgewohnheiten (...).“ (1992, 294) Spätestens an dieser Stelle hätte jedoch die erzieherische Rolle der Medien bzw. ihr Einfluss auf die Erziehung erwähnt, wenn nicht gar analysiert, und eine Beziehung zur Kulturindustrie und der diesbezüglichen „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno hergestellt werden können, zumal Tenorth mit Recht konstatiert, dass die „Jugendkultur gegenwärtig ihre Autonomie vor allem als Konsum-Autonomie gewonnen hat.“ (ibd.) Besser müsste man hier jedoch von „Heteronomie“ sprechen, denn diese von ihm als „Konsum-Autonomie“ bezeichnete Alltagskultur der Jugendlichen kann kein Ergebnis von Selbstbestimmung und damit von Autonomie sein, selbst wenn sie sich ihr als willkommener Ausdruck generationsspezifischen Protests gegen die Kultur der Erwachsenen anbietet. Denn der Konsum wird immer noch von der Produktion und damit der Konsumtionsindustrie, und hier vor allem der Kulturkonsumtions- und Jugendfreizeitindustrie sowohl provoziert und damit erzeugt, als auch befriedigt und letztlich der Kommerzialisierung unterworfen. Diese von Tenorth mit dem sicheren Gespür des Pädagogikprofessionals erkannte Erziehung zum Konsumdenken, die alle anderen Denkweisen der Jugendlichen potentiell überwölbt, ist, in anderen Worten, ein Produkt weder der Schule noch der Familie, sondern der Industrie als hauptsächlicher oder zumindest mit den offiziellen öffentlichen Erziehungsinstrumenten konkurrierender Erziehungsinstanz, und vor allem der alle Medien begleitenden Produktwerbung, des von Adorno sogenannten sales talk. 297

Die von Adorno/Horkheimer, Roland Barthes und Umberto Eco kritisch untersuchten Phänomene beziehen sich alle auf die Medien vorerst noch in ihren vorsintflutlichen Formen als Buch oder als Illustrierte sowie in der visualisierten Form des Films. Insofern besteht kein Anlass zur Verwunderung über die bereits im Jahre 1985 angesichts des damaligen Überrollens der Menschen durch das Fernsehen wiederholte Meinung des USA-Medienwissenschaftlers. (Heute sind es Handy und Smartphone, die den größten Teil der Freizeit der Jugendlichen okkupieren. Doch diese elektronischen Medien sind ihrerseits bereits wieder Erzeugnisse der von der Aufklärung einst in Gang gesetzten Wissenschaft und Technik und demonstrieren so die Ambivalenz des ebenfalls einstmals von der Aufklärung gehätschelten Fortschritts). Die wie auch immer vielfältige und in sich differenzierte Aufklärungspädagogik hatte wie die Aufklärung generell eine ihrem rationalistischen Charakter entsprechende Ausrichtung auf Wissenschaft und hätte sicher nicht im Traum daran gedacht, die Erziehung zur Wissenschaftlichkeit als Denkmethode durch die Erziehung zum Konsumismus zu ersetzen oder doch zu komplementieren. Es geht bei Behandlung des Phänomens des Verhältnisses Aufklärung-Medien nicht um das Problem der sogenannten Trivialliteratur als Literatur des schlech­ ten Geschmacks im Sinne von Umberto Eco. Touristenreklame, nationalistische Verbiegung der historischen Wahrheiten und Verschweigen und Verdrängen von unliebsamen Geschehen fungieren vielmehr nur als Beispiele moderner antiaufklärerischer Phänomene, an denen sich die Vertreter der neuen Aufklärung des 20. Jahrhunderts von Adorno bis Foucault, um die es hier im eigentlichen Sinne geht, gerieben und abgearbeitet haben wie einst Diderot, Holbach und La Mettrie. Ist es ein Zufall, dass in den vorher genannten Essays die prominentesten und wohl auch kompetentesten Kulturologen und Philosophen von der Frankfurter Schule bis zu den nordamerikanischen Medienexperten einhellig die Massenmedien mit Aufklärungsabstinenz oder gar – in leichter Übertreibung – mit Aufklärungsfeindlichkeit in Verbindung bringen? Hier geht es nicht, wie schon weiter oben betont, um die heutzutage vieldiskutierten Gegensätze und Niveauunterschiede zwischen zwei Kunstsorten, einer hohen und einer niedrigen, um die von Eco konstatierten Differenzen zwischen gutem und schlechtem Geschmack, Kitsch und Avantgarde, und überhaupt nicht um Kunst und Literatur mit den entsprechend zweigeteilten künstlerisch-literarischen Rezeptionsbedürfnissen und -niveaus der zwei verschiedenen Gesellschaftsklassen bzw. Kulturabteilungen der heutigen Welt, sondern um allgemeinste kulturelle Produktions- und Rezeptionsverhältnisse mit ihrer gesellschaftlichen Entzweiung. 298

Es handelte sich beim Konstatieren des hohen Kulturwertes von Bildung durch die klassischen Aufklärer des 18.  Jahrhunderts nicht um die beliebte, dümmlich denunzierte „Bildung“ als spießbürgerlich bespötteltes leeres und rein äußerliches, keinem inneren Bedürfnis gehorchendes Persönlichkeitsattribut, das lediglich der Ausweis für den Zutritt und die Zugehörigkeit zur herrschenden Elite sei, was es mit Sicherheit auch war. Sondern es ging um „Bildung“ in einen mit Aufklärung genuin zusammenhängenden Sinn, der ihr bis heute in Frankreich, der Heimat der Aufklärung, worauf Dorothee Röseberg mit Emphase insistiert, innewohnt: sie garantiert nicht schlechthin nur die Zugehörigkeit zur privilegierten Elite – was keineswegs als weit verbreitetes pragmatisches Karrieremotiv geleugnet werden soll – sondern wie schon im Zusammenhang mit den Bürgerrechten erwähnt zur ganz normalen Kategorie des citoyen éclairé, des bewusst und kompetent an der Regierung und Gestaltung des Gemeinwesens ín Wahrnehmung seines Bürgerrechts aktiv mitwirkenden und nicht diese passiv erduldenden aufgeklärten Staatsbürgers. Dafür ist angesichts der Kompliziertheit der gesellschaftlichen Maschinerie über jeden blanken Empirismus weit hinausreichendes Wissen und Erfahrung, eben Bildung nötig. Ohne Wissen und Kultur kann es keinen aufgeklärten Staatsbürger und im weitesten Sinne des Wortes keine Demokratie geben. Dass dies das zentrale Anliegen der klassischen Aufklärer war, hat am Beispiel von Diderots Beiträgen in der Encyclopédie Jacques Proust demonstriert, wenn er feststellt, dieser habe zwar politisch nicht „la stature de son frère ennemi, Rousseau“, die Statur seines feindlichen Bruders Rousseau gehabt, jedoch jeder seiner Artikel, „quel que soit son contenu, a d’abord pour but de modifier l’opinion du lecteur pour en faire un citoyen plus éclairé, plus utile (...).“ (Proust 1995, II) Zu deutsch: „Jeder Artikel, was auch immer sein Inhalt sei, hat zunächst das Ziel, die Meinung des Lesers zu ändern, um aus diesem einen aufgeklärteren, nützlicheren Bürger zu machen.“ Das von Neil Postman charakterisierte USA-Fernsehen folgt jedenfalls nicht mehr der Maxime der Enzyklopädisten, gesellschaftlich nützliche und womöglich uneigennützige Staatsbürger heranzubilden, auch insofern es nämlich das Publikum desaktiviert, denn zum erstenmal in der Geschichte der USA stünden deren Einwohner vor dem Problem, dass sich infolge Informationsüberschüttung „ihre soziale und politische Handlungsfähigkeit verringert hat“. (Postman 1985, 88) Mit der Heranbildung eines gesellschaftlich aktiven und (für die Gesellschaft bzw. das Gemeinwohl) nützlichen Bürgers, des citoyen plus éclairé, plus utile, hingen die aufklärerischen Idealbegriffe der citoyenneté bzw. des ­individu-citoyen 299

zusammen, wozu die Schule im Namen des französischen Staatsvolkes, also im Namen der Rousseauschen volonté générale die junge Generation zu erziehen hat. (Vgl. Röseberg 2012, 85) Zu dieser gehört „das Recht (oder die Pflicht?) zur politischen Teilhabe“, was der Bürger aber nur wahrnehmen kann, wenn er über die öffentlichen Angelegenheiten wohlinformiert ist. Demokratie ist Bildung. Doch dagegen arbeitet die von der Industrie – nicht der Medienindustrie im besonderen, sondern aller warenerzeugenden Industrie – im wohlverstandenen und berechtigten Eigeninteresse, nämlich der kostengünstigen Heranbildung geeigneter Arbeitskräfte auf allen Ebenen  – erhobene Forderung an das Bildungswesen nach stärkerer bzw. ausschließlicher Berufsbezogenheit der Ausbildung: auch der Akademiker als künftiger Führungskräfte von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, was auf Kosten der traditionell allgemeinwissenschaftlichen und humanistischen Persönlichkeitsbildung im Zeichen der Aufklärung geht und sich logischerweise im Rückgang bis hin zum Verlust der aufklärerischen Orientierung des Universitätsausbildung widerspiegelt. Liest man den Artikel Fortschritt durch Bolognas Scheitern. Fehlschlag und Erfolg der zweiten großen Universitätsreform in Deutschland von Julian NidaRümelin, Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Universität München und ehemaliger Bundesstaatsminister für Kultur aus dem Jahre 2013, und vergleicht ihn mit den Feststellungen Postmans, so gewinnt man den Eindruck einer direkten und vollkommenen Entsprechung zwischen der Trivialisierung des Fernsehens und der Massenmedien einerseits und der Trivialisierung der Volksbildung überhaupt. Beide ergänzen sich, und ihr gemeinsames Produkt ist der Schüler, der Mensch der kommenden Generation. Die Trivialisierung der Volksbildung vollzieht sich als Rücknahme der Aufklärung durch die Entwissenschaftlichung des Universitätsstudiums, als Negation des auf die Einheit von Lehre und Forschung fokussierten Bildungsauftrags Wilhelm von Humboldts für das Hochschulwesen, vom Verzicht auf das studium generale ganz zu schweigen. Diese Prozesse vollziehen sich im übrigen unter der ständigen massenmedialen, auch verbalen Kritik an der Aufklärung. Laut Nida-Rümelin sei das Ziel der Bologna-Reform statt des Humboldtschen Konzepts der Persönlichkeitsbildung der Studierenden die employability, eine gehobene Berufsausbildung für 80 Prozent aller Studenten, die Entwissenschaftlichung ihres Studiums mit der pseudoaufklärerischen Begründung der Befreiung von staatlicher Bevormundung und „schwarzer Pädagogik“, und damit die Durchsetzung von „Mündigkeit“ im Geiste der bekannten Kantschen Aufklärungsdefinition. Doch die jetzt programmierte Verschulung des Studiums (wie sie auch von Tenorth konstatiert und beklagt wird, HOD) stelle eine unsichtbare Gängelung  – verdeckten Au300

toritarismus also – der Alumnen dar, was auch den Rückgang ihres kritischen, also aufklärerischen Potentials als Intellektuelle bedeute – ein wohl gewollter Effekt: Nida-Rümelin schreibt weiter: „Bildungsorientierte Studiengänge kommen übrigens charakteristischerweise in der Bologna-Terminologie gar nicht vor“ (2013, 6), eine Feststellung, die charakteristisch ist für die von den Regierungen und Bildungspolitikern vollzogene Subsumtion von Kultur, Schule und Universität unter die Bedürfnisse der Wirtschaft. Mentalitätsbezogen bedeutet diese Marktabhängigkeit von Wissenschaft und Studium laut Nida-Rümelin die „Austreibung kritischen wissenschaftlichen Geistes“. „Kritik“ hatte, wie wir uns erinnern, bereits Friedrich II. als entscheidendes Charakteristikum aufklärerischen Denkens benannt. Die Hochschulreform bedeutet also mit der Austreibung von Wissenschaft als Wissen und von Wissenschaftlichkeit als Denkmethode schlicht die Austreibung der Aufklärung, denn diese sah stets Kritik und Wissenschaftlichkeit als zwei Haupterkenntnisinstrumente an. Damit kommt die offizielle Kulturpolitik unwillkürlich dem gegenaufklärerischen Trend vieler kommerzieller Produktionen auch der öffentlich-rechtlichen Massenmedien nach. Die Historikerin Helga Schultz wertet diese Tendenz der postmodernen Philosophie in ihrem Vortrag Geschichte und Tradition in postmodernen Zeiten als Liquidierung der Aufklärung, „dieser Basis unserer Zivilisation“, zugunsten von Esoterik und banaler Belletristik, wozu auch das Ignorieren des Idealismus von Kant bis Hegel und der bürgerlichen Kulturentwicklung des 19.  Jahrhunderts „im Zeichen dieser Denkrevolution des 18. Jahrhunderts“ sowie die Leugnung der Idee des Fortschritts mitsamt des Prinzips Hoffnung und der Utopie als heuristischen Konstrukts gehört. Diese Phänomene gehören in den Zusammenhang der allgemeinen Erosion des Erbes der Aufklärung.

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Schlussbemerkung Adorno, Horkheimer, Barthes, Eco, Postman und MacLuhan sind die Aufklärer der Moderne, die Fortsetzer von Holbach, Friedrich II., Bayle, Diderot, Raynal, Campe und Humboldt im 20. Jahrhundert. Auch viele ihrer Themen wie Krieg, Toleranz, Kolonialismus, Gleichheit, Freiheit, Gesellschaftsvertrag, Demokratie, Bürger- und Menschenrechte und Fortschritt – des nicht nur technischen, sondern vor allem auch kulturellen, moralischen sowie sozialen Fortschritts sind immer aktuell und müssen daher von jeder Generation neu erarbeitet werden. Man staunt, wie sehr die von den klassischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts, von Diderot, Voltaire, Herder und Kant aufgegriffenen Themen bei den NeoAufklärern des 20. Jahrhunderts wieder als ungeklärte Probleme auftauchen und im 21. Jahrhundert immer noch nicht abgearbeitet sind. Das beweist die Modernität und Aktualität der Aufklärung und widerlegt die modische Meinung vom Überholtsein dieser aus dem 18. Jahrhundert stammenden Bewegung. Die Aufklärung sollte im Rahmen der Globalisierungen ihres okzidentalen Privilegs endgültig entbunden und als Weltprojekt auf die ganze Welt ausgedehnt werden. Damit könnten die immer noch nach 200 Jahren existierenden Hierarchien zwischen dem Westen und dem Rest der Erde in solche der Gleichheit und Gleichberechtigung umgewandelt werden. Auch sollte die Vernunft als übergreifender Begriff des Ideariums der Aufklärung, als kommunikative und kollektive Arbeit des gesunden Menschenverstandes verstanden und auf Dauer unter den Menschen als eine anthropologische Instanz durchgesetzt werden.

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